Kultur als umkämpftes Terrain

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Kultur als umkämpftes Terrain
Faschingeder – Themenverfehlung Kultur?
Derzeit wird in der Globalisierungsdiskussion nicht mehr so sehr nach Kultur, sondern nach
Politik gefragt. Die AkteurInnen im Entwicklungsfeld werden ins Zentrum einer kritischen
Auseinandersetzung gestellt. Es gibt eine Grundauseinandersetzung, ob Kultur oder Politik
die bestimmenden Faktoren im Entwicklungsprozess sind. In den 90ern, zur Zeit des Kulturund-Entwicklung-Boomes, wurde der Bereich des Politischen auf den Staat reduziert. Durch
den Neoliberalismus bekam das Individuum mehr Verantwortung über sich selbst, wurde aber
auch mehr Risiken ausgesetzt. Kultur avancierte zu jenem Muster, mit dem die neue soziale
Not, in die neoliberale Politiken große Bevölkerungsgruppen gedrängt hatten, interpretiert
werden konnte. Versorgungskultur wurde zur Unkultur. Kulturelle Faktoren waren Schuld:
Lethargie, obskurer Irrationalismus. Techniken zur Veränderung dieser Haltungen sollten
entwickelt werden. Noch wesentlicher aber war es, die Zustimmung der Massen zu
Austeritätspolitiken zu erlangen und Zweifel am eingeschlagenen Politikkurs gering zu halten.
Auch dafür, so lehrte bereits Gramsci, ist Kultur das Feld, auf dem die Schlacht um die
Zustimmung der Massen geschlagen wird. Je mehr der Blick auf Strukturen der
Unterdrückung getrübt wurde, desto mehr Relevanz erlangte Kultur. Den
Entwicklungsprozessen in Afrika wird rasch unterstellt, von kulturellen Faktoren bestimmt zu
sein. Die Krise des Staates in Afrika wurde häufig mit dem Weiterbestehen tribaler Sturkuren
in Zusammenhang gebracht, die Korruption afrikanischer SpitzenpolitikerInnen als kulturell
überlieferter Verteilungsmechanismus gedeutet, womit sich wichtige Personen ihre
Gefolgschaft sicherten. EZA wird mit der Implementierung neoliberaler Konzepte zum
Markt, auf dem Weltmusik als Kulturproduktion nicht fehlen darf.
Das Verhältnis zwischen Kultur und Politik stellt keinesfalls einen dichotomen Gegensatz dar,
sondern ist ein komplexes Ineinandergreifen von Perspektiven. Politik meint hier eigentlich
politische Ökonomie als analytische Verfahrenswiese. Kulturanalyse kann aufzeigen, wie
soziale Tatbestände und Prozesse an Haltungen, Sichtweisen, Mentalitäten oder
Denkstrukturen gebunden sind. Damit ermöglicht sie, für gewöhnlich von der politischen
Ökonomie analysierte Realitäten zu kontextualisieren. Kultur stammt von pflegen, bebauen
und wurde auf den Bereich des Geistigen übertragen – Kultur wurde zur Zivilisiertheit;
Affekte sollten kontrolliert werden. Gilt Kultur zunächst als Synonym für Zivilisation, wird
sie im Zuge der industriellen Revolution zu deren Gegenteil: sie wird rauchenden
Fabrikschloten entgegengestellt. Die Zivilisierung sei das Oberflächliche, das Zeremonielle,
während Kultur das Echte, Wahre, Innerliche verkörpere. Kultur stelle die eigentliche
Leistung, das eigentliche Wesen des Menschen dar. Kultur stand hier für das A-Politische. In
der deutschen Sprache blieb Kultur der umfassendere Begriff, der sich auf eine Einheit mit
universellem Anspruch bezieht. Im Französischen und Englischen ist es umgekehrt. Als
zweiter historischer Wortsinn existiert Kultur als Identität. Sie wird als ein komplexes Ganzes
von Glaube, Kunst, Gesetz, Moral, Brauch und jeder anderen menschlichen Fähigkeit und
Haltung – ein geordnetes System von Bedeutungen und Symbolen, dessen sich soziale
Interaktionen bedienen(Geertz). Kultur ist jene Bedeutungsproduktion, mit deren Hilfe die
Menschen ihre Erfahrungen deuten und ihre Handlungen ausrichten. Kultur wird hier als
Totalität konzipiert, die keinen Lebensbereich als nicht-kulturell ausgrenzt. In der
Begriffsgeschichte erfolgte zuletzt eine allmähliche Spezialisierung der Kultur auf die Künste,
als geistige Betätigung, als Merkmal des Außer-Politischen. Kultur ist also einmal ein
umfassendes, totales Phänomen, das eine Gruppe von anderen unterscheidet, das andere Mal
aber ein ästhetisches Phänomen, das nur spezifische Äußerungsformen meint.
Die Beachtung von Kultur ist von nicht zu unterschätzender Relevanz, da ansonsten
Entwicklungsmaßnahmen ihr Ziel verfehlen oder sogar kontraproduktiv wirken. So gehen im
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Norden Ghanas die DorfbewohnerInnen der Region nicht ins öffentliche Spital, da
Erkrankungen bei ihnen immer Ausdruck eines spirituellen Problems ist, das gelöst werden
muss. Ärzte ohne Grenzen setzen bereits EthonologInnen in der Gesundheitsarbeit in
Westafrika ein. Gesundheit wird als religiöse Frage behandelt. Hier kooperieren zu wollen,
erfordert die Bereitschaft, die dahinterliegenden kulturellen Muster zu verstehen, die jeweilige
Sprache zu erlernen, die unsichtbare Realität, wie sie die jeweilige religiöse Weltsicht
annimmt, als eine relevante Realität anzuerkennen. Ein Scheitern ist unvermeidlich, wenn
mensch sich nicht mit diesen Denkweisen auseinandersetzt, deren Logik in der Gestaltung des
Alltags und der Haushaltökonomie häufig von jener der westlichen Welt abweicht. Auf der
Ebene der Projektdurchführung ist die Beachtung kultureller Faktoren sicherlich sinnvoll.
Damit ist nun nicht gesagt, dass die EZA-Maßnahme, das konkrete Projekt, auch wenn es das
kulturelle Umfeld beachtet, auch entwicklungspolitisch sinnvoll ist. Dazu braucht es abermals
eine Vertiefung der Reflexion und eine Erweiterung des Denkrahmens über Fragen der
Projektumsetzung hinaus. So ist die Verschuldungskrise, unter der die BewohnerInnen fast
sämtlicher Staaten der Peripherie mehr oder weniger direkt zu leiden haben, kein Problem der
lokalen Kultur. Daher diese Zusatzthese: Jede kultursensible EZA ist zum Scheitern verurteilt,
wenn sie Kultur nicht auch als Ausdruck(als Kampf-Schauplatz) von Machtverhältnissen
interpretiert und entwicklungspolitische Maßnahmen setzt.
In der Mission wollte mensch immer nur das Beste für die Anderen. Einige Missionare
entdeckten zwei zur Bewältigung interkultureller Kommunikation und Zusammenarbeit
wichtige Elemente, nämlich Sprache und Kultur als erlernbare Aspekte einer fremden Kultur.
Kultur zu lernen bedeutet mehr, als nur die Sprache zu beherrschen, sondern auch den
Kontext zu verstehen und kontextbezogen handeln zu können. In „Reductiones“ –
Umerziehungslagern der Missionare – wurden die Indianer wahrscheinlich effektiver
„entwickelt“ als ohne sie, „besser“ als ihr Leben vor der Zeit der Eroberung war ihr Leben
damit aber noch lange nicht. Dieser kurze Streifzug durch die katholische Missionsgeschichte
möchte zwei Aspekte deutlich machen: Zum einen erlaubt die Beachtung von Kultur, den
Zielgruppen der Zusammenarbeit näher zu kommen, damit besser zu wissen was die
Angehörigen dieser Zielgruppen denken und wollen. Zum anderen aber steigt die Gefahr, die
Kenntnis der fremden Kultur zur Manipulation auszunutzen. „Besser“ wird EZA wohl erst,
wenn die Betroffenen selbst als Subjekte ihrer „Entwicklung“ anerkannt und von jeder
Bevormundung Abstand genommen wird. Im Kolonialismus stellte das System der Indirect
Rule insofern eine „Kulturverwertung“ dar, als es die vorhandenen Sozialstrukturen möglichst
gut zum Zweck der Herrschaftssicherung zu nutzen suchte. Kulturen, die bislang
ausschließlich oder vorrangig subsistenzwirtschaftlich organisiert waren, wurden durch die
Einführung von Kopfsteuern und dergleichen gezwungen, Lohnarbeit anzunehmen und die
Monatarisierung ihrer Gesellschaften zuzulassen. Die „Erziehung zur Arbeit“ muss aber auch
als Teil der Neuordnung von Gesellschaft und Verhaltensstrukturen der Kolonialvölker auf
Basis europäischer Werte und Verhaltensmuster verstanden werden. Diese konnte über das
Bildungswesen subtiler vermittelt wurden, das eine Verinnerlichung des europäischen
Arbeitsethos zumindest teilweise erreichte. Entwicklung bezieht sich vorrangig auf Fragen der
Herrschaft und damit der Politik, der Arbeitsverhältnisse und damit der Ökonomie sowie der
Bildung und amit auf Formen und Inhalte des Wissens. Als eine Fortsetzung der
kolonialzeitlichen Ansätze können die Modernisierungstheorien verstanden werden. Die
Soziologie sollte Fragen des sozialen und mentalen Wandels beantworten. So entwickelte
Parson fünf Begriffspaare um Gesellschaften im Hinblick auf kulturelle Wertmuster, soziale
Normen und persönliche Motivation zu unterscheiden. Modernisierungstheorien sahen
dadurch interne, kulturelle und mentale Faktoren als verantwortlich für die Rückständigkeit
von Entwicklungsländern. Es wäre nötig, Säkularisierung, Rationalisierung, Differenzierung
und Verwissenschaftlichung herbeizuführen. Das, was in Modernisierungstheorien als
„Tradition“ bezeichnet wurde, war aber vielfach bereits das Ergebnis des von der
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Kolonialadministration intendierten und gelenkten sozialen Wandels. Es darf also nicht
verge4ssen werden, die wechselseitige Ergänzung und damit gegenseitige Konstituierung
solcher Verhaltensweisen näher zu untersuchen.
Die Beschäftigung mit Kultur als Aspekt der Entwicklungsdiskussion ist heikel und steht
ständig unter Verdacht, mehr den Interessen der „EntwicklerInnen“ als jenen der
„Entwickelten“ zu dienen, wie die drei hier ausgeführten Beispiele veranschaulichen wollten.
Sozialkritische Entwicklungstheorien betonen als eine Gegenthese zum Kulturargument die
Rolle der Strukturen für den Entwicklungsprozess(politische Ökonomie). Beim Kulturgerede
gehe es um die Verschleierung der Verhältnisse: Kultur sei der „ideological battleground of
the modern world system“(Wallerstein). Das Sein bestimme das Bewusstsein und nicht
umgekehrt. Es gibt aber auch die These, dass Kultur so etwas wie eine relative Autonomie
zukomme: Bourdieu, Foucault, Cultural Studies. Kultur gilt in diesem Verständnis einerseits
als Ausdruck für Machtverhältnisse, andererseits ist sie aber auch der Ort, an dem Macht erst
geschafften wird. Kultur ist wesentlich mit Fragen der politischen Ökonomie verknüpft. Die
Vorstellung, die Welt des Kulturellen als Schlachtfeld zu interpretieren, auf dem die
gesellschaftlichen Gruppen um Hegemonie kämpfe, geht auf Gramsci zurück. Die
akademische Debatte bleibe irrelevant, weil sich weit weg von den Alltagsfragen der Leute
stattfinde und sich weigert, die Sprache der Massen zu sprechen. Kultur war bei Gramsci
nicht nur Analysegebiet, sondern auch ein Betätigungsfeld für den politischen Aktionismus.
Eine Gruppe kann erst dann Hegemonie ausüben, wenn sie den Konsens der Massen
herstellen konnte. Das Kulturelle war für Gramsci die Sphäre des Emotionalen, des
Populären, das als Kampffeld des Populismus verwendet wird. Die Cultural Studies gehen
nicht von der Herrschaft aus, sondern von den Beherrschten und deren Möglichkeit, sich der
Herrschaft zu entziehen. Kulturelle Ausdrucksformen werden auf ihren Herrschaftsgehalt
abgeklopft. Kultur kommt ein hoher Grad an Autonomie zu, ist aber alles andere als
unabhängig von Herrschaftsverhältnissen. Versuche, im Sinne der Cultural Studies zu
entwicklungsbezogenen Fragestellungen zu arbeiten, gibt es vor allem im Rahmen der
Postcolonial Studies: Bhaba, Escobar. Für Escobar und die „post-developmentalist“en muss
der Entwicklungsdiskurs dekonstruiert und als Form kolonialer Herrschaft entlarvt werden.
Kulturelle Differenz ist hier der politische Schlüsselfaktor unserer Zeit, da nur kulturelle
Minderheiten oder hybride Kulturen in der Lage seien, neue Formen des Wirtschaftens und
der sozialen Organisationen hervorzubringen. Das größte politische Versprechen der
Minderheitenkulturen liege in ihrem Potenzial zum Widerstand und zu Subversion gegen
Kapitalismus und Modernität in ihrer hegemonialen Form. Foucault: Anstatt Subjektivitäten
zu unterdrucken, werden Selbsttechnologien erfunden und gefördert, die an Regierungsziele
gekoppelt werden. Gouvernementalität ist die Mentalität des regiert Werdens ohne
Widerspruch. Kultur verliert die politische Unschuld und ist doch mehr als nur
Deckmäntelchen für Herrschaftsinteressen.
Gramscis Kulturtheorie war ausgesprochen selbstreflexiv angelegt, und auch die Texte
Foucaults wie der Cultural Studies zielen darauf, die eigenen theoretischen Entwürfe unter
Ideologieverdacht zu stellen und kritisch zu prüfen. Das Prinzip der Selbstreflexion wäre es
wert, in die Entwicklungstheorien hineingetragen zu werden. Den post-developmentalists,
dass jede Form der EZA eingestellt werden sollte, ist aber trotzdem nicht zuzustimmen. Den
Entwicklung kann eine Subtilisierung der Unterdrückung mit sich bringen, sie kann aber auch
befreiende Folgen haben.Um das erste zu vermeiden, ist es unabdingbar, dass
Entwicklungstheorie wie auch Entwicklungspolitik selbstreflexiver werden. Jede Aussage
muss vor dem Hintergrund des Kontexts geprüft werden(also der reflektierten eigenen
Kultur). So sind in Maslows Pyramide der Bedürfnisse materielle Bedürfnisse bedeutsamer
gereit als immaterielle, was im Rahmen anderer Kulturen aber schlichtweg auf den Kopf
gestellt wird. Andererseits erinnert Eagleton, dass Folter und Verstümmelung in der Kunst
aller Kulturen verurteilt werden, während Liebe und Freundlichkeit gelobt werden.
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Pilz - Verwestlichung, kulturelle Rennaissance, Globalisierung
in China
Nach dem vormodernen chinesischem Herrschaftsverständnis waren alle Völker außerhalb
der chinesischen Kultur zivilisierungsbedürftig. Sie sollten durch Einbindung in ein
Tributsystem die Segnungen der chinesischen Kultur erfahren. Trotz zeitweiliger Eroberung,
territorialer Aufspaltung und Bedrängnis durch fremdkulturelle Einflüsse konnte China immer
wieder zu territorialen Einheit zurückfinden, die zivilisatorische Kontinuität wahren und
„belegen“. Die Dichte und Geformtheit der chinesischen Zivilisation, ihre Fähigkeit zur
Assimilation wie zur Resistenz, hat politische Kolonisierung, demographische Mobilisierung
und religiöse Missionierung weitgehend unterbunden oder in ihren Folgen entschärft. Auch
das „christliche Abendland“ hatte solche Merkmale. Durch das von diesem erzwungene
Zugeständnis zum Freihandel gab es eine große Präsenz dieser Ausländer, die höchst
beunruhigende kulturelle Konsequenzen befürchten ließ. Durch westliche Niederlassungen,
und deren Etablierung industrieller Produktion und moderner Stadtverwaltung, gab es für die
Chinesen einen Einblick in deren Bildungssystem, das Verlagswesen, und durch dessen
Erzeugnisse die philosophischen und weltanschaulichen Grundlagen ihrer Zivilisation. Es
wurde von chinesischer Seite her versucht, die historisch erprobte Kombination von
Übernahme, Assimilation und Ausschluss anzuwenden, aber es zeigte sich rasch, dass die
Übernahme dieser zivilisatorischen Leistungen ein Studium ihrer wissenschaftlichen,
philosophischen und weltanschaulichen Grundlagen voraussetzte. Als Alternative Konzeption
wurde die westliche Kultur als grundsätzliche Herausforderung und als Ersatz für die
chinesische Kultur gesehen. Es gab drei Strategien:
- Die Defensivstrategie versucht der Herausforderung durch eine alternative Kultur mit
der Revitalisierung der eigenen Tradition zu begegnen.
- Die Offensivstrategie betreibt „Verwestlichung“ als zentrales Programm(da dieser
Kultur Überlegenheit zugeschrieben wird), wenngleich auch hier alle Facetten der
eigenen Kulturtradition, die sich nicht als hinderlich erweisen, integriert werden
können.
- Auf eine sektorale Modernisierung bezieht sich die dritte theoretische Konzeption. In
einer Reihe ostasiatischer Gesellschaften haben Modernisierungsprozesse einzelne
Sektoren des menschlichen Zusammenlebens erfolgreich modernisiert, während
andere Sektoren bewusst ausgespart wurden.
Durch die Aufklärung kam ein entsetzter Blick auf die nun als versklavend wahrgenommenen
Ideologien und kulturellen Praktiken der chinesischen Tradition auf. Die Schwächen der
„chinesischen Kultur“ wurden oft dramatisiert. Einen ersten Höhepunkt erreichte die
Faszination des Fremden in der so genannten „Bewegung für neue Kultur“(1915-19925).
„Aufklärung“ wurde zum Maß für Moderne. Es sollte eine Befreiung von den Fesseln der
„konfuzianischen“ Gesellschaftsordnung zustande gebracht werden. Doch kam es zu einer
Verzerrung des Bildes sowohl der westlichen Aufklärung als auch der chinesischen Tradition.
Gründe dafür waren erstens, dass die westliche „Aufklärung“ ein aus Büchern erarbeitetes,
realitätsfernes Konstrukt war. Die „aufgeklärten“ Staaten und Gesellschaften des Westens
waren im frühen 20.Jhdt weit von der Verwirklichung der Ideale dieser Aufklärung entfernt.
Zweitens wurden in dieser Phase dem westlichen Ideal keine positiven Beispiele
fortschrittlicher chinesischer Denker und Dichter gegenübergestellt. Ein angreifbarerer
Gegner war noch zu konstruieren und in der Form des „Konfuzianismus“ schnell zur Hand.
Aus Vertretern der „totalen Verwestlichung“ wurden tendenziell Proponenten der
Revitalisierung der „chinesischen Kultur“, da die Perzeption „westlicher Kultur“ verfeinert
und revidiert werden konnte, unter Anderem unter den Eindrücken des Ersten Weltkrieges,
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welcher auf problematische geistige und kulturelle Grundlagen dieser Zivilisation
zurückgeführt wurde. Chinesische Intellektuelle beschäftigten sich nun wieder intensiver mit
ihrer eigenen Tradition.
Die innenpolitische Zerrissenheit, das Chaos der Bürgerkriege und die demütigende,
aufreizende und unberechenbare Präsenz der imperialistischen Mächte machten für den Ruf
nach Revolution und nach einem starken Staat empfänglich. Der oberflächlich alle Ideologien
überbrückende Nationalismus forderte gesteuerte Agitation gegen die Imperialisten.
Erfolgreiche Agitation setzt einheitliches Vorgehen voraus und dieses die systematische
Bevormundung des Einzelnen durch die Partei. Das Projekt der Aufklärung konnte hier nur
hinderlich sein. 1949 ging die KPCh unter Mao Zedong als Sieger einer jahrzehntelangen
Kette von Kriegen hervor. Neben einem erfolgreichen Wiederaufbau wurde eine
gesellschaftliche Umgestaltung mit beispielloser Zielstrebigkeit und Rücksichtslosigkeit
durchgeführt. Die Aufklärungsbewegung und ihre Vertreter wurden zu einem der zentralen
Feindbilder und sollten ausgeschaltet werden. Kultur war in der „großen proletarischen
Kulturrevolution“ gleichbedeutend mit dem Überbau: Recht, Politik, Moral, Kunst,
Wissenschaft. Kapitalistische Kulturgüter wurden zerstört und neue Mythen und Zwänge
geschaffen, die den Einzelnen aufgezwungen wurden. Kultur war kein umkämpftes Terrain
mehr, sie war zu mit tödlicher Kälte gegen die Menschen und ihre Hoffnungen
festgeschriebenen Slogans verkommen. Nach dem Tode Maos wurde sie wieder zum heiß
umkämpften Terrain.
Zwischen 79 und 89 kam es zum Kulturfieber, in dem zB. in einer Fernsehserie zwei alte
Fragen aufgeworfen wurden: Warum war China im Laufe der letzten Jahrhunderte so weit
hinter die Entwicklung der westlichen Industrienationen zurückgefallen und wie könnte es
wieder an die Spitze zurückfinden? Die Antwort der Serie war, sich endgültig von der eigenen
Kultur zu lösen und die „überlegene und positive“ westliche Kultur anzunehmen. In dieser
Kulturdebatte gab es noch Befürworter einer Synthese von Elementen der chinesischen und
der westlichen Kultur und auch eine Wiederbelebung der Traditionen(Konfuzianismus). Ein
erstes Charakteristikum für die Entfaltung eines neuen Diskurses im Jahrzehnt des
„Kulturfiebers“ war die Schaffung eines zivilen und vergleichsweise kontrollfreien Raumes,
in dem er stattfinden konnte. Die Aktivitäten der Aktivisten wurden von offizieller Seite
zumindest toleriert und die Zensur konnte umgangen werden. Ältere Intellektuelle standen für
die Publikationen der jungen Generation gerade. Als Grundkonsens über die
Zielvorstellungen kann eine Annäherung an die Ideale der Aufklärung und damit die
Vorbildwirkung der „westlichen Kultur“ gesehen werden. Es sollten auch chinesische
Varianten von Aufklärung aufgezeigt werden. Es gab zwar Anklänge an die aufklärerischen
Tendenzen der 20er Jahre, doch der Diskurs war deutlich kritischer, distanzierter oder auch
ablehnend gegenüber einer zu raschen, massiven, „radikalen“ Übernahme westlicher
kultureller Werte und Praktiken. Die klare Entscheidung für die Übernahme der „westlichen
Kultur“(die azurblaue) wurde eher zur Ausnahmeerscheinung.
In den 9ßern kam es zu einer Phase des „Neokonservatismus“, der durch eine
Neuinterpretation vergangener Entwicklungen und zukünftiger Perspektiven gekennzeichnet
ist. Es geht um eine Untermauerung der Eigenständigkeit der chinesischen Entwicklung durch
Bewahrung, neue Wertschätzung und Neubewertung von Errungenschaften der eigenen
kulturellen Tradition. Westliche postkoloniale und postmoderne Kritik lieferte die
theoretische Begründung für eine massive Kritik an der romantischen Überbewertung des
Westens in der chinesischen Moderne sowie für die These, dass Modernisierung nur mit
einem behutsamen Umgang mit der eigenen Tradition erfolgreich sein konnte. China sollte
sich einer eigenständigen politischen, ökonomischen und kulturellen Moderne besinnen. Das
Bild vom „Westen“ wandelte sich vom Vorbild zum Konkurrenten. Obwohl auch ein
aggressiver Nationalismus in den 90ern existierte, plädierten Intellektuelle in weiten Kreisen
für die Behutsamkeit des Neokonservatismus, da radikale Vorgehensweisen in eine weiter
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Katastrophe führen würden. Im Neokonservatismus ist die „chinesische Kultur“ der
bevorzugte Ort der Rekonstruktion der eigenen Identität sowie von Entwürfen für eine
chinesische Moderne.
Zwischen Nationalismus und Globalisierung: Es gibt sowohl Gemeinsamkeiten einer
globalisierten Kultur als auch Differenzen in der jeweiligen Lokalisierung – unterschiedliche
Modernen. Die eigenen kulturellen Traditionen haben als sekundäre Ausformung der
primären Gemeinsamkeiten einer modernen Welt zu gelten. Das sind immerhin
Ausgangspositionen für die Diskutanten aus den Entwicklungsländer, die die Diskurse entemotionalisieren und damit für neue Zugänge öffnen könnten. Wenn es im umkämpften
Terrain der Kulturen in Zukunft häufiger darum ginge, die Beiträge von Lokalkulturen in die
Lösung gemeinsamer (globaler) Probleme(Bsp Menschenrechte) zu integrieren, könnte
mensch dies jedenfalls nur begrüßen.
Linhart – Kultur und Entwicklung: der Diskurs in Japan
Die japanische Entwicklung ist in der Diskussion von Kultur und Entwicklung im höchsten
Ausmaß relevant, da es hier nach der zweiten Öffnung durch den Westen ab 1853 zu einer
raschen Entwicklung kam. Diese Öffnung basierte auf ungleichen Verträgen mit den
westlichen Mächten(keine Zollhoheit, extraterritoriale Gerichtsbarkeit für Amis und
Europäer), welche nach der Meiji-Restauration von 1868 revidiert werden sollten um wieder
zu einem souveränen Staat zu werden. Eine Revision wurde aber mit dem Hinweis auf die
mangelnde Entwicklung der japanischen Kultur oder Zivilisation abgelehnt. Mensch musste
sich also rasch verwestlichen, die westliche wurde als die überlegene Kultur angesehen. Die
japanische Regierung entschied sich für eine umfassende Nachahmung des westlichen
Modells. Zahlreiche ausländische Experten sollten an der industirell-technologischen
Entwicklung des Landes mitwirken, japanische StudentInnen ins Ausland entsandt. Für die
eigene japanische Kultur hingegen hagelte es Einschränkungen und Verbote, da das Verhalten
im Alltag die Augen der Europäer und Amerikaner beleidigen hätte können: Verrichtung der
Notdurft auf öffentlichen Straßen, Nacktheit in der Öffentlichkeit... Die Verbote wurde dort
strenger umgesetzt, wo es zu Berührungen mit Personen aus dem Westen kam, in entlegenen
Gebieten veränderte sich vorerst kaum etwas. Japan erreichte seine Modernisierungsziele sehr
rasch und es kam zu einem Prestigegewinn und dadurch zu einer Revision der ungleichen
Verträge. Es sollte dokumentiert werden, dass Japan nun ein ebenbürtiger Partner sei, die
Selbsteinschätzung war sehr hoch.
In den USA und Großbritannien stießen die japanischen Auswanderer vor dem Ersten
Weltkrieg aber auf unerwartete Diskriminierung. Dieser Rassismus hatte wohl auch eine
kulturelle Komponente, denn den weißen Amerikanern waren die fleißigen und genügsamen
japanischen Arbeiter einfach suspekt. Den Japanern wurde damals eindeutig vor Augen
geführt, dass Entwicklung nicht in Gleichberechtigung und Gleichheit resultierte, und dass
Verwestlichung nicht vor westlichen Rassismus schützte. Die Verwestlichung nahm aber
trotzdem weiter immer größere Ausmaße an, welche vielen nicht mehr behagten. Es kam zu
Brüchen und Klüften zwischen der Kultur des ländlichen konservativen Japan und der des
großstädtischen, modernen, westlichen Japan. Aus dem Westen zurückgekehrte Intellektuelle
waren entsetzt darüber, dass die von der westlichen Kultur nur das Oberflächliche, falsch
Verstandene, nicht Originäre übernommen wurde und die eigene zerstört wurde. Es wäre bloß
die äußere Form der europäischen Zivilisation nahegebracht worden. Die vom Westen
desillusionierte Regierung begann in dieser Zeit verstärkt auf die japanischen Wurzeln der
Kultur zurückzugreifen, während weiter industrielle und militärische Anstrengungen nach
westlichem Vorbild unternommen wurden. Japan sollte modernisiert werden, ohne sich an
den westlichen Imperialismus auszuliefern. Manche Intellektuelle sahen eines der
Grundprobleme für Japan in einer Bildung eines neuen Bewusstsein des Selbst. Japan hätte
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eine verwirrende und gewaltsame Transformation durchgemacht und es gebe eine geistige
Krise innerhalb Japans.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Japan von den USA besetzt und unterlag einer noch
stärkeren Amerikanisierungswelle. Wissenschaftler begannen über die Frage nachzudenken,
warum die japanische Modernisierung offensichtlich misslungen war und geradewegs in
Faschismus und Militarismus geführt hatte obwohl es nach westlichem Vorbild ein Parlament
und Wahlrecht gab. Diese “Modernisten” hatten großes Interesse am Modernisierungsprozess
Japans und der Entstehung einer modernen Persönlichkeit nach Vorbild des modernen
Menschentyps in Europa. Die Modernisten hatten angesichts ihrer eigenen negativen
Erfahrungen mit Militarismus und Faschismus eine überwiegend positive Einstellung zur
Modernisierung, wollten diese jedoch nach europäischem Beispiel zu Ende führen, damit in
Japan auch wirklich zuverlässige demokratische Strukturen entstehen könnten und die Gefahr
eines totalitären Systems für immer gebannt wäre. Amerikanischen Wissenschaftlern und
Verfechtern des kapitalistischen Modernisierungsmodells ging es hingegen nur um den
wirtschaftlichen Erfolg Japans, der auch anderswo wiederholt werden sollte. Bei der
Definition von Modernisierung schwang meist eine kapitalistische Konnotation mit, die
implizit stets auf die fortgeschrittenen westlichen Industrienationen verwies. Japanische
Wissenschaftler hatten also ein anderes Problembewusstsein und beschäftigten sich mit den
Fragen, warum es noch immer so viele vormoderne Faktoren gebe, warum trotz der
Entwicklung moderner Institutionen wie Parlament und Recht Militarismus und die
diktatorische Herrschaft von Militär und Bürokraten angedauert hätten und warum trotz der
Erziehung westlichen Denkens der Alltag weiter von patriarchalischen Überlegungen und
sozialem Status bestimmt war. Ein Harvardprofessor meinte, dass die sozialen
Verhaltensweisen und das Denken der Japaner insgesamt mit den technologischen und
institutionellen Veränderungen nicht Schritt halten konnten. Es scheint also eine breite
Kausalbeziehung zwischen unausgeglichenem Wachstum und gesellschaftlich-politischer
Instabilität zu geben. Die Übertragbarkeit von nationalen Erfahrungen wurde von den
japanischen Intellektuellen als begrenzt angesehen, jedes Land müsse seinen eigenen Weg der
Entwicklung finden.
1980 war Japan ein ökonomisches Musterland und Japanizität war von 1964 bis 83 ein
Positivum. In einer neuen japanischen Studie war der Ausgangspunkt der Gegensatz zwischen
westlichen Individualismus und östlicher/japanischer Gruppenorientiertheit, vor allem der
japanischen Form der Familie, die nun positiv bewertet wurde, nachdem sie zuvor noch als
antidemokratisch gesehen wurde. Es sollte wieder von den asiatischen Werten gelernt werden,
da die Überbetonung der westlichen Werte – zu viel Individualismus und Toleranz – zu einem
Mangel an sozialer Disziplin und zu abnormalem sozialen Verhalten geführt hätten. In den
Zeiten immer stärker werdender Globalisierung kam es zu einem starken Interesse an der
Edo-Zeit, der Zeit vor der Öffnung Japans, die nun nostalgisch glorifiziert wurde, während
Modernisierung als Rückschritt gesehen wurde. Der Historiker Kawakatzu geht von
Wallersteins Theorie der Entstehung des modernen Weltsystems aus und zeigt Ähnlichkeiten
und Unterschiede in der Entwicklung Japans und Europas auf. Beide betrieben maritime
Aktivitäten und exportierten wertvolle Metalle um ostasiatische Produkte zu erwerben. Sie
galten beide aus der Sicht der großen alten Zivilisationen des asiatischen Kontinents bis ins
18.Jhdt als rückständig, wurden aber auch beide im 19.Jhdt. ökonomisch selbstständig und
befreiten sich von der Abhängigkeit von den etablierten Zivilisationen. Es kam in beiden
Gebieten zu einer Produktionsrevolution: in Europa die industrielle Revolution und in Japan
die Revolution des Fleißes. So entstanden die ersten beiden produktionsorientierten
Gesellschaften der Welt. Trotzdem entwickelten sie sich ab dem 17.Jhdt stark auseinander
was auf diesen Unterschieden beruht: Europa hatte als Quelle der Kaufkraft den
amerikanischen Kontinent, während Japan die Mittel im eigenen Land aufbringen musste. In
Europa kam es auch durch die kapitalintensiven Methoden zu einer Erhöhung der
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Arbeitsproduktivität. Die asiatischen Zivilisationen, aus deren Abhängigkeit sich die beiden
Regionen befreiten, waren unterschiedliche Kulturen: die islamische Welt einerseits und
China andererseits. Dieser Unterschied erklärt auch unterschiedliche Weltsichten. Im
Modernen Weltsystem wird die Welt als eine Dichotomie von Krieg und Frieden verstanden.
In Europa wurde das islamische Konzept systematisch niedergelegt und dadurch den Staaten
das Recht auf Kriegsführung zugestanden, wodurch eine militärische Expansion ermöglicht
wurde. In der konfuzianischen Weltanschauung soll hingegen das Individuum kultiviert und
die Familie reguliert werden, während den Staat regieren Frieden auf der Welt schafft. Im
Werk „Das große Lernen“ wird Macht durch Selbstkontrolle und Tugendhaftigkeit des
Herrschers legitimiert und es kam in Japan zu einer allmählichen Reduktion der Waffen.
Anders als in Europa, das von einer Machpolitik gekennzeichnet war, entwickelte sich in
Japan daher eine moralische Politik. Es herrschte auch eine unterschiedliche Einstellung zu
den natürlichen Ressourcen vor. Von Smith, der keine knappen Ressourcen kennt, beeinflusst,
schuf die industrielle Revolution ein Produktionssystem, das kapitalintensiv war und
Ressourcen verschwendete. Japans Produktionsrevolution konzentrierte sich auf das
Konservieren von Kapital und auf Mittel, um die Ressourcen zu recyceln. Da sich das
europäische System durchgesetzt hat, wurde die japanische Variante lange nicht beachtet.
Durch die Übernahme der kapitalintensiven Produktionsweise des Westens wurde es in
Kombination mit der arbeitsintensiven Produktionswiese Japans möglich, sich gegen die
Mächte des Westens behaupten zu können. Kawakatzu verschweigt jedoch, dass Japan auch
schon vor der Moderne Expansionspolitik versuchte. Weiters ist eine Abschließungspolitik für
ein Inselreich einfacher zu exekutieren. Sie ist aber mit einer bestimmten Entwicklung der
Technologie nicht mehr aufrechtzuerhalten. So kann nicht nachgewiesen werden, dass ein
perfektes stagnierendes System auf Dauer funktionieren kann.
Alle entsprechenden Theorien über die Kultur Japans waren enorm zeitabhängig und beliebig
formulierbar. So wurde japanische Kultur als für die Modernisierung verantwortlich aber auch
als Hindernis gesehen. Nach der Öffnung herrschte ein Gefühl der Minderwertigkeit vor,
welches sich in den 30ern in Überlegenheitstheorien verwandelte. Nach dem 2. WK kam es
wieder
zu
Minderwertigkeitstheorien
und
ab
den
70ern
wieder
zu
Überlegenheitsvorstellungen. Der aus diesem Diskurs zu ziehende Schluss ist wohl der, dass
Kultur und Entwicklung nicht in Form einer Kausalbeziehung gedacht werden sollten,
natürlich mit dem Umkehrschluss, dass das auch für die westliche Entwicklung gelten muss,
die vielen von uns noch immer als die einzig mögliche erscheint.
Six – Hindunationalismus als Counter-Culture
1947 sollte aus einem durch koloniale Grenzziehung vorgegebenen Territorium und einer
kulturell wie religiös höchst heterogenen Bevölkerung eine Nation entstehen. Dach auch für
Indien galt, dass Nationen erst entstehen, wenn sie den schwierigen Weg von ethnisch
begründeten Gemeinsamkeiten zu einer rechtlich vermittelten Solidarität unter Staatsbürger,
die sich fremd sind, zurückgelegt haben, wurde versucht nation-building und eine
Entwicklung des Landes durch Industrialisierung und Modernisierung zu betreiben. Kultur
kam im Zusammenhang mit Entwicklung nur im negativen Sinn zur Sprache: Tradition und
traditionelle Gesellschaftsformen würden diese behindern. Seit den 1980ern stellt sich aber
auf breiter Front eine zunehmende Enttäuschung hinsichtlich der einstigen Zuversicht ein,
dass Technik und Wissenschaft die Probleme, wie sie Indien als entwickelnde Gesellschaft
hat, tatsächlich zu lösen vermögen. Das Konzept des Nationalstaates wird in Zweifel gezogen
und die Relevanz von Kultur im Zusammenhang mit Entwicklung erfährt eine beachtenswerte
Renaissance. Das eigentliche Problem Indiens wird von diesen kritischen Stimmen nicht mehr
in der Dichotomie Tradition-Moderne gesehen, sondern im näher zu bestimmenden Verhältnis
von Kultur und Entwicklung überhaupt. Das Hauptkriterium für ein angemessenes, effektives
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Entwicklungsparadigma ist nun nicht mehr die Treue zu einem historisch von der
Entwicklung des Westens vorgezeichneten Weg zur Industrienation, sondern die Authentizität
einer genuinen Entwicklungsstrategie, die mit den kulturellen Eigenheiten jener Menschen,
deren Lebensverhältnisse verbessert werden sollen, in Einklang zu stehen hat. Es wird die
Akzeptanz des kulturellen Pluralismus gefordert.
Kultur fungiert als ideologischer Kernbegriff der politischen, hindunationalistischen Rechten
und dabei vor allem als Terminus der Abgrenzung der Nation der Hindus nach außen hin.
Weiters erhoben viele Intellektuelle Kultur zur zentralen Kategorie ihrer Kritik und
Infragestellung der Moderne mit ihrem Scheitern des Säkularismus. Sie fordern eine „indische
Moderne“.
Vor dem Hintergrund zunehmender Liberalisierung und gegen die sichtbare Präsenz des
Westlichen kam es zu den Bemühungen rechter Bewegungen multinationale Unternehmen
wie Coca Cola aus Indien hinauszuwerfen und sie zu boykottieren. Als Motive ihrer
Aggression gaben die Akteure sowohl die befürchtete Vernichtung der eigenen Wirtschaft
durch die Übermacht der ausländischen Konzerne sowie die „kulturelle Verunreinigung“
Indiens durch das Kulturdiktat des Westens an. Durch das Vordringen der multinationalen
Konzerne sei die nationale Selbstständigkeit in Frage gestellt, was ein überzeugter Nationalist
nicht zulassen könne. Dieser nationalistisch motivierte, kulturelle Aktionismus geschieht vor
der Vorstellung der indischen Kultur als abgeschlossenes Ganzes. Das Thema der Kultur
Indiens nimmt im Zusammenhang mit der weiteren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen
Entwicklung des Landes ein und findet im Swadeshi Konzept der Rechten seinen Ausdruck.
Dieses Projekt des nationalen Wiederaufbaus verseht sich keinesfalls als unreflektiertes
Zurück zu einer idealisierten Vergangenheit, sondern als kulturspezifische Version einer
indischen Moderne, durch die Synthese mit der Tradition zustande kommt. Swadeshi geht von
einem globalen Pluralismus der Nationen aus, der in der jeweils eigenen kulturellen
Vergangenheit begründet wird. Entwicklungsstrategien benötigen daher kultureller
Anpassung und eine globale Strategie der Entwicklung, wie sie Kapitalismus und Sozialismus
fordern, sei unmöglich. So gebe es im Gegensatz zum monadenhaften Individualismus des
Westens in Indien eine ganzheitliche Orientierung, die eine Trennung von Wissenschaft und
Kultur, von Fakten und Werten nicht erlaubt. Entwicklung solle Brauchtum und Religion des
Hinduismus beachten und die Familie als wichtigste soziale Einheit, die Gemeinschaft im
Dorfverband und die Gesellschaft als Nation stärken. Der Austausch mit anderen Kulturen
solle äußerst selektiv sein, und nur dort, wo er als heilsam empfunden wird, durchgeführt
werden. Die Invasion westlicher Werte gefährde die mentale Gesundheit und die Diskrepanz
zwischen Kaufkraft und Angebot führe zu einem Minderwertigkeitskomplex. Auf der
politischen Bühne wird das Swadeshi Konzept von der BJP vertreten die einen
nationalisierten Entwicklungsweg fordert und 1998 die Regierungsgeschäfte übernahm: India
shall be built by Indians. Es wird nun versucht die politischen Klientel im städtischen Raum
zu erweitern und mensch tritt gemäßigter auf. Problematisch ist, dass an keiner Stelle
angedeutet wird, die vom Westen eingeforderte Berücksichtigung der kulturellen Differenz
auf die eigene Nation zu übertragen – eine kulturelle Homogenisierung liegt dem Konzept
zugrunde. Weiters besitzt dieses Unternehmen eine elitäre in der obersten Kaste, auf deren
Repertoire es zurückgreift und deshalb Schwierigkeiten mit der Akzeptanz in den niederen
Kasten hat. Durch die hohe Bewertung der eigenen Kultur fällt die Stellungnahme zu deren
offensichtlichen Übeln(Kastensystem) zumindest ambivalent aus.
Die indische Republik kann als Versuch gesehen werden, unterschiedlichen Traditionen und
Religionen mit ihren kulturellen Systemen eine Koexistenz zu ermöglichen. Der Weg in die
Moderne war nach sozialistischen Maßstäben orientiert und vor allem säkular. Trotzdem oder
gerade deshalb kam es zu interreligiöser Gewalt und seit dem Beginn der 80er zu deren
Anstieg. Auch in der Politik kam es zu einer Hinduisierung und einer rhetorischen
Feindseligkeit gegenüber religiöser Minderheiten was als Regression der staatlichen
Kultur als umkämpftes Terrain
9
Integrationskraft interpretiert wurde. So kam es zu einer theoretischen Revision des
bisherigen Konzeptes von Entwicklung. Die Sozialwissenschaften plädierten in einem Modell
für eine radikale Neubewertung von Kultur und eine Neuvermittlung von Moderne in der
Sprache der indischen Religionen und Traditionen. Die Vermittlung moderner Inhalte sei über
koloniale Vorzeichen geschehen und keine eigene Aneignung oder Erarbeitung gewesen. So
stand Kants moderne Botschaft der Wirklichkeit kolonialer Repression gegenüber. Der
Westen wurde als grundsätzlich überlegen und seine Werte als universal und transkulturell
gültig angesehen. Es sollte eine nachholende Modernisierung vonstatten gehen. Der zentrale
Vorwurf in der Debatte um die Moderne in Indien ist ihre grundsätzliche Ignoranz gegenüber
kultureller Differenz, die in der Universalisierung ihrer Werte begründet liegt.
In der Kontroverse um den Säkularismus sehen viele Sozialwissenschafter das Zentrum ihrer
notwendigen Neubewertung der Moderne, da dieser als kulturell fremdes Element
aufgezwungen wurde und das reiche Repertoire an Traditionen und Kulturen in Indien keine
Trennung von Kirche und Staat kennt. Moderne ist kein absolutes Paradigma, das im
kontextfreien Raum entstanden ist. Nach Madan ist Säkularismus eine spezifisch europäische
Erfahrung und basiert auf der christlichen Dichotomie zwischen Kirche und weltlicher
Herrschaft, welche im Hinduismus und im Islam nicht existent ist, wo Religion das Zentrum
des Lebens darstellt. So ist Säkularismus nicht in der Lage, religiösen Fundamentalismus
zurückzuweisen. Nandy sieht eine durch die Globalisierung hervorgerufene Trotzreaktion,
wenn Religion nicht mehr in der Form einer Alltagsreligion, sondern als radikalisiertes
politisches Programm dient und zum Fundamentalismus wird. Außerdem sei der
Säkularismus nicht von den Massen akzeptiert und deshalb nicht tragbar. Ein weiterer
Kritikpunkt ist, dass der Geist der Aufklärung die indischen Religionen als Aberglauben sah.
Zusammenfassend wird aus diesen Beispielen ersichtlich, dass auf dem Hintergrund einer
politisch in jedem Fall bedenklichen Hochkonjunktur radikaler kultureller und religiöser
Botschaften und Fundamentalismen die Neubewertung von Kultur im Zusammenhang mit
Entwicklung ihren dringenden Anlass findet.
Die Beobachtung der Symptome eines Scheiterns der bisherigen säkularen politischen Praxis
in Indien, die es offensichtlich nicht verstand, den interreligiösen Frieden auf Dauer zu
sichern, und die auf diesem Hintergrund formulierte Diagnose, dass die Ursachen dieses
Scheiterns in einer grundsätzlichen kulturellen bzw. religiösen Diskrepanz zwischen der
originär westlichen Moderne und den lokalen Traditionen zu finden sind, lässt nach
entwicklungspolitischen Alternativen suchen, die näher am vermuteten Habitus der Inder
liegen, wie z.B. der Rekurs auf die Vergangenheit. Nandy sieht in der nicht-modernen,
ländlichen Mehrheit der Inder die Zukunft des Landes. Religion sollte selbst zur Quelle
wechselseitiger Akzeptanz werden, welche selbst religiös und damit in den Traditionen und
kulturellen Lebenswelten verwurzelt ist. Diese Toleranzidee ist aus historischen Gründen
problematisch. Madan hingegen sieht als Konzept des religiösen Pluralismus die
gemeinsamen metaphysischen Perspektiven zum Dasein und führte die Unterscheidung
zwischen einer Religion als Ideologie und einer Religion als Glaube ein, welche das
Vermögen zur Toleranz enthält. Politisch fordern beide, dass Religionsgemeinschaften das
Recht zugesprochen wird, politische und auch sozialen Angelegenheiten gemäß ihrer
Traditionen zu bewältigen und eine Neutralität des Staates gegenüber religiösen Belangen
nicht praktikabel sei. Die angesprochenen Intellektuellen melden sich aber sehr selten zu
Themen der Wirtschaft und Technik zu Wort, die eine Schlüsselstellung auch in der Zukunft
Indiens einnehmen werden. Nandy kritisiert die Emanzipation der Wissenschaft von den
Inhalten der Metaphysik und Religion und die Stilisierung der Wissenschaft als höheres
Wissen. Denn Kultur wird als das alles durchdringende Prinzip der Einheit von sozialethischen Maßstäben und den Funktionen der natürlichen Ordnung gedacht und gilt als das
Kriterium zivilisatorischen Forschritts und dessen, was mensch mit westlichen Termini
Entwicklung nennen könnte.
Kultur als umkämpftes Terrain
10
Es existiert noch eine zusätzliche Version von Moderne, die sich primär am westlichen Ideal
der Konsum- und Spaßgesellschaft orientiert und die städtische Mittel- und Oberschicht
betrifft, welche eine banalisierte Imitation des Westens oder besser dessen, was dafür gehalten
wird, und selektierter Elemente traditioneller Lebensweise praktizieren. So hat diese Moderne
nicht die Konsequenz in Richtung echter Individualität oder geschlechtlicher Emanzipation zu
gehen. Entwicklung wird hier durch Nähe zum Westen definiert.
Für das Thema Kultur und Entwicklung in Indien lassen sich unter anderem diese
Erkenntnisse destillieren. Erstens blendet dieser Diskurs Fragen der strukturellen,
kapitalistischen Problemfelder sei es in der Wirtschaft, der Politik oder der Kultur auf
nationaler wie auf internationaler Ebene völlig aus. Durch eine Verabsolutierung des
„kulturellen Faktors“ bleibt der Blick auf tieferliegende Strukturen der Probleme aus.
Zweitens ermöglicht dieser Diskurs die Legitimation von gesellschaftlicher Hegemonie
kultureller und religiöser Eliten durch nationalistisch argumentierten, pseudoegalitären
Traditionalismus im Namen neuer Solidarität, dies sich beim genaueren Hinsehen aus
Bestätigung vormoderner Hierarchien entpuppt. Natürlich gibt es eine weltweite Verbreitung
globaler Systemzwänge, aber ebenso überzeugten manche Errungenschaften aus dem Westen
wie die moderne Wissenschaft oder die Menschenrechte durch ihre immanente Kraft zu
Befreiung. Diese Differenzierung verschwindet in den oben angeführten Formen der
Thematisierung von Kultur und verhindert damit eben jenen produktiven, echt interkulturellen
Austausch, der eingefordert wurde.
Kolland – Reisen in die Ferne
Vom 15. bis ins 19.Jhdt. gleichen die Reisen militärischen Heerzügen. Sie sind wesentlich mit
dem Ziel der geopolitischen Expansion verknüpft und der Absicht der Vermittlung der
europäischen Kultur. Die fremden Wirklichkeiten werden abgewertet und dämonisiert, das
Stigma der Barbarei definiert das Verhältnis der Europäer zu den zu unterwerfenden fremden
Welten. Auch wissenschaftliche Forschungsreisen lieferten einen Beitrag zur Etablierung
eines kolonialen und post-kolonialen internationalen Systems. Das Reisen war wie in der
Frühzeit der Kulturgeschichte weitgehend zweckgerichtet. Hauptmotive waren Handel,
Entdeckungs- und Eroberungsdrang, Bildung, Religion. Mit dem Kolonialismus begann der
abendländische Kulturexport in die Länder der Peripherie und es wurde ein gänzlich „neues“
Weltbild vom Menschen in der Dritten Welt als geschichtslos und zweitklassig geschaffen.
Beigetragen hat die Reiseliteratur augenscheinlich zur Herausbildung stereotyper
Einstellungen, wobei drei Arten von Stereotypen erkennbar sind: die Einstufung als
barbarisch, als exotisch und als heidnisch. Mangelnde Vernunft und geringe Körpergröße
wurden als Zeichen für die Notwendigkeit von Erziehung und Belehrung durch die
Kolonisatoren wahrgenommen. Dem Barbaren wird der „edle Wilde“ gegenübergestellt, der
noch ein von Kultur und Zivilisation „unentfremdetes“ Dasein führen kann. Der Inferioriät
des Fremden steht die sich selbst zugeschriebene Superioriät gegenüber, wodurch Toleranz
praktizierbar wird. Heidnisch werden die Menschen im Zusammenhang mit der christlichen
Theologie und einer unterstellten wissenschaftlicher Inkompetenz gesehen.
Die Vorläufer des neuzeitlichen Tourismus sind in den Reisen der jungen Adeligen des 17l
und 18, Jhdts zu finden. Die Reisenden fuhren nach ihrem Selbstverständnis in die
„Kolonien“. Im Unterschied zu den Reisen früherer Jahrhunderte spielte neben der Bildung
auch das Vergnügen eine bedeutsame rolle in der Reisemotivation. Ferntourismus konnte erst
durch die Entwicklung des Verkehrswesens wirklich aufkommen. Am Ende des 19. Jhdts
unternahmen auch die neuen Mittelschichten Reisen, die hohes Sozialprestige brachten. Die
Reisenden suchten exotische Orte und Menschen ohne die Zwänge der bürgerlichviktorianischen Gesellschaft suchte. Zivilisatorische Entwicklungsgesetze wurden abgelehnt
und Kultur als Ausdruck individueller Lebensweise gesehen. Seit dem Ende des 19.Jhdts.
Kultur als umkämpftes Terrain
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gehört es zum guten Ton der Philosophie und der Geschichtswissenschaften, sich mit anderen
Kulturen als Gegenkonzept zu der misstrauisch analysierten eigenen Kultur zu befassen.
„Going native“ wird praktiziert. Die Idealisierung des Fremden verstellte den Blick auf das
Alltägliche, Banale, auf Herrschaftsmechanismen. Das Fremde erschien als das Bessere, von
wo aus die Missstände der eigenen Kultur kritisiert werden können. Das „going native“ wurde
zu einem „going naive“. Die soziale und räumliche Ausdehnung des Tourismus ließ um 1960
einen industriell organisierten Massentourismus entstehen. Die Urlaubsreise wurde zur
allgemeinen sozialen Norm, obwohl sie nur einer Minderheit vorbehalten. Die
Entwicklungsländer profitierten nur marginal von diesem Wachstum. Denn der Reiseverkehr
vollzieht sich hauptsächlich zwischen den OECD-Staaten, allen voran den europäischen auf
die zwei Drittel der Reisenden entfallen. Fernreisende sind eher Männer der oberen Schichten.
In den 1960er Jahren wird eine zunehmende Standardisierung des touristischen Blicks
festgestellt. Die Reiseroute führte vorbei an normierten Sehenswürdigkeiten, die Urlaubsfotos
vollzogen im Wesentlichen die von der Tourismusindustrie vorgegebenen Klischees. Urlaub
wurde zunehmend mit sportlichen und nächtlichen Aktivitäten verbunden. Die postmoderne
und postindustrielle Gesellschaft hat neue touristische Wahrnehmungsmuster geschaffen,
ohne dass jedoch die bisherigen völlig an Bedeutung verloren haben. Es erfolgte eine
Individualisierung und Marktsegmentierung. Ferienmenschen sind Anfang der 80er auf der
Flucht vor den Zwängen und Standards der Arbeitswelt und treffen im Urlaub auf Effizienz,
Kalkulierbarkeit, Standardisierung, Vorhersehbarkeit und Kontrolle. Die Beschreibung und
Bewertung der Realität schlägt, wenn sie nicht den vorfabrizierten Bildern entspricht, in
Ablehnung und Hass um. Das Wilde und Exotische hat sich verflüchtigt. Das Fremde ist nicht
mehr fremd und daher „uninteressant“.
Im Kulturtourismus wird der Kontakt mit den sakralisierten Sehenswürdigkeiten gesucht.
Kultur und Tourismus wurden durch Marktgesellschaft und Massenkonsum enger aneinander
gebunden. Kulturinteresse bleibt dabei auf eine kleine gesellschaftliche Elite beschränkt,
während umgekehrt der Tourismus die Kultur primär für wirtschaftliche Zwecke
instrumentalisiert. Es werden mehr Objekte unter weniger Auflagen touristischer
„Verwertung“ zugeführt werden. Kulturtourismus innerhalb und zwischen den
Industriestaaten ist nach der Logik der Globalisierung ein Städtetourismus zwischen den
Metropolen, wobei Kultur als Standortvorteil eingesetzt wird. Gerade im Kulturtourismus
wird keine „eigene Welt“ geschaffen, sondern das „Vorhandene“ angeboten. Denn ein
bedeutendes Kennzeichen kulturtouristischer Angebote ist deren Echtheit, deren
Authentizität, sie dürfen nicht künstlich geschaffen werden. Er ist deutlich mit der
Globalisierung verknüpft, denn je weiter die globale Vernetzung voranschreitet, umso mehr
scheint die Eigenart der Regionen –ihre Kulturelle Identität- in den Blickpunkt des Interesses
zu rücken. Fremd sind die fremden Kulturen, während die eigene Lebensform die Norm und
daher eigentlich gar keine „Kultur“ ist. Der Kulturtourismus in außereuropäische Länder ist
bislang kaum auf Städte gerichtet, er richtet sich vielmehr auf die alten Hochkulturen und
vormoderne Lebensformen. Es ist die Statik, das Vergangene, das Andere, das interessiert.
Die Menschen interessieren hier weniger. Armut und ungünstige Lebensbedingungen
„passen“ nicht zu den besuchten Stätten weltkulturellen Erbes. Der Kulturbegriff im
Kulturtourismus durchdringt nicht jeden Lebensbereich, sondern beschränkt sich weitgehend
auf die Hochkultur bzw. inszenierte Alltagskultur. Kulturerbe besteht aus Gütern, die dank
ihrem Bezug zur Geschichte, Kunst und ganz allgemein zur Kultur ein Zeugnis der geistigen
Ursprünge ablegen. Der reine Kulturtourist stellt eine Minderheit dar, für die Mehrheit der
Reisenden ist Kultur ein zusätzlicher Bestandteil ihres Urlaubs. Kulturtourismus lässt sich
weniger von der Angebotsseite her definieren, sondern vielmehr dahingehend, inwieweit
Touristen eine bestimmte Sehenswürdigkeit als „kulturell“ einstufen und wie die
Wahrnehmung einer Sehenswürdigkeit vor dem Hintergrund der eigenen Kultur erfolgt. Der
(Kultur-)Tourist gilt als eine Art zeitgenössischer Wallfahrer, der Authentizität in anderen
Kultur als umkämpftes Terrain
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Zeiten und an andern Orten sucht, weg vom alltäglichen Leben. Gefordert wird dabei das
Beste aus beiden Welten: Authentizität und Verfügbarkeit von Annehmlichkeiten. Die Suche
nach Authentizität bzw. nach dem Fremden ist umso größer, je größer die Entfremdung des
Touristen ist, je entfremdeter er/sie lebt. Gerade mit der Auflösung der räumlichen Schranken
wird das Spezifische eines Ortes, sein Bauten, sein Geschichte, seine Umwelt umso
anziehender. Bei „cool authenticity“ geht es gar nicht um eine Erkenntnis des Fremden,
sondern um eine sinnliche Erfahrung imaginärer Welten, einer „als ob“ Authentizität, einer
sozialen Konstruktion touristischer Sehenswürdigkeiten/Erlebnisse. Vermittelt wird das
Image von Authentizität über den Eindruck einer vormodernen Kultur. Touristen reisen zum
Teil mit dem Anspruch, nicht mit Armut, Ausbeutung oder „Unterentwicklung“ konfrontiert
zu werden, da sie diese ja zu Hause hätten. Über die Darstellung von Menschen in
traditionellen Kleidern, unberührter Natur und einfacher Lebensweise wird eine statische
Kultur vermittelt, die das Bedürfnis nach Zeitlosigkeit und Stabilität in einer sich rasch
verändernden und kaum durchschaubaren Welt befriedigt. Eine dominante Ideologie im
Tourismus ist jene, wonach dieser zu mehr Verständnis für außereuropäische Kulturen führe,
kulturelle Harmonie generiere und zu Solidarität zwischen Reisenden und Bereisten führe. In
Wirklichkeit gibt es aber kaum eine Evidenz dafür – im Gegenteil: oft kommt es zu
kulturellen Konflikten. Während die Ersteren sich in der Freizeitwelt befinden, sind die
Letzteren im täglichen Erwerbsleben integriert. Die Touristen suchen unmittelbare
Befriedigung und wollen keine kontinuierliche Beziehung aufbauen. Doch ist dies ein
Defizit? Ich verstehe meinen Mitmenschen nicht dadurch , dass ich aufhöre, ich selbst zu sein.
Der Bezug zur eigenen Kultur ist ein wesentliches Element. Kultur ist eine Eigenschaft, die
nicht lediglich dem Anderen zukommt, sondern auch dem Touristen. In der Beziehung
zwischen Touristen und Einheimischen wird ein starkes Machtgefälle wahrgenommen. Die
Einheimischen müssen die Last der ökonomischen, sozialen und kulturellen Anpassung tragen
müssen. Die Tourismusindustrie verwandelt lokale Kulturen in Waren, sie werden zu
Konsumartikeln wie auch andere Konsumgüter. Die Annahme, Sozialstrukturen würden
zerstört, hat aber einen konservativen Kern, der traditionelle Verhältnisse idealisiert, gleich
wie autoritär, repressiv oder patriarchal sie sein mögen. Die Bewohner touristischer Regionen
verfügen über sehr unterschiedliche Strategien der Rezeption des Tourismus. Die Bandbreite
reicht von selektiver, selbstbewusster Adaption an die touristischen Spielregeln bei
gleichzeitiger ökonomischer, kultureller oder emotionaler Vorteilsmaximierung. Als
problematisch gilt im Kulturtourismus die Kommerzialisierung und Standardisierung des
Angebots, Kultur wird reduziert, unter anderem weil ein hoher Grad von „Vorhersehbarkeit“
eingefordert wird. Konflikte werden dort sichtbar, wo die Präsenz des Tourismus ein eigenes
kulturelles Angebot erzeugt, welches primär produktorientiert ist – z.B. „Instant“-Kultur der
Themen- und Freizeitparks. Es existieren nicht nur Machtkonflikte zwischen Zentrum und
Peripherie, sondern auch solche zwischen nationaler Hegemoniekultur und MinderheitenKulturen.
(Multilaterale) Entwicklungshilfegeber wie die UNO oder die Inter-Amerikanische
Entwicklungsbank befürworten den Ferntourismus. Dependenztheoretische Ansätze sehen
diesen jedoch als Form des (Neo-)Kolonialismus dar. Die Dritte Welt werde zur
Vergnügungsperipherie der Industrieländer degradiert, weshalb der Ferntourismus erheblich
problematischer als der Tourismus innerhalb der Industrieländer sie. Investitionen in
internationalen Standard-Tourismus seien Investitionen, die zu Abhängigkeit führten. Die
Dominanzverhältnisse des Nord-Süd-Konfliktes existieren auch bei individuellen,
persönlichen Begegnungen zwischen Reisenden und „Bereisten“ ungebrochen weiter(vor
allem im Sextourismus). Die Bretton-Woods Institutionen machen für die mäßige Bedeutung
des Tourismus in EL endogene wirtschaftliche Faktoren verantwortlich. Es wird oft
übersehen, dass neben dem Tourismus andere Faktoren, wie zum Beispiel die Mediatisierung
oder der Handel einen ebenso bedeutenden Beitrag zu sozialem Wandel leisten.
Kultur als umkämpftes Terrain
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Kaller-Dietrich – Profunde Kulturen und imaginäre Kultur
Memoria bezieht sich auf die Mitgliedschaft in einer Gesellschaft, die sich über Texte
verständigt und ist Ressource für die Konstruktion von Geschichte. Memoria ist im
Abendland empirisch mit den großen religiösen Erzählungen aufgefüllt. Sie schreibt eine
bestimmte Entwicklung des Volkes, der Gemeinde, der eigentlichen Zivilisation vor.
Entwicklung bedeutet für die drei großen monotheistischen Heilsbotschaften Ausbreitung der
Heilslehre, Expansion, Unterwerfung der Anderen unter das Diktat der Memoria. Kultur stellt
das nachgereihte Partikulare dar. In der Memoria stellt sich die Geschichte als eine
Traumkarriere der Moral dar und ist der Siegeszug des Gute. Zivilisation blickt in die Zukunft
und rekonstruiert ihre zukunftsträchtige Memoria. Das Jetzige wird nur gestreift auf dem Weg
in die eigentliche Zukunft, die immer vorschwebt und entwicklungslogisch aus der
Vergangenheit fort- und vorgeschrieben wird. Profunde Kulturen schauen durch, in und mit
Geschichten zurück, beschäftigen sich also mit dem Gewussten, nicht mit dem Wissen, das
erst eintreten wird. Ihr orales Erinnern verlangt eine hohe Frequenz an Erinnerungstätigkeit.
Die Memoria entlastet von der Reproduktionsarbeit: Einmal verschriftlicht erinnert, bedeutet
sie Wissen ohne Fragezeichen und es bleibt mehr Zeit für die Imagination von zukünftigen
Horizonten. Imaginäre Kulturen imaginieren Zukunft und sind in ihrer Erinnerungstätigkeit
effektiver als die profunden Kulturen, die sich ständig ihrer Vergangenheit vergewissern, um
sich nicht selbst zu vergessen. Die profunden Kulturen erinnern sich ihres Lebens und sind in
eine in die Vergangenheit gerichtete Sehnsucht verstrickt, während die Imaginären von ihrem
zukünftigen Leben träumen, sich auf ein Morgen vertrösten.
Über kulturelle Besonderheiten wurde in der Entwicklungspolitik nicht verhandelt. Wenn von
Kultur gesprochen wurde, stellten ihre VertreterInnen eher einen Fremdkörper dar,
möglicherweise eine Bedrohung für das Gelingen von konkreten Entwicklungsprojekten,
mindestens aber ein Ärgernis, eine Last. Moderne Entwicklung weist grundsätzlich in die
Zukunft, ist also noch nicht da. Imagination bedeutet, dass die Realisierung des aktuellen
Seins in die Zukunft verlegt und auf eine standardisierbar Vorstellung hin ausgerichtet wird.
Dass also die Gegenwart einem „Noch-nicht-aber-schon-Bald“-Zustand geopfert wird. Und,
dass es Vorschriften, einen Plan gibt, der präzise zum Heil führt. Diese Vorstellung
überschattet die verschiedenen stets präsenten Gesichter des z.B. Mexico profundo. Das
profunde Mexiko aber weiß um seine Vergangenheit und lebt in der Gegenwart. Der
wichtigste Wert ist das Tätigsein im Jetzt. Es lohnt sich, das Bild in Bezug auf Entwicklung
und Kultur zu überdenken und das Imaginierte und Profunde zu unterscheiden. Jene
Ideologien – ob marxistisch oder liberal – welche die Welt von einem materiellen und
linearen Geschichtsbild aus betrachten, lassen sich als imaginäre Kulturen verstehen. Die
Überzeugung, dass sich Gesellschaften von einem primitiven Zustand auf einen
fortgeschritteneren hinbewegen, bestimmt die imaginäre Kultur. Fortschritt wird zum
höchstem Wert. Vor diesen Ansprüchen scheitern profunde Kulturen in mehrfacher Hinsicht.
Der Begriff Entwicklung unterstellt mit seinen erheblichen Unschärfen den sozialen
Handlungen eine naturanaloge Gesetzmäßigkeit. Das eigene Handeln wird oft damit
motiviert, dass es eine objektiv bestehende Entwicklung nur vorstrecke und unterstütze.
Entwicklung kann einen gerade aufstrebenden Prozess meinen oder andere Verlaufsfiguren
wie Spiralen, beschreibt aber in jedem Fall angeblich einen „zielgerichteten, naturhaften
Gesellschaftsprozess“. Imaginäre Kultur meint, den Fortschritt der Menschheit selbst zu
verkörpern. Der Evolutionist unterwirft, verwaltet, erzieht fremde Völker, um sie am
Fortschritt teilhaben zu lassen, der sie glücklicher und besser machen soll. Voraussetzung
dafür ist jedoch die Aufgabe ihrer kulturellen und staatlichen Eigenständigkeit. Das Denken in
Entwicklungsstufen ermöglich die Hierarchisierung von Menschen und Kulturen, die sich z.B.
in einem vorläufigen Zustand der Rückständigkeit befänden, den sie durch Öffnung ihrer
Kultur als umkämpftes Terrain
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Kultur für die Segnungen der entwickelten Welt überwinden würden. Profunde Kultur
benennt auch heute noch verachtenswerte Eigenartigkeiten oder so genannte Traditionen wie
Sklavenarbeit, Folterung und Verstümmelung.
Multikulturalismus als Ethnozoo ist jenes Sammelsurium an verträglicher Andersheit, das die
Toleranz der liberalen Gesellschaft gerade noch zulässt, z.B. „Ethno“ als Lifestyle-Läden.
Tritt uns das Andere aber zu nahe, wehren wir uns mit der Referenz auf allgemeingültige
Normen vehement dagegen – mit der Berufung auf universalistische Werte. Das Ausleben
von Differenz wird zur Privatsache deklariert, die sich im Streitfall den allgemeinen Normen
der strikt von ihr geschiedenen öffentlichen Ordnung zu beugen hat. Die imaginäre Kultur
sichert die öffentliche Ordnung, also das Politische, ab. Wenn die profunden, kulturellen
Praktiken der imaginären Kultur im Weg stehen oder sie hemmen, müssen sie den
dominanten Normen der imaginären Kultur folgend verändert werden. Durch dieses
Machtverhältnis geht Entwicklung mit profunden Kulturen stets direkt und strukturell
gewaltsam um. Die wohl wichtigste Eigenschaft imaginärer Kultur liegt daran, dass sie sich
selbst zum Maßstab für Entwicklung, zum moralisch Richtigen, macht.
Beispiel „magischer Realismus“: dieser sei zwar eine schöne lateinamerikanische Seinsweise,
doch ließen sich mit ihm weder die Auslandsschulden zahlen noch ein Ansatz entwickeln, der
Produktion und Export ermöglicht. Er lasse sich nicht mehr aus sich selbst beurteilen, sondern
allein im Vergleich zu einer anderen Kultur, die ihn gegenwärtig herausfordert. Daraus folgt,
die lateinamerikanische Kultur müsse radikal geändert bzw. dem angelsächsischen Modell
angeglichen werden, weil sie sich noch an eine Moral und eine Menschenauffassung
anklammere, die typisch präkapitalistisch sei.
Entwicklung ist ein Schlüsselbegriff der modernen Konsumgesellschaft. Dieser Gedanke
ergänzt Galtungs Hinweis auf die kulturell gewaltsame Dynamik, die sich zeigt, wenn der
entwickelte Konsum am globalen Markt auf Widerstand trifft. Entwicklungsstrategien setzten
immer voraus, dass es Unterentwicklung, das heißt, nicht normkonforme Produktions- und
Lebensformen gibt, welche „unterentwickelte Menschen“ haben. Culture is how to do what.
Das Wie und Was des Konkreten und Gelebten ist allerdings in Bewegung, verändert sich
ständig. Diese Bewegung ist aber weder vorgedacht, vorgeschrieben noch planbar. Tätigsein
ist das, was Menschen in Gemeinschaften aus sich heraus, an sich selbst und auf ihre Weise
tun und kein abgeschlossenes Werk. Tätigsein schafft keine Tatsachen, an der sich Kultur,
Zivilisation, Gesellschaft oder eben die Entwicklung derselben ließe. Es sollte interessieren,
wie Menschen in ihrer Welt zurechtkommen, wenn wir nach Kulturen fragen und wie
profunde Kulturen ihrerseits mit der imaginären Kultur umgehen. Zu lange waren die
profunden Kulturen nicht nur der Forschung als kohärente, in sich geschlossene, ahistorische
– geradezu naturgegebene Gebilde – erschienen, die frei von inneren Konflikten und
äußerlichen Störfaktoren existierten. Mit ihrem Ya Basta fordern die Neo-Zapatisten
Selbstbestimmung für sich und gleichzeitig Selbstbestimmung für alle Opfer der
Globalisierung. Damit beharren sie öffentlich darauf, dass es keine kulturelle
Abgeschiedenheit gibt. Sie erinnern daran, dass jeder Mensch einen Ort hat, von dem aus er
auf andere Orte blickt. Die Menschen, die zu und in profunden Kulturen stehen, widersetzen
sich an ihrem Ort. Dem Argument der imaginären Kultur, demzufolge sich auch die
traditionellen, rückständigen, nicht-modernen Kulturen bereits unwiderruflich in Richtung
imaginäre Kultur verändert haben, hält Bonfil Batalla ganz im Sinne einer profunden
kulturellen Eigenbestimmung entgegen. Triebfeder und die Auswirkungen der kulturellen
Beherrschung werden oft vergessen, zu denen wohl die ökonomische Ausbeutung zählt sowie
die hegemoniale Ideologie und die Ungleichheit. Das sind alles auch materielle Mittel des
Widerstands, so wie die Pferde und Gewehre der Prärieindianer zwei, drei Jahrhunderte
davor.
Kultur als umkämpftes Terrain
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Krotz – Die Kulturenvielfalt indigener Völker als Entwicklungsproblem in Lateinamerika
Die lateinamerikanischen Gesellschaften sind fast immer schon auf den ersten Blick als
multikulturelle Gesellschaften erkennbar, was ursprünglich in ihren indigenen Völkern
gründet und seinen historischen Ursprung in einem gewaltsamen Eroberungsprozess. In
einigen Ländern wie Guatemala, Bolivien, Ecuador, Peru oder Mexiko ist deren Anteil hoch,
in anderen Ländern wie Venezuela, Kolumbien, Brasilien oder Chile niedrig. In anderen
Fällen prägt eine Mestizenbevölkerung beziehungsweise Mestizenkultur das Bild, wobei
Letztere manchmal mehr als einfache Vermischung zweier Bevölkerungssegmente. Die neue
herrschende Schicht sieht die Indios als Problem und extremen Gegenpol zum Modell der
ersehnten „Zivilisation“: Ihre Andersheit ist Symptom und zugleich Grund ihres
Zurückgebliebenseins, und dieses wiederum hindert das gesamte Land am Fortkommen.
Folgerichtig wird die indigene Bevölkerung Ziel besonderer staatlicher Maßnahmen.
Modelle der Behandlung der „indigenen Frage“: Der Liberalismus des 19.Jhdts in
Lateinamerika sah nur freie und gleiche Staatsbürger ohne Sonderrechte für Individuen und
Gruppen wie der indigenen Völker, deren wirtschaftliche Grundlagen in erster Linie durch die
Abschaffung des Gemeindelandes aufgelöst wurden. Dies war ein schwerer Schlag für die
indianische Sozialordnung und führte zum Zerfall vieler indianischer Gemeinden, deren
Mitglieder nicht selten zu Lohnarbeitern der Haciendas und Plantagen wurden.
Die aus der mexikanischen Revolution hervorgegangene Staats- und Gesellschaftsordnung
führte bei den Nicht-Indios in Bezug auf die indigene Bevölkerung zu einer wichtigen
Umorientierung. Wurde im liberalen und entwicklungsdiktatorischen Regime des 19.Jhdts das
Problem der indigenen Völker hauptsächlich von einem rassistischen bzw. biologischen und
eher selten sozialen oder kulturellen Standpunkt aus betrachtet, bestand jetzt keine Zweifel
mehr daran, dass die indigene Frage der soziokulturellen Ebene angehört und
dementsprechend angegangen werden muss. Das Wort „Indio“ ist auch heute noch mit Armut,
Unwissenheit und negativen Charaktereigenschaften assoziiert, doch wurde damals zumindest
im Prinzip eine positive Sichtweise der indigenen Kulturen vertreten. Die nachrevolutionäre
Indigenismuspolitik beruhte hauptsächlich auf den beiden Säulen Agrarreform und
Erziehungswesen und wies bis Anfang der 40er auf einer distanzierten Haltung hinsichtlich
der indianischen Kulturen. Ab den 40er wurde die Bildung und Konsolidierung einer
einheitlichen mexikanischen Nationalkultur angestrebt – Indigenismuspolitik war eigentlich
nichts anderes als eine rationale geplante und durchgeführte, negative Folgen für die indigene
Bevölkerung umgehende oder abschwächende Fortführung des mit der Eroberung
begonnenen, unausweichlichen und übeall in der Welt anzutreffenden geschichtlichen
Vorgangs, der als „Akulturationsprozess“ bezeichnet wird. Darauf baue der Indigensimus auf,
dessen erklärtes Ziel die „Integration“ war. Die Überwindung der für die indigenen
Gemeinschaften typischen Subsistenzwirtschaft und ihre Einbeziehung in die durch Markt
und Industrie gekennzeichnete Moderne, wofür deren Mitglieder neue Kenntnisse und
Haltungen benötigten und traditionelle Strukturen umgebaut werden mussten.
Ende der 60er begann sich eine später kritisch oder neu genannte Anthropologie
herauszukristallisieren, die unter dem Einfluss von Dependenztheorie, Imperialismuskritik
und marxistischen Perspektiven sowie einer scharfen internationalen Kritik an Genozid und
Ethnozid in der Dritten Welt stand und ihre Hauptaufgabe in einer radikalen Überprüfung des
mexikanischen Gesellschaftsmodells verstand. In der Produktionsweise und im Markt, und
nicht im bis dahin bevorzugten Überbau wurden die Ursachen und Möglichkeiten einer
Verbesserung gesucht. Die mexikanische Gesellschaft wäre von einem „internen
Kolonialismus“ gezeichnet und indigene Autonomie und die Errichtung eines
„plurikulturellen Staatswesens“ gefordert. Eine zweite Richtung hingegen kritisierte den
Kultur als umkämpftes Terrain
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Indigenismus als ein „kapitalistisches Projekt zur Auflösung nicht-kapitalistischer
Gesellschaften“. Die indigenen Gesellschaften dürfen keinesfalls als atomisierte und isolierte
Gruppen analysiert werden, da sie seit Beginn der Kolonialzeit eng mit dem Rest der sie
dominierenden Gesellschaft verwoben waren. Bis in die 80er dominierte jedoch eine
ökonomische Sichtweise, die die sozialkulturellen Besonderheiten als theoretisch belanglos
für die Analyse des Ausbeutungsverhältnisses erachtete. Schon Ende der 70er wurde das
Ungenügen dieser Perspektive erkannt und mit einer Analyse der sozialen Akteure und damit
der symbolischen Sphäre begonnen. Die nach der Schuldenkriste 1982 dem Lande
aufgezwungene neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik, verschlechterte die Lage der
ärmeren Bevölkerungsschichten, unter denen sich ja die meisten indigenen Gruppen befinden,
nachhaltig und subsummierte somit in der Tat auch während der letzten Dekade des
vergangenen Jahrhunderts die indigene Bevölkerung unter die wachsende Zielgruppe der
sogenannten „Armutsbekämpfung“.
Parallel dazu begannen indianische Organisationen und Intellektuelle die theoretische und
praktische Möglichkeit des „Etnodesarollo“, das indigene Kulturen als „alternative und
komplementäre Projekte“ sieht und eine Weiterentwicklung der indigenen Gesellschaften
gemäß ihrer je eigenen kulturellen Logik fordert, auszuloten. Der Aufstand in Chiapas hatte
großen Einfluss auf das Bundesgesetz über indigene „Rechte und Kulturen“, während die
staatliche Indigenismuspolitik zunehmend konzeptionsloser und widersprüchlicher wurde.
Dazu kam dass ein Tabu gebrochen und mittels einer Verfassungsänderung die Möglichkeit
gegeben worden war, die Ejidos in frei verpacht- und verkaufbare Einzelparzellen aufzuteilen
und somit den sogenannten Kräften des freien Marktes Zugang auch zu den indianischen
Gemeindeländereien zu verschaffen. Im letzen Jahrezehnt haben zahlreiche Anthropologen
und andere Sozialwissenschaftler und sogar einzelne Philosophen begonnen, sich mit der lang
vergessenen indigenen Frage zu befassen. Die „Autonomie“ der indigenen Völker ist zum
zentralen Schlagwort in der sozialwissenschaftlichen wie der politischen Diskussion
geworden – die „indigene Frage“ sollte von der indigenen Bevölkerung allen gelöst werden.
Gegenwärtig werden zwischen 5 und 15 Prozent der Bevölkerung Mexikos als „indigen“
angesehen, deren Ethnien von einigen hundert bis einigen hunderttausend Mitglieder zählen.
Streng genommen gibt es keine „Indios, oder „indianische Völker“, sondern nur die jeweils
konkreten und spezifischen Völker oder ethnischen Gemeinschaften mit einer auf die lokale
Gemeinde beschränkte kollektive Identität und einer ländlich-agrarischen Prägung. Es scheint
ein erkennbares spezifisches Ethos auf, in dem die Gemeinschaft(Familie, Lokalgemeinde)
dem Individuum vorgeordnet ist, die landwirtschaftliche und handwerkliche Produktion
hauptsächlich der Reproduktion von Haus- und Lokalgemeinde und nicht der Akkumulation
dient, die sozialen Strukturen mehr auf Gleichheit, Reziprozität und Solidarität als auf
Distinktion und Konkurrenz fokussiert sind, bei Verfehlungen die Wiedergutmachung
prinzipiell wichtiger ist als die Bestrafung. Bis heute ist die Situation der indigenen Völker
durch indigenen Kolonialismus gekennzeichnet, sind sie doch gleichermaßen Opfer von
wirtschaftlicher Ausbeutung, politischer Unterdrückung und ethnisch-kultureller
Diskriminierung. Der assimilatorische Indigenismus hatte die Auslöschung zahlreicher
Sprachen und Kulturen zur Folge, doch wächst die absolute Zahl der Mitglieder indigener
Völker und Gemeinden beständig, wodurch die Entwicklung einer mesoamerikanischen
Moderne eine reale Möglichkeit sein könnte. Um ihr Aufblühen zu ermöglichen, müsste
allerdings in und außerhalb von Mexiko die Ideologie einer einzigen Moderne aufgegeben
werden. Weder Monokulturalismus oder Multikulturalismus im Sinne eines unvermittelten
Nebeneinanders zeigen einen gangbaren Weg. Wie aber wäre eine Interkulturalität zu denken,
im allgemeinsten Sinne einer „gegenseitigen Relation“ unter verschiedenartigen Kulturen und
ohne Zwang. Die Bereiche des Territoriums, also die Regierungsautonomie für sämtliche
inneren Angelegenheiten der Völker und Gemeinden und eine gleichere Verteilung der
nationalen Ressourcen werden oft als besondere kritische Punkte genannt. Es scheint keine
Kultur als umkämpftes Terrain
17
Alternative für eine Art der tastend und nur schrittweise, nicht linear sondern dialektisch
vorankommenden, immer neue widerstände hervorrufenden und überwindenden, steter und
systematischer Reflexion bedürfenden Bewegung zu gehen. Es geht nicht um eine
rückwärtsgewandte, sozusagen museale „Bewahrung“ indigener Kulturen, sondern um die
Ermöglichung ihrer Aktualisierung und Weiterentwicklung und Bewertung ihrer eigenen
Traditionen – also ob sie ihre Kulturen durch innovatives Handeln verändern wollen. Für
unsere nordatlantische Kultur könnte der Blick auf andere bereichernd sein.
Luger - Im Rhythmus der Himalayadörfer
Entwicklungspolitische Theorie und Praxis der EZA klaffen oft weit auseinander. Eine Kultur
enthält die „Landkarten der Bedeutung“, welche für ihre Mitglieder verstehbar macht und sie
in ihrem Umfeld vernünftig agieren lässt, daher sie bildet ein dichtes, selbstgesponnenes Netz
von Bedeutungsstrukturen. Kultur ist die Art, wie die sozialen Beziehungen einer Gruppe
strukturiert und geformt sind. Aber sie ist auch die Art, wie diese Formen erfahren, verstanden
und interpretiert werden. Der Wandel von kulturellen Bezügen lässt sich durch Empirie
dingfest machen. So werden durch Modernisierungsprozesse wie etwa das Aufkommen der
Geldwirtschaft auf dem Land, Konsumhaltungen und der Radikalisierung des religiösen
Hindu-Traditionalismus zentrale Lebensweisen, Werte und Normen der nepalesischen Kultur
tendenziell aufgelöst. Risikominimierung der gesamten Gruppe und Tauschhandel waren die
Grundfeste der Dorfökonomie, Profitmaximierung des Einzelnen und Kredit- bzw.
Schuldengeschäft der neuen ökonomischen Ordnung sind die neue „driving force“ und haben
die kulturelle Form verändert. Die Medien und Kulturindustrie implantiert neue Themen,
Ideen, Lebens- und Modernisierungsentwürfe in die Gesellschaft, denn Kultur wird durch
Kommunikation gesteuert, Bedeutungen und Sinn werden kommunikativ ausgehandelt bzw.
vermittelt. Individuen sind als handelnde Akteure zu begreifen, die auf ihr gesellschaftliches
Umfeld reagieren und sich mit neuen Positionen arrangieren, Widerstand leisten, Interessen
vertreten und durchsetzen, Konsumgewohnheiten oder auch einen „Eigensinn“ herausbilden,
somit Lebensstile formen, bzw. ihre Kultur als Lebensweise entwickeln und immer wieder
modifizieren. Wer die Medien beherrscht, reguliert das Formenprogramm, die software der
Gesellschaft. Er/Sie bestimmt über gesellschaftliche Entwicklung und über die
Geschwindigkeit der Veränderung von Lebensstrukturen und hat Einfluss auf die
Definitionsmacht. In jenen Kulturen, in denen moderne Massenmedien weniger präsent sind
kommt den lokalen Eliten die zentrale Rolle in der Aufrechterhaltung der bestehenden
Ordnung. Anstöße zu Reformen erfolgen zumeist durch die jüngere Generation von besser
Ausgebildeten bzw. von zurückgekehrten Migranten. Sie werden zu „change agents“ und so
auch oft zu führenden Figuren in Entwicklungsprojekten.
Im Alltag hat das offiziell längst abgeschaffte Kastensystem noch immer Gültigkeit und die
Entscheidungen in Wirtschaft und Politik werden ausschließlich von Brahmanen,
hochkastigen Indus, getroffen, die viele Reformen, so auch die gerechtere Verteilung des
Landbesitzes, bislang verhindern, um ihre privilegierte Situation nicht zu gefährden(meiner
Meinung kein kultureller Aspekt und nicht nur im Kastenwesen zu finden. Genauso in
Österreich, Lateinamerika, Afrika...). Aufgrund der vielfältigen ethnischen Komposition fehlt
eine ausgeprägte nepalesische Identität. In den Bergen und Tälern des Landes erfolgt
Kommunikation noch im traditionellen Sinn und Geschichten werden mündlich
weitergegeben. Manche Sprachen sind keine Schriftsprachen und religiöse Feste werden zum
Austausch von Neuigkeiten und Wissen genutzt, wie z.B. Anbaumethoden. Persönliche
Kommunikation regiert die Austauschbeziehungen in dieser Kultur, die im Schatten der
höchsten Berge der Welt ihre Besonderheiten entwickelt hat, und nur dort, wo mit dem
Tourismus oder mit Entwicklungsprojekten die Modernität Einzug gehalten hat, gibt es
Veränderungen auch in den Interaktionsformen der Einheimischen. Dort gibt es einen Wandel
Kultur als umkämpftes Terrain
18
hinsichtlich Gesellschaft, Kultur und Ökonomie. Durch den daraus resultierenden
Bevölkerungszuwachs kann der Boden die Menschen nicht mehr ernähren. Die traditionelle
Landwirtschaft reicht in vielen Gebieten nicht mehr zur Subsistenz(ev. wegen anderer,
zusätzlicher Ausgaben?) und die Menschen sind auf zusätzliches Einkommen angewiesen
wodurch die frühere Isolation und Selbstversorgung tendenziell durch marktorientiertes
Handeln und von geldökonomischen Austauschbeziehungen ergänzt und durchdrungen. Es
zeigen sich deutliche Urbanisierungstendenzen. Eine weitere Dimension des Wandels betrifft
die Öffnung nach außen – durch Straßenbau und Marktbeziehungen, berufliche Migration,
Tourismus, Medien und „neue“ Informations- und Kommunikationstechnologien. Von diesen
Faktoren gehen die vehementesten Veränderungen aus – zum vorteil als auch zum Nachteil
der lokalen Bevölkerung. Diese Widersprüchlichkeit des sozialen Wandels drückt sich vor
allem im internationalen Tourismus aus. Dieser hat das Potenzial eines zusätzlichen
Einkommens und des Schutzes des fragilen Ökosystems. Doch führte eine unbedachte
Errichtung touristischer Infrastruktur zur Zerstörung der Umwelt und ramponierte das soziale
bzw. kulturelle Gefüge. In den Tourismusregionen Nepals liegt der Lebensstandard deutlich
höher als im Rest des Landes. Vor allem die Sherpas profitieren.
Veränderungen im kulturellen Gefüge einer Gesellschaft sind in den meisten Fällen von
externen Faktoren verursacht. Die Lebensart der lokalen Bevölkerung war und ist bis heute in
religiösen Traditionen verwurzelt. Wie in allen kollektivistischen Kulturen Asiens spielt die
Familie oder die Clanzugehörigkeit eine zentrale Rolle, schützen das ausgeprägte
Hierarchieverständnis oder die genaue Befolgung der Heiratsregeln von abruptem kulturellem
Wandel. Die politische Instabilität und die Verantwortungslosigkeit des politischadministrativen Systems gelten als zentrale Hindernisse für die positive Entwicklung des
Landes(aber wodurch werden diese verursacht?). Nepal war nie von einer Kolonialmacht
unterworfen, sondern eine absolute Monarchie, die durch ihre Isolation vom Ausland bis 1950
wohl den Grundstein für die Unterentwicklung legte(aber auch „geöffnete“ Länder
„unterentwickelt“). Nepal ist kulturell und wirtschaftlich von Indien abhängig. Es herrsch das
Kastenwesen mit ausgeprägten hierarchischen Strukturen vor. Als ein Entwicklung am
stärksten verhindernder Faktor wird aber häufig ein kulturelles Argument, der Fatalismus der
Nepalesen, ins Treffen geführt. Der Einzelne habe demnach keine Kontrolle über seine
Lebensumstände, was im krassen Widerspruch zu Produktivität, Effizienz oder anderen
Werten und Zielsetzungen stehe, die letztlich zu einer merklichen Verbesserung der
Lebensumstände führen können. Erst mit der Einführung der Demokratie in den 90ern wurden
Veränderungen erzielt, deren ungewollte und negative Nebenerscheinungen das Land jedoch
auf sehr abrupte Weise überrollten. Der absolute Respekt für Tradition und
Statusverpflichtungen, die geringe Sparquote und Investitionsbereitschaft(ev. weil sie kein
Geld haben?) und die Vermeidung von Unsicherheiten verhinderten lange Zeit nahezu
jegliche soziale und wirtschaftliche Entwicklung.
Wie lässt sich die Ordnung einer derart dem Jenseitigen zugewandten Gesellschaft, die aber
gleichzeitig nur im Hier und Jetzt zu leben scheint, überhaupt mit Planung, strategischem
Denken und so fremden Konzepten wie „Projektzyklen“ (wer kennt im Westen diese
Konzepte??) in Übereinstimmung bringen, in eine tragfähige partnerschaftliche
Zusammenarbeit umsetzen? Kulturelle Konventionen gelten nicht nur als schützenswerte
Tradition, sondern stehen auch in Frage, vor allem wenn sie als Ursachen für Problemlagen
gelten. Bei der Zusammenarbeit muss auch Intervention verzichtet werden können, falls sich
kein Konsens über Ziele und deren Realisierung aushandeln lässt. Öko Himal will das
kulturelle und architektonischen Erbes durch Nutzung als kulturelles Veranstaltungsgelände
mit Gastronomiebetriegen bewahren und hat auch eine tourismuspolitsche Komponente. Mit
der Förderung von kulturinitiativen besteht die Chance, in Vergessenheit geratene Traditionen
mit neuem Leben zu erfüllen. Öko Himal arbeitet vorwiegend mit ethnischen Minderheiten in
Berggebieten zusammen, die nicht Nepalesisch sprechen. Kulturelle Zusammenarbeit kann
Kultur als umkämpftes Terrain
19
sich nicht nur auf Bewahrung und Konservierung – so wichtig dies auch sein mag –
beschränken. Die Herausforderungen der Zukunft und das Bemühen der
Entwicklungsgesellschaften, an weltweite Trends und Märkte anzudocken, stellt sie vor
Herausforderungen im wirtschaftlichen und technischen Bereich, die Konsequenzen in der
„software“ der Gesellschaft, ihrer Kultur, haben. Es soll zu einem kulturverträglichen Einsatz
von neuen Kulturtechniken, etwa neuer kommunikations- bzw. Wissenstechnologien
kommen. Öko Himal unterstützt daher Nepals ersten privaten Radiosender, da das Radio
jenes Medium ist, welches Information, Unterhaltung und Bildung am effektivsten an die
breite Öffentlichkeit vermitteln kann. Mit dem Aufbau von eigenen Frauengruppen innerhalb
der CDCs versucht Öko Himal genderspezifische Akzente zu setzen, behutsam
kulturkompensatorisch
zu
intervenieren,
um
den
Frauenanliegen
gemäß
entwicklungspolitischem Auftrag mehr Unterstützung zu verleihen. Die spirituellen Kräfte der
Dhamis sollen durch eine einfache medizinische Ausbildung ergänzt werden und gleichzeitig
ein Verständnis für Hygiene unter die Leute gebracht werden. Darin schon die Durchsetzung
„westlicher Sauberkeitsvorstellungen und spezifischer Körperimaginationen“, somit eine
„vertiefende Herrschaft einer dominanten Gruppe des Zentrums“ zu vermuten, wodurch die
Ärmsten der Welt in der Folge zu Konsumenten transformiert werden, argumentiert mit viel
theoretischem Weihraum an der banalen Realität vorbei. Durch die Fassung einer neuen
Trinkwasserquelle und die Klärung der Abwässer konnte die Zahl der Diarrhoe-Krankheiten
minimiert werden. In die Struktur der Ökonomie ist ein „kultureller Code“ eingeschrieben der
zu tiefgreifenden Neustrukturierungen von sozialen Gebilden und Lebensweisen führen kann.
In den Tourismusgebieten sind derlei Veränderungen beispielhaft und Öko Himal ist indirekt
beteiligt. Bei einem Kraftwerksprojekt war die Zielsetzung eine ökologische, da der
Verbrauch von Holz verringert werden sollte. Aber auch Trekkingtouristen finden nun
Telefonleitungen, Satellitentische und Cyber Cafes vor, deren Voraussetzung der Strom aus
dem Kraftwerk ist(also wirklich ökologische Zielsetzungen und nicht für Touristen?). Die
Dörfer des Sherpalandes haben sich mit dem Strom und den Touristen verändert. Jene Welt
ohne Tourismus kennen die jungen Sherpas nur auch Erzählungen. Den Tourismus sehen sie
als einen Garanten für Wohlstand, weil er Einkommen und Arbeitsplätze schafft. Der
Lebensrhythmus der Menschen ist stärker am Tourismus als am Rhythmus der Jahreszeiten
und der religiösen Feste orientiert. Kultur löste sich zusehends vom Althergebrachten und
akzeptierte neue Formen. „Modern sein“ verleiht Status und die gute Schulbildung bildet die
Voraussetzung dafür. Frauen werden konservativer erzogen und sollen für die
Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der Kultur sorge. Diese Rolle wird aber nicht mehr
ohne Widerspruch akzeptiert und in vielen Familien wird der Generationskonflikt primär
zwischen Töchtern und Müttern ausgetragen. Die Sherpajugendlichen von heute müssen ihre
Lebensentwürfe flexibler anlegen, weil die Veränderungen rascher erfolgen. Kartoffelernte,
Stallarbeit, Touristen bewirten und Email versenden stehen nicht im Widerspruch, die Jungen
versuchen ihre Identitäten zu formen, das zu integrieren, was zu ihnen passt. Die
traditionellen Lebensformen durchliefen schon immer Modifikationen. Neu an der
gegenwärtigen Entwicklung ist die ungeheure Geschwindigkeit.
Es gibt in der nepalesischen Kultur eine Unterscheidung zwischen Erfahrungswissen und
Buch- oder Schulwissen sowie eine Erdverbundenheit, die Wachstum und Entwicklung
bewirkt als auch den Bezug zur höheren Gesamtordnung. Diese Spannung der
Gegensätzlichkeit, nicht ihre sofortige Überwindung, sondern die stete Annahme der
Herausforderung, sieht Högger als das zentrale Prinzip einer Ganzheitlichkeit anstrebenden
EZA, und auch die eindrückliche Lebensnähe indischer Mythen. Er stellt die ausschließlich
rational kalkulierbare Planungslogik in Frage, weil sie die Fortdauer von Ambivalenz und
Konflikt auszuschalten versucht, die Auseinandersetzung zwischen den oberen und den
unteren Kräften, den vernünftigen und außervernünftigen Impulsen unterdrückt. Planung
muss der „Problemlösungskapazität“(sic) der Partner und an deren Zeithorizont angepasst
Kultur als umkämpftes Terrain
20
sein, denn die Ignoranz der Nepali time in der Planung ist die Grundlage für den Misserfolg
des Projektes. Partizipationsmodelle mit ihren Beteiligungsmöglichkeiten der lokalen
Bevölkerung werden idealisiert. Aber welche Organisation kann oder will es sich leisten, in
Projekte zu investieren, deren Ablauf sie nicht bestimmen kann? Es könnten völlig andere
Projektziele angestrebt werden, solche, die möglicherweise mit den Kriterien der
Donorstaaten oder Entwicklungsorganisationen nicht übereinstimmen. In den
Himalayaländern blieb der Einfluss westlicher Kultur bislang auf plakative
Oberflächenphänomene beschränkt. Nicht nur audiovisuell tritt der politische
Hindunationalismus aggressiv mit imperialistischem Getäse auf. Wirtschaftliche und kulturell
hat er seine Nachbarn fest im Griff oder deren Gesellschaften bereits einem
Modernisierungskurs unterworfen, der ethnischen Minderheiten kaum noch Spielraum für die
Entfaltung ihrer indigenen Kultur lässt. Der Medieneinfluss ist aber niemals linear oder
vorhersehbar, kann nicht grundsätzlich positiv oder negativ gesehen werden und verändert das
Formenprogramm in den Entwicklungsgesellschaften nicht in jedem Fall.
Entwicklungskommunikation leistete aber durch populäre Fernseh- und Radioserien einen
enormen Beitrag, um bestimmte Tabuthemen wie Familienplanung in den öffentlichen
Diskurs zu bringen. Auch die Weltbank hat die Zentralität von Kommunikation und die damit
verbundenen kulturellen Konsequenzen für den Entwicklungsprozess in den armen Ländern
erkannt. Sie ist Trendsetter für den Einsatz von ICTs(Informations- und Kommunikationstechnologien, insbesondere Infrastruktur) in diesen Staaten, um die Wissenskluft zwischen
armen und reichen Ländern auf diese Weise zu verkleinern. Everett Rogers hat in seiner
Innovationstheorie die Diffusion einer Novität in die bestehende Kultur als
Vermittlungsprozess beschrieben, der zuerst eine kleine Minderheit von Avantgardisten
erfasst und in der Folge die späte Mehrheit, wobei sich letztendlich auch die Verspäteten dem
Trend beugen. Innovationen bringen Unruhe von außen, der intendierte Wandel darf daher
nicht zu abrupt eingefordert werden, sondern kultursensibel. Entwicklungspraktisch geht es
daher um die Bewahrung und Weiterentwicklung von core values, den zentralen Werten einer
Kultur und um den Schutz der Hinterbühne vor dem Übergriff. Theoretisch sollte mensch zur
Kenntnis nehmen, dass sämtliche Kulturen längst transkulturelle Gebilde sind. Außerdem
mobilisieren Prozesse der kulturellen Dominanz auch Widerstandspotenziale, führen zu
Wiederentdeckung und Aufwertung traditioneller Praktiken. Trotz der globalen Agenda
können durch selektive Übernahme und schöpferische Verarbeitung daher Wege beschritten
werden, die nicht notwendigerweise Kopien der westlichen Trampelpfade sind.
Obrecht – Zeitreichtum und Zeitarmut im „Global Village“
Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit hat es soviel relative zeitliche und räumliche
Begrenzung gegeben wie am Anfang des 21.Jhdts. Es scheint, als wären jene Grenzen, die in
den hektischen Zentren der ökonomischen Produktivität und sozialen Mobilität überwunden
wurden, vielfach an der äußeren Peripherie der zeitlich vermessenen Welt als die Menschen,
Ökonomien und deren Zeiten trennende Grenzen wieder aufgerichtet worden. In den Zentren
herrscht Reichtum und Zeitarmut, an der Peripherie herrscht Armut und Zeitreichtum.
Quantifizierende, gemessene, exakte Vergleichbarkeit ermöglichende und Konkurrenz
freisetzende lineare Zeitrationalität trifft im Zuge der kulturellen Globalisierung auf
Ereigniszeitgesellschaften, in denen sowohl die Zukunft als auch die Gegenwart in einem
zirkulär-zyklischen Zeitverständnis verhaftet sind. Zukunft wird jeweils zu einem ungewissen
Raum, dessen Gefahren in jeder Handlung der Gegenwart zu minimieren sind. Im „Mythos
der Machbarkeit“ verkümmert die Gegenwart zu einem Durchgangsstadium für zu
Erreichendes. Zeit wird hier als „soziale Zeit“ beschrieben, also als kulturelle Konstruktion
zur Festlegung von „sozialer Wirklichkeit“. Lewis Mumford sagteoderschrieb: „Die Uhr,
nicht die Dampfmaschine ist der Schlüssen der modernen industriellen Welt.“ Präzision als
Kultur als umkämpftes Terrain
21
Vorgabe für menschliches Verhalten ist ein Schlüssel zum Verständnis der Zeit in der
modernen Welt, und damit auch zum Verständnis der modernen Welt selbst. Um soziale
Tätigkeiten, Abläufe von Ereignissen und individuelles Handeln zu „messen“, bedürfen wir
eines zuverlässigen, nicht veränderbaren Außenkriteriums. Die „alten“ Athener erfanden die
Sanduhr – durch das gemessene Intervall der Rede wurden nicht nur „gleiche“ Bedingungen
zwischen den Rednern hergestellt, sondern auch die Rede selbst eine Form verliehen, die
Reglementierung ermöglicht. Auch in profunden Kulturen gibt es Formen des Wettkampfes,
aber es gibt keine Verzeitlichung des Mitteleinsatzes und der Zielerreichung. Dies wäre auch
für die Gesellschaftsmitglieder bedrohend, denn daraus könnte sich ergeben, dass einer den
anderen immer um den „entscheidenden Schritt“ voraus ist, was die Kohäsion, den soziallen
Zusammenhalt der Gruppe, in der jedes Mitglied für das jeweils andere lebensnotwendig ist,
gefährden könnte. Die Diskrepanz zwischen subjektiv empfundener Lebenszeit und objektiv
vorgegebener Weltzeit ist jene zwischen dem, was als wirklich gilt und dem, was als wirklich
erlebt wird. Von der Perspektive der Uhrzeikultur aus erscheinen Ereigniszeitkulturen als
prinzipiell langsam, wenig dynamisch, kaum expansiv, ökonomisch an den Rahmen der
Selbstversorgung gebunden – erwirtschaftete Überschüsse werden nicht planvoll in die
„Zukunft“ investiert – und auch oft „schlecht“ organisiert. Ein hoher Grad an Komplexität
setzt die gemessene Zeit als verbindliches Koordinatensystem aller in der Gemeinschaft
lebenden Individuen voraus. Da wo es keine gemessene Zeit gibt, scheint es dann auch keine
Lebensperspektive zu geben. Und fürwahr setzt der Begriff der Perspektive ein Konzept der
Zukunft, der Entwicklung, des Fortschritts voraus, das Ereigniszeitkulturen nicht kennen.
Eine Feldforscherin bekam so den Beinamen Unavus: Die, die ständig auf etwas wartet, was
nicht kommt. Die allermeisten Tätigkeiten werden gemeinschaftlich – in der jeweiligen
Geschlechtergruppe – verrichtet. Wie in allen ethnischen Gesellschaften gibt es keine
Trennung zwischen Arbeits- und Freizeit. Der Uhrzeitmensch definiert Ereignis als ein Mittel
für etwas anderes, als ein Durchgangsstadium zu etwas anderem. Was dieses Andere ist, muss
im Einzelfall gar nicht bekannt sein. Der Uhrzeitmensch lebt in der ständigen Rastlosigkeit,
sich aus sich selbst heraus neu zu erschaffen und sich für die Zukunft optimal gewappnet
verfügbar zu halten. Langeweile ist der Zustand, aus den Zeitnutzungsoptionen freiwillig oder
gezwungenermaßen keine Wahl getroffen zu haben. Ereigniszeitmenschen ist Langeweile
unbekannt. Auch in ethnischen Gesellschaften geben unterschiedliche Tempi, Rhythmen
Zyklen den „Ton an“, strukturieren also aus sich heraus die soziale Ordnung. Es gibt keine
Gesellschaft, in der Zeit kein zentrales Ordnungskriterium für Leben ist. Nur die Zeit, die der
Organisation von Leben vorgegeben wird, ist eben eine völlig andere.
Es scheint keine eindeutigen lokalen Beziehungen im Großhirnbereich zu geben, die für einen
einheitlichen Zeitsinn verantwortlich sind. Das menschliche Gehirn ist also keineswegs ein
„objektiv“ physiologischer Zeitgeber für den Raum, den wir durch unser Bewusstsein
erfahren, ebenso wenig scheinen dies andere biologische Rhythmen zu sein. Da Momente des
Erfahrens im Bereich von Millisekunden liegen, kommen Atmung oder Herzschlag als
Zeitgeber nicht in Frage. Um die Relativität biophysiologisch „vorgegebener“ Rhythmen zu
veranschaulichen, werfen wir einen kurzen Blick in eine nächtliche Hütte im Hochland von
Papua Neuguinea. Die Schlafenszeit ist von Essenszeit, Gesprächszeit, von haushälterischen
Verrichtungen oder Kochen nicht getrennt. Die subjektive Müdigkeit bestimmt den
Schlafrhythmus und nicht die Anpassung der physiologischen Müdigkeit an ein
gesellschaftlich verbindliches Zeitmodell von Wach- und Ruhephasen. Schon Kleinkinder
werden in der westlichen Gesellschaft in linearen Zeitrastern sozialisiert – u.a. durch von der
Erwachsenenwelt verordnete Ruhephasen. In Ereigniszeitkulturen ergibt sich das Ziel des
Fortbestandes der Gruppe aus der Ungleichzeitigkeit individueller und dennoch
gesellschaftlich organisierter Verrichtungen. Westliche Zeitökonomie hingegen beschreibt ein
„Muster des Selbstzwanges“, das das Individuum an die Zeit als soziale Institution
rückbindet. Es bedarf gezielter Lern- und Erfahrungsschritte, „objektive“ Zeit als Eigenzeit zu
Kultur als umkämpftes Terrain
22
erleben. Der „richtige Umgang“ mit der Zeit wird in die Eigenverantwortlichkeit des Subjekts
gelegt. Es gibt eine Diskrepanz zwischen Eigenzeit, Lebenszeit und Weltzeit. Westliche
Produktionslogik und Erfahrungsrationalität trägt diese Diskrepanz unter dem Chiffre der
„Individualisierung“ bis hin zu den letzten Ereigniszeitkulturen dieser Welt. Ökonomische
Produktivität durch zeiteffiziente Erweiterung der Produktionsräume und planvolle
Einbindung der diesen neuen Organisationsprinzipien untergeordneten Individuen, Geld- und
Kapitalakkumulation, Leistungsmotivation – durch Projektion etwaiger Belohnung in die
Zukunft -, all diese interkorrelierenden Faktoren eines die Erreichung jeweiliger
„Etappenziele“ anstrebenden „universalen Fortschritts“ bedürfen einer quantifizierbaren,
messbaren und die Subjekte scheinbar gleich und damit konkurrenzfähig voneinander auf
Dinstanz haltenden Grundlage – die dem Geschehen eine „gewünschte Richtung“ gibt. Zeit
wird in Ereigniszeitkulturen als fortschreitende Gegenwart betrachtet. Geschichtliche,
historische Zeit hingegen entwirft eine Koordinatik der Vergangenheit, die eine Chronologie
fortwährender Veränderung beinhaltet. Die Zukunft, der die Gegenwart logisch nachgeordnet
ist, ist von zentralem Interesse, und nicht die Gegenwart, die sich in einer sinnbildlichen
Vergangenheit sicher geborgen weiß. Zwei zentrale Kulturtechniken sind für das Entstehen
der historischen Zeit nötig: die Schrift und die universale Zeitmessung - die gemessene Zeit
zur Festlegung der Bewegung der Körper und Tätigkeiten sowie schriftlich fixiertes Wissen
um Vergangenes, das Planung und Prognose ermöglicht. Beide Kulturtechniken sind
Ereigniszeitkulturen fremd. Rinder geben der Mura-Gesellschaft in Tansania das Tempo vor,
bestimmen den Ablauf des Tages samt dessen saisonalen Veränderungen. Wenn die Zeit an
der Raum gebunden ist, so haben alle Objekte, Abläufe und Handlungen ihre Zeit, genauso
wie die Menschen ihre Eigenzeit haben. Erst die Ablösung der Zeit vom Raum ermöglicht die
„Verobjektivierung“ des Zeitlichen und die Skalier- , Mess- und Vergleichbarkeit aller
Bewegungen im Raum. In der indianischen Sprache der Dakota bezeichnet der Begriff
„dehan“ sowohl „an diesem Ort, hier“ als auch „zu dieser Zeit, heute“. In den indianischen
Stammeskulturen muss die Zeit selbst geschaffen werden und ist unabhängig von den Dingen
und Menschen und ihren Räumen noch nicht vorhanden. Die Vorstellung, dass so etwas
Wichtiges wie die Zeit subjektviert werden könnte oder schlimmer noch überhaupt
Subjektivistisches als Strukturelement in sich trägt, muss den Uhrzeitmenschen zutiefst
verunsichern: Denn gerade die von ihm losgelöste Skalier- und Messbarkeit ermöglichende
metrische Zeit garantiert ihm erst den Fortbestand der Ordnung seiner Welt. Der
Uhrzeitmensch knüpft die Rationalität seines Denkens und seines Handelns gleichermaßen
selbstverständlich an die gemessene Zeit wie ehedem der mittelalterliche Mensch seine
Bewegungen an Gott gebunden wusste. Im einer neuzeitlichen Unternehmung kommt es zu
einer unglaublichen Emanzipation von den „natürlichen“ Bedingungen des Seins, Werdens
und Sterbens. Das autonome Individuum Mensch erfährt durch die Konstruktion der Weltzeit
eine Rückbindung an diese Welt. Die Weltzeit verbindet Millionen zu der großen Idee der
Menschheit, die sich aus sich selbst heraus erschafft. Die menschliche Alltags- und
Lebenszeit wurde an die systematische Weltzeit angebunden, was parallel zur Entwicklung
des absolutistischen Staates in Europa lief. Zentralisierte und hierarchisierte bürokratische,
ökonomische, pädagogische usw. Institutionen sind ohne Verinnerlichung der gemessenen
Zeit als Maßstab der Bewegung zwischen dem Einzelnen und den anderen nicht denkbar. Im
Strukturprinzip der Weltzeit, dem auch alle politischen Formen der Emanzipation folgen wird
nicht das Strukturprinzip, dessen sich die jeweils Mächtigen bedienen, geändert, sondern die
Verfügungsgewalt über die Zeit und damit die Verfügungsgewalt über andere Menschen wird
neu aufgeteilt.
Weltzeit als Spiegel rascher Veränderung kann in traditionellen Systemen, in denen Zeit keine
Kategorie der Entwicklung neuer sozialer und ökonomischer Strukturen darstellt, als lineare
Metapher nicht entstehen. Zeitflüchtlinge begeben sich in Räume, in denen einmal Erreichtes,
Gedachte, Erfahrenes für die ganze Spanne eines Lebens gültig bleibt. Diese Räume, in denen
Kultur als umkämpftes Terrain
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ein Teil der Bewohner Papua Neuguineas noch lebt, werden von Tag zu Tag rarer. Komplexe
soziale Systeme könnten durch eine subjektivistisch festgelegte Zeitordung nicht existieren,
wir kennen kein einziges solches System, dass ohne die gemessene Zeit als Strukturprinzip
besteht. Die Gefahr, sich in Zeitlosigkeit zu verlieren wird durch die Individualisierung der
Verfügungsgefahr der Zeit größer, mensch muss sich diese nun selbst von Tag zu Tag neu
vorschreiben, was nicht zu weniger, sondern zu mehr Zeitdruck führt. Er/Sie muss die Pflicht
gegenüber dem individualisierten Strukturprinzip der Weltzeit erfüllen: Beschleunigen, FortSchreiten, Zeit-Nutzen. Stillstand, Zeitverlust oder gar bewusste Zeitvernichtung sind in der
modernen Welt keine lässlichen Sünden. Sie sind ein schreckliches Vergehen an dem
Grundkonsens des modernen Lebens, denn sie reichten sich direkt gegen diesen neuen Gott.
Die Globalisierung der gemessenen Zeit hat erst vor knapp 100 Jahren begonnen und war
1948 mit Chinas Beitritt zur Weltzeit abgeschlossen. Die auf dem römische Kalender
basierende christliche Zeitrechnung hatte sich weltweit durchgesetzt und wurde zur offiziellen
Zeit des weltweiten Güter, Kapital und Reiseverkehrs. Die Symbole dieser Weltzeit-System,
das Ticken der Uhr und das exakte Voranschreiten der digitalisierten Uhr, „verobjektivieren“
das Tempo und die Logik der gemessenen Zeit zu einer in der Natur scheinbar feststehenden,
absolut gültigen zeitlichen Ordnung. Das soziale und das natürliche Universum werden eins in
der Wahrnehmung der Menschen.
Schule, Lohnarbeit, Christianisierung, Individualisierung des Produzenten als Konsumenten,
die damit verbundene Auflösung des „ganzen Hauses“ und subsistenter
Bewirtschaftungsformen führen insbesondere in den Städten der „armen“ Länder zu einer
neuen Abhängigkeit der Menschen von durch sie nicht mehr beeinflussbaren externen
zeitlichen und organisatorischen Systemerfordernissen. Die Anbindung an die Geldökonomie
verunmöglicht tendenziell Kinderreichtum. Die finanziellen Kosten pro Kind vervielfachen
sich, und das Geld, das in individuelle Lebensverlängerung investiert wird, fehlt für die
Verlängerung des Lebens über den individuellen Tod hinaus, die in subsistenten Ökonomien
durch möglichst viele Kinder gewährleistet war. Lebensverlängerung ist auch die Folge eines
exemplarischen subjektzentrierten Mitteleinsatzes. In allen heute noch existierenden nichtindustriellen Gesellschaften gibt es eine genealogische Verbindung über den individuellen
Tod hinaus. Den Nachfahren „dienstbar“ zu sein, heißt auch die Gegenwart nicht auf Kosten
der Zukunft zu leben. Diese Einstellung ist Realität für vier Fünftel der Menschen. Die
Legitimität von Lebensverlängerung basiert auf einem rein quantifizierenden linearen
Zeitverständnis. Damit wird der Tod zu einem sinnlosen Zerstörer unserer vermeintlichen
Allmacht und unserer durch die Pluralität von Zeitnutzungsoptionen definierten Individualität.
Wenn Achtzigjährige das Gefühl nicht loswerden können, in ihrem Leben viel versäumt zu
haben, weil die Zeit zur Verwirklichung aller attraktiv erscheinenden Zeitnutzungsoptionen
letztlich viel zu knapp war, dann haben sie in ihrer Vorstellung von Leben und
Lebensverwirklichung fraglos zu kurz gelebt. Der reiche Alte hat keine Zukunft, weil er keine
Vergangenheit hat, die den prinzipiell entgrenzten Möglichkeiten auch nur annähernd
entsprochen hätte. In traditionalen Gesellschaften, die einem zirkulär-zyklischen
Zeitverständnis verhaftet sind, findet die- aus unserer Perspektive – begrenzte Vergangenheit
der Alten ihre Verlängerung in einer Zukunft, an deren Existenz und Sinn auch angesichts des
Todes nicht gezweifelt wird. Außerhalb seiner selbst kann der Mensch – entgegen der lange
Zeit „gültigen“ okzidentalen erkenntnistheoretischen Vorstellungen – nichts erfahren,
benennen, geschweige denn verwirklichen. Die Wirklichkeit, so wie sie uns entgegentritt, ist
ein Produkt der kulturellen Ordnung, innerhalb derer die Wirklichkeit als wirklich gedacht
und erlebt wird. Wir versuchen eine Abschaffung der Endlichkeit. In armen zeitreichen
Gesellschaften stehen Leben und Tod in einem vertrauten Verhältnis zueinander, welches im
Zuge der „Modernisierung“ weitreichende Transformationen erfährt. Durch den Fetisch
Warenwelt werden mythologische, genealogische und religiöse Kategorien zur Strukturierung
und Erklärung von Wirklichkeit durch Warenbesitz und Geldwirtschaft „gesprengt“.
Kultur als umkämpftes Terrain
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Fortschritt bedeutet individuelles „Weiterkommen“, derselbe zu sein gilt als Armutszeugnis,
wohingegen zeit- und räumlich relativ stabile Identifizierungen und Beziehungen die –auch
ökonomische – Basis einer jeden subsistenzwirtschaftenden Gesellschaft darstellen. Wenn
sich die Weltbevölkerung in etwa 100 Jahren bei zwischen 11 und maximal 13 Milliarden
Menschen eingependelt haben wird, müssen nachhaltige, nicht auf Wachstum und
Akkumulation basierende Formen der Bewirtschaftung gefunden sein, was an eine radikale
zeitliche Entschleunigung von Produktion und Konsum gebunden ist.
Wir versäumen erst dann nichts mehr, wenn es nichts – also keine Zeit und keine Zukunft –
mehr gibt, das versäumt werden kann. Ist so die beruhigendste Form des Umgangs mit der
Zukunft für den in seine eigene Lebenszeit eingeklemmten Menschen deren Abschaffung? Es
gibt eine Ungleichzeitigkeit der Tempi zwischen „sozialer“ Zeit und „objektiver“ Zeit.
Schmidtkunz – Etnodesarrollo in Venezuela
Die Aspekte Gemeinschaftsgefühl, Sozio-kulturelle- und Umweltverträglichkeit und
Machtverhältnisse spielen in der Formulierung einer indianischen Auffassung von
Entwicklung eine große Rolle. Insbesondere unter den Indianerpolitiken der Nationalstaaten
mit ihren universellen Prinzipien rechtlicher Gleichheit und kultureller Einheitlichkeit wurde
den Indianern die freie Ausübung und Aufrechterhaltung ihrer Kulturen versagt – eine
assimilatorische Integrationspolitik wurde verfolgt. Jede Art der Klassifizierung von
indigenen Völkern von außen ist zugleich realitätsfremd, vereinfachend und homogenisierend.
Es gibt in Lateinamerika ca. 400 verschiedene Völker die äußerst unterschiedliche Merkmale
aufweisen. Es gibt eine evolutionistische Tendenz, die die Indios durch ihre Gene als solche
„identifiziert“ und eine kulturalistische, die die Indios als Gegensatz des „Westlichen“
versteht und in diversen Entwicklungstheorien zum tragen kommt. Hier wird die kulturelle
Andersartigkeit als Grund ihrer Unterentwicklung gesehen. Die strukturalistische Position
reduziert die Indios auf ihre Position in der wirtschaftlichen und/oder sozialen Status. Laut
einem Definitionsversuch berufen sich indigene Gesellschaften auf eine historische
Kontinuität mit den vor der Invasion auf ihren Territorien entwickelten präkolonialen
Gesellschaften. Dass es aber keine formale Definition gibt ist positiv zu beurteilen.
Drei Phasen bestimmten die Situation der indigenen Völker: das Kolonialsystem, die
Nationalstaaten und die aktuellen Entwicklungen hin zu einem multiethnischen und
plurikulturellen Staat. Trotz der vielfachen und diskriminierenden Vernichtungs- Zwangsund Ausbeutungsmechanismen der Kolonialzeit, konnten verschiedene, gewissermaßen
autonome Organisationsformen nebeneinander existieren, womit ein gewisser politischer
Pluralismus und eine Vielfalt an Lebensformen zugelassen wurde, solange die spanische
Oberherrschaft anerkannt wurde. Als die Länder unabhängig wurde brauchten die weißen
Eliten eine einheitliche Nation mit einem einheitlichen Volk wodurch die Andersartigkeit der
Indios diskriminiert wurde. Auch die liberale und positivistische Ideologie sah deren Kultur
als wertloses Hindernis an. Den indianischen Gemeinschaften wurde die rechtliche Gleichheit
bei gleichzeitiger Abschaffung der indianischen Rechtssysteme zugebilligt. In den
unabhängigen Verfassungen fand ihr Status keine Erwähnung und eine Assimilation wurde
vorangetrieben. Die Aufhebung der Kommunallandtitel hatte für zahllose indianische
Gemeinschaften in Lateinamerika vernichtende Folgen. Ende des 19.Jhdts wollten religiöse
Missionen das sozio-kulturelle Überleben der Indios verhindern. Den Missionsstationen
wurde gesetzlich vorgeschrieben, die Lebensweise der Indigena zu modifizieren, sie zu
zähmen und einem bürgerlichen Leben zuzuführen. Die Idee der Integration mündete ab den
30er/40er Jahren in den assimilatorischen Indigenismo, der als paternalistisch und weiterhin
als ethnozid bezeichnet werden muss. Die extreme Armut der indianischen Völker wurde
nicht im sozioökonomischen System, sondern in ihren kulturellen Charakteristika gesucht.
Die Vielfalt der indigenen Völker wurde weiterhin als Hindernis für nationale Einheit,
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Fortschritt und Entwicklung gesehen. Einerseits sollten die Indianer und ihre Lebensweise
respektiert werden und es sollte ihnen geholfen werden, ihre Lebenssituation zu verbessern,
andererseits sah mensch als einzige mögliche Hilfe die Adaption der Indigenas an das
westliche (Werte)System an, was wiederum einer ehrlichen Respekthaltung ihnen gegenüber
widerspricht. Das Interamerikanische indigenistische Institut führte als Exekutivorgan die
Resolutionen der Kongresse aus. Die Lehre der spanischen Sprache wurde als Mittel der
Integration gesehen. Ab den 1960ern wurden Agrarreformgesetze verabschiedet bei denen die
Indigenas als Bauern angesehen wurden. Das geographisch zusammenhängende Land der
Indigenas wurde in kleine, isolierte Landparzellen aufgesplittert. Die Ländereien, die zur
traditionellen Landnutzung, für Jagd- und Sammeltätigkeit oder zum kulturellen Erbe der
Indigena gehörten, fielen nicht in diese Kategorie und behielten ihren Status als tierras
baldias.
Der desarrollismo der 60er folgte dem Entwicklungsoptimismus und sah vor, dass „nichtmoderne“ von der „modernen“ Kultur absorbiert würden. Diesem Antiindianismus
entgegengesetzt, entwickelte sich von Universitätskreisen ausgehend ein intellektueller
Wandel, der einen kulturellen Pluralismus und die Eigenständigkeit der Indianer betonte und
der Idee der Selektiven Integration Rechnung trug. Jede Kultur besäße einzigartige integrative
Strukturen und Werte, die in jeder Kontaktsituation ergänzende Wirkung haben sollten.
Daraus entstand der Nuevo Indigenismo der drei Basisstrategien verfolgte: Vergabe
kollektiver Landbesitztitel, Entstehung regionaler indianischer Vereinigungen und die
Gründung von kollektiven Produktionseinheiten. Die indigenen Unterschiede zum nationalen
Wirtschaftssystem sollten Berücksichtigung finden. Diesem Konzept war aber in der
Rückschau dein Erfolg beschieden: So wurde bei den Indianern garantierten Landtiteln nicht
berücksichtigt, dass diese für ihre traditionellen Subsistenztechniken relativ große Flächen
benötigen. Auch lassen die verschiedenen indigenen Völker kein allgemein gültiges
Entwicklungskonzept zu. Trotzdem zeichnete sich in Lateinamerika ein Umdenken ab, das
sich die Indigenas aufgrund ihres verstärkten und selbstbewussten Auftretens selbst zu
verdanken haben. In jüngster Zeit sind die spezifischen sozio-ökonomischen Forderungen eng
gekoppelt mit Autonomie- und Selbstbestimmungsforderungen. Subsummiert mensch die
einzelnen Aspekte der indianischen Herausforderung unter ein großes Bestreben, so reichtet
sich dieses auf eine pluralistische Politik, die die Andersartigkeit als gleichwertig und die
indigenen Völker als eigenständige Teile der Nation anerkennt. Ihre Realisierung liegt im
Bruch mit dem kulturellen, nationalen Einheitskonzept – Nation innerhalb der Nation.
Zeitgleich mit der Mobilisierung der Indianer und der Formierung indigener Bewegungen
entwickelte sich unter AnthropologInnen und SoziologInnen eine neue Denkrichtung in
Hinblick auf die Zukunft der indianischen Bevölkerung. Das Konzept des etnodesarrollo kam
auf und war als diametral zu den vorherrschenden ethnoziden Politiken zu sehen und auf eine
selbstbestimmte Entwicklung indigener Völker ausgerichtet. Entwicklung könne nicht
Entwickelt-Werden, sondern nur Sich-Entwickeln bedeuten. Die Inhalte von
Selbstbestimmung und etnodesarrollo sind eng miteinander verbunden und überlappen
einander weitgehend. Ein jetziges oder angestammtes Territorieum zu besietzen, zu verwatlen
und zu entwickeln, in dem ein Volk ohne fremde Einwirkung alle Facetten seiner spezifischen
Kultur entwickeln, pflegen und planen kann war eines der Ziele. Etnodesarrollo kann als
soziale Kapazität eines Volkes seine Zukunft selbst zu gestalten gesehen werden. Die Indios
haben dabei die soziale Entscheidungsmacht über die eigenen kulturellen Mittel. Indigenismo
sah eine externe kulturelle Kontrolle vor, also dass die eigene Kultur von außen kontrolliert,
beeinfluss und beeinträchtigt wird. Wissen und Erfassen indigener Völker ihrer eigenen
Kultur und der fremden, daher westlichen Kultur, ist ebenfalls ein wichtiger Punkt – nur so
könne das „Eigene“ bewahrt werden, wobei dynamische Prozesse eines Kulturwandels nie
ausgeschlossen werden können und auch gar nicht sollen. Zu den Voraussetzungen gehören
die Rechte indigener Völker, worunter ein eigener legaler Status als indegenes Volk mit
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eigenen kulturellen und sozio-ökonomischen Charakteristika fällt. Landrechte sollen die
kulturspezifische Beziehung indigener Völker zum Land, das sie bewohnen und bestellen,
berücksichtigen. Der Begriff Territorium muss weit über eine reine Besitz- und
Produktionsdefinition hinausgehen und der Anspruch auf kollektive Landtitel gewährleistet
sein. Auch politische Rechte sind Voraussetzung. Es geht hierbei um die Anerkennung
eigenständiger politischer Organisationsstrukturen der indigenen Völker und zwar innerhalb
der bestehenden Nationalstaaten. Es wird das Recht gefordert, eigenes Recht setzen zu
können. Auch die spezifisch kulturellen indigenen Formen sollen bewahrt und
weiterentwickelt werden und Spanisch und Portugiesisch nur als Zweitsprachen unterrichtet
werden. Die Identitätsfrage nimmt einen zentralen Raum in der indianischen Bewegung ein,
denn Identität ist eine Lebensart. Kultur ist die Basis der Brücke zur eigenen comunidad. Die
Gesamtindianische Identifikation beruht auf der Erfahrung der Dominanz anderer Völker.
Saat und große Wirtschaftsunternehmen, die die indigenen Territorien bedrohen, werden zu
den „neuen Kolonisatoren“ erklärt. Die dritte Voraussetzung ist der Grad der Organisiertheit,
dem ein Prozess der Bewusstwerdung über das spezifisch und kulturell Eigene sowie das
Andere, das Fremde vorausgeht. Es muss bestimmt werden, wer sie sind, was sie haben, wer
sie sein und was sie haben wollen. Ein Entwicklungsprogramm muss von den Indigenas
selber ausgehen und zwar von ihrer jeweiligen sozialen und kulturellen Realität und unter
Berücksichtigung der realen wirtschaftlichen und politischen Potenziale. Es kann zwar um
externe Hilfe(finanziell, technisch) angesucht werden, doch sollte mensch sich nicht zu sehr
darauf verlassen.
Die Berücksichtigung sozio-kultureller Faktoren im entwicklungspolitischen Diskurs nimmt
trotz gegenwärtigen Boom seit jeher einen sehr untergeordneten Stellenwert ein und häufig
fehlt eine saubere Definition. Kulturelle Faktoren werden entweder als eine Aspekt neben
anderen gesehen, oder angenommen, dass alle Lebensbereiche, so wie der
Entwicklungsprozess, kulturell geprägt sind. Entwicklung wirkt als Universalisierung der
Warenökonomie und der westlichen Zivilisation, wobei Ersteres mit der Zerstörung der
Subsistenzwirtschaft einhergehe und Zweiteres auf das Gefühl „unterentwickelt“ zu sein
hinweise. Der Entwicklungsbegriff nimmt eine Reduzierung der unendlich vielfältigen
Lebensformen und Sozialgebilde vor und zeigt sich als gleichgültig gegenüber Lebenswelten,
die nicht so sind wie jene, wo sie geprägt wurden. Entwicklung meint für nicht-westliche
Völker oft, zu Bedetuungslosigkeit bestimmt oder gar verdammt zu sein. Die Begegnung
zwischen der westlichen Moderne und indigenen Kosmologien ist problematisch, auch
deshalb, weil das Sälkularitätskonzept zu einer Intoleranz gegenüber Gesellschaften führt,
welche es als religiös betrachten. Die westlich-christliche Säkultarität stellt die Menschheit
ins Zentrum des Universums, was andere Kosmologien nicht vorsehen; ihre Beziehung zur
Natur ist vielmehr durch Respekt und Bescheidenheit charakterisiert. Es ist ein Verkennen der
tatsächlichen Gegebenheiten sie zu isolieren und zu meinen, dass ein statisches Verweilen für
die Betroffenen das Beste sei, weil unbeeinflusst von der "westlichen" Gesellschaft. Weiters
ist es wichtig zu erkennen, dass sich die Indigenas auf ihr eigenes Umfeld konzentrieren und
nicht behaupten, ein neues allgemeingültiges Konzept von Entwicklung entworfen zu haben.
Lange Zeit war die Schulbildung das Mittel zur Indoktrination "westlicher" Werte und zur
Assimilation der Indianer. Heute wiederum zeigt sie sich als der größte Hoffnungsträger der
indigenen Völker. Das bewusst werden über sich selbst soll über die Teilhabe am neuen
Wissen und der daraus hergeleiteten Verteidigung der eigenen Kultur erfolgen. Der Unterricht
findet in der eigenen indigenen Sprache statt, Spanisch rangiert an zweiter Stelle. Bei
Entwicklung aus indigener Sicht geht es um die physische und psychische Erhaltung der
eigenen Kultur, um die Befriedigung gewisser Grundbedürfnisse wie Nahrung, medizinischer
Versorgung, guter Ausbildung und die Erhaltung der Natur. Sie ist nicht linear, was sich im
Wunsch nach Aufrechterhaltung von gegenwärtigen Elementen zeigt. In Kombination mit
dem traditionellen und den neu in der Bildung erworbenen Kenntnissen soll die Zukunft nach
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eigenen Maßstäben gestaltet werden. Technologie kann so zum Beispiel das Leben einfacher
gestalten oder verbessern, steht aber an zweiter Stelle.
Reich an Ölreserven und sonstigen Bodenschätzen leben in Venezuela ca. 70 Prozent der
Gesamtbevölkerung in Armut. Die ca. 300 000 Indigenas stellen 2Prozent der
Gesamtbevölkerung dar, wobei ihr Siedlungsgebiet etwa 50 Prozent des gesamten
venezolanischen Territoriums umfasst und einen Großteil der Ressourcen beherbergt. Die
neue Verfassung ist in indigenen Fragen eine der weitreichendsten des Kontinents. Venezuela
kann als eindeutiges Beispiel für das anfangs beschriebene Schema der offiziellen Politik in
der Assimilation der Indigenas in die nationale Gesellschaft bezeichnet werden. Die offizielle
Eingeborenenpolitik entsprach einer katholischen Missionsarbeit. Chavez führte ein
Referundum über die Einberufung einer verfassungsgebenden Verfassung ein, mit der die
klientelistischen Staatsstrukturen grundlegend umgestaltet werden sollten 3 der 131
Mitglieder gehörten indigenen Ethnien an und weitere neun ExpertInnen wurde die
Aufstellung der Rechtsbestimmungen für die indigenen Völker übertragen. Die Forderungen
lassen sich in vier Kapitel unterteilen: Erstens die anerkennung als "Völker" im Sinn der ILOKonvention, zweitens die Anerkennung von "Territorien" und kollektiven Eigentumsformen
sowie die freie Zustimmung zu (Entwicklungs-)Projekten innerhalb ihrer Territorien und
drittens die Reklamation ihrer "Selbstbestimmung und Autonomie" bezogen auf eigene
Wirtschaftsmodelle, die Sozialorganisation, die Entwicklung eigener politscher Systeme
sowie die Anerkennung eigener Rechtssysteme bei gleichzeitiger Partizipation an der
nationalen Ökonomie und in den nationalen Gesetzgebungskörpern. Entgegen einiger
Schauerszenarien verfolgen sie dabei keine seperatistischen Absichten. Viertes wird die
Anerkennung kultureller Rechte wie die Aufrechterhaltung ihrer Kosmovision und eigene
Erziehung gefordert. Die Kontrolle über die Ressorcen auf ihren Territorien wurde ihnen nicht
zuerkannt, doch darf deren Nutzung ihre kulturelle, soziale und wirtschaftliche Integrität nicht
verletzen. Die Verfassung gesteht den indigenen Völkern zunächst nicht zu, eigene politische
Formen für ihre Selbstverwaltung zu entwickeln. Das Recht auf Rechtsprechung ist auf
indigene Einwohner beschränkt. Das Recht auf geistiges Eigentum wird gewährt.
Übereinstimmungen zwischen den Forderungen und anerkannten Rechten ist nicht immer
gegeben und es fehlt ein nationales Bewusstsein und Wille die Gemeinschaften betreffend.
Als kultureller Verlust wird die Großteils verloren gegangene Spiritualität gesehen, wie zum
Beispiel das schamanische Wissen, Tänze, Gesänge und Mythen, meist im Zusammenhang
mit dem Fehlen einer intergenerationalen Integrität. Durch die formale Schulbildung erlangen
die jungen Leute einen neuen Status und das traditionelle Beziehungssystem wurde
durchbrochen. Die "Alten" nehmen oft ihr Wissen mit ins Grab, wodurch traditionelle
Techniken verschwinden und so durchdachte Palmendächer durch Wellblech ersetzt werden.
Dies liefert einen Beweis für die erfolgreiche Politik der Missionstätigkeit und des
Indigenismo. Diesen kulturellen Realitäten stehen Visionen der indianischen Völker
gegenüber. So sollen eine esscuela de ancianos neben der formalen Schulbildung die
Förderung der etnoeducacion übernehmen und die "alten" hier ihr traditionelles und
überliefertes Wissen weitergeben. Auch weitere Projekte wie eine Krankenstation,
Dieselgeneratoren oder Zuchtprojekte sollen die Situation verbessern. Es soll aber bei ihrer
Umsetzung abgewogen werden, welche Veränderungen ihre Umsetzung auf traditionelle
Aktivitäten nach sich zieht.
Die indianische Perspektive hat den Entwicklungsbegriff relativiert, ist aber grundsätzlich auf
eine verbesserte Lebenssituation gerichtet. Die zentrale Fragestellung einer kulturell
geprägten Sicht von Entwicklung bezieht sich also auf die Interpretation von "Verbesserung".
Wenn in diesem Beitrag von einer indianischen Auffassung von Entwicklung gesprochen
wird, dann stets unter folgenden Bedingungen und Voraussetzungen: Erstens: der
Kulturbegriff bezieht sich an einer "eigenen Kultur". Zweitens, ist eine solche immer als eine
Reaktion auf die Erfahrungen mit dem vorherrschenden Entwicklungsmodell anzusehen.
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Drittens ist das Konzept eines etnodesarrollo zu berücksichtigen, das als die organisierte und
gelebte Form einer gelebten Form einer indigenen Perspektive auf Entwicklung.
Faschingeder - Kultur im Zickzack
Nicht das allgemeine, das Universelle ist hier das Bedeutsame, sondern das Besondere. Die
politische Ökonomie sucht allgemeine Gesetzmäßigkeiten, die unabhängig von Zeit und
Raum gelten. Kultur aber ist per definition auf einen bestimmten Raum, eine bestimmte Zeit
bezogen und darauf beschränkt. Zahlt sich diese Aufmerksamkeit für das Partikulare aus? Mit
Kultur in der Entwicklungsweise fordert die universalistischen Betrachtungsweisen heraus.
Entwicklung erfolgt kulturell relativ, dies ist eine der Grundthese, die hinter den meisten
Beiträgen steht. Die Frage aber, welche Rolle darin Kultur tatsächlich spielt, wird von den
AutorInnen keineswegs einheitlich beantworten. Im Hinblick auf die Bestimmungsmacht der
Kultur lassen sich drei Positionen unterscheiden. Die erste Position vertritt die Ansicht, dass
Kultur Entwicklungsprozesse zu bestimmen vermag, politisch-ökonomische Verhältnisse sich
also nach kulturellen Gesetzmäßigkeiten richten. Die zweite Position sieht Kultur lediglich als
ein Ausdrucksfeld der politisch-ökonomischen Realitäten. Die dritte Position gesteht den
beiden Faktoren eine Dialektik und eine relative Autonomie zu.
Kultur verlangt nach Konkretisierung. Für Kolland stellt Kulturtourismus die ideologisch
angereicherte Form des Reisens der gebildeten Oberschicht dar. Kultur+Tourismus aber
bezeichnet die Tatsache, dass Tourismus selbst in jedem Fall ein kultureller Akt ist, eine
kulturspezifische Form der Weltaneignung, die der Eroberungs- und Kolonialgeschichte mehr
geschuldet ist als der pazifistischen Tour d´Europe des alten europäischen Adels. Während
kritische Sozialwissenschafter aber mit der Frage nach der Kultur Stimmen von unten hörbar
machen wollen, geht es der Bharatiya Janata Partei z.B. um die Wiedervereinigung der
Hindus unter dem Banner der oberen Kasten. Kulturbegriffe haben einen sozialen Ort, und der
ist keinesfalls politisch neutral. Aus dieser Sicht ist Wallersteins Kritik am Kulturdiskurs
Recht zu geben: Dieser bewirke Vernebelung, weil die Zuordnung kultureller Maßstäbe zu
bestimmten sozialen Schichten(oder Klassen) durch die Behauptung, es gebe ethnisch,
national, territorial, religiös usf. bestimmbare Kulturen, die inneren Brüche jeder Kultur,
Klassenkonflikte und Herrschaftsansprüche verschleiert. Mensch bezieht sich meistens auf
Quellen und Äußerungen der Oberschichten. Bei den Unterschichten dürfte es nicht leicht sei,
etwas über ihre kulturelle Weltsicht zu erfahren. Damit aber ist der hier dargestellte
Kulturdiskurs zu problematisieren, denn seine Tragweite ist auf bestimmte gesellschaftliche
Gruppen beschränkt und es erscheint notwendig, ihn - als a priori verzerrt - mit Vorsicht zu
genießen. Mit der Feststellung, dass Kultur ihren sozialen Ort hat, wird Kultur im Rahmen
einer politischen Ökonomie gedeutet. Damit aber reduziert sich der Freiraum von Kultur doch
erheblich, steht sie bzw. stehen die Begriffe von Kultur doch in einem Wechselspiel mit den
hegemonialen Kräften. So kann bei Six beobachtet werden, dass die Kämpfe um kulturelle
Symbole durchaus politische Kämpfe sind. Bei Kaller-Dietrich und Obrecht verfügt die
differente Kultur über eine eher hohe Autonomie und kann sich deshalb der Integration indie
"imaginäre Kultur" respektive in die Weltzeitkultur entziehen. Liegt hier die Quelle für
kulturellen Widerstand, die immer auch mit politsch-ökonomischer Vereinnahmung
verbunden ist? Diese Kulturen sind auf ihren Ort bezogen und definieren ihre spezifische Zeit.
Eine universelle Kultur wird aus dieser Perspektive zu einer Un-Vorstellung; die Einbrüche
jener, die sich einer universellen Kultur zugehörig erklären, stellen Akte der Aggression dar.
Entwicklung ist damit ein anderes Wort für Imperialismus.
Keine Kultur, und sei sie auch noch so partikular, verfügt über völlige Autonomie, stand in
keinem Verhältnis zu anderen Kulturen. Partikularismus ist also stets relativ, kann nie zur
Universalie werden. Es wird angebracht sein die Einheit der Welt zu retten - nicht zuletzt, um
die Möglichkeit interkultureller Kommunikation zu wahren. Ebenso angebracht ist aber der
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Kampf um die Existenzberechtigung partikularer Entwürfe, wenn dabei deren Relativität
mitreflektiert wird. Das Wort Kultur ist nicht unpolitisch und unreflektiert zu gebrauchen. Die
Entwicklungsidee steht im Kontext eines politischen Diskurses, und wenn für Kultur in
diesem Diskurs zu Recht ein Platz beansprucht wird, dann kann das nur für ein politisches
Kulturkonzept gelten.
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