Kurt R

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Kurt R. Bach und Konrad Weller
Ist die Sexualerziehung den Herausforderungen der Gegenwart noch
gewachsen?
Sexualerziehung in der Bundesrepublik Deutschland - das ist seit 25 Jahren der Widerstreit
zwischen gesetzlichen Forderungen und gleichzeitigen Beschränkungen, zwischen neuen
sexualwissenschaftlich-entwicklungspsychologischen Erkenntnissen und lebensfremdem
moralinsaurem Beharrungsvermögen, zwischen Forderungen der Heranwachsenden und
verunsicherten LehrerInnen und ErzieherInnen, deren Befindlichkeit Karl Valentin
folgendermaßen gekennzeichnet hätte: "Mögen täten wir schon wollen, aber dürfen haben wir
uns nicht getraut!" Im folgenden geht es um den gesellschaftlich organisierten Bildungs- und
Erziehungsprozesses, vor allem um die schulische Sexualerziehung, ihre gesetzlichen
Grundlagen, ihren Anspruch, ihre Legitimation, ihre Grenzen. Die Betrachtung der
sexualpädagogischen Realität erfolgt aus ostdeutscher Sicht mit Blick auf die Aufgaben der
Gegenwart, die dabei anzutreffenden Probleme und Möglichkeiten ihrer Lösung.
Zunächst ein Blick zurück.
Der offizielle Beginn schulischer Sexualerziehung in der BRD
Am 3. Oktober 1968 einigte sich die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder und
Schulsenatoren auf "Empfehlungen zur Sexualerziehung in den Schulen" der BRD. Die
Minister konnten sich dabei auf mehr oder weniger Bewährtes stützen, so z. B. auf die bereits
1949 von der Arbeitsgemeinschaft für Sexualpädagogik der Hamburger Lehrergewerkschaft
herausgegebenen Richtlinien und auf die ein Jahrzehnt später vom Senat von Westberlin
unterbreiteten Dokumente, die am 3. August 1962 durch Beschluß für obligatorisch erklärt
worden waren. Hessen hatte ebenfalls bereits 1967 Richtlinien zur Sexualerziehung in seinen
Schulen erlassen. In der täglichen Schulpraxis tat sich allerdings sehr wenig. So stellte der
Hamburger Oberschulrat Brüggemann 1967 resignierend fest, "... daß die Mehrzahl der
deutschen Gymnasiallehrer vor der Sexualpädagogik soviel Angst hat wie ein mittelmäßiger
Oberprimaner vor dem Abitur". /1/
Erinnern wir uns: Die zweite Hälfte der 60er Jahre wurde geprägt durch die
Studentenbewegung und die sogenannte "sexuelle Revolution". Schülerparlamente,
Aktionsgemeinschaften, der Sozialistische Deutsche Studentenbund forderten nachhaltig die
"Einführung eines Sexualkundeunterrichts, der sämtliche Vorgänge einschließt, von denen
Sexualität mitbestimmt ist, ferner Bereitstellung der entsprechenden Literatur, Einrichtung
von Kursen, spezielle Aufklärung über Verhütungsmittel und freien Zugang zu
Antibabypillen für Mädchen nach erreichter Geschlechtsreife, Abbau der Diskriminierung der
sexuellen Betätigung von Schülern, freie Hand für Schülerarbeitskreise, die sich mit
Problemen der Sexualität auseinandersetzen, inklusive des Rechts auf Durchführung von
Sexualumfragen". /2/ Eine kaum zu übersehende Anzahl von sexualpädagogischen und
populärwissenschaftlichen Publikationen sowie Aufklärungsfilmen kam in diesen Jahren auf
den Markt.
Streit um die Rechtsverbindlichkeit
Diese Aktivitäten blieben nicht folgenlos. Bundestagsfraktionen griffen das Thema Sexualität
ebenso auf wie einige Landeselternbeiräte. Unter diesem Druck der Öffentlichkeit waren die
KMK-Empfehlungen zustande gekommen. Sexualerziehung wurde darin als Teil der
Gesamterziehung bezeichnet und zum Unterrichtsprinzip erklärt, im besonderen für die
Fächer Biologie und Sozialkunde, sowie den Deutsch-, Geschichts-, Kunsterziehungs- und
Religionsunterricht. Der Erziehung durch die Eltern wurde Priorität eingeräumt.
Noch keine ausreichende Berücksichtigung erhielten die persönlichen Probleme der Schüler.
Die Empfehlungen besaßen von Anfang an Schwachpunkte, die von vielen Seiten erkannt
wurden. Da sie nur sehr "behutsam um Verständnis für die Sexualerziehung in der Schule
warben" /3/, wurden sie durch Verwaltungsvorschriften der einzelnen Ländern nur zögernd
geltendes Schulrecht. Am 21. Dezember 1977 fällte das Bundesverfassungsgericht, nachdem
bereits mehrere Oberverwaltungsberichte angerufen worden waren, eine für das gesamte
Bundesgebiet verbindliche Entscheidung. Sie war notwendig geworden, weil ein heftiger
Streit um das im Artikel 6 des Grundgesetzes verbürgte Elternrecht entbrannt war. Besorgte
Eltern befürchteten, ihre Kinder könnten seelische Schäden erleiden, wenn sie in der Schule
Informationen über Sexualität erhielten; manche lehnten nur einzelne Unterrichtsinhalte ab,
andere verlangten die Freiwilligkeit der Teilnahme ihrer Kinder. Dagegen stand die
Auffassung derjenigen, die aus dem Artikel 7 GG (staatlicher Erziehungsauftrag) die
Pflicht zur Sexualerziehung als Teil der Gesamterziehung ableiteten.
Das BVG erklärte die Gleichrangigkeit der beiden Grundrechte und betonte, der Artikel 6
begründe ein Individualrecht, aber nicht das einer Gruppe von Eltern. Darum sei die Schule
als öffentlich-rechtliche Institution legitimiert, Sexualerziehung im Bereich ihrer
Möglichkeiten und in einem familienergänzenden Sinne durchzuführen. Allerdings reichten
dem BVG die "Richtlinien der Landesschulbehörden" als rechtliche Grundlagen nicht aus.
Nur die Länderparlamente seien legitimiert zu entscheiden, ob Sexualerziehung in der Schule
2
eingeführt werde. Nur sie seien kompetent, in den Schulgesetzen Groblernziele
festzuschreiben, während die Kultusminister die Feinziele und zweckmäßigsten
Unterrichtsmethoden zu bestimmen hätten. Die Freiheit der Lehre (Artikel 5 GG), auch die
situative Unterrichtsgestaltung durch die Lehrer, dürfe dadurch nicht eingeschränkt werden.
Das BVG gab in seinem "Beschluß zu grundlegenden Fragen des Sexualkundeunterrichts
in den öffentlichen Schulen der BRD" Leitziele vor, die weit über die Vermittlung
biologischer Kenntnisse oder anderen Faktenwissens hinausgehen. Diese Ziele müssen von
den einzelnen Landesparlamenten durch Beschluß in die Schulgesetze übernommen werden,
um die demokratische Rechtsstaatlichkeit zu wahren (Art. 20 GG).
Die Schule muß gegenüber den unterschiedlichsten Wertvorstellungen offen sein, zur
Toleranz erziehen, darf die SchülerInnen in keiner Weise indoktrinieren. Sie hat
Sexualerziehung als fächerübergreifendes Prinzip zu gestalten, also die spezifische Sichtweise
der verschiedenen Unterrichtsfächer in das Gesamtkonzept zu integrieren. Über die Inhalte
müssen die Eltern rechtzeitig informiert werden, ebenso über die vorgesehenen Methoden und
die verwendeten Medien. Ein Recht auf Mitbestimmung bei der Gestaltung des
Sexualkundeunterrichts wird den Eltern nicht eingeräumt.
Kritische Einwände
Im außer- und innerhalb der Gerichte geführten Streit hatten die Parteien bei der
Formulierung ihrer Anträge weder das im Artikel 2 GG verbürgte Persönlichkeitsrecht des
Kindes noch die Artikel 12 und 13 der "Konvention auf die Rechte des Kindes"
(Meinungsfreiheit und das Recht auf Information) im Blick. Dabei hätte doch die sexuelle
Mündigkeit und Verantwortlichkeit der SchülerInnen im Zentrum stehen müssen, ihre
Befähigung zur sexuellen Selbstbestimmung im Spannungsfeld zwischen den Erwartungen
der Gesellschaft und den eigenen Wünschen und Bedürfnissen sowie denen des Partners/ der
Partnerin. Das sind die Hauptziele einer ganzheitlichen, emanzipatorischen Sexualerziehung.
Von ihnen ausgehend sollten spezielle Inhalte, Methoden und die einzusetzenden Medien
bestimmt werden. Ohne die Anerkennung der Kinder und Jugendlichen als sexuelle Wesen
im weitesten Sinne und vom ersten Lebenstag an kann es keine wirkungsvolle
Sexualerziehung geben. In diesem Zusammenhang ist kritisch anzumerken, daß es bisher
auch noch keine bundeseinheitlichen Empfehlungen zur Sexualerziehung in Kindergärten
gibt.
3
Unterschiede in den alten Bundesländern
Zwischen 1980 und 1987 haben die meisten Länder ihre Schulgesetze und Richtlinien zur
Sexualerziehung neu gefaßt. Vergleichen wir diese neuen mit den alten Regelungen, so sind
die neuen deutlich hinter dem Forschungsstand der Sexualwissenschaften und den
Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie zurückgeblieben und stehen z. T. in krassem
Gegensatz zur Lebenswirklichkeit. Während einige der Richtlinien von 1974 noch liberal
erscheinen, sind die "neuen" von Bayern und Baden-Württemberg verklemmt, biologistisch
lückenhaft und restaurativ (N. Kluge). So dürfen z. B. in Baden-Württemberg seit 1984/ 85
bis zum vierten Schuljahr nur noch spontane Schülerfragen beantwortet werden; in den
fünften Klassenstufen haben sich die BiologielehrerInnen auf biologische
Grundinformationen über Fortpflanzung und Entwicklung des Menschen zu beschränken. In
den zehnten Klassen erfolgt die
Trennung des Sexualkundeunterrichts in einen
obligatorischen und einen fakultativen (ergänzenden) Teil. Der Pflichtunterricht beinhaltet
lediglich die Vermittlung biologischen Faktenwissens. Im Ergänzungsunterricht dürfen
Fragen der SchülerInnen erörtert werden. In den Richtlinien heißt es dazu: "Der Schüler soll
sein Geschlechtsverhalten als Ausdruck geistig-seelischer Reife verstehen lernen, um von
einer christlich bestimmten Orientierungsbasis her verantwortlich und wertebewußt handeln
zu können. Die möglichen Inhalte und die dazugehörigen Medien müssen den Eltern an
einem Elternabend vorgestellt werden, da sie deren Zustimmung bedürfen. Danach treffen die
Eltern die Entscheidung, ob ihr Kind am ergänzenden Unterricht teilnimmt"./4/
Die "Kinder", um die es hier geht, sind 16 bis 17 Jahre alt. Wie aus einer 1990 durchgeführten
Befragung von Jugendlichen dieser Altersgruppe in Hamburg, Frankfurt am Main und
Leipzig zu ersehen ist /5/, haben 67 % der "Westmädchen" und 70 % der Leipzigerinnen, 57
% der "Westjungen" und 61 % der Leipziger Pettingerfahrungen; den ersten Koitus erlebten
bereits 34 % bzw. 46 % der Mädchen und 40 % bzw. 31 % der Jungen, und all das, ohne die
Eltern vorher um Erlaubnis gefragt zu haben. Ebenfalls ohne elterliche Zustimmung dürfen
sich Mädchen dieser Altersgruppe die "Pille" verschreiben lassen und auch über das
Austragen oder den Abbruch einer Schwangerschaft selbst entscheiden; aber ihre Teilnahme
am ergänzenden Sexualunterricht müssen sie in Baden-Württemberg von den Eltern
genehmigen lassen.
Es gehört zur einfachen Logik, daß die Vermittlung sexuellen Wissens vor dem Beginn
partnerschaftlicher Sexualaktivitäten liegen sollte. Gerade im Vorfeld partnerschaftlicher
4
Sexualität, noch "diesseits" eigener unmittelbarer Betroffenheit, ist die Aufgeschlossenheit für
intime Probleme und für Ratschläge, z. B. zur Kontrazeption, besonders groß.
Ein anderes generelles Problem, das in den Baden-Württemberger Richtlinien deutlich wird,
ist der starke Einfluß katholischer Sexualethik. Wenn die "christlich bestimmte
Orientierungsbasis", wie das in einigen Länderrichtlinien der Fall ist, gesetzlich
vorgeschrieben ist, dann werden Kinder und Jugendliche aus anderen Kulturkreisen und
anderer Religionszugehörigkeit ebenso wie Atheisten konzeptionell ausgegrenzt. Hier wird
ganz einfach außer acht gelassen, daß es in einer Gesellschaft mit multikulturellem Anspruch
und multikultureller Realität, die folglich auch eine weltanschaulich-religiöse Pluralität
tolerieren muß, keinen einheitlichen Moralkodex gegen kann.
Dem Negativbeispiel aus Baden-Württemberg seien einige Passagen aus den 1974 erlassenen
Richtlinien für die Sexualerziehung in den Schulen Nordrhein-Westfalens (dem diesbezüglich
progressivsten Bundesland) gegenübergestellt: "Selbstverständlich kann die Sexualerziehung
in der Schule nicht an den Veränderungen sexueller Einstellungen und Verhaltensweisen
unserer Gesellschaft vorbeigehen, wenn sie sich nicht dem Vorwurf der Lebensfremdheit
aussetzen will. Dem Schüler muß dabei bewußt werden, daß der Wandlungsprozeß, dem jede
Gesellschaft unterliegt, nicht an den Normen und Tabus der Sexualität vorbeigeht; daß aber
ethische und soziale Normen für jede Gesellschaft unverzichtbar sind. Dabei kommt der
Überwindung überholter Vorstellungen und dem Abbau von Vorurteilen auf dem Gebiet der
Sexualität besondere Bedeutung zu, da sonst das Zusammenleben der Menschen stark
beeinträchtigt wird. Der Schüler soll erkennen, daß Achtung vor der Sexualität anderer
Menschen auch dann erforderlich ist, wenn sich diese vom eigenen und gewohnten
Sexualverhalten unterscheidet." / 6/ Im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit den Eltern wird
als Aufgabe des Lehrers formuliert: "Die Eltern müssen zu Beginn des Schuljahres im
Rahmen der Klassenpflegschaftsversammlungen über die Lernziele und Inhalte der
Sexualerziehung sowie über den beabsichtigten Einsatz von Medien unterrichtet werden. Sie
sollten Gelegenheit erhalten, zu den sexualpädagogischen Maßnahmen der Schule Stellung zu
nehmen. ... Nicht auszuschließen ist, daß besorgte Eltern in Wahrung ihres
Entscheidungsrechts der Schule diesen Erziehungsauftrag nicht übertragen wollen, weil sie
befürchten, ihr Kind nehme bei der Behandlung sexualkundlicher Inhalte Schaden an seiner
seelisch-geistigen Entwicklung oder weil sie sich mit einzelnen Lernzielen und Inhalten der
schulischen Sexualerziehung nicht einverstanden erklären können. Es sollte versucht werden,
etwaige Bedenken dieser Art auszuräumen. Ggf. muß der Lehrer die Eltern darüber
informieren, daß ein Anspruch auf Befreiung der Kinder vom sexualkundlichen Unterricht
nicht besteht." /7; Hervorhebung d.V./
5
Wenn wir die Richtlinien der alten Bundesländer (Stand 1986) nach dem Vorhandensein
von Themen durchsehen, die von Jugendlichen am häufigsten erfragt werden /8/, dann ergibt
sich eine wenig erfreuliche Bilanz. Die folgende Übersicht zeigt, in wieviel Länderrichtlinien
verschiedene Themen vorhanden sind /9/:
sexueller Mißbrauch von Kindern:
10 mal
sexuell übertragbare Krankheiten:
9 mal
Empfängnisregelung:
7 mal
abweichendes Sexualverhalten (z. B. Homosexualität): 7 mal
Sexualität ohne Partnerbindung (z.B. Prostitution):
Masturbation:
sexuelle Kommunikation (Flirt, Petting, Koitus):
Kinderwunsch und Familienplanung:
Schwangerschaftsabbruch:
partnerschaftliche Verantwortung :
sexuelle Erlebnisfähigkeit/ Orgasmus:
Beratungsstellen:
sexuelle Gewalt:
7 mal
6 mal
6 mal
5 mal
4 mal
4 mal
3 mal
1 mal
0 mal (trotz KMK-Empfehlung!).
Die Situation in den neuen Bundesländern: Stand Sommer 1993
Die Schulgesetze der neuen Länder sind als "vorläufige" beschlossen; an ihrer
Neuformulierung wird gegenwärtig gearbeitet. In Brandenburg ist die Sexualerziehung im §
25 als fächerübergreifend ausgewiesen; in Sachsen wird sie im § 36 in Verbindung mit der
Familienerziehung als Aufgabe der Schule bezeichnet, der Informationsanspruch der Eltern
wird betont; in Mecklenburg-Vorpommerns Schulreformgesetz und Thüringens
Bildungsgesetz ist nichts über Sexualerziehung enthalten. In M.-V. kann die Schule laut § 12
der Schulordnung mit Beratungsstellen zusammenarbeiten (z. B. bei Entwicklungs- und
Suchtproblemen sowie zur AIDS-Prävention). In Sachsen-Anhalt liegt z.Z. der "Entwurf des
Gesetzes zur Änderung des Schulreformgesetzes" vor. Im § 1 (Bildungs- und
Erziehungsauftrag der Schule) sind als Forderungen enthalten, "die Schüler mit Fragen der
Sexualität vertraut zu machen sowie zu gleichberechtigter, sozialer Partnerschaft zu
erziehen". Weiter heißt es: "Bei Erfüllung des Erziehungsauftrages haben die Schulen das
verfassungsmäßige Recht der Eltern auf Erziehung ihrer Kinder zu achten." Für Sachsen liegt
6
per 14. 6. 1993 der erste Entwurf eines "Leitfadens zur Sexualerziehung in den Schulen des
Freistaates Sachsen" vor, der allerdings die ministeriellen Hürden auch noch vor sich hat.
Die neuen Länder haben sich, wie gezeigt, nur teilweise oder zögernd oder überhaupt nicht an
den Beschluß des BVG gehalten, das betrifft ihre Schulgesetze und die noch immer
ausstehenden Richtlinien. Die "vorläufigen Rahmenprogramme" (Lehrpläne für die
verschiedenen Fächer) enthalten dagegen sowohl im Sachunterricht der Grundschule als auch
in den Ziel- und Inhaltsvorgaben des Faches Biologie hoffnungsvoll stimmende Ansätze für
die Sexualerziehung. Es muß gewiß nicht betont werden, daß eine ganzheitliche
Sexualerziehung nicht auf das Fach Biologie beschränkt werden darf, sondern daß die
Behandlung von Sexualität und Partnerschaft ganz wesentlich in Fächer wie Sozial- bzw.
Gemeinschaftskunde, Deutsch, Sport, Musik, Kunsterziehung, Geschichte und Religion
gehört. Hierfür liefern neue Schulbücher aus ostdeutscher Produktion erste Ansätze. /10/
Die praktische Ausgestaltung und Umsetzung diverser Richtlinien hängt natürlich immer vom
Engagement der einzelnen LehrerInnen ab und dem Freiraum, den Schulleitungen und
Lehrerkollegien einerseits, Eltern- und Schülervertretungen andererseits fordern bzw.
zulassen. Insbesondere die Zusammenarbeit mit den Eltern verunsichert ostdeutsche Lehrer
gegenwärtig stark. Mitunter werden den Eltern formale Einwilligungen zur Teilnahme ihrer
Kinder an sexualpädagogischen Maßnahmen abgefordert. Wenn Eltern diese Einwilligung
nicht erteilen, führt das automatisch zur Ausgrenzung einzelner Schüler, auch gegen deren
eigenen Willen. Die Informationspflicht der Schule gegenüber den Eltern gerät so einerseits
zu einer devoten Bitte um Erlaubnis; gleichzeitig wird die Möglichkeit verschenkt, z. B. in
thematischen Elternabenden über die zu behandelnden Inhalte zu informieren, mit den Eltern
über familiäre Sexualerziehung und die Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit der Schule
ins Gespräch zu kommen und die Eltern als "Hauptsozialisationsinstanzen" der sexuellen
Entwicklung ihrer Kinder entsprechend in die Pflicht zu nehmen. So verständlich
Unsicherheiten und Absicherungsbedürfnisse unter der Lehrerschaft auch sind, eine
emanzipatorische Sexualerziehung kann nur gelingen, wenn sie auch emanzipiert
durchgeführt wird.
Die unabdingbare Voraussetzung emanzipierten sexualpädagogischen Handelns in der Schule
ist die Rechtssicherheit für die PraktikerInnen, d. h. die momentan existierende juristische
Grauzone muß schnellstens beseitigt werden. Leider zeigen jedoch alle Erfahrungen in den
alten Bundesländern und im Prozeß der deutschen Einigung, wie häufig gerade
sexualpolitische Entscheidungen zum Spielball parteipolitischer Interessen und Machtspiele
degenerieren. Auf diese Weise erklärt sich das bis Mitte der achtziger Jahre in den alten
7
Bundesländern vonstattengegangene Aufgeben progressiver Positionen, hin zu einem neuen
Konservatismus, einer "neuen Mitte", abhängig von der Stimmenmehrheit in den
Länderparlamenten /11/. Das gravierendste Beispiel der Gegenwart ist das Tauziehen um die
Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs. Bleibt zu hoffen, daß sich, trotz der aus Sicht
der Ostdeutschen anachronistischen Wiedereinführung des § 218 StGB und der damit
verbundenen Maßgaben der Karlsruher Richter, mit der Umsetzung des Schwangeren- und
Familienhilfegesetzes über die Prävention unerwünschter Schwangerschaften hinaus, eine
neue sexualpädagogische Offensive einleiten läßt.
Primärprävention als eine Aufgabe der Sexualerziehung
Wenn wir als generelles Ziel einer ganzheitlich-emanzipatorischen Sexualerziehung die
Befähigung zum selbstbewußten, souveränen, verantwortlichen und lustvollen Umgang mit
der Sexualität und zur Gestaltung glücklicher Partnerschaften bestimmen, so reicht das zur
politischen Legitimation der Sexualpädagogik leider nicht aus. Während zu DDR-Zeiten viele
Jahre ein sozial- und familienpolitischer Auftrag im Vordergrund stand ( die "Vorbereitung
auf Liebe, Ehe, Elternschaft ..."/ 12), legitimiert sich sexualpädagogisches Handeln seit
einigen Jahren zunehmend gesundheitspolitisch-präventiv. Die Gefahr der Einengung
ganzheitlicher sexualpädagogischer Konzepte durch einzelne präventive Absichten liegt auf
der Hand. Diese Einengung muß aber nicht zwangsläufig erfolgen, ja sie würde sogar die
Anliegen selbst in Frage stellen, denn nur durch eine ganzheitliche Sexualpädagogik, die sich
auf die oben erwähnten Globalziele orientiert, läßt sich in den jeweiligen Einzelbereichen eine
wirkungsvolle Prävention erreichen.
1. Aids-Prophylaxe
Die Ständige Konferenz der Kultusminister und -senatoren der Länder hat in ihrer 225.
Plenarsitzung am 17. und 18.Oktober 1985 die Notwendigkeit der AIDS-Prävention in den
Schulen beraten. Die Länder haben daraufhin Runderlasse verabschiedet. Sie betonen darin
die Gültigkeit der in den Richtlinie für die Sexualerziehung festgelegten Grundsätze auch für
die Aufklärung über Aids; die neue Problematik müsse sinnvoll eingeordnet werden, die
Schwerpunkte sollen in den Klassenstufen 9 und 10 liegen /13/.
Wenngleich bedenklich stimmen muß, daß Sexualität, Lust und Liebe nun auch in der
düsteren Verbindung mit Krankheit und Tod daherkommen, so zeichnet sich doch für
SexualpädagogInnen ein Silberstreif am Horizont ab: Das Thema Aids erfordert das
8
Sprechen über Sexualität, das konkrete Eingehen auf Problemkreise, die manche
Bundesländer in ihren Richtlinie ausgeklammert haben, z. B. Sexualpraktiken,
Kondomanwendung, Homosexualität, Sex ohne Bindung, Promiskuität, Prostitution, das
weite Feld der sexuellen Kommunikation und der Ängste und Befürchtungen beim Umgang
mit der Sexualität. Sie gibt den LehrerInnen die Möglichkeit, einige Grundsätze
emanzipatorischer Sexualpädagogik mit neuem Leben zu erfüllen und erweiterte Aktivitäten
auszulösen.
Aids ist zudem ein globales Thema, eine weltweite Bedrohung der Menschheit, so konkret
und so abstrakt wie z. B. das Ozonloch. Aids ist ein kulturelles Problem und nicht nur ein
individuelles, ein soziales und nicht nur ein medizinisches. Das Thema erfordert deshalb auch
die überindividuelle Sicht, über das eigene Sexualverhalten und die Möglichkeiten und
Notwendigkeiten des individuellen Schutzes hinaus. Es erfordert die solidarische Haltung
gegenüber Betroffenen, gegenüber Minderheiten und Randgruppen in unserem Kulturkreis
und ebenso gegenüber den großen bedrohten Bevölkerungsgruppen in der 3. Welt. Das
Thema Aids verknüpft sich hier mit anderen großen Problemen, mit Drogennutzung, mit
sexueller Ausbeutung, mit Armut und sozialem Elend.
2.Verhütung ungewollter Schwangerschaften
Das "Schwangeren- und Familienhilfegesetz" (SFHG) /14/ formuliert im Artikel 1, § 2 das
Recht auf Sexualaufklärung, Verhütung und Familienplanung. Die Bundeszentrale für
gesundheitliche Aufklärung (BZgA) wird beauftragt, "Konzepte zur Sexualaufklärung,
jeweils abgestimmt auf die verschiedenen Alters- und Personengruppen" zu erarbeiten.
Artikel 2 fixiert den Anspruch für "Versicherte bis zum vollendeten 20. Lebensjahr ... auf
Versorgung mit empfängnisverhütenden Mitteln, soweit sie ärztlich verordnet werden". Wenn
mit dem SFHG auch vorrangig die Verhinderung ungewollter Schwangerschaften erstrebt
werden soll (und die Senkung der Abruptioziffern), so eröffnen sich doch für die
Sexualerziehung im weitesten Sinne umfassendere Möglichkeiten, mit den Heranwachsenden
über Sexualität zu reden, ohne sich auf "safer sex" als Mittel der Wahl zur
Infektionsvermeidung einschränken zu müssen. Die Bundeszentrale wird in den nächsten
Jahren zahlreiche Aufklärungsmaterialien bereitstellen, die von den Schulen unentgeltlich
abgefordert werden können /15/.
Keinen Gesetzescharakter haben Verlautbarungen ärztlicher Standesorganisationen, aber sie
regen zu Diskussionen im Kollegium, mit Eltern und SchülerInnen an. So hat der Deutsche
Ärztetag 1991 nicht nur Sexualerziehung von klein auf gefordert, er bietet auch Unterstützung
9
für die Lehrer an, und schließlich empfiehlt er, allen Jugendlichen vom vierzehnten
Lebensjahr an den Anspruch auf eine Jugendvorsorgeuntersuchung zu gewähren, um auch
ohne den von den Eltern abzufordernden Krankenschein einen Arztkontakt und damit Zugang
zu verschreibungspflichtigen Kontrazeptiva zu ermöglichen /16/.
Von Bedeutung für die Kontrazeptionsaufklärung im Rahmen der Sexualpädagogik sind auch
die Empfehlungen der Bundesärztekammer zur Ordination von hormonellen Kontrazeptiva
bei Minderjährigen. Danach ist eine Zustimmung der Eltern nur bei Mädchen unter 14 Jahren
erforderlich. Ab 14 wird die Fähigkeit zur eigenen Entscheidung angenommen. Aber auch bei
Minderjährigen sind die ÄrztInnen an ihre Schweigepflicht gebunden /17/. Mitunter
verweigern Gynäkologen Mädchen dieser Altersgruppe die Pille mit Argumenten, die
endokrinologisch längst widerlegt sind. Manche Ärzte glauben, sie könnten wegen "Beihilfe
zum sexuellen Mißbrauch" oder wegen "Körperverletzung" mit dem Strafgesetz in Konflikt
geraten. Es ist an der Zeit, durch eindeutige und rechtsverbindliche juristische Statements
auch verunsicherten Ärzten mehr Sicherheit zu geben.
Ohne Zweifel ist die Behandlung des Themas Schwangerschaftsabbruch heutzutage
schwieriger als früher. Zu DDR-Zeiten wurde v. a. darauf verwiesen, daß es sich nicht um
eine Methode der Empfängnisregelung und Geburtenplanung handelt, sondern um eine
medizinische Notlösung, die durchaus gesundheitsbeeinträchtigende Folgen mit sich bringen
kann. Im Zuge der Neuformulierung einer gesamtdeutschen Regelung und der
Wiedereinführung des § 218 in Ostdeutschland ist das Thema hochgradig politisiert und
weltanschaulich überfrachtet. Es ist nur verständlich, daß LehrerInnen diesem mit
"Verfassungskonformität", "Loyalität", "Rechtsbewußtsein" verquickten Thema lieber
ausweichen - namentlich dann, wenn sie (wie die überwältigende Mehrheit der Ostdeutschen)
für eine Fristenregelung sind, wie sie in der DDR praktiziert wurde. Zur neuen
"ideologischen" Situation gesellt sich die neue soziale Situation, die zu einem gravierenden
Wandel im Reproduktionsverhalten der Ostdeutschen geführt hat. Isoliert betrachtet könnte
der starke Rückgang der Schwangerschaftsabbrüche (1989 noch ca. 73.000, 1991 nur noch ca.
57.000) für ein angewachsenes Kontrazeptionsbewußtsein stehen. Der Hauptgrund für die
rückläufigen Abbruchzahlen ist aber kein Resultat der öffentlichen Debatten um den
sogenannten vorgeburtlichen Lebensschutz. Gewiß ist die Angst vor ungewollter
Schwangerschaft durch die neue, verfassungsrechtlich begründete prinzipielle Pflicht zum
Austragen von Schwangerschaften angestiegen, und manche werden diese Angst als neues
"Rechtsbewußtsein" deuten. Der Hauptgrund absolut gesunkener Abruptiozahlen liegt aber
aktuell und in näherer Zukunft hier im Osten im Rückgang der Geburten (1989 noch knapp
200.000, 1992 ca. 87.000), daran, daß heutzutage konsequenter "Nein" zum Kind gesagt wird.
10
Insofern sind die selteneren Abbrüche kein Produkt einer neuen Kinderfreundlichkeit, sondern
im Gegenteil einer neuen Kinderfeindlichkeit der Gesellschaft. Im übrigen hat sich die
Abbruchquote, also das Verhältnis von Geburten zu Abbrüchen, früher in Ost wie in West
rund 3 : 1 auf ca. 2 : 1 verschlechtert. D.h., unter den Schwangerschaften, die heutzutage
(seltener) eintreten, sind häufiger unerwünschte, werden mehr als früher abgebrochen. Das
Kontrazeptionsverhalten hält mit dem gewandelten generativen Verhalten nicht Schritt. Das
fordert sexualpädagogische Einflußnahme heraus, die verstärkte Anstrengungen zur
Verhinderung unerwünschter Schwangerschaften - ohne jedoch zu vergessen, daß
100prozentige Kontrazeption unmöglich ist (zumindest zwischen den Extremen
Enthaltsamkeit und Sterilisation). Ebenso klar ist, daß es auch, jenseits sexualpädagogischer
Beeinflußbarkeit, an den gesellschaftlichen Umständen liegt, wieviele ungeplant eintretende
Schwangerschaften zu unerwünschten werden und vorzeitig abgebrochen werden.
Die sexualpädagogische Thematisierung des Schwangerschaftsabbruchs muß sich den neuen
Verunsicherungen der Lebensperspektiven Jugendlicher stellen, deren Ausdruck ein
rückläufiger Kinderwunsch ist, sie muß die Frage "Warum überhaupt noch Kinder?"
beantworten. Sie muß sich auch auseinandersetzen mit der neuen Rigorosität im
Kontrazeptionsverhalten, wie sie durch den drastischen Anstieg der Sterilisationen, vor allem
bei Frauen zum Ausdruck kommt.
3.Prävention sexueller Gewalt
Sexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen und Kindern sind in den letzten Jahren zu
einem erdrückenden Thema öffentlicher Debatten geworden, wobei die tatsächlich erfaßten
Fälle mit kaum nachzuvollziehenden Methoden "hochgerechnet" werden, so daß die
inflationäre Schätzzahl von 300.000 Fällen pro Jahr kursiert. Manche Journalisten versuchen
noch eine Steigerung: ”jede dritte Minute eine Mädchen" oder/ und "jeder vierten Frau
widerfuhr in der Kindheit sexueller Mißbrauch" usw. Inzwischen wird aber auch der
"Mißbrauch des Mißbrauchs" thematisiert, werden die, letztlich in marktwirtschaftlichen
Mechanismen wurzelnden Gründe der hypertrophierten und z.T. hysterischen öffentlichen
Debatte benannt, wird darauf verwiesen, daß "...sexuelle Gewalt gegen Kinder und gar Inzest
in Familien keine alltäglichen Ereignisse sind" /18/ und kein neuer sozialer Notstand. Auch
wenn eine nicht unerhebliche Dunkelziffer in Rechnung zu stellen ist, sollte von realen
Zahlen, d. h. erfaßten Straftaten ausgegangen werden:
In den alten Bundesländern erfaßte Straftaten nach § 176 StGB: 1957: 16.772; 1973: 15.566;
1984: 10.589; 1988: 13.000; 1989: 10.085; (DDR 1989: 1.091 nach § 146 StGB). Nur jeder
fünfte angezeigte Mißbrauch wird vor einer Strafkammer verhandelt, obwohl die
11
Aufklärungsquote bei 60 % liegt; die Hauptverhandlungen finden dann entweder wegen
Mangels an hinreichendem Tatverdacht gar nicht statt oder es erfolgen Freisprüche nach dem
rechtsstaatlichen Grundsatz "in dubio pro reo" (im Zweifelsfall für den Angeklagten).
Natürlich ist das Strafgesetz nicht in der Lage, die Prävention sexuellen Mißbrauchs zu
leisten, auch wenn das diesbezügliche Kapitel des StGB mit "Schutz der sexuellen
Selbstbestimmung" überschrieben ist. Um die sexuelle Ausbeutung von Kindern und andere
Formen der Gewalt gegen sie zu verhindern, bedarf es einer breiten Bewegung verschiedener
gesellschaftlicher Kräfte. Wenngleich man den oben erwähnten Medienkampagnen einige
Skepsis entgegenbringen muß, so haben sie doch in kurzer Zeit auch in Ostdeutschland zu
einer erheblichen Sensibilisierung unter Eltern, LehrerInnen, ÄrztInnen, BeraterInnen
beigetragen und die Sprachlosigkeit auf diesem Gebiet mit abgebaut.
Auf Möglichkeiten zur Prävention sexuellen Mißbrauchs von Kindern und Jugendlichen
durch emanzipatorische Sexualerziehung haben Koch und Bach hingewiesen /19, 20/.
Insbesondere in diesem Bereich gilt es, endlich das Vorurteil vom asexuellen Kind zu
überwinden. Wirkungsvolle Prävention ist nur möglich, wenn von klein auf positive
Einstellungen zum eigenen Körper und positive Körpererfahrungen entwickelt werden und
frühzeitig Wissensvermittlung über Sexualität erfolgt. Die Heranwachsenden sollen
angenehme Gefühle akzeptieren, negative ablehnen, zwischen "guten" und "schlechten"
Geheimnissen unterscheiden lernen; sie sollen in ihrer Entscheidungsfähigkeit gestärkt
werden.
Die im Strafgesetz gegenwärtig fixierten Schutzaltersgrenzen sind keineswegs unumstritten.
Das generelle Schutzalter von 14 Jahren, welches dem § 176 StGB zugrunde liegt, wurde
bereits 1871 (!) im Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich festgeschrieben und ist seitdem
geltendes Recht. In anderen Ländern gibt es andere Schutzaltersgrenzen, sogar in den
europäischen Staaten differieren sie von 12 bis 18 Jahren, mitunter gibt es unterschiedliche
Bestimmungen für hetero- und homosexuelle Handlungen, mitunter sind sie unterschiedlich
für die Geschlechter, in einigen Ländern gibt es keinerlei Grenzen. Generell gilt das
"Tatortprinzip".
Betrachten wir zunächst den § 176 StGB: Zumindest in Bezug auf den "Beischlaf" (als
besonders schwerem Fall sexuellen Mißbrauchs nach dem Gesetzestext) kollidiert das
Strafrecht hier - nach vorliegenden Ergebnissen sexuologischer Studien /21/ - kaum mit dem
realen Leben i.S. einer Strafbedrohung einvernehmlicher sexueller Handlungen. Etwas anders
ist die Situation hinsichtlich des § 182, der Mädchen unter 16 Jahren vor der "Verführung"
12
durch erwachsene Männer schützen soll (und dessen geschlechtsneutrale Neufassung
inzwischen im Zusammenhang mit der Streichung des § 175 aus dem bundesdeutschen StGB
und des § 149 aus dem StGB der DDR beschlossen wurde). Denn die sexuell überwiegend
erfahrenen Erstpartner der Mädchen sind meist deutlich älter. Von den Mädchen mit erstem
Koitus bereits vor dem 16. Geburtstag hatte jede sechste einen über vier Jahre älteren Partner.
Bezogen auf die Gesamtpopulation bedeutet das: etwa 5 % aller koitalen Erstkontakte liegen
im strafgesetzlich relevanten Bereich. Wenn nun in einem novellierten § 182 nicht nur
Verführung zum Geschlechtsverkehr, sondern bereits "sexuelle Handlungen" (also womöglich
bereits Küssen und Petting) zwischen unter 16- und über 18jährigen unter Strafe gestellt
werden, vergrößert sich die Schere zwischen Gesetz und Realität weiter.
Zwar stimmt, daß Mädchen mit früher Kohabitarche häufiger zum Geschlechtsverkehr
gezwungen wurden (17 % der beim ersten Geschlechtsverkehr 14jährigen, 6 % der
15jährigen, 3 % der 16- und 17jährigen), und diese Fälle sollten auch strafrechtlich verfolgbar
sein, und zwar unabhängig vom Alter des Mädchens. Andererseits findet die große Mehrheit
der Sexualkontakte auch bereits im frühen Alter und bei deutlich älterem Erstpartner
einvernehmlich statt, und in diese Liebesbeziehungen sollte sich kein Strafrecht einmischen.
So nötig es für Sexualpädagogen ist, über die gesetzlichen Bestimmungen zu informieren
(über den damit verbundenen Schutz und ebenso die Kriminalisierungsgefahr), bleibt doch als
die wichtigere Aufgabe die Vermittlung der Erkenntnis, daß die Aufnahme partnerschaftlicher
Sexualaktivitäten nicht vom Lebensalter, sondern von der Qualität der Beziehung, vom
beiderseitigen Wollen und von sicherer Empfängnisverhütung abhängen sollte. Einer
"Verführung" sind normal entwickelte Jugendliche nicht willenlos ausgesetzt. Wenn nicht aus
den unterschiedlichsten Motiven eine gewisse Bereitschaft zum sexuellen Erlebnis erwächst,
bleibt die Verlockung zu einem bloßen Abenteuer im allgemeinen wirkungslos. Im
gegenseitigen Einvernehmen vorgenommene sexuelle Handlungen sind "Straftaten ohne
Opfer". Anknüpfend an sexualrechtliche Fragen stellt sich das Thema typischer
"Verführungssituationen" und des Kinder- und Jugendschutzes auch im generellen Sinne.
Ein besonders heikles Kapitel in der Sexualpädagogik ist der Umgang mit Pornographie.
Besorgte Eltern, aber auch LehrerInnen befürchten psychische Schäden, das Abstumpfen der
Gefühle, die Verfrühung sexueller Erfahrungen und die Induktion sexueller Gewaltakte durch
Konfrontation Jugendlicher mit Pornographie. Der Gesetzgeber spricht allgemein von
"sittlicher Gefährdung". Die Sexualwissenschaften haben für die prinzipielle Gefährlichkeit
keine konkreten Belege erbracht, es handelt sich also wiederum um eine abstrakte
Schadensvermutung. Bekannt ist, daß die Wirkung von Medien von der psychischen Struktur
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der Konsumenten abhängt; bei den Jugendlichen ist sie noch ungefestigt. Deshalb muß mit
den Heranwachsenden über Pornographie gesprochen werden, über ihre Empfindungen; die
falschen und verlogenen Botschaften müssen hinterfragt werden, die vorgegaukelte Realität,
die Reduzierung des Partnerverhaltens auf Genitalität und Technik, der phallische
Leistungskult, die Erniedrigung der Frau zum Sexualobjekt, die kommerziellen Hintergründe.
Ebenfalls sollte jedoch deutlich ausgesprochen werden, daß sexuelle Erregung etwas Positives
ist, daß verschiedene Sexualpraktiken verschieden lustvoll empfunden werden und ihre
Erprobung in freier Entscheidung stets beider Partner zu treffen ist, daß es sexuelle Erlebnisse
nicht nur in Dauerbeziehungen gibt.
Ein spezielles Problemfeld im Umgang mit Pornographie ist die Auslegung des sogenannten
"Erzieherprivilegs" im § 184 Abs. 4 StGB. Danach sind die Strafvorschriften für das
Zugänglichmachen pornographischen Materials nicht anzuwenden, "wenn der zur Sorge für
die Person Berechtigte handelt". Ob nur die Eltern oder auch die LehrerInnen und
ErzieherInnen zu diesem Personenkreis gehören, ist in der Rechtsprechung immer noch nicht
entschieden /22/. Das Einverständnis der Eltern erweitert zwar deren Freiraum, aber ein
gewisses Maß an Risikobereitschaft nehmen die PädagogInnen immer auf sich, wenn sie
konkretes Material vorstellen und diskutieren lassen. In der sexualpädagogischen Literatur
fehlt es bislang noch an Erfahrungsberichten zu diesem Thema. Hinweise und Vorschläge zur
Arbeit mit Pornographie gibt es aus der PädagogInnen-Fortbildung/23/.
Ansätze einer integrativen Sexualpädagogik
Trotz aller legitimatorischen Zwänge muß eine wirkungsvolle Sexualpädagogik
notwendigerweise integrativ sein, sowohl in inhaltlich-konzeptioneller Hinsicht wie in
bezug auf institutionelle Zusammenarbeit.
Inhaltlich-konzeptionell kommt es darauf an, einen ganzheitlichen Ansatz umzusetzen, d. h.,
die Konzentration auf biologisch-medizinische und ethische Themen i. S. einer Gesundheitsund Moralerziehung aufzuweiten, sich kulturellen, historischen, soziologischen,
psychologischen und juristischen Fragen zuzuwenden. Im Rahmen der Schule heißt das,
fächerübergreifend zu arbeiten. Eine so angelegte Sexualpädagogik geht über das traditionelle
Anliegen sexueller Aufklärung mit speziellen präventiven Absichten weit hinaus. Ein
Hauptproblem gegenwärtiger Erziehungsstrategien bleibt die Überbetonung der Vorbereitung
auf Künftiges (auf Sexualität jenseits der Pubertät, auf Ehe und Familie) und infolgedessen
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die nur sehr zögerliche Hinwendung zur Lust- und Beziehungsfunktion der menschlichen
Sexualität und Erotik.
Andererseits kann die gesellschaftlich organisierte Aufklärung und Erziehung mit ihrer
(insbesondere in der Schule) zwangsläufig dominanten Wissens- und Wertevermittlung
hinsichtlich der Ausbildung sexuell-erotischer Erlebnis- und Handlungsfähigkeit ohnehin nur
begrenzt wirksam werden. Die intellektuell-kommunikative Vermittlung muß stärker durch
erlebnisorientierte, emotionale und unmittelbarer handlungswirksame Aneignungsprozesse
untersetzt werden. Dazu bedarf es der Zusammenarbeit zwischen staatlichen Einrichtungen
(Kindergarten, Schule) und Elternhäusern, den nichtstaatlichen Anbietern von
Sexualpädagogik, den Medien, den Kinder- und Jugendorganisationen. Die wichtigsten
Erziehungs- und Sozialisationsinstanzen in bezug auf die sexuelle und partnerschaftliche
Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sind ohne Zweifel die Eltern, wenn wir davon
ausgehen, daß Sexualerziehung von früher Kindheit an vor allem der praktische Umgang
miteinander ist. Die emotionale Eltern-Kind-Beziehung ist Grundlage für die Wirksamkeit
aller anderen Erziehungskomponenten. Jedes Kind sucht die Zärtlichkeit der Erwachsenen
und muß sie ausreichend erhalten, um später selbst in der Lage zu sein, tiefe emotionalerotische Partnerbindungen zu entwickeln. Die elterliche Partnerschaft wirkt als Modell. Der
familiäre Umgang mit Nacktheit und Körperhygiene wirkt auf die Einstellung des Kindes
gegenüber dem eigenen Körper und der Nacktheit insgesamt. Auch im Jugendalter bleiben
die Eltern (überwiegend die Mütter) die engsten Vertrauten und Ratgeber bei Problemen im
sich entwickelnden partnerschaftlichen und soziosexuellen Verhalten ihrer Kinder, auch wenn
die Bedeutung anderer Instanzen (der peers und der Medien) zunimmt.
Defizite familiärer Sexualerziehung, der Mangel an Zärtlichkeit, Vernachlässigung, Strenge
und Überbesorgtheit, verklemmter Umgang mit Körperlichkeit und Nacktheit lassen sich
durch andere Institutionen kaum vollständig kompensieren. Deshalb ist es so wichtig, mit den
Eltern frühzeitig und dauerhaft zusammenzuarbeiten. Vorn wurde bereits darauf hingewiesen,
inwieweit die Schule (oder auch andere Anbieter von Sexualpädagogik) ihre
Informationspflicht gegenüber den Eltern zu einer inhaltlichen Zusammenarbeit gestalten
können. Besondere Potenzen haben sexualpädagogische Angebote durch Beratungsstellen
(z.B. der Pro Familia oder der Aids-Hilfe), da sich hier Prävention mit Intervention
(individueller Hilfe und Beratung) verknüpfen läßt. Auch die differenzierte und
zielgruppenbezogene Arbeit mit Mädchen und Jungen, Ausländern, jungen Schwulen und
Lesben wird hier möglich.
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Die Zeit ist reif, traditionelle Vorstellungen von Sexualerziehung zu überdenken und ein, dem
sexualwissenschaftlichen und pädagogisch-psychologischen Forschungsstand entsprechendes
Gesamtkonzept für die Sexualpädagogik als Wissenschaftszweig und für die praktisch
anzuwendende Sexualerziehung vom Säuglingsalter bis zur Erwachsenenbildung zu
entwickeln. Dieses Konzept muß sich den jeweils aktuellen gesellschaftlichen (Präventions-)
Forderungen stellen, ohne sich durch sie beschränken zu lassen. In ihm sollte die "Erziehung
der Erzieher" ein Grundbaustein sein.
Auf die immer und immer wieder aufgeworfenen zweifelnden Frage, ob es denn nichts
wichtigeres gäbe als Sexualerziehung, muß immer wieder geantwortet werden: Nein, es gibt
nichts wichtigeres. Ob alle Kinder und Jugendliche in ihrem Leben den Satz des Pythagoras
oder die Regeln der Kommasetzung beim "Infinitiv mit zu" benötigen, ist zu bezweifeln.
Ausreichendes Wissen über Sexualität benötigen sie aber alle, als Grundlage eines
glücklichen Lebens, zu dem sexuelle Erfüllung und Partnerschaft nun einmal gehören.
Literatur:
1/ Brüggemann, O. In: Westfälische Rundschau vom 2.7.1967
2/ Süddeutsche Zeitung vom 19.6.1967
3/ Zubke, F.: KMK-Empfehlungen. In: Koch, F. u. Lutzmann, K. (Hsg): Stichwörter zur
Sexualerziehung. Weinheim und Basel 1985, S. 6
4/ Haibl, E.: Erfahrungsbericht zur freiwilligen Geschlechtserziehung. In: Unterricht Biologie
1986, Heft 119, S. 49
5/ Knopf, M. und Lange, C.: Jugendsexualität im Wandel? In: Sexualmedizin (21) 1992, Heft
11, S. 438 - 444; siehe auch: Schmidt-Tannwald, I. und Urdze, A.: Sexualität und
Kontrazeption aus der Sicht der Jugendlichen und ihrer Eltern. Stuttgart 1983;
Weller, K.: Zur sexuellen Entwicklung im Kindes- und Jugendalter. In: Bach, K. R., Stumpe,
H. und Weller, K. (Hrsg): Kindheit und Sexualität. Braunschweig 1993; Bach, K. R.:
Erkenntnisse über den Herausbildungsprozeß der sexuellen Orientierungen bei Jugendlichen.
In: Pädagogik (Berlin) 45, 1990, S. 411 - 419.
6/ Richtlinien für die Sexualerziehung in den Schulen des Landes Nordrhein-Westfalen.
Düsseldorf 1975. S. 7/ 8
7/ ebendort, S. 9/ 10
8/ Bach, K. R.: Die Sexualitäten des Menschen im Biologieunterricht. In: Biologie Schule
(40) 1991 5, S. 177 - 181
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9/ Skaumal, U.: Richtlinien der Sexualerziehung. Kiel 1986
10/ Zu verweisen ist auf ein Lehrbuch der Gemeinschafts- bzw. Sozialkunde für die
Sekundarstufe 1 (Klassenstufen 7 und 8 in fünf speziellen Ausgaben für die ostdeutschen
Bundesländer): Politik und Gesellschaft. Hrsgg. von Karl-Heinz Gehlhaar. Leipzig (Militzke
Verlag) 1993. Der in diesem Buch enthaltene Abschnitt "Ich und mein Partner." (Verfasser:
K. Weller) zeigt eine konkrete Möglichkeit ganzheitlichen sexualpädagogischen Herangehens
mit Bezug auf andere Fächer.
11/ Glück, G.: Sexualpädagogik und Sexualerziehung in der BRD. In: Bach/Stumpe/Weller
a.a.o. Glück, G., Scholten, A. und Strötges, G.: Heiße Eisen in der Sexualerziehung. Wo sie
stecken und wie man sie anfaßt. Weinheim 1990
12/ Bach, K. R.: Dokumentation über Beschlüsse, Gesetze, Anordnungen, Lehrpläne und
andere Materialien zur Sexualerziehung als Vorbereitung auf Liebe, Ehe und Familie in der
DDR. In : Informationen des wissenschaftlichen Beirates "Die Frau in der sozialistischen
Gesellschaft". Berlin 1979, Heft 4, S. 25 - 49; ders.: Sexualpädagogik und Sexualerziehung in
der DDR. In: Bach/ Stumpe/ Weller a.a.o.
13/ Etschenberg, K.: AIDS-Prävention im Biologieunterricht - einheitliche Ziele, notwendige
Differenzierung. In: Biol. Schule (40) 1991 2/3, S. 72 - 75; Bach, K. R.: AIDS und HIVInfektion im vereinten Deutschland. In: Biol. Schule (40) 1991, S. 487 - 491; Koch, F.
(Hrsg.): Sexualerziehung und AIDS. Hamburg 1992; Bach, K. R.: Homosexualität Antihomosexualität - AIDS und Schule. In: Pädagogik (Berlin) 45, 1990, S. 233 - 238
14/ Schwangeren- und Familienhilfegesetz, gültig ab 5.8.1992. In: BGBl. 37/1992
15/ Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Ostmerheimer Str. 200, W-5000 Köln 91.
Materialien können ebenfalls von der Deutschen AIDS-Hilfe bezogen werden: Nestorstr. 8 9, W-100 Berlin 31
16/ Bach, K. R.: Deutscher Ärztetag 1991. In: Biol. Schule (41) 1992, 6, S. 31 und: Zur
Problematik des Schwangerschaftsabbruchs in der BRD. In: Biol. Schule (40) 1991, 10, S.
388 - 393
17/ Weller, K. und Ahrendt, H.-J.: Teenager und Pille. In: Bach/Stumpe/Weller a.a.o.
18/ Rutschky, K.: Erregte Aufklärung. Kindesmißbrauch: Fakten & Fiktionen. Hamburg
1992; siehe auch Baurmann, M. C.: Sexualität, Gewalt und die Folgen für das Opfer.
Wiesbaden 1985 (Berichte des Kriminalistischen Instituts des Bundeskriminalamtes, 1. Aufl.
1983)
19/ Koch, F.: Brauchen wir eine neue Sexualerziehung? In: Koch, F. (Hrsg): AIDS und
Sexualerziehung. Hamburg 1992; siehe auch: Valtl, K.: Sexualpädagogik - so wichtig wie nie
zuvor? In: pro familia magazin 6/1992, S. 27 - 29
20/ Koch, F.: Sexueller Mißbrauch von Kindern und Jugendlichen. Die Bedeutung der
Sexualerziehung im Rahmen der Prävention. In: Bach, K. R., Stumpe, H., Weller, K. a.a.o.
17
Kindheit und Sexualität; Bach, K. R.: Sexueller Mißbrauch von Kindern. ebendort, S. 112 129; Braun, G.: Ich sag Nein. Mühlheim 1989
21) Weller, K.: Zur sexuellen Entwicklung im Kindes- und Jugendalter. In: Bach/
Stumpe/Weller a.a.o.
22/ Sielert, U. und Marburger, H.: Sexualpädagogik in der Jugendhilfe. Neuwied 1990, S. 99
23/ Sielert, U.: Sexualpädagogik. Konzeptionen und didaktische Hilfen für die Aus- und
Fortbildung von Multiplikatoren. Dortmund 1991. S. 183
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