Psychopädagogik 3 (Psychopädagogik des

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Skript PSYPE 3
Psychopädagogik
3 (Psychopädagogik des Erwachsenenalters/
spezielle Psychopädagogik)
1. Besondere Lebenslagen im Jugendalter
Nach dem Konzept der Entwicklungsaufgaben gibt es auf jeder Stufe unserer
Entwicklung eine Anzahl von Aufgaben, die in diesem Lebensabschnitt bewältigt
werden sollten. Wird dies befriedigend erfüllt, so ist das Individuum besser
vorbereitet auf die Bewältigung der Aufgaben zukünftiger Lebensabschnitte.
In
diesem Kapitel werden Anforderungen dargestellt, die in der Jugendphase zu
bewältigen sind und Kindern, Jugendlichen einen Übergang in das Erwachsenenalter
erleichtern oder erschweren können.
1.1 Entwicklungsförderung schulischer Leistungen
1.1.1 Allgemeine Bedingungen für die Entwicklungsförderung schulischer
Leistungen
Schulerfolg ergibt sich aus dem Zusammenspiel verschiedener Faktoren, der
Kontextfaktoren (wie
z. B. Bildungssystem, Schulische Faktoren, Klasseninterne
Faktoren), der individuellen Faktoren( z.B. kognitive Faktoren , Motivation. ), der
familiären Faktoren (der sozioökonomische Status, das (autoritative) elterliche
Erziehungsverhalten, Interesse der Eltern an den schulischen Dingen und
altersgemäße Kontrolle
Unterrichtes,
die
) und der Unterrichtsvariablen (die
Verwendung
der
sozialen,
Qualität des
individuellen
oder
kriterienabhängigen Bezugsnorm durch die Lehrperson). So wirken also internale
Ressourcen des Schülers zusammen mit den Erziehungsbemühungen der Eltern
oder Erzieher und den Lehrangeboten der Schule. Dieses gesamte Zusammenspiel
wird von einer Reihe von Variablen beeinflusst. Für den Erzieher, ergibt sich also im
Zusammenhang mit der
Entwicklungsförderung schulischer Leistungen die
Erwartung einer Kenntnis der wesentlichen Variablen für Schulleistungen allgemein,
einer Kenntnis der Variablen, die Schulleistungen erschweren und in der Praxis der
Fähigkeit und Bereitschaft zur Zusammenarbeit nicht nur mit dem zu fördernden
Schüler sondern auch mit dessen Eltern und mit der Schule.
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1.1.2 Schulkonzepte in Luxemburg
In Luxemburg wird mit den Projekten „Eis Schoul“, „Neie Lycée“ und der
fundamentalen Neuausrichtung der Vor- und Primärschulen ab dem Schuljahr 2009
bestätigt, dass die bisherigen Konzepte zu wenig in der Lage waren, Schulerfolg
ohne Berücksichtigung der sozialen Herkunft zu ermöglichen.
Mit den neuen Konzepten orientiert man sich an Untersuchungsergebnissen, die
gezeigt haben, dass die Qualität des Umfeldes (Schule, Klasse, Unterricht)
tatsächlich Wirkung auf die Schulleistungen hat, besonders auf die der Schwächsten.
Reform der Vor- und Primärschulen:
Ziel der Reform ist es, Schülern/innen zu mehr Erfolg in ihrer Laufbahn zu verhelfen.
Dabei steht die Individualisierung des Lernens im Mittelpunkt, d.h. dass jede(r)
Einzelne die Möglichkeit erhält, sich seinen Fähigkeiten entsprechend möglichst gut
zu entwickeln und zu entfalten.
Kernelement der Umgestaltung betrifft die Einteilung in Zyklen und die Bewertung
der Schulresultate nach Kompetenzsockeln. Der erste Zyklus besteht aus der
fakultativen “éducation précoce“ und der Vorschule, stellt also eine Ausnahme dar,
weil er statt zwei auch drei Jahre dauern kann, je nachdem, ob das Kind die nicht
obligatorische Früherziehung besucht oder nicht. Die Zyklen 2, 3 und 4 entsprechen
der ehemaligen Primärschule. Ob ein(e) Schüler/ Schülerin ins nächste Schuljahr
wechseln kann, wird künftig erst nach zwei Jahren- der Dauer eines Zyklus,
entschieden. Erfolgreich wechseln kann, wer Kompetenzen erworben hat, das
Gelernte nicht nur in einer Klassenarbeit anwenden zu können sondern auch in
verschiedenen Situationen des täglichen Lebens. Verschiedene Kompetenzen
werden dabei als notwendig angesehen, um andere Kompetenzen aufzubauen und
bilden in dieser Einheit
dann den zu erreichenden Bildungsstandard, den
Kompetenzsockel. Auskunft über den Weg dahin, d.h. über die Lernfortschritte im
Verlauf eines Zyklus, ergeben in den Zyklen 1 und 2 an Stelle der herkömmlichen
Zeugnisse, sogenannte Zwischenbilanzen (Bewertungen, keine Noten) jeweils am
Ende eines Trimesters.
Beispiel einer Zwischenbilanz in Geometrie im 2. Zyklus:
1.Trimester: der Schüler/ die Schülerin ist fähig, unterschiedliche geometrische
Formen zu erkennen, verwechselt aber regelmäßig Quadrat und Rechteck.
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2.Trimester:
er/sie kann in vorher geübten Situationen Quadrat und Rechteck
unterscheiden.
3.Trimester: er/sie hat den Kompetenzsockel erreicht, weil er/sie fähig ist,
regelmäßig und ohne fremde Hilfe einfache Flächen in bekannten, jedoch nicht
speziell geübten Situationen zu identifizieren und zu benennen.
4. Trimester: er/sie hat keine Fortschritte in diesem Kompetenzbereich gemacht.
5. Trimester: er/sie ist fähig, die unterschiedlichen Eigenschaften aller bekannten
Flächen auch ausserhalb des Unterrichts zu unterscheiden und zu beschreiben.
Sicher wird das neue Konzept den gesellschaftlichen Herausforderungen eher
gerecht, es wird aber ohne Unterstützung durch neue pädagogische Konzepte und
ohne Versuche, Lösungen zu finden für die mit der Dreisprachigkeit auftretenden
Probleme gerade in Bezug zu Schulleistungen, die Lernmotivation und das
Selbstwertgefühl von Schülern/innen
kaum nennenswert steigern können.
Dazu kommt, dass die Betreuung außerhalb der Schulstunden bzw.
eine
verbesserte Koordinierung von Schul- und Betreuungsangeboten immer wichtiger
wird. Für Erzieher/innen könnte das heißen, dass es Arbeitsplätze nicht nur im Foyer
scolaire gibt, sondern auch im Team mit Lehrern/innen, wo sie wichtige Funktionen
wahrnehmen könnten.
Konzept „Eis Schoul“
Das
Konzept
der
Schule
beruht
auf
den
Prinzipien
eines
integrativen
pädagogischen Ansatzes, der allen Schülern/innen von der Précoce bis zum 6.
Primärschuljahr unabhängig von ihren sozio-kulturellen, kognitiven, physischen, und
emotionalen Fähigkeiten, Teilhabe sichert.
Der Unterricht orientiert sich an den unterschiedlichen Fähigkeiten, berücksichtigt
die individuellen Lernwege und fördert die Kooperation durch altersgemischte
Lerngruppen.
„Eis Schoul“ ist eine Ganztagsschule von 8:00 Uhr bis 15:30 Uhr mit einem
zusätzlichen Betreuungsangebot ab 7:00 Uhr und nach dem Unterricht bis 18:30 Uhr.
Das Team ist multiprofessionell und besteht aus
Heilpädagogen/innen,
Psychologen/innen
sowie
Lehrern/innen, Sozial- und
Erziehern/innen.
Mit
dieser
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Kompetenzvielfalt werden externe Beratungs- und Therapieangebote in den meisten
Fällen überflüssig.
Da Untersuchungen immer wieder zeigen, dass zwischen
Anforderungen und
Inhalten des Schulunterrichtes und der alltäglichen Problembewältigung sehr unklare
Zusammenhänge bestehen, sind die Lernbereiche in „Eis Schoul“ so aufgebaut,
dass alltagsnahes Schlussfolgern zwingend ist. So wird z. B. Mathematik in Bezug zu
Geographie und Geschichte gelehrt, Sport und Psychomotorik gehören zum
Lernbereich Biologie (Körper) und Gesundheitserziehung. In den Sprachen werden
dramapädagogische Methoden angewandt wie Musik, Tanz und Theater. Die
Alphabetisierung geschieht in Deutsch, (in Ausnahmefällen auch in französisch),
wobei die jeweilige Muttersprache als Brückenhilfe benutzt wird. Soziales und
demokratisches Lernen in Bezug auf Werte und Zusammenleben in modernen
Gesellschaften, sind Themen im Ethik- oder Religionsunterricht.
Bezüglich der Lernmethoden setzt „Eis Schoul“ auf
das eigene Forschen und
Recherchieren, wobei die unterschiedlichsten Medien einbezogen werden sollen.
Die Ausarbeitung von Projekten in den verschiedenen Lernbereichen enthalten
grundsätzlich auch handwerkliche, künstlerische und soziale Elemente
im Sinne
eines umfassenden Lernens.
Innoviert
wird
auch
bezüglich
der
Evaluationsmethoden.
Zeugnisse
und
Klassenarbeiten werden durch Evaluationsmethoden ersetzt, die den individuellen
Lernprozessen des Kindes sowie den sozialen und interaktiven Dimensionen des
Lernens gerecht werden. Die Evaluation soll den Schülern/innen helfen, sich ihrer
Stärken und Schwächen bewusst zu werden und die Lernherausforderungen, die auf
sie warten, aus einem positiven Blickwinkel wahrzunehmen und zu erkennen.
Hauptevaluationswerkzeug ist ein Portfolio. Es besteht aus einer Mappe mit den
Schülerarbeiten und dient der Dokumentation der jeweiligen Lernwege.
Daneben gibt es ein Lerntagebuch, in dem die Schüler/innen ihre Wege und
persönlichen Lernziele kommentieren. Zusätzlich erstellt das multiprofessionelle
Team einmal im Halbjahr einen Lernentwicklungsbericht.
Die Eltern werden regelmäßig über die Lernfortschritte ihres Kindes informiert, wobei
ihre Einbeziehung es dann erlaubt, effektive Lösungswege für Verbesserungen zu
finden.
Alle Schüler/innen erstellen während des sechsten Schuljahres bis zum Ende ihrer
Primärschulzeit eine Jahresarbeit. Diese besteht aus einem interaktiven Referat zu
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einem selbst gewählten Thema und wird öffentlich vorgetragen.
Sie versteht sich als das Endprodukt einer tiefgreifenden Dokumentationsarbeit und
soll das Können in allen Lernbereichen miteinander verknüpfen. Die Durchführung
verlangt von den Schülern/innen eine Vielzahl der in den vergangenen Schuljahren
entwickelten Kompetenzen und dient als Beweis, eine an den individuellen
Möglichkeiten angepasste weiterführende Schule besuchen zu können.
Konzept „Neie Lycée“
Eine weitere Antwort, gesellschaftlichen Bedingungen mit neuen Konzepten zu
begegnen, ist das „Neie Lycée“. Es ist eine Ganztagsschule, die 2005 als Pilotprojekt
gestartet wurde und (vorläufig) nur Unterricht bis zur neunten Klasse, also der
Unterstufe anbietet, allerdings gibt es inzwischen Pläne, auch das Abitur anzubieten.
Bei der Auswahl der aufgenommenen Schüler/innen wird versucht, einen
präsentativen Querschnitt der Bevölkerung zu wahren.
Im wesentlichen zeichnet sich die Schule durch folgende Innovationen aus:
 Aufhebung der traditionellen Einteilung in Schulfächer: An ihre Stelle
treten vier interdisziplinäre Bereiche: Kunst und Gesellschaft, Wissenschaft
und Technik, Werteerziehung, Sport und Gesundheit.
 Projektarbeit: die Schüler/innen bestimmen nach Vorschlag eines Themas,
welche Fragen sie dazu haben. Ziel ist also, ein möglichst selbständiges,
offenes und kritisches Arbeiten und Denken zu lernen.
 Team: der Unterricht wird von jeweils sieben
Lehrer/innen und zwei
Erzieher/innen gehalten, die sich als verantwortliches Team die jeweiligen
Bereiche aufteilen.
 Persönliche(r) Tutor/in: Alle Schüler/innen haben eine(n) persönliche(n)
Tutor/in, der/ die während der gesamten Schulzeit begleitend zur Seite steht.
Tutoren sind auch die wichtigsten Personen, wenn es z. B. am Ende der 9.
Klasse um die Frage der Empfehlung für die weitere schulische Laufbahn
geht.
 Notenvergabe: Um die jeweiligen Leistungen so gerecht wie möglich zu
bewerten, sind Unterricht und Evaluation getrennt, d.h. nicht die
unterrichtenden Lehrer verteilen die Noten, sondern eine externe Jury
entscheidet nach Vorschlägen der betroffenen Schüler/innen, des Teams und
der Eltern über ein Weiterkommen in die nächste Klasse.
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 Bewertungsgrundlagen:
ein
Portfolio,
das
die
Leistungen
der
Schüler/innen bescheinigt und dokumentiert, dazu schriftliche Prüfungen,
deren Zahl aber nicht festgelegt ist, den Schülern/innen jedoch
die
Möglichkeit geben, sich auch freiwillig dazu zu melden und sich die Qualität
bescheinigen zu lassen.
 Werteunterricht: Er ist eine weitere Besonderheit und möchte ganz
wesentlich dazu beitragen, den interkulturellen Dialog in Luxemburg durch
Einübung von Offenheit, Kritikfähigkeit und Engagement weiter zu tragen.
Alle vorgestellten Neuerungen sind getragen von der Frage, inwieweit neue LernUnterrichts- und Evaluationsformen auch zu besseren Lernergebnissen führen
können. Damit sind sie auch Antworten auf internationale empirische Schulstudien,
bei denen vor allem die unterschiedlichen Ebenen wie
Schüler, Lehrer, Klasse,
Schule, Schulstruktur usw. in ihren Wechselwirkungen untersucht werden und so gut
wie alle zu dem Ergebnis kommen, dass individuelle Entwicklungsverläufe, vor allem
in
der
Grundschule,
in
Eingangsbedingungungen
Abhängigkeit
und
dem
zu
affektiven
schulischen
und
kognitiven
Kontext
verlaufen.
Beispielhaft hierfür sind die BIJU-, die Logik- und die Scholastik-Studie. Empirische
Untermauerung finden in diesen Untersuchungen z. B. der sogenannte “MatthäusEffekt“, das „Stereotyp des schlechten Schülers“ oder auch die mit der Dauer des
Schulbesuchs parallel verlaufende Abnahme von Lernfreude und Selbstkonzept.
Die wichtigsten Fragen ergeben sich allerdings immer noch aus der Tatsache, dass
die soziale Herkunft die größten Auswirkungen auf den schulischen Lernerfolg hat.
In Luxemburg (wie in Deutschland) stehen hinter der hohen Versagerquote
hauptsächlich Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund. Dieser mangelnde
Schulerfolg setzt sich fort, so dass der Anteil unter den Arbeitslosen und
Geringqualifizierten in Luxemburg beiden 20 – 29Jährigen dreimal so hoch ist wie
unter Luxemburgern/innen der gleichen Altersgruppe. Da man aus vielen
unterschiedlichen Untersuchungen weiß, dass die Fähigkeit, sich mündlich und
schriftlich auszudrücken, ganz eng zusammenhängt mit Schulerfolg, muss die
Förderung von Sprachkompetenz schon sehr früh einsetzen und unbedingt
Priorität haben . Dies ist in Luxemburg aufgrund der Sprachensituation, die sich von
der anderer Länder grundlegend unterscheidet, auch in Zukunft eine der wichtigsten
Aufgaben.
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Quellen:
Gespräche mit Schülern und Lehrern (Zeitraum Mai –Oktober 2009)
Tageblatt und Luxemburger Wort: verschiedene Artikel zum Thema Schulreform
(Zeitraum Mai – Oktober 2009)
Rundfunkbeiträge zur Schulreform bei
„honnert,7, de soziokulturelle radio“ (Zeitraum Mai –Oktober 2009)
Université Luxembourg, EMACS research unit: „Das neie Lycee im Spiegel erster
Evaluationen.“ Luxembourg 2008
http://www.entente.lu/EDUCA-NEU/Eis-Schoul.html
1.2 Entwicklungsförderung bei jugendlichem Problemverhalten
Schwierigkeiten bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben
Unter dem Einfluss von biologischen Voraussetzungen, soziokulturellen Erwartungen
und persönlichen Möglichkeiten, die allerdings stark durch die Lebensgeschichte
bestimmt sind, müssen Jugendliche Wege finden, um ihre Entwicklungsaufgaben zu
lösen.
In einer
schwierig.
modernen,
Zwar
offenen Gesellschaft, ohne „verbindliche Normen“ ist das
sind
Jugendliche
bis
zu
einem
gewissen
Grad
den
Verhaltenserwartungen ihrer Eltern und anderen Bezugsgruppen verpflichtet, aber im
Rahmen der „Ablösung“ versuchen sie eigene Wege zu gehen.
Schwierigkeiten bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben, die Anlass zu
Problemverhalten sein können, sind nach Silbereisen und Eyferth (1984):
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
Ein Übermaß an Fremdbestimmung durch autoritäre Eingriffe und durch die
Beschneidung der Selbstregulierungsmöglichkeiten

Das Erleben von Sinnverlust (etwa bei Arbeitslosigkeit) , das die Entwicklung
zukunftsorientierter Perspektiven verhindert

Störungen der sozialen Interaktion

Soziale Desorganisation im engeren Lebensraum (Problemfamilien)
Zwischen
gelungener
Entwicklung
und
Fehlanpassung
bestehen
fließende
Übergänge. Viele jugendliche Problemverhalten sind nur wegen ihres Zeitpunktes
problematisch. Außerdem wirkt Problemverhalten (z.B. übermäßiger Alkoholkonsum
(siehe 4.3.3.1) zeitweise und adaptiv, um beispielsweise Ansehen in der Peergruppe
zu gewinnen. Etwa 10% der Population zeigt ein die Jugendphase überdauerndes
Problemverhalten. ( Schenk-Danzinger, 2004, 306)
Zum Begriff „Problemverhalten“
Verhalten an sich ist weder normal, abweichend oder problematisch. Nur mit Bezug
auf Normen, Erwartungen und Auswirkungen kann man entscheiden, ob ein
Verhalten Problemverhalten ist oder nicht.
Abweichendes Verhalten einzelner
(auch normbrechend oder deviant genannt)
beziehet sich auf soziale Normen und wird von der Bezugsgruppe oder der
Gesellschaft als
störend empfunden. Der Bezug auf Normen und Erwartungen
bedeutet, dass man Problemverhalten nur in Abhängigkeit von Kultur, sozialem
Umfeld (Subkultur, Familie, Peergruppe etc.), Geschlecht und Alter definieren kann.
Diese Relativierung der Angemessenheit eines Verhaltens kann zu Verwirrungen und
Unsicherheiten führen. Wann kann oder soll ich als ErzieherIn auf ein Verhalten
Einfluss nehmen oder nicht? Ist beispielsweise das Konsumieren von Alkohol oder
das Rauchen innerhalb einer (Sub-) Kultur Jugendlicher ein angemessenes- also
kein abweichendes Verhalten, kein Problemverhalten, – weil viele so handeln und
nicht nur
eine
nachgewiesene
Minderheit? Rauchen und Alkoholkonsum sind wissenschaftlich
Entwicklungsrisiken, die Entwicklung von Jugendlichen
stark
beeinträchtigen und können insofern als problematisch gesehen werden.
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A. Flammer und F.D. Alsaker definieren Problemverhalten, „als Verhalten, das eine
Gefährdung für die eigene Entwicklung oder die Entwicklung anderer darstellt... „
Sie unterteilen Problemverhalten in zwei Hauptkategorien:

Internalisierendes Problemverhalten (z.B. Essstörungen und Depressionen)
bezeichnet eine Reihe von Verhaltensweisen, die vor allem die Betroffenen
Personen in ihrer Entwicklung beeinträchtigen, aber für die Umwelt nicht
immer klar erkennbar sind.

Externalisierendes Problemverhalten (z.B. Aggressives Verhalten und
delinquentes Verhalten) ist sichtbar abweichend, normbrechend und somit
nicht nur für die betroffenen Personen problematisch, sondern auch für ihr
Umfeld.
Nachfolgend soll am Beispiel von „Substanzmissbrauch und Suchtverhalten“
jugendliches Problemverhalten und deren Einfluss auf die Entwicklung dargestellt
werden.
Substanzenmissbrauch / Suchtverhalten
Sucht ist jeder Prozess, über den wir „machtlos“ sind. Wenn man Dinge tut und
denkt, die im Widerspruch zu unseren Werten und Vorstellungen stehen, und unsere
Verhaltensmuster einen immer zwanghafteren Charakter annehmen, dann hat sie die
Kontrolle über uns gewonnen. „Ein sicheres Anzeichen von Sucht ist das
unvermittelte Bedürfnis, sich selbst und andere zu täuschen- zu vertuschen, zu
leugnen“. (Schaef , 1993, In Schenk- Danzinger,2004,310)
Schenk-Danzinger unterteilt Süchte in zwei Kategorien:
Substanzgebundene Süchte. Hierzu gehören alle Abhängigkeiten von einer
bestimmten Substanz, die dem Körper vorsätzlich zugeführt wird und fast immer
stimmungsverändernde Wirkung hat. Dazu gehören Alkohol, Drogen, Nikotin, Koffein
und Zucker (z.B. bei Esssucht)
Prozessgebundene Süchte. Zu dieser Gruppe gehören alle Süchte, bei denen ein
Prozess, eine bestimmte Folge von
Handlungen und Interaktionen, in die
Abhängigkeit führt. Praktisch jeder Prozess kann als Sucht erzeugender Vermittler
dienen, wie z.B. Spielen, Arbeit, Sexualität oder der Gebrauch von Internet.
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Alkoholkonsum/Alkoholmissbrauch
Alkohol ist die am häufigsten konsumierte psychoaktive Substanz. Verlauf und Form
von Alkoholmissbrauch variieren mit dem Alter. Im mittleren Erwachsenenalter ist der
Alkoholmissbrauch
relativ stabil, hingegen
im Jugendalter und höheren Alter
instabiler.
Der Konsum von Alkohol gilt ab einem gewissen Alter als normal. Normative
Entwicklungen und Entwicklungsaufgaben des Jugendalters sind dafür verantwortlich
gemacht worden, dass der durchschnittliche Konsum von Alkohol und Drogen im
Jugendalter seinen Höhepunkt findet. Die Entwicklungsaufgaben verlangen von
Jugendlichen eine innere und äußere Loslösung von den Eltern und das Erreichen
einer eigenen sozialen und sexuellen
Erwachsenen
vorbehalten
sind,
Identität. Mit Verhaltensweisen, die
beanspruchen
sie
symbolisch
den
Erwachsenenstatus (Jessor, 1987). Zugleich demonstrieren sie ihre Eigenständigkeit
durch Übertreibungen und Provokationen. Der Druck, erwachsen zu werden, hängt
vor allem bei Mädchen auch von der sexuellen Reifung ab, die wiederum zu einer
veränderten sozialen Kategorisierung und sozialen Reaktionen führt. Eine früher
einsetzende Pubertät geht mit einem
ausgeprägten
Zigaretten- und
früheren (15-17 Jahren) und stärker
Alkoholkonsum einher. Eine früher einsetzende
Pubertät führt allerdings nicht dauerhaft zu höherem Alkohol- und Zigarettenkonsum,
„denn im Alter von 18 Jahren hatten die Spätpubertierenden die Frühreifen in ihrem
Konsum eingeholt“.
Eine weitere Entwicklungsaufgabe im Jugendalter ist die Identifizierung mit der
erwachsenen
Geschlechterrolle.
Eine
Reihe
von
Studien
(allerdings
Erwachsenen) zeigt einen Zusammenhang zwischen Alkoholkonsum
mit
bzw.-
missbrauch und traditionellen Frauen bzw. Männerrollen. Alkoholkonsum wird positiv
mit der traditionellen Männerrolle (z.B. die Angst „unmännlich“ zu sein) und negativ
mit der traditionellen Frauenrolle verknüpft.
Wodurch unterscheiden sich Jugendliche, die einen Alkoholmissbrauch entwickeln
werden, von anderen Jugendlichen? In einer Studie von Jessor u.a. (1991) wurden
hierzu die Eigenarten der Herkunftsfamilien, der Peergruppe und der betroffenen
Jugendlichen selbst untersucht. Die Eltern trinken selbst mehr Alkohol ( (andere
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Drogen),
vernachlässigen ihre Kinder stärker, überwachen und unterstützten sie
weniger. Die betroffenen Jugendlichen bewegen sich in Peergruppen, in denen mehr
Alkohol und Drogen konsumiert wird. Die Jugendlichen selbst tendieren auch zu
einer Reihe von weiteren „Problemverhalten“ wie beispielsweise der Konsum von
Zigaretten und
Drogen, Delinquenz, (früher) Geschlechtsverkehr und andere
Verletzungen von Konventionen. Der Alkoholkonsum hängt mit einem geringeren
Selbstwertgefühl zusammen, wohl aber mit dem Wunsch, Lebensprobleme durch
Trinken zu „lösen“. Wer glaubt, dass Alkohol die Stimmung hebt, trinkt in der Regel
mehr. Das heißt jedoch nicht, dass jede Peergruppe mit nicht-konventionellen
Werten dieses Syndrom von Problemverhalten aufweisen muss. Langzeitstudien
zeigen, dass einige Korrelate des Alkholkonsums lediglich Begleiterscheinungen
oder Folgen sind, nicht aber Entwicklungsbedingungen. Der Zusammenhänge
zwischen Alkoholkonsum und Freundesgruppen besagen vor allem, dass Alkohol in
der Regel gemeinsam konsumiert und Freunde entsprechend ausgesucht werden.
Pathologischer Internetgebrauch (PIG)
Als Beispiel für prozessgebundene Süchte soll hier die „Droge“ Cyberspace genannt
werden, obwohl die Existenz einer Internetsucht in Fachkreisen mehr als umstritten
ist. Der Wiener Psychiater Zimmerl ermittelte in einer Umfrage (1998) bei ca. 13%
der Befragten ein suchtartiges Verhalten, das er „pathologischen Internetgebrauch“
(PIG) bezeichnet. Auch M. Rautenberg (1996) kommt in seiner Online Studie in den
Niederlanden
mit 454 ausgewerteten
Fragebögen zu dem Ergebnis, dass das
Internet Menschen tatsächlich süchtig machen kann, wobei er das Potenzial ähnlich
hoch einschätzt wie bei Alkohol.
Schulte (1996) nennt hierfür folgende diagnostische Kriterien:

Der Zwang des Cybernauten wächst, immer länger online zu gehen, um das
gleiche Maß an Befriedigung zu erreichen.

Es stellt sich Unruhe bis hin zu Angstzuständen ein, wenn der Nutzer nicht oft
genug im Internet surfen kann.

Internet-Süchtige lenken sich bei Problemen durch Surfen im Web ab.

Online-Abhängige verlieren das Zeitgefühl, während sie online sind, oder sie
verbleiben regelmäßig länger als sie ursprünglich vorhatten.
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
Soziale und berufliche Verpflichtungen, auch wichtige, werden vernachlässigt,
um sich statt dessen im Internet aufhalten zu können.

Obwohl die negativen Auswirkungen auf Wohlbefinden, Gesundheit, Kontakte
zu Familie und Freunden, Beruf bemerkt werden, schränkt der Süchtige seine
Internetnutzung nicht ein.
Nach Young ( 1997) schätzen Internet_ Süchtige das www nicht wegen der Fülle
an Informationen, sondern aus folgenden drei Gründen:

Soziale Unterstützung. Anders als in der Realität können im Internet – auch
von schüchternen oder zurückhaltenden Menschen - sehr schnell Kontakte
geknüpft werden.

Sexuelle Erfüllung. Sexuelle Phantasien können anonym und ohne Furcht
ausgelebt werden.

Identitätssuche. Im Netz braucht man sich nicht zu deklarieren. Jugendliche
(z.B.) mit niedrigem Selbstwertgefühl können sich „online“ selbst eine neue,
problemlosere Identität verschaffen. (Schenk- Danzinger, 2004, 312 )
Gabriele Farke, die sich selbst als ehemalige Onlinesüchtige bezeichnet, gründete
die erste deutsche Selbsthilfegruppe für Onlinesüchtige HSO (Hilfe zur Selbsthilfe
für Onlinesüchtige). Sie ist von der Existenz der Internetsucht überzeugt und betont
die Notwendigkeit von Hilfsangeboten. In ihren Büchern Sehnsucht Internet und
Hexenkuss.de beschreibt sie ihre Erlebnisse mit allen Konsequenzen.
Die Selbsthilfegruppe versteht sich als „Offline-Gemeinschaft“; ihr erstes Ziel ist die
Teilnahme der Mitglieder am öffentlichen Leben und die Wiedereingliederung in ein
normales soziales Umfeld. Gruppengespräche in Anlehnung an die Regeln der
Selbsthilfegruppe stehen im Vordergrund.
Nicht Entzug vom Internet, sondern das Erlernen eines bewussten Umgangs ist das
leitende Motto dieser Gruppe.
Quellen:
Oerter / Montada (Hrsg.): Entwicklungspsychologie.Weinheim 2002.
Schenk – Danzinger: Entwicklungspsychologie. Wien 2004.
Grob /Jaschinski: Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Weinheim 2003.
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Flammer /Alsaker: Entwicklungspsychologie der Adoleszenz.
Bern 2002.
1.3 Störungen des Sozialverhaltens, Delinquenz
Zum Begriff „Delinquenz“
Delinquente Handlungen sind Handlungen, die gegen das Strafrecht verstoßen und
strafrechtlich verfolgt werden. Delinquenz. wird auch als antisoziales Verhalten
(übergeordnete Kategorie) bezeichnet. Die Unterscheidung der beiden Begriffe ist
ansonsten eher formell als inhaltlich. Was als Straftatbestand angesehen wird,
variiert je nach Gesellschaft und historischer Periode. Zum Beispiel sind
Eigentumsdelikte, Angriffe gegen Personen, Gefährdung der öffentlichen Sicherheit
in vielen Gesellschaften eine Straftat. Die Beschränkung der persönlichen Freiheit (in
totalitären Regimen), Umweltvergehen etc. werden in vielen Ländern nicht
strafrechtlich verfolgt. Auch sei in diesem Zusammenhang an die jüngeren
Veränderungen im deutschen Sexualstrafrecht erinnert
z.B. Strafbarkeit von
Vergewaltigung in der Ehe und Abschaffung der Strafbarkeit von Homosexualität.
Gerade bei Reformen strafrechtlicher Normen wird deutlich, dass das Strafrecht in
pluralistischen Gesellschaften nicht die moralischen Überzeugungen aller Bürger
repräsentiert. Die Existenz von Minoritäten mit abweichendem Rechtsbewusstsein
stellt auch ein Potenzial für sozialen Wandel dar. Schon deshalb ist Delinquenz
psychologisch heterogen.
Delinquenz: Ein Entwicklungsphänomen?
Untersuchungen von Moffitt (1993) und Wetzels et al. (2001) in verschieden Ländern
belegen, dass Delinquenz in Art und Häufigkeit mit dem Alter variieren. Delinquenz
erreicht im Jugendalter bei den 16-20-Jährigen einen Höhepunkt und fällt danach
kontinuierlich und deutlich ab. Die Mehrzahl der delinquenten Jugendlichen wird im
Erwachsenenalter nicht mehr oder mit einer deutlich geringeren Häufigkeit und
Tatschwere straffällig. Etwa 1-4% der Männer begehen ihren ersten Delikt nach dem
17.Lebensjahr. Nach dem 60. Lebensjahr ist Straffälligkeit selten. Bei einem
Bevölkerungsanteil von über 20% sind weniger als 6% der Tatverdächtigen über 60
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Jahre. Aus neueren Dunkelfelderhebungen ist bekannt, dass die Mehrheit der
Jugendlichen gelegentlich Straftaten begeht, wenn auch keine schweren. Delinquenz
im Jugendalter ist insofern statistisch „normal“ geworden.
Für die meisten
Jugendlichen ist Delinquenz jedoch ein diskontinuierliches Phänomen.
Moffitt (1993) unterscheidet in seiner Entwicklungstheorie 2 Täterkategorien:
a) die persistent Delinquenten und
b) die Jugenddelinquenten
Die persistent Delinquenten weisen eine hohe Kontinuität bezüglich antisozialen
Verhaltens auf: Unverträglichkeit, Ungehorsam und Aggressivität in der Kindheit und
den ersten Schuljahren, die Aggressivität bleibt stabil, in den mittleren Schuljahren
kommen
kleinere
Diebstähle
hinzu,
in
der
Jugend
Fahrzeugdiebstähle,
Drogenhandel und Einbrüche, später Raubüberfälle… und andere Verbrechen. Der
Wechsel der Formen beruht auf einem Wandel der Handlungsmöglichkeiten und
Gelegenheiten. Delinquenz ist in dieser Kategorie analog einer Eigenschaft
konsistent über Situationen und stabil über die Zeit.
Jugenddelinquenz setzt erst in der Adoleszenz ein und wird mit hoher
Wahrscheinlichkeit im früheren Erwachsenalter wieder aufgegeben. Schon Robinson
(1978) hat in einer Follow-up-Studie antisozialer Kinder über 40 Jahre festgestellt,
dass Delinquenz im Erwachsenenalter faktisch nur bei Personen zu beobachten ist,
die schon als Kinder durch multiples antisoziales Verhalten aufgefallen sind.
Jugenddelinquenz wäre demnach also ein diskontinuierliches Phänomen. Im
Vergleich zu persistenten Gruppen ist das delinquente Verhalten situativ variabel. So
kann z.B. das Verhalten in der Schule positiv bleiben. Selbstverständlich birgt das
delinquente Verhalten im Jugendalter Risiken. So kann z.B. das Probieren von
Drogen Abhängigkeit führen, die strafrechtliche Verurteilung zur Stigmatisierung.
Wiederholte Delinquenz formt die weitere Entwicklung, indem Optionen und Wege
(z.B. Ausbildung) zunehmend verbaut und soziale Kontakte negativ beeinflusst
werden. (Oerter& Montada, 2002, 867)
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Wie lässt sich Jugenddelinquenz erklären?
Moffitt (1993) erklärt Jugenddelinquenz mit der Hypothese , dass sie ähnlich dem
Drogengebrauch aus der besonderen Situation der Jugendlichen in modernen
Gesellschaften zu erklären sei( =Statusmotivhypothese):
Die Sexualreife erfolgt immer früher und die Ausbildung dauert immer länger, so dass
die Zeitspanne, in der Jugendliche biologisch erwachsen sind , kulturell und
gesellschaftlich aber nicht als voll erwachsen gelten, sehr lang geworden ist. Viele
allgemeine oder familiäre Verbote und Reglementierungen wecken das Bedürfnis
nach Autonomie, die als Privileg
der Erwachsenen wahrgenommen wird (z. B.
wirtschaftliche Selbständigkeit, sexuelle Beziehungen, Konsum von Alkohol und
Nikotin und Pornographie)Delinquenz kann nun ein realer oder symbolischer Zugang
u den Privilegien des Erwachsenenalters oder auch eine Autonomie- Demonstration
sein. Eine höhere Bildung, Leistungen im Sport, in der Musik, im Beruf (u.a.) bringen
Status und fördern die Herausbildung einer positiven Identität und
die
Wahrscheinlichkeit für delinquentes Verhalten sinkt!
Selbstverständlich erklärt die Statusmotivhypothese nicht die gesamte Varianz
jugendlicher Delinquenz. Sie muss ergänzt werden um Aspekte der moralischen
Sozialisation, der Bindung an delinquente Bezugspersonen und – gruppen sowie um
die Betrachtung der Möglichkeit zu deviantem Handel. Auch das rasche Wachstum
der Städte und die Veränderungen familiärer Strukturen könnten den Anstieg von
Jugenddelinquenz erklären. ( Oerter&Montada,2002, 865f)
Warum sind Mädchen und junge Frauen selten delinquent?
Haben Mädchen und Frauen mehr Quellen für soziale Anerkennung?
Oerter und Montada stellen zu dieser Frage 4 Hypothesen auf:
1) Mädchen sind im Durchschnitt schulisch erfolgreicher
2) Mädchen haben mehr familiäre Verantwortlichkeiten als ihre Brüder, was zwar
als Ungerechtigkeit problematisiert wird, aber vielleicht auch soziale
Anerkennung in der Familie bringt.
3) Sozial verträgliches Verhalten gilt als frauliches Ideal und bringt insofern
Anerkennung in der Familie
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4) Das jugendliche Schönheitsideal ist kulturell für das weibliche Geschlecht in
den Medien dominant, so dass sich junge Frauen im Vergleich mit älteren als
attraktiver erleben dürfen.
Präventive und Korrektive Maßnahmen zur Jugenddelinquenz
Die Rechtsstrafe wurde immer auch mit einer generellen Abschreckungswirkung
(Generalprävention) oder mit individuell präventiver Wirkung (Spezialprävention)
begründet.
Die Vielzahl der Maßnahmen, die Delinquenzprävention bezwecken, ist groß:

Jugendschutzgesetz

Erziehungsberatungsstellen

Jugendzentren

Erziehungsheime

Streetwork

Maßnahmen gegen Arbeitslosigkeit

Bewährungshilfe

Stadtsanierung u.a.
Ansatzpunkte für eine primäre Prävention in der Kindheit liefern Untersuchungen,
die zeigen, dass Armut kombiniert mit chaotischen Familienverhältnissen und
problematischen familiären Interaktionsformen und Erziehungsstilen antisoziales
Verhalten generieren oder stabilisieren. Wichtig ist eine frühzeitige Erkennung
individueller und kontextueller Risikofaktoren
(z.B. in der
Familie, in der
Kindertagesstätte oder in der Schule). Als Möglichkeit der Primärprävention wurden
Elterntrainings in solchen Familien versucht. Insgesamt erfolgreicher waren aber
globale
familiäre
sozialarbeiterischen,
Unterstützungsmaßnahmen
pädiatrischen,
psychologischen
(kombinieren
von
Beratungs-
und
Betreuungselementen ) – denn durch Eltertrainings wurden nicht die Eltern erreicht,
die es „am nötigsten hatten“.
16
Skript PSYPE 3
Da persistente Delinquenz mit Schulversagen, Schuldropout und dem Abbruch von
Berufsausbildung korreliert ist, sind kompensatorische vorschulische und
schulische Programme auch Möglichkeiten der Primär- und Sekundärprävention.
Ausgehend von der Beobachtung, dass viele persistent Delinquente Defizite in der
sozialen
Interaktion
haben,
wurden
Programme
zum
Aufbau
sozialer
Kompetenzen ( z.B. Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit, unaggressive
Formen von Konfliktverhalten entwickelt. Petermann und Petermann (1996)
entwickelten ein Programm zur Förderung des Arbeits- und Sozialverhaltens von
Jugendlichen. Ziel dieses Programms ist die Förderung von Selbstvertrauen und
selbstsicherem
Verhalten.
Jugendliche
lernen
so mögliche Misserfolge
als
Herausforderung zu empfinden, die zu neuen kreativen Problemlösungen anregen
können und damit langfristig immer schwierigere Probleme als bewältigbar
erscheinen lassen. (Oerter&Montada,2002, 872f)
Quellen:
Montada,
L(2002).Delinquenz.
In.
Oerter,R.&
Montada,
L.
(Hrsg.)
(2002)
Entwicklungspsychologie.
Flammer, A.& Alsaker, D. ( 2002). Entwicklungspsychologie der Adoleszenz.
2. Entwicklung und Sozialisation im Erwachsenenalter
2.1 Einführung
Mit Beginn des 20. Jahrhunderts kam es in allen Industriegesellschaften zu
sozialstrukturellen Veränderungen, die in der Folge auf das Leben der Menschen
großen Einfluss nahmen.
Was sich vor allem veränderte und allmählich auflöste, war die starke Bindung an
Religion und Tradition. Diese hatte in der Vergangenheit dazu geführt, dass die
17
Skript PSYPE 3
unterschiedlichen Positionen und Rollen in den Lebensverläufen klar definiert und
somit von vornherein immer schon festgelegt waren. Für die Betroffenen waren sie
daher auch grundsätzlich erwartbar.
Der „moderne“ Lebenslauf, wie er sich im 20. Jahrhundert herauszubilden begann,
lässt sich auf diese Weise kaum noch festlegen. Er ist dadurch gekennzeichnet, dass
an Stelle religiöser und traditioneller Bindungen, die Menschen ihr Leben stärker an
persönlichen Interessen auszurichten begannen. Somit konnte erstmals die Frage
„Wie will ich leben?“ mit einer Reihe von ganz unterschiedlichen Lebensmodellen
beantwortet werden. Diese zeigten sich vor allem bei beruflichen und privaten
Entscheidungen.
Die immer stärkere Orientierung an der eigenen Person machte die Menschen in
gewisser Weise freier in ihrer Wahl, denn ihre Stellung in der Gesellschaft war jetzt
stärker abhängig von ihren jeweiligen Fähigkeiten und Überzeugungen. Beides bot
die Chance, dem eigenen Leben und den sozialen Beziehungen einen eigenen
Stempel aufzudrücken – wenigstens im Prinzip.
Dieser als „Individualisierung“ bezeichnete Prozess, mit der der Einzelne aus
traditionalen und gemeinschaftlichen Bezügen „freigesetzt“ wurde, (Beck 1986), ist
aber nicht nur als Chance zu verstehen. Mit ihm verbunden ist auch ein hohes Risiko
für Fehlentscheidungen, d.h. mit den jeweiligen Entscheidungen immer auch
scheitern zu können.
Wenn daher leitende Normen (Glauben, Traditionen u.a.) nicht mehr wegweisend
sind und immer weniger Einfluss haben, die Optionen (Wahlmöglichkeiten) jedoch
zugenommen haben, unterliegen moderne Menschen
„dem Zwang, ohne Selbstverständlichkeit für sich selbst und miteinander neue
Selbstverständlichkeiten zu finden und zu erfinden.“ (Beck u. Beck-Gernsheim 1994)
2.2 Entwicklung und Sozialisation
Entwicklungspsychologische und sozialwissenschaftliche Forschungen gehen unter
diesen Bedingungen davon aus, dass eine Um- und Neuorientierung in jeder
Altersphase
erforderlich ist ( Ergebnisse der „life-span-psychology“ und
Sozialisationsforschung).
18
Skript PSYPE 3
Im Ergebnis heißt das, dass Entwicklung als lebenslanger Prozess zu betrachten
ist und Sozialisation auf das gesamte Leben ausgedehnt werden muss.
Begründet wird diese Umorientierung mit der Erkenntnis, dass es besonders unter
den
Bedingungen
(schnellen)
sozialen
Wandels
bei
den
Individuen
zu
biographischen Brüchen, Bewältigungsproblemen und häufig auch Neuansätzen
kommt. Diese erfordern, gerade im Erwachsenenalter, häufig den Wechsel von
Positionen, Rollen und Status und erfassen dann auch
das Selbst, die
Persönlichkeit.
Entwicklung und Erwachsenensozialisation beziehen sich also

auf
eine
personenbezogene
Auseinandersetzung und
Seite,
d.h.
Entwicklung
als
innere Verarbeitung des gesellschaftlichen
Prozesses (Psychologie)

auf eine gesellschaftliche Seite, d.h. auf die Frage nach Integration (in die
Gesellschaft). (Soziologie)
2.3 Sozialisation und Erwachsenensozialisation
Sozialisation, allgemein
Die mit dem gängigen Begriff „Sozialisation“ verbundenen Vorstellungen handeln von
Kindern und Jugendlichen oder besser vom Verhältnis zwischen erziehenden und
urteilenden Erwachsenen einerseits und zu erziehenden und beurteilenden Kindern
andererseits.
Notwendige Elemente, die der Begriff Sozialisation enthält, sind:

Sozialisation beginnt unmittelbar nach der Geburt

Sozialisation wird betrieben von den Interaktionspartnern der Kinder und
Jugendlichen

Diese vertreten Gesellschaft und Kultur

Sozialisation führt zur Vermittlung von Werten, Normen, Einstellungen,
Fähigkeiten und Fertigkeiten

Erfolgreiche Vermittlung führt bei den Betroffenen zu Verinnerlichung oder
Internalisierung.

Sozialisation
führt
zu
Integration
in
Familie,
soziale
Gruppen,
Gemeinschaften, Institutionen und Organisationen, Kultur und Gesellschaft.
19
Skript PSYPE 3
Erwachsenensozialisation
Orientiert man sich nur an dem obigen Sozialisationsbegriff sind Erwachsene als
vollgültige Gesellschaftsmitglieder eigentlich nicht mehr sozialisationsbedürftig,
sondern sie erziehen selbst Kinder, unterrichten Schüler usw.
Betrachtet man jedoch das Leben in modernen, d.h. vor allem industriell entwickelten
Gesellschaften, muss man weitere Sozialisationselemente hinzufügen:

Sozialisation
bezeichnet
nicht
nur
Erziehungsprozesse,
sondern
den
lebenslangen Lernprozess des Menschen

Sozialisation ist mit jedem Erlernen einer neuen Rolle, mit jeder Eingliederung
in eine neue Gruppe verbunden (Ausbildung – Beruf, Familie, Mitglied in
Verein, Partei usw.)

Sozialisation ist lebenslanges Rollenlernen unter sich stets wandelnden
gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen (besonders bei Migration,
Auswanderung usw.).

Lernprozesse müssen häufig durch Verlernprozesse ergänzt werden.
(veränderte Lebensbedingungen, neues Wissen )

Notwendig gewordene innere Wandlungsprozesse, (die Wandlung des Selbst,
der Identität) erfordern fortlaufende Bewältigung und führen zur Nachfrage von
Psychotherapie, Esoterik, Ideologie, Religion....
„Sozialisation, lebenslange. Diese Bezeichnung betont, dass Sozialisation nicht wie nach älterem Verständnis - in Kindheit und Jugend mehr oder weniger
abgeschlossen wird, sondern dass sie im Gegenteil während der ganzen
Lebensspanne vor sich geht. Erlernen neuer Rollenanforderungen, Verlernen alter
und Lösung aus den alten Rollen, Bewältigung von Statusübergängen und damit
verbundene Identitätswandlungen und auch –krisen usw. werden jetzt als
Kennzeichen des gesamten Lebenslaufs angesehen und erforscht.“
(Fuchs-Heinritz u.a.: Lexikon der Soziologie 2007, S. 606,
Für die lebenslange Sozialisation bedeutsam ist, dass Lernen hier keineswegs
zwingend in Institutionen stattfindet, es gibt also in aller Regel keine systematischen
Bildungsprozesse mehr. Vielmehr geschieht das Erlernen im Alltag, nebenher,
20
Skript PSYPE 3
unorganisiert, unsystematisch. So bezeichnet z.B. die berufliche Sozialisation die
andauernde Vergesellschaftung durch berufliche Tätigkeit, durch die Organisation mit
festen Abläufen, durch KollegInnen und Vorgesetzte usw.
Nachfrage und Angebot
Kennzeichnend für moderne Industriegesellschaften
ist, dass Entwicklungs- und
Sozialisationsprozesse eine hohe individuelle Nachfrage notwendig machen. Diese
bezieht sich auf Aufklärung, Unterstützung, Beratung, Hilfe usw. und wird mit einer
ständig
wachsenden
Fülle
von
Literatur
sowie
(psychologischen,
sozial-
pädagogischen, esoterischen, juristischen u.a.) Angeboten beantwortet.
2.4 Darstellung und Beobachtung eines fiktiven Tagesverlaufs
Martha M., z. Zt. Lehrerin, beginnt ihren Berufsalltag beim Frühstück musikalisch mit
einem ihrer alten Lieblingssongs, Pink Floyds „We don’t need no education“ , gefolgt
von den Nachrichten: heute vor allem mit der jüngsten Bankenkrise, danach mit
Informationen zur steigenden Jugendarbeitslosigkeit in Luxemburg.
Auf ihrem Weg zur Schule mit öffentlichen Verkehrsmitteln liest sie Zeitung. Dabei
erfährt sie die neuesten Scheidungszahlen, ein erfolgreiches
Programm zur
beruflichen Wiedereingliederung und geplante Maßnahmen der Erziehungsministerin
zur Sprachförderung ausländischer Kinder. In der Boulevard-Zeitung ihres Nachbarn
erhitzen sich die Gemüter nach einem spektakulären Sexualmord über Sinn und
Unsinn des resozialisierenden Strafvollzugs.
In der Schule angekommen, wird sie noch vor ihrem Unterricht um ein Gespräch
gebeten: ein Schüler aus einer ihrer Klassen braucht dringend Unterstützung: er lebt
mit seinem alkoholkranken Vater zusammen und ist damit so überfordert, dass er
sich von der Schule abmelden will. M. empfiehlt ihm, unbedingt mit der
Schulpsychologin zu sprechen. Da Problemfälle zugenommen haben und sie an der
Schule nur eine zweijährige Vertretung für eine Kollegin in Elternzeit hat, ist sie von
ihrem anfänglich übergroßen Engagement etwas zurückgetreten - vor allem weil sie
selbst noch nicht weiß, wie es bei ihr beruflich weitergehen soll. Das Unterrichten und
der Austausch mit Jüngeren gefällt ihr zwar sehr gut, sie überlegt aber dennoch, ob
sie mit ihrer zweiten Qualifikation als Diplombiologin nicht auch in der Forschung
21
Skript PSYPE 3
arbeiten könnte. In den vergangenen Wochen hat sie zumindest schon eifrig im Netz
recherchiert und einige Bewerbungen auf den Weg gebracht. Manchmal träumt sie
auch davon, nach all den Jahren einer Wochenendbeziehung mit ihrem Freund 250
km weiter, endlich zusammen ziehen zu können und, wenn beide Teilzeit arbeiten,
auch eine Familie zu gründen. Was ihr bei dem Gedanken schwerfällt, ist die
Vorstellung, bei einem Ortswechsel dann auch ihren Freundeskreis und die schöne
kleine Wohnung wieder aufgeben zu müssen.
Nach ihrem Unterricht ist heute noch eine Konferenz angesetzt. Die Teilnahme ist ihr
hauptsächlich wegen des Kollegiums wichtig, noch immer fühlt sie sich nicht wirklich
integriert. Die Sitzung dauert so lange, dass sie ohne Pause gleich zur nächsten
Versammlung eilen muss:
in ihrem Wohnviertel gibt es Aufruhr wegen eines Jugendheims. Nachbarn klagen
wegen nächtlicher Ruhestörung, Eltern beschweren sich wegen Verunreinigung und
Zerstörung eines in Eigeninitiative gebauten Spielplatzes. Da sie die Schließung des
Jugendheims fordern, ist es ihr wichtig, auch die eingeladenen Vertreter des
Jugendhauses zu hören und sich für eine faire Auseinandersetzung einzusetzen.
Als sie gg. 22.30 Uhr nach hause kommt, schaut sie zur Entspannung noch in das
Nachtmagazin des Fernsehens. Der eingeladene Experte empfiehlt die Einführung
obligatorischer Gesundheitserziehung in Schulen.
Sollte sie sich verstärkt dafür
einsetzen? Ideen dazu, gerade als Lehrerin, hatte sie schon häufiger.
Nach dem allabendlichen Telefongespräch mit ihrem Freund und einer Verabredung
zum Abendessen mit einer Freundin für den übernächsten Tag,
nimmt M. als
Bettlektüre noch ein Buch zur Hand mit dem wunderbaren Titel: „Was machen wir
jetzt?“ (D. Dörrie, 2000) Es geht neben Ehekrisen und Eltern-Kind-Konflikten auch
um die heilsame Rolle buddhistischer Lebensphilosophie. Das Richtige also für Sinn
suchende Angehörige der Mittelschicht in modernen Gesellschaften(!)
Lange kann sie aber nicht mehr lesen, denn morgen, an ihrem freien Tag, ist sie als
Referentin eingeladen bei einem Bildungsurlaubsseminar. Thema ihres Vortrags:
„Die Notwendigkeit lebenslangen Lernens und berufliche Flexibilität.“
a) Kennzeichen eines „modernen“ Lebenslaufs
Privat- und Berufsleben von Martha M.:
Trotz akademischer Ausbildung hat Martha M. nur eine Zeitstelle als Lehrerin. Auf
Grund ihrer Doppelqualifikation (Pädagogik und Diplombiologie)
bewirbt sie sich
22
Skript PSYPE 3
auch in der Forschung als Biologin. Sie führt eine Fernbeziehung und möchte erst
eine Familie gründen, wenn ihre beruflichen Zukunftsaussichten klarer sind.
Wichtig für Selbstwert und Identitätsbewusstsein ist ihr ihre berufliche Sozialisation
(als Lehrerin und Kollegin), bürgerschaftliches Engagement (Mitbestimmung beim
Jugendhaus), außerberufliche Betätigung als Bildungsreferentin (BildungsurlaubsSeminar),
die Pflege privater Rollen (Lebenspartnerin und Freundin) und, in
Ansätzen und ganz nebenbei, die
Suche nach einem darüber hinausgehenden
„Sinn“ (Lektüre)
b) Entwicklungs- und Sozialisationsanlässe (im Tagesverlauf von M.):

Massenmedien (Rundfunk, Fernsehen Zeitungen, Internet) und

Literatur:
Information, Bildung, Unterhaltung. Menschen konsumieren freiwillig, aber die
Wahl des Mediums ist selbst Ergebnis einer bestimmten Entwicklung und
Sozialisation. (Welche Zeitungen, welche Fernsehprogramme, welche Bücher ?)

Schule und Bildungseinrichtungen:
wirtschaftliche Existenzsicherung, Karriere(planjung),
Umgang mit verschiedenen Rollen und hierarchischen Zwängen, Solidarität,
Balance
zwischen
Erfordernissen
des
Arbeitsmarktes
und
Wünschen und Bedürfnissen, wissenschaftlicher Austausch,
persönlichen
Generationen-
Austausch, Beratung, Gesundheitsaufklärung, Bildungsbeiträge,

Bürgerschaftliches Engagement:
Verwirklichung politischer Ideen, soziale Arbeit, Austausch mit verschiedenen
gesellschaftlichen Gruppen

Partnerschaft und Freundeskreis:
Emotionaler Austausch, Selbstvergewisserung,
Sicherheit und Stabilität,
Wertorientierung
Quellen:
Abels u.a., Lebensphasen. Eine Einführung.Wiesbaden 2008
Behringer F. u.a., Diskontinuierliche Erwerbsbiographien, Hohengeren 2004
23
Skript PSYPE 3
Berk, Laura, Deveopment through the lifespan. Illinois State University. Pearsons
Education 2007
Böhnisch, Lothar, Sozialpädagogik der Lebensalter . Weinheim, München 1997
Griese, Hartmut, Erwachsenensozialisation. München 1986
Fuchs- Heinritz Werner u.a., Lexikon der Soziologie. VSVerlag Wiesbaden 2007
Konietzka, Dirk, Zeiten des Übergangs. Sozialer Wandel des Übergangs in das
Erwachsenenalter. VS Verlag Wiesbaden 2008
2.5 Das Konzept der lebenslangen Entwicklung – Entwicklungspsychologie der
Lebensspanne
Die wichtigsten Aussagen des Konzeptes lauten:

Entwicklung ist ein lebenslanger Prozess.

Entwicklung kann in ganz verschiedenen Richtungen verlaufen, und
Menschen unterscheiden sich untereinander sehr stark in diesen Richtungen.

Der Einzelne ist in hohem Maß zu Veränderungen fähig.

Entwicklung vollzieht sich in verschiedenen psychischen Bereichen.

Entwicklung vollzieht sich in verschiedenen Lebenskontexten.

Neben dem chronologischen Alter haben auch gesellschaftliche, ökologische
und historische Bedingungen einen Einfluss auf die Entwicklung.

Entwicklung ist ein interaktiver Prozess zwischen Individuum und Umwelt, in
dem der Mensch selbst sehr aktiv ist.
24
Skript PSYPE 3
2.6 Theoretische Ordnungsversuche des Lebenslaufs und Erwachsenenalters.
a. Das ontogenetische Modell der Entwicklung im Erwachsenenalter:
in diesem
Modell wird die Quelle für Veränderungen in den biologischen oder psychischen
Prozessen des Individuums gesehen.

Nach Vaillant (1980, 1993) hängt die „psychische Gesundheit“ eng mit einer
erfolgreichen Bewältigung des Lebens zusammen. Menschen, die über reife
Abwehrmechanismen
verfügen,
können
Herausforderungen
besser
bewältigen als Menschen mit unreifen (neurotischen) Abwehrmechanismen.

Gould (1979) sieht Entwicklung im Erwachsenenalter als schrittweise
Transformation des Bewusstseins über sich selbst an. So werden aus der
Kindheit stammende falsche Annahmen schrittweise ersetzt durch reife, dem
Erwachsenen angemessenere Einschätzungen.

Verschiedene Längsschnittuntersuchungen kommen zu unterschiedlichen
Aussagen über die Veränderung von Persönlichkeitseigenschaften im
Erwachsenenalter. Die „Berkeley-Studien“ (Eichhorn et al., 1981) verwendeten
Ratingskalen
und
fanden
zwischen
Adoleszenz
und
mittlerem
Erwachsenenalter einen Anstieg in: Selbstvertrauen, Offenheit für neue
Erfahrungen, kognitives Interesse, Besorgtheit um andere Menschen.
Dagegen fand die „Baltimore Longitudinal Study of Aging“ bei erwachsenen
Männern
im
Verlauf
von
20
Jahren
keine
Veränderung
in
Persönlichkeitsdimensionen wie Neurotizismus, Extraversion und Introversion.
Hier wurden Persönlichkeitstests zur Messung verwendet.
b. Das soziogenetische Modell der Entwicklung im Erwachsenenalter

Die Sozialisationsforschung geht davon aus, dass die Mitglieder einer
Gesellschaft durch soziale und kulturelle Einflüsse auf das Leben in dieser
Gesellschaft vorbereitet werden. Dies würde in einer Vorbereitungsphase
(Kindheit, Jugend) geschehen. Darauf folgten dann die Aktivitätsphase und
die Ruhephase. Heute zeigt sich jedoch: die vorbereitende Sozialisation reicht
immer weniger für ein ganzes Leben, die Sozialisation Erwachsener wird
immer häufiger.
25
Skript PSYPE 3

Die
Theorie
der
Altersschichtung
sieht
Altersnormen
als
wichtigen
Einflussfaktor auf den Lebenslauf an. Sie legen fest, in welchem Alter jemand
welche soziale Rolle übernehmen sollte. Von diesen Normen geht ein
gewisser Druck aus, sie zu erfüllen. Die zeitliche Aufeinanderfolge dieser
Rollen bildet die Normalbiographie. Sie kann Unterschiede aufweisen
zwischen den Geschlechtern, zwischen sozialen Schichten, zwischen
verschiedenen historischen Epochen. Die Übergänge zwischen den einzelnen
Rollen
stellen
Krisensituationen
dar,
in
denen
erhöhte
psychische
Belastungen auf den Menschen zukommen.
c. Ein interaktionistisches Modell (Individuum  Umwelt) der Entwicklung
im Erwachsenenalter stellen Levinsons Perioden des Erwachsenenalters dar.
Levinson
(1979, 1980) fand bei seinen Versuchspersonen individuelle
Lebensstrukturen, ein Muster aus verschiedenen Beziehungen des Menschen zu
sich selbst, zu Anderen, zu Außenwelt allgemein. Manche Elemente in diesem
Muster sind dem Menschen wichtig, er investiert viel Zeit und Energie darin.
Andere sind eher nebensächlich. Diese Lebensstruktur läuft anscheinend in einer
geordneten Sequenz ab. Dabei wechseln sich strukturbildende Perioden (=
Treffen von Entscheidungen, Aufbau einer Situation) mit Übergangsperioden (=
Neueinschätzung der Situation, Suche nach Veränderungen, Veränderung) ab.
Quellen:
Faltermaier, T. Mayring, P., Saup, W. (2002) Entwicklungspsychologie des
Erwachsenenalters. Stuttgart: W. Kohlhammer. S. 24 – 63.
3. Das frühe Erwachsenenalter
3.1 Der Übergang ins Erwachsenenalter
Gesellschaften sind üblicherweise dadurch gekennzeichnet, dass Heranwachsende
auf ihre zukünftigen Aufgaben als Erwachsene vorbereitet werden.
Mit diesen
Funktionen und Tätigkeiten können sie dann für die Aufrechterhaltung und
Weiterentwicklung des jeweiligen Gesellschaftssystems sorgen. Je komplexer eine
Gesellschaft, desto länger dauert die Phase des Lernens und der Ausbildung, desto
26
Skript PSYPE 3
länger
also
die
Gesellschaftsmitglied.
Übergangszeit
Zeichnete
zum
sich
der
vollwertigen
Übergang
und
in
selbständigen
vorindustriellen
Gesellschaften durch rituelle Verfahren aus und war dadurch auch auf ein
bestimmtes Alter festgelegt (Initiationsriten), zeigen die Prozesse in modernen
Gesellschaften
beträchtliche
unterschiedlich
langen
individuelle
Ausbildungszeiten,
Unterschiede
(auf
Warteschleifen,
Grund
Phasen
von
der
Arbeitslosigkeit, Zweitausbildungen, Nachqualifikationen usw. ) und können längst
nicht mehr am kalendarischen Alter festgemacht werden. „Erwachsen zu sein ist
somit immer einer gesellschaftlichen Bestimmung unterworfen“ (Faltermaier u.a.
S. 86).
Wer als erwachsen gilt, kann also kaum noch als allgemein verbindlich angesehen
werden: Dennoch bleiben als Grundbedingung und Orientierungspunkt für den
autonomen Erwachsenenstatus die äußere und innere Loslösung vom Elternhaus
sowie der Aufbau einer eigenständigen Lebensform mit entsprechenden
Entscheidungen für Beruf und Privatleben. (Levinson ,1979)
3.2 Zentrale Entwicklungsthemen des frühen Erwachsenenalters
Nimmt man das frühe Erwachsenenalter als eine sensible Phase für die Bahnung
des weiteren Lebenslaufs, stellen seine Akteure „wahrscheinlich die Altersgruppe mit
dem größten innovativen Potenzial für die Entwicklung einer Gesellschaft dar“
(Faltermaier u.a., S. 88) In diesem Sinne macht der US-amerikanische Psychologe
Bocknek (1986) den Versuch, psychische Tendenzen in dieser Lebensphase heraus
zu arbeiten:

Der junge Erwachsene erhält ein Gefühl der eigenen Stärke und Fähigkeiten,
besonders auch in Bezug auf die neuen Erfahrungen in der Erwachsenenwelt.

Er hat
im Vergleich zur Jugendzeit eher ein Welt-Bewusstsein, d. h., er
definiert sich nun in einem weiten Kontext von Beziehungen (seine
unmittelbare und weitere Umwelt).

Er zeichnet sich häufig durch eine aktivistische Orientierung aus, d. h., er will
seine Ideen und Ziele verwirklichen, und zwar in geplanter und kontrollierter
Art und Weise.

Es beginnt eine Phase der Ausrichtung einer Perspektive auf die eigene
Person. Die Möglichkeit einer Selbstsicht lässt
gezielter an Schwächen
arbeiten, ohne die gesamte Persönlichkeit infrage zu stellen.
27
Skript PSYPE 3

Je nach äußeren Bedingungen kann sich ein innovatives Potenzial zeigen,
dass gesellschaftliche Auswirkungen haben kann. (Lust am Experiment, an
unkonventionellen Dingen).
Auch wenn es sich hier eher um idealtypische Charakterisierungen handelt, kann
noch einmal festgehalten werden, dass die Komponenten Partnerschaft/ Familie
und Beruf, wenn auch zeitlich verschoben und immer weniger endgültig, zentral
bleiben, d.h. weiterhin als die wesentlichen Determinanten für die Stabilität eines
Lebenslaufes gelten. (Clausen, 1986)
Zu diesen beiden als zentral betrachteten Lebensthemen des jungen Erwachsenen
gelten weiterhin auch die Identitätsentwicklung, soziale Beziehungen allgemein
sowie die Entwicklung von Lebenszielen.
3.2.1 Identitätsentwicklung
Hier stellt sich für den jungen Erwachsenen in besonderer Weise die Frage nach
einem Ausgleich zwischen Gesellschaftsanpassung und Selbstverwirklichung. In
einer komplexer gewordenen Lebenswelt müssen Berufswelt, Ausbildungslaufbahn,
Freizeitaktivitäten, soziale Bindungen integriert werden. Für heutige Gesellschaften
mit ihren multiplen Lebenswelten ergibt sich daraus leicht eine „PatchworkIdentität“, d.h. ein subjektiver Konstruktionsprozess, in dem immer wieder versucht
wird, Passung herzustellen.
3.2.2 Soziale Beziehungen
Wohl kaum in einer anderen Lebensphase werden so viele neue Beziehungen
eingegangen: zu Freunden, Arbeitskollegen, den eigenen Kindern usw. Aber auch
die Beziehungen zu den Eltern gehen von einem ehemals abhängigen zu einem
gleichberechtigten Verhältnis über. Dabei ist das aktive Gestalten dieser sozialen
Beziehungen
von
entscheidender
Bedeutung
und
eine
Besonderheit
des
Individualisierungsprozesses, ist doch der junge Erwachsene heute nicht mehr
selbstverständlich in Familien- und Verwandtschaftsbezügen eingebunden. Soziale
Beziehungen werden somit stärker nach eigenen Interessen und Bedürfnissen
eingegangen.
3.2.3 Intimbeziehungen, Partnerschaft und Familie
Die alles dominierende Thematik des frühen Erwachsenenalters ist jedoch die
Herstellung einer tragenden Partnerschaft, meist als intime Beziehung. Dabei geht
28
Skript PSYPE 3
es immer weniger um das Modell Ehe und die traditionelle Familie. (siehe
Einführung) Die mit den gesellschaftlichen Veränderungen verbundene „Freisetzung“
aus alten Rollen und Verpflichtungen hat gerade wo es um Geschlechtsrollen geht,
für die Betroffenen ganz unterschiedliche Folgen. Besonders für Frauen ergibt sich
im Alltag häufig ein Konflikt zwischen Anspruch und Wirklichkeit in dem Sinn, dass
traditionelle
weibliche Rollenmodelle neben neuen Frauenrollen weiter bestehen
bleiben, während Familienrollen für Männer noch weit weniger Akzeptanz und
Förderung erhalten.
Partnerschaften entspringen heute mehr denn je dem Glauben an romantische Liebe
und dem persönlichen Bedürfnis nach Geborgenheit und Nähe. Während Sicherheit
und Geborgenheit früher im Vordergrund standen, ist es heute eher auch die
gemeinsame Suche nach Lebenssinn und Identität (Beck & Beck-Gernsheim, 1990).
Dabei müssen die Rollen und die Arbeitsteilung in der Partnerschaft immer wieder
neu ausgehandelt werden. Jeweilige individuelle, aber auch dyadische (auf dem
Zweiersystem
aufgebaute)
partnerschaftlichen
Kompetenzen
Beziehung
und
beeinflussen
erfordern
ein
die
Qualität
hohes
Maß
einer
an
Problemlösefähigkeit, an Interaktions- und Kommunikationsfähigkeit, an emotionaler
Intelligenz, körperlicher Attraktivität, somatischer und psychischer Belastungs- und
Bewältigungsfähigkeit.
Dass Paarbeziehungen immer weniger Stabilität aufweisen und inzwischen ,mehr
als
jede
dritte
Ehe
wieder
geschieden
wird,
hat
ganz
unterschiedliche
gesellschaftliche, ökonomische und psychische Ursachen. Von den Betroffenen,
besonders Kindern, erfordern Trennungen oft jahrelang emotionale Bewältigung und
nicht selten auch große ökonomische Verluste. Hohes Selbstvertrauen, ein positives
Selbstkonzept, eine wenig konservative Einstellung sind Faktoren für eine bessere
Bewältigung einer Trennung.
3.2.3.1 Die Kinderfrage als Wendepunkt
In modernen Gesellschaften sind Kinder längst keine Selbstverständlichkeit mehr.
Mehr als ein Viertel der Erwachsenen bleibt mittlerweile kinderlos, auch hier mit
steigender Tendenz. Elternschaft wird durch die modernen Verhütungsmethoden
planbar und sogar ungewollte Kinderlosigkeit kann mitunter medizinisch überwunden
werden. Die Entscheidung für oder gegen Kinder kann nicht beliebig hinausgezögert
werden (biologische Uhr) und somit stellt sie mit der Frage nach Kindern
unumstößlich die Weichen für den weiteren Lebenslauf eines jungen Erwachsenen.
29
Skript PSYPE 3
Eine Befragung von jungen Paaren ergab, dass extrinsische (man verbindet Kinder
mit einer bestimmten Lebensform; Kinder werden vor allem in ihrer Bedeutung für die
Entwicklung der Partnerbeziehung oder der eigenen Persönlichkeit gesehen) Werte
intrinsischen (etwa die Freude am Zusammenleben mit Kindern) vorgezogen werden.
Der Kinderwunsch wird nur ganz selten eindeutig formuliert, er umfasst immer auch
konflikthafte, ambivalente Anteile: Man will durch ein Kind Neues lernen, einen
Lebenssinn erhalten oder diesen erweitern, gleichzeitig kommen jedoch auch die
Bedenken, der Aufgabe und Verantwortung nicht gewachsen zu sein. In die
Überlegungen der jungen Erwachsenen fließen schließlich auch die Stabilität und
Sicherheit ihrer beruflichen und materiellen Situation mit ein.
3.2.3.2 Frühe Elternschaft als kritische Lebensphase
Das Leben zu dritt verlangt das Erlernen neuer Interaktionsformen und ist teilweise
hohen psychischen Belastungen ausgesetzt. Allgemein hinterlässt Elternschaft in
der Persönlichkeit von Männern und Frauen deutliche Spuren. Was sich aus ihr für
die persönliche Entwicklung ergibt, hängt stark von materiellen (ökonomische
Situation), lebensweltlichen (bei Trennung der Eltern oder in Fortsetzungsfamilien)
und sozialethnischen (Herkunft der Eltern) Faktoren ab. Erschwerende Bedingungen
ergeben sich vor allem bei einer chronischen Erkrankung oder Behinderung des
Kindes. Auch die Rolle der Großeltern beeinflusst das Erleben und Verhalten der
Eltern in nachhaltiger Weise.
Erziehungsarbeit ist, was die Auswirkungen und Folgen auf die betroffenen Eltern
angeht, in ihrer Nachhaltigkeit mit der Berufsarbeit zu vergleichen. Väter und Mütter
wachsen in ihrer Persönlichkeit an den Kindern, sie erleben jedoch auch Verluste
und Einschränkungen durch beispielsweise die Berufsaufgabe eines Elternteils, in
den meisten Fällen immer noch der jungen Mutter. Es stellt sich für sie oftmals dann
eine soziale Nivellierung ein, da sie große Teile ihrer Identität an der Berufswelt
festmachten, die aber nun verschwunden ist. Und die Wertschätzung des Hausfrauund Mutterdaseins rangiert in den unteren Rängen.
Die Einstellung zu einer neuen Arbeitsteilung in der Familie haben sich zwar
grundlegend geändert, doch bleibt die Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht nur
in Deutschland weiterhin ungünstig. Von der „neuen Väterlichkeit“ erhoffen sich nun
die Frauen Entlastung und die Männer mehr emotionale Arbeit, doch in den
sozialstrukturellen Daten wird sie nicht sichtbar: Nur eine verschwindend geringe
Anzahl junger Männer ergreift die Möglichkeit des Erziehungsurlaubs.
30
Skript PSYPE 3
In ihrer „Arbeitsplatzbeschreibung für Mütter, Väter und andere“ hat Barbara
Sichtermann (1987) Anforderungen und Belastungen im Alltag mit kleinen Kindern
zusammengestellt:

immer für das Kind da sein; immer auf dem Sprung sein,

körperliche Anstrengung und veränderte Zeiterfahrung (nämlich am
Zeitrhythmus des Kindes),

soziale
Unterstützung
und
Erwartungen
(Unterstützung
und
das
Verständnis der anderen).
Insgesamt wird die Betreuung eines Kindes als sehr ambivalent erlebt: Die Tätigkeit
des Aufziehens ist einerseits sehr verantwortungsvoll und auch befriedigend (mit
meist gutem Feedback der Kinder), auf der anderen Seite erfordert sie eine ständige
Aufmerksamkeit mit ganz wenigen Unterbrechungen. Die Eltern können dies nur
auffangen, indem sie ein hohes Maß an Flexibilität und Gelassenheit im Umgang mit
den
alltäglichen
kleineren
und
größeren
Katastrophen
entwickeln.
Neue
Herausforderungen mit dem Heranwachsen der Kinder
Mit dem Heranwachsen der Kinder verläuft die Entwicklung der Kinder immer mehr
außerhalb des Einflussbereichs der Eltern: Das schafft neue Anforderungen und
neue Sorgen, beispielsweise, wenn die Kinder in Kinderkrippe und Kindergarten
anderen Personen zur Betreuung übergeben werden und wenn sie den schulischen
Anforderungen
nachkommen
müssen.
Eltern
müssen
sich
jetzt
mit
den
Anforderungen der Erziehungsinstitutionen auseinandersetzen.
Neu ist, dass es Wissensbestände gibt, in denen Erwachsene erstmalig von ihren
Kindern lernen können und oft sogar müssen. Das schafft sicher neue Formen des
Umgangs wie überhaupt Erziehung in für Eltern und Kinder unsicheren Zeiten weit
mehr emotionale Begleitung und Beratung verlangt.
Quellen:
Faltermaier, T. Mayring, P., Saup, W. (2002) Entwicklungspsychologie des
Erwachsenenalters. Stuttgart: W. Kohlhammer. S. 85- 135.
31
Skript PSYPE 3
4 Das Kleinkind in der Familie: Ergebnisse der Kleinkindforschung und
pädagogische Betreuung
4.1 Frühe Kindheit: eine Phase hoher Lernfähigkeit
Säuglinge besitzen bei der Geburt bereits ca. 100 Milliarden Nervenzellen und ca. 50
Billionen Synapsen (Verdrahtungen zwischen den Nervenzellen). Daraus entstehen
in
den
ersten
Lebensmonaten
ca.
1000
Billionen
Synapsen,
d.h.
die
Verschachtelungen verzwanzigfachen sich. Wenn Umweltreize fehlen, verkümmert
die Synapsenbildung oder wird ganz eingestellt. Babys z.B., die früher häufig wegen
Augenentzündungen bei der Geburt blind waren, blieben dies, auch wenn man sie
einige Monate später operierte, d.h. die Synapsenbildung war nicht mehr möglich,
weil die „sensible Phase“ überschritten war.
Die Gehirnentwicklung ist also auf den Gebrauch der Sinne angewiesen, damit es zu
Verstärkungen und Verdichtungen kommt. Die Gene liefern nur das Baumaterial,
Synapsenbahnen
- manche
Forscher
sprechen
sogar
von
„Straßen“ und
„Autobahnen“ – bilden sich erst durch Umweltanregungen. Hirnforscher schätzen,
dass 30 bis 50 % der Verschachtelungen durch Nichtgebrauch in den ersten
Lebensmonaten wieder verloren gehen.
Wir gehen also davon aus, dass in den ersten Lebensmonaten die Architektur und
das Grundgerüst für Fühlen, Wahrnehmen, Denken und Handeln entsteht. Die große
Bedeutung sozialer Umweltanregungen zeigen Untersuchungen bei Heimkindern:
diejenigen, die von Beginn an durch eine konkrete Person „bemuttert“ wurden,
entwickelten sich weit gesünder und erreichten fast normale Schulabschlüsse im
Gegensatz zu den Kindern ohne „Mutter“. Diese
waren weit häufiger krank und
blieben weit häufiger auch ohne Schulabschluss.
Ein weiteres Beispiel für den Einfluss von Umwelt/ Kultur ist auch die Tatsache, dass
Menschen, die z.B. mit der chinesischen Sprache aufwachsen, kein „r“ sprechen
lernen, während sich in anderen Sprachräumen durch erwachsene Vorbilder die rLautbildung entwickelt.
Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass in den ersten Lebensjahren die
„geistig-seelische Grundkonstitution“ entsteht und es daher sehr berechtigt ist, wenn
die Frühpädagogik dem frühen „Lernen“ einen hohen Stellenwert einräumt.
32
Skript PSYPE 3
4.2 Die Bedeutung von Sozialkontakten für die kindliche Entwicklung
In
den
ersten
Lebensmonaten
kommt
es
im
Zusammenhang
mit
der
Gehirnentwicklung entscheidend auf die soziale Interaktion des Kindes mit den Eltern
oder anderen Bezugspersonen an. Dabei zeigen zahlreichen Untersuchungen
zufolge die meisten Eltern im Kontakt mit dem Säugling intuitiv richtiges Verhalten.
Der zentrale Begriff für das richtige Verhalten ist die
Sensitivität oder
Feinfühligkeit: die Pflegeperson erkennt Signale zur Kontaktaufnahme, gibt positive
Rückmeldung, ist zuverlässig da und ihr Verhalten ist freundlich. Das heißt, sie lässt
Geborgenheit spüren, vermittelt Urvertrauen, ist einfühlend und unterstützend, zeigt
emotionale Wärme und Liebe.
Ein wichtiges Vehikel der sozialen Interaktion ist das Spiel. Es hat den Vorteil, dass
es auch bei vielen Wiederholungen den Kindern Freude macht und dadurch lernen
ermöglicht. Dies bestätigen hochdifferenzierte Untersuchen zu dem Zusammenhang
von Eltern- Kind- Spiel (motorische Spiele, Verse usw.) und kindlicher Entwicklung.
Wenn Eltern nicht fähig sind, die soziale Interaktion mit ihrem Kind angemessen zu
gestalten, können u.a. folgende psychologische, soziale
und pädagogische
Missstände angeführt werden:

Das Kind ist unerwünscht/ wird abgelehnt

Krisen in der Partnerschaft wirken sich auf das Familienklima aus

Unwissenheit über Erziehung

Psychische Störungen der Mutter/ Vater

Armut

Überschüttung mit Materiellem
Etwas vereinfachend unterscheidet Keller (1997) zwischen zwei Erziehungsstilen:

Die Erziehungssituation ist harmonisch, unterstützend, die Eltern sind sensibel
und reagieren angemessen; dies führt zu günstiger kindlicher Entwicklung und
zu sicherer Bindung.

Die Erziehungssituation ist instabil, zurückweisend, die Eltern sind unsensibel,
reagieren
unangemessen.
Die
Folge
beim
Kind
sind
häufig
Entwicklungsdefizite, Verhaltensstörungen und unsichere Bindung.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass frühe Sozialkontakte für einen
„Sockel“ vielfältiger Entwicklungsmöglichkeiten sorgen. Die Kinder lernen ihre
Umwelt besser kennen, sie entdecken im sozialen Austausch, dass sie selbst etwas
bewirken können (Verursacher), sie erwerben Bewältigungsstrategien im sozialen
33
Skript PSYPE 3
und emotionalen Bereich und lernen soziale Regeln. Aufgrund der Notwendigkeit
der sozialen Dimension spricht man deshalb auch von der sozial-kognitiven
Entwicklung als einem Prozess der „Co-Konstruktion“.
4.3 Neue Sicht auf die Wahrnehmung und Differenzierungsfähigkeit
Kinder arbeiten von Anfang an mit ihrem Wahrnehmungspotenzial, um Sinnesreize
zu unterscheiden und zu ordnen. Sie verfügen bereits im Neugeborenenalter über
die Grundfähigkeit, Denkprozesse zu entwickeln. Was ihnen fehlt, ist die Erfahrung.
Sie streben danach, mit allen Sinnen Erfahrungen zu machen und diese so zu
sortieren, dass sie einen Sinn machen. Kleine Kinder denken körper- und
handlungsbezogen.
Dafür
brauchen
sie
Bewegungsraum
und
freie
Bewegungsentwicklung, sie brauchen vielfältiges Material zum Erkunden, allein
und mit anderen. Nur so kann „Tun aus eigenem Willen heraus“ (Schäfer 1999)
geschehen.
Die Selbstwertentwicklung wird entscheidend vorangetrieben, wenn sich der soziale
Bewegungsradius
auf
Gleichaltrige
ausdehnt.
Forschungsergebnisse
zu
Gleichaltrigen-Beziehungen im ersten und zweiten Lebensjahr belegen eindrucksvoll,
wie wichtig die eigene soziale Welt der Kinder untereinander ist, vor allem das
„Aushandeln“.
Die
typischen
Peer-Verhaltensweisen
sind
bei
Kleinkindern
Vokalisieren, Anlachen, Berühren, später Gestikulieren (Hay u.a. 1983). Das
Interesse aneinander führt zu: Erkunden des Körpers des Anderen, Kontakte über
Gegenstände, Interesse an der Tätigkeit des Anderen, Erkennen der Gefühle des
Anderen (z.B. Reaktion auf sein Weinen). Je älter die Kinder werden, desto
komplexer wird ihre Kommunikation, in der sie versuchen, ihre Idee dem anderen
verständlich zu machen.
Hubert Montagner, ein französischer Kleinkindforscher in Vincent (1995) gibt einen
Hinweis auf wesentliche Aspekte der kognitiven Entwicklung, die durch den
Austausch unter Kindern angeregt wird: „Für ein Kind ist es wichtig, festzustellen,
dass dieselben Spiele oder Spielsachen für die anderen einen anderen Sinn und
andere Eigenschaften haben können. Auf diese Weise lernt das Kind, Dinge oder
Vorgänge in ihrer Vielgestaltigkeit wahrzunehmen .und in sein Weltbild zu
integrieren. Dazu braucht es Orte und Möglichkeit, Freundschaften mit anderen
Kindern
aufzubauen.
Freunde
„animieren
und
ergänzen
sich
gegenseitig“
(Schneider/ Wüstenberg 1993), sie riskieren mehr in Auseinandersetzungen als nicht
34
Skript PSYPE 3
befreundete Kinder und lernen dadurch Konfliktfähigkeit. Vor allem aber wollen
auch kleine Kinder schon handlungsfähig sein. Ihre ersten entscheidenden
Erfahrungen sind Körpererfahrungen. Charakteristisch für die ersten Jahre ist
daher, dass Kinder Körperwesen und Bewegungswesen sind mit ganz
spezifischen Bedürfnissen:

Entwicklung von Selbstvertrauen durch Selbstwirksamkeit

Raum
zur
freien
Bewegungsentwicklung
und
Entwicklung
von
Bewegungssicherheit

Recht auf körperliche Integrität

Beziehungsvolle Pflege: Erlebnis individuell gestalteter Situationen

Beachtung und Begleitung ihrer Interessen und Gefühle
Wenn dies gelingt, kann das zart entwickelte Selbstwertgefühl in den erweiterten
sozialen Kontexten später immer weiter bestätigt bzw. auch revidiert werden.
4.4 Sprachentwicklung und Spracherwerb
Die Sprachentwicklung ist eng mit der geistigen und sozialen Entwicklung von
Kindern verbunden. Den Ursprung des Spracherwerbs sieht die Forschung im
sogenannten „Triangulären Blickkontakt“ begründet: mit etwa 10 bis 12 Monaten
merken Kinder, dass Wörter sich auf bestimmte Gegenstände beziehen. Sie lassen
den Blick zwischen einer Person und einem Objekt hin und her schweifen und stellen
so eine Verbindung her zwischen dem Wort (die Mutter sagt „Tisch“ und zeigt darauf)
und dem Gegenstand.
Am Ende des 2. Lebensjahres beherrscht ein normal entwickeltes Kind etwa 50
Wörter und ist in der Lage, Zwei-Wortsätze zu bilden. Diese für den Spracherwerb
„sensible Phase“ setzt sich mit dem sogenannten „Fragealter“ (3. Und 4. Lebensjahr)
und einer stetigen Erweiterung des Wortschatzes fort und ist mit etwa 5 Jahren
abgeschlossen. In diesem Alter haben Kinder besonders grosse Freude an
Sprachspielen, können z. B. beim spielen Geheimsprachen entwickeln und zeigen
Interesse an fremden Sprachen.
Zwei- und Vielsprachigkeit
Das Aufwachsen in einer globalisierten Welt bedeutet für viele Kinder in
unterschiedlichen sprachlichen Kontexten aufzuwachsen und darin Kompetenzen zu
erlangen.
35
Skript PSYPE 3
Dabei bietet Luxemburg mit der Verwendung von mindestens vier Sprachen ein sehr
komplexes Bild im Hinblick auf die Sprachensituation.
Nachdem die Forschung Zwei- und Mehrsprachigkeit lange als eher nachteilig
(seelische Instabilität, schlechte Schulleistungen u.a.) für die Entwicklung der
betroffenen Kinder betrachtete,
kamen in den 60er Jahren zwei Studien, eine
kanadische (Peal, Lambert, 1962) und eine englische (C. Baker 1964), zu dem
Ergebnis, dass Bilingualität die geistige Flexibilität der Kinder eher erhöht, dass sie
in ihren Leistungen einfallsreicher und kreativer sind, dass sie über mehr
Beziehungsstrukturen und breitere kulturelle Erfahrungen verfügen.
Inzwischen geht man in der Forschung davon aus, dass die Fähigkeit zur
Mehrsprachigkeit schon zur genetischen Ausstattung gehört, d.h. dass das
eigenständige Erschließen unterschiedlicher Sprachcodes (= die Unterscheidung und
Zuordnung jeweils zusammengehöriger Laute) im Grunde jedem Kind möglich ist und
eben nicht nur den besonders begabten unter ihnen.
Allerdings ist die Entwicklung dieser Fähigkeiten von einer Reihe von Bedingungen
abhängig. Dazu zählen
 eine gute emotionale Beziehung zwischen dem Kind und den Personen, die
die Sprache vermitteln (Eltern, Erzieher, Lehrer) sowie
 eine kontinuierliche und kindgemäße Vermittlung
Methoden der Sprachförderung
Innerhalb der Familie gelingt Bilingualität dann, wenn der jeweilige Elternteil
konsequent „seine“ Sprache spricht. Beide Sprachen werden also völlig natürlich
eingesetzt, wobei die Orientierung auf die Inhalte der Sprache gerichtet sind, nicht
auf die Sprache selbst. Dieses „Eintauchen“ in die Sprache entspricht in seiner
Unbewusstheit der Funktionsweise der menschlichen Sprachlernfähigkeiten und
wurde in Europa als „Immersionsmethode“(lat.: immersus = eintauchen) von dem
Sprachwissenschaftler Henning Wode, Universität Kiel, bekannt gemacht.
Inzwischen gilt „Immersion“ auch als erfolgreiche
Methode in pädagogischen
Einrichtungen. (Kindergarten, Grundschule usw.), besonders wenn das „Sprachbad“
auch mit Elementen aus der Dramapädagogik erweitert wird.
Spracherwerb
heißt
das,
dass
Sprachinhalte,
aber
auch
Für den
sogenannte
36
Skript PSYPE 3
„Sprachnotsituationen“
mit
nonverbalen
Kommunikationstechniken
(Gestik,
Mimik, Bilder usw.) veranschaulicht, d.h. „gespielt“ werden und so die Aufnahme
unterstützen.
Sprachkompetenz und soziale Bedingungen
Wenn die Immersionsmethode davon ausgeht, dass Sprache und Person am Anfang
eine Einheit darstellen, ist es selbstverständlich, dass gestörte Beziehungen und
ungeeignete Methoden, besonders wenn sie Angst und Zwang erzeugen, sich für
das Kind auch negativ auswirken können: es kann, im schlimmsten Fall, zu einer
partiellen Sprachverweigerung kommen, aber auch, je nach Situation, zu einer
doppelten bzw. mehrfachen „Halbsprachigkeit“. Dieser Gefahr sind vor allem
Kinder aus Einwanderungsfamilien ausgesetzt: im Falle von mangelnder Fürsorge
auf Grund von schwierigen Lebensbedingungen verbleiben sie in ihrer Muttersprache
häufig auf recht niedrigem Niveau, gerade auch dann, wenn ihre Sprache nur im
privaten Gebrauch Funktion und Bedeutung hat. Was den Umgang mit den drei
Landessprachen angeht, kann Migration dazu führen, dass Kompetenzen von Eltern
nicht erworben werden können (z.B. aufgrund von spezifischen Arbeitsbedingungen)
oder ihre Notwendigkeit nicht erkennen und dieser Mangel sich für Kinder dann sehr
nachteilig auswirkt. Zumindest tendenziell sind sie später einer größeren Gefahr
ausgesetzt , nur sehr niedrige oder keine Bildungsabschlüsse zu erreichen.
Da in Luxemburg inzwischen fast die Hälfte aller pro Jahr schulpflichtigen Kinder aus
Einwanderungsfamilien kommen, ist deren sprachliche Förderung zur Erhöhung von
Chancengleichheit eines der wichtigsten Ziele. Vor Eintritt in die Schule
luxemburgisch zu lernen als „langue d’intégration“ ist daher eine der wichtigsten
Aufgaben der frühkindlichen Erziehung. Die erfolgreiche Vermittlung, die die
Versäumnisse der Eltern zumindest teilweise kompensieren kann, setzt dann voraus,
dass Erzieherinnen und Erzieher in der für Sprachkompetenz so wichtigen Phase,
das (hier nur angedeutete) methodische Wissen auch haben und umsetzen können.
37
Skript PSYPE 3
Quellen:
Bildungsstandards Sprachen: Leitfaden für den kompetenzorientierten
Sprachunterricht an Luxemburger Schulen. Luxembourg, Ministère de l’Education
Nationale, 2008
Briedigkeit, E., Fried, L., Sprachförderkompetenz, Cornelsen Sriptor, 2009
Müller, J.E., Lernen braucht Bewegung. Exkurs zu einer Lehrerfortbildung.
Eigenverlag 2007
Müller, Th., Dramapädagogik und Deutsch als Fremdsprache. Vdm Verlag
Dr. Müller, 2008
Zollinger, B., Die Entdeckung der Sprache, Haupt Verlag München, 2007
4.5 Fremdbetreuung
Ein Blick in die Kindererziehung zeigt, dass es nicht immer die Mutter war, die das
Kleinkind betreut hat. Historisch gesehen war diese Betreuung für Deutschland sogar
eher selten, d.h. es wurden häufig Geschwister, Verwandte, Großeltern usw.
eingesetzt. Kulturvergleichende Studien belegen für die Kontinente Südamerika und
Afrika beide Modelle, d.h. in 50% der Zeit wurden Kleinkinder von anderen Personen
als der Mutter betreut. So lautet ein afrikanisches Sprichwort: „Um ein Kind richtig
aufzuziehen, braucht man ein ganzes Dorf.“
Kinderkrippen zur Betreuung von Kleinkindern, wie sie in Europa im Rahmen der
Industrialisierung
im
19.
Jahrhundert
entstanden,
waren
zunächst
nur
Bewahranstalten für Kinder von Armen, Arbeiterinnen, ledigen Müttern und
Prostituierten. Heute sind Krippen für viele Familien und Kinder ein wichtiger und
notwendiger Teil ihres Lebens. Da, wo ein negatives Image heute noch besteht, ist
die Rede von „Rabenmüttern“ und emotional gestörten Heimkindern. Dabei bezieht
man sich auf traditionelle Familienrollen und auf das sog. Bindungskonzept von
John Bowlby (1984). Dieses besagt, dass das Kind eine emotionale Bindung an eine
Bezugsperson brauche, vorzugsweise die Mutter, um Schutz und Sicherheit zu
erwerben. Beweise dafür wurden in zahlreichen Studien gefunden (z.B. „Fremde
Situations-Test“), aber auch in der frühen Krippenforschung, die
zu bestätigen
versuchte, dass Krippenkinder weniger Bindungssicherheit und häufiger soziales
Problemverhalten zeigen. Inzwischen weiß man, dass es eine Reihe methodischer
Mängel bei diesen Studien gab (soziale Auslese, zu starker Wechsel von
38
Skript PSYPE 3
Betreuungspersonen, zu früher Krippenbesuch u.a.) und in neueren Untersuchungen
Bindungsstörungen durch Fremdbetreuung nicht feststellbar sind. Viel stärker
als die Tagesbetreuung an sich wirken sich der Erziehungsstil der Eltern, ihre
Persönlichkeit und die Lebenssituation insgesamt aus. Vor allem wenn Mütter
durch
Rollenunsicherheit
auffallen,
haben
Kinder
mehr Bindungs-
und
Verhaltensstörungen.
Zusammenfassend
kann
daher
gesagt
werden,
dass
neueren
Forschungsergebnissen zufolge bei Krippenbetreuung kein Anlass für Bedenken
besteht, wenn ein Kind genügend Zeit zur Eingewöhnung bekommt. Ist dies der
Fall, unterscheiden sich fremd betreute Kleinkinder nicht hinsichtlich Ängstlichkeit,
Selbstvertrauen usw. von Familienkindern. Grundsätzlich sind „Wirkungen“ der
Fremdbetreuung immer im Zusammenhang mit den „Wirkungen“ der Familie zu
sehen, d.h. es besteht eine Wechselwirkung, bei der sich positive und negative
Einflüsse gegenseitig verstärken, schwächen oder ausgleichen. Generell scheint die
Familie eine stärkere Wirkung auf die kognitive Entwicklung und die Fremdbetreuung
auf die soziale Entwicklung zu haben. Die Risiko- und Resilienzforschung hat
ergeben, dass Kinder, die in der Familie keine wünschenswerte Beziehungsqualität
erfahren, dies ausgleichen können durch eine verlässliche Beziehung mit anderen
Bezugspersonen. Was die Qualität der Betreuung angeht, orientiert sie sich vor allem
an der Qualität der Fachkräfte, erst dann ist die Gruppengröße, das Spielmaterial,
der Raum und die Gestaltung des Tagesablaufs von Bedeutung.
Gerade weil inzwischen die Möglichkeit und Notwendigkeit des „Lernens“ in der
frühen Kindheit sowohl von der Hirnforschung wie von der Pädagogik gefordert wird,
erscheint bessere Fremdbetreuung notwendiger denn je. Dies gilt vor allem für
Kinder aus sozial schwachen Familien und Migrantenfamilien. Gerade für sie
bedeutet der ausschließliche Aufenthalt in der Familie nicht automatisch eine
bessere Förderung ihrer Entwicklung, eher könnten in der Krippe durch konkrete
Maßnahmen Erziehungs- und Bildungsdefizite ausgeglichen werden. Dabei
können sich gute Einrichtungen auch volkswirtschaftlich rechnen: wenn die Eltern
arbeiten können, Steuern zahlen und investieren, haben auch ihre ausreichend
geförderten Kinder bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt und langfristig höhere
Lebenseinkünfte. Es ist also im Endeffekt billiger, früh zu investieren als spät zu
reparieren.
39
Skript PSYPE 3
Exkurs:
Was müssen ErzieherInnen tun, um bieten zu können, was Kinder brauchen?

Die Umgebung vorbereiten für selbständige Betätigungsmöglichkeiten der
Kinder

Für Lernanlässe sorgen

Wissen, wie Eltern ihr Kind wahrnehmen und was es gewohnt ist

Beobachten und Dokumentieren, was Kinder tun

Herausfinden, was sie emotional beschäftigt und bewegt

Ihre Gefühle wahrnehmen und benennen

Lernprozesse wahrnehmen und nicht unterbrechen

Fähigkeiten der Kinder in ihren Aktivitäten erkennen

Impulse geben und Angebote machen zum Selbständig werden der Kinder
Was brauchen ErzieherInnen für diese Aufgabe?

Grundkenntnisse über die Entwicklungsbedingungen von Kindern

Verfahren und Zeit für Beobachtung, Situationsanalyse und Dokumentation

Ressourcen- und kompetenzorientierte Beobachtung und Beurteilung

Neugier und Forschergeist

Zeit für kollegialen Austausch

Beratung und Fortbildungsmöglichkeiten
Quellen:
Baacke, Dieter, Die 0-5Jährigen. Einführung in die Probleme der frühen Kindheit.
Beltz, Weinheim 1999
Einsiedler, W., Kleinkindforschung und Kleinkindbetreuung, in:
www.familienhandbuch.de (3.10. 2007)
Keller, J.: Handbuch der Kleinkindforschung, Bern 1989
Schäfer, G.E., Bildungsprozesse im Kindesalter. Weinheim, München 1995
40
Skript PSYPE 3
Sonderheft: Kindergarten heute spezial: Kleine unter Großen (S.30-40), Friedrich
Verlage, 2007
Textor, M., Bildung, Erziehung, Betreuung,
siehe Abdruck unter: www.kindergartenpädagogik.de (25.9. 07)
5. Beruf und Erwerbsarbeit im frühen Erwachsenenalter
Entscheidendes Kriterium für eine gelungene Erwachsenensozialisation ist die
stärkere Handlungsrelevanz hinsichtlich erworbener Fähigkeiten, Werthaltungen
und Einstellungen.
Mit dem Eintritt in die Berufswelt wird wesentlich darüber bestimmt, welche neue
soziale Position man bezieht und wie man sich selbst definiert. Genau wie in
Partnerschaften muss mit Flexibilisierungen gerechnet werden, es gibt also weder
die lebenslange Ganztagsarbeit noch bleiben Partnerschaften und Familien
lebenslänglich
zusammen.
Dies
führt
immer
wieder
zu
Prozessen
der
Nachsozialisation.
Neue Anforderungen gibt es aber auch im Freizeitbereich.
Mit der wachsenden
Freizeit- und Konsumindustrie stellt sich das Individuum selbst in der Freizeit einer
Konkurrenz (Anforderungen bezüglich Mode, Sport, Kultur).
Eine besonders wichtige Anforderung an junge Erwachsene hat der Bereich der
Öffentlichkeit und Politik. Hier
können neue Kompetenzen wie der Umgang mit
Macht, Fähigkeiten zur Selbstorganisation, Umgang mit Medien, Aushandeln von
Kompromissen usw. erwachsen
5.1
Auseinandersetzung
mit
Übergängen
und
kritischen
Ereignissen,
Entwicklung von Lebenszielen
Mit dem Eintritt in die Arbeitswelt und Familie sind von jungen Erwachsenen zwei der
wichtigsten Statuspassagen zu bewältigen. Obwohl diese Übergänge altersnormiert
sind, ist die Altersvarianz mittlerweile sehr groß, wenn auch nicht gesellschaftlich
immer toleriert. Neben diesen normativen Ereignissen werden jedoch auch eine
ganze Reihe nicht normativer Ereignisse immer häufiger. (Normative Ereignisse
treten in einem bestimmten Alter in einer Population mit großer Wahrscheinlichkeit
auf,
nicht
normative
Auftretenswahrscheinlichkeit.)
Ereignisse
Erste
dagegen
Trübungen
und
haben
eine
Enttäuschungen
geringe
in
der
41
Skript PSYPE 3
Partnerschaft, bei der Arbeit können im Extremfall eine Lebensperspektive knicken,
aber durch die großen Herausforderungen auch einen Wachstumsprozess einleiten.
Gerade dann sind realistische Lebensziele und der Versuch, sein Leben danach
auszurichten, eine wesentlichste Aufgabe des frühen Erwachsenenalters. Diese Ziele
haben eine gewisse innere Verpflichtung zur Voraussetzung und meist äußere
Entscheidungen zur Folge. Es stellt sich allerdings Zweifel darüber ein, ob überhaupt
noch in längerfristigen Perspektiven gedacht und geplant werden kann, ob überhaupt
hinter der Alltagsbewältigung noch utopische Lebensentwürfe entwickelt werden
können.
5.2 Entwicklungschancen und -hindernisse im Beruf
Zu einem großen Teil vollzieht sich die Persönlichkeitsentwicklung in und durch
Arbeit,
und
zwar
betrifft
dies
alle
Formen
der
Arbeit.
Kernfrage
der
Entwicklungspsychologie im Berufsleben ist daher, wie Arbeitsbedingungen und
individuelle Voraussetzungen zusammenspielen. Dabei sind die Möglichkeiten für
berufliche Entwicklungsprozesse in entscheidender Weise abhängig von den
gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Arbeit.
Der gesellschaftliche Wandel schlägt sich in den Arbeitserfahrungen und damit in
den
Entwicklungsverläufen
junger
Erwachsener
verschiedener
Generationen
unterschiedlich nieder. Berufe erfordern heute, und zwar in allen Bereichen,
häufigere Neuorientierungen, ständige Lernprozesse, Wartezeiten, vor allem aber
auch Mobilität. Diese neuen Rahmenbedingungen bedeuten im Leben eines jungen
Erwachsenen eine ständige Unsicherheit bezüglich seiner beruflichen, aber auch
privaten Lebensplanung.
Was die Berufswahl betrifft, so sind auch hier die Bedingungen und Entwicklungen
immer weniger zu durchschauen. Dabei stellt sich die Frage nach dem „Beruf fürs
Leben“ fast gar nicht mehr, sondern vielmehr, durch eine Ausbildung eine
Basisqualifikation zu erlangen, die dann anhand lebenslangen Lernens eine
Chance gibt, in zukunftsträchtigen Bereichen eine Arbeit zu finden. Chancen, einen
Ausbildungsplatz zu finden, haben längst nicht mehr alle und diese Entwicklung setzt
sich
beim
Arbeitsplatz
fort.
Nahtlose
Übergänge
sind
immer
weniger
selbstverständlich, Gründe sind arbeitsmarktpolitische Veränderungen, mangelnde
Voraussetzungen, Geschlecht, Alter, Standort usw.
Für diejenigen, die Arbeit haben, schafft sie eine notwendige Strukturierung des
Alltags und ist als Gegenpol weniger emotional besetzt als das Familienleben. Ein
42
Skript PSYPE 3
wesentlicher
Zusammenhang
Persönlichkeitsentwicklung
lässt
sich
ableiten.
zwischen
Sowohl
Arbeitserfahrungen
die
Arbeits-
wie
und
die
Entwicklungspsychologie widmen sich diesem Thema, d.h. der Frage, wie
Arbeitsbedingungen beschaffen sein müssen, um die personale Entwicklung fördern
zu können und wie psychosoziale Probleme und gesundheitliche Beeinträchtigungen
vermieden werden können (vgl. Ulich, 1994). Als Beispiel gelten in besonders hohem
Maße hier selbstständige und gestalterische Tätigkeiten. Kohn und Schooler (1983)
sehen zwischen Arbeitsbedingungen und Persönlichkeitsentfaltung einen Prozess
wechselseitiger Beeinflussung. Besonders die Möglichkeit der Selbstbestimmung im
Arbeitsprozess
stellt
sich
Persönlichkeitsentwicklung
dabei
heraus.
als
Des
höchst
bedeutsam
Weiteren
können
für
die
komplexe
Arbeitsbedingungen, wenig Routinearbeiten als Indikatoren für eine positive
Beeinflussung der Persönlichkeitsentwicklung angesehen werden. Umgekehrt führen
weniger Selbstbestimmung
zu
mehr Stress und
zu
Einschränkungen
der
Persönlichkeitsentwicklung. Die Art der Arbeit fördert bzw. behindert dabei Menschen
in unterschiedlichen Bereichen ihrer Persönlichkeitsentwicklung: Je nachdem, ob es
sich um einen technischen, kreativen oder sozialen Beruf handelt, ergeben sich
dementsprechend Erweiterungsfelder in den Persönlichkeitsbereichen, z. B. im
logischen Denken, in organisatorischen Fähigkeiten oder in sozialen Kompetenzen.
Dabei ist zu beobachten, dass die Arbeitserfahrungen sich stärker auf andere
Lebensbereiche auswirken als umgekehrt: Väter, die Selbstbestimmung in der Arbeit
erfahren, legen auch in der Erziehung ihrer Kinder Wert darauf, ihnen Eigeninitiative
beizubringen. Väter, die jedoch bei der Arbeit einer strengeren Kontrolle unterworfen
sind, werden ihre Kinder auch strenger erziehen und lassen diesen weniger Freiraum
zur persönlichen Entfaltung. Bei den sozialen Berufen lässt sich oft der Konflikt
zwischen dem beruflichen Ideal und der dann als ungünstig empfundenen
Berufsrealität beschreiben; somit ergeben sich hier zwar wichtige Erweiterungen der
Persönlichkeitsentfaltung, aber hohe psychische Belastungen und Überforderungen
führen zum oft beklagten Burnout-Syndrom.
5.3 Frauenerwerbsarbeit – Haus- und Familienarbeit
Heute ist eine lebenslange Berufstätigkeit für Frauen
eine selbstverständliche
Perspektive. Je höher gebildet, desto selbstverständlicher (und früher) kehren sie
nach der Geburt an ihren Arbeitsplatz zurück, so dass auch ein endgültiger Rückzug
bei der Geburt von Kindern für sie kaum noch infrage kommt. Obwohl in den
43
Skript PSYPE 3
schulischen Qualifikationen Frauen längst mit Männern gleichgezogen oder sie
überholt haben, ergreifen Frauen immer noch häufiger traditionell weibliche Berufe
und solche mit weniger Aufstiegschancen.. Diese Einengung der Berufswahl
ist
zumindest z.T. mit der Option zur Familiengründung zu verstehen., d.h. mit dem
doppelten Lebensentwurf von Frauen. (Studie von Keddi et al., 1999) Deutlich
sichtbar ist, dass die Kinderzahl korreliert mit der Qualifizierung der Frau: je höher
gebildet, desto niedriger (und später) die Kinderzahl.
Immer noch gabeln sich die beruflichen Wege, wenn Kinder da sind. Während
Männer großteils weiterhin ihrer Karriere nachgehen, unterbrechen Frauen immer
noch häufiger ihre Berufstätigkeit – mit den Folgen, dass sie den hinzugewonnenen
„Freiraum“ sowie einige Aspekte der „Beziehungsarbeit“ durchaus positiv erleben
können, die finanzielle, soziale und psychische Abhängigkeit ihrer neuen Tätigkeit
jedoch häufig auch als geistige Unterforderung und
emotionale
Überforderung
erleben. Frauen, die auch mit Kind durchgängig berufstätig bleiben, werden hingegen
vor enorme Anforderungen eines gut funktionierenden Alltagsmanagements gestellt,
doch können sie die Belastungen durch die Vielfalt und Unterschiedlichkeit ihrer
Erfahrungen besser verkraften als „Nurhausfrauen“.
Das gesellschaftliche Umfeld spielt eine enorm große Rolle für Vereinbarkeit von
Beruf und Familie und ist im europäischen Vergleich in Deutschland immer noch
traditionell negativ geprägt. („Rabenmutter“)
5.4 Arbeitslosigkeit
Arbeitslosigkeit bedeutet für die Betroffenen eine erhebliche Beeinträchtigung ihrer
Lebenssituation und hohe psychische Belastungen. Geht der Arbeitsplatz verloren,
werden Lebensentwürfe infrage gestellt und Identitäten bedroht: Ein Verlust an
Selbstvertrauen, steigende Depressivität, Apathie und Passivität, aber auch
gesundheitliche Beeinträchtigungen sind empirisch belegte Folgen (vgl. Hartley u.
Mohr, 1989). In der differenzierenden Erwerbslosigkeitsforschung ist man sich aber
auch bewusst, dass der Umgang mit Arbeitslosigkeit sehr individuell ist und stark
abhängig ist von den jeweiligen Bedingungen. Bewältigungsprozesse können eine
schädigende
Eigendynamik
entwickeln
und
die
betroffenen
Menschen
in
verschiedene Teufelskreise führen (Strehmel und Halsig 1988). Solche Teufelskreise
zeigen sich aktional, kognitiv, emotional, motivational und sozial. Die Dauer dieses
Zustandes entscheidet über die langfristigen Konsequenzen . So zeigten Lehrer, die
44
Skript PSYPE 3
sechs Jahre ohne Arbeit waren, in einer Längsschnittuntersuchung lange Phasen der
Unsicherheit und Diskontinuität.
6. Das mittlere Erwachsenenalter
6.1 Die „Entdeckung“ des mittleren Erwachsenenalters
Bis etwa Mitte des 20. Jahrhunderts galt das mittlere Erwachsenenalter - nicht mehr
jung, aber auch noch nicht alt- als eine eher undifferenzierte Lebensphase, deren
Verlauf man für überwiegend konstant hielt.
Gegen Ende des 20sten und mit Beginn des 21sten Jahrhunderts änderte sich diese
Sichtweise und führte dazu, auch das mittlere Erwachsenenalter als eigenständige
und ausdifferenzierte Lebensphase zu betrachten. Gründe für diesen Wandel sind
vor allem zwei Entwicklungen zuzuschreiben:
a) Gerontologische Untersuchungen zur Intelligenzentwicklung im Alter zeigten in
Längsschnittuntersuchungen vor allem interindividuelle Leistungsunterschiede.
Damit war ein Zusammenhang mit
Entwicklungen in früheren Lebensphasen
eindeutig und Forschungen im Zusammenhang mit dem mittleren Erwachsenenalter
notwendig geworden.
b) etwa ab der 70er Jahre wurde in der angloamerikanischen, vor allem populärwissenschaftlichen Literatur die sogenannte „midlife crisis“, debattiert. Auf diese
Postulierung reagierte die Entwicklungspsychologie mit systematischen, empirischen
Forschungen.
Zu a)
Vor allem Untersuchungen zum kognitiven Verhalten älterer Menschen führten zu der
empirisch
gut
abgesicherten
kontinuierliche (kumulative)
Annahme,
dass
in
und diskontinuierliche
allen
Altersabschnitten
(innovative, aber auch
destruktive) Prozesse am Werk sind. Sie unterstützten damit das Konzept der
lebenslangen Entwicklung und konnten für die Intelligenz zeigen, dass sie sich
kumulativ (= auf Vergangenem aufbauend, erweiternd und festigend ) entwickelt,
also z.B. von beruflichen und anderen Professionalisierungen
des mittleren
Erwachsenenalters profitiert, aber auch durch wachsende Belastungen wie z.B.
45
Skript PSYPE 3
Arbeitslosigkeit und/oder
Krankheit (= destruktiv) in dieser Lebensphase
beeinträchtigt werden kann.
Zu b)
Für die „Entdecker“ der „midlife crisis“ führt das Zusammentreffen körperlicher
Veränderungen (Abnahme der Hormonproduktion) und typischen biographischen
Veränderungen (Arbeit, Auszug der Kinder, Tod der Eltern,
Krankheiten
u.a.)
unweigerlich zu psycho-physischen und –sozialen Krisen (Brim, 1976) die bei den
Betroffenen dann generelle Sinnfragen auslösen und
bisherige Annahmen als
Illusionen und Lebenslügen entlarven (können). (Gould 1968)
Auf der Grundlage neuerer Untersuchungsergebnisse ist dieses Postulat, d.h. die
Annahme einer universellen (vor allem männlichen) Krisenzeit, nicht zu halten.
Betrachtet man die ersten Ergebnisse zusätzlich auch noch unter der Hypothese
des Kohorteneffekts, dass nämlich die Probanden überwiegend Jahrgänge um
1930
waren
und
daher
ganz
spezifische
historische
Erfahrungen
(Weltwirtschaftskrise) hatten, ergibt sich ein weiterer Grund für die Verweigerung
genereller Krisenannahme. Wissenschaftshistorisch sind die frühen Forschungen
jedoch bedeutsam, da mit ihnen die mittleren Lebensjahre erstmalig thematisiert
wurden und daher als entsprechend bahn brechend gelten.
Wenn, also, wie dargestellt, beim mittleren Erwachsenenalter nicht von einer
generellen
Krisenhaftigkeit die Rede sein kann, muss von einer differenziellen
Perspektive ausgegangen werden, d.h. von einer Perspektive, die untersucht, „bei
welchen Personen es unter welchen Bedingungen zu welchen krisenhaften
Veränderungen kommt.“ (Faltermaier u.a., 2002, S. 141)
Eine sehr umfangreiche Studie dieser Art haben Farrell und Rosenberg, 1982
durchgeführt und ganz unterschiedliche „paths of development“ für diesen
Lebensabschnitt heraus gearbeitet, die sowohl hohe Zufriedenheit wie Enttäuschung
und Verbitterung mit der aktuellen Lebenssituation zeigen. Eine weitere Studie von
Boylan und Hawkes 1988, die nur das Arbeitsleben fokussierte, konnte zeigen,
dass die ausschließliche Berufsorientierung bei über der Hälfte der Probanden aus
unterschiedlichen Gründen zwar abnahm,
dies aber nicht automatisch zu einer
generellen Unzufriedenheit führte.
46
Skript PSYPE 3
Insgesamt ist den Untersuchungen zu entnehmen, dass sie sich überwiegend auf die
männliche Normalbiographie beziehen, die wenigen Frauenstudien (Jakobson 1995)
kommen aber zu durchaus vergleichbaren Ergebnissen.
Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass „Entwicklungsprozesse im
mittleren Erwachsenenalter nur kohortenspezifisch, geschlechtsspezifisch und
lebensbereichsspezifisch
beschreibbar
sind
(und)
dass
von
interindividuell
unterschiedlichen Wegen der Entwicklung auszugehen ist.“ (Faltermaier 2002, S.
142/143)
6.2 Entwicklungsaufgaben und Entwicklungsthemen
Was für die Entwicklungsprozesse gilt, gilt erst recht für die Entwicklungsaufgaben
und Entwicklungsthemen. Sie müssen unter heutigen Bedingungen weit offener
formuliert werden, um den unterschiedlichen sozialen und kulturellen Milieus
weiterhin gerecht zu werden. Dennoch können die Bereiche, für die Havighurst 1972
Entwicklungsaufgaben definiert hat, beibehalten werden und Menschen im mittleren
Alter eine aktive Gestaltungsrolle geben:

Gesellschaft (Übernahme politischer Verantwortung)

Arbeit und Freizeit (Arbeitslosigkeit/ Pensionierung, neue Aufgaben und
Beschäftigungen

Partnerschaft und Familie (Trennung, Neue Partnerschaft, Auszug der Kinder,
Großeltern)

Umgang mit dem Körper (Umgang mit Veränderungen, Gesundheitsvorsorge,
Krankheit)
In jedem dieser Bereiche können Herausforderungen entstehen, die eine
Reorganisation der Lebenspläne und/oder Veränderung der Person ergeben. Dies ist
mit der Ausweitung der Lebenszeit und der Zunahme von realen und potentiellen
Möglichkeiten weder einfacher noch weniger geworden.
6.2.1 Kritische Lebensereignisse
Für das mittlere Erwachsenenalter sind bestimmte normative Lebensereignisse
typisch: Ausbildungsabschlüsse der Kinder, Auszug („empty nest“), Pensionierung ,
Großelternschaft, hormonelle Veränderungen.
Obwohl erwartbar, müssen diese Übergänge individuell bewältigt werden, was umso
eher gelingt, wenn Menschen für ihr zukünftiges Leben über Alternativen verfügen.
47
Skript PSYPE 3
Non-normative Lebensereignisse kommen meist unerwartet und sind nicht an den
Lebenslauf gebunden. Zu ihnen gehören z.B. Arbeitslosigkeit, Scheidung, chronische
Krankheiten. (siehe Kapitel 2)
In Längsschnittstudien ( z. B. Vaillant, 1980) konnte nachgewiesen werden, dass
sich Problembewältigungskompetenzen mit steigendem Alter sogar
verbessern
(können) und emotionale Gesundheit nicht unbedingt abhängig ist von der Menge
der Probleme, sondern dass sich das Individuum an
eigenen Theorien
(sogenannten „Ethnotheorien“) orientiert. Diese beinhalten das soziale Wissen,
das sich jemand im Laufe seines Lebens (Erfahrung) erworben hat und im
Zusammentreffen mit spezifischen Kontexten für die Betroffenen entweder
entwicklungsfördernd oder –hemmend sein können.
6.2.2 Gesundheit
Gesundheit kann eine Voraussetzung sein für die persönliche Entwicklung. Ist sie
eingeschränkt,
so
können
dadurch
Entwicklungsmöglichkeiten
eingeschränkt
werden, aber es kann dadurch auch ein Anstoß erfolgen zur Anpassung und zur
aktiven
Bewältigung.
Eine
gute
Gesundheit
im
Sinn
von
Wohlbefinden,
Leistungsfähigkeit und psychisch - physischer Funktionsfähigkeit kann positiv zur
Entwicklung beitragen.
Die Bedeutung des Themas Gesundheit ist in verschiedenen Phasen des
Erwachsenenalters unterschiedlich. Zu allen Zeiten können Unfälle oder schwere
Erkrankungen
das
Thema
Gesundheit
sehr
wichtig
machen.
In
früheren
Entwicklungsphasen sind körperliche Ereignisse wie etwa Schwangerschaft oder
Menopause normal. Mit zunehmendem Alter werden bestimmte körperliche
Veränderungen (Falten, graue Haare) und Kranksein eher zum normativen Ereignis.
Von allen diesen Ereignissen können Anstöße für die Entwicklung ausgehen.
So kann dadurch die Beschäftigung mit dem Thema Gesundheit oder Krankheit
intensiviert werden, mit dem Ergebnis einer persönlichen Theorie über Gesundheit.
Darüber hinaus kann aber auch ein Anstoß erfolgen zu einer Veränderung von
Werten, Überzeugungen und Schwerpunkten im eigenen Leben.
48
Skript PSYPE 3
Quellen:
Faltermaier, T. Mayring, P., Saup, W. (2002) Entwicklungspsychologie des
Erwachsenenalters. Stuttgart: W. Kohlhammer. S. 136- 162.
7. Veränderungen und kritische Ereignisse im familiären Bereich
7.1 Misshandlung, Vernachlässigung und Missbrauch
7.1.1 Die Definitionen und damit verbundene Schwierigkeiten
Kindesmisshandlung
ist
eine
gewaltsame
psychische
oder
physische
Beeinträchtigung von Kindern durch Eltern oder Erziehungsberechtigte. Diese
Beeinträchtigungen können durch elterliche Handlungen (wie bei körperlicher
Misshandlung, sexuellem Missbrauch) oder Unterlassungen (wie bei emotionaler und
physischer Vernachlässigung) zustande kommen.
Neben dieser allgemeinen Definition sollten allerdings weitere Unterscheidungen
beachtet werden. So kann Misshandlung in einem eher engen Sinn verstanden
werden , wenn ein Kind dadurch körperlich verletzt wird. Solche Schädigungen sind
allerdings häufig nicht eindeutig nachweisbar. Und so wird dieser enge Begriff vor
allem bei strafrechtlichen Entscheidungen verwendet, um eine falsche Verurteilung
der Erziehungspersonen zu vermeiden.
Der weitere Misshandlungsbegriff umfasst auch solche Grenzverletzungen und
Übergriffe, die weniger als Normabweichung gelten, wie häufiges Schimpfen,
Schlagen, Liebesentzug als Strafe, Exhibitionismus oder sexualisierte Küsse. Dieser
ist nicht strafrechtlich relevant, bietet aber wichtige Hinweise auf eine mögliche
Gefährdung einer Familie und nötige Prävention. In der Praxis lässt sich häufig
beobachten, dass sich verschiedene Beschwerden und Leiden von Kindern erklären
lassen, wenn man die Erziehungspraktiken der Eltern hinterfragt und auch solche
Misshandlungen im weiteren Sinn mit berücksichtigt.
49
Skript PSYPE 3
7.1.2 Vernachlässigung
Kinder werden vernachlässigt, wenn sie von ihren Eltern oder Betreuungspersonen
unzureichend ernährt, gepflegt, gefördert, gesundheitlich versorgt, beaufsichtigt und
/oder vor Gefahren geschützt werden.
Vernachlässigung ist die am häufigsten auftretende Form der Misshandlung. Ihre
Ursachen sind in der Lebenssituation der Eltern zu suchen, in Armut oder sozialer
Randständigkeit, in psychischer Erkrankung, geistiger Behinderung Alkohol- oder
Drogenproblemen der Eltern. Die Auswirkungen zeigen sich oft schon im
Säuglingsalter, wo sie dann als Gedeihstörung diagnostiziert wird. Später zeigen sich
dann kognitive, emotionale und soziale Entwicklungsverzögerungen. Wie schon die
Ursachen zeigen, können pädagogische Interventionen erst bei einer Änderung der
familiären Belastung wirken, entweder durch ambulante Hilfen oder durch die
Unterbringung des Kindes.
7.1.3 Misshandlung – psychisch und körperlich
Unter psychischen Misshandlungen
versteht man alle Handlungen oder
Unterlassungen von Eltern oder Betreuungspersonen, die Kinder ängstigen,
überfordern, ihnen das Gefühl der Wertlosigkeit vermitteln. Dazu zählen nicht nur
sadistische Formen „seelischer Grausamkeit“, sondern auch scheinbar harmlosere
Varianten elterlichen Verhaltens wie z. B. die offensichtliche Bevorzugung eines
Geschwisterkindes, Einschüchterung, häufiges Beschimpfen, fehlende Anerkennung.
Auch die Kinder ständig zum Sündenbock zu machen, sie zu isolieren oder mit lang
anhaltendem Liebesentzug zu bestrafen, sind Formen psychischer Misshandlung.
Körperliche Misshandlungen sind Schläge oder andere gewaltsame Handlungen
(Stöße, Schütteln, Verbrennungen, Stiche usw.), die beim Kind zu Verletzungen
führen können.
50
Skript PSYPE 3
Die hier dargestellte Form psychischer Gewalt ist nicht unumstritten. Denn sie grenzt
eng an häufige und tolerierte Erziehungspraktiken. (Die aus den Lerntheorien heraus
entwickelte Erziehung mit Kontingenzen z. B. benutzt teilweise systematische den
Entzug von Aufmerksamkeit als Bestrafung). Aber es gibt deutliche Hinweise darauf,
dass sowohl emotionaler Stress als auch eine emotionale Vernachlässigung bei
Kindern zu Störungen ihrer motorischen, kognitiven und emotionalen Entwicklung
führen können und als Spätfolgen Verhaltensstörungen wie Störungen des
Sozialverhaltens, Ticks und Autoaggressionen nach sich ziehen.
Obwohl innerhalb der gesamten Gesellschaft die Tendenz zu einer gewaltfreien
Erziehung eher wächst und selbst solche Eltern, die selbst mit körperlichen Strafen
erzogen wurden, diese zumindest bei Befragungen ablehnen, ist die Zahl der
misshandelten
Kinder
seit
langem
konstant
(in
Deutschland
etwa
10%).
Misshandlung beruht häufig auf Persönlichkeitsproblemen der Eltern (Depression,
psychische Labilität), ausgelöst von eigenen Erfahrungen mit Strafen und Ablehnung
in der Kindheit. Dadurch kann es in vielen Fällen zu einer mehrgenerationalen
Weitergabe von Gewalt kommen. Soziologische Erklärungen für das Phänomen der
Misshandlung betonen die Billigung, die innerhalb einer Gesellschaft für Gewalt in
der Erziehung besteht, Lebensbelastungen der Eltern und Familien und den Mangel
an sozialen Unterstützung für Familien in Krisensituationen. Ein wichtiges
Erklärungsmodell aber nimmt die Wechselwirkung zwischen Verhaltensproblemen
des Kindes und darauf bezogenen wirkungslosen Erziehungsversuchen als
Ausgangspunkt für Misshandlung, wenn die Hilflosigkeit der Erziehungsperson sich
immer mehr steigert und eine gewisse Gewaltgefährdung schon besteht.
Die Auswirkungen von Misshandlung zeigen sich in

Entwicklungsverzögerungen sowohl kognitiv als auch sprachlich

Geringer Kompetenz, Belastbarkeit und Ausdauer in Leistungssituationen

Sozialen Problemen und Aggressivität

Langfristige
Folgen
wie
Drogenmissbrauch,
emotionale
Störungen,
Suizidgefährdung, Essstörungen.
51
Skript PSYPE 3
7.1.4 Sexueller Missbrauch
Unter sexuellem Missbrauch verstehen Kempe und Kempe (1980) die Beteiligung
noch nicht ausgereifter Kinder und Jugendlicher an sexuellen Aktivitäten, denen sie
nicht verantwortlich zustimmen können, weil sie deren Tragweite noch nicht erfassen.
Dabei benutzen zumeist männliche Erwachsene Kinder zur eigenen sexuellen
Stimulation und missbrauchen das vorhandene Macht- oder Kompetenzgefälle zum
Schaden des Kindes. Feministische Definitionen machen demgegenüber die
Instrumentalisierung von Mädchen und Frauen zur sexuellen Befriedigung von
Männern zum zentralen Bestimmungsstück (z.B. Kavemann & Lohstöter, 1984). Hier
wird das subjektive Erleben der Opfer zum Kriterium dafür gemacht, was sexueller
Missbrauch ist und was nicht – und dann können als Missbrauch auch scheinbar
„harmlose“ Verstöße gegen die sexuelle Selbstbestimmung von Mädchen (z.B.
anzügliche Blicke, Verletzungen der Intimsphäre usw.) gelten. Das Erleben solcher
Übergriffe ist nicht mehr an Altersgrenzen und Konzepte von „Kindheit“ gebunden.
Entscheidend ist vielmehr, dass diese Übergriffe gegen den Willen eines Mädchens
bzw. einer Frau erfolgen.
Eine andere Möglichkeit zur Definition besteht in der Operationalisierung durch die
vorgenommenen
Handlungen,
so
dass
auch
eine
Einordnung
der
Missbrauchserfahrungen in verschiedene Kategorien von leichtere bis intensivste
möglich wird. Diese Missbrauchshandlungen reichen dann von Exhibitionismus,
anzüglichen Bemerkungen, Voyeurismus, Berühren der Brust, sexualisierten Küssen
über Berühren der Genitalien und gegenseitige Masturbation bis zur schwersten
Form
der
versuchten
oder
vollzogenen
oralen,
analen
oder
vaginalen
Vergewaltigung.
Unter den Opfern des sexuellen Missbrauchs finden sich in der Mehrzahl Mädchen,
aber
auch
Jungen
werden
nach
neueren
Untersuchungen
häufig
Opfer.
Unterschiedliche Studien belegen Zahlenverhältnisse 2:1 bis 4:1 zwischen Mädchen
und Jungen. Schichtunterschiede bei den weiblichen Opfern konnten nicht eindeutig
nachgewiesen werden. Dagegen liegt das Missbrauchsrisiko bei geistig und/oder
körperlich behinderten Mädchen besonders hoch. Auch Kinder
aus mehrfach
belasteten Familien (Alkohol- und Drogenmissbrauch, Partnerschaftskonflikte,
52
Skript PSYPE 3
Gewalt, Vernachlässigung, übermäßige Strenge, schlechte Eltern- Kind –Beziehung)
unterliegen einem erhöhtem Risiko. Die Gefährdung ist nicht auf ein bestimmtes Alter
begrenzt, aber besonders viele Fälle sind aus der Altersgruppe zwischen 10 und 13
Jahren bekannt.
Die Täter und Täterinnen beim sexuellen Missbrauch sind bei weiblichen Opfern zu
fast 98% männlich, bei den männlichen Opfern fand man aber auch 21% weibliche
Täter (Fergusson & Mullen, 1999). Leibliche Eltern sind dabei als Tätergruppe
vergleichsweise selten. Die überwiegend größten Gruppen waren in allen wichtigen
neueren Studien Bekannte, Angehörige und Fremdtäter. Deswegen stellt auch nur
ein geringer Prozentsatz aller Erfahrungen von sexuellem Missbrauch eine
Wiederholung dar. Die Täterforschung ist bis heute nicht so weit fortgeschritten, um
genau zu erklären, warum Menschen sexuellen Missbrauch begehen und warum
fast ausschließlich Männer ihn begehen.
Auch bei der Diagnostik zeigen sich deutliche Schwierigkeiten, da es kein Syndrom
des sexuellen Missbrauchs gibt, also keine eindeutigen Signale, dass ein Kind dieses
schlimme Erlebnis erfahren hat. Keine eindeutigen Interpretationen lassen sich
ziehen aus dem vielleicht frühreifen Wissen des Kindes über Sexualität, aus dem
Spiel mit anatomisch korrekten Puppen oder aus Kinderzeichnungen. Die sicherste
Quelle sind spontane Berichte der Kinder, die allerdings in den Details ungenau sein
können. Aber spontane Falschaussagen kommen, wenigstens bei jüngeren Kindern,
selten vor.
Die längerfristigen Auswirkungen des sexuellen Missbrauchs zeigen sich beim
Vergleich
mit
Kontrollgruppen:
Aggressivität,
sexualisiertes
Verhalten,
internalisierendes Verhalten sind die häufigsten Auffälligkeiten. Allerdings hängt eine
dauerhafte Symptombelastung sehr davon ab, ob das Umfeld der Opfer zusätzliche
Belastungen oder statt dessen Schutzfaktoren für die Bewältigung bereithält.
53
Skript PSYPE 3
7.1.5 Prävention,
Anforderungen,
Schwierigkeiten
bei
der
Förderung
betroffener Kinder
Da besonders solche Eltern in Gefahr sind zu misshandeln, deren Ressourcen nicht
zur Bewältigung aktueller Krisen und Erziehungsprobleme ausreichen, kommt der
Prävention innerhalb der Familien eine hohe Bedeutung zu. Langfristige und
regelmäßige Kontakte zu den Familien, ein ressourcenorientierter Ansatz und die
aktive Beteiligung der Familien haben sich dabei gut bewährt.
Misshandelte Kinder geben dann die selbst erfahrene Gewalt nicht an ihre eigenen
Kinder weiter, wenn sie tragfähige Beziehungen aufbauen können, in denen sie ihre
schlimmen Erfahrungen bewältigen. Außerdem scheinen Erfolgserlebnisse, z.B. in
der Schule, und eine gute Begabung zu den Schutzfaktoren vor der Weitergabe von
Gewalt zu gehören. Wenn also im sozialen Umfeld nicht vorhanden, sollten diesen
Kindern Beziehungsangebote gemacht werden (ambulante oder stationäre Hilfen)
und die gesamte Förderung ihrer Entwicklung forciert werden.
Prinzipiell aber gibt es Gründe für eine Familienarbeit in Tageseinrichtungen, im
Kindergarten und in der Heimerziehung: sie diesen als wichtige Informanten über die
bisherige
Entwicklungsgeschichte
Erziehungsplanung).
Sie
haben
des
ein
Kindes
Recht
(Basis
auf
für
die
Informationen
weitere
über
die
Entwicklungsfortschritte ihres Kindes. Die gemeinsamen Erziehungsbemühungen
müssen aufeinander abgestimmt werden. Im Fall der Heimunterbringung können
vergangene traumatische Erlebnisse vom Kind manchmal besser durch eine
Konfrontation mit der Familie (real oder in der Phantasie) bewältigt werden. Eine
solche Konfrontation kann zudem das Kind vor einer nachträglichen Idealisierung der
Eltern bewahren. Die Zusammenarbeit mit den Eltern, bei denen der Verdacht auf
Misshandlung besteht oder diese sicher nachgewiesen ist, stellt jedoch hohe
Anforderungen an die fachliche Kompetenz der Erzieher.
Bei der Intervention des sexuellen Missbrauchs kommt der Prävention ebenfalls eine
große Bedeutung zu. Sie kann sowohl opferorientiert als auch täterorientiert
ansetzen. Die ersten Möglichkeit umfasst neben der Betreuung gefährdeter Kinder
und Familien auch die Sensibilisierung für eventuelle Gefahren durch schulische
54
Skript PSYPE 3
Aufklärung. Täterorientierte Prävention müsste männliche Missbrauchsopfer im Blick
haben, die ihre Erfahrungen als Täter weitergeben könnten, und schon einmal als
Täter aufgefallene Personen.
Quellen:
Engfer, A. (2002). Misshandlung, Vernachlässigung und Missbrauch von Kindern. In:
R. Oerter & L. Montada (Hrsg.): Entwicklungspsychologie (S. 800 - 817). PVU.
7.2 Deprivation: Trennung und Verlust
Das Erlebnis der Deprivation kann hervorgerufen werden durch den Tod einer
wichtigen Bezugsperson, durch die Trennung oder Scheidung der Eltern und damit
der weitgehenden Trennung des Kindes von einem Elternteil oder durch die
Trennung des Kindes von beiden Eltern infolge von Klinikaufenthalten oder
Heimunterbringung.
7.2.1 Trennung/Scheidung der Eltern und Einfluss auf die Entwicklung der
Kinder
Im Vergleich zu Kindern aus Kernfamilien weisen Scheidungskinder ein höheres
Risiko für Verhaltensstörungen auf. In der Reihenfolge der größten Häufigkeit
zeigen sich vor allem Fehlverhalten, Aggressivität, Delinquenz, dann schlechtere
schulische Leistungen und soziale Probleme. Die Unterschiede im Selbstkonzept und
im psychischen Befinden jedoch sind nicht stark ausgeprägt. Allerdings zeigen sich
typische Reaktionsmuster und Entwicklungsverläufe von Scheidungskindern nach
der Trennung der Eltern. Eine deutsche und eine großangelegte amerikanische
Längsschnittstudie zeigen übereinstimmend eine hohe Belastungsreaktion der
Kinder kurz nach der Trennung in Form von emotionalen und Verhaltensproblemen.
Nach zwei bis drei Jahren jedoch unterschieden sich die Kinder der Stichproben nicht
mehr von den Normwerten der Gleichaltrigen.
55
Skript PSYPE 3
Im Vergleich zu Kindern in Kernfamilien sind Scheidungskinder verschiedenen
Stressoren ausgesetzt, die ihre unterschiedliche Entwicklung erklären können. Zu
diesen zählen das Fehlen einer wichtigen Bezugsperson. Um diese Hypothese zu
untersuchen wurden Vergleiche gezogen zwischen Kindern, die häufigen Kontakt zu
ihrem getrennt lebenden Vater hatten, und solchen, bei denen dieser Kontakt fehlte.
Es zeigte sich, dass nicht die Häufigkeit der Kontakte sondern die Qualität der
Beziehung die entscheidende entwicklungsfördernde Rolle dabei spielte. Auch ein
Stiefelternteil kann den fehlenden Elternteil offenbar nicht in jedem Fall ersetzen, wie
genaue Vergleiche der Entwicklungsbedingungen in verschiedenen Familienformen
zeigen.
Ein
weiterer
Stressor
sind
die
eigene
Befindlichkeit
und
die
Erziehungskompetenz des sorgeberechtigten Elternteils. Das Zusammenleben
mit einem emotional labilen, depressiven, streng oder inkonsequent erziehenden
Elternteil kann zu einer schweren Belastung für ein Kind werden. Sie hält oft über
viele Jahre hinweg bis ins späte Jugendalter hinein an. Die Konflikte zwischen den
Eltern nach der Scheidung, meist eine Fortsetzung der schon vorher oft massiven
und traumatisierenden Auseinandersetzungen, sind ebenfalls für die Kinder sehr
belastend. Durch die negativen Äußerungen der Eltern über den anderen Elternteil
werden die Bindungen des Kindes gestört, der Aufbau von Identifikation wird
schwieriger. Wenn Eltern ihre Kinder zudem als Alliierte im Streit mit dem
ehemaligen Partner missbrauchen, kann dadurch die Entwicklung des Kindes in
verschiedenen
Bereichen
(Ich-
Entwicklung,
soziale
Kompetenzen,
Leistungsverhalten) belastet werden. Für den alleinerziehenden Elternteil – meistens
die Mutter- ist die Scheidung oft mit ökonomischen Problemen verbunden. Die
damit verbundenen Einschränkungen betreffen auch die Scheidungskinder. Eine
ungünstige
Wohnsituation
kann
insgesamt
die
Entwicklungschancen
eines
Jugendlichen beeinflussen. Die Nutzung von Freizeitangeboten und die Kontakte zu
Gleichaltrigen hängen teilweise mit finanziellen Mitteln zusammen, schulischer Erfolg
ist bei Kindern aus sozioökonomisch höherem Familienniveau größer. Insgesamt
sprechen viele Untersuchungen dafür, dass das Auftreten multipler Stressoren
einen besonders starken Einfluss ausübt auf die Entwicklung der Scheidungskinder.
Demgegenüber kennt man heute auch eine Reihe von Faktoren, die eine
Bewältigung der elterlichen Trennung erleichtern. So bilden ein einfaches
kindliches
Temperament,
soziale
Aufgeschlossenheit
und
Attraktivität
gute
56
Skript PSYPE 3
Voraussetzungen für eine Bewältigung. Besonders wichtig aber ist, dass ein Kind
keine Schuldgefühle bezüglich der Trennung der Eltern entwickelt. Schuldgefühle
sind gerade bei jüngeren Kindern, die noch nicht über die entsprechenden kognitiven
Fähigkeiten verfügen, oft der Fall. Die soziale Unterstützung durch andere
Familienangehörige, Freunde Lehrer usw. kann ebenfalls helfen. Eine besondere
Bedeutung kommt dabei aber den Geschwistern und den Großeltern zu, die ja schon
in vielen Fällen zu den engen Bezugspersonen des Kindes gehören. Juristische
Regelungen können ebenfalls teilweise zu einer Normalisierung der Lebenssituation
des Kindes beitragen, wenn durch sie das Kindeswohl wirklich wirksam gesichert
werden kann.
7.2.2 Tod eines Elternteils und Einfluss auf die Entwicklung des Kindes
Welche Bedeutung und welche Folgen der Tod eines Elternteils für ein Kind haben,
hängt einerseits ab vom Alter und Entwicklungsstand des Kindes. Kleine Kinder
verstehen oft das eingetretene Ereignis nicht und zeigen erst sehr verzögert ihre
Trauer über den Verlust. Hier besteht dann später ein erhöhtes Risiko für
Verhaltensauffälligkeiten oder psychiatrische Erkrankungen. Bei vielen kleineren
Kindern findet man aber auch eine typische Abfolge von anfänglichem Protest über
eine Phase der Hoffnungslosigkeit und des Rückzugs bis zu einer Phase der
Erholung.
Auch die Verfügbarkeit von Schutzfaktoren oder die Anwesenheit von Stressoren
modifiziert Bedeutung und Folgen des Elternverlustes für ein Kind:

Die Umstände des Todes

Die Beziehung zum verstorbenen Elternteil

Die Beziehung zum hinterbliebenen Elternteil

Der Umgang der Familie mit dem Tod

Die Reaktion der Umgebung und ihre soziale Unterstützung

Zusätzliche Verluste (Umzug usw.)

Merkmale des Kindes.
57
Skript PSYPE 3
Unter allen betroffenen Kindern lassen sich drei große Reaktionsmuster feststellen.
Manche zeigen gleich deutlich ihre Trauer und entwickeln anfängliche Symptome wie
Konzentrations- und Selbstwertprobleme. Nach einer Zeit der Trauer verbessert sich
ihre Situation. Andere zeigen sehr starke Reaktionen beim Verlust, die dann in lang
andauernde Verhaltensstörungen übergehen. Eine dritte Gruppe von Kindern
reagiert anfangs nicht, sondern erst mit einer Verzögerung von Monaten oder Jahren,
wobei dann ein höheres Risiko für Spätfolgen besteht.
Wie aber letztlich ein Kind den Tod eines Elternteiles überwindet, hängt auch sehr
stark von der Befindlichkeit und Fürsorge des verbleibenden Elternteiles ab.
Leidet dieser selbst sehr unter psychischen Beeinträchtigungen nach dem Tod des
Partners, kommen zusätzliche finanzielle Belastungen dazu oder war das Verhältnis
zwischen dem Kind und diesem Elternteil schon vor dem Tod des anderen nicht sehr
gut, so lassen sich daraus eher ungünstige Prognosen ableiten.
7.2.3 Intervention
Für Scheidungskinder kann eine Einzelberatung oder Einzeltherapie angebracht
sein, die dann nach der Wahl der Therapierichtung als Spieltherapie, als
tiefenpsychologisch orientierte Kindertherapie oder als verhaltenstherapeutisch
orientierte Therapie auftritt. Entsprechend liegen dann die Effekte auch eher im
Bereich emotionaler Veränderungen, in der Bearbeitung unbewusster Inhalte oder in
Veräderungen auf der Verhaltensebene. All dies kann hilfreich sein für ein Kind und
einen Jugendlichen, der unter dem Auseinanderbrechen seiner Familie leidet und
versucht, dieses Erlebnis mit falschen Mitteln, z.B. Aggressivität, zu verarbeiten.
Gruppentherapien, in denen mehrere Scheidungskinder zusammengefasst sind,
bieten den großen Vorteil, dass hier ein Austausch von Erfahrungen stattfinden kann.
Wenn von Gruppenmitgliedern Gefühle benannt werden, dient das auch zur Klärung
der Gefühle bei anderen. So können auch Fehlwahrnehmungen hinsichtlich der
Scheidung der Eltern leichter korrigiert werden, z.B. über den eigenen Anteil am
Geschehen.
Und
durch
das
Vorbild
anderer
können
auch
andere
Bewältigungsstrategien angeregt werden, auf die ein Kind allein vielleicht nicht so
leicht käme.
58
Skript PSYPE 3
In der Mediation zwischen den in der Trennung begriffenen oder schon getrennten
Eltern wird versucht, eine Form der Kooperation bei der Trennung herzustellen.
Indirekt können dadurch auch Schäden für die betroffenen Kinder vermieden werden.
So sind wichtige Themen in der Mediation immer wieder, wie man das gemeinsame
Sorgerecht konkret umsetzen kann und wie eine Besuchsregelung zur Zufriedenheit
aller Beteiligten aussehen sollte. Immer wieder muss auch thematisiert werden, was
die Eltern tun müssen, um Loyalitätskonflikte bei den Kindern zu vermeiden. Schon
so um einfache „Kleinigkeiten“ wie die Frage, was ein Elternteil nicht über den
anderen in Gegenwart der Kinder äußern sollte oder wie eine möglichst entspannte
Atmosphäre
zu
schaffen
ist,
wenn
der
Vater am
Sonntag
nach
einem
Besuchswochenende das Kind wieder zur Mutter zurückbringt, muss in der Mediation
oft zäh gerungen werden.
Quellen:
Walper, S. (2002). Verlust der Eltern durch Trennung, Scheidung oder Tod. In: R.
Oerter & L. Montada (Hrsg.): Entwicklungspsychologie (S. 818 - 832). PVU.
7.3 Normative Veränderungen im familiären Bereich
Wenn Biographien stärker individuell gestaltbar sind, bringt das für die Betroffenen
mehr persönliche Freiheiten, aber auch einen Verlust an Stabilität. So kann sich
abnehmende Verbindlichkeit normativer Regelungen gerade im familiären Bereich
bemerkbar machen. (z. B. kontinuierlich steigende Scheidungsrate in L. ) Der
Familienzyklus wird also häufiger unterbrochen durch
Trennung und Scheidung,
Phasen des Alleinlebens und Gründung neuer Partnerschaften.
In diesem Zusammenhang haben die amerikanischen Forscherinnen C. Ryff und M.
Seltzer
in
ihren
Untersuchungen
1996
auch
für
Familien
im
mittleren
Erwachsenenalter zwei zentrale Merkmale herausgearbeitet: 1. Diversität (Vielfalt)
des
Elternseins
und
2.
Interdependenz
(gegenseitige
Abhängigkeit)
der
Entwicklungen von Eltern und Kindern.
59
Skript PSYPE 3
Unabhängig davon bleibt eine Veränderung in der mittleren Lebensphase weiterhin
bemerkenswert:
der Auszug der Kinder („empty nest“ ) verbunden mit dem
Übergang in eine nachelterliche Partnerschaft.
7.3.1 „empty nest syndrom“ und nachelterliche Partnerschaft.
Der Ende der 60er Jahre in USA entstandene Begriff „empty nest syndrom“
orientierte sich an dem traditionellen Rollenmodell der Mutter und Hausfrau und
verband mit dem Auszug der Kinder unweigerlich negative Folgen für die weibliche
Identität.
Diese
wurden
beschrieben
als
Verlust
des
Lebenssinns,
des
Selbstwertgefühls usw., was bei den Betroffenen dann in depressive Zustände führt.
In nachfolgenden Untersuchungen im Rahmen differenzieller Forschungen konnte
jedoch gezeigt werden, dass die Entstehung des beschriebenen Syndroms auf
keinen Fall zwingend ist, sondern der
Umgang damit in hohem Maße
kontextsensitiv ist und sich dementsprechend äußerst unterschiedlich darstellt.
(siehe Fahrenberg 1986 in: Faltermaier (2002) Abb. 5.2, S. 155)
Was die nachelterliche Phase angeht, ergibt sich für sie vor allem die Aufgabe der
Neustrukturierung des Alltags und der Paarbeziehung. Diese Phase kann, was das
Familienleben angeht, sehr spät sein, was das Berufsleben angeht, schon weit früher
sein. So haben längere Ausbildungszeiten und wirtschaftliche Veränderungen das
„empty nest“ häufig bis in das sechste Lebensjahrzehnt verschoben und dadurch ein
neues Phänomen entstehen lassen, das als „Nesthockersyndrom“ beschrieben wird
und eher bei Söhnen beobachtet wird.
7.3.2 Pflege der alten Eltern
Die zunehmende Lebenserwartung der letzten Jahrzehnte führte auch zu einer
Ausdehnung der gemeinsamen Lebenszeit der Generationen, so dass immer
mehr Menschen noch im 5. und 6. Lebensjahrzehnt zumindest ein Elternteil besitzen.
Dadurch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, in diesen Jahren auch Pflegearbeit für
hochbetagte
Familienangehörige
zu
übernehmen.
Da
traditionelle
Familienorientierung und internalisierte weibliche Normen und Moralvorstellungen die
Pflegebereitschaft von Frauen erhöht, ist Familienpflege in den meisten Fällen (über
80%) immer noch Frauenpflege. Sie stellt, besonders bei pflegeintensiven Fällen,
eine große psychische Belastung dar, wobei im mittleren Erwachsenenalter auch die
Pflegenden schon unter chronischen Krankheiten leiden können.
60
Skript PSYPE 3
Mit der Zunahme
weiblicher Berufstätigkeit und allmählicher Auflösung von
Geschlechter-stereotypen (pflegende Männer!) sowie einer insgesamt stärkeren
Individualisierung wird es in Zukunft zu einer Erweiterung der Pflegeformen kommen,
d.h. der Umfang der Familienpflege als reiner Frauenpflege wird abnehmen. Diese
Entwicklung zeigt sich schon heute bei Menschen mit höherer Bildung und besserer
ökonomischen Ausstattung. Aber auch wenn nicht selbst gepflegt wird, sind die
psychischen
Belastungen
der
Angehörigen
hoch,
besonders
wenn
die
Pflegebedürftigkeit durch eine dementielle Erkrankung der alten Eltern hervorgerufen
wird. Allen Untersuchungen zufolge gehören solche Befunde zu den sehr negativ
erlebten Transitionen dieser Lebensperiode.
8. Veränderungen im beruflichen Bereich
Berufsarbeit gilt immer noch als ein zentraler Ort zur Verwirklichung eigener
Fähigkeiten. Je nach Tätigkeit verbinden sich mit ihr Macht, Ansehen und Einfluss.
Sie wird außerdem in einem sozialen Umfeld geleistet, das dem Individuum soziale
Kontakte sichert.
Das Besondere dieser Lebensphase heute ist, dass es für eine beträchtliche Anzahl
von Menschen bereits zur Ausgrenzung aus der Berufsarbeit gekommen ist. (In
Luxemburg sind noch etwa 30% der Fünfzig- bis Vierundsechzigjährigen berufstätig)
Für die meisten ist dies kein erwünschter Zustand, sondern einer, der zum einen
durch die Veränderung der Arbeit überhaupt entstanden ist, zum anderen durch den
globalen Arbeitsmarkt erzwungen wird.
Ältere Arbeitnehmer müssen sich jedoch auch dem Vorwurf abnehmender
Leistungsfähigkeit stellen. Trotz Gegenbeweisen gelten sie in vielen Bereichen als
leistungsschwächer, unflexibler, störanfälliger usw. Begründet wird dies generell mit
Annahmen zum
kalendarischen Alter.
Ein solches Vorgehen ist nicht nur eine
Diskriminierung des Alters, sondern auch eine Einschränkung individueller
Handlungsautonomie. Sie führt zum Verlust von Humankapital, d.h. die
Kompetenzen und Ressourcen von Menschen in dieser Lebensphase werden
gesellschaftlich nicht genutzt. Nur ganz wenige Berufsgruppen, z.B. Politiker,
Wissenschaftler, sind hier ausgenommen.
61
Skript PSYPE 3
Lebensveränderungen im Zusammenhang mit (Erwerbs)arbeit sind also im mittleren
Erwachsenenalter, gemessen an der hohen Bedeutung von Arbeit, für viele
Menschen eher
„eine Phase der kritischen Bilanzierung, der Konfrontation mit
Grenzen, mit Stigmatisierungen und der Auseinandersetzung mit möglichen
Abbauprozessen (...)“ Faltermaier 2006, S.158)
Dass das Arbeitsende, auch das
verfrühte, besonders bei physisch und psychisch belastenden Berufen auch die
ersehnte „späte Freiheit“ bringt, ist selbstverständlich, solange die Finanzierung
zufrieden stellend ist.
Damit wird für eine Entwicklungspsychologie der Lebensspanne mit dem Konstrukt
„mittleres Erwachsenenalter“ ersichtlich, dass eine
gesellschaftlich-historische
Perspektive unbedingt notwendig ist und eine Orientierung am chronologischen Alter
heute kaum noch Fragen beantworten kann.
Quellen:
Faltermaier, T. Mayring, P., Saup, W. (2002) Entwicklungspsychologie des
Erwachsenenalters. Stuttgart: W. Kohlhammer. S. 136- 162.
9. Entwicklungsförderung und Interventionen bei Erwachsenen
9.1 Arbeitslosigkeit
Die Situation in Luxemburg und Auswirkungen von Langzeitarbeitslosigkeit.
Luxemburg hat mit 4,8% Arbeitslosen immer noch die niedrigsten Zahlen innerhalb
Europas, allerdings kontinuierlich steigend, wobei sich
ein immer stärkerer
Fachkräftemangel besonders von Menschen ab 45 Jahren abzeichnet.
Dauert die Arbeitslosigkeit länger an, kann sie für die Betroffenen, neben dem
verringerten
Einkommen
zu
verhängnisvollen
psychischen
und
sozialen
Auswirkungen führen, die bei Älteren oft noch gravierender ausfallen als bei jungen
Arbeitslosen. Besonders belastend wirken sich dabei die Einschränkungen sozialer
Kontakte sowie die reduzierten Möglichkeiten zur Entwicklung und zum Einsatz
62
Skript PSYPE 3
der eigenen Fähigkeiten aus. Dauern solche Belastungen aufgrund von
Langzeitarbeitslosigkeit
an,
können
sich
bei
den
Betroffenen
zum
Teil
schwerwiegende Folgeerscheinungen entwickeln:

Verlust der Zeitstruktur

Gefühle von Wertlosigkeit

Resignation, Verunsicherung, Selbstzweifel

Isolation

Kontaktschwierigkeiten

Persönliche und familiäre Identitätskrisen

Sozialer Abstieg

Psychosomatische Beschwerden

Aggression

Alkoholismus und Drogenkonsum
Die hohe Arbeitslosigkeit bringt aber nicht nur für die Betroffenen schwerwiegende
Probleme, sondern auch für den
Arbeitsmarkt, besonders hinsichtlich eines
wachsenden Fachkräftemangels. Maßnahmen zur beruflichen Wiedereingliederung
dienen daher nicht nur der psychischen Entlastung der Einzelnen, sondern haben
auch eine wichtige Arbeitsmarktfunktion.
9.2 Schuldnerberatung: Beratung und psycho-soziale Hilfe für Menschen mit
Schuldenproblemen
„Jetzt kaufen, später zahlen“ – dieser und ähnliche Slogan begegnen uns in der Welt
des Konsums überall und beschreiben das alltägliche Kauf- und Konsumverhalten
vieler Menschen. Das Aufnehmen von Krediten gehört heute zum Alltag der
Lebensführung, wobei die Rückzahlung des erhaltenen Betrages in festen,
monatlichen Teilbeträgen normalerweise kein Problem darstellt. Eine immer größere
Anzahl
von
Familien
und
Einzelpersonen
schafft
dies
jedoch
aus
ganz
unterschiedlichen Gründen nicht mehr, d.h. das verfügbare Einkommen reicht für die
finanziellen Verpflichtungen nicht mehr aus, so dass die Verschuldung in eine
Überschuldung führt. Die immer noch häufigsten Ursachen, warum Menschen in
schwierige
geldliche
Situationen
geraten,
sind
entweder
„kritische
Lebensereignisse“ wie Arbeitslosigkeit, Trennung, Scheidung, Krankheit, aber auch
dauerhaft niedriges Einkommen, fehlende Kenntnisse über Kredite und ihre
möglichen Konsequenzen wie auch eine generelle Inkompetenz, mit Geld um zu
63
Skript PSYPE 3
gehen. Nicht selten leiden Betroffene aufgrund von
Niederlagen
auch
an
Minderwertigkeitsgefühlen
privaten und beruflichen
und
versuchen
sich
mit
Konsumartikeln wieder aufzuwerten. Sprunghaft gestiegen in den letzten Jahren sind
die Schulden bei Tele-Anbietern (Handys)
Überschuldung bezeichnet dann die Situation, in der ein Privathaushalt nach Abzug
seiner Lebenshaltungskosten nicht mehr in der Lage ist, mit seinem restlich
verfügbaren Einkommen seinen Ratenverpflichtungen nachzukommen. In der Regel
führt eine solche Situation eine Vielzahl von psychosozialen Belastungen mit sich
und hat in den meisten Fällen große Auswirkungen auf das gesamte Umfeld des
Verschuldeten. Dies zeigt, dass bei Überschuldung nicht nur eine finanzielle
Beratung notwendig ist, sondern eine umfassende Lebensberatung.
Mit
diesem
Ziel,
nämlich
die
verschiedenartigen,
insbesondere
sozialen
Folgeprobleme von Überschuldung zu beseitigen, zu minimieren bzw. zu mildern
begannen in den 70er Jahren die ersten Schuldnerberatungsstellen in Deutschland
ihre Arbeit. Etwa ab den 90er Jahren wird diese Beratung in einem 4-Säulenmodell
angeboten,
d.h.
es
gibt
finanzielle,
rechtliche,
hauswirtschaftliche
und
psychosoziale Angebote. Insgesamt wird ein systemischer Ansatz verfolgt, in
dem der Mensch als Teil eines umfassenden sozialen Systems verstanden wird. Sein
Umfeld wird also immer mit reflektiert und der Blick richtet sich auf die Ressourcen
des Hilfesuchenden. Ein solcher Ansatz kann aufzeigen, dass strukturelle, objektive
Probleme
mit
individuellen
Geschehnissen
im
Leben
des
Schuldners
zusammenfallen.
Menschen kommen generell freiwillig zur Schuldnerberatung und
haben dann
bestimmte Spielregeln zu befolgen: sie müssen ihre finanzielle Situation offen legen,
alle Unterlagen abgeben und mit Beginn der Regelung keine neuen Schulden
machen. Vordringlichstes Ziel der Beratung ist es dann, zunächst einmal, die
elementaren Lebensbedürfnisse der ratsuchenden Menschen und ihrer Angehörigen
durch Ausschöpfung aller tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten (wieder)
abzusichern. Mittelfristig wird dann eine psycho-soziale Stabilisierung, die
Aktivierung des Selbsthilfepotenzials und langfristig die möglichst vollständige
Schuldenbefreiung
angestrebt. In Deutschland ermöglichen die Regelungen
gerichtlicher Insolvenzverfahren „zahlungsüberpflichteten“
Menschen eine
Schulden-Befreiung. („Zahlungsüberpflichtet“ sind Menschen, die nach der Pfändung
und dem Erlös verwertbarer Vermögensgegenstände und den pfändbaren Anteilen
64
Skript PSYPE 3
ihres Einkommens der nächsten sechs Jahre ihre vorhandenen Schulden nicht tilgen
können.)
Dabei
ist
nach
Ablauf
einer
sechsjährigen
Treuhandzeit
(„Wohlverhaltensperiode“) eine Zahlungsentpflichtung durch Gerichtsbeschluss
möglich.
Überschuldung in Luxemburg „Die meisten Menschen wären glücklich, wenn sie sich das Leben leisten
könnten, das sie sich leisten.“
Obwohl Luxemburg mit einem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von 54690 Dollar
Weltspitze ist, waren 2004 nach Angaben des nationalen statistischen Amtes
STATEC rund 11 Prozent der Bevölkerung dem Armutsrisiko ausgesetzt. Das sind
ungefähr 48000 Menschen, die meisten von ihnen Nicht-Luxemburger. Bei mehr als
11000 von ihnen wurde im letzten Jahr das Gehalt gepfändet, 46000 erhielten
Zahlungsaufforderungen vom Gericht. Diejenigen, die eine der seit 1990 staatlich
koordinierten Schuldnerberatungen
Action medico-sociale
(Ligue luxembourgeoise de Prévention et d
und Inter-Action, mittlerweile unter der gemeinsamen
Bezeichnung Service d information et de conseil en matiére de surendettement)
aufsuchten, hatten eine durchschnittliche Verschuldungshöhe von 30000 Euro. Zwei
Drittel der Klienten sind Menschen, die für die normalen Banken nicht (mehr) als
kreditwürdig gelten und dann mit privaten Kreditinstituten (häufig in Belgien) ihre
Geschäfte tätigen, die ihnen nicht selten bis zu 15,5 Prozent Zinsen berechnen.
Bei der Beratungsarbeit durch Sozialarbeiter und Juristen steht die Erarbeitung eines
Entschuldungsplans im Mittelpunkt. Scheitert dieser Plan, d.h. können die
Schulden innerhalb
der vereinbarten Frist nicht zurückgezahlt werden, folgt der
Gang zu einem der beiden Friedensgerichte (Justice de Paix), wo mit
den
Gläubigern weitere Zahlungsmodalitäten und Fristen festgelegt werden, die in den
meisten Fällen noch tiefer in die Schuldenspirale führen.
Die unter bestimmten Bedingungen gegebene Möglichkeit einer gerichtlichen
Zahlungs-Entpflichtung, wie in Deutschland und Frankreich, gibt es in Luxemburg
noch nicht, soll aber nach Aussagen des Familienministeriums in diesem Jahr, 2007,
eingeführt werden. Dann wird auch Luxemburg über gesetzliche Regelungen zur
Privat-Insolvenz verfügen und nach vergleichbaren Verfahren handeln. Bei den
betroffenen Personen wird eine gerichtlich beschlossene „Restschuldbefreiung“
dann auch möglich sein, wenn alle Verpflichtungen über eine gewisse Anzahl von
Jahren eingehalten werden und eine Treuhandstelle alle in dieser Zeit über die
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Skript PSYPE 3
gesetzliche Zumutbarkeit hinausgehenden Einkommens- und Vermögensquellen im
Sinne der Gläubiger verwaltet, d.h. nach Maßgabe entsprechender Vorschriften an
die beteiligten Forderungspersonen verteilt.
Mit diesem Verfahren soll erreicht werden, dass überschuldete Personen mit ihren
Angehörigen nicht lebenslänglich zahlungs- und marktunfähig bleiben, sondern aus
der
sozialen
Abstiegsspirale
wieder
herausfinden
und
insbesondere
ihre
Arbeitsmarktfähigkeit wieder hergestellt werden kann.
Quellen:
www.schuldnerberatung.de
www.indeed-net.en/text/armutinluxemburg.html
Vortrag bei der Caritas Luxemburg, Referent C. Schumacher,
„Arbeit mit Überschuldung in Luxemburg“
Mai 2007
9.3 Obdachlosigkeit und psychische Störung
Obdachlosigkeit scheint auf den ersten Blick ein konkret umschriebener Zustand zu
sein, wenn auch zeit- und kulturabhängig. Das zeigt sich schon an den
unterschiedlichen Begriffen.
Sprach man in früheren Jahrhunderten von Vaganten, hießen sie Korrigenden
während der Industrialisierung und man steckte sie in Arbeitshäuser. Anfang des 20.
Jahrhunderts waren sie Landstreicher, Berber oder Vagabunden. Als man sich einige
Jahrzehnte später auch für die psychischen Hintergründe dieser Menschen
interessierte, hatte man gleich einen abwertenden Begriff
bereit: unstete
Psychopathen, die man dann ab 1933 als arbeitsscheue Nichtsesshafte in
Konzentrationslager brachte und später zu Tausenden ermordete.
Über die konkrete Lebenssituation wohnungsloser Männer und Frauen heute gibt es
immer noch kaum ausreichende und gesicherte Daten. Das liegt unter anderem auch
daran, dass es sehr schwierig ist , überhaupt an sie heranzukommen.
Ein Phänomen, das zumindest einen Teil der „Obdachlosenmentalität“ erklären kann,
scheint jedoch auch nach und nach von wissenschaftlichem Interesse: die
psychischen Erkrankungen der Betroffenen. Dabei muss eine Erkenntnis, die sich
zu Beginn der psychiatrischen Obdachlosenforschung vor über 100 Jahren ( Karl
66
Skript PSYPE 3
Willems, Zur Pathologie des Landstreichers, 1906) aufdrängte, noch heute bestätigt
werden: ein beträchtlicher Teil dieser Menschen hatte eine sogenannte Dementia
praecox, was man später als schizophrene Psychose bezeichnete. Demzufolge
wurde auch schon damals, folgerichtig, nicht nur eine humane Unterbringung und
Versorgung, sondern auch eine psychologische und psychiatrische Behandlung
gefordert – ein Aspekt, der auch heute noch eine große Rolle spielt.
Dennoch sind Störungen dieser Art nur schwer zu fassen, was sich auch in
deutschen Studien zeigt. Diese streuen, was die Häufigkeit angeht, von 5% bis 100%
seelisch Erkrankter.
Grund ist, dass die Beschaffung von Unterkunft, Nahrung und Kleidung so primär ist,
dass die Betroffenen für Gesundheitsfragen einfach keinen Raum mehr haben. Als
Merkmale
psychischer
Gewalterfahrungen,
Erkrankungen
Angst-
und
gelten
Kindheitstraumata,
Persönlichkeitsstörungen,
vor
Depressionen
allem
und
schizophrene Psychosen. Dazu kommt die hohe Alkohol- und Drogenabhängigkeit.
Was die Lebenssituation obdachloser Frauen angeht, ist die Datenlage noch
geringer als bei Männern. Dies liegt unter anderem daran, dass Frauen die
vorhandenen Hilfesysteme weniger nutzen, d.h. eher zurückgezogen in einer so
genannten „latenten Wohnungslosigkeit“ leben, aber auch daran, dass es weit
weniger Sammelunterkünfte für Frauen gibt. Studien aus größeren Städten zeigen,
dass Konflikte mit Eltern und Partnern sehr häufig ein Grund für den
Wohnungsverlust sind. Frauen berichten so gut wie immer von körperlicher und
sexueller
Gewalt,
wobei
diese
Erfahrungen
und
ihre
Häufigkeit
als
das
Hauptunterscheidungsmerkmal bei männlichen und weiblichen Obdachlosen gilt. Bei
psychischen Krankheiten zeigen Frauen gegenüber Männern eher „Comorbidität“: sie
haben häufiger mehrere psychische Krankheiten gleichzeitig oder aufeinander
folgend, immer verbunden mit Suchtkrankheiten. Für etwa ein Drittel der erfassten
Frauen hat dies zu mindestens einem Suizidversuch geführt.
In Luxemburg leben etwa 300 Wohnungslose, um die sich unterschiedliche
Einrichtungen kümmern („Streetwork“, „Stemm vun der Strooss“, Caritas u.a.).
Hilfsangebote (Übernachtungsmöglichkeiten, Getränke und bezahlbare Mahlzeiten)
sind vor allem das Foyer de Nuit Ulysse und téistuff. Dort sind die Regeln streng
und Drogen tabu. Die Menschen haben im Foyer vorübergehend eine Adresse und
werden unterstützt bei Behördengängen. Für viele gibt es inzwischen mittels eines
„dispatching“ eine durch professionelle BeraterInnen ausgeführte Falldiagnose, die
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Skript PSYPE 3
es ermöglicht, stärker zwischen der Problematik von Obdachlosen und der immer
größeren Zahl von Drogenabhängigen zu unterscheiden. Da es, neben der generell
ungelösten Wohnungsfrage für sozial Schwache, in Luxemburg immer noch kaum
Drogenauffangstationen
und
Therapieplätze
gibt,
wächst
die
Zahl
der
Drogenabhängigen, die dann auf der Strasse leben, immer schneller.
Quellen:
Hackauf, H., Gesundheit und soziale Lage junger Menschen in Europa, LIT Verlag,
Wiesbaden 2004
Paetow-Spinosa, S., Psychische Erkrankungen bei wohnungslosen Frauen,
Landeskommission Berlin gegen Gewalt, Berlin 2008
Gespräche mit Mitarbeitern der „Caritas Accuiel et Solidarité asbl“
(Zeitraum April/Mai 2007)
Gespräch mit einem streetworker und Mitarbeiterinnen von „Téistuff“ und „Foyer
Ulysse“
http://www.wort.lu/wort/web/letzebuerg/artikel/76661/eine
http://www.psychosoziale-gesundheit.net/psychiatrie/obdachlosigkeit.html
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