Kritiken zu Michael Thalheimers Inszenierung der "Emilia Galotti

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Kritiken zu Michael Thalheimers Inszenierung der "Emilia Galotti"
von G.E. Lessing am Deutschen Theater Berlin, gezeigt bei den 27.
Duisburger Akzenten (SS2003)
Obsession der Kürze
Michael Thalheimers preisgekrönte „Emilia Galotti“ bei den Duisburger
Akzenten (Annette Graefe)
Was passiert, wenn Liebe zur Obsession wird? Was passiert, wenn man
Liebe erzwingen will und deshalb versucht in das Schicksal einzugreifen?
Was passiert, wenn man die Versuchung spürt und ihr nicht erliegen will?
Kann es nicht nur in einer Tragödie enden?
Dass die bevorsteht, ist in der Aufführung des Deutschen Theater Berlin in
jedem Moment zu spüren. Konsequent steuern die Figuren in dieser
Inszenierung von Lessings „Emilia Galotti“ dem tragischen Ende entgegen.
Regisseur Michael Thalheimer lässt Zeit für Gesten und nimmt sich keine
für die Sprache. Die Bewegungen der Schauspieler sind überdeutlich,
nehmen vorweg und sagen oft mehr, als Sprache es hätte tun können. Die
wie aus Maschinenpistolen abgefeuerten Sätze zeigen zwar die
Zeitknappheit, die laut Thalheimer das entscheidende Handlungsmotiv ist.
Aber sie machen es auch schwer, den Worten zu folgen – besonders für
älteres Publikum.
Lessings Text tritt – drastisch gekürzt – in den Hintergrund. Stattdessen
stehen moderne Beziehungsprobleme und Berührungsängste im
Vordergrund. Wie auf einem Laufsteg schreiten die Beteiligten über das
edle Parkett (Olaf Altmann). Die Wände werden im Laufe der
Inszenierung, die den Nestroy-Preis 2002 erhielt, zu Klapptüren, die sich
aber nicht für jeden öffnen, der hinein will. So irrt Nina Hoss als Gräfin
Orsina von Tür zu Tür, um zu dem geliebten Prinzen (Sven Lehmann) zu
gelangen. Aber keine öffnet sich. Wunderbar gespielt und inszeniert wird
die Verzweiflung und Hilflosigkeit, die am ungewollten Ende einer
Beziehung steht, greifbar.
Die Stärke dieser Inszenierung, im Mai dieses Jahres zu sehen bei den
Duisburger Akzenten, ist die Musik, gestaltet von Bernd Wrede. Basierend
auf der Filmmusik „Yumei’s Theme“ von Shigeru Umbebayashi („In the
mood for love“) leitet sie durch die Inszenierung. Tragisch-schön schafft
die Musik eine Atmosphäre, die starke Emotionen hervorruft, aufwühlt,
dem Stück Größe verleiht. Sie steht im Kontrast zu der beiläufigen Art und
Weise, in der sich die Handlung vollzieht.
Ja, da wird zwar schon geschrieen und geschlagen, geküsst und auf Knien
gekrochen, aber alles wirkt provokant gleichgültig. Genau das soll Theater
laut Thalheimer tun: den Zuschauer provozieren. Wenn er Ingo Hülsmann
als Marinelli im Gespräch mit der Gräfin Orsina lange nichts außer
langgezogener „Mmh’s“ und „Ähhs“ sagen lässt, provoziert das auf der
einen Seite viele Lacher, auf der anderen Seite löst es Empörung aus.
Es ist eben nicht die vertraute Emilia aus Lessings altbekanntem Text, die
da auf der Bühne steht: In ihrer Sprache und in ihren Gesten wirkt Regina
Zimmermann in der Titelrolle manchmal schon so entrückt, als ob sie das
alles gar nichts mehr angehen würde. Deshalb kann sie auch nur auf eine
andere Art und Weise als die Lessing´sche sterben. Sanft umfasst die
umherirrende, weiß-strahlende Emilia der Tod: schwarz-bekleidete
Walzertänzer nehmen sie in ihre Mitte, tragen sie fort. Wunderschöne
Bilder wie dieses oder wenn Emilia zu Beginn des Stückes im Feuerregen
steht, sind es, die diese Aufführung zu etwas Besonderem machen.
Provokantes Tempo in Sprache und Handlung
Thalheimers Inszenierung der „Emilia Galotti“ gastierte bei den
„Duisburger Akzenten“ (Verena Meis)
Als das Stück beginnt, ist schon fast alles zu spät: Unterdrückte Gefühle,
gefangen im eigenen Körper, kein Ausweg aus dem Raum, scheinbare
Verlorenheit. Gedanken werden verschwiegen, Gefühle nicht ausgelebt,
Berührungsängste werden zur Qual. Leere: Man schaut auf eine kahle,
trichterförmige Bühne (Olaf Altmann), die ihr Ende in einem schwarzen
bedrohlichen Loch findet. Quälend laut ertönt die Violinenmelodie (Bert
Wrede) nach der Filmmusik aus „In the mood for love“, während eine
junge Frau mit festem und entschlossenem Schritt die flammenzüngelnde
Bühne überschreitet. Plötzlich regnet ein Feuerwerk auf sie herab.
So der Anfang des Lessing´schen Trauerspiels „Emilia Galotti“, inszeniert
von Michael Thalheimer, das seine Premiere am 27. September 2001 am
Deutschen Theater Berlin feierte und Ende Mai 2003 im Rahmen der 27.
Duisburger Akzente „Ichs“ gezeigt wurde.
Der Prinz Hettore Gonzaga vergisst im Angesicht Emilias seine Beziehung
zur Gräfin Orsina. Und Emilia, die in zwei Stunden einen anderen heiraten
will, wird von der Furcht vor ihrer eigenen Verführbarkeit heimgesucht. In
Thalheimers Inszenierung bekommt Emilia noch eine Chance. Er zeigt
nicht das Lessing´sche Ende, in dem sie vom Vater in Liebe getötet wird.
Bei Thalheimer bleibt sie allein zurück, den Revolver am Lauf anpackend:
Eine starke, heutige Frau, die mit Hilfe von walzertanzenden Paaren
spurlos verschwindet.
Jede Figur scheint allzeit bereit, ihr Bekenntnis als komprimierten Text
maschinengewehrschnell heraus zu schleudern oder durch gewaltsam
ausbrechende Gesten radikal zum Ausdruck zu bringen. Emilia, deren
Stimme etwas Beschwörendes an sich hat, spricht geradezu in
Zeitlupentempo: Herausragend Regine Zimmermann, die es versteht, dem
Zuschauer Verzweiflung und Zwiespalt durch ihre (Körper-)Sprache
spüren zu lassen. Der Prinz von Guastalla (Sven Lehmann), ein
stolperndes Nervenbündel, und Ingo Hülsmann, sein teuflisch
wahnsinniger Kammerherr (Bravorufe des Publikums), beraten sich in
einem zungenbrechenden Affentempo. Der Gefühlsausdruck der Figuren
erfolgt über Körper, Raum und Musik. Wozu auch Worte? „So viel Worte,
so viel Lügen!“, erkennt die abgelegte Geliebte des Prinzen, Gräfin Orsina,
gespielt von Nina Hoss: Stumm und schön, klug und statuenhaft, aus der
Gefühl und Lust mit Gewalt heraussprühen, und die am Ende mit
kräftigem Applaus und Bravorufen belohnt wurde.
Es zeigen sich traumhafte Szenen, in denen sich die Figuren, scheinbar
verloren im kahlen Raum, die Arme entgegenstrecken und sich doch nicht
erreichen: „Tausch der Tränen“ und ein einziger leidenschaftlicher Kuss als
Berührungen.
Thalheimer gelingt es hervorragend, den explosiven Gefühlsumschwung
von Glück in Unglück, Vernunft in Wahnsinn und Hoffnung in Verzweiflung
in Szene zu setzen. Seine minimalistische Aufführung, radikal kurze 70
Minuten dauert sie, verliert nichts von ihrem Sog und ihrer Stärke,
Zeitzwang und –drang werden zum Handlungsmotiv. Beziehungskonflikte
stehen im Mittelpunkt: Bilder der Stille, Sprachausbrüche, eisige
Entfernung und scheinbare Nähe – „Ichs“, nicht „Wir“.
Lessing mal anders
Thalheimers eigenwillige Inszenierung der „Emilia Galotti“
(Maike Rose)
Ein Bühnenbild wie ein perspektivisch verzerrtes Gemälde. Durch den
Fluchtpunkt betritt Emilia Galotti die Bühne, begleitet von zwei kleinen
Flammen, die sich mit ihr bewegen. Mechanisch geht sie entlang der
mittleren Linie zum anderen Ende der Bühne auf das Publikum zu,
verharrt dort wie erstarrt. Genauso streng ist sie auch gekleidet: ein
Etuikleid mit klarem Schnitt. Im Hintergrund läuft klassische Violine im
Dreivierteltakt. Der Prinz, eindringlich verkörpert durch Sven Lehmann,
taucht auf. Er und Emilia laufen auf und ab, bewegen sich auf zwei
parallelen Linien, alles mechanisch.
Der Konflikt dieser beider Figuren bildet den Hintergrund für alle
Handlungen: Mit allen Mitteln will der Prinz die Hochzeit seiner geliebten
Emilia mit dem Grafen Appiani verhindern. Den Auftrag bekommt sein
Kammerdiener Marinelli, durch den der Graf schließlich sterben muss. Das
Trauerspiel nimmt seinen Lauf.
Eigentlich geht es ja nur um Liebe. Doch auch um Gesellschaft - und in
dieser Gesellschaft ist die Liebe zum Scheitern verurteilt. Heraus sticht
besonders Ingo Hülsmann als Marinelli, der sich als Schlüsselfigur
zwischen Intrige und Tragödie bewegt und sämtliche Facetten eines
menschlichen Charakters zeigt.
Die Protagonisten verstricken sich tiefer und tiefer in ihr unglückliches
Schicksal. Immer wieder versuchen sie sich gegenseitig zu berühren, aber
wie gleichpolige Magneten schaffen sie es nicht. So kommen die meisten
auf den strengen Fluchtlinien der von Olaf Altmann sehr passend
entworfenen Bühne, wie im Leben, auch vermehrt ins Trudeln und
Stolpern.
„Ich habe zu früh Tag gemacht, der Morgen war so schön!“ Ein markanter
Satz gleich zu Anfang, welcher noch öfter fallen soll. Der Zuschauer kann
sich glücklich schätzen, diesen prägnanten Satz am Anfang klar und
deutlich vernommen zu haben, und freut sich, ihn später immer wieder zu
erkennen, denn der größte Teil der Dialoge bleibt dem Lessing-Amateur
vollkommen unverständlich. So konsequent karg und streng, fast
mathematisch, Thalheimer seine Schauspieler und das Bühnenbild
erscheinen lässt (es gibt nur zwei Requisiten), so kategorisch rasant
sausen dem Zuschauer die Dialoge um die Ohren, beziehungsweise an
ihnen vorbei.
Kaum zu erwarten, dass diese Inszenierung klassisch nach Lessing endet:
Der verzweifelte Odoardo, gespielt von Peter Pagel, muss seine Tochter
Emilia (Regine Zimmermann) nicht wie in Lessings Originalvorlage töten,
aus seiner Pistole löst sich kein Schuss. Vielmehr tauchen plötzlich von
beiden Seiten aus unzähligen Türen in Trauer gekleidete Tänzer auf, die
den klassischen Walzer nach der ständig wiederkehrenden Melodie dieses
Stücks in Formation tanzen. Ein symbolischer Tod nicht nur eines Opfers
der Gesellschaft. Paradox, dass es ein Privileg war, sich einen solchen
Reim machen zu können – denn Textkenntnis wurde in dieser
tiefgehenden Inszenierung vorausgesetzt!
Gefesselte Gefühle
Michael Thalheimer überrascht mit einer ungewöhnlichen Inszenierung des
Lessing-Klassikers „Emilia Galotti“. (Nadine Szymanski)
Noch nie solch einen schauerlichen Kuss gesehen. Leidenschaftlich,
begehrend, verschlingend. Wie ein blutrünstiger Vampir hängt sie an
seinen hilflosen Lippen, bis er kraftlos zu Boden sinkt.
Unter der Regie von Michael Thalheimer wird Lessings bekanntes
bürgerliches Trauerspiel „Emilia Galotti“ wieder ganz aktuell. Im Rahmen
der 27. Duisburger Akzente zeigte Thalheimer mit seiner Inszenierung,
uraufgeführt am 27. September 2001 am Deutschen Theater in Berlin,
eine radikale Reduktion des Lessing-Dramas auf der Bühne des Theaters
der Stadt Duisburg.
Wie im Zeitraffer wird der Zuschauer durch das tragische Geschehen
geschleudert. Schnell, hastig und monoton reißen die Darsteller ihre Texte
herunter, Schlag auf Schlag fallen die Worte. Ohne Ausdruck, wird nur so
viel gesprochen wie nötig, um den Zuschauer beim roten Faden der
Handlung zu halten. Thalheimer geht es um etwas anderes. Lange Pausen
sind mit Musik gefüllt, mit sehr emotionalen Klängen, die in eindringlicher
Lautstärke bis in die obersten Ränge der Tribünen schallen. Oder es ist
ganz still. Oder jemand schreit.
Was bleibt, ist die Sprache des Körpers. Nichts wird so eindringlich vor
Augen geführt wie die lodernde Leidenschaft, vom Geist gefesselt. So viel
Gefühl steckt in einzelnen Gesten. Des Prinzen (Sven Lehmann), wenn er,
sich nach Emilien (Regine Zimmermann) verzehrend, sehnsuchtsvoll die
Arme nach ihr ausstreckt und es nicht wagt, sie zu fassen. Der schönen
Emilia, die sich immer wieder von ihm abwendet und es nicht wagt, sich
ihm zuzuwenden. Ihres Verlobten, Graf Appiani (Henning Vogt), der sie
zärtlich umstreicht und es nicht wagt, ihren Körper zu berühren. Und von
Emilias Eltern Odoardo (Peter Pagel) und Claudia (Katrin Klein), die sich
weder zur Begrüßung noch zum Abschied in die Arme nehmen können.
Immer ist diese Sehnsucht da nach der Nähe des anderen und dieses
Begehren nach einer Berührung, zu der es nicht kommt.
Die Fesseln fallen, wenn sie alleine sind. In körperlichen Ausbrüchen wird
den unterdrückten Gefühlen freien Lauf gelassen, wahnsinnige
Verrenkungen und wilde Schreie fahren durch die Leiber. Und sind sie
doch einmal versehentlich mit ihren Fingern über fremde Haut gestrichen,
durchfährt es sie wie ein Blitz. Erschrocken weichen sie zurück und
vergelten es ihrem Körper mit strafenden Schlägen. In solchen Szenen
glänzt besonders Ingo Hülsmann in seiner facettenreichen Rolle als
Marinelli, der die Fäden in der Hand hält und als Ratgeber des Prinzen das
Schicksal spinnt. Er kann giftig wirken wie eine Schlange, hämisch wie ein
Teufel oder unschuldig wie ein Lamm.
So verschlossen wie die Seelen bleiben die Türen auf der Bühne.
Holzvertäfelt sind die Wände seitlich des tiefen Raumes, der nur düster
beleuchtet ist. Ebenso farblos sind die Figuren gekleidet, deren Mode aber
offensichtlich nicht aus dem 18. Jahrhundert stammt, sondern durchaus in
der heutigen Zeit getragen werden kann. Nicht von gestern ist schließlich
auch die Thematik, die in der Aufführung so stark zur Geltung kommt. Wie
der Prinz in freudiger Erwartung seiner Angebeteten rastlos hin- und
herstreicht, sich nervös auf die blutleeren Wangen klatscht - das alles
erinnert an ein Date, wenn die Erwartete plötzlich an der Türe schellt.
Nichts anmerken lassen. Gefühle zeigen macht verletzlich. Doch Körper
und Geist sind untrennbar miteinander verbunden. Die Botschaft mag so
lauten, wie Emilia es verzweifelt aus sich herausschreit: „Ich bin aus
Fleisch und Blut, auch meine Sinne sind Sinne!“
Wohl deshalb fällt Thalheimers Schluss des Dramas so ganz anders als bei
Lessing aus. Dramatisch eingeleitet durch eine Schlüsselszene mit Gräfin
Orsina (Nina Hoss) und Emilias Vater. Odoardo, der grundanständige
Familienvater, der sich um nichts als seine Ehre schert, trifft auf die
verruchte Orsina, die verflossene Geliebte des Prinzen. Nach ihrem Kuss –
mit dessen Inbrunst sie zuvor schon Marinelli zu Boden brachte - hat er
verloren. Hierdurch erfährt die Inszenierung eine logische Änderung
gegenüber der Ursprungsfassung, denn Emilia wird nicht von ihrem Vater
umgebracht, der seine Ehre durch sein Todesurteil über die lasterhafte
Tochter nicht mehr hätte retten können. „Eine Rose gebrochen, ehe der
Sturm sie entblättert“ heißt es bei Lessing. Emilia bleibt aber am Leben.
Auf der Bühne steht ein Korb voller blühender Rosen. Ein Omen für eine
Zukunft, die Lessing für seine Emilia nicht vorgesehen hatte. Und die
Türen stehen jetzt alle offen.
Entweder ist nichts verloren oder alles
Überzeugende Thalheimer-Inszenierung trotz Verlust der Struktur
(Silke Cinja Vierling)
Binnen kürzester Zeit verkehrt sich auf fatale Weise Vernunft in Wahnsinn
– kaltblütig lässt der Prinz von Guastalla seine Geliebte, Gräfin Orsina,
fallen, als er Emilia Galotti begegnet. Zu seinem Bedauern muss er
feststellen, dass diese noch am selben Tag den Grafen Appiani heiraten
soll. Der Versuch des Kammerherren Marinelli, dies zu verhindern, endet –
zumindest bei Lessing – mit einem Mord.
Am 27. September 2001 feierte Michael Thalheimers Inszenierung der
„Emilia Galotti“ am Deutschen Theater in Berlin Premiere, im Mai diesen
Jahres war das Stück im Rahmen der 27. Duisburger Akzente wieder zu
sehen.
Unter der Regie von Michael Thalheimer entsteht eine faszinierend
zeitübergreifende Inszenierung des Trauerspiels. Zeitknappheit scheint
das entscheidende Handlungsmotiv zu sein, an dem die Figuren
nacheinander scheitern.
Emilia“ als braves bürgerliches Mädchen an der Besessenheit des
zugrundegehenden Die entstehende Kluft zwischen Wort und Tat versucht
der Regisseur durch ausdrucksstarke Körperbewegungen und eine sich
fast überschlagenden Sprache darzustellen. So scheinen der Prinz,
dargestellt von Sven Lehmann, und Emilia bei ihrer ersten Begegnung
durch eine Art Magnetismus voneinander angezogen zu werden. Ihr
Körperfluss wird gebremst, während die Arme durch die Anziehungskraft
nachgeben. Aus dem Lautsprecher ertönt, mit kleinen Variationen, ein
gediegener Walzertakt in Endlosschleife. Im Sog der entstandenen Gefühle
wird das Publikum in eine von Dynamik gesprägten Leidenschaft
hineingezogen.
Die Absichten des Prinzen herzlos finden? Das scheint unmöglich.
Herausgerissen aus diesem Bann wird man spätestens als Emilia ihre
Schuld gegenüber ihrem Vater eingesteht: “Auch meine Sinne sind Sinne.
Ich stehe für nichts.“ Auch die nach strikten Anweisungen, fast
roboterartigen Bewegungen stehen dem Geschehen destruktiv gegenüber:
Die Männer reißen sich regelmäßig die Klamotten vom Leib, während sie
den Text runterrasseln, der bei der Radikalkürzung von 210 Minuten auf
knapp 70 übrig geblieben ist. Dennoch gelingt es den Schauspielern die
mangelnde Leidenschaft wirkungsvoll in Szene zu setzen.
Nina Hoss schafft es aus der Gräfin Orsina eine überzeugende Leidende zu
machen, die sich zwar nicht traut die Pistole abzufeuern, die sie an ihre
Schläfe hält, es aber versteht sich an Marinelli, interpretiert von Ingo
Hülsmann, heranzumachen. Trotz der verloren gegangenen Struktur
Lessings, bleibt Thalheimers Inszenierung sehr überzeugend, seine
Handlungen scheinen eine zeitgemäße Sprache zu sprechen: die der
Hoffnungslosigkeit.
Während Lessings „Emilia“ als braves bürgerliches Mädchen an der
Besessenheit des zugrundegehenden Adels des 18. Jahrhunderts
zerbricht, und ihr Vater glaubt, durch ihren Tod die bürgerliche Ehre zu
retten, zeigt das Schlussbild Thalheimers etwas anderes – Emilia, gespielt
von Regine Zimmermann, taucht zwischen Walzer tanzenden Paaren
unter, als werde sie von der Gesellschaft verschluckt. Was zu Beginn des
Theaterabends durch zwei aufflackernde Flammen, zwei hohen
Holzwänden und den leeren Bühnenraum, den Emilia wie ein Laufsteg zum
Bühnenrand hin beschreitet, angedeutet wird, bestätigt sich im
Schlussbild.
„Emilia Galoppi“ - Ein Klassiker im Zeitraffer!
Eine rasende Lessing-Inszenierung von Michael Thalheimer
(Helen Weißenbach)
Es war ein Wettlauf mit der Zeit, den das Ensemble des Deutschen
Theaters Berlin, im Mai dieses Jahres dem Publikum des Duisburger
Schauspielhauses bot. Im Rahmen der Duisburger Akzente präsentierte
Michael Thalheimer, der als erfolgreicher und experimentierfreudiger
Regisseur gilt, eine exotische Blitzversion des Dramen-Klassikers „Emilia
Galotti“ von Lessing aus dem Jahre 1772.
In „Windeseile“, auf knapp 70 Minuten zusammengerafft, stets mit Blick
auf eine imaginäre Uhr konzentriert sich Thalheimer auf die
Hauptcharaktere und lässt moralische Werte des 18. Jahrhunderts außer
Acht. Dies setzt beim Publikum eine gewisse Textkenntnis voraus, deren
Fehlen dem einen oder anderen Zuschauer ins Gesicht geschrieben stand.
Denn wer nicht gleich den Faden verlieren wollte, musste schon
konzentriert zuhören um bei diesem Tempo mithalten zu können.
Emilia Galotti, Tochter von Odoardo und Claudia, gespielt von Regina
Zimmermann, steht kurz vor der Heirat mit dem Grafen Appiani. „Husch,
husch“ werden die letzten Vorbereitungen getroffen, die jedoch vom
heimtückischen Plan des Prinzen von Guastalla durchkreuzt werden, da
dieser ebenfalls ein Auge auf die schöne Emilia geworfen hat. Die geplante
Entführung endet tödlich für Appiani und Emilia erreicht allein des Grafen
Lustschloss. Von nun an wird nur noch das Nötigste gesagt, die elitär und
unnahbar wirkende Gräfin Orsina, überzeugend gespielt von Nina Hoss als
betrogene und verlassene Gemahlin des Prinzen, durchschaut den Plan
und händigt Odoardo eine Waffe aus, die ihren Zweck am diesem Abend
nicht mehr erfüllen wird. Hier endet die Tragödie und nach kurzer
Walzereinlage der Berliner Tanzschule fällt der Vorhang und der
Zuschauer bleibt abrupt aus der Szene gerissen zurück.
Die Konzentration auf das Wesentliche, sowie die Fokussierung auf
Körpersprache, Raum und Gefühle wird grandios durch das bewusst
spartanische Bühnenbild, sowie den gekonnten Einsatz des Soundtracks
aus dem Filmklassiker „ In the mood of love“ (bearbeitet von Bert Wrede)
präsentiert. Thalheimer schafft es, den Staub von Lessings Klassiker zu
wischen und neuen Schwung in das Stück zu zaubern, womit der Transfer
in die Moderne vollbracht ist.
Ein nüchterner, Holz getäfelter Raum ist, ohne sichtbare Auswege und
Requisiten, fluchtartig nach hinten auf eine schwarze Öffnung zentriert.
Wie auf dem „Catwalk“, graziös und anmutig, stets von lieblichen
Violinenklängen begleitet, schreiten die Darsteller pfeilgerade bis an den
Bühnenrand, wo sie dann in krassem Kontrast zu ihren pantomimischen
Bewegungen, „maschinengewehrartig“ ihre Texte hinunterrasseln.
Ähnlich abstrakt auch die Wahl der Kostüme, die ebenfalls die Aktualität
des Stückes verdeutlicht. In aktuellen Designerkleidern stolzieren die
Frauen auf „Highheels“ über die Bühne und die leger gekleideten Herren
wirken wie „Businessmen“, die gerade aus einer Seifenoper gesprungen
sind.
„Theater“, sagt Thalheimer, „soll den Zuschauer erst in die Geschichte
locken, um ihn dann zu irritieren, zu provozieren“…und damit hat er Recht
behalten! Sein Star-Ensemble bot eine unerwartete, neuartige Fassung
und glänzte durch herausragende schauspielerische Leistungen, brillant
Ingo Hülsmann als Marinelli, sowie die exzellente musikalische
Bearbeitung von Bert Wrede. Letztendlich wurde so das Publikum von
dieser neuen Möglichkeit einer Lessing-Interpretation überzeugt.
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