SPEECH/03/187 Günter Verheugen Mitglied der Europäischen Kommission - zuständig für Erweiterung Nehmen wir entschlossen an EP-Plenum Strasbourg, den 9. April 2003 diese Chance Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, Heute werden Sie über eine der ganz großen Zukunftsfragen unseres Kontinents entscheiden – ob 10 neue Mitglieder am 1. Mai 2004 zu uns gehören werden. Diese Entscheidung ist eine der wichtigsten, die das Haus in dieser Legislaturperiode zu treffen hat. Wir sind am vorläufigen Ende eines langen Weges. Er war geprägt von einem starken, Willen, die europäische Teilung endgültig zu überwinden. Das Europäische Parlament war in seiner Unterstützung immer völlig eindeutig. Wie kaum ein anderes Parlament in Europa hat das Europäische Parlament auch zu Zeiten des Kalten Krieges immer wieder die offene Wunde der Spaltung Europas zum Thema gemacht und für eine europäische Zukunft plädiert, in der die Völker in freier Selbstbestimmung gemeinsam ihr Schicksal in Demokratie und Freiheit gestalten. In der heutigen Entscheidung geht es um die Millionen Menschen, die mit Mut und Entschlossenheit den Weg für ein freies, geeintes Europa geebnet haben. Es geht um Völker, die den Platz in unserer Mitte verdienen. Es geht um die Millionen Menschen, die seit vielen Jahren schwierige und einschneidende Reformen auf sich nehmen, um moderne Gesellschaften zu schaffen. Es geht z.B. um die Ungarn, die im Sommer 1989 ihre Grenzen geöffnet haben. Um die Tschechen, die die ostdeutschen Flüchtlinge in Prag gewähren ließen. Um die Polen, deren nicht zu brechender Wille nach Freiheit und Demokratie die Weichen für den Wandel in Europa gestellt hat. Es geht um die Litauer, Letten und Esten, die ihre nationale Identität wiedergefunden haben. Es geht um die Slowenen, die nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens unbeirrt Kurs auf Europa nahmen. Um die Slowaken, die fest auf ihre Zukunft in der europäischen Familie vertrauen. Um Malta und Zypern, die im Mittelmeerraum unsere gemeinsamen Werte und Ziele mit uns zu verteidigen bereit sind. Sie, meine Damen und Herren Abgeordnete, haben diesen Weg seit Jahren begleitet. Die enge Übereinstimmung zwischen der Kommission und dem Europäischen Parlament hinsichtlich der Strategie der Erweiterung hat die Zusammenarbeit ungemein erleichtert und konstruktives Miteinander ermöglicht, für das ich außerordentlich dankbar bin. Es ist sicherlich heute der richtige Moment hinzuzufügen, dass ich davon überzeugt bin, daß unsere gute Zusammenarbeit ein Fundament für das Gelingen des gemeinsamen Projektes der Erweiterung war und bleibt. Ich möchte mich ganz besonders bei Ihnen, Herr Präsident, bei den Vorsitzenden der Fraktionen und beim Berichterstatter, dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses bedanken. Auf Ihren Rat und eine konstruktive Zusammenarbeit konnte ich immer bauen. Ihnen allen gratuliere ich zu dem brillianten Resolutionsentwurf. Mein Dank gilt auch den 10 Berichterstattern und den CoVorsitzenden der gemischten Parlamentarischen Ausschüsse, die das Ihre dazu taten, daß Probleme, aber auch Erfolge klarer sichtbar wurden und gemeinsame Lösungen für noch zu Erledigendes besprochen und vereinbart werden konnten. 2 Wenn Sie den Weg für die Erweiterung der Union heute freigeben, und dafür möchte ich werben, kann der Beitrittsvertrag am 16. April in der Stoa in Athen unterzeichnet werden. Es gibt in Europa kein besseres Symbol dafür, daß unsere unterschiedlichen nationalen Identitäten und Kulturen in Europa auf starken gemeinsamen Wurzeln gedeihen! Nach der Unterzeichnung wird der Beitrittsvertrag in den alten und neuen Mitgliedstaaten zu ratifizieren sein. Die ersten zwei Referenden in künftigen Beitrittsländern haben bereits stattgefunden. Sowohl in Malta als auch in Slowenien haben die Menschen sehr deutlich gemacht, daß sie zur Europäischen Union gehören wollen. Ich wünsche mir, daß diese Beispiele Ansporn sind und Ermutigung für jene, die diese Entscheidung noch zu treffen haben. Ich bin sehr zuversichtlich, dass die Referenden überall ein klares Ja zu Europa bringen werden. Es wird sichtbar werden, dass das Projekt Europa neue Attraktivität gewinnt. Neben den Referenden wird auch der Ratifikationsprozeß in den einzelnen Mitgliedstaaten beginnen. Ein Schwerpunkt der Kommunikationsanstrengungen der Kommission in diesem Jahr liegt deshalb bei der Information über die Inhalte des Beitrittsvertrages und über die Auswirkungen der Erweiterung auf die Bürgerinnen und Bürger. Wir machen keinen Wahlkampf, aber wir wollen informieren, erläutern und Antworten auf Fragen geben. Wir wollen, daß die Bürgerinnen und Bürger dieser Länder gut informiert sind, damit sie bei den Referenden ihren Willen unter den bestmöglichen Umständen zum Ausdruck bringen können. Ein Wort zu Zypern. Ich habe wiederholt dazu erklärt, wie sehr es die Kommission bedauert, daß die Chance auf eine politische Lösung des Zypern-Konflikts im Zuge der Erweiterung nicht genutzt wurde. Ich will nochmals unterstreichen, daß die Kommission bereit ist, alle weiteren Bemühungen der Vereinten Nationen zu unterstützen, um eine dauerhafte politische Lösung des Zypern-Problems doch noch zu finden. Überdies wird die Kommission ihr Möglichstes zur Unterstützung von Projekten in Zypern tun, um sich verstärkende Ungleichgewichte auf der Insel zu verhindern und um weiteres Vertrauen zwischen den Gemeinschaften aufzubauen. Meine Damen und Herren Abgeordnete, Noch ist die Arbeit in den Kandidatenländern nicht vollständig getan. Überall müssen Reformen fortgesetzt und die Vorbereitungen auf den EU-Beitritt mit voller Kraft fortgeführt werden. Die Kommission wird sehr genau beobachten, wie die Kandidatenländer die in den Verhandlungen eingegangenen Verpflichtungen umsetzen. Sechs Monate vor dem Beitrittsdatum, also im Herbst 2003, wird die Kommission dann einen umfassenden Monitoring-Bericht vorlegen. Und ich sage ganz deutlich: Wir werden im MonitoringBericht im Herbst präzise auflisten, auf welchen Gebieten Sicherheitsmaßnahmen in Erwägung gezogen werden müssen, wenn die künftigen Mitglieder nicht rechtzeitig Versäumnisse korrigieren. Wir haben bereits eine erste Runde im Monitoring-Prozess abgeschlossen. Das Ergebnis ist bemerkenswert. In nur 25 Fällen haben wir die künftigen Mitgliedsländer aufgefordert, dringende Maßnahmen zu treffen, um Verzögerungen zu vermeiden. Die gewünschten Maßnahmen sind überall in Gang gesetzt worden. 3 Der Aufbau effizienter Verwaltungen und eines gut funktionierenden Justizwesens muß in den künftigen Mitgliedstaaten auch über den Beitritt hinaus unterstützt werden. Der Kampf gegen Korruption bleibt eine zentrale Aufgabe. Die Durchsetzung von Menschenrechten und der Schutz von Minderheiten bleiben weiterhin auf der Agenda. Hier sind viele Länder einen weiten Weg erfolgreich gegangen. Aber es bleiben natürlich offene Fragen und Herausforderungen, für die die erweiterte Union sensibel bleiben muß. Das gleiche gilt für die Frage der tatsächlichen Durchsetzung der Chancengleichheit. Und es gilt für die Frage, wie die Schwächsten in einer Gesellschaft die Transformation erleben. In unserer europäischen Familie soll sich niemand allein gelassen fühlen. Ich setze darauf, daß das Europäische Parlament die Tür für den Beitritt von 10 Staaten vollends aufstößt. Ich bin mir jedoch auch bewußt, daß in der Stunde der Entscheidung nicht bei jedem jeder Zweifel am Erweiterungsprozeß ausgeräumt ist. Was kommt da auf uns zu, fragt sich der eine. Wird das die Union nicht überfordern, fragen andere. Allen jenen möchte ich folgendes sagen. Es ist wahr, daß die Integration, wie wir sie bisher kannten, ein Erfolgsprojekt war. Wir haben Frieden erreicht, Aussöhnung und Wohlstand, wie es nie zuvor auf einem Teil des Kontinents bestand. Aber gleichzeitig haben wir in Europa auch teuer bezahlt, wir und diejenigen, die heute zu uns gehören wollen. Denn das geteilte Europa kannte keinen wirklichen Frieden. Und keine vollständige Freiheit. Diese Chance gaben uns erst Mittel- und Osteuropäer, die sich niemals wirklich damit abgefunden haben, vom freien Teil des Kontinents abgeschnitten zu sein. Nehmen wir diese Chance entschlossen an und gestalten wir die Zukunft so, daß Frieden und Freiheit, Sicherheit und Wohlstand das Gesicht Europas im 21. Jahrhundert prägen. Lassen Sie mich zum Schluss ohne Wenn und Aber die entscheidenden Fragen beantworten: Sind die neuen Mitgliedsländer politisch und wirtschaftlich gut genug vorbereitet? Es ist die am besten vorbereitete Erweiterung in der Geschichte der Union. Die Beitrittsperspektive hat dem Transformations-prozess in Mittel- und Osteuropa die Richtung gegeben. Es wird nicht alles perfekt sein, es wird Schwierigkeiten geben. Aber die Kommission ist fest davon überzeugt, dass die Politiken und Programme der Gemeinschaft zu 25 funktionieren werden. Werden die neuen Mitglieder die Vertiefung der Integration unterstützen oder wird die Integration zum Stillstand kommen? Die neuen Mitglieder wollen schon im eigenen Interesse eine starke Gemeinschaft. Mit ihnen wird der Gemeinschaftsgedanke gestärkt, nicht geschwächt. Verstehen die neuen Mitglieder, dass Europa eine Wertegemeinschaft ist und kein Mechanismus zum Transfer von Geld ? Die Antwort ist ein klares Ja. Wir reden über Völker, die für ihre Freiheit gekämpft haben. Sie brauchen keinen Nachhilfeunterricht in Sachen Demokratie. Sie rechnen auch auf Solidarität – aber liegt diese Solidarität nicht mindestens ebenso in unserem eigenen Interesse ? Die neuen Mitglieder werden keine engstirnige nationale Interessenpolitik verfolgen. Werden die neuen Mitglieder sich einbeziehen lassen in eine gemeinsame europäische Außenpolitik ? 4 Ja und nochmals Ja. Die Probleme der letzten Monate sind nicht entstanden, weil die neuen Mitglieder sich nicht einordnen wollten, sondern weil die Frage nicht beantwortet werden konnte, was denn die gemeinsame europäische Haltung war, der man sich anschliessen konnte. Die Konsequenz für die neuen Mitglieder ist klar : nur eine starke gemeinsame Außenpolitik kann sie vor solchen Konflikten bewahren. Deshalb sind sie für eine solche Politik. Und die letzte Frage : Sind wir selber ausreichend vorbereitet ? Die Antwort : technisch gesehen ja, alle notwendigen Entscheidungen sind getroffen. Ich glaube aber, dass weitreichende Reformen, die auch ohne Erweiterung dringlich waren, wegen der Erweiterung nicht länger aufgeschoben werden können. Deshalb ist die Arbeit des Konvents so wichtig und muss von Erfolg gekrönt werden. Manche sagen, es wäre besser gewesen, das alles vorher zu tun. Vielleicht ist das so. Aber ich weiss, dass wir die europäischen Völker, die sich nun seit 13 Jahren auf den grossen Moment vorbereiten, nicht länger warten lassen konnten. Ich sage deshalb in diesen Ländern : Das europäische Haus, in das ihr jetzt einziehen werdet, ist noch nicht fertig. Und ihr habt jetzt die Chance, mitzureden und mitzuentscheiden, wie das Haus tatsächlich aussehen soll. Wenn die zehn neuen Mitglieder beigetreten sind, werden wir weitere Fortschritte in den Verhandlungen mit Rumänien und Bulgarien gemacht haben. Beide kommen dem Ziel näher. Schon bald werden wir 27 sein, und erst dann ist die jetzige Runde der Erweiterung abgeschlossen. Der Türkei ist in Helsinki 1999 die Tür geöffnet worden. In Kopenhagen 2002 erhielt die Türkei einen politischen Fahrplan. Ende nächsten Jahres ist zu entscheiden, ob die Türkei die politischen Beitrittsvoraussetzungen erfüllt oder nicht. Ich ermutige die Türkei, auf Europa-Kurs zu bleiben. Sie kann sich darauf verlassen, dass die Kommission ein faires und objektives Urteil abgeben wird. Die Balkanländer haben eine Beitrittsperspektive. Es liegt an ihren eigenen Reformanstrengungen, in welchem Zeitrahmen diese Perspektive realisiert werden kann. Meine Damen und Herren, Die bevorstehende Erweiterung ist keine Garantie für ein politisch und wirtschaftlich stärkeres Europa. Aber sie vergrössert unsere Chancen. Sie verstärkt unser Potential, Europa für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts fit zu machen und seinen Bürgerinnen und Bürgern ein Jahrhundert der friedlichen Entwicklung, der persönlichen Freiheit und der individuellen Lebenschancen zu schenken. 5