1 7 Dr. med. Gerhard Gutscher, Anheggerstr. 53, 88131 Lindau

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Dr. med. Gerhard Gutscher
Dr. med. Gerhard Gutscher, Anheggerstr. 53, 88131 Lindau/Bodensee
Facharzt für Psychosomatische Medizin
und Psychotherapie
Kinder- und Jugendpsychiatrie und
Psychotherapie, Sozialpsychiatrie
Anheggerstraße 53 (Schloss Moos)
D- 88131 Lindau / Bodensee
Tel.: 08382/24079 Fax: 08382/409900
e-mail: [email protected]
Familien beraten und behandeln
In meinem Beitrag will ich einen Überblick geben über die Möglichkeiten heutiger
Familientherapie, wie sie sich in den letzten 50 Jahren entwickelt hat. Ich gehe dabei von
meinen Erfahrungen in meiner Praxis aus . Als Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie
und Psychotherapie arbeite ich mit einem Team von 4 SozialarbeiterInnen im Rahmen der
sozialpsychiatrischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen. Die Kosten werden von den
Krankenkassen übernommen.
Zunächst stelle ich den Weg von der Diagnostik zur Therapie dar, werde dann aus der Praxis
einige Methoden der Familientherapie beschreiben und schließlich etwas zur Theorie der
systemisch-integrativen (Familien-)Therapie sagen.
1. Diagnostik: Die Anliegen und Probleme, mit denen typischerweise eine Mutter mit ihrem
Kind in meine Praxis kommt, sind sehr vielfältig. „Der Lehrer hat uns geschickt“ oder „die
Erzieherin im Kindergarten meint, das sollte mal abgeklärt werden“ oder „ wir haben viele
Probleme mit unserem Sohn und kommen nicht mehr klar miteinander“. Dies sind nur 3
Beispiele für die erste Antwort auf meine übliche Eingangsfrage: „Was führt Sie mit ihrem
Sohn Marvin/ihrer Tochter Svenja zu mir?“
Manche Mütter beginnen dann eine lange Schilderung einer schwierigen
Entwicklungsgeschichte, andere kommen gleich auf den aktuellen Punkt. Hier schon beginnt
die Kunst der Gesprächsführung. Wie kann ich die Ratsuchenden, die Leidenden, die
Patienten so im Gespräch abholen und anhören, dass sie ihre Sorgen loswerden, d.h. das sagen
können, was sie mir sagen wollen. Zugleich will ich einen Überblick bekommen, um was es
geht und was wer von mir will. Dazu strukturiere ich das Erstgespräch je nach Notwendigkeit
mehr oder weniger.
Es schließt sich eine körperliche Untersuchung einschließlich neurologischer Untersuchung
an. Besonders achte ich auf die Fein- und Graphomotorik und die Körperkoordination. Eine
neuropsychologische Untersuchung in Bezug auf Teilleistungsschwächen bzw.
Wahrnehmungsstörungen wird von mir meistens in einem zweiten Untersuchungstermin
vorgenommen. Fragebögen werden den Eltern und auch Lehrern oder Erzieherinnen, bei
älteren Kindern und Jugendlichen auch diesen selbst zum Ausfüllen mitgegeben.
Eine testpsychologische Untersuchung (Intelligenztest, evtl. Lese- und Rechtschreibtest,
Rechentest, Aufmerksamkeitstests, Sceno-Test, Familiensystemtest(1), Familie in Tieren u.a.)
bei einer Mitarbeiterin oder zum Teil bei mir schließt sich an mit einem Aufwand von 1-3
Stunden je nach Indikation.
Aus den Untersuchungsergebnissen mache ich mir ein Bild über die Auffälligkeiten/
Störungen des Kindes unter Berücksichtigung der Verhältnisse, in denen es lebt. Insbesondere
achten wir in unserer Praxis auf familiäre Zusammenhänge. Teils kann ich direkt
beobachten, wie eine Mutter mit ihrem Kind umgeht und umgekehrt, teils wird mir erzählt,
wie die Familie lebt und wie die Familiengeschichte ist, wobei jedes Familienmitglied eine
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andere Sicht der Dinge haben kann. Tests wie „Familie in Tieren“ oder der
Familiensystemtest(FAST) geben Hinweise auf die Familiendynamik, Familienstruktur und
das Familiensystem aus Sicht des Kindes.
Die Untersuchungsergebnisse werden mit Mutter und Kind gemeinsam besprochen.
Diagnosen nach den Kriterien des multiaxialen Klassifikationsschemas nach ICD-10 (2)
werden von mir gestellt und in verständlichen Worten mitgeteilt. Überlegungen zu
psychodynamischen und systemischen Zusammenhängen(3) werden je nach Situation
vorsichtig angesprochen, wobei ich direkte Deutungen eher vermeide. Häufig haben sich die
Mütter selbst schon viele Gedanken über die Hintergründe der Auffälligkeiten ihres Kindes
gemacht.
2. Therapie: „Was nun?“ ist die Frage der Mutter. Jetzt werden die Weichen gestellt.
Nachdem das Kind eine oder mehrere Diagnosen bekommen hat – dies ist in einer Arztpraxis
schon aus Abrechungsgründen unumgänglich – wäre es nahe liegend, das Kind zu behandeln.
Dies geschieht auch in vielen Fällen. Kinder mit einer Entwicklungsstörung erhalten die
nötige Ergotherapie oder Logopädie verordnet, andere mit emotionalen Hemmungen
bekommen Einzeltherapie, bei Kindern meist in Form einer Spieltherapie. Manche Kinder
brauchen Medikamente.
Bei vielen Kindern und Jugendlichen ist jedoch offensichtlich, dass die Familie in das
Geschehen stark involviert ist. Da wäre es kurzsichtig, sie außen vor zu lassen.
Nehmen wir als Beispiel Denis, ein Kind, das von der Mutter als unaufmerksam, zappelig und
impulsiv beschrieben wird. Bei einer bestimmten Anzahl von Symptomen, die in
unterschiedlichen Situationen auftreten und vor dem 7.Lebensjahr begonnen haben, erhält
Denis die Diagnose ADHS: Aufmerksamkeitsstörung mit Hyperaktivität. Dies suggeriert,
dass bei Denis etwas nicht stimmt, was bewirkt, dass er nicht aufpassen kann und sich nicht
konzentrieren kann. Nun gibt es aber eine ganze Reihe von Kindern, die können sich gut
konzentrieren, wenn sie allein sind und die volle Aufmerksamkeit einer Person bekommen.
Das ist zum Beispiel in der Testsituation der Fall. Dann berichtet mir meine Mitarbeiterin, die
die Tests durchgeführt hat, das Kind sei sehr aufmerksam und konzentriert gewesen und habe
überhaupt nicht rumgezappelt. Die Mutter aber schildert mit glaubhaft, dass dasselbe Kind in
der Schule oft wie abwesend wirkt, manchmal stört es durch dazwischenreden, es ist einfach
nicht bei der Sache, sagt der Lehrer. Bei den Hausaufgaben verhält es sich ähnlich.
Bei genauerem Nachfragen höre ich, dass das 3-jährige Geschwisterkind im gleichen Raum
spielt, während Denis seine Hausaufgaben zu machen versucht. Er ist ständig abgelenkt. Mal
spielt er mit seiner kleinen Schwester, mal regt er sich über sie auf. In beiden Fällen macht er
keine Hausaufgaben. Hier muß das unmittelbare Umfeld von Denis, die Familie und evtl.
auch Lehrer in die Beratung und Therapie einbezogen werden. Ich erfrage, ob Denis ein
eigenes Zimmer hat. Wenn ja, dann sollte er in Zukunft seine Hausaufgaben dort machen.
Dazu muß in der Regel erst einmal der Schreibtisch aufgeräumt werden. Es gibt viele weitere
Anregungen, die der Mutter und Denis helfen können, die Hausaufgabensituation besser zu
strukturieren. Besser als Ratschläge hilft eine Vorgehensweise, bei der die Fragen so gestellt
werden, dass die Eltern selbst auf eine Lösung kommen. Dies gehört zur Kunst der
Gesprächsführung mit Familien.
3. Familientherapie ist eine Methode, um im gemeinsamen Gespräch der Eltern oder der
Angehörigen mindestens zweier Generationen nach Lösungen zu suchen für Fragen,
Aufgaben und Konflikte, die von den Beteiligten selbst als problematisch empfunden werden.
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Die Familientherapie ist eine wirksame Methode zur Behandlung eines weiten Spektrums
psychischer, psychosomatischer und körperlicher Krankheiten. (nach Michael Wirsching:
Paar- und Familientherapie 2005,(4)).
In der Familientherapie achtet der Therapeut auf die Beziehungen zwischen den
Familienmitgliedern. Wie ist die Kommunikation zwischen den Eltern, zwischen Eltern und
Kindern, wie gehen die Geschwister miteinander um. Kommunikation ist viel mehr als
sprechen. Wir begegnen einander mit unserer Haltung, die sich in Körperhaltung, Gestik und
Mimik ausdrückt, wir sprechen mit den Händen, unsere Stimmung zeigt sich in unserer
Stimme. Manchmal geben wir Doppelbotschaften (double-bind), da sagen die Worte etwas
anderes als die Körperhaltung. Virginia Satir hat dies in ihrem Klassiker „Selbstwert und
Kommunikation“ (5)eindrucksvoll und bildreich dargestellt. Sie fand heraus, dass immer
wieder ähnliche Kommunikationsstile benutzt werden, wenn der Selbstwert angegriffen ist.
- anklagen
- beschwichtigen
- rationalisieren
- ablenken.
Kongruente Kommunikation bedeutet, dass die Worte mit der Mimik, Gestik,
Körperhaltung und Stimme übereinstimmen, also eine klare und eindeutige Redeweise.
In den Familiensitzungen achten wir Paar- und Familientherapeuten auf die Interaktion
zwischen den Familienmitgliedern. Dies beginnt schon bei der Begrüßung. Wir begrüßen
jeden Einzelnen mit Handschlag und achten beim sich setzen darauf, wer nimmt wo Platz, wer
setzt sich neben wen, wer zwischen welche. Das ergibt ein erstes Bild. Aufgrund der
nonverbalen und der verbalen Kommunikation bilden wir Hypothesen über das, was in dieser
Familie läuft. Hypothesengeleitet stellen wir Fragen. Eine besondere Spezialität der
Familientherapie ist das zirkuläre Fragen.
Ein Therapeut kann seinen Patienten direkt fragen: „Wie fühlen Sie sich?“ oder „Was nehmen
Sie in Ihrem Körper wahr?“ Zirkuläres Fragen bezieht den Beziehungsaspekt und das
Kommunikationsangebot einer Gefühlsäußerung mit ein. So kann der Familientherapeut die
Schwester eines unruhig herumzappelnden Jungen fragen: „Was meinst Du, wie fühlt sich
Dein Bruder jetzt gerade“. „Tratschen in Gegenwart anderer“ hat man das zirkuläre Fragen
auch genannt. Das was üblicherweise hinter dem Rücken des anderen „getratscht“ wird, soll
jetzt in Gegenwart des Betroffenen ausgesprochen werden. So eröffnen sich neue Horizonte.
Ein anderes Beispiel: In einer Familiensitzung fragt der Therapeut die Mutter eines
„schwierigen“ Jungen:
„Was tut Ihr Mann, wenn Ihr Sohn das tut, was Sie verhaltensgestört nennen?“
„wie reagiert der Sohn darauf?“
„Wie genau verhält sich Ihr Sohn anders, wenn Ihr Mann ihn als „gesund“beschreibt?“
(Lehrbuch der systemische Therapie und Beratung S.142 (6)).
In der Lösungsorientierten Kurztherapie stelle ich gerne an die anwesenden
Familienmitglieder folgende Frage:
„Angenommen, es würde über Nacht ein Wunder passieren, und die Probleme, weshalb Sie zu
mir gekommen sind, wären über Nacht verschwunden, woran würden Sie am nächsten
Morgen merken, dass ein Wunder passiert ist ?“ (7)
Die Antwort schreibe ich mit. Ich rege dazu an, möglichst konkret zu schildern, was am
nächsten Morgen anders wäre.
Als ich die Frage an eine 5-köpfige Familie stelle, die wegen des unaufmerksamen,
hyperaktiven in der Schule auffälligen und von anderen Kindern gemobbten Kevin zu mir
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gekommen war, antwortet seine ältere Schwester Hanna (alle Namen und persönlichen Daten
sind zum Personenschutz geändert):
„Es wäre eine Wochenende, wir würden alle bis 9 Uhr ausschlafen oder leise sein, so dass
Papa ausschlafen kann. Er würde dann ganz überrascht zum Frühstück erscheinen, uns allen
guten Morgen wünschen und uns zu einem Ausflug in den Europapark einladen. Mama würde
sich freuen und mitfahren.“
So frage ich jeden nach seinem persönlichen Wunder. Dann frage ich weiter:
„Auf einer Skala von 1-10, wenn 1 der Punkt wäre, wo alles am Schlimmsten war und bei 10
wäre alles gelöst, also das Wunder wäre geschehen, wo stehst Du/stehen Sie jetzt gerade?“
Jeder denkt sich eine Zahl aus, sagt sie aber erst, wenn alle sich eine ausgedacht haben, um
sich nicht gegenseitig zu beeinflussen. Hanna sagt: „5“, die Mutter „8“, Sven „9“, der Vater
„4“ und Kevin „2“. Jetzt beginne ich bei demjenigen weiterzufragen, der die niedrigste Zahl
angegeben hat. Das ist Kevin.
„Was hat sich schon verändert von 1 bis 2, was ist der Unterschied von 1 bis 2?“
Kevin sagt: „Der Vater schreit nicht mehr so“
Als Nächster kommt der Vater an die Reihe:
„Ich muß Kevin die Dinge nicht mehr 5 mal sondern nur noch 3 mal sagen, bis er sie tut. Die
Schulranzen liegen nicht mehr im Flur herum und Kevin macht seine Hausaufgaben jetzt in
seinem Zimmer.“
Hanna sagt, dass der Vater weniger schreit, die Eltern weniger schimpfen und die Brüder sie
weniger provozieren. Wenn alle ihre Antwort gegeben haben frage ich:
„Was wollen Sie/willst Du tun, um auf der Skala 1 Punkt höher zu kommen, also Kevin von 2
auf 3, der Vater von 4 nach 5, Hanna von 5 nach 6 usw.“
Die Antwort ist zugleich die Hausaufgabe bis zum nächsten mal. Wenn jemand wie hier der
Vater keine Antwort auf die letzte Frage weiß, gebe ich evtl. eine Beobachtungsaufgabe mit.
„Beobachten Sie doch bitte in den nächsten Wochen, was gut läuft in Ihrer Familie“
Mit dieser Aufgabe lenke ich den Blick weg vom Problem auf die Ressourcen der Familie
(8). Eine wesentliche Technik in der systemischen Paar- und Familientherapie ist das
„Reframing“. „To turn shit in roses“ nannte dies mein Lehrer Prof. Martin Kirschenbaum
aus Kalifornien. Es ist die Kunst, schwieriges und problematisches in einen neuen Rahmen zu
stellen, in anderem Licht zu sehen. So kann das aufsässige und alle Aufmerksamkeit der
Eltern in Anspruch nehmende Verhalten eines Jugendlichen als ein ernsthaftes Bemühen, die
Eltern zusammenzuhalten, umgedeutet werden.
„Das Gehirn besitzt die Fähigkeit zur Umcodierung, zur Umdeutung von Ereignissen.
Besonders Trauma und Liebe und Besonderheiten des Lebens können dabei eine Rolle
spielen. Umcodierung bedeutet nicht beliebiger Umgang mit Fakten, sondern die Einnahme
einer neuen Perspektive, unter der sie überhaupt erst erkannt werden“ (9).
Da die meisten Familien wegen Problemen mit ihren Kindern in die Praxis kommen, muß
vordringlich so gearbeitet werden, dass eine Symptomentlastung eintritt. Wenn es dem Kind
besser geht, sind manche Eltern bereit, auch die eigene Ehebeziehung genauer anzuschauen.
Ein weiterer Schritt ist es, wenn die beiden oder die ganze Familie auch die Vernetzung über
Generationen genauer unter die Lupe nimmt. Unsichtbare Bindungen (10) halten Familien
unbewußt gefangen. Verstrickungen über Generationen können ihre destruktive Kraft
verlieren, wenn sie aufgedeckt werden. Das Genogramm ist eine hilfreiche Methode, um
einen raschen Überblick über mehrer Generationen zu gewinnen. Eingetragen werden
Symbole für Mann und Frau, dazu das Geburts- und evtl. Todesjahr, verheiratet, getrennt oder
geschieden (6, Seite 130). Symbole auf dem Genogramm zeigen, wie die Beziehungen
zwischen den Personen sind(3). Gerade bei heutzutage oft verwickelten Verhältnissen in
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Patchworkfamilien(11) hilft das Genogramm, den Überblick zu bewahren. Der ist wichtig,
wenn der Therapeut nicht aufgesogen und vom System vereinnahmt werden will.
In einer Familienskulptur mit den anwesenden Mitgliedern der Familie kann räumlich
dargestellt und erlebt werden, wie die Familienbeziehungen von einem Familienmitglied
erlebt werden. Schritt für Schritt kann mit der Familie eine Lösung im hier und jetzt der
Familientherapie erarbeitet werden. Entscheidend ist jedoch, was außerhalb im Alltag passiert.
So habe ich es auch leider schon erleben müssen, dass bei einem völlig zerstrittenen
geschiedenen Elternpaar jede neue Information aus einem Gespräch gleich zum eigenen
Rechtsanwalt getragen wurde mit der Absicht, das alleinige Sorgerecht zu bekommen. Wo
Rechtsanwälte eingeschaltet sind rasch die Grenze therapeutischer Möglichkeiten erreicht.
Wir haben in diesem Fall eine Helferkonferenz einberufen. Hierbei wird das Helfersystem zu
einer Runde gemeinsamen Gesprächs eingeladen. Alle, die mit der Familie professionell zu
tun haben, setzen sich zusammen, um das weitere Vorgehen zu planen und gut
zusammenzuarbeiten. Dadurch wird vermieden, dass die Helfer sich gegenseitig sabotieren
und so den Familienkonflikt fortsetzen.
Die meisten Familien sind dankbar, dass sie Hilfe bekommen und nach einer Zeit von 1-5 bis
maximal 10 Sitzungen in 2-4 wöchentlichem Abstand eine wesentliche Besserung erreicht ist,
eine Krise gemeinsam gemeistert wurde, Symptome verschwunden sind. Dies stärkt den
Familienzusammenhalt oder ermöglicht bei Jugendlichen eine reifere Ablösung vom
Elternhaus.
Wenn in Familien ein Kind oder Jugendlicher sich besonders auffällig verhält und keine
Grenzen akzeptiert, geht es oft um die Wiederherstellung der elterlichen Autorität(12,13).
Viele Eltern wagen es nicht mehr, ihren Kindern Grenzen zu setzen. Dabei ist die gerade
notwendig, um zu lernen und zu erleben, was elterlicher Halt und Geborgenheit auch
beinhaltet(14). Grenzen sind wie Leitplanken, die Orientierung und Halt geben. Jugendliche
können sich daran reiben und so zu ihrer eigenen Identität finden.
4. Systemisch-integrative (Einzel-, Paar- und Familien-) Therapie ist
eine Methode zur Beratung und Behandlung von
- Einzelpersonen
- Paaren
- Familien
- Größerer Systeme (Helfersysteme,Kliniken, Beratungseinrichtungen etc.)
Sie basiert auf bestimmten Annahmen/ Theorien über Individuen, Paaren, Familien und
soziale Gruppen.
Ein System ist ein Gebilde von wechselseitig voneinander abhängigen Einheiten (10). Es ist
wie ein Mobile. Zieht man an einer Figur des Mobiles, so verändert sich über die Verbindung
der Fäden für jedes andere Element des Mobiles die Lage. Man kann ein System auch mit
einem Puzzle vergleichen. Das Ganze ist mehr als die Summer der Einzelteile.
Mitte des 20.Jahrhunderts fand ein sog. „Paradigmenwechsel“ statt.(15) Bis dahin hatte man
psychische Erkrankungen und Verhaltensauffälligkeiten am Individuum festgemacht und
versucht, so tief wie möglich in die Seele des Einzelnen vorzudringen- Tiefenpsychologie.
Sigmund Freud hatte 1900 mit seinem Klassiker „die Traumdeutung“(16) die Psychoanalyse
begründet.
Die innerseelischen Konflikte und Defizite interessierten die Psychoanalyse.
Wenig Beachtung fand der Kontext: Der Partner, die Familie, die weitere Umgebung.
Da wirkte es revolutionär, als in den USA Familienangehörige in die Behandlung
schizophrener Patienten einbezogen wurden. Bateson entwickelte sein Double-Bind-Theorie.
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Virginia Satir entdeckte und beschrieb typische Kommunikationsmuster, die immer wieder in
Familien zu finden sind, wenn der Selbstwert der Familienmitglieder labil oder bedroht ist.
Martin Kirschenbaum lernte bei Virginia Satir. Er nannte seine Methode.
Wachstumsorientierte systemisch-integrative Familientherapie.
Während Prof. Helm Stierlin seinen Weg von der Psychoanalyse über die Familientherapie
zur systemischen Therapie beschreibt (15), verbindet Prof. Fürstenau analytisches Verstehen
mit systemischem Denken und suggestivem Intervenieren(17). Diesen Ansatz verfolgen wir
auch in meiner Praxis. Wir versuchen zu verstehen, was den Einzelnen und die Familie dazu
bewegt, sich so zu verhalten, wie sie es tun. Wir achten auf die gegenseitige Vernetzung im
System und intervenieren lösungsorientiert mit Fragen oder Anregungen bis hin zu
Hausaufgaben. Dieser analytisch-systemische Ansatz ist ressourcen- und lösungsorientiert,
wie ich dies oben an Beispielen skizziert habe.
Systemische Familientherapie ist eine psychotherapeutische Methode, die sich darauf
konzentriert, die Interaktionen zwischen den Familienmitgliedern so zu verändern, daß sich
die Dynamik der Familie als Ganzes, der Subsysteme und der einzelnen Individuen verbessert.
Familientherapie lebt von Methodenvielfalt:
- Reframing: positives Umdeuten.
- Herkunftsfamilienarbeit
- Rollenspiel
- Familienskulptur
- Familienaufstellung
- Genogrammarbeit
- Zirkuläre Fragen
- Hausaufgaben usw.
5. Epilog: Von der Psychoanalyse, deren Begründer Sigmund Freud vor 150 Jahren geboren
wurde, führt ein langer Weg über die Familientherapie zur Systemischen Therapie(15). Wir
begegnen(18,19) nicht nur dem Einzelnen und seiner innerseelischen Welt, sondern einer
Familie, einem Netzwerk von Beziehungen. Wie bei einem Mobile beeinflusst das Verhalten
jedes Einzelnen das Ganze. Das Ganze ist mehr als die Summe der Einzelnen.
Systemische Familientherapie ist anspruchsvolle Arbeit, die uns Berater und Therapeuten und
die Familien, mit denen wir arbeiten, herausfordert und mit neuen Erfahrungen beschenkt,
manchmal sogar beglückt.
Literatur:
1. Familiensystemtest (FAST), Thomas M. Gehring, Beltz Test 1998, 91 Seiten + Testkoffer
2. Multiaxiales Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters
nach ICD-10 der WHO, Helmut Remschmidt/Martin Schmidt/Fritz Poustka (Hrsg.), Verlag
Hans Huber, 2001, 410 Seiten
3. Handbuch der Familiendiagnostik, Manfred Cierpka (Hrsg.), Springer 1996, 452 Seiten
4. Paar- und Familientherapie Grundlagen, Methoden,Ziele, Michael Wirsching,
C.H.Beck Wissen 2005,107 Seiten 7,90 Euro
5. Selbstwert und Kommunikation, Familientherapie für Berater und zur Selbsthilfe, Virginia
Satir, Pfeiffer, 1980, weitere Auflagen bis heute folgten, 362 Seiten
6.: Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung, Arist von Schlippe, Jochen Schweitzer,
Vandenhoeck&Ruprecht, 1998, 294 Seiten
7. Familien-Zusammenhalt(en), Ein kurz-therapeutisches und lösungsorientiertes Arbeitsbuch,
Insoo Kim Berg, verlag modernes lernen – Dortmund, 1992, 193 Seiten
7
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8.: Systemische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, Wilhelm Rotthaus, Carl-AuerSysteme Verlag, 2001, 476 Seiten
9.: Die Freiheit und das Gehirn, Eine neurophilosophische Ethik, Detlef B. Linke,
C.H.Beck,2005, 272 Seiten
10.: Unsichtbare Bindungen, Die Dynamik familiärer Systeme, Ivan Boszormenyi-Nagy,
Geraldine M.Spark, Klett-Cotta, 1981, 407 Seiten
11.: Patchwork,Familienforum mit Zukunft , Gerlinde Unverzagt, Deutscher Taschenbuch
Verlag 2002, 215 Seiten. 9 Euro
12. Autorität ohne Gewalt, Coaching für Eltern von Kindern mit Verhaltensproblemen, Haim
Omer, Arist von Schlippe, Vandenhoeck§Ruprecht,2004, 214 Seiten
13. Autorität durch Beziehung, Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung,
Haim Omer, Arist von Schlippe, Vandenhoeck&Ruprecht 2004, 262 Seiten
14. Werner May: Kindern dialogisch Grenzen setzen, Ein Leitfaden für Eltern und Erzieher
Ignis-Akademie für christliche Psychologie. 134 Seiten, 2001
15:Psychoanalyse-Familientherapie-systemischeTherapie,Entwicklungslinien,
Schnittstellen, Unterschiede, Helm Stierlin Klett-Cotta 2001, 297 Seiten 27,50Euro
16: Die Traumdeutung, Sigmund Freud, 1900 (erschienen Nov. 1899) in: Sigmund Freud
Studienausgabe Fischer Taschenbuch Verlag 2000, Band II, 693 Seiten
17: Psychoanalytisch verstehen, systemisch denken, suggestiv intervenieren, Peter Fürstenau,
Pfeiffer bei Klett-Cotta, 2001, 175 Seiten
18 Systemische Therapie als Begegnung: Rosmarie Welter-Enderlin, Bruno Hildebrand,
Klett-Cotta 1999, 269 Seiten
19: Wie aus Familiengeschichten Zukunft entsteht, Neue Wege systemischer Therapie und
Beratung, Rosmarie Welter-Enderlin, Herder, 1999,190 Seiten
Lindau, den 31.5.2006
Dr. med. Gerhard Gutscher, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie,
Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychiatrie und Psychotherapie, Systemischer
Paar- und Familientherapeut und Supervisor(DGSF), Körperpsychotherapeut(IBP).
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