der Hausaufgaben für den LK 13

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13.1 Lk D
Thema: Sprache und Rhetorik: Das gesprochene Wort
25.01.99
1.1 Monologische Rhetorik
Die ersten Menschen konnten das Kommunikationswerkzeug Sprache hervorragend für die
gemeinsame Jagd, die Arbeit und vieles andere nutzen. Insgesamt erwies sich die Sprache als
besonders nützlich für die gesellschaftliche Kooperation der Menschen, und vor allem
ermöglichte sie erst die Tradition, konnte doch nunmehr das erworbene Wissen von
Generation zu Generation mündlich weitergegeben werden, so daß menschheitsgeschichtlich
ein beträchtliches Anwachsen des erworbenen Wissens zu verzeichnen war.
Aber die Sprache war - und ist - nicht nur ein „neutrales Kommunikationswerkzeug“, mit dem
man Probleme des Lebens „effizienter“ bewältigen kann, sie ist auch ein ästhetisches
Medium: man kann schön, gefällig und gewählt sprechen, oder aber ungefällig, trocken,
abgehackt.[...]Und nicht jeder Mensch hat eine gleich gute Sprachkompetenz. Zudem kann
man mit der Sprache die Wahrheit sagen, sie verschleiern oder auch lügen. Und dann hängen
sprachliche Äußerungen auch noch von der jeweiligen Situation ab, ob man z. B. „im
richtigen Moment das richtige Wort“ findet. Außerdem kann man mit Sprache andere
Menschen belehren, lenken, aber auch manipulieren und irreleiten. Damit sind bereits einige
Aspekte der Rhetorik, der Kunst der Rede, benannt.
Aufgaben:
1. Versuchen Sie, die Begriffe “überreden“ und “überzeugen“ zu definieren und
gegeneinander abzugrenzen.
2. Diskutieren Sie die Bedeutung der Rhetorik im heutigen gesellschaftlichen und privaten
Leben.
1.1.1 Rhetorik in der Antike
Text 1
Peter Ebeling: Die Rhetorik in der Antike
In der Antike wurde die Rhetorik definiert als die „Kunst, gut zu reden“ (ars bene dicendi),
die sich zusammensetzte aus Talent, natürlicher Begabung (ingenium) und technischer
Fertigkeit (ars, techne). Die notwendigen Fertigkeiten und Fähigkeiten auf dem Gebiet der
Redetechnik lassen sich laut antiker Auffassung schulen durch die Nachahmung der
anerkannten Rhetoren (imitatio), durch die Anwendung allgemein verbindlicher Regeln
(doctrina) und durch ständige Übung (exercitium).
Zur Redekunst gehört also das Beherrschen des Sachverhalts (res) und dessen angemessene
Darstellung durch die Sprache (verba). Einerseits ist die Redekunst somit Dialektik, das heißt
Kunst der Problemerkenntnis (intellectio), der Argumentation (inventio) und der
Gedankenführung (dispositio), andererseits ist sie Stilistik (elocutio), die sich um die
geschliffene Ausformung der Sprache bemüht. Und letzten Endes gehört dazu auch die
Beobachtung, wie das Publikum auf die Rede, auf die Sprache des Redners anspricht.
Die antike Rhetorik unterscheidet drei Redegattungen:
1. Die Gerichtsrede, in der über die Beurteilung vergangener Vorgänge gestritten wird.
2. Die Beratungs- oder Ermahnungsrede, in der es um eine Darstellung gegenwärtiger
Vorgänge geht und darum, wie sie in Zukunft besser gestaltet werden können.
3. Die Lob- und Tadelrede.
Eine vielfältige Mischung dieser Redearten ist möglich, die Zahl der Redeforrnen ist Legion:
Manifest, Aufruf, Petition, Plädoyer, Streitgespräch, Streitschrift, offener Brief,
Kommuniqué, Laudatio, Nekrolog, Pamphlet, Predigt [...]. Alle diese Arten der Rede sind
bereits in der Antike vorhanden und werden vielfältig gepflegt.
Schon sehr früh gibt es ein allgemeinverbindliches Schema, wie man eine Rede gestalten soll
[...]: einfachstes Gliederungsschema ist immer die Einteilung in Einleitung, Hauptteil, Schluß.
2
Der Anfang soll als Köder für das Publikum dienen und als kurze Übersicht dessen, was zu
erwarten ist. Sehr wichtig ist hier die Anrede. Der Hauptteil bringt ausführliche Darstellung
der Probleme, historische Reminiszenen, Folgerungen daraus für die Gegenwart und Zukunft,
Widerlegungen gegnerischer Argumentation. Der Schluß faßt zusammen und gibt einen
Appell an die Zuhörer weiter.
Notwendig für den Redner ist es nach alter Auffassung, daß er sich seinem Problem
gegenüber angemessen ausdrücken kann, daß er klar ist und verständlich in seiner
Argumentation. Allerdings soll die Rede auch kunstvoll sein, so daß sie sich von der
alltäglichen Sprache unterscheidet. Die Rede muß unkonventionell in dem Sinn sein, daß man
schon von den bloßen Äußerlichkeiten her auf den Redner und auf das, was er sagen will,
aufmerksam wird.
Diesem Zweck dient ein im Lauf der Zeit entwickeltes System von rhetorischen Figuren [vgl.
„Rhetorische Figuren im Überblick“].
Wie hat ein Rhetor, der eine Rede ausarbeiten will, nun vorzugehen? Die Hauptvorgänge sind
folgende:
1. Vorschriften über die Stoffsammlung und das Finden von Beweisgründen (inventio);
2. Anordnen und Gliedern des gesammelten Materials (dispositio);
3. sprachliche Formulierung und stilistische Ausgestaltung (elocutio),
4. Aneignung der Rede durch Auswendiglerneu (memoria),
5. Kunst der gestenreichen Deklamation (pronuntiatio) beim Vortrag selbst. Die beste
Deklamation ist die freie Rede, die „sprechdenkend“ erzeugt wird. [...]
Das entscheidende Moment für die Entstehung der Rhetorik in der Antike war das
Vorhandensein von Interessengegensätzen. Zu den ersten prominenten Rhetoren im alten
Griechenland zählt Gorgias von Leontini, der aus Sizilien 427 v. Chr. nach Athen kam. Er
unterrichtete zahlreiche Schüler und hielt Musterreden, von denen zwei erhalten sind.
In Athen hatte sich schon vorher eine Art Rhetorikschule ausgebildet, die in Perikles (nach
500-429) einen wortgewandten Vertreter besaß, der den Anstoß zur Pflege der Redekunst
durch die Sophisten gab.
Der erste schulmäßige attische Redner, der auch und vor allem als Lehrer der Rhetorik auftrat,
war Antiphon, der älteste der zehn attischen Redner (480-411), der die Beweistechnik
entwickelte und zahlreiche Modellreden verfaßte. Weitere Redner dieser Schule waren u. a.
Thrasymachos von Chalkedon, Theodoros von Byzanz, Alkidamos. Die Sophisten
(Weisheitslehrer), wie sie bald genannt werden, sind davon überzeugt, daß alles lehr- und
lernbar ist (Protagoras, 485-416: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“), daß man Werte wie
Wahrheit und Gerechtigkeit mit den geeigneten Argumenten jedem Menschen und jeder
gesellschaftlichen Einrichtung vermitteln kann, indem man sie dazu überredet.
Die Gegenbewegung ging von Sokrates (469-399) aus. Der Redner hat hier die Aufgabe, in
philosophischem Sinn zu überzeugen. Platon (427-347) hat den Kampf der Philosophie gegen
die Rhetorik, wie die Sophisten sie verstanden, im Phaidros dargestellt. Dem trat Isokrates
(436-338) entgegen, der die natürlichen Anlagen des Rhetors mit Talent, Ausbildung und
praktischer Erfahrung angibt, sie also mehr im Diesseits ansiedelt. Aristoteles' (384-322) drei
Bücher über die Redekunst sind bis heute ein Standardwerk geblieben. Die beiden ersten
Bücher handeln von der Argumentation, das dritte von der sprachlichen Formulierung.
Der Fall Sokrates
Der folgende kurze Blick auf den Fall Sokrates (399 v. Chr.) soll die Bedeutung der Rhetorik
in Gerichtsverfahren erhellen. Gegen den stadtbekannten Athener Philosophen hatten dessen
Mitbürger Meletos, Anytos und Lykon folgende Anklage erhoben:
„Sokrates frevelt wider die Gesetze und treibt Unfug, indem er dem nachspürt, was unter der Erde ist und was
am Himmel sich zeigt, und die schlechte Sache zur guten macht, zudem auch andere in ebendiesen Dingen
unterweist.“
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Nach einer Vorverhandlung, in der die Anklage schriftlich fixiert und beschworen worden
war, fand die Hauptverhandlung vor einem Heliasten-Gerichtshof statt, der aus 500
vollberechtigten Athener Bürgern, die über 30 Jahre alt sein mußten, bestand und erst am
Morgen des Gerichtstages ausgelost worden war, um eine Beeinflussung der Richter zu
verhindern. Nach Gebet und Opfer hatte der Herold Klage und Erwiderung verlesen; dann
hatte der leitende Archon den Parteien das Wort erteilt, zunächst den Klägern. Das Zeitmaß
der Reden wurde durch eine Wasseruhr bestimmt.
Bedeutendes stand für beide Parteien auf dem Spiel. Erhielt ein Kläger in einem
Kriminalprozeß nicht wenigstens ein Fünftel der Stimmen, dann mußte er 1000 Drachmen
Strafe zahlen und verlor das Recht, jemals wieder eine öffentliche Klage derselben Art
vorzubringen. Der Angeklagte mußte sich persönlich mündlich verteidigen; Sokrates hatte
darauf verzichtet, sich seine Verteidigungsrede gegen Bezahlung von einem anderen
Rechtskundigen schreiben zu lassen. Sokrates' Schüler Platon (427-347 v. Chr.), der bei der
Verhandlung zugegen war, hat uns den folgenden Anfang der Verteidigungsrede (Apologie)
des Sokrates überliefert.
Text 2
Platon: Die Verteidigungsrede des Sokrates* (399 v. Chr.)
Welchen Eindruck, meine athenischen Mitbürger, meine Ankläger auf euch gemacht haben,
weiß ich nicht; ich meinesteils stand so unter dem Bann ihrer Worte, daß ich mich beinahe
selbst vergaß: so überzeugend klangen ihre Reden. Und doch, von Wahrheit war kaum eine
Spur zu finden in dem was sie gesagt haben. Am meisten aber war ich erstaunt über eine von
den vielen Lügen, die sie vorgebracht haben, über die Warnung nämlich, die sie an euch
richteten, ihr solltet euch ja nicht von mir täuschen lassen, denn ich sei ein Meister der Rede.
Daß sie sich nicht entblödeten dies zu sagen trotz der Gewißheit, alsbald durch die Tatsachen
von mir widerlegt zu werden, wenn es sich nämlich nunmehr herausstellt, daß ich nichts
weniger bin als ein Meister der Rede, das schien mir der Gipfel aller Dreistigkeit zu sein, es
müßte denn sein, daß sie den einen Meister der Rede nennen, der die Wahrheit sagt. Denn
wenn sie es so meinen, dann habe ich keine Bedenken, mich als Redner gelten zu lassen - nur
eben nicht als einen von ihrer Art. Sie, die Kläger, haben, wie gesagt, so gut wie nichts
Wahres vorgebracht; von mir aber sollt ihr die volle Wahrheit vernehmen. Aber, beim Zeus,
meine Mitbürger, was ihr von mir zu hören bekommt, wird kein in Worten und Wendungen
schön gedrechseltes und wohlverziertes Redewerk sein wie das dieser Ankläger, sondern ein
schlichter Vortrag in ungesuchten Worten. Denn ich bin fest überzeugt von der Gerechtigkeit
meiner Sache und keiner von euch möge mich anders als mit Vertrauen anhören. Es wäre
doch auch in der Tat ein starker Verstoß, meine Mitbürger, wollte ich in diesen meinen Jahren
vor euch auftreten wie ein Jüngling, der sich in künstlichem Redeschmuck gefällt. Und ich
richte an euch, meine athenischen Mitbürger, recht dringend die folgende Bitte: wenn ihr von
mir bei meiner Verteidigung die nämliche Redeweise vernehmt, deren ich mich auf dem
Markt an den Wechslertischen bediene, wo viele von euch mir zugehört haben wie auch
anderwärts, so wundert euch nicht und machet darob keinen Lärm. Es verhält sich damit
nämlich folgendermaßen: Es ist heute das erstemal, daß ich vor Gericht erscheine, siebenzig
Jahre alt. Ich bin also ein völliger Fremdling in der hier üblichen Redeweise. Gesetzt nun, ich
wäre hier ein Fremder im eigentlichen Sinne, so würdet ihr es offenbar verzeihlich finden,
wenn ich mich derjenigen Sprache und Redeform bediente, in der ich erzogen bin. So wende
ich mich denn jetzt an euch mit der, wie mir scheint, nicht unbilligen Bitte: macht euch keine
Gedanken über meine Redeweise, gleichviel ob sie schlecht oder gut ist; richtet vielmehr
eueren Sinn und euere ganze Aufmerksamkeit darauf, ob, was ich sage, recht ist oder nicht;
denn das ist die Pflicht und Aufgabe des Richters, wie es die des Redners ist die Wahrheit zu
sagen.
Aufgabe:
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Diskutieren Sie Sokrates' Einschätzung der (Gerichts-)Rhetorik und ihre mögliche Wirkung
auf das Auditorium. In Ihre Diskussion können Sie den folgenden Text 3 einbeziehen.
Nachdem Sokrates in der Fortsetzung seiner Rede alle Punkte der Anklage argumentativ
widerlegt hatte, wurde er mit 280 Stimmen - also nur einer knappen Mehrheit von 30
Stimmen - zum Tode durch den Schierlingsbecher verurteilt. Sokrates beendete seinen
Auftritt vor Gericht mit den Worten: „Aber nun ist es Zeit, daß wir gehen, ich um zu sterben,
ihr um weiter zu leben. Wer von uns beiden dem besseren Lose entgegengeht, das ist allen
verborgen, nur der Gottheit nicht.“ In den Dialogen „Kriton“ und „Phaidon“ hat Platon
Sokrates' letzte Tage im Gefängnis und seine Hinrichtung eindrucksvoll beschrieben.
An den Fall Sokrates hat der amerikanische Medientheoretiker Neil Postman eine Überlegung
angeschlossen, die sich auf den Einfluß der Medien auf unsere Urteilsbildung und
Wahrheitsfindung bezieht.
Text 3
Neil Postman: Medien und Wahrheitsfindung*
Ein [...] Beispiel für den Einfluß der Medien auf unsere Epistemologien 1 bietet der Prozeß
gegen den großen Sokrates. Zu Beginn seiner Verteidigungsrede vor den 500 Geschworenen
entschuldigt sich Sokrates dafür, daß er keine Ansprache vorbereitet habe. Er erklärt seinen
athenischen Mitbürgern, daß er ins Stocken geraten werde, er bittet sie, ihn deshalb nicht zu
unterbrechen und ihn statt dessen für einen Fremden aus einer anderen Stadt anzusehen, und
er verspricht ihnen, die Wahrheit zu sagen, ungeschminkt und ohne rhetorisches Beiwerk. So
zu beginnen war für Sokrates gewiß charakteristisch, nicht jedoch für die Zeit, in der er lebte.
Denn Sokrates wußte sehr genau, daß seine Mitbürger nicht der Ansicht waren, die
Grundsätze der Rhetorik und der Ausdruck der Wahrheit hätten nichts miteinander zu tun.
Uns Heutigen sagt das Plädoyer des Sokrates durchaus zu, weil wir gewohnt sind, in der
Rhetorik nur eine meist hochtrabende, überflüssige Ausschmückung der Rede zu sehen. Aber
für die Menschen, die sie erfanden, für die griechischen Sophisten des 5. vorchristlichen
Jahrhunderts und ihre Erben, war die Rhetorik nicht nur Gelegenheit zu schauspielerischen
Darbietungen, sie war vielmehr ein nahezu unerläßliches Mittel, um Belege und Beweise in
eine Ordnung zu bringen, das heißt, sie war ein Mittel zur Mitteilung von Wahrheit.
Sie war nicht nur ein zentrales Element in der Bildung der Athener (von weit größerer
Bedeutung als die Philosophie), sondern auch eine Kunstform von hohem Rang. Für die
Griechen war die Rhetorik eine Form gesprochener Schriftlichkeit. Zwar setzte sie stets den
mündlichen Vortrag voraus, aber ihre Macht, Wahrheit zu offenbaren, beruhte auf der Macht
der geschriebenen Worte, Argumente in einer geordneten Abfolge zur Geltung zu bringen.
Obwohl Platon (wie wir aufgrund der Verteidigungsrede des Sokrates vermuten dürfen) diese
Wahrheitsauffassung in Zweifel zog, waren seine Zeitgenossen davon überzeugt, die Rhetorik
sei das geeignete Mittel, um die „richtige Meinung“ sowohl zu entdecken als auch zu
artikulieren. Die Regeln der Rhetorik zu mißachten, die eigenen Gedanken aufs Geratewohl
zur Sprache zu bringen, ohne richtige Betonung, ohne die angemessene Leidenschaftlichkeit,
das wirkte wie ein Affront gegen die Intelligenz der Zuhörer und erregte den Verdacht der
Lügenhaftigkeit. Deshalb können wir annehmen, daß viele der 280 Geschworenen, die
Sokrates dann für schuldig befanden, dies deshalb taten, weil ihnen seine Verfahrensweise mit
Wahrhaftigkeit nicht vereinbar schien.
Mit diesem [...] Beispiel möchte ich verdeutlichen, daß Wahrheitsbegriffe jeweils sehr eng
mit den Perspektiven bestimmter Ausdrucksformen verknüpft sind. Die Wahrheit kommt
nicht ungeschminkt daher und ist niemals so dahergekommen. Sie muß in der ihr
angemessenen Kleidung auftreten, sonst wird sie nicht anerkannt, mit anderen Worten:
„Wahrheit“ ist so etwas wie ein kulturelles Vorurteil. Jede Kultur beruht auf dem Grundsatz,
daß sich die Wahrheit in bestimmten symbolischen Formen besonders glaubwürdig
1
Epistemologie: Lehre von der Erkenntnis, der Urteilsbildung und Wahrheitsfindung
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ausdrücken läßt, in Formen, die einer anderen Kultur möglicherweise trivial oder belanglos
erscheinen.
Aufgaben:
1. Wie schätzt Postman Sokrates' rhetorische Leistung in dessen Verteidigungsrede ein?
2. Welchen Zusammenhang stellt Postman her zwischen Medien (Ausdrucksformen) und
Wahrheit?
3. Wie hätten Sie sich an Sokrates Stelle verteidigt?
Im Mittelalter gehörte die Rhetorik neben der Grammatik (korrekte Sprache) und der
Dialektik (richtiges Denken) zu den Freien Künsten („Trivium“ genannt), die der Gebildete in
einem „Elementarkurs“ zu beherrschen lernen mußte. Zu Beginn der Neuzeit erinnerte man
sich im Humanismus wieder der alten antiken rhetorischen Ideale, die die Kunstgriffe
hergaben, um u. a. Soldaten für Schlachten zu motivieren oder Parlamente zu
Mehrheitsentscheidungen anzuregen. Gebunden war diese Rhetorik an das gesprochene Wort
in der jeweiligen Situation und an eine spätere Lesefassung.
lm 20. Jahrhundert fallen zunächst einmal die Negativbeispiele der Rhetorik ins Auge - die
Rhetorik der Massenbewegung, die Rhetorik der Diktatoren. Mit der antiken Tradition des
Rhetors als „vir bonus“ haben sie nicht mehr das geringste gemein. Diese Art diktatorischer
Redner appellieren an den Massentrieb, sie steigern die Zuhörer, aber auch sich selbst in eine
Art Psychose.
Ein weiteres Feld der Rhetorik, das heute mehr und mehr in den Vordergrund rückt, ist die
Werbung, die rhetorisch sicheres Auftreten fordert.
(Peter Ebeling: Das große Buch der Rhetorik. Englisch Verlag, Wiesbaden 61988, S. 16)
Rhetorische Figuren im Überblick
Zu beachten ist, daß die hier aufgeführten Strukturmerkmale in Texten aller Gattungen, ja,
selbst in Gebrauchstexten zu finden sind. Sie werden besonders bewußt in der Rhetorik
(griech. - Kunst der Rede) eingesetzt. So verwendet der politische Redner rhetorische Mittel
gezielt, um die gewünschte Wirkung zu erreichen. Ein Großteil der Stilmittel ist in der Antike
entstanden, was sich noch heute an den meist griechischen Fachbegriffen ablesen läßt.
Kennzeichen der Lyrik ist z. B., daß sie dazu tendiert, die rhetorischen Figuren in ein
besonders beziehungsreiches Zusammenspiel zu bringen. Auch dadurch entsteht die
faszinierende Überstrukturierung, eine Vieldeutigkeit, die den Leser zu einem intensiven
Verstehensprozeß anregt.
Rhetorische Figur
Akkumulation
Allegorie
Anapher
Antithese
Beispiel
Definition
„Nenn's Glück! Herz! Liebe! Reihung von Begriffen zu
Gott!“
einem - genannten oder nicht
genannten - Oberbegriff.
„Gott Amor“ für „Liebe“
Konkrete Darstellung von
Abstraktem
(Gedanke,
Begriff), oft durch --->
Personifikation.
Gedachtes
wird in ein Bild übertragen, das
durch
Reflexion
wieder
erschlossen werden muß.
„Das Wasser rauscht das Wiederholung
wichtiger
Wasser schwoll.“
Wörter an Vers-/Satzanfängen.
„Im Sommer ist mir kalt, im Entgegenstellung
von
6
Apostrophe
Chiasmus
Winter ist mir heiß.“
„Gütge Fürstin! So schamlos
frech verspottet man dich!“
„Ich weiß nicht, was ich will,
ich will nicht, was ich weiß.“
Ellipse
„Wir müssen schnell, ja
unverzüglich handeln.“
„Je früher (du zum Arzt gehst),
desto besser (ist es für deine
Gesundheit).“
Epipher
„Doch alle Lust will Ewigkeit-,
-will tiefe, tiefe Ewigkeit!“
Euphemismus
Hendiadyoin
„Heimgang“ für „Tod“
„Beistand und Hilfe“ „einzig
und allein“
Hyperbaton
„Es ist der Liebe milde Zeit.“
Hyperbel
Ironie
„ein Meer von Tränen“
„Du bist mir ein schöner
Freund.“
Klimax
„Veni, vidi, vici.“ („Ich kam,
sah und siegte.“)
Litotes
„Nicht unschön“ -„Er war nicht
gerade ein Held.“
Metapher
„Das Feuer der Liebe“ „Ausgesetzt auf den Bergen
des Herzens.“
Metonymie
„Er hat den ganzen Büchner
gelesen.“ - „Hüte deine
Zunge!“ „Er hat zwei Glas
getrunken.“ - „Moskau hat
noch nicht geantwortet.“
Correctio
Begriffen und Gedanken.
Pathetische Anrede.
Griech. Buchstabe Chi = X;
symmetrische
Überkreuzstellung
von
syntaktisch oder semantisch
einander
entsprechenden
Satzgliedern.
Korrektur eines zu schwachen
Ausdrucks.
Unvollständiger
Satz.
Auslassung
eines
Wortes/Satzteils, das/der leicht
ergänzbar ist.
Wiederholung
wichtiger
Wörter an Vers-/Satzenden;
Gegensatz zu --> Anapher.
Beschönigung
Verknüpfung
zweier
sinnverwandter (synonymer)
Wörter, meist Substantive.
Satzstellung, die von der
üblichen abweicht.
Starke Übertreibung.
Unwahre Behauptung, die
durchblicken läßt, daß das
Gegenteil gemeint ist.
Dreigliedrige
Steigerung.
Antiklimax: Steigerung zum
schwächeren Ausdruck hin.
Bejahung
durch
doppelte
Verneinung. Milderung des
Gesagten.
Bedeutungsübertragung.
Sprachliche
Verknüpfung
zweier semantischer Bereiche,
die gewöhnlich unverbunden
sind. „Eine Metapher [...] ist
ein Wort in einem Kontext,
durch den es so determiniert
wird, daß es etwas anderes
meint als es bedeutet“ (H.
Weinrich).
Ersetzung eines gebräuchlichen
Wortes durch ein anderes, das
zu ihm in unmittelbarer
Beziehung steht: z. B. Autor
für
Werk,
Ursache
für
Wirkung, Gefäß für Inhalt, Ort
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Oxymoron
Paradoxon
Parallelismus
Paronomasie
Periphrase
Personifikation
Pleonasmus
Rhetorische Frage
Symbol
Synästhesie
Synekdoche
Tautologie
Vergleich
Zeugma
für Person.
„Bittere Süße“ -„schwarze Verbindung
zweier
Milch der Frühe“
Vorstellungen,
die
sich
ausschließen -, contradictio in
adiecto.
„Das Leben ist der Tod, der Scheinwiderspruch
Tod ist das Leben.“
„Schnell lief er hin, langsam Wiederholung
gleicher
kam er zurück.“
syntaktischer Fügungen.
„Betrogener Betrüger“ „Eile Wortspiel durch Verbindung
mit Weile“
von Wörtern, die klangähnlich
oder auf gleichen Wortstamm
zurückzuführen sind.
„der Allmächtige“ für „Gott“
Umschreibung
„Mutter Natur“
Vermenschlichung
-->
Allegorie
„weißer Schimmel“ „grünes Wiederholung
eines
Gras“
charakteristischen
semantischen Merkmals des
Bezugswortes.
„Machen
Fehler?“
wir
nicht
alle Scheinbare Frage, um einer
Aussage
besonderen
Nachdruck zu verleihen.
„Kreuz“ als Symbol für den Sinnbild, das über sich hinaus
christlichen Glauben - „Krone“ auf Allgemeines verweist.
als Symbol der Macht
Meist
ein
konkreter
Gegenstand, in dem ein
allgemeiner
Sinnzusammenhang sichtbar
wird.
„Durch die Nacht, die mich Verbindung unterschiedlicher
umfangen, / Blickt zu mir der Sinneseindrücke.
Töne Licht.“
„Klinge“ für „Schwert“
Ein Teil steht für das Ganze
„Dach“ für „Haus“
(pars pro toto).
„Persil bleibt Persil“ „immer Wiederholung eines Begriffs
und ewig“
bzw. Ersetzung durch ein
sinnverwandtes Wort (häufig
in Zwillingsformeln).
- Hendiadyoin ---> Pleonasmus
„Achill ist stark wie ein Verknüpfung
zweier
Löwe.“
sernantischer Bereiche durch
Hervorhebung
des
Gemeinsamen (des sog. tertium
comparationis) . Unterform der
---> Metapher.
„Er schlug die Stühl' und Ungewohnte
Zuordnung
Vögel tot.“
verschiedener
Satzglieder,
meist des Prädikats, zu
8
unterschiedlichen Objekten.
1.1.2 Politische Rhetorik im 20. Jahrhundert
Die klassische Rede als Monolog des Redners wirkte zunächst jeweils nur situativ auf das
anwesende Publikum, wobei der Redner u. a. auch über die Fähigkeit verfügen mußte, laut
und deutlich zu sprechen. Erst nachträglich konnte die Rede, z. B. durch Publikation in
Zeitungen, amtlichen Verlautbarungen, Flugschriften oder Geschichtswerken, eine zusätzliche
Wirkung haben, wobei aber wichtige rhetorische Aspekte (Sprechweise, Mimik, Gestik des
Redners) entfielen. Dies gilt von der Antike bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts.
Mit der rasanten technischen Entwicklung neuer Medien änderte sich auch die
Gesamtsituation der Rhetorik. Ab dem 29. 10. 1923 wurden in Deutschland regelmäßige
Rundfunksendungen ausgestrahlt (über Mittelwelle, der störungsfreiere UKW-Rundfunk
wurde erst 1949 eingeführt). Damit ergab sich die Möglichkeit, daß ein Redner „live“ ein sehr
viel größeres Publikum erreichen konnte, das aber zuhause saß und ihn nicht sehen konnte.
Ab 1929 wurden die ersten theaterreifen Tonfilme in Deutschland vorgeführt (ab 1930 gab es
Farbfilme), bald war die Wochenschau regelmäßig zu sehen, ein Kurzfilm-Magazin im
Kinovorprogramm mit wöchentlich wechselnder, überwiegend aktueller politischer
Berichterstattung. Nunmehr konnte ein Massenpublikum einen Redner hören und sehen, die
Schneide- und Montagetechnik erlaubte es, Reden zu kürzen und mit anderen Bildern zu
kombinieren.
Die Nationalsozialisten erkannten und nutzten in Deutschland die Möglichkeiten der neuen
Medien, indem sie sie ab 1933 im Reichspropagandaministerium des Joseph Goebbels
„gleichschalteten“ und für eine totalitäre Propaganda mißbrauchten, die über
Volksempfänger, Wochenschau und Propagandafilme „flächendeckend“ fast alle Bürgerinnen
und Bürger erreichte, wenn auch mit unterschiedlicher Wirkung.
Um eine solche totalitäre Propagandamaschinerie künftig zu verhindern, wurden nach dem
Kriege in der Bundesrepublik für die Medien institutionelle Konsequenzen gezogen. Es gab
keine staatlich kontrollierten Filmgesellschaften mehr, der Rundfunk wurde (auf
Länderebene)
dezentralisiert,
die
Rundfunkanstalten
bekamen
den
Status
öffentlich-rechtlicher Anstalten, die dem Staat gegenüber relativ autonom sind. U. a. damit
war der politischen Propagandarede „großen Maßstabs“ der Boden entzogen; „große“
politische Reden, die „live“ ein Massenpublikum erreichen, sind in der Zeit nach 1945 selten
geworden.
Die folgenden vier Reden können lediglich einen kurzen Einblick gewähren in die
monologische politische „Großrhetorik“ von 1933 bis 1985. Ein Kriterium für die
Textauswahl war, Redner unterschiedlicher politischer Zugehörigkeit zu unterschiedlichen
Zeiten zu Wort kommen zu lassen; alle vier Reden beschäftigen sich mit dem
Nationalsozialismus bzw. seinen Folgen.
Vier Reden zum Nationalsozialismus und seinen Folgen
9
Text 1
Otto Wels: Rede vor dem deutschen Reichstag zum „Ermächtigungsgesetz“
Kurzinformation zum situativen Kontext
Am 30. 01. 1933 hatte Reichspräsident Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler berufen,
der ein Kabinett mit Deutschnationalen und dem „Stahlhelm“ bildete. Der Brand des
Reichstags in Berlin am 27. Februar 1933 wurde von den Nationalsozialisten den
Kommunisten angelastet und zum Vorwand für eine große Verhaftungswelle. Bei den
Reichstagswahlen am 05. März 1933 erreichte die NSDAP 288 Mandate (44%, zusammen
mit den Deutschnationalen 52 %).
Am 23. März 1933 legte Hitler dem Reichstag in Berlin das „Gesetz zur Behebung der Not
von Volk und Reich“ vor. Durch dieses sog. „Ermächtigungsgesetz“ sollte der neuen
Regierung für vier Jahre u. a. erlaubt sein, auch ohne Zustimmung des Reichstages die
gesetzgebende und ausführende Gewalt auszuüben, was faktisch der Selbstentmachtung des
Reichstags gleichkam. Am 23. 03. 1933 waren die kommunistischen Abgeordneten vom
Reichstag bereits ausgeschlossen. Nur die 94 Abgeordnete zählende SPD-Fraktion stimmte
schließlich gegen das Ermächtigungsgesetz.
Otto Wels (1873-1939), seit 1919 einer der Vorsitzenden der SPD, die er von seiner
anschließenden Emigration 1933 bis zu seinem Tode in Paris 1939 im Exil führte, nahm für
die SPD-Fraktion am 23. 03. 1933 zum „Ermächtigungsgesetz“ in einer Rede vor dem
Reichstag in Berlin Stellung.
Text der Rede
Meine Damen und Herren!
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Der außenpolitischen Forderung deutscher Gleichberechtigung, die der Herr Reichskanzler
erhoben hat, stimmen wir Sozialdemokraten um so nachdrücklicher zu, als wir sie bereits von
jeher grundsätzlich verfochten haben. Ich darf mir wohl in diesem Zusammenhang die
persönliche Bemerkung gestatten, daß ich als erster Deutscher vor einem internationalen
Forum, auf der Berner Konferenz am 03. Februar des Jahres 1919, der Unwahrheit von der
Schuld Deutschlands am Ausbruch des Weltkrieges entgegengetreten bin. Nie hat uns
irgendein Grundsatz unserer Partei daran hindern können oder gehindert, die gerechten
Forderungen der deutschen Nation gegenüber den anderen Völkern der Welt zu vertreten.
Der Herr Reichskanzler hat auch vorgestern in Potsdam einen Satz gesprochen, den wir
unterschreiben. Er lautet: „Aus dem Aberwitz der Theorie von ewigen Siegern und Besiegten
kam der Wahnwitz der Reparationen und in der Folge die Katastrophe der Weltwirtschaft.“
Dieser Satz gilt für die Außenpolitik; für die Innenpolitik gilt er nicht minder. Auch hier ist
die Theorie von den ewigen Siegern und Besiegten, wie der Herr Reichskanzler sagte, ein
Aberwitz.
Das Wort des Herrn Reichskanzlers erinnert uns aber auch an ein anderes, das am 23. Juli
1919 in der Nationalversammlung gesprochen wurde. Da wurde gesagt: „Wir sind wehrlos,
wehrlos ist aber nicht ehrlos. Gewiß, die Gegner wollen uns an die Ehre, daran ist kein
Zweifel. Aber daß dieser Versuch der Ehrabschneidung einmal auf die Urheber selbst
zurückfallen wird, da es nicht unsere Ehre ist, die bei dieser Welttragödie zugrunde geht, das
ist unser Glaube bis zum letzten Atemzug.“ Das steht in einer Erklärung, die eine
sozialdemokratisch geführte Regierung damals im Namen des deutschen Volkes vor der
ganzen Welt abgegeben hat, vier Stunden bevor der Waffenstillstand abgelaufen war, um den
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Weitervormarsch der Feinde zu verhindern. - Zu dem Ausspruch des Herrn Reichskanzlers
bildet jene Erklärung eine wertvolle Ergänzung.
Aus einem Gewaltfrieden kommt kein Segen; im Innern erst recht nicht. Eine wirkliche
Volksgemeinschaft läßt sich auf ihn nicht gründen. Die erste Voraussetzung ist gleiches
Recht. Mag sich die Regierung gegen rohe Ausschreitungen der Polemik schützen, mag sie
Aufforderungen zu Gewalttaten und Gewalttaten selbst mit Strenge verhindern. Das mag
geschehen, wenn es nach allen Seiten gleichmäßig und unparteiisch geschieht, und wenn man
es unterläßt, besiegte Gegner zu behandeln, als seien sie vogelfrei. Freiheit und Leben kann
man uns nehmen, die Ehre nicht.
Nach den Verfolgungen, die die Sozialdemokratische Partei in der letzten Zeit erfahren hat,
wird billigerweise niemand von ihr verlangen oder erwarten können, daß sie für das hier
eingebrachte Ermächtigungsgesetz stimmt. Die Wahlen vom 05. März haben den
Regierungsparteien die Mehrheit gebracht und damit die Möglichkeit gegeben, streng nach
Wortlaut und Sinn der Verfassung zu regieren. Wo diese Möglichkeit besteht, besteht auch
die Pflicht. Kritik ist heilsam und notwendig. Noch niemals, seit es einen Deutschen
Reichstag gibt, ist die Kontrolle der öffentlichen Angelegenheiten durch die gewählten
Vertreter des Volkes in solchem Maße ausgeschaltet worden, wie es jetzt geschieht, und wie
es durch das neue Ermächtigungsgesetz noch mehr geschehen soll. Eine solche Allmacht der
Regierung muß sich um so schwerer auswirken, als auch die Presse jeder Bewegungsfreiheit
entbehrt.
Meine Damen und Herren! Die Zustände, die heute in Deutschland herrschen, werden
vielfach in krassen Farben geschildert. Wie immer in solchen Fällen, fehlt es auch nicht an
Übertreibungen. Was meine Partei betrifft, so erkläre ich hier: wir haben weder in Paris um
Intervention gebeten noch Millionen nach Prag verschoben, noch übertreibende Nachrichten
ins Ausland gebracht. Solchen Übertreibungen entgegenzutreten wäre leichter, wenn im
Inlande eine Berichterstattung möglich wäre, die Wahres vom Falschen unterscheidet. Noch
besser wäre es, wenn wir mit gutem Gewissen bezeugen könnten, daß die volle
Rechtssicherheit für alle wiederhergestellt sei. Das, meine Herren, liegt bei Ihnen.
Die Herren von der Nationalsozialistischen Partei nennen die von ihnen entfesselte Bewegung
eine nationale Revolution, nicht eine nationalsozialistische. Das Verhältnis ihrer Revolution
zum Sozialismus beschränkt sich bisher auf den Versuch, die sozialdemokratische Bewegung
zu vernichten, die seit mehr als zwei Menschenaltern die Trägerin sozialistischen
Gedankengutes gewesen ist und auch bleiben wird. Wollten die Herren von der
Nationalsozialistischen Partei sozialistische Taten verrichten, sie brauchten kein
Ermächtigungsgesetz. Eine erdrückende Mehrheit wäre Ihnen in diesem Hause gewiß. Jeder
von Ihnen im Interesse der Arbeiter, der Bauern, der Angestellten, der Beamten oder des
Mittelstandes gestellte Antrag könnte auf Annahme rechnen, wenn nicht einstimmig, so doch
mit gewaltiger Majorität.
Aber dennoch wollen Sie vorerst den Reichstag ausschalten, um ihre Revolution fortzusetzen.
Zerstörung von Bestehendem ist aber noch keine Revolution. Das Volk erwartet positive
Leistungen. Es wartet auf durchgreifende Maßnahmen gegen das furchtbare Wirtschaftselend,
das nicht nur in Deutschland, sondern in aller Welt herrscht. Wir Sozialdemokraten haben in
schwerster Zeit Mitverantwortung getragen und sind dafür mit Steinen beworfen worden.
Unsere Leistungen für den Wiederaufbau von Staat und Wirtschaft, für die Befreiung der
besetzten Gebiete werden vor der Geschichte bestehen. Wir haben gleiches Recht für alle und
ein soziales Arbeitsrecht geschaffen. Wir haben geholfen, ein Deutschland zu schaffen, in
dem nicht nur Fürsten und Baronen, sondern auch Männern aus der Arbeiterklasse der Weg
zur Führung des Staates offensteht. Davon können Sie nicht zurück, ohne Ihren eigenen
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Führer preiszugeben. Vergeblich wird der Versuch bleiben, das Rad der Geschichte
zurückzudrehen. Wir Sozialdemokraten wissen, daß man machtpolitische Tatsachen durch
bloße Rechtsverwahrungen nicht beseitigen kann. Wir sehen die machtpolitische Tatsache
Ihrer augenblicklichen Herrschaft. Aber auch das Rechtsbewußtsein des Volkes ist eine
politische Macht, und wir werden nicht aufhören, an dieses Rechtsbewußtsein zu appellieren.
Die Verfassung von Weimar ist keine sozialistische Verfassung. Aber wir stehen zu den
Grundsätzen des Rechtsstaates, der Gleichberechtigung, des sozialen Rechtes, die in ihr
festgelegt sind. Wir deutschen Sozialdemokraten bekennen uns in dieser geschichtlichen
Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, der Freiheit
und des Sozialismus. Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und
unzerstörbar sind, zu vernichten. Sie selbst haben sich ja zum Sozialismus bekannt. Das
Sozialistengesetz hat die Sozialdemokratie nicht vernichtet. Auch aus neuen Verfolgungen
kann die deutsche Sozialdemokratie neue Kraft schöpfen.
Wir grüßen die Verfolgten und Bedrängten. Wir grüßen unsere Freunde im Reich. Ihre
Standfestigkeit und Treue verdienen Bewunderung. Ihr Bekennermut, ihre ungebrochene
Zuversicht verbürgen eine hellere Zukunft.
Arbeitsanregungen zu den Texten 1-4:
1. Äußern Sie zunächst Ihre ersten Eindrücke nach der Lektüre der jeweiligen Rede. Tragen
Sie Ausschnitte aus den Reden vor, und diskutieren Sie die Wirkung.
2. Führen Sie eine rhetorische Analyse durch, die folgende Fragen beantworten sollte:
- Wer sagt wann und wo was zu wem über welche Medien (kurze Beschreibung der Rede
im situativen Kontext) ?
- Welches ist die Intention des Redners?
- Mit welcher Argumentation begründet der Redner seine Absichten?
- Welche rhetorischen Mittel verwendet der Redner, welche vermutliche Wirkungen
haben sie?
- Wie schätzt der Redner seine eigene Rolle ein wie schätzt er seine Adressaten ein?
- Wie beurteilen und werten Sie insgesamt die Rede? Beachten Sie (besonders bei Text 2)
den Aspekt der Ideologiekritik, d. h. untersuchen Sie, ob der Redner - bewußt oder
unbewußt subjektive und interessegeleitete Aussagen macht, die die soziale, politische
und ökonomische Wirklichkeit verschleiern oder falsch darstellen.
3. Vergleichen Sie Ihre abschließende Beurteilung und Wertung der Rede mit Ihren ersten
Eindrücken und diskutieren Sie eventuelle Abweichungen.
4. Vergleichen Sie die Reden miteinander.
Häufig verwendete rhetorische Mittel
Wichtige rhetorische Mittel sind z. B.
der Euphemismus (beschönigende Umschreibung eines negativen Sachverhaltes, z. B.
„Endlösung“)
die Emphase (nachdrückliche, feierliche Betonung),
die Hyperbel (Übertreibung eines Ausdrucks im vergrößernden oder verkleinernden Sinne, z.
B. „blitzschnell“),
12
die Anapher (Wiederholung von Wörtern oder Wortgruppen in aufeinanderfolgenden Sätzen),
die Klimax (stufenweise Steigerung im Aussageinhalt, z. B. Caesars „Veni, vidi, vici“: „Ich
kam, ich sah, ich siegte“),
die rhetorische Frage (auf die keine Antwort erwartet wird, die also eine indirekte
Behauptung ist) und
die Scheindefinition, die vorgibt, einen Begriff oder Sachverhalt definitorisch zu klären, in
Wirklichkeit aber die subjektive Sicht des Redners bezeichnet.
Text 2
Adolf Hitler Rundfunkansprache an die deutsche Bevölkerung
Kurzinformation zum situativen Kontext
Anfang 1945 waren die westlichen Alliierten bis zum Rhein vorgestoßen, im Osten standen
die sowjetischen Truppen an der Oder, zunehmend bekam die Zivilbevölkerung die Folgen
der alliierten Bombardements (Zerstörung, Tod, Hunger, Versorgungsengpässe) zu spüren.
Immer deutlicher wurde, daß der Zusammenbruch unabwendbar bevorstand.
Seit den ersten militärischen Mißerfolgen 1942 hatte Hitler nur noch selten öffentlich
gesprochen, und wenn, dann wählte er meistens das Medium der Rundfunkansprache. Die
folgende Rede hielt Hitler von der Reichskanzlei in Berlin aus über den Rundfunk am 30.
Januar 1945, dem Jahrestag seiner „Machtergreifung“. Es war seine letzte Ansprache an das
deutsche Volk.
Text der Rede
Deutsche Volksgenossen und Volksgenossinnen! Nationalsozialisten!
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Als mich als Führer der stärksten Partei vor 12 Jahren der verewigte Reichspräsident von
Hindenburg mit der Kanzlerschaft betraute, stand Deutschland im Inneren vor der gleichen
Situation wie heute in weltpolitischer Hinsicht nach außen. Der durch den Versailler Vertrag2
planmäßig eingeleitete und fortgeführte Prozeß der wirtschaftlichen Zerstörung und
Vernichtung der demokratischen Republik führte zur allmählich dauerhaft gewordenen
Erscheinung von fast 7 Millionen Erwerbslosen, 7 Millionen Kurzarbeitern, einem zerstörten
Bauernstand, einem vernichteten Gewerbe und einem dementsprechend auch zum Erliegen
gekommenen Handel. Die deutschen Häfen waren nur noch Schiffsfriedhöfe. Die finanzielle
Lage des Reiches drohte in jedem Augenblick zum Zusammenbruch nicht nur des Staates,
sondern auch der Länder und der Gemeinden zu führen. Das Entscheidende aber war
folgendes: Hinter dieser wirtschaftlichen methodischen Zerstörung Deutschlands stand das
2
Der am 28.6.1919 von den Deutschen unterzeichnete Versailler Friedensvertrag beinhaltete u. a.
eine weitgehende Entmilitarisierung Deutschlands, Gebietsabtretungen und Reparationszahlungen; er
wurde auch außerhalb des nationalsozialistischen Lagers vielfach als einseitiges „Diktat der
Siegermächte“ von Anfang an abgelehnt, beruhte er doch auf der umstrittenen Behauptung von der
„Alleinschuld Deutschlands und seiner Verbündeten am Ersten Weltkrieg“.
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Gespenst des asiatischen Bolschewismus damals genau so wie heute. Und so wie jetzt im
Großen war in den Jahren vor der Machtübernahme im kleinen Inneren die bürgerliche Welt
völlig unfähig, dieser Entwicklung einen wirksamen Widerstand entgegenzusetzen. Man hatte
auch nach dem Zusammenbruch des Jahres 1918 immer noch nicht erkannt, daß eine alte
Welt im Vergehen und eine neue im Werden ist, daß es sich nicht darum handeln kann, das,
was sich als morsch und faul erwiesen hatte, mit allen Mitteln zu stützen und damit künstlich
zu erhalten, sondern daß es notwendig ist, das ersichtlich Gesunde an dessen Stelle zu setzen.
Eine überlebte Gesellschaftsordnung war zerbrochen, und jeder Versuch, sie
aufrechtzuerhalten, mußte vergeblich sein. Es war also nicht anders wie heute im Großen, da
ebenfalls die bürgerlichen Staaten der Vernichtung geweiht sind und nur klar ausgerichtete,
weltanschaulich gefestigte Volksgemeinschaften die seit vielen Jahrhunderten schwerste
Krise Europas zu überdauern vermögen.
Nur sechs Jahre des Friedens sind uns seit dem 30. Januar 1933 vergönnt gewesen. In diesen
sechs Jahren ist Ungeheueres geleistet und noch Größeres geplant worden; so vieles und so
Gewaltiges, daß es aber erst recht den Neid unserer demokratischen, nichtskönnenden
Umwelt erweckte.
Das Entscheidende aber war, daß es in diesen sechs Jahren gelang, mit übermenschlichen
Anstrengungen den deutschen Volkskörper wehrmäßig zu sanieren, das heißt, ihn nicht in
erster Linie mit einer materiellen Kriegsmacht auszustatten, sondern mit dem geistigen
Widerstandswillen der Selbstbehauptung zu erfüllen.
Das grauenhafte Schicksal, das sich heute im Osten abspielt, das in Dorf und Markt, auf dem
Lande und in den Städten den Menschen zu Zehn- und Hunderttausenden zustößt, wird mit
äußersten Anstrengungen von uns am Ende trotz aller Rückschläge und harten Prüfungen
abgewehrt und gemeistert werden. Wenn das aber überhaupt möglich ist, dann nur, weil sich
seit dem Jahre 1933 eine innere Wende im deutschen Volke vollzogen hat. Heute noch ein
Deutschland des Versailler Vertrages - und Europa wäre schon längst von der innerasiatischen
Sturmflut weggefegt worden. Mit jenen nie aussterbenden Strohköpfen braucht man sich
dabei kaum auseinanderzusetzen, die der Meinung sind, ein wehrloses Deutschland wäre
infolge seiner Ohnmacht sicher nicht zum Opfer dieser jüdisch-internationalen
Weltverschwörung geworden.
[ ... ] Die Widerstandskraft unserer Nation ist seit dem 30. Januar 1933 so ungeheuer
gewachsen, daß sie nicht mehr vergleichbar ist mit der früherer Zeitalter. Die
Aufrechterhaltung dieser inneren Widerstandskraft aber ist zugleich der sicherste Garant für
den endgültigen Sieg! Wenn Europa heute von einer schweren Krankheit ergriffen ist, dann
werden die davon betroffenen Staaten sie entweder unter Aufbietung ihrer ganzen und
äußersten Widerstandskraft überwinden oder an ihr zugrunde gehen. Allein auch der
Genesende und damit Überlebende überwindet den Höhepunkt einer solchen Krankheit nur in
einer Krise, die ihn selbst auch auf das äußerste schwächt. Es ist aber deshalb erst recht unser
unabänderlicher Wille, in diesem Kampf der Errettung unseres Volkes vor dem
grauenhaftesten Schicksal aller Zeiten vor nichts zurückzuschrecken und unwandelbar und
treu dem Gebot der Erhaltung unserer Nation zu gehorchen. Der Allmächtige hat unser Volk
geschaffen. Indem
wir seine Existenz verteidigen, verteidigen wir sein Werk. Daß diese Verteidigung mit
namenlosem Unglück, Leid und Schmerzen sondergleichen verbunden ist, läßt uns nur noch
mehr an diesem Volk hängen. Es läßt uns aber auch jene Härte gewinnen, die notwendig ist,
um auch in schlimmsten Krisenpunkten unsere Pflicht zu erfüllen; das heißt nicht nur die
Pflicht dem anständigen ewigen Deutschland gegenüber, sondern auch die Pflicht gegenüber
jenen wenigen Ehrlosen, die sich von ihrem Volkstum trennen. Es gibt deshalb in diesem
14
Schicksalskampf für uns nur ein Gebot: Wer ehrenhaft kämpft, kann damit das Leben für sich
und seine Lieben retten. Wer der Nation aber feige oder charakterlos in den Rücken fällt, wird
unter allen Umständen eines schimpflichen Todes sterben.
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Daß der Nationalsozialismus diesen Geist in unserem deutschen Volke erwecken und erhärten
konnte, ist seine größte Tat. Wenn einmal nach dem Abklingen dieses gewaltigen Weltdramas
die Friedensglocken läuten werden, wird man erst erkennen, was das deutsche Volk dieser
seelischen Wiedergeburt verdankt: Es ist nicht weniger als sein Dasein auf dieser Welt.
Vor wenigen Monaten und Wochen noch haben die alliierten Staatsmänner ganz offen das
deutsche Schicksal gekennzeichnet.3 Sie wurden daraufhin von einigen Zeitungen ermahnt,
klüger zu sein und lieber etwas zu versprechen, auch wenn man nicht die Absicht habe, das
Versprochene später einzuhalten. Ich möchte in dieser Stunde als unerbittlicher
Nationalsozialist und Kämpfer meines Volkes diesen anderen Staatsmännern einmal für
immer die Versicherung abgeben, daß jeder Versuch der Einwirkung auf das
nationalsozialistische Deutschland durch Phrasen Wilsonscher Prägung4 eine Naivität
voraussetzt, die das heutige Deutschland nicht kennt.
Aber es ist überhaupt nicht entscheidend, daß in den Demokratien die politische Tätigkeit und
die Lüge als unlösbare Bundesgenossen in Erscheinung treten, sondern entscheidend ist, daß
jedes Versprechen, das diese Staatsmänner einem Volk abgeben, heute überhaupt völlig
belanglos ist, weil sie selbst nicht mehr in der Lage sind, je[mals] irgendeine solche
Versicherung einlösen zu können. Es ist nicht anders, als wenn ein Schaf einem anderen die
Versicherung abgeben wollte, es vor einem Tiger zu beschützen. Ich wiederhole
demgegenüber meine Prophezeiung: England wird nicht nur nicht in der Lage sein, den
Bolschewismus zu bezähmen, sondern seine eigene Entwicklung wird zwangsläufig mehr und
mehr im Sinne dieser auflösenden Krankheit verlaufen. Die Geister, die die Demokratien aus
den Steppen Asiens gerufen haben, werden sie selbst nicht mehr los. All die kleinen
europäischen Nationen, die im Vertrauen auf alliierte Zusicherungen kapitulierten, gehen
ihrer völligen Ausrottung entgegen. Ob sie dieses Schicksal etwas früher oder etwas später
trifft, ist - gemessen an seiner Unabwendbarkeit - völlig belanglos. Es sind ausschließlich
taktische Erwägungen, die die Kremljuden bewegen, in einem Fall sofort brutal und im
anderen Fall zunächst etwas zurückhaltender vorzugehen. Das Ende wird immer das gleiche
sein.
Dieses Schicksal aber wird Deutschland niemals erleiden! Der Garant dafür ist der vor zwölf
Jahren erfochtene Sieg im Inneren unseres Landes. Was immer auch unsere Gegner ersinnen
mögen, was immer sie deutschen Städten, den deutschen Landschaften und vor allem unseren
Menschen an Leid zufügen, es verblaßt gegenüber dem unkorrigierbaren Jammer und
Unglück, das uns treffen müßte, wenn jemals die plutokratisch 5-bolschewistische
Verschwörung Sieger bliebe. Es ist daher am 12. Jahrestag der Machtübernahme erst recht
notwendig, das Herz stärker zu machen als jemals zuvor und in sich den heiligen Entschluß zu
erhärten, die Waffen zu führen, ganz gleich wo und ganz gleich unter welchen Umständen so lange, bis am Ende der Sieg unsere Anstrengungen krönt.
3
Vom 28. 11.- 01. 12. 1944 hatten die Alliierten auf der Konferenz von Teheran über das Schicksal
Deutschlands nach seiner Niederlage verhandelt.
4
Am 08. 01. 1918 hatte der amerikanische Präsident Wilson ein 14 Punkte umfassendes
Friedensprogramm vorgelegt, das aber von den anderen Alliierten teilweise abgelehnt wurde, weil sie
härtere Bedingungen für Deutschland wollten und durchsetzten, was die Amerikaner zu einem
späteren Separatfrieden mit Deutschland veranlaßte.
5
Plutokratie: Staatsform, in der allein der Besitz politische Macht bedeutet
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Ich möchte an diesem Tage aber auch über etwas anderes keinen Zweifel lassen: einer ganzen
feindlichen Umwelt zum Trotz habe ich einst im Innern meinen Weg gewählt und bin ihn als
Unbekannter, Namenloser gewandert bis zum endgültigen Erfolg. Oftmals totgesagt und
jederzeit totgewünscht, abschließend doch als Sieger! Mein heutiges Leben wird aber ebenso
ausschließlich bestimmt durch die mir obliegenden Pflichten.
Sie ergeben zusammengefaßt nur eine einzige, nämlich: für mein Volk zu arbeiten und dafür
zu kämpfen. Von dieser Pflicht kann mich nur der entbinden, der mich dazu berufen hat. Es
lag in der Hand der Vorsehung, am 20. Juli durch die Bombe, die 11/2 Meter neben mir
krepierte, mich auszulöschen und damit mein Lebenswerk zu beenden. Daß mich der
Allmächtige an diesem Tag beschützte, sehe ich als eine Bekräftigung des mir erteilten
Auftrages an. Ich werde daher auch in den kommenden Jahren diesen Weg kompromißloser
Vertretung der Interessen meines Volkes weiterwandeln, unbeirrt durch jede Not und jede
Gefahr und durchdrungen von der heiligen Überzeugung, daß am Ende der Allmächtige den
nicht verlassen wird, der in seinem ganzen Leben nichts anderes wollte, als sein Volk vor
einem Schicksal zu retten, das es weder seiner Zahl noch gar seiner Bedeutung nach jemals
verdient hat.
Ich appelliere in dieser Stunde deshalb an das ganze deutsche Volk, an der Spitze aber an
meine alten Mitkämpfer und an alle Soldaten, sich mit einem noch größeren härteren Geist
des Widerstandes zu wappnen, bis wir - wieder wie schon einmal - den Toten dieses
gewaltigen Ringens den Kranz mit der Schleife auf das Grab legen dürfen: „Und ihr habt doch
gesiegt!“6
Ich erwarte von jedem Deutschen, daß er deshalb seine Pflicht bis zum Äußersten erfüllt, daß
er jedes Opfer, das von ihm gefordert wird und werden muß, auf sich nimmt, ich erwarte von
jedem Gesunden, daß er sich mit Leib und Leben einsetzt im Kampf, ich erwarte von jedem
Kranken und Gebrechlichen oder sonst Unentbehrlichen, daß er bis zum Aufgebot seiner
letzten Kraft arbeitet; ich erwarte von den Bewohnern der Städte, daß sie die Waffen
schmieden für diesen Kampf, und ich erwarte vom Bauern, daß er unter höchstmöglicher
eigener Einschränkung das Brot gibt für die Soldaten und Arbeiter dieses Kampfes. Ich
erwarte von allen Frauen und Mädchen, daß sie diesen Kampf - so wie bisher - mit äußerstem
Fanatismus unterstützen. Ich wende mich mit besonderem Vertrauen dabei an die deutsche
Jugend. Indem wir eine so verschworene Gemeinschaft bilden, können wir mit Recht vor den
Allmächtigen treten und ihn um seine Gnade und seinen Segen bitten. Denn mehr kann ein
Volk nicht tun, als daß jeder, der kämpfen kann, kämpft, und jeder, der arbeiten kann,
arbeitet, und alle gemeinsam opfern, nur von dem einen Gedanken erfüllt, die Freiheit, die
nationale Ehre und damit die Zukunft des Lebens sicherzustellen.
Wie schwer auch die Krise im Augenblick sein mag, sie wird durch unseren unabänderlichen
Willen, durch unsere Opferbereitschaft und durch unsere Fähigkeiten am Ende trotzdem
gemeistert werden. Wir werden auch diese Not überstehen. Es wird auch in diesem Kampf
nicht Innerasien siegen, sondern Europa - und an der Spitze jene Nation, die seit
eineinhalbtausend Jahren Europa als Vormacht gegen den Osten vertreten hat und in alle
Zukunft vertreten wird: Unser Großdeutsches Reich, die deutsche Nation!
Aufgabe: (dieselben wie die zum Text1)
6
Inschrift eines Kranzes, den Hitler am 12. 3. 1933 in München vor der Feldherrnhalle niedergelegt hatte zum
Gedenken an die Toten seiner „Bewegung“ (Putschversuch der Nationalsozialisten in München am 9. 11. 1923)
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Text 3
Willy Brandt: Rede zum Warschauer Vertrag
Kurzinformation zum situativen Kontext
Seit dem 22. 11. 1969 gab es in der Bundesrepublik Deutschland eine sozialliberale Koalition
zwischen der SPD (Kanzler wurde Willy Brandt) und der FDP (Außenminister wurde der
spätere Bundespräsident Walter Scheel). Diese sozialliberale Regierung leitete eine Politik
ein, die auf Entspannung mit dem Osten bedacht war. Am 12.08.1970 wurde in Moskau der
Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der UdSSR unterzeichnet, der
Gewaltverzicht gegenüber dem Osten ebenso beinhaltete wie die Unverletzlichkeit der
Grenzen aller europäischen Staaten. Im Warschauer Vertrag mit Polen am 07.12.1970
bestätigte die Bundesrepublik Deutschland nochmals die Unverletzlichkeit bestehender
Grenzen; den in Polen ansässigen Deutschen sollte auf Antrag die Ausreise gestattet werden.
Gegen diesen Vertrag wandte sich die CDU/CSU-Opposition unter Rainer Barzel mit einem
„So nicht!“; die Sprecher der Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten
sprachen von einem „Ausverkauf der deutschen Ostgebiete“. Als juristisch und politisch
schwierig erwies sich damals, daß kein Friedensvertrag der Alliierten mit einem
Rechtsnachfolger des ehemaligen „Deutschen Reiches“ vorlag. Zudem war umstritten, ob der
Vertrag nicht die gewaltsame Massenvertreibung der Deutschen aus den ehemaligen
Ostgebieten stillschweigend anerkennt.
Der damalige Bundeskanzler Willy Brandt hielt seine Fernsehansprache von Warschau aus
über die Sender der ARD an die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland kurz nach der
Vertragsunterzeichnung am 07. 12. 1970.
Text der Rede
Meine lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger!
Ich bin mir bewußt: Dies ist eine schwere Reise. Für eine friedliche Zukunft wird sie von
Bedeutung sein. Der Vertrag von Warschau soll einen Schlußstrich setzen unter Leiden und
Opfer einer bösen Vergangenheit. Er soll eine Brücke schlagen zwischen den beiden Staaten
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und den beiden Völkern. Er soll den Weg dafür öffnen, daß getrennte Familien wieder
zusammenfinden können. Und daß Grenzen weniger trennen als bisher.
Und trotzdem: Dieser Vertrag konnte nur nach ernster Gewissenserforschung unterschrieben
werden.
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Wir haben uns nicht leichten Herzens hierzu entschieden. Zu sehr sind wir geprägt von
Erinnerungen und gezeichnet von zerstörten Hoffnungen. Aber guten Gewissens, denn wir
sind überzeugt, daß Spannungen abgebaut, Verträge über Gewaltverzicht befolgt, die
Beziehungen verbessert und die geeigneten Formen der Zusammenarbeit gefunden werden
müssen, um zu einer europäischen Friedensordnung zu gelangen.
Dabei muß man von dem ausgehen, was ist; was geworden ist. Auch in bezug auf die
Westgrenze Polens. Niemand hat uns zu dieser Einsicht gezwungen. Wir sind mündig
geworden. Es geht um den Beweis unserer Reife und um den Mut, die Wirklichkeit zu
erkennen.
Was ich im August Ihnen aus Moskau gesagt habe7, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, gilt
auch für den Vertrag mit Polen: Er gibt nichts preis, was nicht längst verspielt worden ist.
Verspielt nicht von uns, die wir in der Bundesrepublik Deutschland politische Verantwortung
tragen und getragen haben. Sondern verspielt von einem verbrecherischen Regime, vom
Nationalsozialismus.
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Wir dürfen nicht vergessen, daß dem polnischen Volk nach 1939 das Schlimmste zugefügt
wurde, was es in seiner Geschichte hat durchmachen müssen.8 Dieses Unrecht ist nicht ohne
Folgen geblieben.
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Großes Leid traf auch unser Volk, vor allem unsere ostdeutschen Landsleute. Wir müssen
gerecht sein: Das schwerste Opfer haben jene gebracht, deren Väter, Söhne oder Brüder ihr
Leben verloren haben. Aber nach ihnen hat am bittersten für den Krieg bezahlt, wer seine
Heimat verlassen mußte. Ich lehne Legenden ab, deutsche wie polnische. Die Geschichte des
deutschen Ostens läßt sich nicht willkürlich umschreiben.
Unsere polnischen Gesprächspartner wissen, was ich Ihnen zu Hause auch noch einmal in
aller Klarheit sagen möchte: Dieser Vertrag bedeutet nicht, daß wir Unrecht anerkennen oder
Gewalttaten rechtfertigen. Er bedeutet nicht, daß wir Vertreibungen nachträglich legitimieren.
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Ressentiments9 verletzten den Respekt vor der Trauer um das Verlorene - verloren „in
Schmerzen, Krieg und Ach, in unerschöpften Tränen“10, wie es der Schlesier Andreas
Gryphius am Ende des Dreißigjährigen Krieges sagte. Niemand kann sich dieser Trauer
entziehen, uns schmerzt das Verlorene. Und das leidgeprüfte Volk wird unseren Schmerz
respektieren.
Namen wie Auschwitz werden beide Völker noch lange begleiten und uns daran erinnern, daß
die Hölle auf Erden möglich ist; wir haben sie erlebt. Aber gerade diese Erfahrung zwingt
uns, die Aufgaben der Zukunft entschlossen anzupacken. Die Flucht vor der Wirklichkeit
schafft gefährliche Illusionen. Ich sage: Das Ja zu diesem Vertrag, zur Aussöhnung, zum
Frieden, ist ein Bekenntnis zur deutschen Gesamtgeschichte.
7
Vgl. die Kurzinformation vor dieser Rede
Hitler-Stalin-Pakt vom 23. 8. 1939; in einem geheimen Zusatzprotokoll wurde Polen zwischen
Hitler-Deutschland und der Sowjetunion aufgeteilt.
9
Ressentiments: kritische Vorbehalte, heimlicher Groll
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Andreas Gryphius (1616-1664): Zitat aus seinem Sonett „Auf den Anfang des 1650sten Jahres“
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Ein klares Geschichtsbewußtsein duldet keine unerfüllbaren Ansprüche. Es duldet auch nicht
jene geheimen Vorbehalte, vor denen der Ostpreuße Immanuel Kant in seiner Schrift Zum
ewigen Frieden11 gewarnt hat.
Wir müssen unseren Blick in die Zukunft richten und die Moral als politische Kraft erkennen.
Wir müssen die Kette des Unrechts durchbrechen. Indem wir dies tun, betreiben wir keine
Politik des Verzichts, sondern eine Politik der Vernunft.
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Der Vertrag zwischen Polen und uns - ein Vertrag, wie er amtlich heißt, über die Grundlagen
der Normalisierung der gegenseitigen Beziehungen - ersetzt keinen formellen
Friedensvertrag. Er berührt nicht die Rechte und Verantwortlichkeit der Vier Mächte für
Deutschland als Ganzes. Er setzt frühere vertragliche Verpflichtungen weder der einen noch
der anderen Seite außer Kraft.
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Ich unterstreiche dies ausdrücklich, denn es bleibt natürlich dabei, daß unsere aktive
Mitwirkung in den Westeuropäischen Gemeinschaften und unsere festverankerte Stellung im
Atlantischen Bündnis die Grundlage bilden, von der aus wir uns um ein neues, besseres
Verhältnis zu den osteuropäischen Völkern bemühen. Erst aus diesem Gesamtzusammenhang
wird klar, was dieser Vertrag für den Frieden bedeutet, für die geteilte deutsche Nation und
für ein geeintes Europa. Ein Europa, das nicht durch Deklamationen12, sondern nur durch
zielbewußte Arbeit geschaffen werden kann.
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Nichts ist weiter wichtiger als die Herstellung eines gesicherten Friedens.
Dazu gibt es keine Alternative, Frieden ist nicht möglich ohne europäische Solidarität.
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Alles, was uns diesem Ziele näherbringt, ist ein guter Dienst an unserem Volk und vor allem
ein Dienst für die, die nach uns kommen.
Text 4
Richard von Weizsäcker: Der 8. Mai 1945
40 Jahre danach
Kurzinformation zum situativen Kontext
Bundespräsident Richard von Weizsäcker hielt seine Gedenkrede am 8. 5. 1985 anläßlich der
vierzigjährigen Wiederkehr des Kriegsendes vor dem deutschen Bundestag in Bonn. Die Rede
wurde über Rundfunk und Fernsehen übertragen.
Vorangegangen waren dieser Rede öffentliche Diskussionen in der Bundesrepublik
Deutschland, in denen darüber gestritten wurde, ob der 8. Mai 1945 ein Tag der „Niederlage“
oder der „Befreiung“ war. Seit einiger Zeit wurde unter Wissenschaftlern auch die sog.
„Historikerdebatte“ geführt, in der es u. a. darum ging, ob der Nationalsozialismus ein
einmaliges und verwerfliches deutsches Phänomen gewesen ist, oder ob er ein wertfrei zu
betrachtendes „normales“ Phänomen im Rahmen eines die dreißiger und vierziger Jahre
beherrschenden „gesamteuropäischen Bürgerkrieges“ gewesen ist.
Zudem zeichnete sich seit der Mitte der achtziger Jahre ein Wiedererstarken rechtslastiger
politischer Bewegungen ab, die sich vor allem durch eine Verharmlosung des
Nationalsozialismus und Ausländerfeindlichkeit ins öffentliche Bewußtsein brachten.
11
Die Schrift des Königsberger Philosophen Immanuel Kant (1724-1804) erschien 1795; sie nahm u. a. die Idee
der Vereinten Nationen voraus.
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Deklamationen: feierliche Verlautbarungen
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Text der Rede
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Viele Völker gedenken heute des Tages, an dem der Zweite Weltkrieg in Europa zu Ende
ging. Seinem Schicksal gemäß hat jedes Volk dabei seine eigenen Gefühle. Sieg oder
Niederlage, Befreiung von Unrecht und Fremdherrschaft oder Übergang zu neuer
Abhängigkeit, Teilung, neue Bündnisse, gewaltige Machtverschiebungen - der 8. Mai 1945 ist
ein Datum von entscheidender historischer Bedeutung in Europa.
Wir Deutsche begehen den Tag unter uns, und das ist notwendig. Wir müssen die Maßstäbe
allein finden. Schonung unserer Gefühle durch uns selbst oder durch andere hilft nicht weiter.
Wir brauchen und wir haben die Kraft, der Wahrheit so gut wir es können ins Auge zu sehen,
ohne Beschönigung und ohne Einseitigkeit.
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Der 8. Mai ist für uns vor allem ein Tag der Erinnerung an das, was Menschen erleiden
mußten. Er ist zugleich ein Tag des Nachdenkens über den Gang unserer Geschichte. Je
ehrlicher wir ihn begehen, desto freier sind wir, uns seinen Folgen verantwortlich zu stellen.
Der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern. Die Menschen, die ihn bewußt erlebt
haben, denken an ganz persönliche und damit ganz unterschiedliche Erfahrungen zurück. Der
eine kehrte heim, der andere wurde heimatlos. Dieser wurde befreit, für jenen begann die
Gefangenschaft. Viele waren einfach nur dafür dankbar, daß Bombennächte und Angst
vorüber und sie mit dem Leben davongekommen waren. Andere empfanden Schmerz über die
vollständige Niederlage des eigenen Vaterlandes. Verbittert standen Deutsche vor zerrissenen
Illusionen, dankbar andere Deutsche für den geschenkten neuen Anfang.
Es war schwer, sich alsbald klar zu orientieren. Ungewißheit erfüllte das Land. Die
militärische Kapitulation war bedingungslos. Unser Schicksal lag in der Hand der Feinde. Die
Vergangenheit war furchtbar gewesen, zumal auch für viele dieser Feinde. Würden sie uns
nun nicht vielfach entgelten lassen, was wir ihnen angetan hatten?
Die meisten Deutschen hatten geglaubt, für die gute Sache des eigenen Landes zu kämpfen
und zu leiden. Und nun sollte sich herausstellen: Das alles war nicht nur vergeblich und
sinnlos, sondern es hatte den unmenschlichen Zielen einer verbrecherischen Führung gedient.
Erschöpfung, Ratlosigkeit und neue Sorgen kennzeichneten die Gefühle der meisten. Würde
man noch eigene Angehörige finden? Hatte ein Neuaufbau in diesen Ruinen überhaupt Sinn?
Der Blick ging zurück in einen dunklen Abgrund der Vergangenheit und nach vorn in eine
ungewisse dunkle Zukunft. Und dennoch wurde von Tag zu Tag klarer, was es heute für uns
alle gemeinsam zu sagen gilt: Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit
von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.
Niemand wird um dieser Befreiung willen vergessen, welche schweren Leiden für viele
Menschen mit dem 8. Mai erst begannen und danach folgten. Aber wir dürfen nicht im Ende
des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in
seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte. Wir dürfen den
8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.
Wir haben wahrlich keinen Grund, uns am heutigen Tag an Siegesfesten zu beteiligen. Aber
wir haben allen Grund, den 8. Mai 1945 als das Ende eines Irrweges deutscher Geschichte zu
erkennen, das den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg.
Der 8. Mai ist ein Tag der Erinnerung. Erinnern heißt, eines Geschehens so ehrlich und rein
zu gedenken, daß es zu einem Teil des eigenen Innern wird. Das stellt große Anforderungen
an unsere Wahrhaftigkeit.
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Wir gedenken heute in Trauer aller Toten des Krieges und der Gewaltherrschaft.
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Wir gedenken insbesondere der sechs Millionen Juden, die in deutschen Konzentrationslagern
ermordet wurden.
Wir gedenken aller Völker, die im Krieg gelitten haben, vor allem der unsäglich vielen Bürger
der Sowjetunion und der Polen, die ihr Leben verloren haben.
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Als Deutsche gedenken wir in Trauer der eigenen Landsleute, die als Soldaten, bei den
Fliegerangriffen in der Heimat, in Gefangenschaft und bei der Vertreibung ums Leben
gekommen sind.
Wir gedenken der ermordeten Sinti und Roma, der getöteten Homosexuellen, der
umgebrachten Geisteskranken, der Menschen, die um ihrer religiösen oder politischen
Überzeugung willen sterben mußten.
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Wir gedenken der erschossenen Geiseln.
Wir denken an die Opfer des Widerstandes in allen von uns besetzten Staaten.
Als Deutsche ehren wir das Andenken der Opfer des deutschen Widerstandes, des
bürgerlichen, des militärischen und glaubensbegründeten, des Widerstandes in der
Arbeiterschaft und bei Gewerkschaften, des Widerstandes der Kommunisten. [ ... ]
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Am Anfang der Gewaltherrschaft hatte der abgrundtiefe Haß Hitlers gegen unsere jüdischen
Mitmenschen gestanden. Hitler hatte ihn nie vor der Öffentlichkeit verschwiegen, sondern das
ganze Volk zum Werkzeug dieses Hasses gemacht. Noch am Tag vor seinem Ende am 30.
April 1945 hatte er sein sogenanntes Testament mit den Worten abgeschlossen: „Vor allem
verpflichte ich die Führung der Nation und die Gefolgschaft zur peinlichen Einhaltung der
Rassengesetze und zum unbarmherzigen Widerstand gegen den Weltvergifter aller Völker,
dem internationalen Judentum.“
Gewiß, es gibt kaum einen Staat, der in seiner Geschichte immer frei blieb von schuldhafter
Verstrickung in Krieg und Gewalt. Der Völkerrnord an den Juden jedoch ist beispiellos in der
Geschichte. [ ... ]
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Schuld oder Unschuld eines ganzes Volkes gibt es nicht. Schuld ist, wie Unschuld, nicht
kollektiv, sondern persönlich.
Es gibt entdeckte und verborgen gebliebene Schuld von Menschen. Es gibt Schuld, die sich
Menschen eingestanden oder abgeleugnet haben. Jeder, der die Zeit mit vollem Bewußtsein
erlebt hat, frage sich heute im stillen selbst nach seiner Verstrickung. [ ... ]
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Wir alle, ob schuldig oder nicht, ob alt oder jung, müssen die Vergangenheit annehmen. Wir
alle sind von ihren Folgen betroffen und für sie in Haftung genommen. Jüngere und Ältere
müssen und können sich gegenseitig helfen, zu verstehen, warum es lebenswichtig ist, die
Erinnerung wachzuhalten.
Es geht nicht darum, Vergangenheit zu bewältigen. Das kann man gar nicht. Sie läßt sich ja
nicht nachträglich ändern oder ungeschehen machen. Wer aber vor der Vergangenheit die
Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht
erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren. [ ... ]
Würden wir unsererseits vergessen wollen, was geschehen ist, anstatt uns zu erinnern, dann
wäre dies nicht nur unmenschlich. Sondern wir würden damit dem Glauben der überlebenden
Juden zu nahe treten, und wir würden den Ansatz zur Versöhnung zerstören.
Für uns kommt es auf ein Mahnmal des Denkens und Fühlens in unserem eigenen Innern an.
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Wir können des 8. Mai nicht gedenken, ohne uns bewußtzumachen, welche Überwindung die
Bereitschaft zur Aussöhnung den ehemaligen Feinden abverlangte. Können wir uns wirklich
in die Lage von Angehörigen der Opfer des Warschauer Ghettos oder des Massakers von
Lidice versetzen?
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Wie schwer mußte es aber auch einem Bürger in Rotterdarn oder London fallen, den
Wiederaufbau unseres Landes zu unterstützen, aus dem die Bomben stammten, die erst kurze
Zeit zuvor auf seine Stadt gefallen waren. Dazu mußte allmählich eine Gewißheit wachsen,
daß Deutsche nicht noch einmal versuchen würden, eine Niederlage mit Gewalt zu
korrigieren.
Bei uns selbst wurde das Schwerste den Heimatvertriebenen abverlangt. Ihnen ist noch lange
nach dem 8. Mai bitteres Leid und schweres Unrecht widerfahren. Um ihrem schweren
Schicksal mit Verständnis zu begegnen, fehlt uns Einheimischen oft die Phantasie und auch
das offene Herz.
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Aber es gab alsbald auch große Zeichen der Hilfsbereitschaft. Viele Millionen Flüchtlinge
und Vertriebene wurden aufgenommen. Im Laufe der Jahre konnten sie neue Wurzeln
schlagen. Ihre Kinder und Enkel bleiben auf vielfache Weise der Kultur und der Liebe zur
Heimat ihrer Vorfahren verbunden. Das ist gut so, denn das ist ein wertvoller Schatz in ihrem
Leben.
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Sie haben aber selbst eine neue Heimat gefunden, in der sie mit den gleichaltrigen
Einheimischen aufwachsen und zusammenwachsen, ihre Mundart sprechen und ihre
Gewohnheiten teilen. Ihr junges Leben ist ein Beweis für die Fähigkeit zum inneren Frieden.
Ihre Großeltern oder Eltern wurden einst vertrieben, sie jedoch sind jetzt zu Hause. [ ... ]
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Der erzwungenen Wanderschaft von Millionen Deutschen nach Westen folgten Millionen
Polen und ihnen wiederum Millionen Russen. Es sind alles Menschen, die nicht gefragt
wurden, Menschen, die Unrecht erlitten haben, Menschen, die wehrlose Objekte der
politischen Ereignisse wurden und denen keine Aufrechnung von Unrecht und keine
Konfrontation von Ansprüchen wiedergutmachen kann, was ihnen angetan worden ist.
Gewaltverzicht heute heißt, den Menschen dort, wo sie das Schicksal nach dem 8. Mai
hingetrieben hat und wo sie nun seit Jahrzehnten leben, eine dauerhafte, politisch
unangefochtene Sicherheit für ihre Zukunft zu geben. Dies heißt, den widerstreitenden
Rechtsansprüchen das Verständigungsgebot überzuordnen. Darin liegt der eigentliche, der
menschliche Beitrag zu einer europäischen Friedensordnung, der von uns ausgehen kann. [ ...
]
Bei uns ist eine neue Generation in die politische Verantwortung hereingewachsen. Die
Jungen sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah. Aber sie sind verantwortlich
für das, was in der Geschichte daraus wird.
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Wir Älteren schulden der Jugend nicht die Erfüllung von Träumen, sondern Aufrichtigkeit.
Wir müssen den Jüngeren helfen zu verstehen, warum es lebenswichtig ist, die Erinnerung
wachzuhalten. Wir wollen ihnen helfen, sich auf die geschichtliche Wahrheit nüchtern und
ohne Einseitigkeit einzulassen, ohne Flucht in utopische Heilslehren, aber auch ohne
moralische Überheblichkeit.
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Wir lernen aus unserer eigenen Geschichte, wozu der Mensch fähig ist. Deshalb dürfen wir
uns nicht einbilden, wir seien nun als Menschen anders und besser geworden. Es gibt keine
endgültig errungene moralische Vollkommenheit - für niemanden und kein Land! Wir haben
als Menschen gelernt, wir bleiben als Menschen gefährdet. Aber wir haben die Kraft,
Gefährdungen immer von neuem zu überwinden.
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Hitler hat stets damit gearbeitet, Vorurteile, Feindschaften und Haß zu schüren.
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Die Bitte an die jungen Menschen lautet: Lassen Sie sich nicht hineintreiben in Feindschaft
und Haß
gegen andere Menschen,
gegen Russen oder Amerikaner,
gegen Juden oder Türken,
gegen Alternative oder Konservative,
gegen Schwarz oder Weiß.
Lernen Sie, miteinander zu leben, nicht gegeneinander.
Lassen Sie auch uns als demokratisch gewählte Politiker dies immer wieder beherzigen und
ein Beispiel geben.
Ehren wir die Freiheit.
Arbeiten wir für den Frieden.
Halten wir uns an das Recht.
Dienen wir unseren inneren Maßstäben der Gerechtigkeit.
Schauen wir am heutigen 8. Mai, so gut wir es können, der Wahrheit ins Auge.
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