Der Wahnsinn des Krieges

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KRIEG UND MEDIZIN
Ein Gemeinschaftsprojekt der Wellcome Collection, London,
und des Deutschen Hygiene-Museum
4. April bis 9. August 2009
AUSFÜHRLICHE PRESSEINFORMATION
Krieg und Medizin - ein widersprüchlicheres Verhältnis ist kaum denkbar. Menschen
verlieren im Krieg ihr Leben und erleiden entsetzliche Verletzungen. Der
Zerstörungs-gewalt des Krieges steht das Ziel der ärztlichen Heilkunst gegenüber,
Leiden zu lindern und Menschenleben zu retten. Dennoch arbeiten Militär und
Medizin seit
zwei Jahrhunderten eng zusammen. Aus internationaler Perspektive beleuchtet
die Ausstellung entscheidende Schnittstellen in der Zusammenarbeit von Militär
und Medizin seit Anfang des 19. Jahrhunderts bis zu den Kriegen unserer Zeit.
Historische Objekte und Kunstwerke veranschaulichen, wie der Wunsch des
Menschen, zu heilen und wiederherzustellen, Schritt zu halten versucht mit
seiner Fähigkeit, zu verstümmeln und zu töten. Eindringlich bezeugen persönliche
Erzählungen die Erfahrungen von körperlicher und seelischer Verwundung im Krieg.
Das Verhältnis von Krieg und Medizin ist bis heute zwiespältig. Angesichts der
andauernden militärischen Präsenz europäischer Armeen in internationalen
Krisengebieten soll dieses Verhältnis im Hinblick auf die aktuellen Geschehnisse
reflektiert werden.
Die Ausstellung wurde von der Wellcome Collection London und das
Deutsche Hygiene-Museum Dresden gemeinsam realisiert.
Ausgewählte Objekte
Der Künstler David Cotterell
2008, Wellcome Collection, London
David Cotterrell spricht über seine Erfahrungen im britischen Armeehospital der
1
Militärbasis Camp Bastion in Afghanistan, das er 2007 besuchte. Seine Reise
unterstützte das britische Verteidigungsministerium und der Wellcome Trust London.
Theatre
David Cotterrell (*1974), 2008, 60 Min.
Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers und der Galerie Danielle Arnaud
contemporary art. Mit freundlicher Unterstützung des britischen
Verteidigungsministeriums
Der Titel „Theatre“ könnte mit „OP-Saal“ oder „Kriegsschauplatz“ übersetzt werden. Der Film
bezieht sich auf die persönlichen Erfahrungen des Künstlers während seines Aufenthaltes in
Afghanistan 2007. Er begleitete dabei einen Nachtflug zur Evakuierung eines schwer
verletzten britischen Soldaten. Der Flug bildet symbolische eine Brücke zwischen dem
Durcheinander des Lazaretts und dem langfristigen Prozess der Rehabilitation in der
Heimat. „Theatre“ ist eine Rekonstruktion des letzten Ausbildungstages der
Evakuierungsteams vor ihrem Einsatz in Afghanistan oder im Irak. Es bietet einen seltenen
Einblick in eine sonst verborgene Welt.
1. DER APPARAT
1.1 DIE INITIATOREN
Auf den Kriegsschauplätzen des frühen 19. Jahrhunderts sterben Tausende von
Soldaten an Krankheiten, Verwundete bleiben hilflos auf den Schlachtfeldern liegen.
Die katastrophalen Zustände alarmieren Krankenschwestern, Ärzte und medizinische
Laien in ganz Europa. Zum einen setzen sich Menschen aus der Mitte der
Gesellschaft, wie die britische Krankenschwester Florence Nightingale, dafür ein,
die medizinische Versorgung im Krieg zu verbessern. Zum anderen sind es Ärzte
wie Dominique Larrey in Frankreich oder der Deutsche Ernst von Bergmann, die,
eng mit dem Militär verbunden, ein funktionstüchtiges Sanitätswesen aufbauen.
Ihnen allen gemeinsam ist der Wunsch, das Gesicht des Krieges menschlicher
zu gestalten. Neben den humanitären Beweggründen spielen jedoch auch
militärstrategische Überlegungen und patriotische Gefühle eine Rolle. Den Krieg
als eigentlichen Verursacher des unendlichen Leids ächten nur wenige.
2
Kriegsopfer
Diese Statistiken zeigen die Konflikte, auf welche sich die Ausstellung konzentriert.
Sie liefern einen Anhaltspunkt für die ungeheure Zahl der Soldaten und Zivilisten,
die in den Kriegen ihre Gesundheit und Leben verloren. Die Anzahl von
Kriegsopfern zu ermitteln ist ein schwieriges Unterfangen. Es sind hier jene Zahlen
abgebildet, über die Übereinstimmung zu herrschen scheint. Bei unterschiedlichen
Angaben wurde ein Mittelwert bestimmt. Lücken bleiben, wo Zahlen unbekannt
sind oder äußerst widersprüchliche Angaben existieren.
Carl von Clausewitz (1780–1831), dessen Worte hier zitiert sind, ist bis heute einer
der bekanntesten deutschen Militärtheoretiker.
Ausgewählte Objekte
Florence Nightingale (1820–1910)
um 1861 (Reproduktion), The Florence Nightingale Museum Trust, London
Nightingale arbeitete während des Krimkrieges als Krankenschwester für die
britischen Truppen. Dieser Krieg erreichte durch die Presse eine zuvor nicht gekannte
Öffentlich-keit und wurde von den Zeitgenossen als humanitäre Katastrophe
wahrgenommen. Aufgrund ihrer aufopfernden Pflege verwundeter und kranker
Soldaten sowie ihrer sanitätsorganisatorischen Vorschläge gilt Nightingale als
Wegbereiterin der modernen Verwundetenversorgung in Großbritannien.
Dominique-Jean Larrey (1766–1842)
Raymond Desvarreux (1876–1961) nach Madeleine Benoist (1768–1826), 1960
Musée du Service de Santé des Armées au Val-de-Grâce, Paris
Larrey gilt als Begründer des französischen Heeressanitätswesens. Unter Napoléon
Bonaparte begleitete er die Feldzüge zwischen 1792 und 1814. Larrey war nicht nur
ein hervorragender Feldchirurg, sondern engagierte sich auch für die organisatorische
Verbesserung der Verwundetenversorgung. Er führte die fliegenden Ambulanzen
(ambulances volantes) ein und schuf damit ein bewegliches System medizinischer
Hilfe im Krieg.
The Greatest Mother in the World (Die Größte Mutter der Welt)
Alonzo Foringer (1878–1948), 1918, Imperial War Museum, London
3
Dieses Plakat aus den USA soll ein Gefühl von Barmherzigkeit und Zärtlichkeit
vermitteln. Die „Mutter“ ist zu einem Sinnbild für das amerikanische Rote Kreuz
geworden, und wird jahrzehntelang in weiteren Plakaten neu interpretiert. Das
Symbol des Roten Kreuzes ist als Zeichen der Neutralität und der Schutzwürdigkeit
des medizinischen Personals im Krieg international anerkannt.
Karl August Lingner (1861–1916)
vor 1960, Rudolf Zink, Stiftung Deutsches Hygiene-Museum, Dresden
Der Gründer des Deutschen Hygiene-Museums ist zu Lebzeiten eine prominente
Persönlichkeit Dresdens. Als Direktor des Serumswerkes, das vor allem
Tetanusimpfstoff für die Truppen herstellt, steht er während des Ersten Weltkrieges in
engem Kontakt mit dem Heeressanitätswesen. Auch die Lingner-Werke A.G. des
"Odolkönigs" produzieren für die Front. Lingner engagiert sich in den Kriegsjahren
sehr zugunsten der Verwundetenfürsorge.
Das Sächsische Serumwerk
Reproduktion, Original: 1911, GlaxoSmithKline, Dresden
Während des Ersten Weltkrieges produziert das Werk vornehmlich Anti-Tetanusseren,
aber auch Wirkstoffe gegen Cholera, Ruhr, Gasbrand oder Strepto- und
Pneumokokken. Wie auch andere kriegswichtige Wirtschaftszweige verbucht das
Sächsische Serumwerk in den Kriegsjahren starke finanzielle Gewinne.
1.2 DIE RETTUNGSMASCHINERIE
Die Schlagkraft von Armeen hängt von der Leistungsfähigkeit ihrer Soldaten ab.
Verwundete sollen daher so schnell wie möglich wieder einsatzbereit sein. Dies
erfordert ein durchorganisiertes System, das unter Zeitdruck und bei knappen
Ressourcen bestmögliche medizinische Hilfe bietet.
Die Transportkette im Sanitätswesen setzt diese Anforderungen in die Praxis um.
Sie befördert den Verletzten vom Ort seiner Verwundung bis in die Spezialklinik
der Heimat und gegebenenfalls wieder zurück an die Front. Körper und Geist des
Kranken unterliegen in dieser Zeit vollständig der militärärztlichen Kontrolle. Doch
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die Stationen der Transportkette zeigen auch das ganze Ausmaß kriegerischer
Gewalt. Selbst ausgeklügeltste Logistik und neueste technische Ressourcen
kapitulieren vor der entgrenzten Vernichtungskraft des Krieges.
Bergung
Am Ort der Verwundung ist der Mensch auf sich allein gestellt. Auch heute ist oft
keine unmittelbare medizinische Hilfe zu erwarten. Selbsthilfe, die erste Hilfe von
Sanitätern und Kameraden sind für das Überleben entscheidend. Das Wichtigste ist,
den Verwundeten so schnell wie möglich vom Schlachtfeld zu bergen. Er wird zum
nächstgelegenen Verbandsplatz gebracht, wo Ärzte zur Verfügung stehen. Operiert
wird hier nur, wenn unmittelbare Lebensgefahr besteht. Bevor der Verletzte weiter
ins Feldlazarett kommt, findet das erste Ordnen statt: Wer ist bald wieder
kampffähig? Und wer braucht dringend fachärztliche Hilfe?
Ausgewählte Objekte
Träger des Royal Army Medical Corps (RAMC) heben einen Verwundeten aus
einem Schützengraben
Gilbert Rogers, um 1919, Wellcome Library, London
Gilbert Rogers, ein Maler aus Liverpool und ehemaliges Mitglied des Royal Army
Medical Corps (RAMC), ist im Ersten Weltkrieg einer von 13 Künstlern, die vom
britischen Kriegsministerium und dem RAMC beauftragt sind, die Arbeit des
Sanitätswesen zu dokumentierten. Ihre Werke wurden 1920 im Londoner Crystal
Palace ausgestellt.
Modell eines "Doolie". Sattelkorb für den Verwundetentransport auf dem Rücken
eines Dromedars
undatiert, Musée du Service de Santé des Armées au Val-de-Grâce, Paris
Der französische Sanitätsdienst unter Napoléon Bonaparte setzt nach den Planungen
des Oberstfeldarztes Jean-Dominique Larrey Dromedare als Transporttiere für die
Verwundeten ein.
Sanitätssatteltasche für Hunde
um 1914, Militärhistorisches Museum der Bundeswehr Dresden
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Kriegslazarett Saint du Nord
Richard Reu, 05.11.1914, Deutsches Historisches Museum, Berlin
Prototyp eines physiologischen Überwachungs-„Pflasters“
Eine Gemeinschaftsentwicklung von Sims Innovation Laboratory, Massachusetts
General Hospital, CIMIT (Boston) und ST+D (Belfast), 2008, mit freundlicher
Genehmigung von ST+D, Belfast
Sanitäter, die Verletzte an der Front versorgen, befinden sich selbst in Lebensgefahr.
Alles, was sie vor dem Rettungseinsatz über den Zustand des Verwundeten in
Erfahrung bringen können – Puls, Atmung, Bewegung, Körpertemperatur – erleichtert
ihre Arbeit. Soldaten, die ein solches Pflaster vor dem Kampfeinsatz an ihre Brust
heften, senden ihre medizinischen Daten über moderne Kommunikationstechnik an
das Sanitätspersonal.
1.3 FELDLAZARETT
Hinter der Front arbeiten Ärzten, Sanitäter und Krankenschwestern bis zur
Erschöpfung. Massen von Verwundeten strömen von den Verbandsplätzen hinter
den Kampflinien in die Etappe, um hier medizinisch versorgt zu werden. Erst in den
Feldlazaretten finden große Operationen und komplizierte Eingriffe statt.
Chirurgische Bestecke und Medikamente werden für diesen Zweck mobil gemacht.
Von deren geglücktem Transport hängt das Leben der Verletzten ab. Kommt es zu
Engpässen oder Ausfällen im Nachschub, senken diese die Chancen des
medizinisch Machbaren. Dass unter den Bedingungen des Krieges nach neustem
medizinischem Standard behandelt wird, ist somit nicht immer gewährleistet. Von
den Feldlazaretten aus werden Soldaten, die nicht wieder einsatzfähig sind, über
große Strecken zur weiteren Behandlung an die „Heimatfront“ transportiert.
Ausgewählte Objekte
Militärärztliche Bestecke
Ärzten, die im Feld operieren, stehen unterschiedlichste Varianten an chirurgischen
Bestecken zur Verfügung. Die Palette reicht vom fünfteiligen Taschenbesteck bis hin
zu den Haupt- und fachärztlichen Sammelbestecken für große Operationen.
6
Militärisches Hauptbesteck
J. Thamm, Berlin, Erster Weltkrieg, Berliner Medizinhistorisches Museum (BMM) der
Charité, Berlin
Feldchirurgenbesteck
Zweiter Weltkrieg, Deutsch-Russisches Museum Berlin-Karlshorst
Zahnärztliches Feldbesteck
nach 1940, Deutsches Historisches Museum, Berlin
Selbstbildnis mit Krankenpflegeruniform und Autobrille
Max Beckmann (1884–1950), April 1915, Hamburger Kunsthalle, Hamburg
Der Künstler Max Beckmann meldete sich im Ersten Weltkrieg freiwillig. Als Sanitäter
transportierte er Verwundete von Verbands- und Hauptverbandsplätzen in
Feldlazarette. Am 4. Mai 1915 beschrieb er eine solche Verbandsstelle in einem Brief
an seine Frau Minna: "In dem halbdunklen Unterstand halbentkleidete,
blutüberströmte Männer, denen die weißen Verbände angelegt wurden. Groß und
schmerzlich im Ausdruck. Neue Vorstellungen von Geißelungen Christi." Nach einem
Nervenzusammenbruch 1916 verließ Beckmann die Armee.
Der Vereins-Lazarettzug L von Walter von Oettingen (1873–1948)
Erster Weltkrieg, Reproduktion, Originale Glasplattendia 1914–1918, Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf, Universitäts- und Landesbibliothek, Düsseldorf
Sowohl während des Russisch-Japanischen Krieges (1904–1905) als auch des Ersten
Weltkrieges leitete Walter von Oettingen zusammen mit seiner Frau Elisabeth (1875–
1972), einer Operationsschwester, im Dienst des Roten Kreuzes einen
Vereinslazarettzug. Das Ehepaar dokumentierte seine Arbeit durch fotografische
Aufnahmen. Da die Finanzierung des Lazarettzuges von Spenden abhing, dienten die
Bilder auch seiner öffentlichkeitswirksamen Präsentation, um für finanzielle Mittel zu
werben.
1 Elisabeth von Oettingen im Küchenabteil
2 Krankenabteil, auf den Betten Verwundete, dahinter Sanitäter und eine
Krankenschwester des Roten Kreuzes, 4. März 1915
3 Sanitäter und Krankenschwestern des Roten Kreuzes bei der Versorgung
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Verwundeter, links vorne Walter von Oettingen
4 Verwundete und Sanitäter des Roten Kreuzes in einem Schlafabteil
5 Verladung eines Verwundeten in das Schlafabteil
6 Ausladung Verwundeter in Heidelberg
1.4 HEIMATLAZARETT
Verwundete in Heimatlazaretten sind dem Kampfgeschehen vorerst entkommen.
Fern der Front erleben sie erstmals wieder ein Stück Normalität. Dennoch steht die
ärztliche Tätigkeit auch hier unter der Maxime, die Versehrten wieder
kampfeinsatzfähig zu machen. Der Schwerverletzte wird vom Schlachtfeld
geborgen, hinter der Front behandelt und zu Hause im Optimalfall wieder geheilt,
um erneut in die Schlacht geschickt zu werden.
Die Soldaten sind in unterschiedlichsten Gebäuden untergebracht. In den regulären
Krankenhäusern verdrängen sie oft zivile Kranke – zu deren gesundheitlichem
Nachteil. Außerdem werden Festsäle, Schulen und Schlösser zu
Krankenunterkünften umfunktioniert.
Ausgewählte Objekte
Die neuen Kasernenbauten in Dresden
J. (Jacques Matthias) Schenker (1854–1927), 1879, Städtische Galerie Dresden
Albert von Sachsen (1828–1902) ließ ab 1873 im Norden Dresdens, der Alberstadt,
neue Kasernen errichten, die europaweit bald als beispielhaft galten. Nach englischem
Vorbild waren sie nach damals neuestem Stand der Unterkunftshygiene gebaut. Auch
die speziellen Lazaretträume für Leicht- und Schwerverwundete sowie für ansteckend
Kranke entsprachen diesen wissenschaftlichen Vorgaben.
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Fotoalbum und Album mit Dankeskarten, aus dem Nachlass Marie Thoenes
1914–1915, Arbeitskreis Sächsische Militärgeschichte Dresden e.V.
Marie Thoenes war im Ersten Weltkrieg Küchenvorsteherin und Leiterin der Abteilung
Rosenheim des 1908 gegründeten Genesungsheims "Nizzabad" in Radebeul,
Rosenstraße 6. Viele Tagebücher und Fotoalben spiegeln den Alltag im "Nizzabad"
wider. Am 29. Juni 1915 schrieb der vor der Entlassung stehende Patient Karl Clajus in
ihr Dankesbuch: "Bei meinem Weggange ist es mir Bedürfnis, hierdurch allen den
helfenden Händen und hilfreichen Geistern, ganz besonders aber Frl. Marie Thoenes
und Frl. M. Pfeiffer-Bergmann meinen aufrichtigsten Dank zu sagen für die so
freundliche, selbstlose Fürsorge und Pflege und für all das Gute, das ich hier
genießen durfte."
Kriegsfotoalbum von Rudolf Lengsfeld
Zweiter Weltkrieg, Arbeitskreis Sächsische Militärgeschichte Dresden e.V., Dresden
Der Unteroffizier Lengsfeld dokumentierte nach dem Krieg akribisch seine erlittenen
Verwundungen, mitgemachten Transporte und Lazarettaufenthalte. Bei Kriegsende
1945 befand er sich in einem Lazarett im südwestdeutschen Schwenningen, aus dem
ihn französische Sanitätsärzte im Juni 1945 entließen.
Luftschutz
Der Zweite Weltkrieg bedeutete eine bislang ungeahnte Entfesselung des Krieges.
Er war „total“, weil jeder von ihm betroffen war, egal ob Soldat oder Zivilist, an der
Front oder in der Heimat. Die Bombardierung europäischer Städte geschah in dem
Willen, nicht nur das gegnerische Heer, sondern auch Nation und Kultur des
Feindes zu zerstören. Um die Zivilbevölkerung so gut wie irgend möglich vor
Fliegerangriffen in Sicherheit zu bringen, trafen die Behörden
Luftschutzvorkehrungen. Millionen von Menschen erfuhren das Gefühl von Angst
und Beklemmung, erlitten körperlichen und seelischen Schaden, der sie ein Leben
lang.
Ausgewählte Objekte
Luftschutz- Hausapotheke
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1939–1945, Stiftung Deutsches Hygiene-Museum, Dresden
Die Bombardierungen von London und Dresden
2:04 Min., 2006, Stiftung Deutsches Hygiene-Museum, Dresden, mit freundlicher
Genehmigung von Herrn Rudolf Eichner
1.5 VERSORGUNG
Militärversorgung
Medizinisches Wissen wird auch bei der Nahrungsmittelversorgung der Soldaten
berücksichtigt. Ärzte berechnen Kalorienbedarf und Vitaminzufuhr, um optimale
Leistungsfähigkeit zu gewährleisten. Die mobile Feldküche und die Versorgung mit
frischen und konservierten Lebensmitteln sind konkrete Resultate dieser
wissenschaftlichen Erwägungen. Die industrielle Verpackungstechnik und
Lebensmittelkonservierung ist für die Lebensmittelversorgung von besonderer
Bedeutung. Speisen werden eingemacht, vorgekocht oder pulverisiert, um eine
möglichst einfache Zubereitung an der Front zu ermöglichen. Während der beiden
Weltkriege gehörten zur Versorgung auch „Liebesgaben“ und Genussmittel, die das
seelische Gleichgewicht stützen sollten.
Ausgewählte Objekte
Tragbarer Feldkocher
Alexis Benoît Soyer (1810–1858), Reproduktion um 1950, Royal Logistics Corps
Museum, Deepcut/Großbritannien
Ein Beitrag Alexis Soyers zur Krimkampagne war die Erfindung eines tragbaren
Kochherds. Die Soldaten konnten sich selbst bekochen, ohne unter Lebensgefahr eine
Küche aufsuchen zu müssen.
"Versorgungsbombe"
um 1942, Militärhistorisches Museum der Bundeswehr, Dresden
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Am 22. November 1942 schlossen sowjetische Truppen die 6. Armee der Wehrmacht
bei Stalingrad ein. Die Soldaten konnten nur noch aus der Luft versorgt werden.
Obgleich Hermann Göring versprach, die Soldaten ausreichend zu versorgen, betrug
der Nachschub lediglich ein Fünftel der von ihm angestrebten 500 Tonnen, zuletzt
nur noch 30 Tonnen täglich. Da Flugzeuge in Stalingrad aufgrund der militärischen
Lage nicht mehr landen konnten, warfen sie "Versorgungsbomben" ab. Sie enthielten
Munition, Benzin, Lebensmittel und Verbandszeug.
Weihnachtsbaum - Stalingrad
um 1942, Militärhistorisches Museum der Bundeswehr, Dresden
Dieser künstliche Christbaum, ein „Weihnachtsgruß Görings“, sollte dazu beitragen,
durch ein stimmungsvolles Weihnachtsfest die Moral der eingeschlossenen Soldaten
zu heben. Allerdings starben am 24. Dezember 1942 über 1.200 Soldaten an Hunger,
Entkräftung und Verwundung.
Zivilversorgung
Hunger und Mangelernährung an der „Heimatfront“ sind zeitlose
Begleiterscheinungen des Krieges. In Zeiten, in denen alle Bemühungen auf die
Versorgung der Kämpfenden ausgerichtet sind, werden die Ressourcen für die
Zivilbevölkerung knapp. Die Folgen davon sind zunächst Rationierung und
schließlich Krankheiten, die sich aus der Mangelernährung ergeben. Kinder, Alte
und Kranke sind hiervon vorrangig betroffen. Fern der Front erreicht somit auch sie
der Krieg. In Deutschland starben während des Ersten Weltkrieges alleine in
Sachsen etwa 5.000 Patienten in Heil- und Pflegeanstalten infolge der schlechten
Versorgung.
1.6 DER "FORTSCHRITT" DER MEDIZIN
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Es herrscht die landläufige Meinung, dass die Medizin vom Krieg profitiert und ihm
viele wissenschaftliche Erkenntnisse verdankt. Tatsächlich bot der Krieg für Ärzte die
Gelegenheit, massenhaft praktische Erfahrungen zu sammeln. Er schuf ein
Forschungsfeld für Mediziner, um die Effektivität chirurgischer Techniken zu testen
oder die Wirksamkeit pharmazeutischer Substanzen zu beobachten.
Nichtsdestotrotz bleiben wissenschaftliche Durchbrüche in Kriegszeiten aus. Wenn
im Krieg die medizinische Versorgung der Soldaten im Vordergrund steht, besteht
stets die Gefahr, die "zivile" Grundlagenforschung zu vernachlässigen. Außerdem
kommen wissenschaftliche Erkenntnisse, die im Dienste des Militärs gesammelt
werden, zuweilen nur unter ethisch unvertretbaren Bedingungen zustande. Vor
allem dann, wenn Ärzte ihren hippokratischen Eid brechen, indem sie gesunden
Menschen Schaden zufügen. Die Menschenexperimente während des Zweiten
Weltkrieges bezeugen diese Pervertierung wissenschaftlicher Forschung besonders
drastisch.
Der Einsatz medizinischen Wissens
Die bahnbrechenden Entdeckungen des 19. und 20. Jahrhunderts revolutionierten
die medizinische Entwicklung. Die Zellularpathologie Rudolf Virchows (1821–1902)
und die bakteriologischen Forschungen Robert Kochs (1843 1910) legten den
Grundstein der modernen Medizin. Darauf aufbauend, entwickelten Forscher in den
folgenden Jahrzehnten die sterile Wundbehandlung, neue Narkosetechniken sowie
Diagnosemöglichkeiten und Medikamente, welche die Überlebenschancen bei
Krankheit und Verletzung stark erhöhten. Die medizinische Forschung der
Friedenszeit und die ärztlichen Tätigkeit im Krieg standen oft in Wechselwirkung.
Die Erfahrungen im Feld konnten Impulse geben, vorhandene medizinische
Techniken weiterzuentwickeln. Unter den Kriegsumständen selbst konnten jedoch
mangels Material, Personal, und Zeit nur äußerst eingeschränkt medizinische
Innovationen erlangt werden.
Ausgewählte Objekte
Autoklav nach Ernst von Bergmann
Lautenschläger, 1889, Deutsches Medizinhistorisches Museum, Ingolstadt
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Das Gerät diente der Dampfsterilisation. Medizinische Instrumente und
Verbandsmaterial wurden dadurch keimfrei gemacht. In den 1880er Jahren hatten
Gustav Adolf Neuber (1850–1932) und Ernst von Bergmann (1836–1907) dieses
Verfahren entwickelt. Die Wundinfektion und damit ein wesentlicher Grund der
postoperativen Sterblichkeit konnte seitdem durch die Asepsis, also durch
Keimfreiheit, drastisch gesenkt werden.
Bluttransfusionsgerät
1914-1918, General Surgical Company Ltd. nach einem Entwurf von Geoffrey Keynes,
The Science Museum, London
Erstmals gelang es während des Ersten Weltkrieges, Blutkonserven zu lagern. Wegen
einer sehr kurzen Haltbarkeitszeit waren sie jedoch bei Bedarf oft nicht verfügbar.
Nach Verbesserungen bei der Konservierung und der Lagerung des Blutes konnten
im Zweiten Weltkrieg zahlreiche Leben durch Transfusionen gerettet werden.
Röntgengerät
Koch & Sterzel AG, um 1939, Stiftung Deutsches Hygiene-Museum, Dresden
Das transportable Feldröntgengerät war auf zwei Kisten verteilt, die den Transport
erleichterten und gleichzeitig der Installierung dienten. Es wurde im Feld vor allem
benutzt, um Geschosse im Körper zu lokalisieren und Knochenfrakturen zu erkennen.
Das Penizillinwunder
British Paramount News, 1944, Imperial War Museum, London
1928 entdeckte der britische Bakteriologe Alexander Fleming (1881–1951) das
antibakteriell wirkende Penizillin. Während des Zweiten Weltkrieges, als zahllose
Soldaten an Wundbrand (Gangrän) und Wundinfektionen erkrankt waren, wurden
dringend große Mengen von Penizillin gebraucht. Der britische Film aus der Reihe
"Nachrichten aus der Kriegsarbeit" (Nr. 47) beschreibt detailliert die Kultivierung und
Produktion von Penizillin zur Behandlung verwundeter Soldaten.
Die Ansammlung medizinischen Wissens
Die medizinische Tätigkeit im Krieg wird seit Beginn der Moderne um 1800
detailliert dokumentiert und statistisch ausgewertet. Während lange Zeit
chirurgische Fragen dominierten, weitete sich das Interesse allmählich auf sämtliche
13
medizinischen Fächer aus, wie etwa auf die Bakteriologie, Neurologie und
Psychiatrie. Durch die systematische Auswertung der im Krieg gewonnenen
Informationen erhofften sich Ärzte wesentliche Erkenntnisse, die nicht nur die
Kriegsmedizin, sondern auch die zivile Medizin voranbringen sollten.
Medizinische Experimente
Leben und Gesundheit der eigenen Soldaten zu schützen und gleichermaßen den
Gegner physisch zu vernichten, ist Mittelpunkt jeder Kriegsstrategie. Versuche zur
Leistungserhaltung und -steigerung sind daher seit dem 19. Jahrhundert auch Teil
der experimentellen Forschung in der Medizin. Sie betreffen vor allem das
physiologische Funktionieren des menschlichen Körpers und die Möglichkeiten,
dieses trotz intensiver körperlicher und seelischer Belastung noch zu erhöhen.
Bereits im späten 19. Jahrhundert experimentierten Ärzte mit pharmakologischen
Substanzen an Soldaten, um die aufputschende Wirkung der Stoffe bei Krankheit
und Erschöpfung zu testen. Seitdem wurden Zivilisten und Soldaten oftmals
unfreiwillig zu Versuchspersonen waffentechnischer und militärmedizinischer
Forschung.
Ausgewählte Objekte
Respirationsapparat nach Nathan Zuntz (1847–1920)
Reproduktion: Original von 1906
Transportabler Gasmesser, Apparat zum Studium der Atmung des Menschen
Reproduktion: Original: 1911, Stiftung Deutsches Hygiene-Museum, Dresden
Der deutsche Physiologe Nathan Zuntz unternahm 1894 im Auftrag der preußischen
Armee eine Gepäckmarschstudie. Über die Beobachtung des Stoffwechsels und der
Körperfunktionen während des Marsches wollte Zuntz die körperliche Belastbarkeit
von Soldaten bestimmen. Für das Experiment entwickelte er eine tragbare Gasuhr, die
Atemmessungen vornahm. Außerdem protokollierte er minutiös, wie sich die
körperliche Belastung auf Puls, Herz, Leber, Nerven und Muskeln auswirkte.
"BLEEX" Berkeley Außenskelett der unteren Extremitäten
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2004, 4 Min., Mechanical Engineering Department, University of California, Berkeley
Die Kombination eines leichten metallischen Rahmens mit Rucksack und kleiner
Stromversorgung erlaubt Soldaten, Sanitätern und anderen Armeeangehörigen,
schwere Lasten ohne körperliche Anstrengungen zu tragen ohne dabei ihre
Beweglichkeit zu reduzieren. Das von der Berkeley University entwickelte System ist
sowohl für den militärischen als auch für den zivilen Bereich gedacht. So soll es zum
Beispiel körperlich Behinderten helfen, ohne Rollstuhl zu leben.
Unterkühlungsversuche
1942–1945, Reproduktion, KZ-Gedenkstätte Dachau
Im Konzentrationslager Dachau unternahmen Ärzte ab 1942 Menschenexperimente
für die deutsche Luftwaffe. Erkenntnisziel war es, die Überlebenschancen
abgeschossener Piloten zu erhöhen, die bislang im kalten Meerwasser umkamen. Zu
diesem Zweck ließ man Häftlinge in Fliegeruniform und Schwimmweste in Eiswasser
tauchen. Anschließend protokollierten Ärzte, welche Organe am frühesten durch die
Kälte gelähmt wurden und unter welchen Bedingungen der Tod eintrat. Im Rahmen
der Unterkühlungsversuche kamen 90 Menschen ums Leben.
15
2. DER KÖRPER
2.1 DER TAUGLICHE KÖRPER
Einer der wichtigsten "Rohstoffe" im Krieg ist der gesunde, widerstandsfähige
Körper des Soldaten. Bei der Musterung von Rekruten untersuchen Militärärzte
Männer und Frauen auf ihre militärische Tauglichkeit. Dabei wird der Körper geprüft,
eingestuft und selektiert. Während in der Vergangenheit die physischen
Gesundheitskriterien im Mittelpunkt stehen, rücken gegenwärtig psychologische
Prüfverfahren immer mehr in den Vordergrund.
Diese medizinische Begutachtung legt den Grundstein für den Aufbau und die
Erfolgschancen eines kämpfenden Militärkörpers. Sie gewinnt mit der Einführung
der Wehrpflicht ab 1800 beträchtlich an Bedeutung. Bei der Festlegung der
Tauglichkeitskriterien und des Einstufungsverfahrens gibt es einen
Ermessenspielraum. Hier kann ein Arzt in einen ethischen Konflikt geraten, wenn
zum Beispiel starker Mangel an Kampffähigen herrscht und er möglicherweise
zwischen den Interessen von Nation und Individuum entscheiden muss.
Ausgewählte Objekte
"Musterung"
Max Beckmann (1884–1950), 1914, Kunsthalle Bremen/Sprengelmuseum, Hannover
Diese Kaltnadelradierung verdeutlicht Beckmanns Eindruck des Musterungsverfahrens.
Der entblößte Körper unterstreicht die Reduzierung des Individuums auf menschliches
Material, das auf seine Funktionalität geprüft wird. Dabei erfährt es den Verlust seiner
Intimsphäre. Während des Zweiten Weltkriegs muss Beckmann noch im Alter von
sechzig Jahre vor einer Musterungskommission erscheinen. Wegen eines Herzleidens
wird er ausgemustert.
"Die Gesundbeter"; aus der Mappe: "Gott mit uns"
George Grosz (1893–1959), 1918, Stiftung Stadtmuseum Berlin
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In diesem Werk stellt Grosz den deutschen Militarismus bloß. Ein Militärarzt erklärt
ein Skelett als "KV" (kriegsverwendungsfähig). Die Grafik verdeutlicht in übersteigerter
Weise, dass Ärzte selbst vor der offensichtlichsten Kampfunfähigkeit die Augen
verschließen.
2.2 DER KRANKE KÖRPER
Nicht Kriegsverletzungen, sondern vor allem Infektionskrankheiten waren
Jahrhunderte lang die häufigsten Todesursachen von Soldaten. Erst mit dem
Aufkommen der Bakteriologie im späten 19. Jahrhundert erhielt die Medizin
Möglichkeiten, sich dagegen zu wehren. Die Erwartungen an Gesundheit und
medizinische Versorgung steigen. Die Medizin wurde für die Moral der modernen
Massenheere und der Zivilbevölkerung zunehmend wichtiger. Auch die Bedeutung
der Gesundheit für die militärische Strategie wuchs. Damit erhofften sich
Militärverwaltungen Vorteile gegenüber Gegnern mit weniger gut entwickelten
Sanitätsdiensten. Pflichtimpfungen für das Heer und zivile Impfgesetze wurden
eingeleitet. Sauberkeit wurde zum patriotischen Bekenntnis.
Trotz der allmählichen Durchsetzung von Schutzmaßnahmen forderten
Kriegsseuchen viele Opfer. Die Hygienestandards ließen sich unter den
Bedingungen des totalen Krieges schwer durchsetzen. Heute sterben weniger
Soldaten an Krankheiten. Aber die Seuchen nehmen in Kriegen in der Dritten Welt
wieder zu.
Moulagen - Krankheitsbilder des Krieges in Wachs
Diese Moulagen aus der Lehrmittelproduktion des Deutschen Hygiene-Museums
zeigen in Kriegszeiten häufig aufgetretene Infektionskrankheiten. Moulagen werden
am Patienten selbst abgeformt und zeigen individuelle, naturgetreue
Krankheitsbilder. In der vom damaligen National-Hygiene-Museum Dresden im Jahr
1915 mitorganisierten "Ausstellung für Verwundeten- und Krankenfürsorge im
Kriege" spielten solche Moulagen bei der Seuchenaufklärung eine zentrale Rolle.
Die Schau präsentierte eine moderne Medizin, und sie wollte der besorgten
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Bevölkerung wegen der hohen Verluste und der Geschichten von leidenden
Soldaten "Beruhigung und Trost" bringen.
Ausgewählte Objekte
Fleckfieberausschlag
1945–1980, Stiftung Deutsches Hygiene-Museum, Dresden
Das Fleckfieber gilt seit dem späten Mittelalter als typische Kriegskrankheit, da die
schlechten hygienischen Verhältnissen in Kriegszeiten ofters zur epidemieartig
Ausbreitung fuhrte. Zumeist Flöhe, Läuse, Milben oder Zecken übertragen die Erreger.
Hohes Fieber sowie starke Kopf- und Gliederschmerzen, dauernde
Bewusstseinsstörungen und Schüttelfrost sind die Symptome. Häufig tritt ein
Hautausschlag auf, wie er an der Moulage zu sehen ist.
Prävention und Hygiene
Der Kampf gegen die Krankheit
Eine Gefahr für Soldaten bildet die Ansteckung mit infektiösen Krankheiten. Die
Umsetzung hygienischer Standards im Krieg ist schwierig, etwa bei Grabenkämpfen
oder in tropischen Regenwäldern und Wüsten. Heere übernachten im Freien, sind
der Witterung und Insekten ausgesetzt oder in engen Unterkünften
zusammengepfercht. Engpässe bei der Nahrungsmittel-, Kleider- und
Wasserversorgung sind nicht ungewöhnlich. All dies schwächt den Köper und
erhöht die Anfälligkeit für Krankheiten. Häufige Ortswechsel von Soldaten,
Flüchtlingen und Kriegsgefangenen erhöhen die Gefahr einer Pandemie. Die
Sanitätsdienste entwickeln allmählich Strategien, um die hygienischen Bedingungen
zu verbessern. Durch Antibiotika können heute viele Infektionskrankheiten
behandelt werden, bevor sie sich unkontrollierbar ausbreiten.
Ausgewählte Objekte
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Soldier's Throne (Soldatenthron) zur Bekämpfung der Kriegsseuchen
1898, Burns Archive, New York, New York|USA
Der „Soldatenthron“ ist ein umfunktionerter Feldofen. Er diente als Toilette, in der die
Exkremente sogleich verbrannt werden konnten. Dies verringerte die Gefahr der
direkten Ansteckung mit Krankheiten wie Cholera, Dysenterie (Ruhr) und Typhus
erheblich. Auch die Übertragung durch Fliegen, die zunächst mit Kot und
anschließend mit Nahrung Kontakt gehabt hatten, wurde so nahezu ausgeschlossen.
"Sich Lausende"
Otto Dix (1891–1969), 1915, Galerie Tendances, Paris
Dix’ Kreidezeichnung zeigt eine während des Ersten Weltkrieges alltäglich gewordene
Szene: Soldaten versuchen, sich oder ihre Kameraden von der Läuseplage zu befreien.
Merkblatt der Deutschen Wehrmachtsbordelle in Bordeaux
um 1939–1945, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Universitäts- und
Landesbibliothek, Düsseldorf
Obwohl es moralische Bedenken gegen die Prostitution gab, richten einige
Militärverwaltungen in beiden Weltkriegen offizielle Bordelle ein, um die Verbreitung
von Geschlechtskrankheiten zu verhindern. Häufig nutzten sie vorhandene
Etablissements. Die deutsche Militärverwaltung etwa beanspruchte die luxuriösesten
französischen Bordelle und veröffentlichte deren Adressen sowie die Adressen von
speziellen Kliniken (Sanierstuben) in Flugblättern wie diesem.
Kondom für Wehrmachtsangehörige
um 1939–1945, Stiftung Deutsches Hygiene-Museum, Dresden
Während des Zweiten Weltkrieges mussten deutsche Soldaten bei jedem
Bordellbesuch ein Kondom benutzen. Zuwiderhandlungen konnten – besonders im
Erkrankungsfall – bestraft werden. Aus moralischen Erwägungen lehnten Briten und
Amerikaner die Bereitstellung von Präservativen als Förderung des
Geschlechtsverkehrs ab. Die Zahl der Ansteckungen bei den Alliiertentruppen lag
höher als bei den Deutschen.
Aufklärungsplakate zur Verbreitung in britischen Kasernen und Kantinen
Abram Games (1914–1996), 1941, Wellcome Library, London
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Poster sind ein effektives Mittel zur gesundheitlichen Aufklärung. Abram Games
gestaltete während des Zweiten Weltkrieges zahlreiche Plakate für das britische
Militär. Bald nach seinem Eintritt in die Infanterie 1940 hatte sich sein Talent für die
kreative Kombinationen von Text und Bild gezeigt. Die Armee machte ihn zum
Plakatzeichner. Er beobachtete bei seinen Kameraden einen beunruhigenden Mangel
an Hygiene- und Gesundheits-Bewusstsein und schlug vor, innerhalb der Armee
Aufklärungsplakate einzusetzen. Das Kriegsministerium nahm seine Empfehlung an.
Bis zum Ende des Krieges galt Games’ propagandistische Arbeit als so wertvoll, dass
man ihm die Rückkehr zu seiner ursprünglichen Einheit verwehrte.
2.3 DER VERWUNDETE KÖRPER
Die Zerstörungskraft moderner Waffen hat katastrophale Konsequenzen für Leib
und Leben. Die Folgen dieses "Fortschritts" sind am offensichtlichsten, wenn sich
Granatsplitter ins Fleisch einschneiden oder brennender Kraftstoff die Haut verätzt.
Im Ersten Weltkrieg wurden hauptsächlich Soldaten verwundet oder getötet,
hingegen zog der Zweite Weltkrieg und alle folgenden Kriege auch die
Zivilbevölkerung stark in Mitleidenschaft.
Die am Körper hinterlassenen Verletzungen sind leidvoll. Operationen und
Rehabilitation bedeuten große Herausforderungen für Arzt und Patienten. Sie
zeugen vom humanitären Anspruch der Medizin, Leben zu retten. Eine wesentliche
Motivation der militärmedizinischen Versorgung bleibt jedoch – vor allem in
intensiven Kriegsphasen – die Rückführung des Soldaten an die Front. Mit der
Ausbreitung moderner Kriege in unterentwickelten Ländern nimmt die Kluft
zwischen der High-tech Medizin der industrialisierten Streitkräfte und der
notdürftigen Versorgungssituation der ärmeren Länder zu.
Das Gesicht
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Explodierende Artillerie und Geschosse, die aus den damals neuartigen
Maschinengewehren abgefeuert wurden, führten während des Ersten Weltkrieges
zu Verletzungen vor allem im Bereich des Gesichts, wie man sie aus früheren
Kriegen nicht kannte. Der Stahlhelm bot nur unzureichenden Schutz.
Gesichtschirurgen, Zahnärzte, Anästhesisten, Radiologen und Künstler versuchten
gemeinsam, den „Menschen ohne Gesichter” ein würdiges Antlitz zurückzugeben.
Einige Ärzte leisteten geradezu Pionierarbeit, ihre innovativen Methoden bildeten
die Grundlage der modernen plastischen Chirurgie. Um die Ausbildung zu fördern,
entstand eine Fülle von Anschauungsmaterial wie Zeichnungen, Fotografien,
Gipsbüsten und Moulagen. Allerdings profitierten nicht alle Entstellten. Einige
Patienten erhielten rudimentäre Gesichtsprothesen als künstlicher Ersatz für die
fehlenden Körperpartien.
Ausgewählte Objekte
Behandlung einer Kriegsverletzung im Kieferbereich mit einem
Repositionsverband nach Bimstein
Fritz Kolbow, 1914–1920, Stiftung Deutsches Hygiene-Museum, Dresden
Fritz Kolbow (1873–1946), Leiter des Pathoplastischen Instituts Dresden, fertigte diese
Therapiemoulage nach einem Abguss eines Verwundeten des Ersten Weltkrieges.
Vermutlich war sie in den Ausstellungen zur Verwundeten- und Krankenfürsorge im
Krieg (1915) sowie zur Kriegsbeschädigtenfürsorge (1917/1918) des Deutschen
Hygiene-Museums zu sehen. Dort wurde unter anderem anschaulich die Behandlung
einer Kieferverletzung durch Schienung mit speziellem Extensions- und
Repositionsverband gezeigt.
Prof. Dr. Jaques Joseph (1865–1934)
Reproduktion, Original um 1920, mit freundlicher Unterstützung von Prof. Dr. Hans
Behrbohm, Berlin
Der Arzt Jacques Joseph gilt als Begründer der modernen Nasen- und plastischen
Gesichtschirurgie. Als Stabsarzt der Rerserve im Ersten Weltkrieg behandelte er
Soldaten mit schwer entstellten Gesichtern. Er erzielte dabei so außergewöhnlich gute
Ergebnisse, dass Kaiser Wilhelm I. ihn 1916 zum Leiter der neugegründeten Abteilung
für plastische Gesichtschirurgie an der Berliner Charité berief. 1919 erhielt er das
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Eiserne Kreuz. 1922 richtete Joseph eine private Praxis in Berlin ein und spezialisierte
sich auf die korrektive und ästhetische Chirurgie. Ausländische Ärzte hospitieren bei
ihm und trugen seine chirurgischen Techniken in die Welt. Mit dem Beginn der
Judenverfolgung durfte Joseph nur mit „Sondergenehmigungen“ operieren. Er starb
im Februar 1934 an einem Herzinfarkt. In Deutschland geriet er trotz seines
internationalen Ruhms fast in Vergessenheit.
Operationsbesteck des Gesichtchirurgen Jacques Joseph
um 1930, Antony Wallace Archive, British Association of Plastic Reconstructive and
Aesthetic Surgeons at the Royal College of Surgeons, London
Joseph modifizierte und entwickelte Instrumente für seine wegbereitenden
Operationen. Sie trugen die Gravur „PROF. JOSEPH“ und wurden in alle Welt
verstreut, als viele seine Schüler in der Zeit des Nationalsozialismus emigrieren
mussten. Joseph ist weltweit bekannt für die Entwicklung einer bajonettförmigen
Säge, die heute noch Anwendung findet, und für ein nach ihm benanntes
Raspartorium. Ein Raspartorium dient der Freilegung des Operationsfeldes, mit ihm
lässt sich das weiche Gewebe vom Knochen schieben und die Knochenhaut
abdrängen.
Skulpturen basiert auf Gillies’ Fallstudie (Spreckley)
Paddy Hartley, 2007, mit freundlicher Genehmigung des Künstlers
Diese Skulpturen gehören zu einer Serie, die von Patientenakten im Gillies-Archiv
inspiriert wurde. Sie erinnern an die Soldaten, deren Gesichter Harold Gillies
rekonstruierte. Die Krankengeschichten sind entsprechend den Körperstellen, an
denen die Patienten behandelt wurden, in die Uniformen eingearbeitet (oder
"transplantiert"). Diese zwei Skulpturen stellen verschiedene Phasen der Behandlung
von William Spreckley dar. Vor dem Krieg hatte er in Plauen, in der Nähe von
Dresden, das Spitzenhandwerk erlernt. Daher ist Spitze in die Geschichte seiner
"Wiederherstellung" einbezogen.
Das Auge
Ausgewählte Objekte
Gesichtsprothese aus Blech, gefertigt im Queen Mary's Hospital, Sidcup
Archie Lane (1889-1968), um 1918, mit freundlicher Genehmigung von Philip Lane
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Nach dem Ersten Weltkrieg arbeitete der englischen Zahntechniker Archie Lane im
Queen Mary’s Hospital in Sidcup, nahe London, unter der Leitung von Harold Gillies.
Er war geschickt und erfinderisch und fertigte über 100 Gesichtsprothesen an.
„Anna Coleman Ladd: Manufacturing and Fitting Tin Facial Prostheses“
(Herstellung und Anpassung von Gesichtsprothesen aus Blech)
um 1916, The Gillies Archive, Queen Mary’s Hospital, Sidcup
Während des Ersten Weltkrieges fertigte die amerikanische Bildhauerin Anna Coleman
Ladd Masken für Kriegsgeschädigte, deren Gesicht teilweise rekonstruiert worden war,
aber dennoch entstellt erschien. Ausgehend von Porträts, die vor dem Krieg gemacht
worden waren, formte sie die Gesichtszüge auf einem Gipsabdruck des beschädigten
Gesichts. Dann erstellte sie anhand dieser Form eine dünne Blechmaske. Die Maske
wurde emailliert und individuell in der Gesichtsfarbe des Patienten bemalt. Viele der
Kriegsversehrten schwitzten jedoch unter den Masken und fühlten sich unwohl mit
dem metallenen Gesichtsersatz.
Der Kopf
Während des Ersten Weltkrieges wurden erstmals Granaten und kleinkalibrige
Geschosse eingesetzt. Sie verursachten eine Vielzahl von Hirnverletzungen, die
Soldaten überleben konnten. Diese Tatsache führte zur Entwicklung der Stahlhelme,
die aber nur unzureichenden Schutz boten. In dieser Zeit entstanden Spezialkliniken
für Gehirnverletzte, in denen Ärzte die neurologischen Funktionsausfälle der
Verwundeten untersuchten. Die hier gewonnen Erkenntnisse trugen dazu bei, die
Neurologie in ihrer Entwicklung zu einem eigenständigen medizinischen Fachgebiet
zu bestätigten.
Ausgewählte Objekte
Beschädigter Deutscher M 1916-Stahlhelm
1916–1918, Militärhistorisches Museum der Bundeswehr, Dresden
Außer Mützen aus Stoff oder Leder trug zu Beginn des Ersten Weltkrieges keiner der
am Kampf Beteiligten einen Kopfschutz. Als der Stellungskrieg einsetzte, wurden
Stahlhelme zur Massenfertigung entworfen. Insbesondere Prof. Dr. August Bier,
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Marinegeneralarzt und beratender Chirurg beim XVIII. Armee-Korps an der
Westfront, hatte die Entwicklung in Deutschland angeregt. Der Stahlhelm M1916
wurde im Laufe des Krieges mehrfach modifiziert. Die neuen Helme sollten vor allem
gegen Granatsplitter und Schrapnell schützen.
Granatsplitterverletzung des Gehirns und der Schädeldecke
1965, Berliner Medizinhistorisches Museum der Charité, Berlin
Dieses Präparat zeigt eine durch einen Granatsplitter verursachte Läsion des Schädels
und des Gehirns. Viele Veteranen des Zweiten Weltkrieges lebten weiter mit
Fragmenten von Gewehrkugeln oder Granatsplittern im Körper. Dieser Mensch starb
mit 67 Jahren.
Arme, Beine, Brust und Bauch
Ein mit modernem Körperschutz ausgerüsteter Soldat hat heute eine erheblich
bessere Chance, eine Bombenexplosion zu überleben, als sein mit Stahl gepanzerter
Vorgänger während des Ersten Weltkrieges. Eine Schutzweste schützt die
lebenswichtigen Organe des Oberkörpers, sie kann aber Arme und Beine nicht vor
Schaden bewahren. Der traumatische Verlust von Gliedmaßen begründet seit dem
Ersten Weltkrieg eine intensive Forschung, um Rehabilitationsmaßnahmen und die
Verfügbarkeit und Funktion künstlicher Glieder (Prothesen) zu verbessern. Neue
Methoden zum Stillen starker Blutungen und Fortschritte im Bereich der Chirurgie
haben geholfen, Leben zu retten. Schwere Verwundungen im Brust- oder
Bauchbereich gehören jedoch bis heute zu den gefährlichsten Kriegsverletzungen.
Es besteht die Gefahr des Verblutens, und komplexe chirurgische Eingriffe sind in
Kriegssituationen oft nicht möglich. Heute sind unkonventionelle Spreng- und
Brandvorrichtungen die häufigste Verletzungsursache bei Zivilisten und Soldaten in
Irak und Afghanistan.
Ausgewählte Objekte
Gasbrand
1945–1980 (Originalabformung 1900–1912), Stiftung Deutsches Hygiene-Museum,
Dresden
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Gasbrand oder Gasgangrän ist eine bakterielle Wundinfektionskrankheit. Verursacht
wird sie von gasbildenden Bakterien, so genannten Clostriden, deren Sporen sich oft
im Erdboden befinden. Wenn sie in eine Wunde eindringen, sind sie lebensgefährlich.
Die unhygienischen Bedingungen des Stellungskrieges begünstigten diese Krankheit
während des Ersten Weltkrieges. Vor der Entdeckung der Antibiotika war sie
schwierig zu behandeln, oft blieb nur das Ausschneiden der Wunde oder die
Amputation des Glieds. Bis heute kämpfen Ärzte gegen den Gasbrand, beispielweise
in Teilen Iraks und Afghanistans, wo der Boden reich an Clostriden-Bakterien ist.
Unterarmprothese (Armprothese – zum alltäglichen Gebrauch)
Ernst Ferdinand Sauerbruch (1875–1951), um 1930, Berliner Medizinhistorisches
Museum der Charité, Berlin
Vor allem während seiner Zeit als Leiter des Reservelazaretts Singen während des
Ersten Weltkrieges erkannte Ferdinand Sauerbruch die Notwendigkeit neuartiger
Gliederprothesen, die dem Träger erlaubten, einfache Bewegungen auszuführen. In
Zusammenarbeit mit einer Gruppe von Ingenieuren und Physiologen entwickelte er
den so genannten „Sauerbruch-Arm“, eine mechanische Prothese, die durch
„Kraftkanal-Kineplastik“ gesteuert werden konnte. In den Muskeln des Gliedstumpfes
wurden Kanäle gebildet und durch Transplantation mit Haut ausgekleidet. Stifte an
der Prothese wurden in diese „Kraftkanäle“ eingeführt, um die Muskelkraft direkt in
die Mechanik der Prothese zu übertragen und dem Träger ein gewisses Maß an
kontrollierter Bewegung zu ermöglichen.
Soldaten bei der Rehabilitation mit Trainingsgeräten
1914–1918, Wehrgeschichtliches Museum Rastatt, Rastatt
Reserve-Lazarett Ettlingen i. Baden, Turnübungen der Amputierten (Gehschule)
1918, National Hygiene-Museum, Dresden, 10:2 min. bzw. 2:5 min., Stiftung
Deutsches Hygiene-Museum, Dresden
Die Filme zeigen orthopädische Behandlungsmethoden für Gliederamputierte. Die
Patienten demonstrieren ihre Beweglichkeit durch verschiedene Hindernisläufe, Spiele
und landwirtschaftliche Arbeiten. Der Film war Teil einer politischen Kampagne der
deutschen Behörden mit dem Ziel, die Öffentlichkeit über die fortschrittlichen
medizinischen Dienstleistungen zu informieren, die den Kriegsversehrten zur
Verfügung standen.
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Der ehemalige US-Soldat Bryan Anderson (geb. 1981) bei der Rehabilitation
um 2007, Hanger Orthopedic Group, Oaklahoma City, Oaklahoma/USA
2006 verlor Bryan Anderson durch eine Bombenexplosion in Irak beide Beine und
seinen linken Unterarm. In der Firma Hanger, einem der ältesten Prothesenhersteller
der Welt, lernte er wieder zu laufen und zu greifen. Dem Firmengründer war nach
einer Verletzung im Amerikanischen Bürgerkrieg ein Bein amputiert worden
Unzufrieden mit den simplen Holzprothesen jener Zeit, begann er, selbst Prothesen
zu entwickeln. Während des Ersten Weltkrieges eröffneten Firmenvertretungen in
Paris und London. Heute sind die vielen amerikanischen Soldaten der Kriege in
Afghanistan und Irak, die als Amputierte heimkehren, ein Auslöser für die schnell
fortschreitende Entwicklung in der Prothetik. Seit dem Beginn dieser Kriege ist die
finanzielle Förderung für Prothesenprojekte durch das US-Verteidigungsministerium
stark angestiegen.
Die Haut
ABC-Waffen (atomare, biologische und chemische Kampfstoffe), Flammenwerfer
oder brennender Treibstoff von Flugzeugen und Panzern hinterließen in vielen
Kriegen ihre Spuren auf der Haut von Zivilisten, Soldaten und Piloten.
Verbrennungen, die so schwer waren, dass die Venen nicht gefunden werden
konnten, stellten Ärzte und plastische Chirurgen während des Zweiten Weltkrieges
vor große Herausforderungen. Behandlungen mit Kochsalzlösungen, antibakteriell
wirkende Sulfonamide sowie Hautersatz verbesserten die Überlebenschancen der
Schwerverbrannten deutlich. Gegen Verletzungen durch Gasangriffe sollten AntigasMedikamente und Schutzkleidung helfen. Vor dem Nuklearkrieg allerdings gibt es
kaum Schutz. Dennoch suggerierten Regierungen nach dem Zweiten Weltkrieg
durch groß angelegte Kampagnen, dass ein sicherer Schutz möglich sei. In vielen
Ländern lehnten sich Ärzte dagegen auf und schlossen sich in internationalen
Organisationen gegen den Nuklearkrieg zusammen.
Gen
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So genannte ABC-Waffen verseuchen große Gebiete für lange Zeit mit
Radioaktivität, biologischen und chemischen Giftstoffen oder Krankheitserregern.
Nicht nur die direkt Getroffenen sind Opfer dieser gefürchteten Waffen, auch ihre
Nachkommen tragen die Folgen. Denn radioaktive Strahlen und chemische Gifte
schädigen Zellen und Erbmaterial. 60 Prozent der "Hibakusha" – die Überlebenden
der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki – sind krank oder
körperbehindert. Das während des Vietnamkrieges eingesetzte dioxinhaltige
Pestizid Agent Orange verursachte Krebs, Missbildungen und Schäden des Nervenund Immunsystems. Die radioaktive Strahlung der uranhaltigen Munition in den
Kriegsgebieten Irak, Afghanistan, Bosnien und Kosovo bedroht heute die dort
lebenden Menschen.
2.4 DER SEZIERTE KÖRPER
Die Medizin forscht nicht nur an lebenden, sondern auch an toten Menschen. Die
vielen Gefallenen der Weltkriege boten der Pathologie Möglichkeiten bis dahin
ungekannten Ausmaßes. In vielen Armeen sezierten Ärzte die Leichname gefallener
Soldaten. Es entstanden große Lehrsammlungen von Sektionsprotokollen,
Präparaten, Zeichnungen und Bildern.
Die aus der Untersuchung der Toten gewonnenen Erkenntnisse trugen zur
Erweiterung des Wissens über Krankheiten und Verwundungen bei. Sie eröffneten
neue Diagnose- und Therapiemethoden, die oft auch über die Militärmedizin
hinaus Nutzen hatten. Im Bereich der Militärtechnik ermöglichte die genauere
Kenntnis der Waffeneinwirkung die Entwicklung immer wirksamerer
Schutzmethoden. Auf der anderen Seite besteht jedoch die Möglichkeit, dass diese
Erkenntnisse zum Schaden der Menschen genutzt werden, so zum Beispiel bei der
Entwicklung von Waffen.
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2.5 DER BESCHÄDIGTE KÖRPER
Mit dem Friedensschluss ist der Krieg für viele Menschen oft nicht zu Ende. Der
medizinische Fortschritt in der Moderne hat die Überlebenschancen von
Verwundeten und Kranken erheblich verbessert, aber oft tragen diese die Spuren
des Krieges an Leib und Seele.
Nahezu sechs Millionen britische und deutsche Soldaten kehrten mit Versehrungen
aus dem Ersten Weltkrieg zurück. Diese Situation setzt sich heute in den modernen
Kriegen fort, wie wir sie beispielsweise in Afghanistan erleben. Unzählige Menschen,
die meisten davon Zivilisten, tragen bleibende Schäden davon.
Mit diesem sichtbaren Erbe des Krieges muss nicht nur der einzelne Mensch,
sondern auch die Gesellschaft umgehen. Welche Maßnahmen werden
unternommen, um diese Menschen wieder in die Gesellschaft einzugliedern, und
wie nimmt die Gesellschaft sie wahr?
Wiedereingliederung der Kriegsbeschädigten
Nahezu 2,25 Millionen deutsche und britische Veteranen des Ersten Weltkrieges
litten an einer dauerhaften Schädigung. Dies hatte große ethische und
wirtschaftliche Konsequenzen für die Gesellschaften, in denen sie lebten. Keine
Nation konnte die Versprechungen einlösen, die sie ihren behinderten Veteranen
gemacht hatte. In Deutschland trug die Enttäuschung darüber zu den politischen
Umwälzungen nach dem Krieg bei. Die Arbeit mit Querschnittsgelähmten in
Großbritannien während des Zweiten Weltkrieges und danach führte zur weltweiten
Etablierung des organisierten Behindertensports. Heute ist der Sport oft eine
Maßnahme zur Reintegration. In Irak und Afghanistan beispielsweise sind heute
über die Hälfte der Verletzten Kinder. Hilfsorganisationen setzen sich für eine gute
medizinische Betreuung ein, aber auch dafür, die Ursachen der Verletzungen zu
beseitigen. So haben das Verbot von Antipersonenminen (1997) und die Ächtung
von Streuwaffen (2008) bereits zu einem deutlichen Rückgang typischer
Verletzungen geführt.
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3. DIE PSYCHE
Die Erforschung des Traumas
Allein im Ersten Weltkrieg werden über eine halbe Million deutsche Soldaten
aufgrund psychischer Störungen behandelt. Seitdem arbeitet die Psychiatrie daran,
effektive Behandlungswege zu erschließen. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs
bezieht sie auch verstärkt Zivilpersonen in ihre Forschungen ein. Im Laufe der Zeit
finden Ärzte immer neue Begriffe, um die vielgestaltigen Leiden zu beschreiben.
Mit höchst unterschiedlichen Therapien versuchen sie Menschen mit
"Kriegsneurosen", "Überlebens-Syndrom" oder "Posttraumatischer
Belastungsstörung" zu heilen.
Bis heute rätseln Mediziner über den exakten Wirkungsmechanismus der Psyche.
Trotz bahnbrechender neuropsychiatrischer Untersuchungsmöglichkeiten ist es
bislang unmöglich, das erlittene psychische Trauma "objektiv" nachzuweisen.
Psychiatrische Behandlungen sind nach wie vor mit moralischen Vorurteilen
behaftet. Auch gegenwärtig fürchten Soldaten, als Feiglinge stigmatisiert zu
werden, wenn sie ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen.
„KRIEGSZITTERER“
Tausende von Soldaten zeigten in den Jahren des Ersten Weltkrieges
„Kriegshysterien“, erlitten „shell shocks“ und entwickelten „névroses de guerre“, zu
Deutsch „Granatschocks“ und „Kriegsneurosen“. In der öffentlichen Wahrnehmung
gingen solche Diagnosen oft mit dem Stigma der „Drückebergerei“ einher. Sie
suggerierten, der Soldat flüchte sich lieber in die Krankheit, als sich tapfer der
Todesgefahr an der Front zu stellen. Als Ursache für die hohe Zahl der Betroffenen
nannten Ärzte und Soldaten gleichermaßen die moderne Kriegstechnik. Die
Materialschlachten im Stellungskrieg des Westens ließen ab 1916 die Krankenziffern
in die Höhe schnellen. Die Armeeführung nahm die hohen Ausfallzahlen als
Bedrohung der militärischen Schlagkraft wahr. Das junge medizinische Spezialfach
der Psychiatrie, das bis dahin nicht für schnelle Erfolge bekannt war, erhielt den
Befehl zur sofortigen Heilung.
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Psyche im "totalen" Krieg
Während des Zweiten Weltkrieges erlebten erneut Soldaten, und nun auch
verstärkt Zivilisten, das Grauen des Krieges. Die Verbrechen der Nationalsozialisten
an der Menschlichkeit brachten ungeahntes Leid für Millionen von Menschen –
auch hinsichtlich deren psychischer Gesundheit. Bei den Angehörigen der
Wehrmacht traten in den Jahren 1939 bis 1945 mannigfaltige psychische Störungen
auf. Allerdings wurden diese oft als somatische Krankheiten diagnostiziert, so zum
Beispiel als „Magenneurose“ oder „Dystrophie“. Die Behandlungsmethoden waren
ähnlich wie während des Ersten Weltkrieges. Neu war bei der Elektrotherapie die
Verwendung von Medikamenten wie Insulin und dem Kreislaufmittel Cardiazol, die
Schockzustände hervorrufen. Die aufkommende Psychopharmakologie bot neue
Möglichkeiten der Behandlung, ebenso die Gesprächstherapie, die nach 1945
verstärkt Eingang in den psychiatrischen Alltag fand.
Die Psychiatrie nach dem Vietnamkrieg
Der Vietnamkrieg gilt als kollektives Trauma der USA. Die Schwierigkeiten bei der
psychischen Verarbeitung der Kriegserfahrungen prägten seit Ende des Krieges
psychiatrische Fachdebatten und die öffentliche Diskussion. Mit dem "PostVietnam-Syndrom" zeigten sich neue Symptome. Über so genannte „flashbacks“, zu
Deutsch "Rückblenden", wurde erst mit Zunahme der visuellen Medienkultur der
1970er Jahre berichtet. Im Jahr 1980 erkannte die American Psychiatric Association
die "Posttraumatische Belastungsstörung" als Diagnoseeinheit an. Diese
Entscheidung, die maßgeblich aufgrund des politischen Drucks amerikanischer
Veteranenverbände zustande kam, erleichterte die Verfahren um Rentenansprüche
für psychisch traumatisierte Veteranen erheblich.
Die Posttraumatische Belastungsstörung heute
Die Weltgesundheitsorganisation beschreibt die Posttraumatische
Belastungsstörung (PTSB) als „Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine
Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes".
Kriege betreffen die Zivilbevölkerung heute unmittelbarer als die Kriege früherer
Zeiten. Sie rufen unaufhörlich neue psychische Traumatisierungen hervor. Die
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Attentate auf das World-Trade-Center in New York 2001 machten Tausende zu
PTSB-Patienten. Die Bundeswehr stellt steigende Zahlen von Kriegstraumata nach
Auslandseinsätzen fest. Humanitäre Helfer und Psychiater in Entwicklungsländern
berichten von den verheerenden Folgen der Kriege speziell für Kinder. Die aktuelle
Standardtherapie besteht aus der Verbindung von medikamentöser und
verhaltenstherapeutischer Behandlung. Ein Mittel, das psychischen
Traumatisierungen vorbeugt oder sie rasch heilt, existiert auch heute nicht.
3.2 DER KAMPF MIT DER ERINNERUNG
Der Krieg hinterlässt nicht nur körperliche Narben. Die Erfahrung existentieller
Bedrohung durch physische Gewalt und seelische Misshandlung verletzt auch die
Psyche des Menschen. Sie brennt sich tief in die Erinnerung ein und kann sogar
das Gedächtnis folgender Generationen prägen.
Traumatische Erlebnisse machen Menschen zunächst sprachlos. Bevor sie von ihnen
erzählen können, vergehen manchmal Jahre. Welche Worte sie wählen, um ihr
Leiden zu beschreiben, ist ebenso individuell wie die Art, das Erlebte zu verarbeiten.
Längst nicht alle Opfer kriegerischer Gewalt werden medizinisch betreut oder
bezeichnen sich selbst als "traumatisiert". Ihre Erzählungen machen uns stets aufs
Neue bewusst, dass Männer und Frauen jeglicher Altersgruppe kriegerischer Gewalt
ausgesetzt sind. Das Beispiel von Kindersoldaten zeigt, dass in unserer Zeit selbst
die traditionelle Grenze zwischen Soldaten und Zivilisten sich aufzulösen im Begriff
ist.
Der Wahnsinn des Krieges
Zeitzeugen beschrieben den Ersten Weltkrieg als kollektive und individuelle
Katastrophe mit schweren Auswirkungen auf die Psyche. Bedeutende Künstler des
deutschen Expressionismus verarbeiteten diese Erkenntnis in ihren Werken. Der
Irrsinn des Krieges spiegelt sich auf unterschiedlichen Ebenen wider: Er erfasste
einzelne Personen, die in psychiatrischen Anstalten behandelt werden mußten.
Gleichzeitig stehen diese persönlichen Geschichten für das universelle Trauma des
Krieges.
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4. EPILOG
"One Step Beyond – Wiederbegegnung mit der Mine"
Lukas Einseles Kunstprojekt "One Step Beyond – Wiederbegegnung mit der Mine"
dokumentiert die Erinnerungen von Menschen, die von einer Mine verwundet
wurden. Hierfür reiste der Künstler zwischen 2001 und 2004 in vier der am stärksten
verminten Länder der Welt: Angola, Afghanistan, Bosnien-Herzegowina und
Kambodscha. Er führte Gespräche mit den Opfern, die Ort und Hergang des Unglücks
beschrieben, und er porträtierte sie mit einer Großbildkamera.
Die Ergebnisse des Projekts wurden weltweit und auch im Internet unter: www.onestep-beyond.de präsentiert. Zu dem ist eine Publikation im Hatje Cantz Verlag
erschienen. Sie wurde 2005 mit dem Karl-Hofer-Preis der Universität der Künste Berlin
sowie dem Fotobuchpreis 2006/2007 des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.
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