117kritischePhase - Supervision

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3.2.6.3 Die kritische Phase
Die kritische Phase ist die eigentliche Suchtphase. Zu ihrem
Beginn steht der einsetzende totale Kontrollverlust. Die bereits in der
Prodromalphase beginnende soziale Isolierung und die körperlichen
Schädigungen verstärken sich durch den Kontrollverlust erheblich.
Wie schon weiter oben ausgeführt 1, bedeutet Kontrollverlust, dass der
Betreffende seine Alkoholzufuhr nicht mehr willentlich steuern kann.
Dieses Kriterium wird als juristisches Merkmal für das Vorliegen
einer Alkoholabhängigkeit in Sinne des Gesetzes (RVO) verstanden.
Die Begründung für eine Totalabstinenz nach einer erfolgreichen
Behandlung wird darin gesehen, dass dieser Kontrollverlust grundsätzlich nicht mehr heilbar ist. Der alkoholkranke Mensch, der es
geschafft hat, vom Alkohol loszukommen, muss deshalb sein Leben
lang abstinent bleiben, weil schon kleine Mengen der Droge Alkohol
diesen Kontrollverlust wieder auslösen können.
Zu Beginn dieser Phase kämpfen die betroffenen Menschen
oftmals noch gegen die Alkoholabhängigkeit an. Sie verlieren den
Kampf aber immer häufiger und verfallen der Sucht mehr und mehr.
Es wird vielfach erfolglos versucht das Trinken zu rechtfertigen. Da
dies immer weniger gelingt resignieren die Betroffenen und ihr
Desinteresse an Freizeit, Beruf und Familie wächst an. In diesem
Zeitraum nehmen die Konflikte und Streitereien in der Familie und am
Arbeitsplatz deutlich zu. Es kommt vermehrt zu Arbeitsplatzverlusten
und in Einzelfällen auch zu Trennungen der Ehepartner, falls diese
nicht co-abhängig sind.
Dies führt oft dazu, dass der alkoholkranke Mensch sich weiter
isoliert, vielfach schon am Morgen zu trinken beginnt und auch seine
Ernährung und seine Wohnung vernachlässigt. Auf die Versuche den
Alkohol abzusetzen reagiert nun der Körper des betroffenen
Menschen mit Brechreiz, Schweißausbrüchen und Zittern. Dies sind
die Entzugserscheinungen, welche die Merkmale einer körperlichen
Abhängigkeit2 darstellen.
1
2
Zum Kontrollverlust siehe die Kapitel „psychische Abhängigkeit „ und „Gamma-Alkoholiker“
Siehe Kapitel „Körperliche Abhängigkeit“.
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In der kritischen Phase versuchen viele Alkoholkranke vom
Trinken runter zu kommen und abstinent zu werden. Dies gelingt
häufig auch, trotz der massiven Entzugserscheinungen. Dieser Erfolg
macht die Betroffenen dann stolz und gibt ihnen das Gefühl doch
nicht abhängig zu sein. Die so erreichte Abstinenz kann manchmal
über Wochen oder gar Monate andauern. Die meisten alkoholkranken
Menschen in dieser Phase kennen solche Abstinenzzeiten. Da sie aber
bereits einen Kontrollverlust erlitten haben, können sie nicht mehr
zum mäßigen Trinken zurückkehren. Dies wäre in der zweiten Phase,
also vor dem totalen Kontrollverlust, grundsätzlich noch möglich.
Jetzt aber führen die psychischen Probleme (nicht die körperliche
Abhängigkeit) dazu, dass der Betroffene sich „mal wieder einen
genehmigen“ will. Dies hat dann in den allermeisten Fällen einen
erneuten Kontrollverlust zur Folge, der dann meistens noch massiver
ausfällt als vor der Abstinenzphase. Mann kann sagen, dass das
Trinkverhalten sich nach jeder Abstinenzphase zu neuen Höhen
steigert. Die Abstinenzzeiten während der kritischen Phase tragen also
zur weiteren Eskalation des Suchtkreislaufes bei.
Ein weiteres Merkmal der kritischen Phase kann darin gesehen
werden, dass nun sich die Alkoholmenge die der Kranke zur
Erleichterung benötigt und die Menge, bei der er einen Vollrausch hat,
angleichen. In der zweiten Phase, der prodromalen, trat das
Erleichterungsgefühl bereits auf, lange bevor der Trinker berauscht
war. Also, zur Erleichterung benötigt er vielleicht drei bis fünf Gläser
Bier, ein sichtbarer Rausch trat aber erst nach etwa zehn bis fünfzehn
Gläsern ein. Deshalb wirkte dieser Mensch in der Prodromalphase
auch nur selten betrunken und die Umwelt konnte kaum ein Problem
erkennen. Jetzt aber, in der kritischen Phase, benötigt der selbe
Trinker ein viel höheres Quantum Alkohol, um das Gefühl der
Erleichterung zu erreichen, also etwa zehn Gläser Bier. Gleichzeitig
beginnt aber nun der Körper des Betreffenden weniger zu vertragen,
und er ist schon bei einer geringeren Menge berauscht, also bei etwa
acht bis zehn Gläsern Bier 3. So kommt es, dass der Alkoholkranke in
dieser Phase seiner Suchtentwicklung immer sichtbar berauscht sein
3
Die Mengenangaben sind nur Beispielswerte, sie können selbstverständlich von Individuum zu
Individuum erheblich variieren.
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muss, um das gesuchte Gefühl der Erleichterung zu finden. Dies sind
die ersten Anzeichen des „Toleranzbruches“ der kennzeichnend für
die chronische Phase ist und der dazu führt, dass der Alkoholkranke
immer geringere Mengen benötigt, um berauscht zu werden. Die
gesuchte Erleichterung allerdings tritt dann kaum noch ein.
Zusammenfassend können einige Merkmale der kritischen Phase
wie folgt beschrieben werden: Kontrollverlust – Selbstvorwürfe und
starke Stimmungsschwankungen – zunehmender Interessenverlust –
morgendliches Trinken – Versuch ein Trinkschema zu entwickeln
(z.B. nicht vor einer bestimmten Uhrzeit mit dem Trinken zu
beginnen) – zunehmende soziale Probleme (Arbeitsplatzverlust,
Familienkonflikte usw.) erste Entzugserscheinungen (Zittern,
Schweißausbrüche, sexuelle Störungen usw.)
3.2.6.4 Die chronische Phase
Die chronische Phase ist besonders durch den Toleranzbruch
gekennzeichnet. Das bedeutet, dass nun beim Betroffenen die
Alkoholverträglichkeit mehr und mehr nachlässt und er schon bei
relativ geringen Mengen in einen Rauschzustand gerät. Dabei tritt das
gesuchte Erleichterungsgefühl fast überhaut nicht mehr ein, denn die
Erleichterungsdosis liegt jetzt weit über der Rauschdosis. Die
Betroffenen sind nun vielleicht schon bei drei bis vier Gläsern Bier
betrunken, die Erleichterung würde aber erst nach etwa zehn bis zwölf
Gläsern einsetzen. Der Toleranzbruch wird darauf zurückgeführt, dass
in
Folge
fortgeschrittener
organischen
Schädigungen
die
Alkoholverträglichkeit zusammenbrechen kann. Schließlich kommt es
in dieser Phase bereits zu schwerwiegenden Stoffwechselstörungen,
zu Schädigungen des Gehirnes und des Nervensystems. Die
betroffenen Menschen müssen nun bereits früh morgens trinken, um
überhaupt einigermaßen ins Gleichgewicht zu kommen und nicht
ihren massiven Entzugserscheinungen ausgeliefert zu sein. Die
Schädigungen im Nervensystem führen oftmals dazu, dass die
Kranken sich in dieser Phase nicht mehr richtig bewegen können und
nur noch durch Alkoholzufuhr in der Lage sind, ohne zu zittern und
ohne Gliederschmerzen, sich zu bewegen. Die Betroffenen sind nun
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unfähig abstinent zu sein, vertragen aber andererseits den Alkohol
jetzt immer schlechter.
Es
kommt
nun
zu
immer
häufiger
auftretenden
Entzugserscheinungen, wie starkes Schwitzen, Zittern, Durchfall,
Übelkeit, Übererregbarkeit, Verstimmungs- und Angstzustände,
innere Spannungen und Unruhe usw. Diese Entzugserscheinungen
verschwinden bei der Zufuhr von Alkohol, wobei es jetzt den
betroffenen Menschen auch zunehmend gleichgültig wird, welcher Art
der Alkohol ist, den sie zu sich nehmen. Das kann nun auch schon
einmal Industriealkohol oder Rasierwasser sein. Nach der
Alkoholzufuhr setzt dann schnell wieder der Kontrollverlust ein, dem
aber der Toleranzbruch gegenüber steht. Das bedeutet, dass der
Alkoholkranke zwar einen Kontrollverlust erleidet, dass er nun aber
nach einer relativ geringen Menge schon volltrunken ist und sich
dadurch so kaputt fühlt, dass er gar nicht mehr weitertrinken kann.
In dieser Phase der Alkoholabhängigkeit muss der Kranke
schwere soziale Folgeschäden erleiden. Schon in der kritischen Phase
wendete sich seine soziale Umgebung, Freunde und Bekannte
zunehmend von ihm ab. Nun aber wird er sogar gesellschaftlich
geächtet. Das Trinken wird von den anderen Gesellschaftsmitgliedern
jetzt als schwerer Verstoß gegen die allgemein anerkannten
Spielregeln des menschlichen Miteinanders gewertet. Der
alkoholbedingte Persönlichkeitsabbau ist unübersehbar und die
Toleranzgrenze der Mitbürger, der Familienangehörigen und der
Kollegen ist überschritten. Vielfach verlieren in diesem Stadium die
Betroffenen Arbeitsplatz, Familie und Wohnung.
Im weiteren Verlauf treten jetzt auch zunehmend alkoholbedingte
geistig-seelische Schäden auf. Diese kommen oftmals in großer
Verwahrlosung zum Ausdruck. Der süchtige Mensch vernachlässigt
zunehmend seine Körperpflege sucht die Gesellschaft von noch weiter
gescheiterten Menschen, lässt möglicherweise seine Wohnung
vermüllen, und kotet sogar manchmal ein.
In dieser Phase erkennt der Alkoholkranke, dass er total gescheitert
ist und dass der Alkohol ihn besiegt hat. Viele der dermaßen
betroffenen Menschen resignieren dann völlig und ergeben sich ihrem
Schicksal. Sie sind auch nur noch selten in der Lage nach Hilfe zu
suchen, weil sie sich von der Gesellschaft weitgehend abgeschoben
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fühlen. Tatsächlich werden sie auch nicht mehr vom professionellen
und ehrenamtlichen Suchthilfesystem erreicht, sie fallen dann eher im
psychiatrischen und sozialfürsorgerischen 4 Bereich auf, wo sie
minimale Hilfen zum Überleben erhalten.
Die auf Abstinenz ausgerichteten Suchthilfeinstitutionen sind lange
Zeit davon ausgegangen, dass es einem suchtkranken Menschen erst
so richtig dreckig gehen muss, bevor er motivier für eine Veränderung
ist. Erst dann wird er nach (therapeutischer) Hilfe suchen. Vielen
Menschen in der chronischen Phase geht es aber so dreckig, dass sie
resigniert haben und überhaupt nicht mehr um Hilfe suchen können.
Für den Personenkreis der chronischen Alkoholkranken musste
schließlich ein anderer Arbeitsansatz gesucht werden, um ihnen zu
helfen. Die „niederschwellige und nachgehende Hilfe“ für diese
Menschen orientiert sich eher an der Hilfe für psychisch kranke
Menschen. Die betroffenen chronischen Alkoholiker werden von den
Helfern aufgesucht, sei es in ihren Wohnungen oder „auf der Platte“.
Die Helfer haben nun nicht mehr das Ziel den Hilfebedürftigen
„trocken“ zu bekommen. Es geht ihnen zunächst nur darum das
Lebensnotwendige zu sichern und eventuell eine Notfallversorgung
zur Verfügung zu stellen. Manchmal wird auch gegen den Willen des
Betroffenen eine Krankenhauseinweisung veranlasst, wenn die
Selbstgefährdung zu groß wird. Die gesetzliche Grundlage dafür ist
von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich, sie ist in den
Gesetzen für Psychisch Kranke geregelt 5.
In der chronischen Phase erreichen viele alkoholkranke Menschen
ein Endstadium des körperlichen, geistigen psychischen und sozialen
Verfalls. Viele alkoholbedingte Folgeerkrankungen müssen nun von
den Suchtkranken getragen werden.
Zusammenfassend ist die chronische Phase durch folgende
Merkmale gekennzeichnet: Tagelange Vollräusche - es wird jede
alkoholische Flüssigkeit getrunken – Geistesstörungen mit Delirium
(weiße Mäuse werden gesehen) – Alkoholpsychosen – Starke Ängste
– Selbstmordgedanken – Toleranzbruch (der Körper verträgt weniger
Alkohol) – Der Zusammenbruch wird zugegeben – Resignation.
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5
Z.B. Wohnungslosenfürsorge, Bahnhofsmission, Sozialamt
In NRW ist es das PsychKG
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