Thorwart Artikel 12-2009

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Überarbeiteter Teil des Beitrages Gemeindepsychiatrie – Zum schwierigen Verhältnis von
professioneller Kooperation und beruflicher Verschwiegenheit. In: Sozialpsychiatrische Informationen
(4/2001) 31: 34-42
12/2009
Berufliche Verschwiegenheit und kollegiale Zusammenarbeit innerhalb und
zwischen psychiatrischen bzw. psychosozialen Institutionen
Die Kooperation zwischen KollegInnen verschiedener Institutionen gehört, obwohl oder auch
gerade weil sie in vielen Fällen als wenig befriedigend erlebt wird, zu den am häufigsten
beschworenen Prinzipien des medizinischen und psychosozialen Feldes. Damit
einhergehende Fragen nach Datenschutz insbesondere aber der Schweigepflicht werden
selten thematisiert, allenfalls wird die Ansicht vertreten, die Weitergabe personenbezogener
Daten geschehe zum Wohl der jeweils Betroffenen.
Zunächst möchte ich mich der Frage zuwenden, weshalb Kooperation zwischen Institutionen
häufig entweder erst gar nicht stattfindet oder oft als nicht zufriedenstellen bzw.
problematisch erlebt wird. Zum einen wird die Zusammenarbeit mit MitarbeiterInnen anderer
Einrichtungen mehr oder weniger bewußt als bedrohlich, eigene fachliche und persönliche
Überzeugungen in Frage stellend und damit konflikthaft erlebt. Psychodynamisch scheint
sich hier zwischen den Professionellen auch die Problematik von Nähe und Distanz der
KlientInnen/PatientInnen wiederzuspiegeln, wie sie insbesondere für psychotische
PatientInnen auf dem Hintergrund ihrer eingeschränkten Fähigkeit zur Differenzierung
zwischen Selbst und Objekt charakteristisch ist (Mentzos 1992, Lempa & Böker 1999) und
dann zu intensivem Angst- und Fragmentierungserleben führt.
Kommt es hingegen zur Kooperation kann diese von Faktoren bestimmt sein, die nur auf den
zweiten Blick in ihrer tieferen Bedeutung erkennbar sind. So ist etwa das Modell einer
durchorganisierten Kooperation (Stichworte: 'Versorgungskette', KlientInnen an einer
Einrichtung 'anbinden') dazu geeignet, Hoffnungen bzw. Phantasien persönlicher Entlastung
von der Auseinandersetzung mit den als schwierig und unbequem empfundenen chronisch
Kranken zu nähren. Ebenso kann es um Größenphantasien gehen (alles regeln,
organisieren, heilen zu können), die narzißtischen, also Bedürfnissen nach Anerkennung und
Aufmerksamkeit, geschuldet sind. Andererseits kann die Zusammenarbeit mit anderen am
'Fall'1 beteiligten ExpertInnen gruppendynamisch der Herstellung (vermeintlicher) Nähe
geschuldet sein (Gruppenkohäsion), mittels der die oft diametral unterschiedlichen
Ansichten, etwa über Genese, Psychodynamik, Behandlungsansätze, ethische Aspekte
psychiatrischer Behandlung oder 'unvernünftige' Wünsche der Betroffenen weitgehend
ausblendet werden (können). Die Delegation von Verantwortung an jeweils koordinierende
Bezugspersonen (die sogenannten 'Case-ManagerInnen') oder an ÄrztInnen2 erscheint
wiederum geeignet, die Bedeutung der professionellen Leitung zu zementieren und
Widersprüche zwischen den Beteiligten einzuebnen.
Die vielfach betonte Notwendigkeit der Einbeziehung der Betroffenen hat hier
beschwörenden Charakter – vermutlich als Reaktion auf die wenn auch nur unterschwellig
vorhandene Ahnung, daß die Betroffenen mit ihrer (häufig als krankhaft oder unvernünftig
bzw. uneinsichtig erachteten) Sicht der Dinge aufgrund der beschriebenen Konflikte zuweilen
eine nur noch marginale Rolle spielen.
1
2
Hier deutet bereits der Begriff die emotionale und soziale Distanz zwischen Behandelten und Behandelnden
an: KlientInnen bzw. PatientInnen werden zum geschlechtslosen Objekt transformiert.
In dem vor einigen Jahren diskutierten "Integrierten Behandlungs- und Rehabilitationsplan" wurde betont, daß
sowohl die Erarbeitung des Plans als auch die Erbringung diagnostischer und therapeutischer Leistungen "(...)
in ärztlich verantworteter berufsgruppenübergreifender Teamarbeit" zu erfolgen habe (vgl. Kauder & AKTION
PSYCHISCH KRANKE 1997, S. 29).
Als langjähriger Mitarbeiter eines Sozialpsychiatrischen Dienstes (München-Bogenhausen
und Ebersberg bei München) verkenne nicht, daß viele Bemühungen um inner- und
interinstitutionelle
Kooperation
der
Verbesserung
der
psychosozialen,
psychotherapeutischen und medizinischen Angebote geschuldet sind. Dennoch war und bin
ich immer wieder irritiert, daß viele MitarbeiterInnen psychiatrischer Einrichtungen ihre
persönliche und fachliche Position in der Institution und gegenüber den
PatientInnen/KlientInnen kaum reflektieren. Im Gegenteil wird die aus meiner Sicht
zunehmend technizistisch anmutende Perfektionierung der Abläufe in stationären und
ambulanten Einrichtungen oft nur aus der Perspektive möglicher Verbesserungen der
Versorgung betrachtet. Dabei steht sie nahezu immer auch im Dienste einer wenig
erfreulichen Entwicklung unserer Kultur im Sinne der Anpassung des 'sperrigen' Subjekts an
die herrschenden Vorstellungen von Normalität, zunehmend aber vor allem von
ökonomischer Effizienz. Die "(...) Achtung vor dem was wir nicht wissen, vor der Fremdheit,
der unerhörten Komplexität der inneren Welt eines anderen Menschen" (Grubrich-Simitis
1999, 6) droht auf diese Weise verloren zu gehen3.
Aus juristischer Sicht besteht heute kein ernsthafter Zweifel an der Schweigepflicht zwischen
MitarbeiterInnen derselben Institution, soweit sich ein Vertrauensverhältnis zu einer(m)
MitarbeiterIn entwickelt hat, z.B. gegenüber der/m BeraterIn einer Beratungsstelle. Eine
andere Beurteilung wird sich allenfalls dann ergeben können, wenn das Geheimnis nicht
einer bestimmten Person, sondern einem bestimmten Personenkreis, etwa im Rahmen einer
Krankenhausbehandlung, anvertraut wird; insoweit liegt eine konkludente bzw.
stillschweigende Einwilligung im Sinne schlüssigen Handelns vor. Der Kreis der an der
Behandlung beteiligten Personen muß in diesem Fall für die Betroffenen erkennbar sein,
zudem dürfen nur solche Informationen weitergegeben werden, die für die (gewünschte)
Behandlung
notwendig
sind,
gegebenenfalls
sind
die
Themenbereiche
(Wohnangelegenheiten, Medikamente etc.) zu spezifizieren. Auch in einer Beratungsstelle
gilt nichts grundsätzlich anderes, wenn etwa in der Supervision nicht-anonymisiert über
KlientInnen gesprochen werden soll. Zu bedenken ist dann, daß eine Einwilligung, etwa in
Supervisionssitzungen des Teams, Rückwirkung auf die therapeutische Dyade hat: Je mehr
therapeutische (im Unterschied zu psycho-sozialen) Aspekte eine Rolle in der Beratung
spielen, um so bedeutsamer ist der Schutz der anvertrauten Informationen
(Diskretion/Vertraulichkeit) für den therapeutischen Prozeß.
Die Weitergabe anvertrauter Informationen und Geheimnisse ohne entsprechende
Einwilligung des Betroffenen ist nur im Ausnahmefall auf der Grundlage besonderer
Rechtfertigungstatbestände zulässig (näheres siehe unter www.schweigepflicht-online.de).
Dieser Grundsatz gilt analog für den Austausch patientenbezogenen Informationen und
Geheimnissen
zwischen
Institutionen.
Werden
beispielsweise
bei
der
institutionsübergreifenden Erstellung eines Behandlungs- und Rehabilitationsplans Daten
erhoben und zwischen den beteiligten Institutionen bzw. Personen ausgetauscht, ist dies nur
auf der Grundlage entsprechender Einwilligungen zulässig. Nur am Rande sei angemerkt,
das Einwilligungen im Bereich des Sozialgesetzbuchs (z. B. SGB-V/Krankenversicherung:
Krankenhausbehandlung) schriftlich zu dokumentieren sind. Andernfalls (z.B. SPDi's) ist die
Schriftform nicht zwingend, oft aber im Sinne der Transparenz (gelegentlich auch zu
Beweiszwecken) empfehlenswert.
Im Unterschied zu somatisch Kranken besteht im Bereich der Psychiatrie die Tendenz
PatientInnen bzw. KlientInnen Krankheitsuneinsichtigkeit, mangelnde Compliance (bzw. das
Bestreben, sich psychiatrischer Behandlung zu entziehen) zu unterstellen. Das führt in
einzelnen Fällen dazu, daß Entscheidungen für PatientInnen gegen oder ohne deren
(explizites) Einverständnis getroffen wird.
So schreibt Siekmann (ein Richter im Ruhestand) in einem Kommentar zur Entscheidung
des Bayerischen Obersten Landesgerichts im Zusammenhang der Ablehnung einer
3
Zwar bezieht sich die Autorin explizit auf die Psychoanalyse, ihr Zitat scheint mir jedoch auf den von mir
dargestellten Kontext übertragbar (Grubrich-Simitis 1999, S. 6).
sofortigen weiteren Beschwerde im Rahmen der zwangsweisen Unterbringung eines
Betreuten in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 1906 BGB):
"Der »gesunde« Mensch kann aufgrund seiner Entscheidungsfreiheit und -fähigkeit
darüber befinden, ob er sich einer Heilbehandlung unterziehen will oder nicht. Er
kann z.B. frei entscheiden, ob er sich einer Operation unterziehen will, ob er z.B. in
einem sogenannten Patiententestament bestimmte Behandlungsmöglichkeiten
(Intensivmedizin) an sich vornehmen lassen will oder nicht. Das setzt einen freien
Willen und eine entsprechende Einsichtsfähigkeit voraus. Diese Voraussetzungen
liegen beim psychisch Kranken oder geistig oder seelisch Behinderten nicht vor"
(Siekmann 1996, S. 38).
Wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe (Thorwart 1998, S. 127), besteht das Problem
solcher und ähnlicher Aussagen in ihrer unzulässigen Verallgemeinerung: Das implizite
Argument psychisch Kranke wären grundsätzlich nicht in der Lage, die ihre Person
betreffenden Angelegenheiten eigenverantwortlich zu regeln und entsprechende
Entscheidungen zu treffen, ist weder aus psychiatrisch-psychotherapeutisch noch juristischer
Sicht zutreffend. Die Frage einer 'objektiv' feststellbaren Beeinträchtigung der
Einsichtsfähigkeit (die zudem von juristischen Laien meist mit der Einsicht in die
medizinische Notwendigkeit einer bestimmten Behandlung verwechselt wird) läßt sich
lediglich im Einzelfall von JuristInnen mit Hilfe von GutachterInnen beantworten und stellt
ausschließlich auf die Tatsache ab, inwieweit der Betroffene sich der Tragweite und
Konsequenz der zu treffenden Entscheidung im klaren ist und nach dieser Einsicht zu
handeln vermag. Werden die Betroffenen anwaltlich beraten (was ich in gravierenden Fällen
empfehlen würde) kommt es in den seltensten Fällen zu Zwangsmaßnahmen!
Nach Ansicht von Henry steht die Vorstellung eines Rechtsanspruches auf Entscheidung
über die eigenen Angelegenheiten (und hier vor allem die Behandlung betreffende Fragen) in
Widerspruch zur traditionellen Psychiatrie:
"Im Rahmen dieses Modells nimmt man die Stimme des Wahnsinns lediglich als
Ausdruck von Symptomen wahr und befördert mit einer solchen klinischen
Einstellung die Entwertung der Stimme des Kranken, was dazu führt, daß man
ihm/ihr die Anerkennung seiner/ihrer bürgerlichen Rechte verweigert." (Henry 1995,
S. 145)4
Daß die Vermischung medizinisch-psychiatrischer und gesellschaftlich-staatlicher Aufgaben
und Normen Tradition hat belegt Dörner am Beispiel der europäischen Psychiatrie
(Großbritannien, Frankreich und Deutschland). In seinem Buch "Bürger und Irre" hat er diese
bis in das 18. Jahrhundert zurückverfolgt. Zusammenfassend formuliert er:
"Seit Abschluß ihrer Entstehungsphase hat die Psychiatrie weitere hundert Jahre
lang die ihr von Staat und Gesellschaft zugewiesenen Aufgaben nicht eben unwillig
und reflexionsfreudig erfüllt. Ihre Abhängigkeiten sind bis heute dieselben geblieben,
ob sie ihre Zuständigkeit bedenkenlos ausdehnte, ob sie sich der
nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie gefügig machte, ob sie
naturwissenschaftlich ihre diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten
erweiterte oder ob sie sich psychoanalytisch und gegenwärtig sozialpsychiatrisch
ihres emanzipatorischen Anspruches erinnerte. Daher bleibt auch heute die Frage
offen, ob die Psychiatrie mehr Emanzipations- oder mehr Integrationswissenschaft
ist, d.h. ob sie mehr auf die Befreiung der psychisch Leidenden oder auf die
Disziplinierung der bürgerlichen Gesellschaft aus ist (...)." (Dörner 1969, S. 380)
Aus dieser Perspektive erscheint es wenig verwunderlich, wenn Fragen der Schweigepflicht
in
der
Psychiatrie
und
auch
im
Zusammenhang
des
vieldiskutierten
Gemeindepsychiatrischen Verbunds kaum Erwähnung finden. Das zuweilen vorgebrachte
Argument es sei nicht notwendig die Thematik ausdrücklich zu erwähnen, da diese juristisch
4
Die weitergehende These "(...) organische Psychiatrie und Psychoanalyse unterschieden sich in dieser
Hinsicht nur wenig, da das "(...) was der psychisch Kranke sagt, nach (...) vorgefertigten Modellen" interpretiert
würde, vermag ich allerdings – als Psychoanalytiker – keineswegs zu teilen (Henry 1995, S. 145).
bereits eindeutig und im Sinne der Betroffenen geregelt sei verkennt aber, daß
psychiatrische Hilfe in vielen Fällen da ansetzt, wo psychisch erkrankte Menschen, aus
welchen Gründen auch immer, eine Behandlung oder anderweitige Hilfeleistungen nicht aus
eigener Initiative, sondern unter dem Druck der jeweiligen Umstände (Androhung der
Einleitung zivil- oder öffentlich-rechtlicher Unterbringungsmaßnahmen, der Anregung einer
Betreuung oder der Heimeinweisung) in Anspruch nehmen.
Aber auch wenn von professioneller Seite kein Zweifel an der Einsichtsfähigkeit besteht und
die Betroffenen zudem der Weitergabe von Informationen (so etwa bei der Einbeziehung
verschiedener anderer psychiatrischer Institutionen im Rahmen der Erstellung eines
Behandlungsplans
oder
einer
Fallkonferenz)
zustimmen,
sind
erteilte
Schweigepflichtentbindungen nur insoweit wirksam, als den Betroffenen die Tragweite ihrer
Entscheidung deutlich wird. Je pauschaler eine Einwilligung erfolgt, d.h. je weniger aus ihr
hervorgeht, mit welchen Institutionen bzw. Personen welche Informationen ausgetauscht
werden, desto mehr Zweifel sind an der Rechtswirksamkeit der Schweigepflichtentbindung
angebracht. Dies gilt insbesondere für pauschale Einwilligungserklärungen welche sich auf
ein
Gremium
von
Fachleuten
(z.B.
Arbeitskreis
'Fallkonferenz'
eines
Gemeindepsychiatrischen Verbundes) beziehen, deren Mitglieder den Einwilligenden nicht
im Einzelnen bekannt sind; aber auch wenn die Einwilligung bereits längere Zeit zurückliegt
und damals die nun erfolgende Weitergabe noch nicht absehbar war. Fallkonferenzen bei
denen die in einer Region als besonders schwierig erlebten (und vielen TeilnehmerInnen
auch ohne Namensnennung bekannten) PatientInnen ohne deren Wissen und
Einverständnis 'besprochen' werden sind eindeutig unzulässig und erfüllen für die
offenbarenden schweigepflichtigen Mitglieder der Konferenz den Tatbestand einer strafbaren
Handlung. Sind anonymisierte PatientInnen/KlientInnen für einzelne TeilnehmerInnen
erkennbar, sollten diese die Besprechung verlassen. Andernfalls wären die Vortragenden (in
dem Moment wo deutlich wird, daß die Anonymität aufgehoben ist) verpflichtet ihre
Falldarstellung abzubrechen.
Schweigepflichtverletzungen dieser und anderer Art sind (leider) an der Tagesordnung. Aus
beziehungsdynamischer Sicht wäre hier zu überlegen, inwieweit die aggressive
Überschreitung von Persönlichkeitsrechten und Intimitätsgrenzen bzw. die Zerstörung der
Diskretion als Gegenübertragungsreaktion in der Beziehung mit einzelnen PatientInnen zu
verstehen ist – möglicherweise aber auch der Abwehr gruppendynamischer Konflikte dient.
In letzterem Fall könnte es beispielweise darum gehen, mittels der gemeinsamen
Pathologisierung besonders schwieriger PatientInnen (häufig sind das BorderlinePatientInnen mit ihrer Tendenz zur Spaltung) die Kohäsion der Gruppe zu erhöhen, um auf
diese Weise Rivalitäts- und Autonomie- bzw. Abhängigkeitskonflikte zwischen
Gruppenmitgliedern zu entschärfen bzw. zu vermeiden5.
Die notwendige Zusammenarbeit Professioneller innerhalb und/oder zwischen Institution/en
steht im Einklang mit dem Gebot der beruflichen Verschwiegenheit soweit sie im Interesse
und mit Wissen und Einverständnis der Betroffenen stattfindet. Probleme ergeben sich dann,
wenn dies nicht oder aber nicht uneingeschränkt der Fall ist. Wiederholt habe ich die
Erfahrung gemacht, daß intimste Informationen (Lebensumstände, Phantasien,
Sexualität/Partnerschaft etc.) im Zusammenhang der Klärung von Fragen weitergegeben
werden (etwa die weitere Planung der Wohnsituation nach der Entlassung), bei denen sie
sachlich unerheblich oder jedenfalls nicht zwingen notwendig sind.
Auch wenn im Einzelfall zu bedenken und zu klären ist, inwieweit das von KlientInnen
manchmal ausgesprochene 'Verbot' der Weitergabe bestimmter Informationen die
Problematik der Triangulierung (es geht dann um die vermutlich biographisch begründete
Phantasie des Ausschlusses einer dritten Person aus der therapeutischen Dyade) berührt,
verbietet schon der Respekt vor den sich anvertrauenden PatientInnen bzw. KlientInnen eine
Offenbarung ohne deren Einwilligung. In einer Gesellschaft, die aus historischer Erfahrung
heraus dem Persönlichkeitsrecht (und damit auch den Abwehrrechten gegenüber staatlichen
5
Auf die verschiedenen beziehungsdynamischen Aspekte der Schweigepflicht bin ich an anderer Stelle
ausführlich eingegangen (Thorwart 1998, S. 79-123).
Eingriffen) hohen Stellenwert einräumt, müssen Eingriffe in die verfassungsrechtlich
geschützte Sphäre auf ein Mindestmaß beschränkt bleiben und gesetzlich geregelt sein. Die
Berufung auf einen rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB) ist nur unter den dort festgelegten
Voraussetzungen zulässig – wird jedoch nach meiner Erfahrung in der Praxis (von
Nichtjuristen) allzu leichtfertig herangezogen um die Weitergabe von Geheimnissen auch
ohne die Einwilligung der Betroffenen zu rechtfertigen6. Die allgemein festzustellende
politische Tendenz einer Aufweichung der strafrechtlich verankerten Schweigepflicht (§ 203
StGB), zuletzt im Zusammenhang der Vorratsdatenspeicherung und des BKA-Gesetzes, ist
letztlich ebenso wie die in der (medizinischen, psychologischen und psychosozialen) Praxis
zu beobachtende Fahrlässigkeit im Umgang mit anvertrauten Geheimnissen dazu geeignet,
das Vertrauen der Bevölkerung in die Verschwiegenheit der Angehörigen der dort genannten
Berufsgruppen zu beeinträchtigen (vgl. Thorwart 1999).
Differenziertes Leistungsangebot versus 'weiche Mauer' – Gefahren und Chancen
psychiatrischer Versorgungssysteme
In Anbetracht des seit der Psychiatrie-Enquete vergangenen Zeitraums ist es zu einem
insgesamt beeindruckenden Ausbau gemeindepsychiatrisch orientierter Institutionen und
Angebote gekommen. Es entstanden neue 'extramurale' Versorgungslandschaften, die
bezogen auf das jeweils regionale Geflecht von Institutionen ihrerseits Begriffe wie Sektor,
Verbund, Versorgungskette hervorgebracht haben. Angesichts der in mancher Hinsicht
berechtigten Kritik an institutions- statt personenzentrierten Hilfeleistungen, an mangelnden
Absprache von Leistungsanbietern und an der Zersplitterung des Leistungsangebotes und
des kaum zu bestreitenden Umstands, daß die Betroffenen manche der von ihnen
gewünschten bzw. benötigten Hilfe nicht oder nur mit erheblicher Verzögerung erhalten,
erscheint die regionale Abstimmung der Angebote sinnvoll und notwendig. Nicht unberechtigt
scheint aber auch die Warnung vor einem "psychiatrischen Absolutismus" (Kruse 2000, 15)
einer Gemeindepsychiatrie, in der psychisch Kranke erfaßt, kontrolliert und (natürlich zu
ihrem Wohl) versorgt werden. Auf dem Hintergrund der subtilen Vermischung von Kontrolle
und Hilfe scheinen vielerorts 'weiche Mauern' entstanden zu sein, deren psychologische
Wirksamkeit nicht in erster Linie auf Zwang, sondern vielmehr auf einer inneren Abhängigkeit
der Betroffenen beruht. Aufgrund der sich bei den Betroffenen immer wieder
manifestierenden Ich/Selbst-Schwäche frequentieren sie die einschlägigen Einrichtungen,
induzieren oder fordern bestimmte Umgangsstile heraus, die Abhängigkeitswünsche
solcherart befriedigen, zugleich aber auch reproduzieren (Wolf 1992, 238)7. Um eine neue
Hospitalisierung zu vermeiden, bzw. entstandene innere Abhängigkeiten nicht weiter zu
fördern, bedarf es "mindestens einer langfristigen therapeutisch wirksamen Beziehung (...)",
welche die beeinträchtigte Beziehungsstruktur der PatientInnen nicht fortsetzt (a.a.O.). Die
berufliche Verschwiegenheit ist in diesem Zusammenhang insoweit von Bedeutung, als sie
den Schutz der therapeutischen Arbeit vor intrusiven Einflüssen garantiert und so eine von
Vertrauen getragene Beziehung ermöglicht, welche ihrerseits erst die Einbeziehung Dritter in
die dyadische Beziehung im Sinne einer Triangulierung ermöglicht.
Das Prinzip der Kooperation psychiatrischer Institutionen zur Optimierung des
Behandlungsangebotes8
einerseits
und
die
Grundsätze
der
informationellen
Selbstbestimmung und der beruflichen Verschwiegenheit andererseits stehen in einem
antinomischen Verhältnis, können also unabhängig voneinander Gültigkeit beanspruchen.
Die Erwartung der Betroffenen nach einer Bewahrung der von ihnen im Vertrauen auf die
Verschwiegenheit anvertrauten Geheimnisse ist – ungeachtet einer etwaigen
therapeutischen Bearbeitung – ebenso zu respektieren wie ihr Wunsch nach Kooperation der
6
7
8
Häufig ist das Tatbestandsmerkmal einer "(...) gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben,
Leib, Freiheit" nicht erfüllt; ebenso ist die Tat (hier die unbefugte Offenbarung) in vielen Fällen nicht geeignet,
die Gefahr abzuwenden (§ 34 StGB).
In Anlehnung an die damals Ost- und Westdeutschland noch trennende Berliner Mauer assoziierte Wolf an
den Grenzen der eingerichteten psychiatrischen Sektoren unsichtbare Schilder mit der Aufschrift 'You are
leaving the social-psychiatric sector' (Wolf 1992, S. 237).
Ebenso wäre an dieser Stelle die Zusammenarbeit mit Angehörigen zu nennen.
an der Betreuung beteiligten Institutionen. Das von Psychiatrieerfahrenen zuweilen
empfundene Defizit im Hinblick auf Absprachen zwischen Professionellen stellt dabei – wie
ich weiter oben ausgeführt habe – kein grundsätzliches Problem der Schweigepflicht dar.
Geraten die beiden Prinzipien im Einzelfall in Konflikt, sind also die Betroffenen etwa mit der
Kooperation bestimmter Einrichtungen oder der Weitergabe bestimmter Informationen
innerhalb der Einrichtung nicht einverstanden, so ist dieser Wunsch schon deshalb
anzuerkennen, weil andernfalls das Vertrauen in die Verschwiegenheit und die Bereitschaft
sich mit subjektiv als schützenswert erachteten Informationen über die eigene Person,
Beziehungen zu Dritten und dazugehörige Lebenssituationen MitarbeiterInnen
psychiatrischer Institutionen anzuvertrauen ernsthaft gefährdet ist. Das Vertrauen in die
Verschwiegenheit (Diskretion) ist aber Grundlage und Voraussetzung jedweder
therapeutischer, beraterischer oder pflegerischer Tätigkeit der zum Kreis der
schweigepflichtigen zählenden Berufsgruppen und Personen.
Im Hinblick auf die Diskussion über die Qualität der in psychiatrischen und sozial- bzw.
gemeindepsychiatrischen Einrichtungen geleisteten Arbeit wird es entscheidend darauf
ankommen, inwieweit sich die MitarbeiterInnen die im Zusammenhang der vielbeschworenen
personenzentrierten Perspektive auftretenden Angst- und Ohnmachtgefühle, aber auch
Macht- und Größenphantasien zugestehen und konstruktiv bewältigen können. Wenn weder
die emotionale Verwicklung der TherapeutInnen noch die Art der Beziehungsgestaltung der
PatientInnen pathologisiert werden müssen, kann gelingen, was eine Psychoanalytikerin in
Zusammenhang mit der Sichtweise der TherapeutInnen in einem (Behandlungs-) System
formulierte:
"Eine echte Notwendigkeit, aber auch eine echte Möglichkeit zur Veränderung ergibt
sich erst, wenn zur Erkenntnis der eigenen Betroffenheit auch die der eigenen
Beteiligung hinzukommt. Ich meine damit nicht die Erkenntnis von Schuld oder
Mitschuld, sondern ein Erkennen der eigenen Position im Gesamtsystem. Es ist ein
großer Unterschied, ob ich mich außerhalb eines zu bekämpfenden oder eines zu
verändernden Systems erlebe, oder ob ich mich als Teil dieses Systems erkenne."
(Bauriedl 1986, 241)
Ein erster Schritt im Hinblick auf die berufliche Verschwiegenheit könnte dabei die kritische
Reflexion des eigenen Umgangs mit anvertrauten Informationen sein und die Bereitschaft,
entsprechende Ergebnisse für die Betroffenen transparent zu machen.
Literaturverzeichnis
Bauriedl, T. (1980): Beziehungsanalyse. Das dialektisch-emanzipatorische Prinzip der Psychoanalyse und seine
Konsequenzen für die psychoanalytische Familientherapie. Frankfurt/M.: Suhrkamp
Dörner, K. (1969): Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie.
Frankfurt/M.: Europäische Verlagsanstalt
Grubrich-Simitis, I. (1999): Sprache: Königsweg zum Unbewußten. Dankrede. Psyche 53: 1-7
Henry, P. (1995): Psychiatrische Rehabilitation und bürgerliche Rechte aus psychologischer Sicht. In: T. Bock et
al (Hg.).: Abschied von Babylon. Verständigung über die Grenzen in der Psychiatrie. Bonn: Psychiatrie-Verlag
Kauder & AKTION PSYCHISCH KRANKE [Hg.] (1997): Personenzentrierte Hilfen in der psychiatrischen
Versorgung. Psychosoziale Arbeitshilfen 11. Bonn: Psychiatrie-Verlag
Kruse, G. (2000): Wider den psychiatrischen Absolutismus – vor allem am Beispiel der Forensik.
Sozialpsychiatrische Informationen 30: 15-18
Lempa, G. & Böker, H. (1999): Schizophrene Psychosen aus psychoanalytischer Sicht. Psychotherapie in
Psychiatrie, Psychotherapeutischer Medizin und Klinische Psychologie 4: 98-106
Mentzos, S. (1992): Einführung. In: S. Mentzos (Hg.): Psychose und Konflikt. Göttingen: Vandenhoeck &
Ruprecht, 9-28
Siekmann, G. (1996): Zur Unterbringung eines Betreuten gegen seinen Willen. In: Kerbe. Die Fachzeitschrift der
Sozialpsychiatrie, Heft 4: 187-191
Thorwart, J. (1998): Berufliche Verschwiegenheit. Juristische, beziehungsdynamische und praktische Aspekte
der innerinstitutionellen Schweigepflicht in psychosozialen Institutionen. München und Wien: Profil
Thorwart, J. (1999): Juristische und ethische Grenzen der Offenbarung von Geheimnissen: Anmerkungen zur
aktuellen Gesetzgebung und zu juristischen sowie beziehungsdynamischen Aspekten der innerinstitutionellen
Schweigepflicht. Recht & Psychiatrie 17: 10-16
Wolf, M. (1992): Die weiche Mauer. Die Behandlung des Patienten und der psychiatrischen Einrichtung mit
Psychotherapie, Supervision und gemeindepsychiatrischer Intervention. In: S. Mentzos (Hg.): Psychose und
Konflikt. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 224-252
Biographische Angaben:
Jürgen Thorwart (Jg. 1961), Dipl.- Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut,
Psychoanalytiker in eigener Praxis; Weiterbildung in psychoanalytischer Psychosentherapie
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