als DOC - Kulturnetzwerk Die Cavallerotti

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"Diese Musik wurde ermordet!"
Felix Mendelssohn Bartholdy oder eine
Geschichte kulturellen Antisemitismus im
Deutschland des 19. und 20. Jahrhunderts
Ein Essay von Rainer Hauptmann
Inhalt
Vorrede (S. 4)
1. Es wäre wirklich einmal eppes Rores, wenn aus einem Judensohne ein
Künstler würde (S. 6)
2. Heisst Du Mendelssohn, so bist Du eo ipso ein Jude (S. 10)
Intermezzo I:
Laß ihm auch den irdischen Lohn werden! (S. 18)
3. Der grösste lebende Komponist (S. 18)
4. Antisemitismus (S. 21)
5. Das Judenthum in der Musik (S. 22)
6. Ein antisemitischer Ekklektizist (S. 29)
7. Eine eczeptionell exclusive Menschen-Race (S. 31)
8. Von der Neudeutschen Schule (S. 34)
9. Von der musikalischen Wahrheit (S. 36)
10. Glücklicher Mensch! Dich erwartet wohl nur ein kurzes
Ephemerenleben... (S. 46)
Intermezzo II:
"Felix, thust du nichts?!" (S. 47)
11. Von der E-Musik und der U-Musik (S. 48)
12. Der schönste Zwischenfall der Deutschen Musik (S. 53)
13. Geschmacksgefährliche Lieder und Duette (S. 55)
14. Denkmäler (S. 55)
15. Es singt ein Lied von Felix Mendelmaier... (S. 59)
16. Keine Kosten und Mühen wurden gescheut... (S. 61)
17. Eine Lanze für Felix Mendelssohn (S. 63)
18. Eine weiche, zur Sentimentalität neigende Natur (S. 64)
Intermezzo III:
...und dirigierte Wagners "Tannhäuser"-Ouvertüre im Gewandhaus (S. 66)
19. Nur in einem Abstand zu nennen (S. 69)
20. Wir können auf Objektivität nicht Verzicht leisten! (S. 70)
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21. Eine grossartige Lösung (S. 72)
22. Auch in der Musik hat der Jude nie Kulturwerte geschaffen (S. 82)
23. Alles, alles wurde dem Juden zugesprochen (S. 93)
Intermezzo IV: die "Hohe Schule" I:
Kulturelle Neuordnung nicht nur für Europa, sondern für die Welt (S. 98)
24. Das Lexikon der Juden in der Musik (S. 99)
25. und das Benehmen Mendelssohns, das er als Director angesehen werden
wolle (S. 101)
Intermezzo V: Juden bleiben Juden oder von den Ehetagebüchern des Robert
Schumann (S. 102)
26. Denkmalspflege; nationalsozialistisch (S. 104)
27. Ein nordischer "Sommernachtstraum" (S. 109)
28. Von bajuwarischen Sommernachtsträumen (S. 120)
Intermezzo VI:
Die "Hohe Schule" II oder "Musik in Geschichte und Gegenwart" (S. 124)
29. Die zierlich-empfindsamen Lieder und Duette... (S. 130)
Intermezzo VII:
Vom deutschen Hausbuche (S. 137)
30. Der Ausweg des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit
oder vom Ende der "zeitlosen" Zeit (S. 139)
Intermezzo VIII:
Es ist alles ganz eitel und ein Haschen nach Wind (S. 143)
31. Grenzen in der Bedeutung dieser Musik (S. 148)
32. Sein Platz nach Beethoven und Brahms ist ehrenvoll genug (S. 149)
33. Diese Musik wurde ermordet I (S. 150)
34. Das erreichbare Höchstmass an Glätte und Ausgeglichenheit... (S. 152)
35. Philosoph. Musici: vom Gewandhausdirecteur Moses Mendelssohn (S. 152)
36. Dass Mendelssohn Grenzen hat, sei unbestritten (S. 157)
37. Wie ist eine derartige Geringschätzung im Umgang mit einem doch
bedeutenden Komponisten überhaupt möglich? (S. 158)
38. Diese Musik wurde ermordet II (S. 161)
Editoriale Anmerkungen (S. 164)
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Vorrede
Als Felix Mendelssohn Bartholdy im November 1847 unerwartet starb, hielt das
öffentliche Leben in den Musikstädten Europas und der Neuen Welt erschüttert inne.
Der Tod eines grossen zeitgenössischen Meisters wurde als tragischer, unersetzlicher
Verlust empfunden. Nun ist das Lebensgefühl der Menschen, welche vor mehr als 150
Jahren lebten, nicht per se auf die heutige Zeit zu übertragen. Somit muss uns Musik,
welche die Empfindungen unserer Vorfahren aufs trefflichste reflektierte, nicht
zwangsläufig bewegen.
Andererseits erhebt sich die Frage: Auch Schubert, Beethoven, Mozart lebten vor 150 –
200 Jahren, und verliehen den Zeitläuften in politischer, kultureller und emotionaler
Hinsicht musikalisch Ausdruck. Auch sie wurden von der Öffentlichkeit oder dem
unmittelbaren persönlichen Wirkungskreis als Herolde zeitnah humanen Empfindens
gewürdigt. Das ist im Falle der letztgenannten auch so geblieben.
Im Falle Felix Mendelssohn Bartholdys hingegen muss plädiert werden, muss im
Zweifelsfalle eine Verbindung der 40ziger Jahre des 19. Jahrhunderts zu unserer Zeit
und unserer Sichtweise nachträglich, quasi synthetisch wiederhergestellt werden. Allein,
die publizistische Darlegung der Gegenwartsrelevanz von Musik, der Musik Felix
Mendelssohns beispielsweise, ist wiederum ein schwieriges, möglicherweise
vergebliches Geschäft. Das Plädoyer sollte auf musikalischem Wege erfolgen.
Um aber zum Mindesten Nachweis zu führen, was einstmals unzweifelhaft bestanden,
allzulange verschüttet und nachhaltiger zurückzugewinnen wäre: die Einschätzung
Mendelssohns als bedeutenden Meisters der europäischen Musikgeschichte, mögen
zu Beginn der Geisteswissenschaftler Hans Mayer und danach der Komponist Robert
Schumann zu Worte kommen:
“Mendelssohn hat in einem ganz ungewöhnlichen Sinne alle damals bekannten
Traditionen deutscher Musik verkörpert und in sich zusammengefasst. Er hat sie durch
seine eigenen Schöpfungen und Erkenntnisse erweitert und weitergereicht. (...) Man
kann die Behauptung wagen, daß durch Felix Mendelssohn, gerade in seinem Leipziger
Wirken, nicht nur die Strukturen unseres heutigen Musiklebens festgelegt wurden,
sondern daß es erst durch ihn (...) auch für uns heutige möglich wurde, die Musik und
die musikalische Entwicklung als einen überschaubaren historischen Prozess zu
interpretieren. Auch die Musikgeschichte ist nicht denkbar ohne Leipzig und Johann
Sebastian Bach, ohne Mendelssohn und Philipp Spitta". (Hans Mayer "Der Widerruf"
Frankfurt 1994)
Im Juni 1848 musste Franz Liszt im Salon des Hauses Schumann ein deutliches Wort
über sich ergehen lassen:
„Meyerbeer ist ein Wicht gegen Mendelssohn, letzterer ein Künstler, der nicht nur in
Leipzig, sondern für die ganze Welt gewirkt hat. Herr, wer sind Sie, daß Sie über einen
Meister wie Mendelssohn so reden dürfen!“ (zitiert nach Walter Dahms, Robert
Schumann)
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In einem Brief an den Weimarer Komponisten legt Schumann im darauffolgenden Jahre
begütigend nach:
„Und wahrlich, sie waren doch nicht so übel, die in Leipzig beisammen waren –
Mendelssohn, Hiller, Bennett u. a. – mit den Parisern, Wienern, Berlinern, konnten wir
es ebenfalls auch aufnehmen.“ (zitiert nach Walter Dahms, Robert Schumann)
Auch die letzten verbrieften Worte Robert Schumanns, aus Endenich an Clara gerichtet,
bevor er vollends in geistiger Umnachtung verharrte, galten dem toten Leipziger Meister:
"Die Zeichnung von Felix Mendelssohn hab ich beigelegt, dass Du sie doch ins Album
legtest. Ein unschätzbares Andenken! Leb wohl. Du Liebe! Dein Robert". (zitiert nach
Walter Dahms, Robert Schumann)
Sprachliche Präzision, Schlichtheit des Ausdrucks und feinsinniger Intellekt prägen die
Ausführungen des Geisteswissenschaftlers; Engagement, ja Hingabe die Worte des
Künstlers. Beide kommen jedoch zum gleichen Resümee: Bekenntnis der originären
Stellung Felix Mendelssohn Bartholdys innerhalb der Musik des 19. Jahrhunderts. Den
Musikfreunden unserer Zeit erscheint dieselbe ja sicher auch unzweifelhaft
festgeschrieben, in der eigentlichen musikalischen Wortmeldung aber ist sie abseits
weniger hochpopulärer Zugstücke des klassischen Repertoires bislang eher
schememhaft wahrzunehmen.
Das literarische Engagement Schumanns, Mayers, Heinrich Eduard Jacobs, Georg
Kneplers, Karl-Heinz Köhlers, Eric Werners, Arnd Richters; das explizite Engagement
der Dirigenten Otto Klemperer, Kurt Masur, Peter Gülke u. a. galten auch der
Rückbesinnung auf eine zentrale Epoche der bürgerlichen Musikgeschichte: den Jahren
1835 – 47. In jenen Jahren wirkte Mendelssohn am Gewandhaus als Komponist und
Dirigent und reformierte die deutsche Musik nachhaltig.
Mendelssohn etablierte im Gewandhaus zu Leipzig die grosse Philharmonische
Gesellschaft, das eigenständig zelebrierte symphonische Konzert, als wichtigste
Institution wachsenden bürgerlichen Kulturbewusstseins. Darüberhinaus wirkte er
massgeblich auf gesellschaftliche Akzeptanz des Orchestermusikers als
Repräsentanten neuerstehenden philharmonischen Berufsstandes hin.
Er öffnete das Gewandhaus, ästhetischer Vorbehalte eigenen musikalischen
Empfindens gegenüber den Avantgardismen mancher Partitur ungeachtet, den
Komponisten Berlioz, Cherubini, Chopin, David, Gade, Hiller, Liszt, Moscheles, Rossini,
Schumann, Spohr, Wagner und sorgte somit durch Aufbau und Pflege zeitgenössischen
Repertoires für eingehendere Beachtung neuer Musik.
Das gewaltige Instrumental- und Sakralwerk des Komponisten und Thomaskantors
Johann Sebastian Bach galt Fachleuten im frühen 19. Jahrhundert als Studienobjekt
musikalischer Formvollendung, aber hoffnungslos antiquiert, "unmelodisch, berechnend,
trocken und unverständlich im Publicum bekannt" (Ludwig Devrient, Meine
Erinnerungen an F. M. B. und seine Briefe an mich, Leipzig 1869); ja als unaufführbar.
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Die Musik Bachs und anderer Meister der Barockzeit und Klassik wurde durch
Mendelssohns Initiative aufsehenerregender Neueinstudierungen der "Matthäuspassion"
nach beinahe 100 Jahren des Vergessens und "Historischer Konzerte" im Gewandhaus
dem zeitgenössischen Musikleben nachdrücklich ins Bewusstsein gerufen.
Der zeitgenössische Musikbetrieb war vor Mendelssohns Wirken in Leipzig ja
vorrangig auf Präsentation von Neuschöpfungen interpretiender Komponisten
ausgerichtet. Die Wiederaufführungen der Bach´schen "Matthäus-Passion" und die
"Historischen Konzerte" fungierten somit als Synonym historischen Gewissens, als
Exempel progressiven Übergangs zu "stetiger Produktion neuer und Reproduktion nicht
mehr "neuer" Musik" (fr. n. Mayer)
Felix Mendelssohn engagierte sich beharrlich für das Vorhaben, dem musikalischen
Nachwuchs über traditionelle Angebote von Singschulen und Ratsmusiken hinaus an
einer, den Instituten europäischer Musikzentren vergleichbaren Musikbildungsstätte ein
umfassendes Studium zu ermöglichen. 1843 vermochte er es, unterstützt von
Musikverlegern, Gelehrten und Komponisten, in Leipzig das erste deutsche
Konservatorium im Hochschulrange ins Leben zu rufen. Persönlichkeiten der
Musikgeschichte - darunter die Komponisten Eduard Grieg, Leos Janacek und Miklos
Rozsa - erwarben dort die Grundlagen späteren Ruhms.
Diese Initiative der "Begründung eines neuen (...) gemeinnützigen vaterländischen
Institutes" (Testat Dr. Heinrich Blümners 1839) der Tonkunst lebt fort in der "Hochschule
für Musik und Theater Felix Mendelssohn Bartholdy" in Leipzig, welche weiterhin jungen
Menschen aller Nationalität zum Studium von Musik und darstellender Kunst in Theorie
und Praxis offensteht.
1. Es wäre wirklich einmal eppes Rores, wenn aus einem Judensohne ein Künstler
würde
“Er ist zwar ein Judensohn, aber kein Jude. Der Vater hat mit bedeutender Aufopferung
seine Söhne nicht beschneiden lassen und erzieht sie, wie sich´s gehört; es wäre
wirklich einmal eppes Rores (etwas Rares), wenn aus einem Judensohne ein Künstler
würde.” Mit solchen Worten irritierenden Wohlwollens bereitete der Berliner Komponist
Karl Friedrich Zelter den greisen Geheimen Rat Johann Wolfgang von Goethe in
Weimar in seinem Brief vom 26. Oktober 1821 auf den Besuch eines 12 jährigen
musikalischen Wunderkindes aus dem Hause Mendelssohn vor. Die rhetorisch mit allen
Attributen von Aussergewöhnlichkeit beladene, letztendlich aber ergebnislos
verbliebene Gleichung der Konstanten Jude, Taufe, Judensohn und Künstler verrät
nicht, ob es sich um den Ausdruck einer ehrlich empfundenen Hoffnung oder um
Anmassung handelt.
Dessenungeachtet erlag Zelter jedoch der Versuchung, mit der Feststellung vom
Künstlertum aus jüdischem Hause als einer Causa von wahrhaft eppes rorer Art, die
jüdische Sprechweise dezidiert zu karikieren.
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“Hepp-hepp-hepp! Judenjunge!” rief ein debiles preussisches Fürstenkind den
10jährigen Felix Mendelssohn und die 14jährige Fanny auf den Strassen Berlins an,
bevor er ihm ins Gesicht spie. „Hepp-Hepp! Judenjung! schrien Strassenkinder in dem
Küstenort Dobberan an der Ostsee den beiden entgegen, bevor sie sich aufs sie warfen.
Heldenhaft und gleichmütig befreite er die Schwester aus der bedrohlichen Situation;
sicher geleitete er sie heim – erst dort trieben Zorn und Scham ihm die Tränen heraus.
Im Jahre 1812 erliess König Friedrich Wilhelm III. von Preussen auf Anraten des
Staatsministers Karl August von Hardenberg ein Emanzipationsgesetz. Es sollte Juden
die preussische Staatsbürgerschaft gewähren und den lediglich vereinzelt an
herausragende Persönlichkeiten öffentlichen Lebens vergebenen würdelosen Status
der “Schutzjudenschaft” ersetzten.
“Gelingt es nicht, die Juden zur Taufe zu bewegen, dann bleibt nur eins: sie gewaltsam
auszurotten!” (zitiert nach Arndt Richter, Felix Mendelssohn) empfahl indessen der
Berliner Historiker und Historiograph des Preussischen Staates Friedrich Rühs im Jahre
1814. Er reflektiert so die wahrhaftig vorherrschende öffentliche Meinung gegenüber
gleichgestellten jüdischen Bürgern.
Auf volkstümlicherer Ebene erregte zeitgleich die Aufführung der antisemitischen Posse
"Unser Verkehr" auf einer Berliner Bühne Aufsehen, welche die jüdische Lebensweise
zum Gespött zu machen suchte. Die Posse agitierte somit gegen das hardenberg´sche
Unterfangen, Juden zu preussischen Staatsbürgern zu machen. Autor war der Breslauer
Augenarzt Karl Sessa. Die Aufführungen von "Unser Verkehr" lösten Unruhen unter den
Zuschauern aus; als der Berliner Komödiant A. A. Ferdinand Wurm sich auf der Bühne
über die jüdischen Speisegesetze und den jüdischen Widerwillen Schweinefleisch
gegenüber mokierte, wurde das Publikum gar handgreiflich gegen ihn. Flugblätter mit
Aufrufen wie "Dass du in "Unserm Verkehr" die Juden verspottest, die Ursach, sie
begreift sich so leicht: bist du selbst doch ein Schwein" straften Autor und Akteure ab.
Dennoch verfehlte die Populär-Komödie nicht ihre Wirkung auf breitere Schichten
"gesunden Volksempfindens". In der Berliner Bevölkerung wurde somit die Forderung
erhoben, jüdischen Freiwilligen im preussischen Abwehrkampf gegen Napoleon künftig
den Erhalt des Eisernen Kreuzes zu verweigern und ihnen vielmehr ein grosses
Geldstück an die Kopfbedeckung zu heften.
Nicht zuletzt die in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts dominante
romantische Bewegung, altdeutschen, ja mittelalterlich paraphrasierten sowie
christlichen Idealen huldigend, zählte zu den erklärten Gegnern staatsbürgerlicher
Judenemanzipation. Berüchtigt in diesem Zusammenhang waren „Christlich-Deutsche“,
oder „Christlich-Germanische-Tischgesellschaften“, welche die hochrangigen Literaten
Achim von Arnim und Clemens Brentano, sowie der Publizist Adam Müller in Berlin
unterhielten.
Während Rang und Namen gesellschaftlichen Lebens in Berlin, Persönlichkeiten wie
Carl von Clausewitz, Johann Gottlieb Fichte, Savigny, Heinrich von Kleist, der
preussische Staatsrat Sägemann, Karl Friedrich Zelter sowie die Fürsten von
Lichnowsky und Radziwill, den Salon des Hauses von Arnim/ Brentano regulär
frequentierten, war Juden nebst Franzosen und Philistern die Teilnahme an den
"Tischgeselligkeiten" und "deutschen Fressgesellschaften" satzungsgemäß verwehrt....)
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Die Romantiker lehnten jedwede Bestrebung zur Realisierung moderner Ökonomie strikt
ab und sahen die Juden als treibende Kraft derselben an. Daher standen letztere im
Zentrum übler Satiren und „Judenscherze“ der „Tischgesellschaften. Bettina von Arnim
schliesslich wandte sich vom Treiben Ihres Bruders und Ehemannes angewidert ab.
Allein für den Zeitraum des Jahres 1815 bis 1850 lassen sich 2500 Manifeste, welche
die vermeintliche Judenfrage im Für und Wieder thematisierten, nachweisen.
Letztere eröffnen bereits den ganzen Katalog vertrauter antisemitischer Demagogie
des Kaiserreichs und des 20. Jahrhunderts. Das Spektrum reicht von der
Zwangsassimilierung durch christliche Taufe, der „Veredelung“ und Bekehrung mithilfe
religiös-moralischer Vereine, über Seuchen- und Ungeziefermetaphorik, Betrachtungen
hinsichtlich Sexualamputation, Ausweisung, Austreibung, Deportation nach Palästina bis
hin zu Völkermordphantasien. Der seinerzeit viel rezipierte nationalistische Publizist und
Dichter Ernst Moritz Arndt, der im 20. Jahrhundert vom rassebiologisch grundiertem
Wahn des deutschen Nationalsozialismus als dessen "Vordenker" gefeiert wurde,
konstatierte im Jahre 1814, das dass Volk der Deutschen es durch alle Zeiten vermocht
habe, nicht zu "verbastarde(n), keine Mischlinge geworden" zu sein. Über Jahrtausende
hinweg sei es vielmehr auf seiner "Urerde" rassisch "rein" geblieben. Nunmehr
allerdings, führt Arndt des weiteren aus, sei das "germanische Wesen im höchsten
Maße durch das Voranrücken der Franzosen und der Juden bedroht, welche letztere mit
dem Prosperieren von "Ungeziefer" zu vergleichen sei. "Verflucht aber sei die Humanität
und der Kosmpolitismus, womit ihr prahlet! Jener allweltliche Judensinn, den ihr uns
preist als den höchsten Gipfel menschlicher Bildung." schliesst Arndt.
Der berühmte Zeitgenosse Freiherr vom Stein attestierte Arndt denn auch eine
"Hühnerhundnase zum Aufwittern des verschiedenen Blutes". Arndt forderte die
Unterbindung der Zuwanderung ausländischer Juden mit allen Mitteln sowie die
Verwehrung des vollen Bürgerrechtes für die deutschen Juden und "getauften
Judengenossen. Arndt plädiert im Gegenzug vielmehr für das "Aufgehen"
alteingesessener deutscher Juden vermittels vollständiger Aufgabe der jüdischen
Religion und Kultur und Amalgamierung mit der christlich-germanischen Umwelt. Das
Verschwinden des "verdorbenen und entarteten" jüdischen Idioms wäre, Arndt zufolge,
durch Konvertierung zum Christentum nach 3 Generationen somit möglich.
Neben Friedrich Rühs trat auch der Heidelberger Philosoph und Professor Jacob
Friedrich Fries als Demagoge antisemitscher Vernichtungsphantasien hervor. In einem
1816 unter dem Titel: „Über die Gefährdung des Wohlstandes und Charakters der
Deutschen durch die Juden“ veröffentlichten Pamphlet erging sich Fries in
übersteigerten Gewaltmetaphern und forderte: „Denkt nur an ihr Schicksal in Spanien,
wie es dort allem Volke zur Freude wurde, sie zu tausenden auf den Scheiterhaufen
brennen zu sehen, wie sie dort die Regierung (...) samt und sonders zum Lande
hinausjagen musste. Fragt doch einmal Mann vor Mann herum, ob nicht jeder Bauer,
jeder Bürger sie als Volksverderber und Brotdiebe hasst und verflucht".
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Im Zenit fremdenfeindlich-menschenverachtender Ereiferungen aber stehen die
Gewaltpathologien des Radikaldemagogen Hartwig von Hundt-Radowsky: Im
"Judenspiegel - ein Schand- und Sittengemälde alter und neuer Zeit" aus dem Jahre
1819 regte er u. a. dazu an, die deutschen Juden den Engländern als Arbeitssklaven für
die indischen Kolonien anzudienen. Neben der Zwangsarbeit auf den weitläufigen
Pflanzungen, erböte sich des weitern die Deportation in die Erzminen. Von Natur aus
über „ein herrliches Spürorgan für alle edeln Metalle und Steine“ verfügend, wäre eine
Tätigkeit dort, - sicherheitsverwahrt von „geheimen Polizeispionen" - , gewinnträchtig.
Die männlichen Juden wären sämtlich zu kastrieren, die Frauen hingegen in
„gewisse weibliche Erziehungsinstitutionen“ genannte Bordelle zu verbringen um dort
den Machthabern gefügig zu sein. Hundt-Radowsky stellt in Schriften wie dem
"Judenspiegel" oder der 1822/23 in der Schweiz erschienen "Judenschule" des weiteren
hanebüchen-menschenverachtende Behauptungen über das Wesen der jüdischen
"Rasse" auf:
"Der Teufel ist barmherziger als ein Jude". Von Geburt an eigen sei den Juden auch "ihr
specifischer Geruch, den sie sich durch ihre unnatürlichen Laster, als ein Allen
gemeinschaftliches Erbgut, erworben haben." (...) "Eine...Annäherung oder
Verschmelzung würde für jedes nichtjüdische Volk ein gänzliches physisches und
sittliches Verderben zur Folge haben. (...) Was Grosses, Erhabenes und Göttliches an
seinem (Jesu Christi) Leben und seinen Handlungen war, das können die Juden,
welche ihn verfolgten und kreuzigten, nicht für sich anführen."
Des weiteren ergeht sich Hundt-Radowsky in Gewaltphantasien und -forderungen
hinsichtlich der vollständigen Austreibung und Vernichtung des jüdischen Volkes. Seine
Schriften zählen somit zu den unmittelbaren Anfängen eines eliminatorischen
Antisemitismus und nehmen somit die deutsche Rassenpolitik und Judenvernichtung im
20. Jahrhundert; die Geschehnisse des "III. Reiches" rhetorisch nahezu deckungsgleich
vorweg. Der Historiker Peter Fasel schreibt bzw. zitiert dazu in der Wochenzeitung "Die
Zeit" vom 22. Januar 2004" in seinem Aufsatz "Vordenker des Holocaust":
"Die Juden müssen, daran lässt er keinen Zweifel, vollständig eliminiert werden. (...)
"Am besten wäre es jedoch, (anstelle eines Verkaufs an die Engländer, welche HundtRadowsky wenig später als missliebige "weisse Juden" brandmarken sollte, Anmk. d.
Verfs.) man reinigte das Land ganz von dem Ungeziefer".
Die Juden sollten, das wäre ihm offenbar am liebsten, nach Abhaltung eines Tribunals
("ein peinliches Gericht") umgebracht werden. Oder aber, man verfrachte sie, vollständig
enteignet, auf türkisches Gebiet, wo sie in unausweichlichen Kämpfen mit den Muslimen
"vielleicht ganz (...) von der Erde vertilgt würden", ohne dass man sich selber die Finger
schmutzig machen müsse."! Durch die in Aarau entstandene Theorie vom "Weissen"
Juden (im Gegensatz zum "echten", "schwarzen" Juden, zu welchem Hundt-Radowsky
auch die Zigeuner zählte, also ein, Hundt-Radowsky und seiner deutschen Leserschaft
missliebiger Europäer, Anm. d. Verf.) wird das antisemitische Wahnsystem komplett."
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Hundt-Radowsky verneint in seinen Schriften vehement die Möglichkeit, die Juden
vermittels Taufe "verbessern" zu können. "Wer einen Juden tauft, der brennt der Sau
nur ein anderes Zeichen auf den Hintern" schreibt der Demagoge. Die jüdischen
"Schädlinge" blieben, Hundt-Radowsky zufolge, ihrem "zutiefst verderbten Charakter ewig und unwandelbar ...gleich, was auch passiert, (...) bis sie endlich durch ein
furchtbares Erdbeben von unten auf erschüttert und verschlungen werden". " (zit. n.
Fasel
Der Judenspiegel wurde im Herbst des Jahres 1819 in Schwarzburg-Sonderhausen,
einem damaligen thüringischen Kleinstaat, vom Verleger Bernhard Friedrich Voigt
herausgegeben. Anstelle des waren Namens Joachim Hartwig von Hundt-Radowsky
firmierte das Pseudonym Christian Schlagehart als Autor. Das Buch erfuhr innerhalb
von 3 Wochen zwei Auflagen von insgesamt 10 000 Exemplaren.
Der "Judenspiegel" wurde in Bayern und Preussen mit der Begründung einer Störung
konfessionellen Friedens indiziert; Hundt-Radowsky sah sich als Volksverhetzer
polizeilicher Verfolgung ausgesetzt. In Baden-Württemberg hingegen stand die Presseund Meinungsfreiheit konstitutionell über dem Verfassungsrang konfessioneller
Unversehrtheit, so daß die Schriften Hundt-Radowskys dort weiterhin publiziert wurden
und der Judenspiegel in Reutlingen, Cannstadt und, gekürzt, in Ulm Neuauflagen erfuhr.
Noch im Jahre 1848 erfuhr das Pamphlet eine Wiederauflage unter dem Titel "Die
Naturgeschichte der Juden", welche in Wien herausgebracht wurde.
Die 3bändigen Folgeschriften "Die Judenschule oder gründliche Anleitung, in kurzer Zeit
ein vollkommener schwarzer oder weisser Jude zu werden", welche mit 1160 Seiten zu
den umfangreichsten antisemitischen Pamphleten überhaupt zählt, erschien im Jahre
1822/23 in Aarau im Schweizer Exil Hundt-Radowskys. Auch dieses Werk erfuhr eine im
Jahre 1830 wiederum in Reutlingen herausgegebene Wiederauflage, welche unter dem
Titel "Die Juden wie sie waren, wie sie sind und wie sie seyn werden" erschien.
2. Heisst Du Mendelssohn, so bist Du eo ipso ein Jude
Zahlreiche jüdische Familien in Deutschland konvertierten zu Beginn des 19.
Jahrhunderts zum Christentum. Sie folgten darin den Lehren der Aufklärer Moses
Mendelssohn und Gotthold Ephraim Lessing, religiöse Fragen dem Prinzip der reinen
Vernunft; die Orthodoxie der Vorstellung eines konfessionsübergreifenden Deismus
anheimzugeben und erklärten sich somit bereit, an der bestehenden christlichen
Mehrheitsgesellschaft teilzunehmen.
(Dieser zeitgenössischen Interpretation der Schriften Moses Mendelssohns entgegen,
weigerte sich der Philosoph entschieden, selbst zum Christentum zu konvertieren und
wandte sich öffentlich gegen eine derartige Auslegung seiner Lehren, Anmk. d. Verfs.)
10
Andere entschlossen sich zu diesem Schritt, um sich vor den bedrohlichen
Folgeerscheinungen eines National-Fanatismus, zu schützen, den der Kantschüler
Johann Gottlieb Fichte ab etwa 1790 propagierte.
“Germanomanie”; eine Philosophie elaborierten Nationalbewusstseins. Diese griff, in
Ermangelung der Realität geeinter deutscher Nation auf Elemente wie “teutsches
Volkstum” und “germanisches Christentum” als alleingültige Fundamente imaginierten
deutschen Vaterlandes zurück. Die
Hepp-Hepp-Unruhen, (nach der populären
Strassen- und Gewaltparole "Hepp! Hepp!! Hepp!!! Aller Juden Tod und Verderben! Ihr
müsst fliehen oder sterben!", Anmk. d. Verfs.) welche im Jahre 1819, von der
fränkischen Residenzstadt Würzburg ausgehend, in Deutschland und europäischen
Nachbarstaaten Gewaltakte gegen jüdische Ansiedlungen und Bürger bedingten,
nahmen zahlreiche jüdische Familienvorstände denn auch als eindringliche Warnung
auf.
“Man kann einer gedrückten, verfolgten Religion getreu bleiben; man kann sie seinen
Kindern als eine Anwartschaft auf ein sich das Leben hindurch verlängerndes Martyrium
aufzwingen - solange man sie für die Alleinseligmachende hält. Aber sowie man dies
nicht mehr glaubt, ist es eine Barbarei. - Ich würde rathen, daß Du den Namen
Mendelssohn Bartholdy zur Unterscheidung von den übrigen Mendelssohns annimmst.”
Die Worte Jacob Salomons, Felix Onkel väterlicherseits, bestärkten die Eltern in dem
Schritt, ihre Kinder Fanny und Rebekka, Felix und Paul im Jahre 1816 protestantisch
taufen zu lassen. Lea und Abraham Mendelssohn folgten den Kindern erst im Jahre
1822 darin.
Im Jahre 1830 gemahnte der Vater, welcher sich hellsichtig gegenüber eines
zunehmend judenfeindlichen gesellschaftlichen Klimas, nurmehr Abraham M. Bartholdy
nannte, eindringlichst:
„Du kannst und darfst nicht Felix Mendelssohn heissen. Du musst Dich also Felix
Bartholdy nennen. Einen christlichen Mendelssohn gibt es so wenig wie einen jüdischen
Konfuzius. Heißt Du Mendelssohn, so bist Du eo ipso ein Jude, und das taugt Dir nicht,
schon allein, weil es nicht wahr ist.“
Der bereits zu Berühmtheit gelangte Felix folgte dem Rat Abrahams dennoch nicht. Der
Sohn, dem Vater in allem übrigen ehrerbietig gehorsam, widersetze sich dies eine Mal.
Obgleich ein tiefgläubiger Protestant, war es ihm ausgeschlossen, die familiäre Tradition
und Identität zu negieren. Es kam schliesslich zu der Übereinkunft, künftig beide
Namen, parallel, gleichberechtigt einander gegenüberstehend; unverbunden zu nennen.
Als Synonym einerseits für das familiäre Erbe und den Schritt in die von Abraham
imaginierte Gewissheit potentieller bourgeoiser Geborgenheit andererseits. Im übrigen
hatten die gepflegte Diffamie Carl Friedrich Zelters, dass Hepp-Hepp-Judenjung! Geschrei, welches Felix und Fanny allenthalben entgegenschlug, also die beharrliche
Ansprache eines Stigmas jüdischer Geburt Felix hinlänglich bewiesen: die bürgerlichchristliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts beabsichtigte keineswegs, Juden, ob
getauft oder nicht, dauerhaft und gleichrangig in Ihre Reihen aufzunehmen.
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Die falsche Schreibweise Felix Mendelssohn-Bartholdy bezeugt somit die
Ahnungslosigkeit oder gar Bedenkenlosigkeit bezüglich diffiziler jüdisch-deutscher
Befindlichkeiten. Oder schlimmer noch: das antisemitisch bedingte Bestreben, den
Schritt der Mendelssohns in die protestantisch geprägte Bürgerlichkeit nachhaltig zu
negieren oder vielmehr, einen auch nicht durch den Versuch der Namensangleichung
überbrückbaren Makel jüdischer Geburt, die Zugehörigkeit Mendelssohns zur jüdischen
"Rasse" als untilgbares Stigma ein für allemal festzuschreiben.
Dennoch bekannte sich Felix Mendelssohn Bartholdy uneingeschränkt zu den
kulturellen und historischen Traditionen, der anthropologischen Bewusstheit seines
deutschen Heimatlandes.
Abraham Mendelssohn liess seine Kinder durchaus im Geiste kosmopolitischer
Bildung erziehen und gestattete dem musikalisch bewunderten Jüngling Felix
ausgedehnte Bildungsreisen durch die Kulturnationen Europas. Dieser ging, nachdem
Cherubini am Conservatoire de Paris die Begabung des Jungen geprüft und dem Vater
die unbedingte Befähigung zu zukünftiger musikalischer Profession attestierte, daran, zu
prüfen, ob ihm die europäischen Kulturzentren möglicherweise ebenfalls eine
musikalische Heimat zu finden ermöglichten.
Das Ergebnis stand im Jahre 1832 endgültig fest. Noch aus Paris teilt er es zu
Jahresbeginn seinem Mentor Carl-Friedrich Zelter mit:
"Wenn ich...nur von den Hauptpuncten meiner Reise Ihnen hätte schreiben wollen, so
hätte ich es eigentlich aus Deutschland thun müssen. Denn wie ich jetzt nach alle den
Schönheiten, die ich in Italien und der Schweiz genossen hatte,...wieder nach
Deutschland kam, und namentlich bei der Reise über Stuttgart, Heidelberg, Frankfurt,
den Rhein herunter nach Düsseldorf, da merkte ich, daß ich ein Deutscher sey und in
Deutschland wohnen wolle...."
Einerseits beharrte er auf seinem jüdischen Geburtsnamen und der Bewusstheit seines
jüdischen Grossvaters, andererseits aber registrierte er die allgemein um sich greifende
Verketzerung staatsbürgerlicher Habilitation deutscher Juden wachsam.
Somit erfüllte ihn das Bekenntnis zu diesem seinem Heimatlande unausgesetzt mit
Befürchtungen. Und so schliesst besagtes Schreiben mit der Erwägung, zukünftig ja
immer noch von den Möglichkeiten europäischer Musikzentren Gebrauch machen zu
können, wenn denn: „die Leute mich einmal in Deutschland nirgend mehr haben wollen,
dann bleibt mir die Fremde immer noch, wo es dem Fremden leichter wird, aber ich
hoffe, ich werde es nicht brauchen.“
Dieser Wunsch zumindest wurde Felix Mendelssohn in Persona erfüllt. Wie es mit der
Verankerung des Felix Mendelssohn Bartholdy in Heimat und Fremde insgesamt; der
Ein- oder Ausbürgerung des „historischen Augenblicks“ Felix Mendelssohn (Hans
Mayer) bestellt bliebe, an dieser Stelle zu resümieren, hiesse vorzugreifen.
Bereits zu Lebzeiten fiel der Komponist und spätere Gewandhauskapellmeister Kritik
anheim, welche sich nicht an der musikalischen Leistung, sondern an der jüdischen
Abstammung Mendelssohns entzündete.
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Als im Jahre 1833 nach dem Tode Carl Friedrich Zelters die Nachfolge in der Leitung
der Berliner Singakademie zur Wahl stand, votierten 152 Mitglieder für den musikalisch
als farblos überlieferten Kandidaten Carl Friedrich Rungenhagen und 88 für den
Kandidaten Felix Mendelssohn. Obgleich dieser im Jahre 1829 die Akademie mit der
Wiederaufführung der Matthäuspassion zu einem Musikereignis führte, erhoben sich
innerhalb derselben Rumor wie: "...die Singakademie sei, durch ihre fast
ausschliessliche Beschäftigung mit geistlicher Musik, ein christliches Institut, es sei
darum unerhört, daß man ihr einen Judenjungen zum Director aufreden wolle". (zitiert
nach Eduard Devrient) "Sie wollten ihn halt nicht haben, den Judenjungen!" konstatiert
Hans Mayer im Rückblick auf die Vorgänge der Berliner Chorwahl und Mendelssohns
Démission vom Amte des Musikdirektors der Stadt Düsseldorf. Das Votum gegen einen
Chordirektor Felix Mendelssohn kann auch als gezielter, sublim antisemitsch motivierter
Affront gegen die Familie Mendelssohn interpretiert werden. Diese war personell
innerhalb des Chores zahlreich vertreten und trat darüberhinaus als Mäzen der
Akademie auf; nach der Brüskierung Felix zogen sich die Mendelssohns vollständig von
der Singakademie zurück.
Manfred Blumner, der Direktor späterer Jahre, führt hingegen zur Rechtfertigung des
damaligen Wahlgeschehens heran: "...daß es viele, namentlich älteren Mitgliedern
Bedenken erregen musste, einem 23 jährigen Jünglinge an eine soviel persönliches
Ansehen erfordernde Stelle (...) zu berufen" und "ahnten doch viele noch nicht seine
ganze nachhaltige Größe und Bedeutung." (Berlin 1891) Auch von Intrigen, einer
"unappetitlichen Rolle" der "raffgierigen" Doris Zelter (die Tochter Carl-Friedrich Zelters)
und erheblichen Kabalen um die Direktionsnachfolge ist die Rede. In Rückerinnerung an
die Tage sensationell wiedererweckter Matthäuspassion im Frühjahr des Jahres 1829
berichtet Devrient weiter, das Felix nächtens mitten auf dem Opernplatz stehen
bleibend, übermütig rief "daß es ein Komödiant und ein Judenjunge sein müssen, die
den Leuten die größte christliche Musik wiederbringen!" Es verweist auf die Fähigkeit
des Jünglings, sowohl die unausgesetzt diffuse staatsbürgerliche und soziale Situation
als auch das vertraut-inkriminierende „Judenjungen! Attribut zeitweilig ironisch zu
kommentieren.
Die literarisch-politisch agierende "Jungdeutsche Bewegung" der 30ssiger und 40ziger
Jahre; dieser gehörten u. a. die Literaten Heinrich Laube, Georg Büchner, Karl Gutzkow,
Theodor Mundt, Ludwig Börne und Heinrich Heine an, kultivierte neben liberalen,
förderalistischen und revolutionären Forderungen auch erhebliche antisemitische
Ressentiments. So sahen sich studentische und publizistische Aktivisten in den eigenen
Reihen wie die Konvertiten Heinrich Heine und Ludwig Börne stetiger Diffamierung
ausgesetzt; wurden beispielsweise als „jungpalästinensich“ verhöhnt.
In den Jahren 1835 und 1841 wurde die Familie Mendelssohn zum unmittelbaren Objekt
antisemitisch intendierter Intrigen. Diese hätten in der Folgewirkung beinahe zu
Handgreiflichkeiten des Komponisten gegen einen nachrangigen, den Kreisen der
Zelter-Familie zugehörigen Publizisten und somit zu einem Eklat geführt. Prof. Friedrich
Wilhelm Riemer, ein Studienrat und Adept Johann Wolfgang von Goethes veröffentlichte
im Jahre 1841 Reminiszenzen an den Dichterfürsten unter dem Titel: „Mitteilungen
über Goethe“. Als Herausgeber Goetheschen Nachlasses provozierte Riemer bereits im
Jahre 1835 mit der indiskreten Publikation des unzensierten, die Belange zahlreicher
lebenden Personen wie die Mendelssohns nunmehr der Öffentlichkeit preisgebeneden
Korrespondenz des Goethe-Altersfreundes Zelter.
13
Darunter auch jenes berüchtigte, Eingangs zitierte Schreiben vom Judensohne und den
Künstlern. Fanny und Felix Mendelssohn brachen daraufhin auch in der Erinnerung mit
dem einstmals verehrten und geliebten Lehrer. Die innerfamiliäre Erregung angesichts
der Affäre, Beschuldigungen hinsichtlich semitischer Machenschaften, mit welchen
Riemer das Haus Mendelssohn überzog, führten möglicherweise zum unerwartenden
Tod Abraham Mendelssohns durch einen Schlaganfall am 19. November 1835. Doris
Zelter, die einstmals unter der Protektion Abraham Mendelssohns stehende Tochter C.
F. Zelters, wurde als intrigant, altjüngferlich und verbittert überliefert. Als Co-Initiatorin
der Publikation, kommentierte sie den Vorgang in einem an Riemer gerichteten
Schreiben verständnislos, aber mit abfälligem Unterton:
„Was nun die Persönlichkeit Zelters anbetrifft, so habe ich mir die ganze Synagoge auf
den Hals geladen, und ich glaube kaum, daß der alte Tempel das Klagegeschrei und
Gequatsche aushält (...) Mendelssohns benehmen sich wunderlich genug“
In seinen nunmehr im Jahre 1841 herausgegebenen „Mitteilungen über Goethe“ nutzte
Riemer das potentielle öffentliche Interesse am Sujet offenkundig zur Rhetorik in
eigener Sache sowie zu agressiver antijudaischer Agitation. In Kapiteln wie jenem,
„Juden“ übertitelten, sind Ausfälle gegen assimilierte ehemalige Juden wie Abraham,
Fanny und Felix Mendelssohn zu lesen:
"Das Prinzip, aus dem die ganze (jüdische) Nation hervorgegangen, aus dem sie
gehandelt hat...ist indelibel; man denke also nicht Mohren Weiss zu waschen, auch
dank der christlichen Taufe nicht, wie man etwa im Mittelalter den foetor judaicus (den
Judengestank) dadurch zu tilgen glaubte...“
Des Weiteren griff Riemer demonstrativ auch die Abraham-Mendelssohn-Affäre des
Jahres 1835 wieder auf. Eingangs verhöhnte er das Angedenken des Verstorbenen mit
Phrasen, welche im Geiste dezidierter persönlicher Entwürdigung auf den AssimiliertenStatus anspielten:
"Möge indessen der gute Schwiegerpapa (d. i.: Abraham Mendelssohn) sich durch das,
was Börne und Heine (sic!) über Goethe vor den Augen des ganzen Deutschlands
ausgegossen, zu seiner Satisfaktion mitgerächt, oder, wie man sagt, mitgerochen
haben!“
Schwerwiegender erwiesen sich die erneut vorgebrachten Vorwürfe semitischer
Zensurbestrebungen seitens der Familie Mendelssohn. Riemer behauptete in den
„Mitteilungen“ Abraham Mendelssohn habe ihn seinerzeit als Herausgeber der ZelterGoetheschen Korrespondenz vermittels anonymen Schreibens unter Druck setzen
wollen, unvorteilhafte Äusserungen des Dichterfürsten über die künstlerischen
Fähigkeiten Wilhelm Hensels; Fannys Bräutigam, zu unterschlagen.
Wie wir aus einem Schreiben des Komponisten vom 3. Juli 1841 an den Bruder Paul
Mendelssohn wissen, erregte sich Felix Mendelssohn über „eine so lieblose, mich
empörende Weise“, in welcher Riemer „über Vater gespöttelt und hergezogen“ sei in
hohem Maße.
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Er erwog allem Anschein nach ernstlich, dem Angedenken des Vaters durch einen
öffentlichwirksamen Ohrfeigenauftritt Riemer gegenüber, Genugtuung zu verschaffen.
Der Vorsitzende des Aufsichtsrates der Gewandhauskonzerte, Conrad Schleinitz,
brachte den bereits zu hohem Ruhme und Ansehen gelangten Kapellmeister seines
Hauses aber „ernstlich und besorgt“ von diesem Unterfangen ab.
Mendelssohn schrieb dem Bruder des Weiteren:
„Lies übrigens das ganze Capitel „Juden“ aus, um den Mann gehörig kennen zu lernen.
Ich weiss wohl, dass der selige Vater mirs zum Gesetz gemacht hat, in keiner Weise
von gedruckten Angriffen Notiz zu nehmen...aber dass einer den Namen unseres
verstorbenen Vaters und unserer Ahnen auf so elende Art missbraucht, daß kann und
darf ich nicht ungeahndet lassen.“
In einer Rezension der Ballade Ahasver des Dresdner Dramatikers Julius Mosen (dieser
hatte sich vor allem durch ein Rienzi-Drama namhaft gemacht, welches parallel zur 5aktigen Erfolgsoper Richard Wagners entstand) aus dem Jahre 1838 dozierte Karl
Gutzkow u. a. über vermeintlich semitische Grundwesenszüge der Titelfigur. Des
Weiteren sprach er sich vehement gegen Bestrebungen staatsbürgerlicher Habilitation
von Juden aus:
„Ahasver ist der Jude in seinem nichtigen Materialismus (...), ist der Jude in alledem,
was ihn von dem Berufe, an der Geschichte teilzunehmen, ausgeschlossen hat, der
Jude gerade in seiner Missionsunfähigkeit. Er ist das Schlechte am Judentum, das
Lieblose, Parteiische, Hämische, Zersetzende, er ist gerade alles das, was noch immer
die Emanzipation am meisten verhindert.“
Im gleichen Zeitraum artikulierte sich erhebliches antisemitisches Ressentiment seitens
junghegelianischer Philosophen und Frühsozialisten. Letztere vor allem stellten die
Juden ins Zentrum radikalökonomischer Kapitalismuskritik und bezogen sich dabei auf
das tradierte Klischee des Schacherers. Wortführer sozialistischen Antisemitismus
waren Bruno Bauer, Arnold Ruge und Karl Marx. In der Publikation Judenfrage stellt
Bruno Bauer im Jahre 1842 dem Programm staatsbürgerlicher Habilitation die
Forderung entgegen, das die Juden sich vor dem Vollzug bürgerlicher Emanzipation
erst zu „Menschen“ zu emanzipieren, also ihr konfessionelles Bekenntnis aufzugeben
hätten. Karl Marx paraphrasierte die Bauerschen Thesen im Herbst des Jahres 1843
bereits im Titel des Essays "Zur Judenfrage" und wiederholt darin sowohl die
einschlägigen Stereotypen des berechnenden Finanz- und Machtjuden als auch die
frühsozialistische These der Emanzipation, der Erlösung
des Menschen aller
Konfessionen von der Macht und Faszination des Geldes. Marx schrieb also:
„Welches ist der weltliche Grund des Judentums: (...) der "Eigennutz". Welches ist der
weltliche Kultus des Juden ? Der "Schacher". (...) sein weltlicher Gott? Das "Geld". (...)
Die Emanzipation vom "Schacher "und vom "Geld", also vom praktischen, realen
Judentum wäre die Selbstemanzipation unserer Zeit. (...) Die "Judenemanzipation" in
ihrer letzten Bedeutung ist die Emanzipation des Menschen vom "Judentum".
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In der Ausgabe der "Neuen Zeitung für Musik" (NZfM) in Leipzig vom 1. März 1846
agitierte die Meissner Schriftstellerin Louise Otto (1819-95) in einem Artikel namens
"Parteien - Cliquen" gegen den Gewandhausdirektor und Komponisten Felix
Mendelssohn. Ohne ihn namentlich zu nennen, stellte sie in anspielungsreicher
Beschreibung dessen umfangreiches lokales und überregionales Musikengagement als
reaktionäre Egomanen-, Cliquen- und Adeptenwirtschaft dar. Obgleich sich Louise Otto
in der Attacke auf Felix Mendelssohn offenkundiger judenfeindlichen Attribute enthielt,
umriss sie beispielhaft einen zentralen Aspekt antisemitischen Demagogie. Es sollte
wenig später ganz unmittelbar zum Ausdruck kommen und bis in die rassenbiologisch
ausgeprägte Rhetorik des Nationalsozialismus unverändert gebräuchlich sein: der
vermeintliche Hang und die Fähigkeit "des Juden", sich vermittels Cliquenwesens
Vorteile, Einfluss, Beherrschung und Vormacht gar in Kultur und Gesellschaft zu
verschaffen. In der NZfM behauptet Luise Otto also:
" (...) die einen halten eigensinnig fest an dem Bestehenden, und möchten, daß immer
Alles so bliebe, wie es gerade ist - so stehen sie in der Mitte zwischen denen, welche
nur am Vergangenen sich erfreuen...und denen, welche das Dagewesene nur als
Grundlage wollen gelten lassen, darauf das Neue aufzubauen, dem die Zukunft gehören
soll. (...)
Da ist z. B. ein berühmter Componist, ein Kapellmeister, der organisiert sich aus den
Mitgliedern der Kapelle ein förmliches Hülfschor, um nicht nur seine Kompositionen,
sondern auch seinen Ruf und Namen hinausklingen zu lassen in alle Welt, und nur was
diesem Zwecke dient, darf von der Kapelle geschehen.
Die jüngeren Talente finden dann weder Anerkennung noch Ermunterung, es sei denn,
daß sie eifrige Bewunderer des Meisters sind und in seinen Fussstapfen ihm nachtreten,
ohne sich je beikommen zu lassen, einen anderen Weg zu gehen...Untergeordneten
Talenten bleibt vielleicht...gar nichts anderes übrig, als irgend einer solchen
machthabenden Persönlichkeit sich zu unterwerfen und nach deren Gutdünken sich
brauchen zu lassen. Solche und ähnliche Vereinigungen sind Cliquen und keine
Parteien. (...)
Der somit als eigensüchtig und reaktionär dargestellten "Clique" stellt die Autorin in der
Folge die Idealvereinigung einer "Partei" hochherzig Gleichgesinnter gegenüber. In
eindeutiger Bezugnahme auf Mendelssohns Bemühungen um nachhaltigen Rückgewinn
des Bachschen Werkes umreisst sie vorab die Entwicklung eines zielstrebig geschürten
"Parteienstreites". Dieser sollte wenige Jahre darauf zum Ausbruch kommen und die
deutsche Musikwelt bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges bewegen. Wie sich noch zu
zeigen wird, hatte die "Neue Zeitung für Musik" im Benehmen eines massgeblich tätigen
publizistischen Agressors an den künftigen Geschehnissen erheblich Anteil und
bereitete demselben in Pamphleten wie diesem offenkundig die ideologische Grundlage.
Luise Otto führt also des Weiteren aus:
"Diejenigen, welche dem neueren Zeitbewusstsein huldigen, welche an den Fortschritt,
an die nothwendige Weiterbildung der Kunst glauben, welche nicht in die Redensart der
Kurzsichtigen einstimmen, als sei Alles, was zu erreichen möglich ist, erreicht durch die
grossen Leistungen der alten Meister..."
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Alle diejenigen sollten sich durch festeres Zusammenhalten mit den Gleichgesinnten
sich gewissermassen als Fortschrittspartei organisieren, "um so leichter der ungleich
stärkeren Schar derer entgegenzutreten, welche von keinem Vorwärts etwas wissen
wollen (...) Diese Leute, welche nie von der Stelle wegzubringen sind, (...) halten (...),
weil sie an gar kein Weitergehen denken, also auch keine verschiedenen Wege
einschlagen können, weit einmüthiger zusammen, als die Freunde des Fortschritts, da
es viele Wege gibt, welche weiterführen".
Im November des Jahres 1846 unterstellte das "Leipziger Tagblatt" Mendelssohn als
Uraufführungsdirigenten von Robert Schumanns 2. Symphony in einer anonym
verfassten Rezension diffuse ”mosaische” Interessen. Er habe im Verlaufe des
Premierenkonzertes - dem begeisterten Drängen des Publikums nachgebend - seine
fulminante Interpretation der vorangestellten Rossini-Ouverture "Wilhelm-Tell"
demonstrativ wiederholt, bestrebt, die Uraufführung des Werkes eines deutschen
Komponisten zu diskreditieren.
Der Anwurf verleugnet gezielt 2 wesentliche Umstände: die gängige zeitgenössische
Konzertpraxis: d. h. Wiederholung von Darbietungen auf Aklamation hin; des weiteren
die er freundschaftlich kollegiale Beziehung zwischen Schumann und Mendelssohn.
Wenige Abhandlungen Schumanns/ Mendelssohns erwähnen diese anonym
veröffentlichte, mit antisemitischem Affekt aufgeladene
Rezension im Leipziger
Tagblatt. Er findet sich mehr oder weniger ausführlich dargestellt lediglich bei Eric
Werner, Walter Dahms und dem neuen Clara & Robert Schumann-Buch von Wolfgang
Held.
Die Zielgenauigkeit solcherart Infamie, beweist die heftige Erregtheit Mendelssohns in
Kenntnisnahme des Anwurfs. Er verweigerte inständig die musikalische Leitung der BPremiere des Werkes und künftig jedweder Aufführung einer Schumann-Komposition.
Nur dem gütlichen Einwirken Cécile Mendelssohns und der als Gast im Hause
Mendelssohn weilenden Clara Schumann war es geschuldet, daß das B-Konzert am
16.11.1846 planmäßig durchgeführt wurde.
Genannter Anwurf bezeugt vielmehr nachhaltigen publizistischen Einfluss jungdeutscher
Aktivisten im Vorfeld der Revolution von 1848. Studentische Männerbünde als
massgebliche Träger des Revolutionsgedanken, geschult an Fichte, von Hetzschriften
Constantin Frantz und des Turnvaters Friedrich Ludwig Jahn angeleitet, formierten das
Nationalideal zunehmend in fanatischer Abgrenzung allem vermeintlich undeutschem
Einfluss gegenüber. Aber nicht die Präsenz europäischer Nachbarstaaten, des
romanischen
oder
slawischen
Kulturraums
etwa
stand
im
Zentrum
„germanomanischen“ Eifers: er konzentrierte sich auf das vermeidlich Fremde im
eigenen Lande: den Juden.
Hochrangige Persönlichkeiten des öffentliche Lebens – exemplarisch für das
hardenberg´sche Ideal vollendeter staatsbürgerlicher Judenemanzipation stehend –
gezielt als „mosaisch“ herabzusetzten, galt demnach als das nationale Gebot.
17
Im Todesjahr Felix Mendelssohns beschwor der Literat Heinrich Laube in einer von
Konkurrrenzneid motivierten Polemik gegen Giacomo Meyerbeer und dessen
vermeintliche „Berliner Juden- und Cliquenwirtschaft“ eine Gefahr kultureller
„Überjudung“ Deutschlands herauf. Im Vorwort der Erstauflage seines auf der Bühne
erfolglos gebliebenen Dramas Sruensee argumentierte er folgendermassen:
"Ein fremdes Element dringt neuerer Zeit überall in unsere Bahnen, auch in die der
Literatur. Dies ist das jüdische Element. Ich nenne es mit Betonung ein fremdes; denn
die Juden sind eine von uns total verschiedene orientalische Nation heute noch, wie sie
es vor zweitausend Jahren waren (...). Ein solches Etwas des fremden Judentums liegt
hier vor und schiebt sich zudringlich in die deutsche literarische Welt, wie denn jeder
Schriftsteller (...) mit Leichtigkeit (...) nachweisen könnte und (...) nachweisen sollte,
da(ß) der Überdrang des jüdischen Moments bedenklich wird für unsere nationalen
Eigenschaften. Dies Etwas ist hier eine bereits tief verzweigte Maxime des Berliner
Judentums...aus diesem Elemente des... Berliner Judentums im besonderen stammt die
Taktik Herrn Meyerbeers.“
Die Parallelen zu der wenige Jahre später einsetzenden Debatte um eine vermeintliche
semitische Dominanz Mendelssonscher und Meyerbeerscher Kompositionen innerhalb
der deutschen Musik sind unübersehbar. Der Zeitgeist zunehmender Propaganda
nachhaltiger Entfernung „semitischer Elaborate“ aus dem kulturellen Kontext, der
Bereinigung desselben vom Fremdelement wohnt den Worten Laubes exemplarisch
inne.
Intermezzo I: Laß ihm auch den irdischen Lohn werden!
Wenige Stunden vor Mendelssohns Tod, schrieb Ignaz Moscheles am Morgen des 4.
November 1847 im Hause Mendelssohn folgende Zeilen und lässt uns somit an einem
meditativen Moment intimster, gleichwohl vergeblicher Betrachtungen teilnehmen:
"Dir, o Schöpfer, ist es bewußt, warum Du in dieser Seele des Gemüts angehäuft
hast, die die zarte Hülle seines Körpers nur eine beschränkte Zeit zu tragen fähig ist
(...). - Kann unser Flehen nicht diesen Menschen uns erhalten? - Dein Werk ist
vollbracht. (...) - Keiner ist Dir näher gekommen als er, für dessen Dasein wir zittern. Laß ihm auch den irdischen Lohn werden! Laß ihn die Liebe zu seiner Lebensgefährtin,
die Entwicklung seiner Kinder, die Bande der Freundschaft, die Verehrung der Welt
geniessen!"
3. Der grösste, lebende Komponist
Die New York Tribune vermeldete am 13. Dezember 1847 der musikinteressierten
Öffentlichkeit: "Am 4. November verschied Dr. Felix Mendelssohn Bartholdy – der
grösste lebende Komponist – in seinem 38. Lebensjahr;...Dieser vorzeitige Tod, der für
die ganze musikalische Welt ein nicht wieder gut zu machender Verlust ist, wurde durch
eine Gehirnerkrankung verursacht und ohne Zweifel durch schwere geistige Arbeit
herbeigeführt. Seit 1835 lebte er in Leipzig, wo er...ein so lebhaftes und vornehmes
Verhalten in sich vereinigte, daß er die Herzen aller gewann... Wahrlich – in ihm war ein
hervorragender Geist...“
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In jenen Zeiten war der Telegraph gerade erst erfunden, beschränkte sich dessen
Anwendung noch auf
Kurzstreckenverbindungen
von Landeshauptstädten.
Interkontinentale Informationen konnten also ausschliesslich auf dem Seewege
weitervermittelt werden; so nahm der Postweg London – Neu Dehli noch 30 Tage in
Anspruch. Somit zeugt die Veröffentlichung eines Nachrufes auf Felix Mendelssohn
Bartholdy in einem führenden amerikanischen Presseorgan, nur 5 Wochen nach dessen
Tode veröffentlicht, von der grossen Wertschätzung des Genannten auch in den
Städten der Neuen Welt.
Eigentümlich im Vergleich dazu bzw. geradezu medioker nahmen sich die Umstände
aus, unter welchen die Neue Zeitung für Musik ihre Leserschaft vom Tode des
Komponisten in Kenntnis setzte. Im Jahre 1835 von der Davidsbündlerschaft Robert
Schumanns in Leipzig gegründet, hatte sich diese über das Ausscheiden des Initiators
aus der Redaktion hinaus, zu einem führenden Organ des deutschen Musiklebens
entwickelt.
Die NZFM erschien aktualitätsnah etwa alle 4 Tage und wurde den deutschlandweit
zeichnenden Abonnenten über örtliche Buchhändler zugestellt. Obwohl örtlich
unmittelbar präsent, schwieg sich das Musikorgan über 2 Nummern – die Ausgaben Nr.
38 vom 8.11.1847 und 39 vom 11.11.1847 - hinweg über den Verlust eines
hochrangigen zeitgenössischen Tonschöpfers aus. Erst 11 Tage später, nunmehr in der
Ausgabe Nr. 40 vom 15.11.1847 vermeldete die NZFM den Tod Mendelssohn
Bartholdys unter Vermischtes.
Der etwa 1-spältige Artikel wird mit der lakonischen Verweis eingeleitet, daß ja: „der
grosse Verlust, den Leipzig und die Tonkunst der Gegenwart betroffen hat, ...schon
allgemein bekannt geworden“ sei. Ohne sich - in welcher Weise auch immer - ästhetisch
wertend auf das Lebenswerk des Verstorbenen einzulassen, erschöpft sich die Meldung
in
penibel
vorgenommener
Darstellung
der
Todesumstände
und
des
Leichenbegängnisses. Offenkundig am Gegenstande desinteressiert klingt der Artikel
folgendermassen aus: Was die Kunst an ihm verloren, das brauchen wir hier, die wir
ihm stets mit wahrhaftem Interesse gefolgt sind, nicht auseinanderzusetzen.“
Wenige Monate nach Mendelssohns Tode bereits nahm die Wertschätzung des
Komponisten unter den musikalisch gebildeten Bürgern Leipzigs rapide ab, schwand der
öffentliche Zuspruch an Darbietungen seiner Musik im Gewandhause nachweislich. Am
3. Februar 1848, zur Wiederkehr von Mendelssohns 39. Geburtstage, fand daselbst –
nunmehr unter Gades Leitung - die Leipziger Erstaufführung von Mendelssohns letztem
grossen vollendeten Vokalwerk, des Oratoriums "Elias" statt. In Birmimgham erlebte das
Werk am 26. August 1846 die Uraufführung unter begeisterter Anteilnahme von 2000
Zuhörern. Anders als in Gedächtniskonzerten des Werkes, welche dem
Gewandhausmemorial zeitgleich unter würdigeren Bedingungen in Berlin stattfanden,
stiess das Werk in der sächsischen Musikstadt auf vergleichsweise wenig Interesse und
Verständnis. Die örtliche Presse, ja bereits mehrfach im Benehmen hervorgetreten, eine
Abkehr öffentlicher Wertschätzung Mendelssohns herbeizuführen, nahm den Vorgang
sogleich als Bestätigung einer publizistisch konstatierter Überschätzung und
folgerichtiger allgemeiner Abkehr des Publikums vom ehemaligen musikalischen Idol
auf. Mendelssohns Freund, Weggenosse und Nachfolger in Konservatoriumsdiensten,
der Komponist Ignaz Moscheles berichtet darüber:
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"Das Konzert, zum Besten des Pensionsfonds gegeben, konnte sich
unbegreiflicherweise nur eines zwei Drittel gefüllten Saales rühmen, die ehrfurchtsvolle
Stille, mit der das Werk aufgenommen wurde, liess einige Blätter behaupten, das
Publikum sei nicht davon ergriffen gewesen. Die ganze Sache rief bei uns und einigen
Gleichgesinnten viel Entrüstung hervor".
Es ist schwer, die Ursachen des rapid vonstattengehenden, noch zu anderer
Gelegenheit ersichtlichen Desinteresses der Leipziger Bildungsbürgerschaft zu
raisonnieren, ohne gleichsam in Spekulation zu verfallen. Immerhin erwies dieselbe
dem Verstorbenen gerade 3 Monate zuvor beim Hochamt und Leichenzug noch zu
tausenden posthume Reverenz.
Hatte der zunehmend agressive Stil, welchen die NZFM im Bestreben dezidierter
Propaganda musikalischer Avantgarde an den Tag legte, das unter den Musikfreunden
Leipzigs vorherrschende Klima mittlerweile vollständig zugunsten aktueller deutscher
Komponisten wie Schumann, Liszt und Wagner beinflusst?
Diese wirkten seinerzeit ja alle dominant in einem, von den Musikzentren Dresden,
Leipzig und Weimar gebildeten, sächsischen Kulturgrossraum.
Angemerkt sei, daß, unausgesetzter persönlicher Bewunderung Mendelssohns durch
Schumann zum Trotze, in Mendelssohns letzten Lebensjahre die Beziehungen
zwischen den genannten, mehr noch: zwischen deren Anhängerschaften von
„Mendelssohnianern“ und „Schumannianern“ merklich abkühlten. Irritationen unter den
Schumannianern, welche um die Uraufführung der 2 C-Dur Symphonie herum
entstanden, teilweise von der presse gezielt lanciert wurde, konnten durch den Einsatz
Clara Schumanns und Cecile Mendelssohns ja noch bereinigt werden. Mendelssohn
wiederum erklärte ein halbes Jahr später unmissverständlich im Freundeskreis, daß er,
verbittert über nicht näher überlieferte, unerträgliche, abfällige Bemerkungen des
Kollegen, mit Schumann und seiner Musik endgültig nichts mehr zu schaffen haben
wünsche.
Hans von Bülow, von ihm an anderer Stelle mehr, kam im Jahre 1851 in dem Essay
"Das musikalische Leipzig in seinem Verhalten zu Richard Wagner" im Rückblick auf die
Wesensarten kulturellen Leipziger Lebens der späten 40ziger Jahre denn auch zu
folgendem unrühmlichen Ergebnis:
"Das musikalische Leipzig hatte sich indessen nach Mendelssohn´s Tode in
verschiedene Fraktionen gespalten. Schumann ward der Abgott der Einen und bestieg
den durch seines Vorgängers Tod erledigten Thron. Wir sind weit entfernt, dies nicht in
der Ordnung zu finden,; doch wurde diese Erhebung von einer mindestens sehr
überflüssigen Herabsetzung der Verdienste Mendelssohn´s begleitet., welche dem
Leipziger Lokalpartiotismus , der wie schon den periodisch Abwesenden (wir erinnern
an Gade) , in noch höherem Grade den auf immer Entfernten, den Todten, Unrecht
gibt."
Die im März des Jahres 1848 ausbrechenden Revolutionsunruhen bedingten möglicherweise die Abkehr eines Grossteils bildungsbürgerlicher Bevölkerungsschichten von
Überkommenem und deren Zuwendung zu radikalen Positionen auch in den Künsten.
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4. Antisemitismus
Die unmittelbaren Revolutionsjahre 1848/49 brachten erneut judenfeindliche Exzesse
hervor, welche von nahezu allen ins Revolutionsgeschehen eingebundenen
Gesellschaftsschichten ausgingen. So sind Plünderungen, Misshandlungen,
Enteignungen und Erpressungen aus den Deutschlanden Baden, Bayern, Hessen,
Württemberg, Schlesien und Westpreussen sowie den Städten Berlin, Köln und Wien
dokumentiert.
Ungeachtet des jeweiligen Standpunktes, wurden die Juden als verantwortlich für den
Ausbruch der Unruhen, die gesellschaftlichen Umwälzungen, das Gedeihen oder
Scheitern von Revolution und Demokratie betrachtet. Die Progressive beschuldigte die
Juden, als Grossbürger und Finanziers das Feudalsystem zu unterstützen oder als
Polizeiagenten und –spitzel einer Rothschild´schen Weltverschwörung zuzuarbeiten.
Die Konservative widerum sah die Revolution als Werk „rothe(r) jüdische(r) Wühlerei“
und der „Judenverschwörung an. Das Kleinbürgertum und die Landstände sahen die
Juden hingegen als revolutionäre Förderer und Urheber, bestrebt, der gemeinhin
verhassten staatsbürgerlichen Judenemanzipation endgültig zum Durchbruch zu
verhelfen. Das publizistische Zentrum des revolutionären Antisemitismus befand sich in
den Städten Wien und Berlin. Während die Agitatoren der in Berlin publizierten
judenfeindlichen Pamphlete einen vergleichsweise gemässigten Ton anschlugen, gaben
sich die Publizisten Wiens zunehmend einschlägigen rhetorischen Vernichtungsorgien
hin. Der Korrespondent Paul Eduard Müller-Tellering gelobte in der Broschüre: "Freiheit
und Juden", sich „wie jeder Volks- und Freiheitsmann“ über die „Mittel“ und den
„Zweck...Vernichtung des Judentums – in Österreich...ohne Schädeleinschlagen“ zu
bedenken und gemahnte des revolutionären Auftrags, das Deutschlands Freiheit nicht
nur den Sturz der 34 Throne“, sondern vielmehr die Beseitigung des Judentums
voraussetzte, denn: „die Tyrannei steckt im Gelde und das Geld gehört den Juden".
Flugblätter, wie jenes nachfolgend zitierte anonym publizierte oder letzteres von
„Schmidt“ autorisierte, suchten im Wien des Jahres 1848 hingegen, unmittelbaren
„Volkszorn gegen die Juden“ zu entfesseln. Der Anonymus prophezeite in "Die Juden,
wie sie waren, sind – und bleiben werden":
„Judenblut wird in Strömen fliessen“ und verdeutlichte den potentiellen Opfern, daß ihre
Hoffnung hinsichtlich „völliger Gleichstellung der Confessionen“ auf „Jahrhunderte weit
hinaus gerückt werden“ würde.
„Schmidt“
indessen
verstieg
sich
in
der
„Bittschrift“
unverhohlen
zu
Genozidvorstellungen: "Wenn das Christenvolk kein Christenthum und kein Geld mehr
hat", und beides durch eure unablässige Bemühung so gekommen ist, dann, ihr Juden!
lasst euch eiserne Schädel machen, mit den "beinernen" werdet ihr die Geschichte nicht
überleben!“
Das erste demokratisch konstituierte Parlament Deutschlands, welches in den Jahren
1848/49 in der Paulskirche in Frankfurt am Main zusammentrat, sah erklärte
Antisemiten wie den fanatischen Männerbündler und Chauvinisten Friedrich Ludwig
Jahn in den Reihen der Abgeordneten. Eine Flut antisemitscher Petitionen aller
Gesellschaftsschichten erreichte die Mitglieder der Frankfurter Nationalversammlung,
wurden von jenen zur Beratung oder Abstimmung gebracht.
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(In dem Essay 1848, Antisemitism and the Mendelssohn Reception zeichnet Donald
Mintz detailliert nach, das besagtes Revolutionsjahr 1848 auch die Bewertung Felix
Mendelssohns entscheidend in antisemitische Hemisphären vorantrieb. Eine
Auswertung des Essays durch die Cavallerotti e. V. steht noch aus.)
5. Das Judenthum in der Musik
Im Januar 1850 erkannte auch die musikalische Rezension Mendelssohns erstmals
dezidiert auf einen vermeintlich semitischen Aspekt in dessen Musik. Dr. Eduard Krüger
bemängelte in der "Neuen Berliner Musikzeitung" (NBMZ) in seiner Beurteilung der
aktuell herausgegebenen Drei Psalmen Op. 78, Nr. 6 posthum „sangreiche(n)
Weiberstimmen" welche in Mendelssohns Vokalwerk "rabbinisch belehrend unisonieren"
bzw. eine "in allen M´schen Werken wie eine Phrase hindurchziehende stumpfe
Rhytmik, die unwiderstehlich an die Naivität rabbinischer Rezitation erinnert" (NBMZ v.
2.1.1850). Der zeitgenössisch-musikalischen Resonanz der Psalmen und Oratorien
biblischen Charakters ungeachtet, spricht Krüger des weiteren Mendelssohn die
Berechtigung zu sakralem Schaffen generell ab. Die pauschale Herabsetzung der
Kirchenmusik Mendelssohns ging Meinungen zahlreicher Musikpublizisten jener Tage
konform. Diese erregten sich u. a. bereits über die „Judaisierung“ christlichen
Kulturgutes oder die Dreistigkeit der Autorisierung einer Reformationssymphony durch
den Enkel des ursprünglich ja Mausche-ni Dessau gerufenen Moses Mendelssohn.
Am 5. Februar des gleichen Jahres erschien in der NZfM der erste Beitrag polemischer
Auseinandersetzungen um Werk und musikalische Ästhetik des bedeutenden
zeitgenössischen Opernkomponisten Giacomo Meyerbeer. Für die Artikel, insgesamt
den neuesten grossen Bühnenerfolg des Komponisten "Der Prophet" thematisierend,
zeichnete stets der Musiker und Publizist Theodor Uhlig verantwortlich.
Hervorstechenstes Merkmal der partiell in Rezensionsform vorgebrachten Pamphlete ist
eine Begrifflichkeit, welche wenig darauf den Basiswortschatz jener, das Werk Felix
Mendelssohns als spezifisch jüdisch und somit pauschal wertloses Musikschaffen,
indizierenden Publizistik darstellte.
In dem genannten Beitrag "Der Prophet von Meyerbeer" verweist Uhlig in mehrdeutigen
Worten auf mögliche Ursachen vermeintlicher rhythmischer und harmonischer
"Eigenthümlichkeiten" in der Opernpartitur, deren "Ursache" er weder offenzulegen noch
anhand des vorgegebenen Material musikdramaturgisch zu verdeutlichen bereit ist.
"(...) Der Marsch nämlich, der sich sonst - wie sich von selbst versteht - in der schönsten
Symmetrie 4- und 2-tactiger Rhythmen fortbewegt, beginnt mit folgendem Fünfer: (es
folgt ein 5-taktiges Notenbeispiel vom Beginn des "Krönungsmarsches"
Der Demonstration eines Casus Lapsus folgt lediglich der Verweis auf eine kryptisch
anmutende Ursächlichkeit absonderlicher Meyerbeerscher Tonsprache:
22
"Ohne sich in eigene Untersuchungen über eine Erscheinung einzulassen, die wie jede
andere Ungewöhnlichkeit bei Meyerbeer zuverlässig eine tiefe Bedeutung hat, glaubte
der Beurtheiler den Nachahmern des alleinseligmachenden Operncomponisten das
vorliegende rhythmische Rätsel mit der naheliegenden Aufforderung zur Lösung nicht
vorenthalten zu dürfen."
Für sich genommen könnte das Beispiel als ironische Abstrafung angemuteter Wirrheit
im musikalischen Entwurf eines missliebigen Zeitgenossen gelten.
Im Zusammenhang mit den Folgeartikeln und ähnlichen, einmal mehr, einmal weniger
zweideutig vorgebrachten Charakterisierungen besehen, erschliesst sich angesichts von
Begriffen wie "tiefer Bedeutung", "Rätsel" und "Lösung" die Perfidität sublim
vorgenommener antisemitisch-dramaturgischer Steigerung in der publizistischen
Inszenierung eines fatalen Niederganges der Musik jüdischer Komponisten.
Im weiteren Verlaufe des Artikels verlagert sich das demonstrativ geäusserte
Unbehagen eines deutschen Rezensenten an der Musik Meyerbeers immer
offenkundiger auf eine Schiene amusikalischer Mediokrität. So mit dem ominös
vorgebrachten Hinweis auf eine "natürliche Erklärung" des monierten Sachverhaltes.
Im weiteren Verlaufe dieser Serie von Polemiken gegen Meyerbeers „Le Prophete“
verdichtete Uhlig in der NZFM sein Ressentiment gegen das Werk auf ein als das
zentrale Problem anzusehende Argument von „ Gesangsweisen...“ welche „...einem
guten Christen im besten Falle gesucht, übertrieben, unnatürlich raffiniert erscheinen“
und erkannte auf eine „...mit solchen Mitteln betriebenen Propaganda des hebräischen
Kunstgeschmacks“.
Er pauschalisiert des weiteren hinsichtlich „ (...) der Musik vieler jüdischer Komponisten“
welche „alle nichtjüdischen Musiker (...) mit Bezugnahme auf die allgemein bekannte
jüdische Sprechweise (...) als ein Gemauschele“ empfinden.
Hans von Bülow, in späteren Jahren ein Dirigent von Weltruf, begann den von
gravierenden Wechselwirkungen gezeichneten künstlerischen Lebensweg als
jugendlicher Musikrezensent Berliner und Leipziger Publikationen.
Nicht von ungefähr sekundierte er im gleichen Monat in der Berliner „Abendpost,
democratische Zeitung“ den Bestrebungen Krügers und Uhligs. Er übertraf dieselben
noch in einem signifikanten Akt entschiedenen vorgenommener publizistischer
Demontage des Komponisten Felix Mendelssohn .
In der Besprechung der „Zweiten Symphonischen Soirée der königl. Kapelle im Saale
der Singakademie“ vom 23. Februar 1850 ist also anlässlich einer Darbietung der ADur-Symphony zu lesen:
„Man hat Mendelssohn in seinem Leben überschätzt; keinem Künstler ist je alles so von
Statten gegangen; keiner hat je bei seinen Lebzeiten so viel Zeichen der Verehrung und
des Enthusiasmusses von allen Seiten erhalten (...) und er hat seinen Namen (Felix) im
Superlativ getragen. (...) Mendelssohn war kein Mann der Zukunft, er schuf für seine
Zeit, für die Gegenwart; (...) (er) hat nie dem herrschenden Modegeschmack
Concessionen gemacht, er hat ihn sogar geläutert und erhoben.
23
Mendelssohn war aber kein Genie, sondern nur ein ausserordentliches Talent, dem
Geschick und scharfer, praktischer Verstand, welches beides den Leuten seines
Stammes in hohem Grade eigen ist, bedeutend zu Hülfe kamen. Der Unterschied
zwischen Talent und Genie liegt (...) darin, daß (...) Talent stets bei seinem Auftreten
mehr Beifall und wirkliche Sympathie antreffen (wird), als das Genie, das zuweilen
abstösst und befremdet. (...)
Dafür ist aber dem Genie auch die Unsterblichkeit, d. h. die Popularität gewiss. Doch
diese Entwicklung würde uns zu weit führen, und wir wollen nur noch bemerken, daß die
genannte Symphonie von Mendelssohn (...) weniger Anklang im Publikum zu finden
vermochte, als wir ihr gewünscht hätten (...); im letzten Satze ist jenes neckische,
elfenhafte Element vorherrschend, in welchem die hauptsächlichste Originalität
Mendelssohns besteht."
Von Bülow komprimiert somit zweifelsohne kursierende zeitgenössische Vorurteile
gegen Erfolgsautoren, Privilegierte und Erfolgsjuden erstmalig zu einem analytisch
präzise umrissenen Bild des zur Kunst letztlich unberufenen, sich die Kunst lediglich
vermittels diverserer biographisch bedingter Privilegien anmassenden Compositeurs.
Er legt gleichsam in Teilen den Katalog einschlägiger, stereotyp referierter
Subjektivismen einer, in der Musikgeschichte wohl einzigartig bestehenden, rein
biografisch hergeleiteten, rhetorischen Zersetzung der Substanz und Intention von
Musik, der Musik Felix Mendelssohns vor. Weitere Publikationen, welche den Katalog
entwertender Mendelssohn-Invektiven abrundeten und vervollkommneten sollten
zeitnah folgen.
Da dieser Katalog sich über 150 Jahre hinweg bis in unsere Zeit hinein als wirksam
erweisen und in Publikationen jüngeren, stellenweise jüngsten Datums ihren
Niederschlag finden, seien hier die wesentlichen Stereotypen zusammengefasst: Felix
= Glück; lebenslanger Erfolg, einziger Siegeszug, lebenslange Sorgenlosigkeit, grosser
Reichtum des Vaters, familiäre Geborgenheit, allseits geliebt, Jude, musikalisch
empfindungslos und artfremd, Glätte, Kälte, perfektionistische Formelhaftigkeit,
mangelnde Dramatik und Verweichlichung, Sentimentalität in der Musik.
Das die Polemik Uhligs in der NZfM gegen eine vermeintlich vorherrschende
„musikalische Judenschule“ und „Judenmusik“ von Anbeginn auch eine Relativierung
der Musik Felix Mendelssohns intendierte, offenbarte sich wenig später. Uhlig
konstatierte, das das semitisch-musikalische Idiom sich durchaus in unterschiedlicher
Intensität artikuliere, „je nachdem in dieser Musik hier der Charakter des Edlen, dort des
Gemeinen überwiegt“ oder „Eigentümlichkeiten (...) der metrischen Gestaltung, (...) in
einzelnen melodischen Tonfällen der musikalischen Phrase (...) hier nur ganz wenig,
dort ganz auffallend (...), bei Mendelssohn sehr gelind, bei Meyerbeer dagegen in
höchster Schärfe, namentlich in seinen Hugenotten, nicht minder auch in seinem
Propheten“ zum Tragen kämen.
Die Rezension schliesst mit dem Verweis: „...Ebensowenig wie die Ihnen analogen
Sprechweisen (...) diese Tonweisen schön oder nur erträglich da finden zu können, wo
sie (...) ganz unmittelbar an das erinnern, was ich nicht anders, denn als „Judenschule“
zu bezeichnen weiss.“
24
Uhlig liess es nicht dabei bewenden, Felix Mendelssohn lediglich im Anhang einer
Diffamierung Giacomo Meyerbeers pauschal herabzusetzen. In einer Rezension der im
Jahre 1843 in Berlin uraufgeführten „Sommernachtstraum“-Schauspielmusik stellt er
bereits die dramatische Wirksamkeit und musikalische Qualität des Werkes dezidiert in
Frage: „(Mendelssohn) mutet dem Zuhörer nicht zu, aus einer Dichtung die
Hauptwesenheiten herauszulesen...Als Mendelssohn die übrige Musik zum
Sommernachtstraum noch nicht geschrieben hatte, wussten die kunstverständigen
Leute bloss für das eine Tonbild der Ouvertüre die allerdings naheliegende Erklärung
aufzufinden und gaben die Musik desselben für „Elfengeflüster aus. Der Komponist hat
diese Annahme später sanktioniert, zugleich aber auch gezeigt, was alles er in diesem
Tonstücke gewollt und – nicht gekonnt hat...“ (Th. Uhlig, Musikalische Schriften,
Regensburg 1913; da der Autor bereits im Jahre 1853 im Alter von nur 30 Jahren an
einer Lungenentzündung verstarb, handelt es sich wahrscheinlich um eine
zeitgenössische Rezension der Schauspielmusik).
Die Autoren Dr. Eduard Krüger, Theodor Uhlig und Hans von Bülow betätigten sich
neben der Erfüllung ihrer publizistischen Verpflichtungen in Berlin und Dresden in den
Jahren 1850ff auch massgeblich als Polemiker in der NZfM in Leipzig. Sie zeigten sich
somit dem Umkreis der Weimarer Liszt-„Schule“ und den daraus erwachsenden
Fanatismen zugehörig. Dies lässt folgende Vermutung als legitim erscheinen: Die
Publikation aggressiv oder verhalten antisemitisch agitierender Texte, zum Auftakt einer
Pressekampagne gegen herausragende
zeitgenössische Komponisten nahezu
zeitgleich in mehreren Städten und Presseorganen erfolgend, war womöglich das
Ergebnis einer konzertierten, auf Absprachen beruhenden Aktion.
Die Kampagne der NZfM gipfelte im September des Jahres 1850 schliesslich in der
Veröffentlichung eines halbwissenschaftlich aufbereiteten Aufsatzes, welcher die
bislang vereinzelt ausgestreuten Polemiken unter der Losung "Das Judenthum in der
Musik" zusammenfasste.
Der Name Karl Freigedank unterzeichnete diesen, der Name eines der damaligen
Öffentlichkeit bislang völlig unbekannten Autors freilich. Im Jahre 1869 sollte er sich als
Pseudonym eines aufstrebenden Musikers erweisen, welcher seinerzeit möglichem
Imageverlust vorzubeugen beabsichtigte.
Das Pamphlet verbreitet u. a. folgende Thesen:
1. Alle Kunst hat ihre besten und stärksten Wurzeln im Volkstum; die künstlerische
Leistung ist abhängig von der völkischen Verbundenheit des Künstlers.
2. Im Bemühen, sich in der harten, zischenden Sprechweise seines Volkes des Idioms
deutscher Sprache zu bedienen, könne der Jude als Fremder lediglich Abstossendes
und Lächerliches hervorbringen. Vollends unerträglich sei der Versuch im
Gesangsvortrag deutscher Sprache durch einen Juden. Der Artikulation im Idiom der
Landessprache nicht befähigt, habe sich der Jude somit der Frage zu stellen, ob er in
diesem Lande überhaupt kunstberechtigt sei.
25
3. Der Jude sei von unangenehm fremdartiger Erscheinung und erfülle daher den
Europäer mit instinktivem Widerwillen gegen das jüdische Wesen. Daher habe sich der
Jude, als Individuum sowie allgemeinhin seiner Gattung nach, als Objekt künstlerischer
Darstellung in Malerei, der Musik und auf der Bühne von jeher als ungeeignet erwiesen.
Wer es aber innerhalb der deutschen Kunst niemals zu objektiver Relevanz gebracht
habe; also der künstlerischen Darstellung enthoben blieb, dem könne man
diesbezüglich auch keine subjektive Einbindung zugestehen; ist also zu kompetenter
künstlerischer Betätigung nicht befähigt.
4. Der Jude suche sich vermittels Imitation in Kleidung, Bildung und Sprache der
abendländischen Kultur zu amalgamieren. Der wahren Identität dennoch stets
eingedenk, sei er somit von der nationalen Beseeligung des Gastlandes
ausgeschlossen. Daher seien ihm die Menschen des Gastlandes, auch im Versuch
künstlerischer Artikulation, emotional nicht erreichbar. Der Rückschluß auf formal
perfekte, aber von seelischer Kälte erfüllte Kopien der Muster nationaler Vorbilder läge
somit auf der Hand.
5. Der Jude habe niemals autonom Kunst betrieben, daher stünde dem jüdischen
Tonsetzer einzig das Idiom synagogaler Vokalisen zu Gebote. Dies habe sich
ursprünglichen Adels, Reinheit und Erhabenheit längst enthoben und sei auf den
Zeitgenossen nurmehr in allerwiderwärtigster Trübung überkommen. Daher bediene
sich der Jude bevorzugt jener Elemente musikalischer Diaspora, welche er dem
vertrauten Synagogenton missverständlich als verwandt erachte. Sich von jeher im
Oberflächenbereich abendländischer Musik bewegend, zur Unkenntnis innerster
Beseeligung des deutschen Kunstwesens nahezu verdammt, nähme der Jude gewisse
gefälligste Äusserlichkeiten der Musik als deren Wesen hin und versuche sich nunmehr
in vollendeter Kopie funkelnder Äusserlichkeiten des Originals. Die musikalischen
Reproduktionen aus der Hand des jüdischen Tonsetzers erschienen dem
abendländischen Hörer zweifelsohne fremdartig, kalt, gleichgültig, unnatürlich und
verdreht.
Der Autor beliess es natürlich nicht bei allgemeingefasster Darstellung des
heraufbeschworenen jüdisch-musikalischen Dilemmas. Er befleissigt sich vielmehr, es
am konkreten, fassbaren, naheliegenden „Objekt“ zu veranschaulichen. Daher lesen wir
am Ende des Traktates vom „Judenthum in der Musik" eine Einschätzung von Person
und Musik Felix Mendelssohns, welche sich als folgenschwer herausstellen sollte.
Hier im Wortlaut: “An welcher Erscheinung wird uns dies alles klarer, ja an welcher
konnten wir es einzig fast inne werden, als an den Werken eines Musikers jüdischer
Abkunft, der von der Natur mit einer spezifischen musikalischen Begabung ausgestattet
war, wie nur wenige Musiker (...) vor ihm? Alles, was sich bei der Erforschung unserer
Antipathie gegen jüdisches Wesen der Betrachtung darbot, (...) alle Unfähigkeit
desselben, ausserhalb unsres Bodens stehend, dennoch auf diesem Boden mit uns
verkehren (...) zu wollen, steigern sich zu einem völlig tragischen Konflikt in der Natur,
dem Leben und Kunstwirken des frühe verschiedenen Felix Mendelssohn-Bartholdy.
26
Dieser hat uns gezeigt, daß ein Jude von reichster spezifischer Talentfülle sein, die
feinste mannigfachste Bildung, das gesteigertste (...) Ehrgefühl besitzen kann, ohne es
(...) je ermöglichen zu können, auch nur ein einziges Mal die tiefe, Herz und Seele
ergreifende Wirkung auf uns hervorzubringen, welche wir (...) der Kunst (...) fähig
wissen, weil wir diese Wirkung zahllos oft empfunden haben, sobald ein Heros unserer
Kunst sozusagen nur den Mund auftat”.
Freigedank bemüht sich, eine naturgegebene musikalische Apathie des Juden
Mendelssohn aus dessen Werken, genauer, deren spezifischen musikalischen Idioms
heraus zu präzisieren. Er konstatiert daher gemeinverbindlich eine diffuse allgemeine
Empfindung von Oberflächlichkeit beim Anhören Mendelssohnscher, also dezidiert
"jüdischer" Werke und sucht dabei den Rückhalt analytischen Sachverstandes bei
"Kritikern vom Fach", ohne freilich solche konkreter benennen zu können:
"Kritikern von Fach, welche hierüber zu gleichem Bewusstsein mit uns gelangt sein
sollten, möge es überlassen sein, diese zweifellos gewisse Erscheinung aus den
Einzelheiten der Mendelssohnschen Kunstproduktion nachweislich zu bestätigen: uns
genüge es hier, zur Verdeutlichung unserer allgemeinen Empfindung uns zu
gegenwärtigen, daß beim Anhören eines Tonstückes dieses Komponisten wir uns nur
dann gefesselt fühlen konnten, wenn nichts anderes als unsre, mehr oder weniger nur
unterhaltungssüchtige Phantasie, durch Vorführung, Reihung, und Verschlingung der
feinsten, glättesten und kunstfertigsten Figuren, wie im wechselnden Farben- und
Formenreize des Kaleidoskopes, vorgeführt wurden , - nie aber da, wo diese Figuren die
Gestalt tiefer und markiger menschlicher Herzensempfindungen anzunehmen bestimmt
waren (...) Für diesen letzteren Fall hörte für Mendelssohn selbst alles formelle
Produktionsvermögen auf, weshalb er denn namentlich da, wo er sich, wie im
Oratorium, zum Drama anlässt, ganz offen nach jeder Einzelheit, welche diesem oder
jenem zum Stilmuster gewählten Vorgänger als individuell charakteristisches Merkmal
besonders zu eigen war, greifen musste. Bei diesem Verfahren ist es noch
bezeichnend, dass de Komponist für seine ausdrucksunfähige moderne Sprache
besonders unseren alten Meister Bach als nachzuahmendes Vorbild sich erwählte.“.
Nicht allein, daß Freigedank mit den Schlagworten "unterhaltungssüchtige Phantasie auf
Seiten des Publikums" sowie "Vorführung, Reihung von feinsten, glättesten und
kunstfertigsten Figuren zum Erlebnis eines Farb- und Formenreizes eines Kaleidoskops
vergleichbar" die Musik Mendelssohns und anderer Komponisten jüdischer
Abstammung unmissverständlich zu Elaboraten kunstgewerblicher Manufaktur
deklariert, ja dieselben quasi dem Bereich der Jahrmarktsattraktionen zuordnet. Im
Zusammenhang mit der im allgemeintheoretischen Part des Traktates getroffenen,
nachfolgend wiedergegebenen, Charakterisierung allgemeinjüdischer Kulturproduktion
betrachtet, legte Freigedank somit eine folgenschwere Systematik
negativer
Schlagworte vor. Diese schlugen sich vor allem in Begriffen wie perfektionistischer
Glätte, Kälte, seelenloser Formenhaftigkeit der vermeintlich in Kopie von Stil und
Kompositionsmustern nationaler Vorbilder entstandenen Werke, mangelnder
emotionaler Tiefe aber auch jenem übermässig trivialer Sentimentalität
mendelssohnscher Musik.
27
Diese sollte – wie sich noch erweisen wird - in schematischer und wortwörtlicher
Repetition die publizistische Rezeption des Gesamtbildes mendelssohnscher Musik bis
in die achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts dominieren. Die entsprechenden
Invekitve sind leicht erkenntlich: "Was so der Vornahme der Juden, Kunst zu machen,
entspricht, muss daher notwendig die Eigenschaft der Kälte, der Gleichgültigkeit, bis zur
Trivialität und Lächerlichkeit an sich haben".
Wulf Konold brachte das – kulturhistorisch wohl einzigartig dastehende – Phänomen im
Jahre 1984 mit der Einschätzung treffenst zu Punkte, daß die Rede vom Judenthum in
der Musik für einschlägig gesinnte Musikpublizisten, „aber auch Autoren, die den
Verdacht jeglichen Antisemitismus zu Recht von sich gewiesen hätten...eine Art
„Sprachregelung“ hinsichtlich musikgeschichtlicher Mendelssohnrezeption vorgab.
Als Resultat vorgeblich objektiv, detailliert vorgenommener analytischer Betrachtung der
semitischen Persönlichkeit und Musiksprache Mendelssohns referiert Freigedank seine
Erkenntnis auf vollständige künstlerische Impotenz des Komponisten; genauer, auf
konstant bestehenden Grenzen „alle(n) formelle(n) Produktionsvermögen(s)“ im
Mendelssohnsschen Oeuvre. Er trachtet, dem Hörer stets die Unfähigkeit des
Komponisten, literarisch-dramatischen Figuren „die Gestalt tiefer, menschlicher und
markiger menschlicher Herzensempfindungen“ zu verleihen, überdeutlich vor zu führen.
Freigedank definiert die, das Mendelssohnsche Werk prägende „ausdruckslose
moderne Sprache“ demzufolge als Resultat und zugleich Vorbild eines „neu-jüdischen
Systems. Dies sei, auf diese Eigenschaft (dramatischen Unvermögens, Anmk. d. Verf.)
Mendelssohnscher Musik, wie zur Rechtfertigung dieser künstlerischen Verkommenheit
entworfen worden. Freigedank stellt die „ausdruckslose moderne Sprache“
Mendelssohns in unmittelbaren Bezug zum nurmehr historizistisch zu rezipierenden
Formalismus des Bach´schen Musikidioms. Dies müsse zweifellos als „formell,
pedantisch“ empfunden werden und sei nur durch das übergrosse Genie Bachs „eben
erst zum Durchbruche“ zu „rein menschlichem Ausdruck“ hin gebracht worden.
Übergrossem musikalischen Genie also, welches einem Mendelssohn demzufolge
keinesfalls gegeben sei.
Die Konstatierung eines von Mendelssohn in den Bereich der deutschen Musik
implizierten und von seinen Nachfolgern perfektionierten „neu-jüdischen Systems“,
schliesst den Kreis zum ersten Teil Freigedankscher Allgemeinbetrachtung
„musikalischen Judentums.“
Dort war ja von verzerrter, oberflächlicher Wahrnehmung zeitgenössischen
Musikschaffens aufgrund fragentarisch im Bewusstsein verbliebenen Idioms der
Synagogenmusik, von Resultaten jüdischen Kopmponierens, welche „fremdartig, kalt,
sonderlich, gleichgültig, unnatürlich“ erscheinen, die „Eigenschaft der Kälte,
Gleichgültigkeit“ und „Trivialität“ aufweisen würden, die Rede.
Im Zusammenhang betrachtet, bedeutet die Konstatierung des, auf vermeintlich
vorväterlich überlieferter semitischer Unkenntnis und Unfähigkeit zur Artikulation im
Idiom europäischer Musiktraditionen beruhenden „neu-jüdischen Systems“ in der Musik
wohl schlichtweg folgendes:
28
Freigedank unterstellt Mendelssohn und seinen semitischen Mitstreitern Moscheles,
Joachim, David etc. die zielstrebige Zersetzung völkisch-kultureller Basis vermittels
„ausdruckslos“(er), also emotional kraftloser, musik-dramatisch uninspirierter „moderner
Sprache“. Also letztendlich den Versuch der, die Schwächung der Lebenskraft des
deutschen Volkes bedingenden Verseuchung kulturellen Erbes mit dem semitischen
Bazillus substanzieller künstlerischer Impotenz.
6. Ein antisemitischer Ekklektizist
Damit war das Thesenpapier eines auf der hochrangigen Ebene vermeintlicher
kulturwissenschaftlicher Erkenntnis rezipierten Antisemitismus gestellt. Genauere
Betrachtung freilich deckt auf, wie konstruiert sich der Thesengang Freigedanks
insgesamt darstellt. Wie stark er, en Detail besehen, auf mangelnde oder verdrängte
Sachkenntnis oder reine Spekulation verweisend, ex kathedra verkündeten, aber
unbelegten Behauptungen geschuldet ist.
Allein die Haupttheorie von der angeblich naturgegebenen Unfähigkeit des Juden zur
Kunst ist auch nach damaligem kulturwissenschaftlichen Kenntnisstand nicht haltbar.
Als Freigedank im Judentraktat dieselbe exponierte, fortentwickelte und ultimativ
festschrieb bewegte er sich vielmehr
– ob in Kenntnis der Vorgänger oder
unbeeinflusst, sei dahingestellt – in der Tradition berüchtigter antisemitischer
Demagogen. So behauptete der bereits genannte Hartwig von Hundt-Radowski im
"Judenspiegel" aus dem Jahre 1819 schlichtweg:
"Allein zu den schönen und bildenden Künsten, welche den Geist veredeln und das
Auge erfreuen, hat kein Mauschel Talent....Selbst schaffen können die Juden, als
Künstler vollends nichts, denn so stark auch ihre physische Zeugungskraft ist, so sehr
fehlt es ihnen an aller geistigen Schöpfungskraft. Als Gott sein herrliches Bild, den
Menschen schuf, wollte der Teufel ein Epigramm darauf machen, und fabrizierte einen
Juden. Die Kinder Israel können nur nachäffen und nachahmen, allein ihre
Nachäffungen sind, gleich Ihnen, gemeine widerliche Karikaturen.“
Auch Karl-Friedrich Grattenauer, von ihm an anderer Stelle noch ausführlicher die Rede,
erging sich bereits im Jahre 1803 in einer „Erklärung an das Publicum über meine
Schrift "Wider die Juden“ in Betrachtungen hinsichtlich Judentum und Kunst: „
Sind sie nicht in der Regel so wenig Produzenten als Künstler, und plündern sie
dennoch nicht beide durch ihren Handel und Wucher?“
Der kirchliche Publizist und Verleger Johann Gottfried Herder schliesslich erkannte im
Jahre zuvor in dem Essay "Bekehrung der Juden" in der "Anthologie Adrastea", Bd. 4,
Leipzig 1802 auf eine Diskrepanz zwischen jüdischer Existenz im Speziellen und
künstlerischer und ökonomischer Produktivität im allgemeinen:
„Wären sie Seehelden, Künstler, Landcolone; bei den Reichtümern, die sie
besassen...hätten sie längst etwas Ausserordentliches zu Stande gebracht, in Ländern
und Zeiten, wo sie nichts hinderte, in jeder Kunst die Ersten zu werden! Die Kunst, worin
sie die Ersten wurden, zeigen sie fortwährend.“
29
Die pauschal ausgegebene Behauptung kreativen und besonders musikalischen
Mangels des Judentums aufgrund originär tonloser jüdischer Sprechweise wiederum
findet sich bereits in Werken des 18. Jahrhunderts und Zeiten zuvor. Vor allem in einer
im Jahre 1788 von Johann Nikolaus Forkel in Leipzig herausgegebenen Allgemeinen
Musikgeschichte erlangte der Aspekt im Kapitel "Musik der (alttestamentarischen)
Hebräer" umfassende, abwertende Erörterung. Dennoch vergibt es sich der Autor
keineswegs, von der frühgeschichtlichen Mediokrität rituellen hebräischen Vokalisierens
zur adäquat unbefriedigenden Situation unmittelbarer Gegenwart des Jahres 1788
überzuleiten, wenn er schreibt:
"In den Synagogen selbst ist die heutige jüdische Musik nichts, als entweder ein
musikalisches Beten, welches in einerlei Ton entweder gleichsam gebrummt oder
gemurmelt wird, oder (wenn der Chor einfällt) ein fürchterliches Geschrei. Wenn diese
Art des Gesangs ein Überbleibsel aus alten Davidschen Zeiten ist, und sich bis auf uns
(...) fortgepflanzt hat, so muss es um die Musik der Hebräer eine erbärmliche Sache
gewesen sein".
Da Forkels Allgemeine Musikgeschichte musikalisch Professionellen auch in der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts als Standardwerk galt, Riemanns Lexikon der Tonkunst und
der Enzyklopädie "Musik in Geschichte und Gegenwart" in unseren Tagen vergleichbar,
könnte es möglicherweise, im Gegensatz zu den verstreut publizierten Schriften
politischer Antisemiten, der Recherche zum "Judenthum in der Musik" gedient haben.
Das von Herder, Grattenauer, Hundt-Radowsky und Karl Freigedank gleichlautend
gefällte Urteil gründet sich vornehmlich auf ein christlich-überhebliches Unvermögen,
sich mit der spezifischen Relation jüdischer Konfession und Kultur in der Diaspora zu
den musischen Künsten auseinanderzusetzten.
Oder besser gesagt: die Genannten überheben sich, im vollen Bewusstsein, die
Traditionen jüdischer Kultur nicht zu kennen und auch nicht zur Kenntnis nehmen zu
wollen, dennoch zu verallgemeinernder Abrede jüdischer Kreativität. Die überkommene
Relevanz jüdischer Musik zu Konfession und Ritus, das auch im arabischen Raum
bestehende Verbot der Abbildung menschlichen Konterfeis, die grosse Tradition im
literarischen Bereich der Mythen und Sagen, deren erstes und nachhaltigstes Werk
sicher bereits in der Vorlage des alten Testamentes zu definieren wäre. All diese
anthropologischen Faktoren blieben der christlich-chauvinistisch vorgenommenen
Analyse der Frage, dass das Judentum in der Diaspora zeitweilig keine Kunstwerke im
strenggefassten abendländischen Sinne hervorbrachte, schlichtweg aussen vor.
Im Rückblick auf eine nunmehr 200jährige Geschichte demagogischen Publizierens
gegen das Judentum in Politik, Kultur und bürgerlicher Gesellschaft offenbart sich eine
fatale Gepflogenheit, eine Tradition, welche allen diesen Demagogen gemeinsam ist,
deren Schrifttum wie ein Leitfaden durchzieht:
Vom Ressentiment gegen das jüdisch-fremde angeleitet, übernahmen die Autoren
pauschale
diffamiernde
Resumees
von
Vorgängerpublikationen,
gaben
anthropologische Theorien und vermeintliche historische Fakten bereitwillig und
ungeprüft wieder, wenn dieselben sich der eigenen inkriminierenden Sichtweise
einfügten.
30
Wie wir noch sehen werden, gaben zahlreiche Musikkundler des Wilhelminismus und
des 20. Jahrhunderts die rhetorischen Negationen Mendelssohn Bartholdys Hugo
Riemanns u. a. in wortwörtlicher Anlehnung wider, schrieben die Rassefanatiker und
Kulturwissenschaftler des Nationalsozialismus satzweise aus Freigedanks Pamphlet ab.
Damit stellt sich auch die Frage, ob die selbsternannten Experten des Fachgebiets
kultureller Traditionen innerhalb des Judentums, die beurteilte Materie jemals
authentisch erfuhren. Ob Forkel und Freigedank beispielsweise im Verlaufe eines
Synagogenbesuches den rituellen Kantus eigenständig erlebten oder sich
musiktheoretisch mit demselben auseinandersetzten. Die ersichtliche Häme
karikierender Darstellungen jüdischer Sprache und Gesangs lassen eher auf lustvoll
transportierte und überzeichnete Aversionen schliessen, welche sich seit Beginn der
Neuzeit längst im Bewusstsein deutscher Kultur und Lebensweise festgeschrieben
hatten.
Anbetrachts konkreter Vorleistungen Theodor Uhligs, Hans von Bülows und Dr. Krügers;
in Kenntnis rückwärtigen Katalogs antisemtischer Rhetorik, welcher sich dem Zeitgeist
der Jahre 1848 – 50 andiente; lässt sich nunmehr mit grosser Sicherheit annehmen:
Freigedank erwies sich auf dem Gebiete kulturanthropogischen Antisemitismus als
genau das, was er „dem Juden“ auf dem Gebiete der Kunst und vor allem der Musik per
se vorwarf. Als Ekklektizist!
Das Pamphlet vom „Judenthum in der Musik“ animierte widerum zu weiteren
einschlägigen Polemiken und verschärfter Propaganda von Kunst als nationaler Frage
und Ersatzreligion eines erstarkenden Ideals deutscher Vereinigung im Geiste Fichtes.
7. Eine exceptionell exclusive Menschen-Race
Dr. Krüger, der – aus dem Umfeld der NZfM in der Ära Robert Schumann
hervorgegangen - nunmehr als Pionier publizistisch-antisemitischer Analyse von
Mendelssohn´scher Musik gelten muss, liess Freigedanks "Judenthum" denn auch
"Gedankengänge über Judentümliches" folgen. Er begrüsste zu Anfang die
„wiedergewonnene Preßfreiheit, denn 1846-48 war es zwar sehr leicht, Schriften gegen
das Christentum (...) zu bringen, aber sehr schwer, ein offenes Wort über die Juden zu
sprechen.“ Er beklagt des weiteren, daß das deutsche Volk „den Eindringlingen nicht
wehrt, (...) Tagesgötzen bejubelt, die es selber verachtet (...) ihm (...) das Mark der Väter
verloren gegangen, vor dem die moderne Windbeutelei nicht bestanden hätte“. (NZfM
vom 1.10.1850)
Eduard Bernsdorf hingegen entlarvt am 15.10.1850 wiederum in der NZFM eklatante
Schwächen in Freigedanks analytischer Beweisführung und erhebt infolgedessen den
Vorwurf mangelnder anthropologischer Seriosität und der Demagogie.
31
„Der grosse Gelehrte Freigedank (...) spricht“ (Mendelssohn) „in der Tat künstlerische
Fähigkeit und Bildung nicht ab (...); aber die Wirkung, die unsere Kunstheroen auf ihn
hervorgebracht haben, hat er beim Anhören seiner Sachen nicht finden können (....) Wie
aber dieser Mangel an Wärme (...) mit seinem jüdischen Ursprunge im Zusammenhang
stehen soll, das hat uns der Verfasser durchaus nicht bewiesen. Er spricht...nicht über
den jüdischen Komponisten (...) bei ihm hat er nichts jargonierendes nachgewiesen, ihm
wirft er die Synagoge nicht vor, nur den Meister Bach...“
Schwerwiegender noch ist der am 25.1.1851 in der "Illustrierten Zeitung" (Leipzig)
erhobene Verweis des Musikers und Musiktheoretikers Johann Christian Lobe auf
einen wesentlichen protorassistischen Aspekt der in der NZfM begonnen Debatte:
„Daß die christliche Taufe dem Juden nichts hilft, zeigt Freigedank ja dadurch, daß er
Mendelssohn stets als einen Juden behandelt, der doch als Christ geboren, getauft,
erzogen und begraben worden ist.“ Judentum musste sich, Freigedank zufolge,
demnach letztendlich durch andere Aspekte als jenem „mosaischen" Bekenntnisses
definieren. Durch die geburtsmässige Zugehörigkeit zu einem fremden,
nichteuropäischen Volk oder vielmehr: geburtsmässige Zugehörigkeit zu einer fremden,
nichteuropäischen Rasse! Freigedank argumentiert dabei in der Tradition des Urhebers
der im frühen 19. Jahrhundert verkündeten Gewalt- und Vernichtungsmetaphorik, Karl
Wilhelm Friedrich Grattenauer.
Dieser publizierte bereits im Jahre 1791, also dem Beginn der germanomanischen
Kampagne Fichtes zeitlich konformgehend, Vertreibungsdemagogie in der Studie: "Über
die physische und moralische Verfassung der heutigen Juden, Stimme eines
Kosmopoliten, Germanien 1791". (Das Buch wurde in Leipzig verlegt.) Im Jahre 1803
konstatierte er in der Schrift: "Wider die Juden. Ein Wort der Warnung an alle unsere
christlichen Mitbürger" erstmalig: „Daß die Juden eine ganz besondere Menschen-Race
sind, kann von keinem Geschichtsforscher und Anthropologen bestritten werden.“
In unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft zum "Judenthum in der Musik" erörterte ein A.
Escherich "Die Judenemancipationsfrage vom naturhistorischen Standpunkte aus"
besehen in der renommierten "Deutsche(n) Vierteljahresschrift", Heft 4 von Oktober des
Jahres 1848. Auch Escherich kommt darin zu dem Schluss, daß „Die Juden...eine
exceptionelle Bevölkerung (bilden) und zwar nicht als (...) Varität einer bestimmten
Race, sondern mit exceptionellen, exclusiven Eigenschaften unter allen Racen. Und
diese auszeichnenden Eigenschaften sind (...) constant durch alle Jahrhunderte und
Klimate, charakterisieren...Stamm und (...) Individuum, (...) erstrecken sich auf die
Naturgeschichte dieses Volkes, (...) seine körperliche Gestalt, seine Fruchtbarkeit, (...)
seine Lebensdauer, (...) seinen geistigen und moralischen Charakter.“
Des weiteren stellt Escherich dann auch die Frage nach der künstlerischen Berufung
dieser "exceptionell exclusiven Race" im allgemeinen und besonderen.
32
Während die Juden üblicherweise als eifrige und geschickte Sammler und Ekklektizisten
in Erscheinung träten, welche sich des Fundus kulturellen Erbes des Abendlandes
zugunsten eigenen Elaborierens zielstrebig bedienten, sei Mendelssohn Bartholdy im
Besonderen als der bedeutendste Komponist des Jahrhunderts anzusehen. Allerdings
sei er als grosse Ausnahmerscheinung aufzufassen, sein Wirken hinsichtlich
mosaischen Irrens in künstlerischen Gefilden vollkommen atypisch.
Die von Freigedank zum Ausdruck gebrachte protorassistische Tendenz war bis dato
gemeinhin ungebräuchlich, die Pamphlete Grattenauers und Escherichs stellten
Ausnahmen in den von konfessionellen oder ökonomischen Standpunkten dominierten
antisemitischen Publikationen dar. Lobe interpretierte daher die Metapher von der
„Erlösung Ahasvers“ durch „den Untergang“ des "Juden" am Ende des Traktates "Das
Judenthum in der Musik" bereits ironisch als Aufforderung zum Judenmord:
„Also weg mit allen Juden. Wenn dann. (..) die Juden alle erschlagen vor uns liegen,
und wir übriggebliebenen Christen als triumphierende Mörder mit blutigen Fäusten
dastehen, dann sind wir wahrhafte Menschen und (...) „einig und untrennbar verbunden
– untereinander und mit den Juden.“
Im Juli 1851 resümiert der damalige Herausgeber der NZfM, Franz Brendel den „wahren
Sturm“ in der zeitgenössischen Medienwelt, welchen die Veröffentlichung der
Freigedank´schen Thesen in der hauseigenen Zeitschrift hervorgerufen habe.
Um den Ruf der NZfM scheinbar doch etwas besorgt, impliziert er der Publikation
nachträglich eine Relativierung bezüglich gebildeter und ungebildeter Juden; letztere vor
allem wären doch der Gegenstand freigedankschen Theoretisierens gewesen. Im Text
des „musikalischen Judenthums“ hingegen findet sich dafür allerdings keinerlei
Anhaltspunkt, da ausschließlich „der Jude“ veranschaulicht; von „den Juden“
gesprochen wird.
Obgleich sich die unmittelbaren publizistischen Reaktionen, welche das Pamphlet
hervorrief, Mitte des Jahres 1851 scheinbar legten, war die These gestreut. War die in
einer der renommiertesten Publikationen zeitgenössischen deutschen Kulturlebens
vertretene antisemitische Kulturtheorie nunmehr salonfähig, unter gebildeten Kreisen
diskussionswürdig.
So erkennt beispielsweise Wilhelm von Lentz, Beethovenkapaziät und Staatsrat des
russischen Zaren im Jahre 1852 auf ein „hebräisches Element, das in den Gedanken
Mendelssohns erkennbar ist, (das) ihn hindern wird, die ganze Welt ohne Unterschied
von Zeit und Ort zu erobern.“ Ferner rücken erneut „die psalmodierenden Gesänge der
Synagoge“ als „Typus, der in der Musik Mendelssohns nachklingt, wie in seinem
Denken der jüdische Geist eine Rolle spielt“ ins Zentrum von Betrachtungen. (v. Lentz,
Beethoven und seine 3 Stile, 1852, Kassel 1855).
Da der Traktat auch massiv kontroverse Reaktionen provozierte (vergl. Johann Christian
Lobe), verlegte sich die NZfM wieder vermehrt in die Unverbindlichkeit "objektiv"musikalisch betriebener Agitation gegen den Opernfürsten Giacomo Meyerbeer.
33
Nichts desto Trotz streute die Publikation auch in den Folgejahren unausgesetzt
Ressentiments gegen Felix Mendelssohn aus, so in den oftmals in lakonischen Tonfall
vorgenommenen Rezensionen der posthum veröffentlichten Werke.
Was beabsichtigten die Initiatoren einer lancierten öffentlichen Semitismus-Debatte im
Musikbereich? Es war ihnen um eine Verschiebung der realen Machtverhältnisse im
zeitgenössischen Musikbetrieb zu tun. Musikalische Avantgardisten suchten quasi auf
gewaltsamen Wege, mit publizistischen Mitteln, Einfluss innerhalb der musikalische
Hemisphäre zu erlangen. Was die avantgardistisch-musikalische Wortmeldung allein
nicht bewirkte, sollte schleichende Erschütterung des Fundamentes bewirken, auf
welchem das Ansehen der Erfolgsmusiker Felix Mendelssohn Bartholdy und Giacomo
Meyerbeer beruhten.
Die Synthetik in der Konzeption des, hinsichtlich Ursache und Wirkung vollendet
konstruierten, aber vor allem spekulativ untermauerten Medienunterfangens "Das
Judenthum in der Musik"; die Schizophrenie der auf Ebenen öffentlicher und intimer
Subjektivität vielfach aufgespalteten Urheber lässt ein Schreiben Freigedanks an Felix
Mendelssohn vom 6./7 .Juni des Jahres 1843 erkennen. Freigedank versichert sich
darin dem Komponisten gegenüber u. a. des Stolzes darüber: „...der gleichen Nation
anzugehören, die Sie und Ihren Paulus hervorgebracht hat.“
Meyerbeer, musikalisch im fernen Paris residierend, war den nihilistischen
Bestrebungen nahezu entzogen. In der zeitgenössischen Rezeption des vermeintlichen
Antipoden im eigenen, deutschen Bannkreis, schlug sich der publizistische Gewaltakt
hingegen nachhaltig nieder. Erheblich bestärkt durch ein diffuses Klima feudaler
Restauration, postrevolutionär germanomanischen Einheitsfanatismus und traditionell
kultiviertem Antisemitismus einer Generation opportunistisch-neokonservativer
Leistungseliten aus dem Umfeld ehedem jungdeutscher Männerbünde. Das
europäische Ausland kommentierte befremdet. So resümiert der englische Kritiker
Henry Fothergill Chorley im Jahre 1853 - also bereits sechs Jahre nach Mendelssohns
Tod:
”Traurig, aber wahr ist's dennoch, daß seine Landsleute ihrer Reputation für Ehrlichkeit,
Treue und Verehrung von Genie und Tugend keine Ehre gemacht haben; denn in der
Zwischenzeit haben sie ihre Haltung (...) geändert, einem Mann gegenüber, den sie zu
seinen Lebzeiten geehrt und umschmeichelt hatten....”
8. Von der Neudeutschen Schule
“Zum einen ist das Mendelssohn-Bild...geprägt durch eine Bewertung, deren Basis nicht
kompositionstechnische Einwände gegen seine Musik oder sich wandelnder
Geschmack ausmachen, sondern in der der musikalische Parteienstreit der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts mit mehr oder weniger verhüllt vorgetragenen
antisemitischen Vorurteilen vermengt ist. (...)
34
Eine Aufarbeitung der Mendelssohn Rezeption hat zugleich eine quasi aufklärerische
Aufgabe: zu zeigen, wie sehr sich (...), knapp vierzig Jahre nach dem Ende des Dritten
Reiches, in dem die schon zuvor betriebene Verteufelung Mendelssohns ihren
Höhepunkt fand, die Urteile auf sachfremde “Argumente” stützen” schreibt Wulf Konold
in seiner Studie "Felix Mendelssohn und seine Zeit" aus dem Jahre 1984.
Was heisst das im Einzelnen:
Das Werk Mendelssohns verfiel einer eklatanten musikalischen Fehde, die sich ab 1850
zwischen
"Neudeutschen Musikern" und
"Traditionalisten" entwickelte. Die
"Neudeutschen Musiker", welche sich in Weimar um die Komponisten Franz Liszt und
Richard Wagner sammelten, forderten die Radikalität des musikalischen Ausdrucks
entgegen formalistisch akademischen Beschränkungen ein. Die "Traditionalisten" um
Robert Schumann und Johannes Brahms, propagierten hingegen die Bewahrung, aber
stetige Reformierung überkommener musikalischer Formen von Symphonie, Quartett,
Oratorium etc.
Unter Federführung des Musikkritikers und Redakteurs Franz Brendel - dieser
übernahm im Jahre 1845 die Redaktion der renommierten "Neue Zeitung für Musik" von
Robert Schumann - zog ein chauvinistischer Geist in das bislang unabhängige Organ
imaginärer Davidsbündler ein.
Während sich Schumann als Musikpublizist auf die Erörterung musiktheoretischer
Fakten beschränkte, ohne die ästhetische Reserviertheit gegenüber Kompositionen der
"Neudeutschen" zu verhehlen und Mendelssohn es generell ablehnte, sich Presse
zunutze zu machen, öffnete Brendel die Musikzeitung führenden Polemikern wie
Freigedank, Theodor Uhlig, Hans von Bülow und Felix Draeseke.
In einem Editorial, zum Ende des Jahrgangs 1852 verfasst, verlieh Brendel dem Ziel,
welchem sich die "NZfM" fürderhin gänzlich widmen sollte, unmissverständlich
Ausdruck: "Diese Blätter haben fortan die Aufgabe, die Umgestaltung, welche der Kunst
bevorsteht, nach allen Seiten entschieden zu vertreten.“ (...)
Theodor Uhlig, geboren im Jahre 1821, wirkte ursprünglich als Violinist im Dresdner
Hofopernoerchester. Dort machte er die Bekanntschaft mit dem von Februar des Jahres
1844 – bis Mai 1849 als Dresdner Hofkapellmeister agierenden Richard Wagner,
dessen Intimus er vor allem in den Jahren nach 1849 wurde. In der Zeit des Schweizer
Exils des in die Dresdner Maiaufstände verwickelten Komponisten war Uhlig somit ein
wertvoller Kontaktmann Richard Wagners zu den Musikzentren Dresden, Leipzig und
Weimar. Da Uhlig fest in den Freundes- und Wirkungskreis des Hofoperndiregenten
Wagner eingebunden war, trat er ab 1849/ 50, neben Franz Liszt und Hans von Bülow,
verstärkt als Publizist und Propagandist Wagners und der "Neudeutsche" hervor.
Herausgeber Franz Brendel, geboren im Jahre 1811, gestorben im Jahre 1868, war von
Hause aus Philosoph und widmete sich erst ab 1840 musikalischen und
musiktheoretischen Fragen. Als nahezu fanatischer Verfechter der Prinzipien
musikalischer Fortentwicklung und Moderne, erhob er den obligaten Verzicht auf die
Errungenschaften der Barockzeit, der Klassik oder Romantik eines Mendelssohn oder
Schumann zum Dogma.
35
Er ernannte, der Funktion eines Chefideologen der Neudeutschen Schule entsprechend,
die „romantischen Realisten“ (Robert Gutman) Franz Liszt, Hector Berlioz und Richard
Wagner zu deren Leitfiguren. Brendel übertraf somit die progressiven Forderungen
Schumanns und der in den Jahren 1833 bis 1844 versammelten "Davidsbündler" bei
weitem. Diese agitierten seinerzeit vordringlich gegen die Seichtigkeit musikalischer
Tagesware und die Schludrigkeit eines Konzertbetriebes, der vor allem planlos
zusammen gestellte Potpourri-Konzerte nach dem Prinzip des Prima-Vista-Musizierens
hervorbrachte. Die von Brendel 1859 im Verlaufe einer Tonkünstlerversammlung im
Leipziger Schützenhof initiierte Gründung einer "Neudeutsche Schule" verhalf dem
Musiknihilismus schliesslich zu bedeutsamem institutionellen Rang.
9. Von der musikalischen Wahrheit
Der Musikwissenschaftler und Publizist Adolph Bernhard Marx wiederum agitierte im
Zeichen einer schwerlich zu fassenden musikalischen “Wahrheit” nachhaltig gegen
“Verweichlicher” der Musik, ”Nachbildner” und ” unwahre Komponisten”. Marx war seit
dem Jahre 1830 als Dozent für Musikgeschichte an der Universität Berlin und später als
Herausgeber der "Berliner Allgemeinen Musikalischen Zeitung" tätig, in welcher Dr.
Eduard Krüger im Jahre 1850 die Kampagne dezidiert antisemitisch intendierter
Musikrezeption eröffnete. Marx war einstmals ein enger Jugendfreund Felix
Mendelssohns mit eigener, aber glücklos verbleibender kompositorischer Ambition. Da
Marx sich dem Komponisten durch eine zunehmend abstrahierend musikphilosophische
anstelle angewandter Beschäftigung mit der Tonkunst entfremdete; diesen des Weiteren
um Geld und musikalische Protektion bedrängte, zerbrach die Freundschaft im Jahre
1839. Marx vernichtete daraufhin die gesamte in seinem Besitz befindliche
Mendelssohn-Korrespondenz. Inwiefern sich eine etwa 10 Jahre später massiv
bezogene Position des „nachkantischen Ästheten“ (Werner) gegen das Oeuvre Felix
Mendelssohns auch der enttäuschten Freundschaft verdankt, ist nicht geklärt.
In Publikationen wie "Die Musik des 19. Jahrhunderts", im Jahre 1855 in Leipzig
herausgegeben, stellte Marx Mendelssohn nun als Prototyp solcherart „Verweichlicher“
etc. der Musik heraus. In genannter Musikgeschichte konstatiert Marx u. a. das diesem:
„(...) die eigentliche Macht und Höhe des Dramas nicht gegeben (...); ja, seinem
feinzurückhaltenden, mehr anempfindenden als ursprünglich schöpferischen Wesen im
Grunde widersprechend (war.) Er führt weiterhin aus, daß – „im wahren Gegensatze“
zum Genie ein Talent wie Mendelssohn „den (meist beglücktern) Beruf (habe),
auszubilden und nachzubilden, auch einseitig zu verbessern und zu verschönen oder
annehmlicher zu Machen, (also) den dämonisch hochaufgerichteten Gedanken des
Genius mit der Schwäche und Furcht der Welt durch vermittelnde Zwischengestalten,
die Nachbildungen sind, auszugleichen.“ . Folgerichtig réussiere Mendelssohn
vornehmlich im "glücklichen Salonwort" der "Lieder ohne Worte", in dem "ein
mädchenhafter Hang (...) jedes kleine Gefühlchen" musikalisch transponiere.
Auch hier wird ein später so folgewirksamer Titanen- & Heroenanspruch an Kunst
bedeutungsvoll vorformuliert. Freigedank spekulierte in seinen Ausführungen
schlichtweg auf diesen Anspruch und Mendelssohns naturgegebene Unfähigkeit,
demselben gerecht werden zu können.
36
Marx indessen versucht, keineswegs frei von polemisierendem Tonfall, den seinerseits
vorgenommenen Abgleich von heroischem Anspruch und konkreter musikalischer
Wirklichkeit zu Mendelssohns Ungunsten, ästhetisch und psychologisch, also
wissenschaftlich methodisch nachzuweisen. Marx muss also als Autor einer
Mendelssohn-Demagogie von musikwissenschaftlich-spätromantischem Gesichtspunkte
aus gelten. Diese sollte sich spätestens Mitte der 60ziger Jahre bis zur Unkenntlichkeit
der einzelnen Komponenten mit der dezidiert antisemitisch intendierten MendelssohnRezeption der Neudeutschen vermengen. Das der erste Protagonist letztgenannter
Argumentationsweise, Dr. Krüger, ein Autor der von Marx editierten Berliner
Allgemeinen musikalischen Zeitung war, ist dabei ein Detail von Interesse und
Pikanterie.
Des weiteren gibt Marx den Stereotyp des schwächlichen, feinnervigen, emotional
übereregbaren Musikers vor, welchen zahllose Musikhistoriker und Publizisten bis in die
80ziger Jahre des 20. Jahrhunderts als verfestigtes Klischee kolportieren sollten.
Die Erkenntnis vom Drama, welches nicht in erster Linie für Mendelssohns Schaffen
prägend war, ist faktisch korrekt, verkennt aber vollständig die Motivation dieser
Zurückhaltung dramatisch-musikalischen Affekt gegenüber. Während Marx die Gründe
in der vermeintlich schwächlichen Ausprägung des Charakters und der Unfähigkeit
dramatischen Empfindens sucht, stand Mendelssohn in Wahrheit der dramatischen
Entäusserung in der Kunst mit ästhetischem Vorbehalt gegenüber. Mendelssohn war
durch die strenge, stetig zu Fleiss, Pflichterfüllung, sittlicher Läuterung und Contenance
anhaltende Erziehung im Elternhause vollständig vom verinnerlichten und dem grossen
Vorbilde Johann Wolfgang von Goethe vorgebenen humanistisch-klassizistischen Ideal
menschlicher und gesellschaftlicher Erhebung durch erhellendes, läuterndes kulturelles
Gut durchdrungen,
Dies liess Mendelssohn die Komposition von Erregtheit, dramatischer Entäusserung,
romantischer Zerissenheit, Nachtseiten der Seele und expliziter emotionaler Abgründe
letztendlich suspekt, möglicherweise unanständig erscheinen. Dramatik vollzieht sich in
Mendelssohns Kompositionen stets anschaulich, wenn das, ethischen Belangen
verpflichtete musikalische Sujet seinerseits einen dramatischen Verlauf nimmt, wie im
altestamentarischen Epos "Elias" vorliegend. Gleichsam regte das Erlebnis der
Naturgewalten, geschichtlicher Orte und Augenblicke wie im Falle Schottlands und der
gleichnamigen Symphony; oder diese der Dichtung und dem Volksmärchen implizite,
welcher wir beispielsweise die Ouvertüre von der Schönen Melusine verdanken
Mendelssohn zu hochrangiger dramatisch-musikalischen Äusserungen an. Andererseits
liess Mendelssohn einer dramatischen Entwicklung freien Lauf, wenn sich das
musikalische Material absolut aufgefasster Kompositionen in der Durchführung zu
höchster formaler und emotionaler Binnenspannung verdichtete. Diese vollzieht sich
dann allerdings aus Momenten höchster geistiger und musikalischer Konzentration und
ist oftmals - vorausgesetzt, Meisterdirigenten und Pianisten vermochten es, dem hohen
musikalischen Gehalt Mendelssohnscher Werke vollends zu entsprechen - daher in
ihrer Spannung fast nicht erträglich.
Man mag diese humanistische Haltung zu Fragen der Musik und der Kunst , den ideal
verstandenen Anspruch ästhetischer Zucht und Selbstzucht teilen und kultivieren. Man
mag ihn subjektiv ablehnen und andere Ansprüche und Erfahrungen innerhalb der
vielfältigen Möglichkeiten musikalischer Artikulation nachgehen.
37
Mendelssohns Auffassung vom Ziel musikalischen Wirkens ist zweifellos genauso wenig
„wahr“, wie es die von den "Neudeutschen" erstrebte Symbiose von Musik und Drama
oder die spezielle absolute musikalische Wahrheit Bernhard Adolph Marx jemals war
und ist. Als intimer Jugendfreund noch aus den Tagen der bei Carl Friedrich Zelter
genossenen Singschule trug Marx mit dramaturgischem Rat massgeblich zur
Konzeption der als genial apostrophierten "Sommernachtstraum"-Ouvertüre bei. Im
Gegensatze zu manch nachgeborenem, inkognito urteilendem Kollegen, hätte er
zumindest die authentischen Ursachen einer spezifisch Mendelssohnschen Verhaltung
gegenüber einer Relation von Musik und Drama besser kennen müssen.
Eine bemerkenswerte Abhandlung der Problematik adäquater MendelssohnNachbereitung vollzog die „Berliner Feuerspritze“ im Jahre 1855 in ihrer Rezension vom
12. November einer Festaufführung des Oratoriums „Elias“, welche der Stern´sche
Gesangverein Berlin Mendelssohn zum Gedenken ausrichtete. Hans von Bülow
zeichnet widerum als Verfasser. Kunstfertig entledigte er sich dabei einer offenkundig
ungeliebten Aufgabe in einzigartig glückreichem Vollzug des Paradoxons einer
Quadratur des Kreises. Genauer: der repräsentativen Würdigung eines Komponisten
und seines Werkes zu akklamieren und des weiteren den Anlass zur Herabsetzung
des musikästhetischen Spektrums aus der Neudeutschen Sicht einer Musikdramatiker Partei desselben zu missbrauchen.
"Die Tonkunst sollte ihren eigenen Festtagskalender haben. Die schöne und würdige
Feier. welche der Stern´sche Gesangverein dem Gedächtnisse Felix Mendelssohn´s
und sich selbst zu Ehren durch die Aufführung des "Elias" am 8. November
veranstaltete, erweckt den Wunsch, auch andere grosse Tondichter der Vergangenheit
in ähnlicher Weise gefeiert zu sehen. Merkwürdig, dass sogar ein Institut, dem der
genannte Meister, oder vielmehr sehr bewusst absichtlich sich ferne hielt, dass das
Königl. Opernhaus durch eine Vorstellung des "Sommernachtstraumes" einer solennen
Anspielung ganz ausnahmsweise sich - unschuldig machte. Es war kein Zufall, Dass
Felix Mendelssohn in seines Genius` Irrtum von diesem durch den Tod entrissen wurde,
als er dem - Irrtum der modernen "Oper" sich zuzuwenden begriffen war. Was hätte
Mendelssohn, - von dessen specifisch musikalischer Begabung auch der Gegner
zugeben muss, dass er der nächste ist nach Mozart, - in dem musikalischen Drama
Vollendeteres leisten können, als Mozart im "Don Juan" schon geleistet? Einem
solchen, immerhin nur genialen Reproduzieren würde aber eine ästhetisch-historische
Berechtigung im höheren Sinne gefehlt haben".
Schliesslich begibt sich von Bülow gar in die Rolle des Propheten und verkündet dem
zeitgenössischen Auditorium in allwissender Vorrausschau, das auch ein in den Jahren
gereifter Komponisten niemals
substanzielles, dem Anspruch neudeutschen
„Fortschrittsprinzips“ gemässes , zu vollbringen fähig gewesen wäre:
"Diese flüchtige Andeutung soll nur der in der posthumen Verehrerschaft des grossen
Musikers ziemlich verbreiteten sentimentalen Ansicht entgegen, als ob Mendelssohn,
wenn ihn nicht ein frühes Ende erreicht, noch Höheres, Unvergänglicheres geleistet
haben würde, als wir von ihm besitzen. Diese Ansicht steht auf einer Stufe mit der
bekannten Aufgabe, welche ein Pensionsvorsteher seinen Zöglingen stellte: "würde
Egmont Klärchen geheiratet haben, falls er nicht hingerichtet worden wäre?"
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Wir glauben dem Genius weit freier und begeisterter zu huldigen, wenn wir
aussprechen: "Der Elias ist das den hohen Geist seines Schöpfers am umfassensten
und resümierendsten darlegende Werk, in welchem er seine Mission erfüllt und
vollendet hat".
Zunehmende
Öffentlichkeitswirksamkeit
und
Publikumserfolge
der
Werke
"neudeutscher" Tonsprache (vor allem der Bühnenwerke Richard Wagners und der
Oratorien und symphonische Rhapsodien Liszts) bewogen die Ideologen der
"Neudeutschen Schule", ihren Kreuzzug gegen alles dem Fortschrittsprinzip vermeintlich
im Wege stehende zu verschärfen. Nachdem man Felix Mendelssohn als vormalige
Leitfigur bekämpfter traditionalitischer Ästhetik plangemäss „erledigt“ hatte und
Meyerbeers Bühnenwerke sich bis auf weiteres resistent gegen das Unterfangen
rhetorischer Unterhöhlung erwies, rückten nun die „konservativen“ Romantiker Robert
Schumann und Johannes Brahms ins Blickfeld neudeutschen Interesses. Mitte der
50ziger Jahre des 19. Jahrhunderts bemühte man sich intensiv, Schumann der
Neudeutschen Idee einzuverleiben; ja ihn neben Opernreformer Richard Wagner
gleichsam zu einer neudeutschen Leitfigur des symphonischen Sektors aufzubauen.
Hans von Bülow stellte Schumann im November 1853 noch ganz selbstverständlich als
Repräsentanten einer „neuen(n) romantischen Schule“ Wagner und Berlioz gleich
(NZfM 11/12/1853), Franz Liszt propagierte von Weimar aus dessen Vorkämpfertum
„musikalischen Fortschritts“. Im Jahre 1860 richtete die Neudeutsche Schule ein
Schumann-Fest in Zwickau aus.
Clara Schumann, im Vernehmen, es mit einer Propagandaveranstaltung zu tun zu
haben, auf der das Angedenken Ihres Mannes zu ideologischen Zwecken missbraucht
würde, lehnte eine Teilnahme als Pianistin und Ehrengast ab.
„Ich kann doch nicht dahin gehen, um ein solches Fest mit den Menschen zu begehen,
die ich aus tiefster Seele (als Musiker) verachte“. Joseph Joachim bestärkte sie in dem
Entschluss, indem er ihr eindringlich mögliche publizistische Folgewirkungen einer
Teilnahme der Witwe Schumanns vor Augen hielt. Er gemahnte, es könne im
Nachhinein als Beweis dessen herangeführt werden, „dass Schumann mit den neuesten
Fortschritten zur Unmusik gemeinsame Sache gemacht habe".
Nachdem Reflektionen der Neudeutschen auf Robert Schumann im Jahre 1860 im Eklat
endeten, schlug die publizistische Stimmung seitens der "Neudeutschen" schlagartig
um. Führende Repräsentanten der Schule wie Hans von Bülow und Felix Draeseke
bedachten das musikalische Angedenken Schumanns mit offenkundiger Häme.
Es überrascht wohl kaum noch, daß die biographische und musikalische Relevanz zu
Person und Werk Felix Mendelssohns als Leitfaden und Begründung musikalischer
Mittelmässigkeit des Schumann´schen Oeuvres herangeführt wurde. Bereits im Jahre
1856 schloss ein im Berliner Echo veröffentlichter Nachruf, daß mit dem Tode Robert
Schumanns ein „Ausläufer der Mendelssohn´schen Richtung“ zum Ende gelangt sei.
„Vorwiegend Ekklektiker und scharf kritisch sichtender Verstandesmensch, konnte man
ihn mit Recht den musikalischen Lessing nennen.“ resümiert der Nekrolog des weiteren.
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Geflügelte Worte brachte die neudeutsche Publizistik in die Schumann-Rezeption ein.
So verdankt dieselbe Felix Draeseke jenes vielstrapazierte: „Schumann hat als Genie
angefangen und als Talent aufgehört.“ Hans von Bülow wiederum prägte die signifikante
Metapher des Felixschülers Robert Schumann heraus und streicht somit den von Felix
Mendelssohn ausgeübten Einfluss vermeintlicher klassizistischer Stagnation hervor, in
dessen Leipziger Fangstricken sich Schumann zeitlebens verfangen habe, schlimmer
noch: welcher Schumann „verdorben“ habe. Bülow konstatierte im Jahre 1860 also
resignativ: „War der Mensch genial, bevor er bei Felix in die Schule ging, Leipziger
Kaufleute zu hüten.
Des Weiteren geisselte von Bülow die „Schumann´sche Intervallheulerei“ als
unerträglich und verkündete demonstrativ, jedwede „Halbdillettantenmusik lieber als
eine Schmann´sche Symphonie (aufzuführen), deren blosse Lektüre ihm eine Tortur
(sei)“. Bülow kündigte des weiteren einen grossen Schlag, die Veröffentlichung einer
Broschüre an, welche die gegen Berlioz agitierende „Instrumentationsleeere“ der
verhassten Schumannianer-Partei ins Lächerliche ziehen und daher „die Form einer
kleinen Handgranate“ erhalten solle. Walter Dahms zufolge, liess sich Hans von Bülow,
seinem Vorbild Richard Wagner dabei nicht unähnlich, von emotionalen Wallungen
oftmals zu Pauschalmeinungen hinreissen. Und nur so erklären sich Aussagen und
Zeugnisse, welche sich in Bewunderung und Zuneigung einerseits, scharfer Ablehnung
und Diffamie andererseits zeitweilig vollständig widersprechen. Was einmal in Zynismus
und Häme abgetan, findet zu anderer Gelegenheit widerum zu Worten warmherziger
Verehrung.
Neben den Faust und Genoveva–Kompositionen Robert Schumanns, sowie dessen
frühen Klavierwerken beispielsweise Musik und Wirken Felix Mendelssohns!
Man kann sagen, daß sich im Falle Robert Schumanns eine rezeptionsgeschichtliche
Entwicklung anbahnte, welche derjenigen Felix Mendelssohns zeitweilig ähnelte.
Nicht in der gleichen Intensität und Nachhaltigkeit; da der entscheidende Aspekt
fremdenfeindlichen Ressentiments im Falle Schumanns nicht zur Verfügung stand.
Dennoch prägten sich in jener Zeit Fehlrezeptionen seines Werkes heraus, welche sich
im musikalischen Bewusstsein und musikgeschichtlich allgemeingültig verfestigten und
noch heute um Schumanns Oeuvre herum irrlichtern. In der Hauptsache prägte sich
seinerzeit das unsinnige, spekulative Argument heraus, dieser „habe nicht
instrumentieren können“, die Symphonien „seien schlecht, intransparent und zählebig
instrumentiert“. Überhaupt habe Schumann ja am originärsten fürs Piano geschrieben,
habe sich dem symphonischen Satz vom Pianistischen her genähert und für die
Symphonik kein rechtes Empfinden aufgebracht.
Diese Stereotypisierungen fanden zu einiger musiktheoretischer Erörterung, an
Versuchen, die Symphonien durch nachträgliche Retuschen (Mahler) zu „korrigieren“
und somit für das Repertoire zu „retten“, fehlte es nicht. Angesichts synonymer Abfolge
rezeptionsgeschichtlicher, Parallelitäten, von Intention und Argumentation, Ursache und
Wirkung traditionalistischer Musiker wie Mendelssohn und Schumann, stellt sich nun die
Frage, warum es das Werk des einen zu „retten“ galt, während dasselbe des anderen
brachlag. Die Gründe dafür dürften wohl kaum im Bereich des Musikalischen zu suchen
sein!
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Dennoch waren die Anhänger traditionalistischer Ästhetik den Umtrieben aggressiv
neudeutscher Rhetorik keineswegs gänzlich rückhaltlos ausgesetzt. Neben den
genannten Schumanninaern um Joseph Joachim, Clara Schumann und dem Publizisten
Herrmann Grimm verfügten dieselben mit der von Mendelssohn ins Leben gerufenen
Musikakademie über einen gewichtigen, einflussreichen Stützpunkt. Des Weiteren erbot
sich in der Person des berufenen zeitgenössischen Komponisten Johannes Brahms ein
respektabler Widerpart gegen den in den 7oziger und achtziger Jahren des 19.
Jahrhunderts erdrückend übermächtigen Schatten des neudeutschen Musikdramatikers
Richard Wagner, welcher mit dem brillianten Feuilletonisten Eduard Hanslick einen
einflussreichen publizistischen Mitstreiter an seiner Seite hatte. Joseph Joachim hatte
im Herbst des Jahres 1857 brieflich mit dem ehemaligen musikalischen Weggefährten
Franz Liszt gebrochen und begründete seine Weigerung, an einer Tonkünstlerfeier zum
100. Geburtstag des Weimarer Grossherzogs Carl August teilzunehmen
folgendermassen.
"Die Beharrlichkeit Deiner zutrauensvollen Güte, mit der Du (...) Dich zu mir neigst, um
mich dem Verein der von Deiner Kraft bewegten Freunde angefügt zu sehen, hat für
meinen bisherigen Mangel an Offenheit etwas beschämendes. Hätte ich nicht dass
tröstende Bewusstsein, dass dieser Mangel an Offenheit nicht Feigheit sei, und
vielmehr mit dem besten Gefühl verwandt war, das (...) die tiefe Wahrheitsliebe und die
Tiefe Neigung zu Dir (...) ein Stachel für Dich zu werden (...) imstande sein könne. (...)
Ich bin Deiner Musik gänzlich unzugänglich; sie widerspricht allem, was mein
Fassungsvermögen aus dem Geist unserer Grossen (...) als Nahrung sog.
Wäre es denkbar, dass ich je dem entsagen müsst...was ich als Musik empfinde, Deine
Klänge würden mir nichts von der ungeheuren, vernichtenden Öde ausfüllen. Wie sollt
ich mich (...) da mit denen verbrüdert sehen - die die Verbreitung Deiner Werke mit allen
Mitteln zu ihrer Lebensaufgabe machen? (...)
Ich kann euch kein Helfer sein und darf Dir gegenüber nicht länger den Anschein haben,
die Sache, die Du mit Deinen Schülern vertrittst, sei die meine. So muss ich denn auch
Deine liebe Aufforderung zur Teilnahme an den Festlichkeiten in Weimar unbefolgt
lassen: ich achte Deinen Charakter zu hoch, um als Heuchler (...) gegenwärtig zu sein."
Die Funktion des Konservatoriums als Reservoir des humanistisch inspirierten,
musikalisch absolut ausgeprägten Kompositionsideals Mendelssohns erwies sich vor
allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als eine zweischneidige. Einer vielfach
überlieferten kulturgeschichtlichen Erfahrung entsprechend, wonach Adepten kaum
jemals die vom Initiator eines Reformwerks vorgegebenen Idealvorstellungen auf
gleicher Höhe weiterzuführen in der Lage waren, agierten demzufolge auch die
Getreuen des ehemaligen Leipziger Generalmusikdirektors und Hochschulleiters. Diese
waren vor allem Ignaz Moscheles, Moritz Hauptmann, Ferdinand David, Julius Rietz,
und Niels W. Gade; letzterer ein zeitgenössisch hochangesehener Komponist dänischer
Herkunft.
Lassen wir noch einmal Hans von Bülow als Zeitzeugen und Kommentator zu Worte
kommen:
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"Eine andere Partei hielt dagegen treu an dem Todten fest, aus Pietät, aus persönlicher
Freundschaft, aus musikalischer oder nationaler (d. h. semitischer, Anmrkg. d. Verfs.)
Sympathie, und weihte nun den überlebenden Quasischülern (Nachbetern)
Mendelssohn´s eine grössere Beachtung als früher. Dahin gehörten namentlich die
Praktiken, denen an einem Nachfolger des Dirigenten Mendelssohn gelegen war und
die einen solchen in Rietz fanden..." ("Das musikalische Leipzig in seinem Verhalten zu
Richard Wagner")
Als Vorstände des Konservatoriums trachteten die Genannten, den von Felix
Mendelssohn authentisch ausgeprägten Istzustand ideal angeleiteten ambitionierten
Musizierens mustergültig festzuschreiben.
„Er hat mich an das ihm so liebe Institut berufen; ein Wirken daran mit ihm wäre mir eine
tägliche Freude und Genugtuung gewesen, das Wirken daran ohne ihn bleibt mir Pflicht
und heiliges Vermächtnis. Ich muss nun für uns beide arbeiten."
So beschied Ignaz Moscheles - im Oktober des Jahres 1846 von Felix Mendelssohn ans
Konservatorium berufen - seine Gattin Charlotte in ihren Erwägungen einer Rückkehr
nach England nach Mendelssohns unerwartetem Verscheiden. Treffender lassen sich
Vorstellungen und Geisteshaltung kaum zusammenfassen, mit welchen die
Nachlassverwalter vermeintlich Mendelssohnschen Gründungs- und Arbeitsgedankens
am Leipziger Musikkonservatoriums an diese Aufgabe herangingen.
Ausdrücke wie "Pflicht" und "heiliges Vermächtnis" legen den Verdacht auf ein gewisses
Mass von Fundamentalismus, Dogmatik, „konservierende“, ein Ideal für alle Zeiten
festschreibende, formal in sich erstarrende Gralshüterschaft bei der Bewältigung dieser
Aufgabe nahe. In diesem Bemühen übersahen die Repräsentanten eines expliziten
Leipziger Konservatoriumsstils jedoch das Bestreben Mendelssohns, die propagierten
musikalischen Formvorgaben konzeptionell, harmonisch und klangsprachlich um eigene
Erfahrungen und Einsichten zu erweitern. Bereits in den 50ziger und 60ziger Jahren des
19. Jahrhunderts verfestigte sich,
dem hohen Ruf und weitreichenden
kompositionstheoretischen Einfluß des Institutes zum Trotze dort ein Akademismus
substanzarmer unflexilbler Musikkonservative. Im Sinne der charakteristischen AdornoMaxime: „Mendelssohn – gegen seine Liebhaber verteidigt!“ bedingte diese Haltung die
fehlgeleitete Vermächtnispflege eines Klischees, welches sich auf die zeitgenössische
Einschätzung der originären musikalischen Kompetenz des Konservatoriumsgründers
im Nachhinein unglückselig auswirken sollte.
Zum einen firmierte das im Akademismus verharrende Konservatorium zu Leipzig in
verallgemeinerter öffentlicher Wahrnehmung als „Mendelssohn-Schule“, galten
Absolventen desselben – gleich dessen, ob es sich um heute möglicherweise zu Recht
vernachlässsigte Kompositeure wie Martin Blumner, Friedrich Kiel, Ludwig Meinhardus,
Karl Reinecke und Robert Volkmann Joachim oder wahrhaft inspirierte Tonschöpfer wie
Max Bruch oder Edvard Grieg handelt pauschal als „Mendelsohnianer“ und Epigonen.
Des Weiteren unterfing sich das Konservatorium - vor allem unter der Ägide des
Thomaskantors Moritz Hauptmann - in der musikästhetischen Diskussion gegen die
Bestrebungen "neudeutscher" Avantgardisten zu polemisieren. Hauptmann trachtete
danach, Repräsentanten Neudeutscher Musik dem Konservatoriumsbetrieb so weit als
möglich fernzuhalten, um den bestehenden Ruf zentralen traditionalistischen
kompositionstheoretischen Lehrens in Deutschland und Europa keinesfalls zu
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gefährden. Dies gab selbstredend Anlass zu aggressiv vorgetragenen publizistischen
Retouren neudeutscher Ideologen auf das Konservatorium als „Mendelssohn-Schule“;
liess somit den Konservatoriumsinitiator erneut zum Ziel rhetorischer Attacken werden.
Das Wort von den epigonalen „Mendelssohnianern“ machte die Runde, der
nazarenisch-erbaulichen Kleinmeisterei postbachscher und -Mendelssonscher
Oratorien, der pianistischen Kleinwerke, welche bei Mendelssohn noch mit wahrer
poetischer Empfindung erfüllt, sich nunmehr in kitschigem Sentiment ergössen; die
Begriffe „Geschmacksgefährlichkeit des Mendelsohn´schen Vorbildes“ (Riemann) oder
der pianistischen „Salonmusik“ kamen auf.
Dem spezifischen Unterfangen einer Konsolidierung des Mendelssohnschen Erbes
zumindest dienlicher erwies sich die publizistische Tätigkeit Hanslicks. In der Rezension
einer Veranstaltung der wiener Singakademie in der Zeitungsrubrik "Aus dem
Konzertsaal" aus dem Jahre 1858 entlarvt er, neben einer erwartungsgemäss vom
traditionalistischen Standpunkt aus geführten Suada gegen die Verrottung
musikästhetischer Gepflogenheiten, hellsichtig die Intention des gegen Mendelssohn
betriebenen "neudeutschen" Nihilismus:
„Die Degradierung Mendelssohns zu einer „falschen Zwischenbildung“ in der
Geschichte der Musik muß wohl die Ansicht in sich schliessen, daß wir ohne diesen
Auswuchs viel weiter wären. Darauf ist zu erwidern, daß im Gegenteil in Mendelssohns
Erscheinen gerade zu dieser Zeit und in diesem Zusammenhang eine der weisesten
Fügungen der Kunstgeschichte liegt. Ohne seine Formschönheit, sein reines, klares
Gestalten wäre (...) die Verwilderung, die wir gegenwärtig in der „Zukunftsmusik“
erleben, viel früher und ungleich verderblicher eingebrochen.“
1869 gab sich der Komponist Richard Wagner als Verfasser einer zweiten,
überarbeiteten Fassung des "Judenthums in der Musik" zu erkennen. Unter der
Protektion des Bayernkönigs Ludwig II. hatte er mit den Uraufführungen von "Tristan
und Isolde" und den "Meistersingern" in München endgültig die Anerkennung eines
Opernreformers und Musikdramatikers gefunden. Mit der wachsenden Popularität
seines musikalischen Werkes nahm auch der Einfluss des Theoretikers Richard Wagner
auf das kulturelle und geistige Leben des späten 19. Jahrhunderts zu. Somit griffen
auch dessen antisemitischen Ansichten um sich, welche er in weiteren verschärft
argumentierenden Schriften erhärtete.
Um 1870 herum trat auch der Leipziger Publizist August Reißmann; ein ehemaliger
Konservatoriumsschüler Felix Mendelssohns mit Schriften an die Öffentlichkeit. In
diesen vermochte er es kaum, das Werk dieses Komponisten im Stande gebotener
ästhetischer Eigenständigkeit zu beurteilen. Vielmehr unterwarf er es erneut dem
alleinigen Massstab musikalischen Fortschritts. Es verdeutlicht sich erneut, wie
dominant sich dieses von der "Neudeutschen Schule" kultivierte Dogma in jenen Jahren
gebärdete – wie sehr die sachlich ästhetische Analyse von Musik als eines Sprachrohrs
nur in eigener Sache damals verunmöglicht war.
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Reissmanns Mendelssohn-Traktat ist allein durch sein Benehmen bemerkenswert, die
antisemitischen Theorien und speziell auf Mendelssohn gemünzten abfälligen Invektiven
einer angeblich oberflächlichen angekränkelten jüdischen Psyche sowie synthetischen
künstlerischen Empfindens aus Wagner/ Freigedanks "Judenthum" nahezu identisch in
den unverdächtigeren Tonfall "objektiv" musikwissenschaftlichen Theoretisierens
übertragen zu haben. Er gab somit einer Entwicklung eines Kataloges musikalisch
absolut vorgetragener, scheinbar von den offenkundigen antisemitischen Stossrichtung
des Wagner/ Freigedankschen Traktates gänzlich befreiter, negativer MendelssohnStereotypisierung erheblich Vorschub.
"Mendelssohns ganze Erziehung hatte in ihm früh jenen genialen Sinn für
Formvollendung ausgebildet, der es im Grunde verhinderte, dass seine Individualität
sich wirklich selbstschöpferisch und neugestaltend vertiefte (...) Früh leitete ihn das
Bewusstsein von der idealschönen Form, in welche er seine Individualität zu ergiessen
strebte, diese aber war weder sehr tief noch überaus reich ausgestattet (...) Mit
rastlosem Fleisse (...) hatte er sich die unumschränkte Herrschaft über alle Mittel der
musikalischen Darstellung angeeignet, aber er verwendet diese immer nur nach dem
durch seine Individualität beschränkten Maße (...) Er stellt seine leichter entzündbare
Phantasie, sein rascher und mächtiger erregtes Interesse unter die Herrschaft fremder
Einflüsse.
Bach und Händel, Mozart und Beethoven (...) gewinnen Anteil an seiner Innerlichkeit
aber nur so weit sie eben Raum darin finden, sodass diese selbst nicht gerade
gewaltiger und tiefer wird. (...) Mendelssohns Phantasie wird von der des Dichters nur
angeregt; der Meister
empfindet die fremde Dichter-Individualität nur in dem
beschränkten Rahmen seiner eigenen und vermag sie daher auch nicht umzudichten
(...) Selbst jetzt, nachdem uns der ganze Mendelssohn bekannt ist, wird es nicht leicht,
in den Liedern op. 8 und 9 die besondere Weise seines Empfindens zu erkennen, weil
hier das Fremde und Angelernte überwiegt. (..) Sie sind alle im Sinne und Geiste der
grössten Meister empfunden, aber der Ausdruck ist auf jenes Maß zurückgeführt und
abgeschwächt, das ihm für die ganz grosse Allgemeinheit Giltigkeit gibt und daher den
Liedern die weiteste Verbreitung sichert. Die Lyrik Mendelssohns wurde so (...) zur
Massenlyrik. (...)
Mendelssohn führte mit seinen "vierstimmigen Liedern im Freien zu singen" auch dem
Chorliede alle die in seiner Individualität abgeklärten Elemente des Musikempfindens
seiner Zeit zu (...) Der vierstimmige Liedergesang stellt nirgends Anforderungen, die
ausserhalb der Individualität unsres Meisters liegen. Subjective Vertiefung wie die
Verdichtung zu grossen und weit angelegten Tonbildern sind dem Chorliede ebenso
fremd wie unserem Meister. Die besonderen Feinheiten des Empfindens finden natürlich
nur so weit Berücksichtigung als sie sich im Chorliede darstellen und dem
Gesamtempfinden vermitteln lassen - und hierin ganz besonders liegt Mendelssohns
unübertroffene Meisterschaft. " ("Die drei grossen Meister der musikalischen Lyrik" in
"Die Tonhalle", Leipzig vom 9.11.1869)
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In Erörterungen der "Kunst- und Kulturgeschichtlichen Bedeutung" Mendelssohns
verweist Reissmann zwar auf den hohen Rang der "ewig gültigen Kunstwerke, welche"
Mendelssohn in "schöpferischer Wirksamkeit für die gesamte Kulturentwicklung",
hervorgebracht habe, gibt aber des gleichen zu bedenken, daß man Innovation
vergleichbaren Ranges hinsichtlich "Weiterbildung der Kunst" und eines "neuen
Ton(es)...der zur Weiterverfolgung anregte" nicht zu erkennen vermöge.
Verblümt, in umsichtig, taktvoll erwogener Formulierung, wird hier der Einschätzung
Vorschub geleistet, das Mendelssohns Musik zwar unbestreitbar den Geschmack zeitgenössischer Hörerschaft vollgültig befriedigte, Hörern künftiger Generationen aber wohl
kaum noch wesentliches zu sagen vermöchte.
Solch Ausmass nachhaltig um sich greifender Mendelssohn-Verfemung riefen Freunde
und Weggefährten wie den Komponisten und Dirigenten Ferdinand Hiller zur
Verteidigung von Namen und Rang Mendelssohns auf.
Hiller veröffentlichte im Jahre 1874 ein Gedenkbändchen, welches der Öffentlichkeit
"Briefe und Erinnerungen" zugänglich machte. Im Vorwort machte Hiller aus dem Anlass
der Publikation keinen Hehl und schrieb daher:
"Verehrer Mendelssohns haben es mir vorgeworfen, nicht schon vor längerer Zeit mit
Mitteilungen über ihn hervorgetreten zu sein. Vielfache Gründe hielten mich davon ab.
(...)
Jetzt aber trete ich um so freier mit diesen von dem Dahingeschiedenen so liebenswerte
Züge enthaltenen Blättern hervor, als er, einer der schönsten und hellsten Sterne am
Himmelsgewölbe deutscher Kunst, gerade in seinem Vaterlande, von dem Unverstand,
der Urtheilslosigkeit und dem Neide Angriffe erfährt, welche nur denen, von welchem sie
ausgehen, zur Unehre gereichen; denn der Glanz, in welchem sein Name erstrahlt, zu
verdunkeln wird ihnen nimmer gelingen. Das Gold widersteht dem Roste. ("Felix
Mendelssohn-Bartholdy, Briefe und Erinnerungen, Köln 1874)
In den 70ziger Jahren des 19 Jahrhunderts verfielen Rezensenten zunehmend darauf,
Mendelssohns Klavierwerke explizit in den Rang oberflächlich brillianten
Demonstrationsrepertoires pianistischer Fähigkeiten von Nachwuchskünstlerinnen zu
erheben. So schrieb die "Tonhalle" im April des Jahres 1870:
"Fräulein Mehlig spielte die Pianopartie des schönen Es-Dur Trios, Phantasiestücke von
Schumann, Präludium und Fuge von Mendelssohn (...) Hier war ein grosses Feld
reicher Kontraste! Schumanns tief innerliches Phantasiestück neben Mendelssohns
massvollem und glattem Präludium".
Am 2.ten November heisst es ebenda:
"Wenn wir in dem herrlichen Bachschen Präludium und Fuge, (...) von den grossartig
unruhigen Tonwellen und dem markigen Fugenthema fortgerissen wurden, so war auch
die Klangwirkung des Mendelssohnschen Adagios von dem weichesten Charakter
durchweht."
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Am 7. Dezember schrieb die "Tonhalle" wiederum:
"Einen höchst erfreulichen poetischen Reiz gewährten die Claviervorträge der
sechzehnjährigen Frl. Emma Brandes aus Schwerin. Wenn eine so jugendliche
Persönlichkeit sich an ein Stück wagt, wie das G-Moll-Concert von Mendelssohn, (...) so
will das viel sagen. (...) Wir mussten uns bei dem Spiel der Frl. Brandes gestehen, was
zu ahnen noch kein Künstler bei uns veranlasst hatte, daß das G-Moll-Concert dem
Ausführenden, wenn er von musikalischer Intuition durchdrungen ist, bei dem Spielen
dieses scheinbar mehr für die glänzende Entwicklung wahrer Technik geschriebenen
Stückes Gelegenheit giebt, alle Vorzüge eines vortrefflichen Clavierspielers zu
offenbaren.
Abschliessend sei die Ausgabe vom 14.12.1870 zitiert:
"Die noch im kindlichen Alter stehende Pianistin Laura Kahrer, welche sich bereits in
mehreren bedeutenden Städten mit Erfolg produziert hat, gab ein Concert, das in vieler
Beziehung Staunen zu erregen geeignet war. (...) Die Handgelenke (...) sind auffallend
elastisch und befähigen zu erstaunlich leichtem und graciösem Octavenstaccato und
überhaupt leise über die Tasten hingehenden sogenannten Mendelssohnschen
Clavierfiguren."
10. Glücklicher Mensch! Dich erwartet wohl nur ein kurzes Ephemeren-Leben!
"Glücklicher Mensch! Dich erwartet wohl nur ein kurzes Ephemeren-Leben, aber Liebe
Glück und Kunst haben es aus Licht und Wärme Dir gewoben! Zieh hin und sinke, wenn
es sein muß, wie alles Schöne im Frühlinge dahin!"
Euphemistisch belegt Adele Schopenhauer die ausserordentlichen Wirkung, welche der
12-jährige Knabe Felix auf die Schwester des Philosophen und allgemein ausübte.
Darüber hinaus nimmt sie prophetisch die Geschicke Felix Mendelssohns in zwiefacher
Hinsicht vorweg. Den Lebensweg des Komponisten zum einen; äusserlich
wahrnehmbar scheinbar ein einziger Höhenflug.
Zum zweiten: den stereotypen Rückschluss von privilegierter Biographie auf die
musikalische Substanz von Kompositionen, welcher sich in zunehmend veräusserlichter
Betrachtung des Sujets durch Musikologen in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts
herausbildete. Vom 3. Weg, dem inneren Weg des musikalischen Humanisten in eine
substantielle emotionale und musikalische Melancholie hinein, in die Gewissheit um das
Vergehen einer Epoche, welche entscheidende gesellschaftliche Veränderung durch
Kultur und Bildung für möglich hielt; in die finale Gewissheit, versagt, das Hauptziel,
vermittels Musik die Menschen innerlich zur Vervollkommnung und Erkenntnis
anzuleiten, nicht erreicht zu haben, konnte Adele Schopenhauer nichts vorausahnen,
wollten besagte Musikologen nichts erahnen.
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Sie überlagern sich mit der sachfremden Argumentation einer Musikwissenschaft
späterer Zeiten, welche die idealisierte Gleichsetzung der Betrachtung von Werk und
Person eines Komponisten zum Dogma erhob.
Bedeutsame Musik: komponiert von einem Menschen, dem es, frei von materiellen
Sorgen, geliebt, künstlerisch von jeher gefördert und vorbehaltlos akzeptiert,
nachweislich immer wohlerging? Wie wäre das möglich?
In einer übersteigert-romantischen Vorstellung jener Jahre von Kunst als
entsagungsvoller Verpflichtung rang das wahre Genie - der Heros des Judenaufsatzes abseits von Anerkennung oder Lebensglück um meisterliche musikalische Wahrheit.
Erst spät oder niemals fand so das Werk bedeutender Künstler zu Lebzeiten
Anerkennung. Das persönliche Leid des Künstlers als zuverlässigster Indikator
künstlerischer Größe, dem Maßstab einer beinahe mathematisch vorgenommenen
Relativierung unterworfen: Je mehr persönliches Leid, desto bedeutsamer das Werk.
Wies nicht allein der Vorname Mendelssohns symbolträchtig darauf hin, wie sehr sich
Gedanken an Genialität und Meisterschaft hinsichtlich seines Werkes ausschlossen:
"Felix" - "der Glückliche"!
Intermezzo II: "Felix! Tust Du nichts?!"
rief Mutter Lea stets, wenn der Knabe sich ins Plaudern verstieg und er sich somit des
Müssiggangs hingab. Auch der zum Manne herangereifte Felix Mendelssohn mochte
diesen zu unablässigem Bildungsfleisse anspornenden Ruf innerlich noch oftmals
vernommen haben.
"Nun ist Glückhaben noch kein persönliches Verdienst; entscheidend ist, wie einer sein
Glück empfängt und verwaltet (...) Betrachten wir also die Lebensstationen dieses in der
Tat vom Glück begünstigten Künstlers, der (...) das ihm Zugefallene täglich in harter
Arbeit bis zur Erschöpfung sicherte, (...) der mit der Bürde "Glück" in einem nur kurzen,
sich selbst verzehrenden Leben fertig werden musste." gibt Eduard Kleßmann in "Die
Mendelssohns - Bilder einer deutschen Familie" im Hinblick auf die tiefschichtiger
erkennbaren Aspekte eines Felix Mendelssohn Bartholdy zuerkannten Übermasses
glücklicher Lebensumstände zu bedenken.
Das stereotyp wiedergegebene Genrebild vollendeter Sorgenlosigkeit ignoriert
demzufolge das Desinteresse Mendelssohns an potentiellem grossbürgerlichmateriellem Müssiggang.
Allein die Leipziger Jahre zeigen Momente einer Schaffensverpflichtung auf, welche
nahezu etwas getriebenes, psychopathologisches in sich tragen. Die Vermutung, daß
die Ruhelosigkeit eines im innersten Wesen zutiefst unsicheren Menschen, die sich
auch in leichter Reizbarkeit, den verbürgten raschen Dirigiertempi und der Häufigkeit der
Tempovorgaben Presto, Molto vivace, Molto allegro con fuoco in den Kompositionen
äusserte, zu Überarbeitung, Depression und vorzeitigem Tode des Komponisten
beitrugen, liegt nahe.
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Das Klischee schmerzgeboren titanesker Kreativität des Genies, welchem ein in
pastoral-ätherischer Idyllik dargestellter "Felixissimus" nicht zu genügen vermochte,
wurde von der Musikpublizistin La Mara in ihrer Darstellung von "Musikalischen
Studienköpfen" trefflichst bedient. Auch hier firmiert nicht der wahre Name einer Autorin;
die eigentlich auf den Namen Marie Lipsius hörte. Gleich zu Beginn ihrer Darstellung
heisst es:
"Auf lichten Höhen wandelte er sorglos dahin, unangefochten von Nöthen und
Bedrängnissen des gemeinen Lebens, frei von Zwiespalt und Kampf, wie sie die
Künstlerseele so häufig beschweren".
Als ob ästhetisches Räsonieren und kreatives Handeln den Anforderungen des
Kriegsfalles unterworfen sei, der Künstler sich in Wahrheit also am Massstab
vaterländischen Gemeindienstes als substanziell erzeigte, behauptet La Mara Lipsius in
wahrhaft martialischer Gestimmheit:
"Ein Heldencharakter freilich wird nicht im Sonnenlichte gezeitigt, er bedarf der Schatten
und Kämpfe von grossen Schmerzen. So ist auch Mendelssohn kein Heldencharakter
geworden, nicht das, was man einen Heros der Töne nennt. Ihm fehlt die genialische
Überfülle, die himmelanstürmende Kraft, die kühne Ursprünglichkeit, die jenen macht.
Nicht in die nächtigen Tiefen innerlichen Ringens und Kämpfens ist er hinabgestiegen,
eine Welt in sich befriedeter Schönheit und wolkenloser Klarheit ist es, darin seine
Musse zu verweilen pflegt.
Aus solch Zerrbildnis heraus betrachtet, überzogenen Ansprüchen an
Allgemeinverbindlichkeit kulturellen Wirkens sowie Versäumnissen hinsichtlich
biographischer Wahrheitspflicht geschuldet, war wohl kaum noch angemessene
Darstellung der Oeuvres eines so beschriebenen Kompositeurs vorstellbar.
La Mara leistet viel eher einem verhängsnisvollen Kulturdarwinismus vom Schlage
Freigedank/ Wagners Vorschub, welcher die Künste dem Gesetz des Pathos unterwarf.
Das Pathetische allein ist diesem zufolge gross und wahr; nur der Künstler, welcher des
Lebens Mühsal den Pathos abrang.
Das von La Mara vorgestellte Bild gemahnt an die symbolträchtige Fabel von der Grille
und der Ameise. Letztere bemüht sich im Verborgen und finsteren um
überlebenswichtiges Gut, während die Grille sich Sommers tändelnd, musizierend im
flüchtigen Beifalle sonnt und den Winter nicht zu überstehen vermag.
11. Von der E-Musik und der U-Musik
Auch die Kluft zwischen den Ebenen Populärmusik und Hochkultur bestärkte eine
Musikwissenschaft, welche Werk- und Rezeptionsästhetik von Musik als selbstverständliche Einheit auffasste, in ihrem Vorbehalt, es letztendlich nicht mit einem Esondern mit einem U-Musiker zu tun zu haben. Die akademische Musikpflege durch
Musikologen, Rezensenten und professionelle Instrumentalisten begann das Bild
Mendelssohns als “Epigonen, faden “Klassizisten” und “schwindender Grösse”
festzuschreiben. Die Präsenz seiner Werke auf den Konzertpodien schwand.
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Chorgesänge und Klavierkompositionen erfreuten sich in der Haus- und Volksmusik
hingegen ungebrochener Beliebtheit.
Nun offenbart sich darin eine aus allen kulturellen Traditionen vertraute Tendenz
intellektueller akademischer Erhabenheit, welche sich mit Heranbildung und dem
wachsenden gesellschaftlichen Einfluss bildungsbürgerlicher Strukturen ausprägte.
Es war im 18. und frühen 19. Jahrhundert weniger Ausnahme als Regel, daß
Kompositionen der bedeutensten Tonschöpfer Volkstümlichkeit erlangten oder gar
gezielt für den populär- oder semipopulärmusikalischen Bereich entstanden. Mozart
hatte keinerlei Schwierigkeiten, neben den erschütternden psychischen Vertiefungen
des "Requiem" und der Titusoper auch Vogelfängerarien für die Wiener Vorstadt zu
schreiben. Mozart-Kompositionen wie das nurmehr volksliedhaft rezipierte „Komm,
lieber Mai und mache....“, das berückende „Rondo alla turca“ für Klavier sowie die
Streicherserenade „Eine kleine Nachtmusik gingen ins bürgerliche Populärmusikgut ein.
Auch das Schaffen Haydns („Meine Mutter schickt mich her, ob der Kaffee...“ nach der
Symphony Nr. 94 „Mit dem Paukenschlag“ und jenes Beethovens ("Für Elise") blieben
nicht ohne Einfluss darauf. Melodien aus Carl Maria von Webers „Der Freischütz"
wurden bereits Tage nach dem überwältigenden Premierenerfolg in den Strassen
Berlins nachgesungen und –gepfiffen. Lieder wie „Der Lindenbaum“, „Das Wandern ist
des Müllers Lust“ von Franz Schubert oder „Guten Abend. Gute Nacht“ von Johannes
Brahms zählten im 19. und frühen 20. Jahrhundert zum Volksliedgut. Die
Musikforschung hantiert hier offenkundig mit zweierlei Maß.
Der Vorwurf
bezeichnender, exorbitanter Popularität einzelner MendelssohnKompositionen lässt vielmehr Subjektivismus, Voreingenommenheit erkennen. So bleibt
nur noch eines von Interesse: wann der gemeinhin sanktionierte Bruch zwischen
populär- musikalischer und neuzeitlich professionell aufgefasster Musiktradition exakt
einsetzte; wen der akademische Bannstrahl traf, wen er verschonte. Eric Werner
definiert die Auflösung gemeinschaftlicher Verwurzelung von „Kunst“ und
„Gebrauchsmusik“ in der Tradition höfischen Musizierens in der sich zunehmend
verbürgerlichenden Ägide Franz Schuberts, also den Zeiten des Metternichregimes in
den Jahren um 1820. Die Instrumentalmusik spaltete sich demzufolge in die nunmehr
unvereinbaren, autonom sich fortentwickelnden „Ebenen der „reinen“ Kunst, die
klassisch-romantische Kammer- und Symphoniemusik sowie die Ebene des Populären
jedweder Operetten- und Tanzmusik jener Zeit und der Salonmusik für Klavier, Harfe
oder das kleine Ensemble der Gartenrestaurants“
Die auf solch chronologischer, kulturgeschichtlicher Betrachtung beruhende Analyse
musste also resümieren, das Mendelssohn als „seriöser“ Musiker den „Fehler“ beging,
diverse, nurmehr „Kleinmeistern“ zuerkannte, Populärmetiers wie romantische
Männerchöre, „Lieder, im Freien zu Singen“, Duette und Quartette, Klavierminiaturen
etc. weiterhin bedient zu haben. Möglicherweise mit dem Drang zu solchen Formen gar
seinen wahren künstlerischen Gehalt aufgedeckt zu haben. Aber auch dieser Weg führt
in der Frage: definitive Einschätzung eines Komponisten aus seinem kleinteiligen
Füllwerk heraus keineswegs weiter. Andere Komponisten haben eine Unzahl von
Gelegenheitskompositionen geschrieben oder mit ihrem Werk dezidiert auf
Populärformen Bezug genommen, ohne im Ansehen im Mindesten Schaden genommen
zu haben.
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Schubert, Schumann und Brahms haben gleichwohl Vokalduette und –Quartette und
Männer-, Frauen-, Gemischtchorsätze a capella bzw. instrumental minimal begleitet
komponiert, Klavierpoesien schätzen wir vergleichbar bei Robert Schumann. Gerade
das
Oeuvre
Richard
Wagners
weist
einen
immensen
Bestand
von
Gelegenheitskompositionen, Repräsentativ-Chören und –Märschen etc. auf; Werken,
welche dem musikalischen Niveau des eigentlichen Musikdramatikers in keiner Weise
entsprechen und demzufolge heute vergessen sind. Das kammermusikalisch als
hochstehend eingestufte „Siegfried-Idyll“ entstand nachweislich als improvisiert, im
Treppenhause dargebotenes Gebrurtstagsständchen an Wagners Gattin Cosima.
„Sowohl der „Pilgerchor“ und der „Einzug der Gäste auf Wartburg“ aus der Oper
„Tannhäuser“, als auch die Chorensembles des „Fliegenden Holländer“, die
Vasallenchöre in „Lohengrin“ orientierten sich unmittelbar am Vorbild Mendelssohnscher
Männerchortableaus; der von Mendelssohnscher Feiermusik inspirierte Brautchor im 3.
Akt Lohengrins zählt neben dem Hochzeitsmarsch aus der "Sommernachtstraum"-Musik
zum Archetyp romantischer Hochzeitspiècen.
Des Weiteren gehören die „Holländer“ und „Tannhäuserchöre“ zumindest noch heute
zum Kernrepertoire grösserer Feuerwehr-, Polizei- und Volkschorvereinigungen. Welche
seriöse Musikrezeption sähe den Wert zahlreicher Opern vor allem der mittleren Periode
von Verdis Schaffen dadurch geschmälert, daß sie sich exzessiv des hochpopulären
Idioms italienischer Banda-Musik bedienten. Der grosse Johann Strauss II hat kaum
anders als für populär- oder repräsentativmusikalische Anlässe geschrieben und gehört
selbstverständlich zum Repertoire führenden Symphonyorchester aller Länder und
Kontinente. Die Beliebtheit der Mendelssohn-Chöre: Oh, Täler weit, oh Höhen...“, „Wer
hat Dich, Du schöner Wald...“, der Lieder: „Es ist bestimmt in Gottes Rath...“, „Auf
Flügeln des Gesanges...“, des „Frühlingsliedes“ und anderer nachträglich mit Texten
versehenen "Lieder ohne Worte" sowie des anrührend-ätherischen Weihnachtsliedes
„Hark, the herald angels sings...“ verliehen Mendelssohns Schaffen in den Augen der
Musikwissenschaft in steigendem Masse etwas anrüchiges.
Das Phänomen ist erneut dem Heroisierunggedanken von Kunst in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts geschuldet. Musikern, die als "deutsch", als "Heros" geschätzt
wurden, die um ihr Werk "gerungen", "gelitten" hatten, gestand man den „reinen
Volkston“ in den Populäräusserungen als wahre und authentische Äusserung
bedeutender Meister zu. Die Populärnummern derselben wurden quasi durch den
idealen Tiefgang reinen absoluten Schaffens kanonisiert. Wie wenig zuvor dargestellt,
stellte man Mendelssohns Musik seinerzeit in Gesamtheit als „fein-empfindsam,
„sentimental“, „weibisch“, „geschmacksgefährlich“ und somit „jüdisch“ dar. Da dem
Konzertwerk Mendelssohn Bartholdys die genannten Attribute „Genios“ etc.
weitestgehend abgesprochen wurde, mochte man die Populärwerke demzufolge für die
übelsten sentimentalsten Auswüchse eines in sich fragwürdigen, seichten Schaffens
nehmen.
Hellsichtig verwies der Musikpublizist Wilhelm Heinrich Riehl bereits im Jahre 1850 auf
jene Aspekte einer kultursoziologische Biographie Mendelssohns, welche dessen
postmortale Reputation durch „sachfremde“ Erörterung und Rückschlag auf das
musikalische Resultat zu gefährden imstande war.
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Riehl veröffentlichte in diesem Jahre innerhalb seiner Anthologie von Musikalischen
Charakterköpfen den Essay "Bach und Mendelssohn aus dem socialen
Gesichtspunkte", welcher sowohl als Nachruf auf Felix Mendelssohn als auch eine
Würdigung des Thomaskantors Bach zu dessen 100. Todestag verfasst wurde. Riehl
zählte eingangs als Unbefangener wahrheitsgemäss die humanen und soziologischen
Vorzüge des Tonschöpfers Mendelssohn auf. Diese wurden später in den Werken
anderer Autoren, in vergleichbarer rhetorischer Konzentrierung oder besser;
Überspitzung vorgebracht und sollten der musikbiographisch stereotyp vorgebrachten
Entwertung, ja Karikierung des Vorbildes dienen. Mendelssohn war somit „ein vielseitig
gebildeter, gesellschaftlich gewandter, wohlhabender, fein gesitteter Mann, in fast ganz
Deutschland bekannt, in allen auserlesenen Zirkeln gesucht.“
Wenngleich Riehl auch die Darlegung, wie sich „jüdelnde Schreibart“ jener Tage
musikalisch darstellte, schuldig bleibt; umreisst er doch schlüssig die integrale Position
Mendelssohns innerhalb eines zunehmend von bildungsbürgerlichen Idealen
ausgeprägten und getragenen Musiklebens des frühen 19. Jahrhunderts.
„Er war der erste Musiker, welcher so recht für die „feine“ Gesellschaft – im guten Sinne
des Wortes musizierte. (...) So schrieb auch Mendelssohn im Geiste dieser gebildeten
Gesellschaft, die sich jetzt ausgleichend und vermittelnd über alle Stände hinzieht (...)
Es war bei seinem Auftreten etwas ganz neues, einem modern eleganten Musiker zu
begegnen (...), der Lieder setzte, ohne sich die einfältigsten Texte zu wählen, der
Kammermusik schrieb, ohne langweilig, und Salonmusik, ohne frivol zu sein, einen
Tondichter jüdischer Abstammung, der nicht jüdelte, während fast alle christlichen
Lieblingskomponisten des Tages jüdelten. (...) Keine andere Kunst hat einen Mann
aufzuweisen, der in seinem künstlerischen Schaffen so ganz inmitten des sozialen
Lebens unserer gebildeten Kreise gestanden hätte und wiederum so von diesen
verstanden und gewürdigt worden wäre wie Mendelssohn".
Die augenscheinliche Affinität Mendelssohns zu seiner bildungsbürgerlichmusikalischen Umgebung, erweist sich auch in der fruchtbaren Tätigkeit des sich
dezidiert als Humanisten und Citoyen verstehenden Komponisten in Leipzigs Klima
aufgeklärten bürgerlichen Selbstbewusstseins. Im Gegensatz dazu sollte das Modell
einer zentralen, königlich preussischen Musikdirektion in Berlin, welche Friedrich
Wilhelm IV. von Preussen dem Komponisten andiente, so gar nicht funktionieren. Nicht
allein daher, weil diese den aktuellen Entwicklungen im Kulturbetrieb nicht mehr
entsprach.
James Webster legte das primitiv konstruierte Schema, aufgrunddesssen sich im späten
19. sowie im 20. Jahrhundert in semantischer Deckungsgleichheit bildungsbürgerlicher
Relevanzen Vorurteile gegen Felix Mendelssohn herleiteten, in einem präzise erstellten
Diagramm dar:
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Vorstellungen, die zum "Problem Mendelssohn" beitragen:
Kultur und Ideologie; Herkunft bzw. Persönlichkeit
Bürgerlichkeit
Reichtum; begünstigter sozialer Status
Zugang zu bedeutenden musikalischen Persönlichkeiten
Harmonisches Leben, ohne Kampf und Leid
Jüdische Abstammung
Wunderkind; Leichtigkeit beim Komponieren
Erfolg
Bemühungen um Erfolg; Anpassung an die Zuhörer
Ideologie der Bejahung; Aufrichtigkeit; christliche Frömmigkeit
Musikgeschichte
Klassizistisch im Stil bzw. in der Wahl der Gattungen
Gründliche konservative Musikerziehung; Pflege alter Musik
Analyse (=Ästhetik)
Thematische Konstruktion
Melodisch; gleichmässig; korrekter, kunstvoller Satz
Mangel an Prozessualität bzw. Problematisierung, Pflege alter Musik
Rhythmus
Periodengebunden; einheitlich
Einförmig bzw. undynamisch
Form
traditionell; übersichtlich
Überkommen; blosses "Gehäuse"; undramatisch; unklassisch
Kammermusik
Faktur zu orchestral (z. B. Tremolo)
Innennstimmen "zu viel", dem bescheidenen Inhalt bzw. Dynamik gemäss
Folgerungen für die Beurteilung von Mendelssohns Musik
Oberflächlichkeit; konventionell; sentimental
Mangel an künstlerischer Authentizität (Gewicht, Ausdruck, Tiefe)
Mangel an historischer Authentizität (unzeitgemäss; epigonal)
Naiv (im Schillerschen Sinne); Mangel an Besonnenheit
Gattungsunterschiede
Nur kleinere bzw. periphere Gattungen ganz erfolgreich;
"Elfenmusik, Scherzi, Programmouvertüren, Lieder ohne Worte
"Zentrale" Gattungen nur bedingt erfolgreich: Sinfonie, Konzert, Kammermusik,
grössere Vokalwerke
"Weiblich" und/oder "jüdisch" eingestuft
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12. Der schönste Zwischenfall der deutschen Musik
Was mag in der Psyche derjenigen, welche dieses auf pseudorevolutionär genialisch
ausgeprägter Kulturdoktrin beruhende Schema konzipierten sowie derer, welche es in
allgemeiner Übereinkunft bereitwillig rezipierten, eigentlich vor sich gegangen sein?
Im Vorwurf mangelnder künstlerischer Substanz Mendelssohns, welche sich angeblich
vermittels Anbiederung an herrschende Gesellschaftschichten und den vorherrschenden
Publikumsgeschmack zu kompensieren trachte, manifestierte sich vor allem folgendes:
ein Dilemma stetigen Missverhältnisses zwischen künstlerischen Anspruch und dem
Zustand bürgerlichen Seins neudeutscher Musiker und deren Umfeld.
Wie die Biographien führender Repräsentanten derselben zeigen, waren jene
materialistischer oder politischer Konformität keineswegs abhold (Wagner, Liszt). Waren
zu jener wahren Höhe, welche man einem Mendelssohn – genanntem Schema folgend
– insistierend absprach, selbst nicht berufen. (Dr. Eduard Krüger, Dr. Franz Brendel,
Theodor Uhlig, Hans von Bülow, Cosima Wagner).
Eine Systematik egozentrischer Schizophrenie deutet sich an: diejenigen, welche Kunst
in der Funktion unausgesetzten gesellschaftlichen Widerstandes begriffen, auf
ästhetischen Fortschritt, politische Umwälzung drängten, zielten gleichzeitig aber auf
künstlerische Akzeptanz und Vormacht sowie stetige mäzentische Förderung durch
kulturbewegte Bourgeoisie und das Feudalsystem ab.
Mit
der
symbolträchtig
systematischen
Anprangerung
mendelssohnscher
Gesellschaftsrelevanz leisteten jene vor allem eines: die öffentlichkeitswirksame
Aufarbeitung eines Problems ästhetischer und gesellschaftlicher Arriviertheit, welches
sie letztendlich nur mit sich selbst auszuhandeln hatten.
Der Dirigent Hans von Bülow, einstmals ein Pionier gezielter Mendelssohn- und
Schumann-Attacke, wurde in dem Masse zum erklärten Propagandisten
Mendelssohnschen Orchesterwerkes (ab Mitte der 70ziger d. 19. Jhdts.), wie er sich aus
dem Schatten Wagners zu lösen vermochte. Und so ist in den Frankkfurter Notizen des
Klavierschülers Vianna Da Motte aus dem Frühjahr des Jahres 1887 ein so viel milderes
Mendelssohn-Wort von Bülows als jene in stürmischer Jugendzeit geäusserten verbürgt:
"Ein Lied ohne Worte von Mendelssohn ist für mich ebenso klassisch, wie ein Gedicht
von Goethe".
Die Musikpublizistik jener Jahre, als Genre nicht eigentlich künstlerisch tätig, war zu
dieser Zeit in einem existentiellen Dilemma expandierender musikalischer Expressivität
und strikten bürgerlichen Konventionen befangen. Dem grossbürgerlichen Hörer
entsprechend war sie, angesichts des Phänomens Mendelssohn Bartholdy, mehr denn
je einer Situation signifikanter Schizophrenie unterworfen.
53
Elementen wie materieller Sicherheit, einer penibel nach Ständen und Schichten
separierenden Sozialordnung und gesellschaftlichen Zwängen ausgesetzt, erwartete der
grossbürgerliche Musikbetrieb vom Künstler als pittoresk präsentiertem Enfant Terrible
in staunender, erschauernder Ergriffenheit genialische Extraordinarität und soziale
Nonkonformität. Folgerichtig ward dem „Künstler“ Mendelssohn also verargt, vermittels
glücklich geführter Ehe, beschaulichem Hausstande und umfassender gesellschaftlicher
Integrität exakt die Dinge zu symbolisieren, welche in sonstigen Lebensbereichen als
Dogma bürgerlicher Lebensführung sanktioniert wurden.
Uneingestandenen,
unartikulierten
Ansprüchen
geschuldeter
Zwiespältigkeit
unwillkürlich hingegeben, war sich das bis zum Anbruch der "Informationsgesellschaft"
tonangebende Grossbürgertum über seine Erwartungshaltung an den Künstler und
Musiker aber scheinbar niemals gänzlich im klaren.
Den aktenkundigen
Finanzschmarotzern, Schürzenjägern und Umstürzlern in
Persönlichkeiten wie Richard Wagner, eigenbrötlerisch verschroben, bindungsunfähig
lebenswandelnden Komponisten wie Beethoven, Schubert und Bruckner bis zum
heutigen Tage frenetisch ergeben, verwehrte es dem Generalmusikdirektor König
Friedrich Wilhelms IV. von Preussen und des Gewandhauses, Ehrendoktor der
Universität Leipzig und Familienvater den Einzug in den musikalischen Olymp.
Desgleichen bescheidet es einer grossen deutschen Mimin wie Elisabeth Flickenschild
wie seinerzeit jener Hamburger Honoratior: An Kaspers vermieten wir nicht!
Im Jahre 1886 gab Friedrich Nietzsche in der Denkschrift: Jenseits von Gut und Böse
demzufolge ein folgenschwer-geflügeltes Mendelssohn-Wort vor:
” Diese ganze Musik der Romantik war überdies nicht vornehm genug, nicht Musik
genug, um auch anderswo Recht zu behalten als im Theater und vor der Menge; sie war
von vornherein Musik zweiten Ranges, die unter wahren Musikern wenig in Betracht
kam. Anders stand es mit Felix Mendelssohn, jenem halkyonischen Meister, der um
seiner leichteren, reineren, beglückteren Seele willen schnell verehrt und schnell
vergessen wurde: als der schönste Zwischenfall der deutschen Musik.”
Nietzsche führt Mendelssohn dabei als Belastungszeugen gegen die Romantik Webers,
Spohrs, Marschners, Schumanns und Wagners heran, zeigt aber wahrhaftig, wie
nachhaltig sich das von Neudeutschen lancierte Bild des heiteren Sentimentalisten, der
nur die Aufgabe wahrnahm, die Überleitung vom Genie Mozarts und Beethovens zum
Genie Wagner herzustellen, damals bereits einprägte.
54
13. Geschmacksgefährliche Lieder und Duette
"Diese gewisse Weichheit bildet einen Grundzug von Mendelssohns Wesen, dem nur
das Graziöse, Capricciöse und Brillante soweit den Widerpart halten, daß es nicht als
Weichlichkeit und Sentimentalität erscheint. (...) Im kleinen Rahmen (...) nicht nur mit
seinen "Liedern ohne Worte", sondern auch mit seinen Liedern, besonders aber den
Duetten (...) ist Mendelssohn unleugbar sogar geschmacksgefährlich geworden."
Als Herausgeber einer neben "Musik in Geschichte und Gegenwart" (MGG) bis zum
heutigen Tage führenden Enzyklopädie des Musiklebens schreibt die Autorität Hugo
Riemann im Jahre 1901 eine Sichtweise voller Widersprüche fest. Bezüglich des
Instrumentalwerkes beruft Riemann sich zwar auf Robert Schumanns Eloge vom
"Mozarts unseres Jahrhunderts", brandmarkt andererseits aber "Weichlichkeit und
Sentimentalität" der "im kleinen Rahmen" der Hausmusik verdächtig erfolgreichen
musikalischen Aussage Mendelssohns, welchen Wagner in seinem zuvor als
"überscharf" und "ungerecht" eingestuften Pamphlet dankenswerterweise Einhalt
geboten habe.
Darüberhinaus trägt Riemanns Beurteilung der Tendenz romantisierenden Musizierens
jener Tage "vermittels starker Verbreiterung der Tempi, agogischer Verzögerungen in
den Kadenzen" (K.-H. Köhler) keinerlei Rechnung. Jene liessen durch Überbetonung
chromatischer Stilistiken in Melodieführung und Harmonik die Musik Mendelssohns
fernab kompositorischer Absicht sentimentalisiert-persiflierend erklingen. Riemanns
Einschätzung prägte gleichsam als Kathederwort die Mendelssohn Rezeption innerhalb
der deutschen Musikwissenschaft für Jahrzehnte.
14. Denkmäler
Im Jahre 1868 trat in Leipzig anlässlich des 125 jährigen Bestehens der
Gewandhauskonzerte und der 25 jährigen Gründungsfeier des Konservatoriums ein
Komitee für „die Errichtung eines dem Gedächtnis Felix Mendelssohn Bartholdys
gewidmeten Denkmals“ erstmalig zusammen. Es eröffnete damit ein wenig rühmliches
Kapitel in der Beziehung dieser hochrangigen Musikstadt zu ihrem entschiedensten
Mentor.
Da es sich um eine Privatinitiative Leipziger Honoratioren handelte, standen keine
öffentlichen Mittel für Planung und Durchführung des Projektes zur Verfügung, dessen
Kosten auf 45000 Taler veranschlagt wurden. Der Vorstand des Komitees stellte daher
einen Finanzplan auf, welcher vorsah, die Summe u. a. durch die Erträge lokal und
überregional ergehender Spendenaufrufe sowie durch die Veranstaltung von
Benefizkonzerten und Vermögensveranlagungen aufzubringen. Spendenaufrufe wie
jener wurden somit in der regionalen und überregionalen Presse als repräsentative
Annonce abgedruckt:
55
„Das Interesse für den Mann, dem die ganze musikalische Welt zu so grossem Dank
verbunden ist, findet also seinen Mittelpunkt in dem Leipziger Leben des Künstlers und
Menschen, dessen Bedeutung die Nachwelt durch ein dem Wirken desselben
angemessenes Denkmal zu würdigen die Pflicht hat. Um diese längst erkannte
Ehrenschuld abzutragen, sind die Unterzeichneten zu einem Verein zusammengetreten
und fordern alle Freunde des Meisters auf, in zweckdienlicher Weise die beabsichtigte
Errichtung einen Felix Mendelssohn-Bartholdy-Denkmals in Leipzig fördern zu helfen.
Insbesondere werden Chor-Gesellschaften und Gesangsvereine ersucht, zu dem
angegebenen Zwecke Aufführungen zu veranstalten und den Ertrag derselben an den
unterzeichneten Verein einsenden zu wollen".
Die Finanzierung des Vorhabens vollzog sich schleppend; im Verlaufe eines 24 jährigen
Prozesses von der Stiftungsinitiative bis zur Denkmalseinweihung offenbarte sich ein
trübes bürgerliches Klima, welches die einstmals liberale Bürgerstadt Leipzig
zunehmend prägte.
Am Ende dieses quälenden Vorgangs war deutlich, das der Zeitgeist die Verbundenheit
der lokalen Bürgergesellschaft einem wesentlichen Repräsentanten grossbürgerlicher
Kultur gegenüber aufgekündigt hatte und sich einer vom Komitee per Annonce
konstatierten „Ehrenschuld“ nicht mehr bewusst war.
Im Jahre 1869 waren erst 1400 Taler eingegangen, welche sich kaum aus
Bürgerspenden zusammensetzten, vielmehr von der vereinsnah einzuschätzenden
Konzertdirektion des Gewandhauses und Erlösen eines Benefizkonzertes eingebracht
wurden.
Die vollständige Abkehr des Leipziger Publikums vom Werke Mendelssohns in den
70ziger Jahren verdeutlicht kaum eine Begebenheit trefflicher als jene: Hans von Bülow
absolvierte im Jahre 1872 als Pianist eine Tournee, welche von Berlin über Warschau,
Hamburg, Hannover und Düsseldorf bis nach Aachen zahlreiche deutsche Städte
umfasste. In Berlin und Leipzig gab von Bülow jeweils einen dem Klavierwerke Felix
Mendelssohns gewidmeten Konzertabend. Fritjof Haas schreibt dazu in seiner von
Bülow-Biographie: "Zu seiner (von Bülows) grossen Enttäuschung hatte der Komponist
seit seinem Tod gerade in Leipzig, dem Ort seines Wirkens, an Beliebtheit verloren. In
der Presse war zu lesen, kein Pianist ausser von Bülow könne es heute wagen, zwei
Stunden lang nur Mendelssohn zu spielen!"
Die darauffolgenden Jahre führten zu keinem erhöhten Stiftungsaufkommen aus der
Stadt Leipzig selbst heraus, vielmehr engagierten sich Musikliebhaber aus ganz
Deutschland vermittels Personenspenden oder Benefizinitiativen. Sogar in den
Metropolen London und Paris wurden durch Benefizkonzerte Gelder zugunsten des
Denkmals eingeworben. Ein betrüblicher Aspekt am Rande der Konzertinitiativen
zugunsten eines Denkmals des Komponisten ist zweifellos, daß erst jene auch dessen
Musik wieder stärker in den Vordergrund zu stellen vermochten.
Der Hausverlag Felix Mendelssohns, das renommierte Unternehmen Breitkopf & Härtel
suchte im Jahre 1875 helfend einzugreifen und publizierte eine Sonderbeilage. Diese
wurde allen Neuauflagen der Kompositionen Mendelssohn beigefügt und warben im
Namen des Komitees um Zuwendungen.
56
Im Jahre 1878 entspann sich ein Presseeklat in Leipzig um die Arbeit des Komitees und
brachte das lokale Spendenaufkommen vorerst vollends zum versiegen. Die Presse
thematisierte dabei u. a. den merkwürdigen Umstand, das die dem Komittee
verpflichteten Honoratioren zwar allenthalben um Gelder warben, selbst aber bisher
nichts dem Fond beigesteuert hatten.
Angesichts dessen nimmt es nicht verwunder, daß Felix Mendelssohn Bartholdy die
erste Gedenkstätte denn auch anderwärts errichtet wurde; es entstand bereits im Jahre
1860 in England, wo die Bürger der Stadt Snydenham ein Standbild des Komponisten
auf der Terrasse des dortigen Kristallpalastes errichteten.
Ines Reich vertritt in ihrem Beitrag "In Stein und Bronze – Zur Geschichte des
Mendelssohn-Denkmals" zum Leipziger Mendelssohn-Kolloquium folgende Thesen:
Waren es Ende der 60ziger Jahre des 19 Jahrhunderts noch Gründe verminderter
Wahrnehmung des Komponisten aufgrund der von der Neudeutschen Schule
geschürten Querelen um dessen Musik, lässt sich das Desinteresse der 70ziger und
80ziger Jahre eindeutig auf den unverhohlenen Judenhass zurückführen, welcher sich
der Bürgerschaft zunehmend bemächtigte. Leipzig sollte sich in jenen Jahren zu einer
Hochburg geistigen Antisemitismus entwickeln, welcher sich von der diffus
protorassistischen Antipathie der Revolutionsjahre nunmehr zur Reinform erklärten
Rassenhasses der Gründerzeit ausprägte. Publikationen, welche unter Antisemiten
reichsweit als Standardlektüre galten, wurden in Leipzig konzipiert und verlegt.
„Die Gartenlaube“, ein Massenblatt kleinbürgerlicher Belehrung und rührenden
Familiensentiments, wurde in Leipzig herausgegeben und bot der Leserschaft u. a. auch
eine Fortsetzungsserie antisemitischer Aufklärung. Diese legte dem Publikum
beispielsweise dar dass, "die soziale Frage (...) im wesentlichen eine Judenfrage (sei),
alles übrige ist Schwindel.“ Theodor Fritsch, ein führender Publizist und Ideologe des,
als alleinigen „Zweck seines Lebens“ erachteten deutschen Antisemitismus, betrieb
von Leipzig aus die Geschäfte des Hammer-Verlages. Publikationen waren u. a. „Der
falsche Gott“, "Das Rätsel des jüdischen Erfolges“, „Mein Streit mit dem Hause
Warburg“, Die Sünden der Grossfinanz“; "Anti-Rathenau“. Mit dem im Jahre 1887
herausgegebenen Antisemiten-Katechismus; welcher später zu einem Handbuch der
Judenfrage expandieren sollte, versorgte der Hammer-Verlag die antisemitische
Bewegung Deutschlands von der wilhelminischen Ära bishin zum Anbruch des "III.
Reiches" mit oftmals von Fritsch in Personalunion von Autor und Verleger vorgelegten
Bekenntnis- und Glaubensschriften.
Frau Reich führt zum Beweis ihrer schlüssig vertretenen Theorie dezidiert ausgeprägten
Leipziger Lokalantisemitismus der 70ziger und 80ziger Jahre des 19. Jahrhunderts
Fakten heran, welche für sich sprechen: Andere Vorhaben, welche vergleichbar auf die
Spendenbereitschaft Leipziger Bürger reflektierten, kamen wesentlich zügiger voran. So
wurden im Jahre 1883 „recht hohe Summen“ für die Errichtung eines Leibnitz-Denkmals
sowie einer Reformationsgedenkstätte zum Gedenken an das Wirken Dr. Martin Luther
mit „verblüffender“ Schnelligkeit zusammengetragen.
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Ein weiterer charakteristischer Vorfall liess dass das Benehmen der Leipziger
Bourgeoisie, sich vom Stande emanzipierten jüdischen Grossbürgertums abzusetzen,
welchem ja auch die Familie Mendelssohn seit Jahrhundertbeginn angehörte,
demonstrativ erkennen.
Der in den Jahren 1882 – 1884 konzipierte und ausgeführte klassizistische
Repräsentationsbau eines neuen "zweiten" Gewandhauses wurde durchaus auch als
Mittelpunkt grossbürgerlicher Selbstdarstellung im allgemeinen wie individuellen
aufgefasst. Er umfasste geschätzte Baukosten von 900 000 M und wurde nachhaltig
von Zuwendungen grossbürgerlicher Familien finanziert, welche für ein Denkmal
Mendelssohns kaum aufkamen. Dies geht aus damaligen Spendenverzeichnissen
eindeutig hervor.
Um das Denkmalsvorhaben angesichts des Klimas latenten Antisemitismus nicht
dauerhaft zu gefährden, suchte das Komitee, dem auch prominente jüdische
Persönlichkeiten aus dem unmittelbaren Freundeskreis Mendelssohns wie Ignaz
Moscheles und Ferdinand David sowie Salomon Jadasson angehörten, jedem Anschein
offizieller jüdischer Partizipation vorzeitig zu wehren. Somit kam eine Zusammenarbeit
mit der renommierten Mendelssohn-Stiftung zur Förderung begabter Pianisten und
Dirigenten, welche im Jahre 1863 von der Jüdischen Gemeinde ins Leben gerufen
wurde und bis 1933 bestand, nicht zustande.
Im Jahre 1889 – nach nunmehr 20 Jahren – waren schliesslich 40000 Taler
zusammengetragen, welche zur endgültigen Durchführung noch nicht ausreichten.
Das Komitee wandte sich mit der Bilanz an die Öffentlichkeit und beklagte dabei: "daß
die eingegangenen Beiträge ungefähr „zur Hälfte“ von auswärtigen Corporationen und
Privatpersonen eingesandt“ worden seien. Die fehlenden 5000 Taler wurden schlesisch
von der Stadtverwaltung beigesteuert.
3 Jahre später, am 26. Mai 1892, wurde das Denkmal, gleichsam die Erinnerung an
einen ungeliebten „Judensohn“ der Stadt, feierlich eröffnet. Die Honoratioren stellten
sich ein und hielten der Pflicht, dem Dank und der Tugend emphatische Laudates,
welche hinsichtlich einer wahrhaft fatalen Sammlungshistorie von 40000 Taler keinen
besonderen Kommentar benötigen:
„Leipzig möge es – und sie wird es behüten in Bestätigung des Dankes, welchen unsere
Stadt Ihm schuldet, dessen Namen wir nennen in Liebe und Verehrung“ (Leipziger
Tagblatt, Morgenausgabe, 27.5.1892) verkündete Otto Günther, der Vorsitzende des
Komitees und damalige Direktor des Konservatoriums.
„Mit der Vollendung dieses Denkmals ist uns nun das drückende Gefühl vom Herzen
genommen, dass dem Manne, der uns so grosses und Schönes gegeben hat, das
verdiente äussere Zeichen unvergänglichen Dankes noch nicht gewidmet sei. Dieses
Gefühl der Dankesschuld hat unsre Stadt auch als Gemeinwesen empfinden müssen
(...)
58
Die Stadt wird es sich deshalb auch, daran zweifle ich nicht, stets zur Ehrensache
machen, dieses Denkmal würdig zu erhalten, und ich nehme daher die mir
ausgesprochene Übergabe im Namen der Stadt und im ausdrücklichen Auftrag des
Rates mit herzlichen Dank hiermit an...“ (Otto Georgi; Reden und Ansprachen des
Oberbürgermeisters...; Lpz. 1899) beschwor Oberbürgermeister Georgi das
beiderseitige Vermächtnis.
Im Inneren des Gewandhauses, welches bereits seit nahezu zehn Jahren errichtet
stand, ehrte man Mendelssohn musikalisch. Auf der Violine, mit einer Interpretation des
erhabenen Konzertes Op. 64 legte der einstige Weggefährte Joseph Joachim ein wohl
wahrhaftigeres Plädoyer für den Mann des Tages ab.
Danach schwand das Denkmal aus dem Blickfeld allgemeiner öffentlicher
Wahrnehmung. Zwei kriminelle Gewaltakte, welches zum einen in den 20ziger Jahren
und zum anderen im Jahre 1936 des vergangenen Jahrhunderts auf den Bestand
desselben abzielten, brachte es einzig nachhaltiger in Erinnerung.
15. Es singt ein Lied von Felix Mendelmaier...
Um 1879 herum prägte sich in den chauvinistischen Gesellschaften der bourgeoisen
Berliner Intelligenz die Moderne völkisch-rassistischen Antisemitismus endgültig heraus,
welche sich im 20. Jahrhundert schliesslich vermittels „Reichskristallnacht“, Deportation
und Genozid nachhaltig manifestieren sollte. Auch der neuzeitliche Begriff des
„Antisemitismus“ definierte sich erst in der um den Berliner Geistlichen Wilhelm Marr
entstandenen Gesellschaft und fand somit 1879 Eingang in die Allgemeinsprache.
Ab ca. 1880 fanden anthropologisch-rassistische Theorien des Schriftstellers und
Diplomaten Joseph Arthur Graf Gobineau über den Bayreuther Kreis um Richard
Wagner und nach dessen Tode um Cosima Wagner, den Schwiegersohn Houston
Stewart Chamberlain sowie Wagner Biograph Carl Friedrich Glasenapp verstärkt
Aufmerksamkeit in Deutschland. Gobineau hatte bereits in den Jahren 1853 - 55 den 4bändigen Essay "sur l`inegàlité des races humaines" herausgegeben, welcher die elitäre
Bevorrechtigung der „Arier“-Rasse und sozialdarwinistische Moralvorstellungen
konstatierte sowie die Vernichtung des „Weissrassigen“ durch Blutvermengung
vermittels Geschlechtsverkehr mit „Fremdrassigen" prophezeite. Der Essay war in
Deutschland bereits ab dem Jahre 1856 in einer Bearbeitung durch den Philologen
August Friedrich Potts unter dem Titel "Die Ungleichheit menschlicher Rassen;
hauptsächl. vom sprachwissenschaftlichen Standpunkte, unter bes. Berücks. von d.
Grafen von Gobineau gleichnamigem Werke"; Lemgo 1856 ff. verfügbar.
Der Rassefanatiker Houston Stewart Chamberlain paraphrasierte Gobineaus Theorien
in zahlreichen Schriften. So bestritt er im Hauptwerk seiner Rassenveranschaulichungen
"Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts" vehement: „die Wahrscheinlichkeit das Jesus
(k)ein Jude war“ und behauptete ferner „das er keinen Tropfen echt jüdischen Blutes in
den Adern hatte“; es käme vielmehr der Gewissheit gleich „das Jesus Christus... der
jüdischen Rasse nicht angehörte, kann als sicher betrachtet werden. Jede weitere
Behauptung bedeutet eine willkürliche Annahme,“
59
Weitere Publikationen Chamberlains sind:
Rasse und Nation / von H. St. Chamberlain München : Lehmanns, 1918
Rasse und Persönlichkeit : Aufsätze / von Houston Stewart Chamberlain
München : Bruckmann. - 200 S
Aufsätze
Arische Weltanschauung / Houston Stewart Chamberlain. - 4. Aufl. München :
Bruckmann, 1917. - 94 S.,
Dillettantismus - Rasse - Monotheismus - Rom : Vorwort zur 4. Auflage der Grundlagen
des 19. Jahrhunderts / Houston Stewart Chamberlain, München : Bruckmann 1899
Im Jahre 1880 initiierten der Gymnasiallehrer Bernhard Förster und der Premierleutnant
Liebermann von Sonnenberg als Repräsentanten der deutsch-sozialen Partei die
Verbreitung einer antisemitischen Petition an Reichskanzler Otto von Bismarck. Diese
beklagte die Schädlichkeit der jüdischen Rasse für die Wohlfahrt und Kultur des
deutschen Volkes und forderte die Eliminierung der Juden aus Staats- und Schuldienst,
Zensus der jüdischen Bevölkerung und Einwanderungsbeschränkung. Sie wurde in
Berlin von 250000 Bürgern unterzeichnet.
Im Jahre 1889 fand die neugotische Umgestaltung der Thomaskirche in Leipzig ihren
Abschluss. Im Zuge dessen waren farbige, Persönlichkeiten der Stadtgeschichte wie
Martin Luther, Johann Sebastian Bach und Gustav Adolph von Schweden zugeeignete
Memorialfenster
ausgeführt
worden.
Auch
der
Bachrestaurator
und
Gewandhauskapellmeister Mendelssohn sollte ursprünglich gewürdigt werden. Doch
bald erhob ein sog. Deutscher Reformverein seine Stimme so vehement gegen das
Vorhaben, „einen Juden in einer protestantischen Kirche ehren zu wollen“, das die
Realisierung des Mendelssohn-Fensters unterblieb. Erst das Jahr 1997 liess das
Vorhaben, dank einer Schenkung der ehemaligen Thomasschüler Wolfgang und Klaus
Jentzsch, Wirklichkeit werden.
In den 90ziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurden auch vom Auslande her erhebliche
Ressentiments von prominenter Seite in die Mendelssohn-Rezeption eingebracht.
George Bernhard Shaw war nicht nur ein bedeutender Dramatiker des europäischen
Theaters; er hatte sich mit der Zeit auch zu einem rückhaltlosen Bewunderer des
Wagnerschen Musik-Dramas und Verfechter Wagnerscher Kathederlehren entwickelt
und erwies sich antisemitischen Tendenzen gegenüber keineswegs verschlossen. Dem
grossen Vorbilde publizistisch entsprechend, betätigte sich auch Shaw als Autor
musikkritischer Rezensionen, welche unter dem Pseudonym „Corno di Bassetto“
herausgegeben wurden. Der bezüglich Mendelssohn-Rezeption gepflogene Ton war ein
herablassender, von jener Art beissender Häme, wie sie jedwedem Dilletantismuss
viktorianischer Snobs in den Bühnenwerkens Shaws stets gewidmet ist. Auch hier
liegen die Gründe offensiver publizistischer Negierung im aussermusikalischen, im
Bereich gesellschaftskritischer Hinterfragung repräsentativen Viktorianismus, auf
welchen Shaw das Wirken Mendelssohns nachhaltig zu reduzieren trachtete.
60
Gleichsam in den 90ziger Jahren des vorvorigen Jahrhunderts zeichnet der
impressionistische Lyriker Detlev von Liliencron, vor ähnlichem Hintergrunde wie Shaw,
im Gedicht Reinigung die Karikatur eines Lieferanten sentimentaler Piecen
kleinbürgerlich-bildungsbeflissener Zerstreuung jüdischen Namens, dessen Vorbild
damals wie heute leicht zu erkennen ist:
"Es singt ein Lied von Felix Mendelmaier,
der lange Leutnant mit dem Ordensbändel;
das alte Fräulein brütet Rätseleier,
besorgt den Tee und duftet nach Lavendel.
(...)
Weh mir, wie langsam schwingt der Abendpendel!
Zu Ende. Gott sei dank: ich atme freier,
und bade mich daheim in Bach und Händel".
In seiner "Illustrierten Geschichte der Musik" aus dem Jahre 1903 dokumentiert der
Musikwissenschaftler Otto Keller folgerichtig die Geringschätzung jener Jahre
anschaulich:
”In den beiden Oratorien fehlt das Dramatische, das Leidenschaftliche, aber
Mendelssohn hatte nicht die Gabe, sich stark und unmittelbar auszusprechen. Und
trotzdem liegt in dieser Musik etwas Sonniges, das uns so angenehm berührt, wie ein
schöner Sommertag, weil sie in ihrer Einfachheit befriedigt und gar keine
Leidenschaften auslöst. Seine Kammermusik ist gänzlich verschwunden, seine
Klavierwerke gehen auch nicht tief, seine Lieder ohne Worte haben eine Ära seichter
Salonmusik heraufbeschworen, die besser ungeschrieben geblieben wäre. Sein ganzer
Lebenslauf war sonnig vom Urbeginne, er hatte nie Sorgen kennengelernt wie Mozart,
man darf sich daher auch nicht wundern, daß die Sonnigkeit seines Lebens auch in den
Werken zum Ausdruck kam”.
16. Keine Kosten und Mühen wurden gescheut...
Im darauffolgenden Jahr legte die Muthsche Verlagshandlung in Stuttgart eine
Geschichte der Musik vor, die der Musikpublizist Dr. Karl Storck in
populärwissenschaftlichem, spürbar subjektivem Tonfall verfasst hatte. In der
repräsentativen Ausstattung vermittels Jugendstilprägung des Einbandes und
graphisch-allegorischer Textillustration sowie hinsichtlich eines Textumfanges von über
800 Seiten ist er der Illustrierten Geschichte der Musik Otto Kellers vergleichbar. Dr.
Storck trat des weiteren auch noch als Verfasser von Opernführern hervor, welche bis in
die 40ziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts nachgedruckt wurden.
Storck´s Referat über Leben und Musik Felix Mendelssohns setzt in der
Rezeptionsgeschichte inhaltlich keine neuen qualitativen Masstäbe in negativer
Hinsicht; es wird lediglich der Katalog einschlägiger Stereotypen erneut repetiert.
61
Formell sprengt der entschieden polemische Tonfall Storcks allerdings den bis dahin
von einer um Seriosität bemühten Musikpublizistik vorgegebenen Rahmen. In Zeiten
nationaler Erhebung 10 Jahre vor dem Grossen Kriege verfällt Storck in eine
Sprechweise, deren Zielrichtung dezidierter Polarisierung sich erst in den Jahren ab
1933 vollendet herausbilden sollte. Des Weiteren stechen der Hang zu unausgesetzt
aufgestellter spekulativer Behauptung sowie gleichermassen die Formulierung in der
negativen Superlative hervor.
Erwägungen wie jener Abgleich der Elemente Felix Nomen est Omen, früher Tod und
die Prophezeiung eines unzweifelhaften, gegebenenfalls noch in den Reife- und
Altersjahren Mendelssohns erfolgenden Niedergangs seines Renommees führen
Storcks Darlegungen schliesslich in die Bereiche des Zynismus. All dies versetzt nicht
allein Storcks
publizistisches Wirken insgesamt in ein fragwürdiges Licht. Die
unrezensierte Reflektion desselben in einem opulent aufbereiteten bildungsbürgerlichen
Musik-Familienhausbuch vermittelt eindringlich den Geist, welcher die Jahre vor dem 1.
Weltkriege zu prägen schien. Ob Dr. Storck dabei von subjektivem Widerwillen gegen
Person und Tonsprache Mendelssohns oder antisemitischer Ereiferung angeleitet
wurde, muss dabei offenbleiben.
Hier nun Storck´s Mendelssohn-Vortrag in Auszügen.
Zu Werdegang und Rezeption:
"Zum Kreis der Romantiker wird auch Felix Mendelssohn-Bartholdy gerechnet. Ich
möchte da von einer Romantik aus Bildung sprechen. (...) Unsere deutsche
Kunstgeschichte wird überhaupt unter ihren bekannten Künstlern kaum noch einen
Mann nennen können, dessen Entwicklung so glatt verlief, so gar nichts von Kampf, von
problematischem zeigt, wie die seine. Das könnte ein Ideal sein, (...) wenn es nicht
leider Oberflächlichkeit bedeutete. Es werden immer wieder bei den ja recht selten
gewordenen Aufführungen Mendelssohnscher Werke Stimmen laut, die eine
Neubelebung seiner Kunst erhoffen. Im Ernst kann man daran kaum glauben, so leicht
begreiflich es auch ist, daß man (...) seine einfachen und auf das vornehme
Gesellschaftsleben abgestimmten Werke als Erholung empfinden kann. (...)
Zum Elternhause:
Felix Mendelssohn ist ein Enkel des jüdischen Reformators und Philosophen Moses
Mendelssohn (...). Es war schon dem Philosophen gelungen, aus der Armut zum
Reichtum zu gelangen, und unseres Felix Vater hatte den so vermehrt, daß er 1809 in
Berlin das noch heute blühende Bankgeschäft gründen konnte. (...) Keine Mühe, keine
Kosten wurden gescheut, jegliche Gabe, die sich bei dem Kinde zeigte, aufs sorgsamste
auszubilden(...)
Zum "Felixissimus":
Am 4. November 1847 erlag er einem Nervenschlag. Von künstlerischem Standpunkt
aus könnte man wohl sagen, daß auch in diesem frühen Tode sein Vornahme "Felix" die
glückliche Bedeutung für sein Leben behielt. Denn es wäre Mendelssohn kaum erspart
geblieben, daß er seinen Ruhm wohl bald überlebt gehabt hätte. (...)
62
Zu Werk und Musik:
Mendelssohns grösstes Verdienst liegt zweifellos in seiner Hebung des öffentlichen
Konzertlebens; durch ihn sind die Werke der Klassiker in den Mittelpunkt desselben
gerückt worden. (...) Doch zeigt sich auch in dieser Tätigkeit die Schwäche
Mendelssohns, die freilich akademischen Naturen gar als Vorzug erscheinen mag.
Mendelssohn ist immer und überall der wohlerzogene Sohn des wohlhabenden, auf den
äusseren "Dekor" in jeglicher Lebenslage bedachten Hauses.
Wäre nicht die gründliche Bildung, man würde den Mangel jeder überschäumenden
Kraft, jedes persönlichen Hervortretens noch viel störender empfinden. Denn darüber
muss man sich klar sein: Mendelssohns Ruhe und Abgeklärtheit ist nicht die Ruhe nach
dem Sturm, sondern die eines Mannes, dem das äussere Leben jeden Kampf ersparte,
der auch innerlich niemals zum Ringen kam. (...) Sein Gefühl für das Volkstum blieb
doch recht äusserlich, was schon die Tatsache zeit, daß Schumann in der schottischen
Symphonie die italienische vermuten konnte. Das Schaffen Mendelssohns ist doch im
wesentlichen formal. Der Inhalt (...) ist nirgends stark, aber es entsteht bei diesem
gebildeten Mann doch auch nie eine wirkliche Leere. Wie äusserlich sein Verhältnis zur
Form aber doch oft war, zeigt die Übernahme des Erzählers und des Gemeindechorals
aus der alten Passion ins Oratorium (...) wogegen in der Musik zur "Antigone" und dem
"Ödipus" das schwächliche Philologentum, wie man es geradezu nennen könnte,
gegenüber dem gewaltigen Empfindungsgehalt der Antike arg zurückbleibt.
Die um den 3. Februar des Jahres 1909 herum pflichtgemäß abgeleisteten
Gedächtnisfeierlichkeiten zur hundertsten Wiederkehr seines Geburtstages erregten
angesichts dessen wiederum Befremden in der europäischen Öffentlichkeit. Ernest
Walker kommentiert im "Manchester Guardian" vom 3. Februar 1909:
”Mendelssohn, einer der ehrlichsten Menschen, hätte es tausendmal vorgezogen, daß
sein Ruhm ungerechterweise untergegangen wäre, als daß er durch heuchlerische und
unwahre Mittel gerettet würde.”
17. Eine Lanze für Felix Mendelssohn
Die späten 90ziger Jahre, die Jahrhundertwende, aber auch die Jahre bis in die
Weimarer Republik hinein, brachten nichtsdestotrotz vermehrt Plädoyers namhafter
Persönlichkeiten kulturellen Lebens zugunsten Mendelssohns mit sich. So engagierten
sich die Komponisten Max Reger. Camille Saint-Saens, Ferruccio Busoni, und Alfredo
Casella, die Dichter Theodor Fontane und Romain Rolland, die Musiker Johannes
Brahms und Hans von Bülow sowie der Musikwissenschaftler und Intendant des
Wiesbadener Staatstheaters Paul Bekker, und der Musikhistoriker Heinrich Schenker für
die ästhetische Neubewertung eines "feinsinnige(n), gemütswarme(n), grosse(n)
Meister(s)", der "fast vergessen, jedenfalls total unterschätzt wurde und wird" (Reger).
63
Max Reger empfahl des weiteren “all den verwirrten (...) jungen Übermenschen, bei
denen Musik überhaupt erst beim achten Horn, beim vierfachen Holz, bei
vierundsechzig Schlaginstrumenten (...) beginnt” eingehendere Beschäftigung mit “der
Vollendung des klaviertechnischen Materials” und “der absolute(n) Beherrschung des
musikalisch-formellen Elements” (Wirth Max Reger Reinbek 1973) Mendelssohn´scher
Kompositionen.
Der Musikpublizist Adolf Weißmann befreite die musikalische Entwicklung Richard
Strauss und Max Regers aus dem übermächtigen Einflussbereich Wagners, in welchem
öffentliche Wahrnehmung sie bislang ansiedelte und führte den musikalischen Ursprung
derselben wieder stärker den eigentlichen Vorbildern Felix Mendelssohn und Johannes
Brahms zu.
Paul Bekker wiederum erkannte Felix Mendelssohn den Rang eines selbständigen
Nachfahren Beethovens zu.
Busoni ehrte Felix Mendelssohn nicht nur als ”einzigen wahren Schüler Mozarts neben
Rossini und Cherubini”. Mit dem formal-komplex polyphonen Tondrama Dr. Faust hatte
Busoni ein epochales Werk früher Moderne unvollendet hinterlassen und sich parallel
dazu, gegen Ende seines Lebens, die ”seichte Salonmusik” der "Lieder ohne Worte" zu
erneutem, intensivem Studium vorgelegt.
Die Jahre des 1. Weltkrieges; die Ernüchterung unabsehbar fortdauernden
Kriegsschreckens, brachten hingegen vermehrte Abkehr von allzu heroischsimplifizierenden kulturellen Nationalismen in der Musik und auf der Bühne. Nicht von
ungefähr reduzierte sich somit auch die Aufführungszahl des bislang stilistisch
dominierenden Wagner-Werkes erstmals auf einen Gleichstand innerhalb gewohnten
Mischrepertoires.
18. Eine weiche, zur Sentimentalität neigende Natur
Der Komponist und Musikpublizist Max Chop, seinerzeit als Liszt-Authorität gewürdigt,
wurde Musikfreunden unserer Zeit hauptsächlich durch historische Veröffentlichungen
innerhalb der traditioinsreichen Universal-Bibliothek des Hauses Reclam geläufig. In den
Jahren 1900 bis ca. 1920 legte er zahlreiche fundiert recherchierte Einzelstudien von
Standardwerken des Opernrepertoires und Komponistenbiographien vor. Ob ihm im
Zuge dessen auch die Erarbeitung eines Felix Mendelssohn-Portraits übertragen wurde,
wäre noch herauszufinden, aber keineswegs zu hoffen.
Ein von Max Chop im Jahre 1916 erstveröffentlichter Führer durch die Musikgeschichte
zumindest entwickelt bereits in der komprimierten Behandlung des Sujets einschlägigperfide Dialektik von neuer unvermuteter Qualität.
Der Wagnerianer Chop sucht die Person, den Menschen Felix Mendelssohn
nachhaltig zu minimieren, um – quasi vermittels eines Phänomens umgekehrter
Relativierung – das Idol des Musikdramatikers daran ins unermessliche zu erheben.
64
Nach dem klug disponierten Verweis auf Parteienstreit und musikalisch indifferente
Diffamie greift Chop selbst sogleich zu der zuvor angeprangerten Methodik.
Originäre Qualität entwickelt dabei eine Praxis inkriminierender Verfälschung
biographischer Fakten, Verkürzung und Umkehrung von Zusammenhängen, ja fiktiver
Behauptungen: musik-“wissenschaftlicher“ Methoden also, welcher sich einzig der
Nationalsozialismus noch vergleichbar bedienen sollte.
Daher seien den demagogischen Wendungen auch Verweise auf die biographische,
musikhistorische Sachlage entgegengestellt.
Das von Chop nachfolgend imaginierte Zerrbild eines kleinlichen, eifersüchtigen, eitlen
Musikfunktionärs, das beim zeitgenössischen Leser massiv hervorgerufene
Ressentiment gegenüber der Person des Komponisten, negiert die im Anschluss
dargelegte verhaltene, um Differenzierung bemühte, stellenweise bewundernde
Sichtweise auf dessen Musik denn auch erheblich.
„Die künstlerische Persönlichkeit (...) Felix Mendelssohns sachlich zu erörtern, ist (...)
eine nicht eben leichte Aufgabe, weil der Streit der Parteien und Meinungen schärfer
denn je um die Werke und deren ästhetische Werte entbrannt ist“. (...) Ohne Frage hat
(...) die tendenziöse Mache und Propaganda gewisser Kreise der ruhigen Abwägung
viel geschadet (...), indem (das ästhetische Sentiment) Mendelssohn gegen die
neudeutsche Kunst ausspielte und seine Stellung Wagner gegenüber ihm (...) zum
Vorwurf (machte). Gewiss: Mendelssohn liebte Wagner durchaus nicht, vielleicht, weil er
von der ersten Bekanntschaft (...) an, das ihn selbst in seiner Machtstellung
gefährdende, kunstrevolutionär gesonnene Genie erkannte. Er dirigierte Wagners
"Tannhäuser"-Ouverture im Gewandhause als „warnendes Beispiel“ (...) und tröstete
den Komponisten des „Fliegenden Holländers“ bei der Dresdner Erstaufführung des
Werkes durch den etwas schadenfrohen Zuspruch: Er könne ganz zufrieden sein mit
der Aufnahme, denn sie sei ja, alles in allem, kein vollständiges Fiasko gewesen".
(Mendelssohn wohnte der Berliner Premiere des „Holländers“ im Januar 1844 bei und
„kam nach der Vorstellung auf die Bühne, umarmte mich und gratulierte mir sehr
herzlich.“ Richard an Minna Wagner; 8.1.1844)
"Indessen lagen solche Äusserungen in einer menschlichen Schwäche begründet, die
von jeher bei Musikern und Tondichtern fruchtbaren Boden gefunden hat. (...)
Mendelssohn (...) konnte es nicht verwinden, einen Künstler neben sich zu sehen, der
die öffentliche Aufmerksamkeit von ihm auf sich selbst ablenkte. Selbst für Robert
Schumann hatte er kaum ein freundliches Wort übrig,
(Uraufführung der 1. „Frühlings“-Symphonie und der 2. „C-Dur“-Symphony durch Felix
Mendelssohn im Gewandhaus)
Chopin bespöttelte er als „Chopinetto“ , Liszt war ihm gänzlich unsympathisch und
Berlioz nannte er „eine vollständige Karikatur ohne einen Funken von Talent“.
65
(den Zeitgenossen Schumann, Wagner und Brahms vergleichbar sind ästhetische
Vorbehalte Mendelssohns gegen andere musikalische Auffassungen selbstverständlich
schriftlich belegt; Chopin, Liszt und Berlioz waren in den Jahren 1840 und 1843 als
Interpreten eigenen Repertoires Gäste des Gewandhauses. Integrität, menschliches,
musikalisches sowie - im Falle des Gewandhausskandales um Franz Liszt nahezu
extraordinär erwiesenes – organisatorisches Engagement des Gastgebers Felix
Mendelssohn sind jeweils in fundierteren Biographien und Autobiographien der
Genannten nachgewiesen.)
(...) Zwischen beiden (Wagner und Mendelssohn) bestand der (...) Unterschied, daß der
eine das (...) künstlerische Vermächtnis eines Bach, Händel, Beethoven (...) sich zu
eigen gemacht hatte, ohne (...) Konsequenzen in einem dem Zeitgeiste angepassten
Sinne zu ziehen, während beim anderen sich aus dem völligen Aufgehen in den
genannten Meistern heilige Feuer entzündeten, deren leuchtender Schein schon damals
seine Reflexe weit voraus warf.
(Wagners Bekenntnis zum Werk Beethovens ist verbürgt; eine Affinität zum
„akademisch“ und „historisch“ apostrophierten Werk Bachs und Händels bestand nicht.)
"Wohl die grössten Antipoden...– selbst in der äusseren Gestaltung des Lebens, das
dem einen lachenden Sonnenschein und Anerkennung, dem anderen Kampf, Not und
Verkennung schickte! Mendelssohn eine weiche, zur Sentimentalität neigende Natur, Wagner ein herber, kraftvoller, zäher, dem Explosiven zuneigender Charakter! (Max
Chop; Führer durch die Musikgeschichte, Berlin 1916, ebda. 1922)
Intermezzo III: und dirigierte Wagners "Tannhäuser"-Ouvertüre im Gewandhause...
Die „Tannhäuser"-Ouvertüre wurde am 12.2.1846 im Rahmen eines Sonderkonzertes
zugunsten des Pensionsfonds des Gewandhausorchesters als Werk zeitgenössischavantgardistischer Tonkunst angesetzt und vom Publikum ausgezischt. Es dirigierte
Eric Werner zufolge Ferdinand Hiller.
Mendelssohn wirkte nachweislich als Pianist (Beethovens 32 Klaviervariationen in CMoll, Op. 36) an diesem Konzerte mit. Bedauerlicherweise verzichtete Werner auf einen
Verweis, woher er die Information eines Hillerschen Dirigates bezog und verwechselt
darüberhinaus Hiller möglicherweise mit einem der anderen als Stellvertreter
Mendelssohns tätigen Kapellmeister wie Gade.
Hiller dirigierte die Gewandhauskonzerte stellvertretend während des ersten Berliner
Engagements Mendelssohns, also von April des Jahres 1841 bis Oktober des Jahres
1842; nahm aber, nach vermeintlichem Zerwürfnis mit Mendelssohn, im Jahre 1844 eine
Verpflichtung als Kapellmeister in Dresden an. Möglicherweise dirigierte Hiller bis zum
Tode Mendelssohns oder gar darüberhinaus also niemals mehr am Gewandhause. In
der Saison 1845/ 46 indessen teilte sich Niels W. Gade nachweislich mit Mendelssohn
in die Leitung des Leipziger Konzertwesens.
66
Da gemeinhin Felix Mendelssohn als Dirigent der verunglückten Leipziger Vorstellung
genannt und darüberhinaus auch das Datum diffus gehandhabt wird (so nennt KarlHeinz Köhler fälschlicherweise März 1845), liegt möglicherweise der Lapsus einer
genuin aus der Wagner-Literatur hervor- und in die biographische MendelssohnRezeption übergegangenen, allgemeinhin tradierten Gleichsetzung von Ort und Person
vor.
Wagner selbst hatte von dem Konzert lediglich nachträglich aus zweiter Hand erfahren.
In seiner nahezu 20 Jahre später verfassten Autobiographie „Mein Leben“ gibt er
Mendelssohns Dirigat hingegen als Fakt wieder. Da Wagner in „Mein Leben“
zahlreichen Autographen der Jahre 1842-47 von seiner Hand (vor allem den an Felix
Mendelssohn gerichteten Briefen) offenkundig widerspricht, scheidet dieselbe als
seriöse Informationsquelle zu Leben und Werk Mendelssohns grösstenteils aus.
Der spätere Dirigent Hans von Bülow hingegen wohnte als Augenzeuge jenem Konzerte
bei und berichtete 5 Jahre später darüber in dem Essay "Das musikalische Leipzig und
sein Verhältnis zu Richard Wagner" aus dem Jahre 1851:
"Um sich nicht dem Vorwurfe eines grundlosen Verdammungsurtheils, d. h.
grundsätzlichen Ignorierens der Wagnerschen Musik auszusetzen, beschloss man
daher, die Ouvertüre zum Tannhäuser, als ein grösseres, abgeschlossenes Tonstück,
das in Dresden Furore gemacht, in einem Concerte zu Gehör zu bringen.
Die Aufführung dieses sehr schwierigen, aber bei gehörigem Fleisse und Sorgfalt im
Einstudieren auch höchst dankbaren und unvergleichlich wirksamen Musikstückes, war
über alle Maßen unerquicklich, eine Execution , im besonderen Wortsinne. Es hätte
einer solchen (...) Verhunzung – nicht einmal bedurft, um die Composition fallen zu
lassen: die missmuthige Miene des Dirigenten autorisierte gewissermaßen schon das
Publikum zur Missfallensbezeugung. Mendelssohn hat durch jene herzlichen Worte,
welche er nach einer Aufführung
des Tannhäuser in Dresden mit sichtlicher
Ergriffenheit an Wagner richtete, sich vollkommen von diesem trüben Flecken gereinigt;
von Leipzig würden wir es aber recht taktvoll gehandelt wissen, wenn es Wagner eine
réparátion d´honneur (...) nicht länger schuldig bliebe".
Nicht allein jenes im Nachsatz vorgebrachtes Resümee lässt wenig auf eine
Interpretationsverantwortung des Gewandhausdirektors für jenen Konzertteil schliessen;
vielmehr widersprechen die Verweise auf offenkundig ermangelnden „gehörige(n)
Fleisse und Sorgfalt im Einstudieren“ respektive „unerquickliche“ Ausführung eigentlich
allen überlieferten musikalischen Prinzipien des Dirigenten Mendelssohn hinsichtlich
Sorgfalt in der Orchesterarbeit und unbedingter Aufführungsqualität.
Darüberhinaus stellen auch die Originalrezensionen des Pensionsfondkonzertes in den
führenden Leipziger Fachpublikationen und die im Jubiläumsalmanach des
Gewandhauses vom 1898 enthaltene Konzertchronik ein Dirigat Mendelssohns im
Nachhinein erheblich in Zweifel.
Die Rezensionen in der "Allgemeinen musikalischen Zeitung" aus Leipzig sowie in der
NZfM schweigen sich über den Abenddirigenten vollkommen aus.
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Das liesse, Mendelssohn am Pult vorausgesetzt, in beiden Fällen erheblich verwundern.
In der "Allgemeinen musikalischen Zeitung" zeichnete der Lokal-Rezensent L. R. in den
letzten Arbeitsjahren Mendelssohns für die Berichterstattung der Gewandhauskonzerte
alleinverantwortlich. Er liess es sich zur Gepflogenheit werden, das Dirigat
Mendelssohns jeweils nicht allein dezidiert zu kommentieren, sondern dessen Namen
in der Rezension gar kursiv hervorzuheben. Das Unterschlagen einer musikalischen
Leitung durch Mendelssohn fiele bei diesem Rezensenten also vollständig aus dem
Rahmen.
Einzig die Besprechung des berüchtigten Novemberkonzertes gleichen Jahres, mit einer
missglückten Uraufführung der C-Dur-Symphony Schumanns und darauffolgenden, auf
die Person Mendelssohns abzielenden „mosaischen“ Unterstellungen der Presse,
schweigt sich über den Abenddirigenten aus.
Allerdings erfolgte zwischen den beiden Ereignissen ein Redaktionswechsel in der
"Allgemeinen musikalischen Zeitung", der Rezensent der Gewandhauskonzerte wurde
fürderhin nicht mehr genannt und hatte möglicherweise gleichsam gewechselt.
Interessanter in diesem Zusammenhang ist eher noch die Besprechung der gleichen
Veranstaltung durch die NZFM, welche Franz Brendel höchstselbst vornahm. Auch
dieser lässt den Dirigenten unerwähnt. Nach allem, was bislang über die publizistische
Position Brendels im Leipziger Musikleben erörtert wurde, lässt sich kaum annehmen,
daß in einem renommierten "neudeutschen" Fachorgan die vermeintlich exemplarische
„Verhunzung“ eines wesentlichen Meilensteines der „Neudeutschen Schule“ durch den
führenden Kopf der Leipziger „Traditionalisten“ taktvoll unter den Tisch fallen gelassen
wurde.
Während die genannte Orchesterchronik die detaillierten Konzertberichte oftmalig mit
der Verlautbarung: Mendelssohn dirigierte, Hiller dirigierte abschloss, wird auch dort
kein musikalischer Leiter besagten Pensionsfondkonzertes genannt. Dies legt die
Vermutung nahe, daß sich, da Mendelssohn und Gade (Viola-Partie im Quartett-Konzert
für 2 Violinen, Viola, Violoncello und Orchester von Ludwig Spohr) sich ja auch als
Instrumentalsolisten in das Konzert einbanden, beide möglicherweise als A- oder BDirigenten des Gewandhauses in die Veranstaltung teilten.
Publikumsverstörung und Skandal rief die Aufführung der Ouvertüre in jenen Jahren
auch in anderen Musikstädten Europas hervor.
Als Generalmusikdirektor Franz Lachner das Werk am 1. November des Jahres 1852 im
Rahmen eines Odeon-Konzertes erstmalig in München vorstellte, wurde es vom
Auditorium einhellig ausgezischt. Hans von Bülow erhob die Stadt München in einer
umfassenden Kolumne polemischer Essays in der NZfM daraufhin eilfertig in den hohen
Rang einer Ordensburg musikalischer Reaktion und eines Zentrums der „Opposition in
Süddeutschland“ (NZfM, Nr. 22 – 26, 25.11. – 23.12.1853). Auditoriumseklats infolge
konzertanter und szenischer Darbietungen Wagnerschen Werkes auch in einem vom
jungen Hans von Bülow selbst geleiteten Konzert ("Tannhäuser"-Ouvertüre), des
gleichen in Wien (dito) und Luzern ("Der Fliegende Holländer"). Eine im Jahre 1850
geplante Aufführung der "Tannhäuser"-Ouvertüre in der Union Musicale in Paris
scheiterte bereits im Vorfeld am Desinteresse des Orchesters.
68
19. Nur in einem Abstand zu nennen
Als originärster Beitrag der Zwanziger und frühen Dreissiger Jahre zu stereotyper
Mendelssohn Negation in Schlagworten kann jenes des „Abstands“ gelten, die zahlreich
publizierte Behauptung:
nur in einigem Abstand zu anerkannten Meistern der
europäischen Musikgeschichte könne Mendelssohn ja rezipiert werden.
So hebt Prof. Dr. Ludwig Schiedermeyer in der Monographie „Die Deutsche Oper“
(Quelle & Mayer, Leipzig 1930) gleich zu Beginn einer vergleichenden Darstellung
Schuberts und Mendelssohns als Problemkindern deutschsprachigen Musiktheaters
divergierende Rezeptionsebenen als quasi selbstverständlich hervor:
"In einer gewissen Ähnlichkeit mit Schubert hatten auch Felix Mendelssohn-Bartholdy,
der nur in einem Abstand von diesem genannt werden darf, immer wieder Opernpläne
beschäftigt. (...) Das Missgeschick, das "Die Hochzeit des Camacho" trotz aller
Anerkennung der Mendelssohnschen Verwandtschaft bei der Erstaufführung im Berliner
Schauspielhause (1827) ereilte, enttäuschte den sensiblen, überempfindlichen Jungen
so schwer, daß er fortan nicht mehr ohne Voreingenommenheit (...) der Oper
gegenübertrat".
Auch im weiteren Verlaufe der Schiedermayerschen Nationaloperngeschichte wird
Mendelssohn als Massstab der Mittelmässigkeit angeführt, wenn es beispielsweise gilt,
Schwächen in der Tonsprache des jungen Richard Strauss zu indizieren.“
"Mit der musikalischen Umwandlung, der "Läuterung" der Salome, gelangt nun der
Täufer in den Vordergrund des Dramas, (...). Allein das Jochanaan-Drama setzt sich
nicht durch, da ihm musikalisch wohl gefühlsselige, pastorale Melodien der
Mendelssohnschen Sphäre zugeleitet werden, aber jene Charakterisierung (...) eine(s)
Felsen (in) der Umgebung allgemeiner Verderbnis (vorenthalten bleibt)".
Die Suggestion der Zwangsläufigkeit, Naturbedingtheit einer niederen Positionierung
Felix Mendelssohns, welche die Wortmacht Schiedermayers unwillkürlich hervorruft, ist
keineswegs als Marginalie oder Zufallsprodukt aufzufassen. Es bezeugt vielmehr die
komplexe Doppeldeutigkeit chauvinistischer Rhetorik in jener Zeit vor dem
Nationalsozialismus., auf welchen dieselbe bereits hinwies. Wenige Jahre später
mochte Dr. Ludwig Schiedermayer, Prof. der MW an der Rheinischen FriedrichWilhelm.-Universität. Bonn Überzeugungen wie jene , eine Jude sei aus rassischen,
also biologischen Gründen „natürlich“ weit unterhalb des Ariers anzusiedeln,
unumwundener zum Ausdruck gebracht haben. Beauftragt, gemeinsam mit den
Kapazitäten Friedrich Blume, Gotthold Frotscher und Karl Hasse die Ausstellung
„Entartete Musik“ im Mai des Jahres 1938 wissenschaftlich zu betreuen, hatte er ja
exakt zu diesem und anderen Aspekten einschlägig Stellung zu nehmen.
69
20. Wir können auf Objektivität nicht Verzicht leisten!
In den 20ziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts veröffentlichte der Musikpublizist
Walter Dahms bemerkenswerte Monographien über die Komponisten Franz Schubert,
Robert Schumann und Felix Mendelssohn. Diese erschienen in einer vom Verlag
Schuster & Loeffler in Berlin konzipierten „Sammlung“ von „Meister-Biographien“
hochrangiger Komponisten. Co-Autoren der Reihe war u. a. der namhafte
zeitgenössische Musikschriftsteller Julius Kapp. Die Popularität der Sammlung bezeugt
allein schon der Fakt reichhaltiger Verfügbarkeit der Bände im aktuellen Antiquariat.
Die Veröffentlichungen Walter Dahms zeichnen sich durch einen verblüffenden
Ansatz kompetenter, umfassender Darstellung des jeweiligen Sujets auf der Grundlage
präziser Recherche aus. Zeittypisch andererseits sind Einseitigkeit, mangelnde
Objektivität in der Sichtweise kontroverser, problematischer künstlerischer
Standortbestimmungen des dargestellten Komponisten. Die stilistische Einordnung des
Schumannschen und Mendelssohnschen Werkes erfolgen somit vornehmlich aus der
nationalkonservativen Perspektive heraus.
Gleich zu Beginn der Mendelssohn-Monographie, im „Präludium“ sah sich der Autor
daher der obligaten Notwendigkeit einer „rassischen Einordnung“ Mendelsohn´schen
Oeuvres ausgesetzt. Karl-Heinz Köhler nannte es im Jahre 1972 zutreffend: „den
merkwürdigen...Versuch..., auf antisemitisch-rassenbiologischer Grundlage von
Mendelssohns Werk zu retten, was zu retten ist“ und verweist auf den nachhaltig
hervorgerufenen Eindruck "daß hier ein positives Plätzchen für Mendelssohn gesucht
wird.“ Hauptinstrument des Konstruktes deutschnationaler Vereinnahmung der
Komponisten Mendelssohn (und Schumann) ist die gesuchte Absetzung dessen Werkes
von jenem Giacomo Meyerbeers; die Konstatierung, Mendelssohns Musik sei in
letztendlicher Betrachtung als „deutsch und rein“, das Werk Meyerbeers hingegen als
unverkennbar „jüdisch“ einzuordnen.
Dahms begibt sich somit voll Bedauerns in die Verpflichtung „nun von dem Judentum
Mendelssohns sprechen“ zu müssen, „nicht, wie um etwas Unangenehmes oder
Peinliches, von dem doch nun einmal die Rede sein muss, möglichst rasch zu erledigen,
sondern um von vornherein den richtigen Standpunkt in einer so wesentlichen Frage zu
gewinnen. (...) Wir wissen längst, daß das Jüdische keine Sache der Religion, sondern
der Rasse ist. Die Forscher auf beiden Seiten, der Juden und Nichtjuden (...) haben uns
genugsam belehrt (...) daß die Wahrheit in der Mitte liegt. Wir können auf Objektivität
nicht Verzicht leisten.
Deshalb dürfen wir auch Richard Wagners Schrift über das Judentum in der Musik nicht
ohne Vorbehalt unterschreiben und unerwähnt lassen. (...) Denn Wagner wusste
ebensogut wie wir, daß Mendelssohns Musik unbeschadet der Würde der deutschen
Kunst und Kultur neben der seinen bestehen konnte (...). Denn Meyerbeeers
musikalische Leichtfertigkeit und die Skrupellosigkeit seiner Mittel sind zu offensichtlich,
um geleugnet zu werden. (...) Mendelssohn dagegen ist der einzige grosse und ernste,
für alle Zeiten bleibende Meister, den die Juden der Musik geschenkt haben. Seine
Musik hat deutschen Charakter. Ihn aus der Reihe der „deutschen“ Meister
auszuschliessen, wäre eine Verblendung, die nur aus einer gründlichen Verkennung
des vielseitigen Wesens des Deutschtums zu erklären wäre.“
70
Nach einer durchaus zutreffenden Betrachtung und Herleitung der Mendelssohnschen
Entwicklung gänzlich aus der musikalischen Tradition sowie dem romantischem Ideal
heraus, konzentriert sich Dahms schliesslich auf die diskreditierende Analyse eines
semitisch-idiomatischen Konterparts, dem Mendelssohn keinesfalls zuzuordnen sei.
„Finden wir etwa in seinem Schaffen die von Nietzsche gekennzeichneten
Eigenschaften der Semiten: „die furchtbare Wildheit, das Zerknirschte, Vernichtete, die
Freudenschauer, die Plötzlichkeit? (...) In seiner Stellung zur Romantik lässt sich (...)
vielleicht ein Mangel an typisch deutschen Eigenschaften finden. (...) Wir stossen noch
einmal auf Nitzsche, wie er von Mendelssohn spricht, „an dem sie die Kraft des
elementaren Erschütterns (beiläufig gesagt)t: das Talent der Juden des alten
Testaments) vermissen (...) Einem Meyerbeer gegenüber dürfen wir, Wagner Folge
leistend, unserem Unwillen freien Lauf lassen. Aber wir müssen uns hüten, Erfahrungen,
die wir in der Missgeburt der „großen“ Oper mit „jüdischen“ Eigenschaften gemacht
haben, (...) auf einen Meister wie Mendelssohn zu übertragen. (...)
Ein Meyerbeer und noch viel weniger spätere jüdische Komponisten (möglicherweise
eine Anspielung auf Schönberg, Weill und Schreker, Anm. d. Verf.) dürfen uns den Blick
für Mendelssohns Reinheit und Seelengrösse nicht trüben. Vorausgesetzt, daß wir
überhaupt ein Interesse daran haben, das Jüdische in der Musik besonders zu
untersuchen...wie es eben Wagner getan hat.“
Bemerkenswerterweise begibt sich Dahms im Versuch semtitisch-musikalischer Analyse
in eklatanten Widerspruch zur gängigen Sichtweise des „Judentums in der Musik“ im 19.
und frühen 20. Jahrhundert. In Bezug auf Nietzsche stellt er „furchtbare Wildheit, das
Zerknirschte, Vernichtete, die Freudenschauer, die Plötzlichkeit“ sowie „die Kraft
elementaren Erschütterns“, eines „Talentes des alten Testaments“ als wesentlichstes
Merkmal des semitischen Idioms heraus. Wie im Vergangenen ausgiebig dargelegt,
hiess es doch, das die Kraft „zu ergreifen, ja zu erschüttern“ sowie das „Dramatische,
das Leidenschaftliche“, also die Extase emotionaler Höhen und Tiefen der Musik
Mendelssohns hauptsächlich deswegen abgehe, weil „der Jude“, kosmopolitischer
Beseeligung unzugänglich, leidenschaftslos, im Synagogalidiom befangen komponiere
und die Vorbilder europäischer Musik daher glatt und kalt kopiere.
Nun argumentieren Nietzsche und Dahms, das dem „Deutschen“ Felix Mendelssohn die
semitische Kraft, Emotion und Schroffheit vollständig fehle, sein Werk daher von
„marmorner, kalter Schönheit“ (Dahms) sei. Die von Nitzsche genannten
(alttestamentarischen) Idiome widerum träfen sicher – unbesehen übernommen – in
grossen Teilen auf die Wagnersche „Ring des Nibelungen“-Musik zu, nicht nur in jenen
Momenten potentieller semitischer Karikaturen in den Personen Mime, Alberich etc.
Somit hätte der von Wagner dezidiert als Jude hervorgehobene "Deutsche" Felix
Mendelssohn unjüdische, der Vollender der Deutschen Oper wiederum „jüdische“ Musik
geschrieben?
71
Da Walter Dahms mit dieser Sichtweise schwerlich eine Neuerörterung des Problems
vermeintlicher musikalischer Idiome in Gang setzte, gibt er lediglich Zeugnis von der
Fragwürdigkeit und Willkür derartiger Zuordnungen. Oder besser davon; das sich
Wagner, Nietzsche, Dahms u. a. offensichtlich den „Deutschen“ oder "Juden“
zurechtlegten, der ihren Zielen jeweils zuförderlichst war.
Im Jahre 1928 veröffentlichte ein Autor namens Anton Mayer in der Deutschen
Buchgemeinschaft GmbH, Berlin eine Geschichte der Musik. Diese war mit ca. 340
Seiten überschaubar gehalten und zeichnet sich dadurch aus, Musik und Wirken Felix
Mendelssohns mit keinem Wort zu erwähnen. Demgegenüber wird dem Schaffen
Richard Wagners die Ehre einer nahezu eigenständigen, umfassenden Abhandlung
über 30 Seiten hinweg eingeräumt. Also nahezu ein Zehntel des Umfanges einer Schrift,
welche die Musikgeschichte von der griechischen Antike bis zur musikalischen Moderne
zur Darstellung zu bringen beabsichtigte.
In seiner im US-amerikanischen Exil vorgelegten Abhandlung "Grösse in der Musik" legt
der bedeutende deutsche Musikwissenschaftler und Mozartbiograph Alfred Einstein vom
Status Quo der deutschen Mendelssohn-Rezeption in der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts trefflich Zeugnis ab:
Was ist mit der Büste Mendelssohns? Es versteht sich wohl von selbst, daß wir uns
bemühen müssen, ihm die richtige Stellung zuzuweisen: die Überschätzung zu
vermeiden, die ihm zu Lebzeiten (...) in Deutschland und England zuteil geworden ist,
die Unterschätzung, deren Urheber oder Repräsentant Wagner gewesen ist. Sie könnte
heute zu einer neuen Überschätzung führen; aber sie wäre wohltätig, wenn sie zu einer
neuen Schätzung oder Wertung Mendelssohns führen würde, auf der Grundlage neuer
Kenntnis. Denn er ist heute einer der unbekanntesten Musiker der Vergangenheit. Man
kennt von ihm gerade das Unbedeutenste am besten, die Stücke, die von
mittelmässigen Musikern am meisten nachgeahmt worden sind, weil sie dem bürgerlichromantischen Geist der Zeit am meisten entsprachen."
Angesichts einer niederschmetternden Realität nahezu vollendeter MendelssohnVerdrängung und Verleugnung der zwanziger bis vierziger Jahre musste Einstein mit
dieser (dem Wirken Mendelssohn´s gegenüber keineswegs unkritischer) Meinung somit
zwangsläufig ein einsamer Rufer in der Wüste bleiben - wenn er denn die Möglichkeit
gehabt hätte, in Deutschland im Jahre 1941 vernommen zu werden.
21. Eine grossartige Lösung
In der Aufklärungsschrift an die Nation "Erkenne Dich selbst", im Jahre 1881 in den
Bayreuther Blättern veröffentlicht, gemahnte Richard Wagner erneut eindringlich des
Juden als “plastischen Dämons des Verfalles der Menschheit in triumphaler Sicherheit.”
Er geisselt darin des weiteren den Pluralismus eines Systems wiederstreitender
politischer Parteien als Verderber "ächten deutschen Instinkts" und heimlichen
Deckmantel prosperierenden jüdischen Lebens in Deutschland.
72
Er fordert die Deutschen daher auf, diesen Parteienstreit zu überwinden und sich, "im
Erwachen zu (...) einfach-heiliger" (nationaler) "Würde", vaterländisch einmütig
zusammenzuschliessen. Abschliessend konstatiert er: "nur aber, wann der Dämon, der
jene Rasenden im Wahnsinne des Parteienkampfes um sich erhält, kein Wo und Wann
zu seiner Bergung" unter den Deutschen "mehr aufzufinden vermag, wird es auch
keinen Juden mehr geben". Den Deutschen könne somit "gerade aus der Veranlassung
der gegenwärtigen, nur eben unter uns wiederum denkbaren" (antisemitischen)
"Bewegung" eine "grossartige Lösung eher als jeder anderen Nation ermöglicht" sein,
"sobald sie ohne Scheu, bis aufs innerste Mark unseres Bestehens das Erkenne-Dichselbst vollzögen, vor der letzten Erkenntnis nicht zurückwichen".
Ob aus diesen bedachtsam verschlüsselt vorgelegten Äusserungen Phantasien von
gewaltsamer Deportation der Juden oder Genozidhandlungen sprechen, ist Gegenstand
germanistischer und musikgeschichtlicher Erörterung. Daß Wagner im Gedanken eines
"Erwachen" Deutschlands im "Erkenne Dich selbst" die Ereignisse des Jahres 1933 Zerschlagung des Parteienpluralismus sowie der parlamentarischen Demokratie und
triumphales Erstarken einer chauvinistisch-nationalen deutschen Erhebung ideologisch-literarisch vorwegdenkt, geht aus der Lektüre des Traktates eindeutig
hervor.
Adepten des Bayreuther Meisters wussten dessen Gedankengängen denn auch
zielgerecht zu entsprechen, der Nationalsozialismus des 20. Jahrhunderts schliesslich
schwang sich zur "letzten Erkenntnis" empor und war zu einer "grossen Lösung"
vermeintlicher Judenfrage auf politischem und kulturellem Gebiet bereit.
”Anders liegen meines Erachtens die Fälle von Felix Mendelssohn und Joseph Joachim,
die man kaum fremdvölkischen Musikgeschichten in dem Maße wie ihre vorgenannten
Rassegenossen zurechnen kann. Mendelssohns beste Werke (...) haben im
künstlerischen Weltbild deutscher Meister wie Schumann, Brahms, Bülow, Bruch und
Reger ausdrücklich eine Rolle gespielt, die zu den musikgeschichtlichen Tatsachen
jener Zeit gehört. (...) Wenn also auch diese beiden seit 1933 praktisch für Deutschland
ausfallen, so jedenfalls mehr aus der staatspolitischen Notwendigkeit einer
Gesamthaftung des Judentums für die versuchte Überfremdung deutscher Kultur, als
wegen eines absoluten Unwerts jener Werke und ihres praktisch-künstlerischen
Bemühens. (...) Niemand hat ihn wärmer bewundert als Schumann, Brahms, Bülow und
Reger – das sollte jenen zu Denken geben, die einen M. heute wegen seiner Rasse
glauben herabmindern zu müssen. “
In den ersten Jahren des nationalsozialistischen Regimes war der Umgang der
Repräsentanten deutschen Musikbetriebs mit dem als klassisch verstandenen Oeuvre
der nunmehr als jüdisch apostrophierten Komponisten Felix Mendelssohn, Gustav
Mahler und Jaques Offenbach von Unsicherheit geprägt. Es lagen vielerorts noch keine
Erfahrungswerte vor, was weiterhin gestattet sei oder nachhaltig zu unterbinden wäre.
So war schwerlich einzuschätzen, wie weit die Forderungen der Machthaber in den
Kontext traditionellen E-Musik-Repertoires einzugreifen beabsichtigten. Ob man sich mit
der Negation der Avantgarde und "Musikzersetzung" jüngeren und jüngsten Datums
befrieden, die Konterbewegung vor dem Reiche der Tonalität zum Stillstand kommen
würde.
73
Der Musikwissenschaftler Hans-Joachim Moser, legte somit im Jahre 1938 eine "Kleine
deutsche Musikgeschichte" vor. Mit Worten wie den soeben zitierten, tastete er sich
vorsichtig in vermeintliche Terra incognita vor, an das "Problem Mendelssohn", wie man
es hier einmal zu Recht benennen könnte, heran. In zahlreichen Fällen blieben Schriften
wie diese, Aufführungen Mendelssohn´scher Werke gar, ohne Folgen für Autoren und
Musiker. In anderen Fällen erfolgte die Reaktion rasch und unmissverständlich, stellten
sich die Negativerfahrungswerte mit den Prämissen völkischer Kulturpropaganda
postwendend ein.
So auch im Falle der "Kleinen deutschen Musikgeschichte" Mosers:
„Wer eine kleine Musikgeschichte schreibt, hat die Juden aus seinen Darlegungen
zwangsläufig auszuschalten.“ beschied eine Rezension im Westdeutschen Beobachter
dem als „kulturpolitisch unzuverlässig“ apostrophierten Verfasser.
Moser hatte diesen Wink offensichtlich verstanden und beherzigt. Wenige Jahre später
trat er widerum als Publizist von Schriften, welche sich mit rassebiologischen und
musikalischen Fragen auseinandersetzten sowie als Generalsekretär der "Reichsstelle
für Musikbearbeitungen" in Erscheinung. Letzteres stand für eine Behörde, welche
Werken des Opern-, Operetten- und Chorrepertoires vermittels Umdichtung und
Bearbeitung von Text und Handlung völkischen, antisemitischen Charakter verlieh.
Andere aber sahen sich vom nunmehr vorherrschenden Ungeist sogleich zu deutlichem
Worte beflügelt. So stellt Dr. Fritz Stege im Mai des Jahres 1933 in der Zeitschrift für
Musik Betrachtungen über die "Zukunftsaufgaben der Musikwissenschaft" an und
kommt dabei u. a. zu folgendem Ergebnis:
"Aber wie es einzelne Meister der Tonkunst gibt, die dem vollendetztem Rassetypus
entsprechen, so unterstehen auch ganze Perioden der Musikgeschichte besonderen
Rasseeinflüssen. In geistvoller Weise hat Richard Eichenauer den Nachweis erbracht,
wie sich der nordische Geist der polyphonen Form bemächtigte, während im
Gregorianischen Gesang orientalische Eigenheiten zum Ausdruck kommen. (...) Und
nun werden wir vom Rassestandpunkt aus auch die verschiedenen Strömungen
unseres heutigen Musiklebens viel besser verstehen und beurteilen. Der Einbruch
vorderasiatischer Rassenmerkmale in den Geist unserer Tonkunst hat zu einer
Auflösung des abendländischen Harmoniegefühls beigetragen."
Dr. Stege unterläuft allerdings, vom Eifer der von rassebiologischer Lehren motivierten
Herabsetzung von Musik beflügelt, ein eklatanter musikhistorischer Fehler. Er
behauptet, dass ein Komponist von vermeintlich vorderasiatischer Herkunft wie
Mendelssohn, als welchen das III. Reich diesen einzuordnen pflegte, die Auflösung
abendländischen Harmoniegefühls betrieben habe. Der sich selbst als Traditionalist
verstehende Mendelssohn habe also letztlich der Auflösung der Tonalität Vorschub
geleistet.
Es ist musikgeschichtliches Allgemeingut, dass die Harmonik und somit die Tonalität in
der deutschen Musik von der Oper "Tristan und Isolde" des "Vollariers" und präpotenten
geistigen Dramaturgen des III. Reiches, Richard Wagner aufgebrochen und somit
infrage gestellt wurde.
74
Ein Weg, der in den Werken der Spätromantiker Gustav Mahler, Richard Strauss sowie
des frühen Schönbergs bis in die Atonalität und Zwölftonmusik des 20. Jahrhunderts
hinein konsequent Fortsetzung fand. Der "Vorderasiate" und "Orientale" Felix
Mendelssohn hingegen tat (wie die infolgedessen agierenden Komponisten Robert
Schumann und Johannes Brahms auch) alles in seiner Macht stehende, um das
abendländische Kulturerbe der Harmonielehre und Tonalität vor potentiellen
Zersetzungen zu schützen und zu bewahren. Solcherart Irrtümer also sind die Folgen,
wenn
Rassenhass,
Ideologie
und
Demagogie
anstelle
objektiver
musikwissenschaftlicher und musikhistorischer Darlegung und Beurteilung treten.
Im Jahre 1934 forderte der Dirigent und Fachgruppenleiter Musik des "Kampfbundes der
Deutschen Kultur" (KfdK) auf einer Landestagung der "Reichsmusikkammer" (RMK) in
Dresden die Anwesenden dazu auf, Mendelssohn als Vergangenheit, überholte
Musikgeschichte zu betrachten und statt seiner künftig neue Komponisten aufzuführen.
Die Orientierungslosigkeit musikalisch tätiger Entscheidungsträger, der Dirigenten,
Hochschuldirektoren, Chorleiter, Musikpublizisten etc. wurde erheblich gefördert durch
den Kompetenzwirrwarr und Machtkämpfe, welchen sich die unterschiedlichen Parteiund Regierungsorganisationen kulturellen Zuschnitts unausgesetzt hingaben.
Gerade in den ersten Jahren nationalsozialistischen Machtvollzugs rivalisierten
parteieigene Organisationen ohne Regierungsbeteiligung wie der Kampfbund für
deutsche Kultur (KfdK) des NS-Strategen Alfred Rosenberg mit Regimefunktionären
gesamtstaatlicher, regionaler oder lokaler Zuständigkeit um Majoritätsfragen bezüglich
zukünftigen völkischen Kulturbetriebs. Führungskräfte des Regimes wie Joseph
Goebbels indes waren bestrebt, die Kompetenzen durch die Einrichtung von Ministerien
wie jenes für „Volksaufklärung und Propaganda" vollständig an sich zu reissen. Als
Propagandaminister und Chef der "Reichskulturkammer" (Rkk) betrieb Goebbels die
Einrichtung einer "Reichsmusikkammer" (RMK) innerhalb der RKK, welche alle Fragen
des Musiklebens in seinen persönlichen Entscheidungsbereich bringen sollte und im
November 1933 offiziell eingesetzt wurde.
Nach einem vergleichsweise kurzen und in jeder Hinsicht unrühmlichen Interegium des
Komponisten Richard Strauss als Präsidenten der RMK, stand ab Mitte 1935 mit Peter
Raabe ein Seniordirigent und Prof. Emeritus der TU Aachen und überzeugter
Nationalsozialist der "Reichsmusikammer" vor. Da Goebbels Ende des Jahres 1936 die
Errichtung einer Musikabteilung des Propagandaministeriums verfügte, als deren Leiter
der Dirigent Heinz Drewes fungierte, sah sich Raabe als Präsident der RMK mit einem
weiteren Generalbevollmächtigten Musik im Weisungsbereich Minister Goebbels
konfrontiert. Drewes unterstand als Leiter der Musikabteilung ausschließlich der Person
des Ministers, war aber als Mitglied der RMK widerum partiell den Anordnungen Raabes
als deren Vorstand unterworfen. Die Supervision des Bereiches Musik unterlag daher in
letzter Konsequenz dem Propagandaminister selbst.
Da aber die beiden Funktionäre die Richtlinienkompetenz ihrer Positionen grösstmöglich
auszureizen trachteten und sich somit gegenseitig blockierten, liegt die Neutralisierung
und Ineffektivität der Behörde auf der Hand.
75
Darüberhinaus befehdeten sich die auf gleicher Partei- und Verwaltungsebene
angesiedelten NS-Funktionäre auch untereinander. Es verwundert daher nicht, das
neben Goebbels auch der Preussische Ministerpräsident und Generalluftmarschall
Hermann Göring als Generalintendant aller preussischen Theater
kulturelle
Kompetenzen beanspruchte und auch der preussische Kultusminister und spätere
Reichsminister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung Bernhard Rust über erhebliche
Weisungsbefugnis im kulturellen Bereich verfügte. Auf persönlichen Wunsch Adolf
Hitlers wurde im Jahre 1934 widerum das Amt Rosenberg ins Leben gerufen, da Hitler
sich dem zunehmenden Machtbereich seines Propagandaministers gegenüber
abzusichern trachtete.
Rosenberg, der Vorkämpfer des von Goebbels institutionell neutralisierten KfdK erhielt
somit als "Beauftragter des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und
weltanschaulichen Schulung und Erziehung der N.S.D.A.P." erneut Kompetenzen,
welche in der Folgewirkung auf die von Hitler angestrebte vollständige ideologische
Nivellierung europäischen Kulturerbes der Bereiche Kunst und Wissenschaft abzielen
sollte. Da die genannten Einrichtungen mit unterschiedlichen Kompetenzen versehen
administrativ im gleichen Revier, dem Bereich Musik agierten, waren die Amtsleiter
jeweils in kleinlicher Eifersüchtelei auf Besitzstandswahrung und gesteigerte öffentliche
Einflussnahme bedacht. Somit herrschte – den erklärten Zielen vollständiger
ideologischer Kontrolle öffentlichen Lebens gänzlich zuwiderlaufend – stellenweise ein
Richtlinienwirrwarr vor, welches der einflussreiche Berliner Kritiker Hans Heinz
Stuckenschmidt nach dem Kriege als „ganz schwammig, im Grunde unverständlich“
charakterisieren sollte.
Das es somit in den ersten Jahren des Regimes noch zu vereinzelter Propagierung
Mendelssohnscher Musik kommen konnte, ist keinesfalls etwaigen anteilig-libertinären
Grundzügen desselben geschuldet. Das Phänomen resultiert vielmehr aus einer,
letztendlich bis zum Untergang des III. Reiches vorherrschenden, Unfähigkeit der NSAdministration, die Durchsetzung ideologischer Prämisse wirkungsvoll bis in alle
Teilbereiche alltäglichen Lebens durchzuführen.
Möglicherweise spielten auch strategische Erwägungen, Vorbehalte, in das Bemühen
um eine nachhaltige nationalsozialistische Revision des kulturellen Lebens in
Deutschland hinein. "Darf bei Veranstaltungen der N.S.D.A.P. nicht gesungen werden",
hiess es bezüglich des Mendelssohnschen Chorwerks zurückhaltend im Jahre 1934, als
das Regime möglicherweise noch auf Überzeugungsarbeit und Konsens bei den
wertkonservativ-bildungsbürgerlich ausgeprägten Bevölkerungsschichten bedacht war.
”Eine grosse Zeit duldet keine Kompromisse. Wenn konfessionelle Kirchenchöre das
nicht begreifen wollen und, wie kürzlich in einer rheinischen Stadt geschehen, ihren
Mendelssohn einfach ohne Nennung des Namens in ein Konzert einschmuggeln, erhebt
sich die Frage nach der politischen Zuverlässigkeit solcher Dirigenten, denen dann das
letzte
Hintertürchen
für
ihre
bewusste
Sabotage
der
musikalischen
Reinigungsbestrebungen energisch zugeschlagen wird. Solche Handlungen, die sich
durch ihre Feigheit selbst richten, sind Ausnahmen, die wir nur registrieren, um zu
zeigen, daß das Fischen im Trüben stets den Dunkelmann trifft.”
76
gab der Hauptschriftleiter Musik F. W. Herzog im Jahre 1937 zu verstehen, als sich das
Regime bis in alle Lebensbereiche hinein verfestigte und qua Diktat über etwaige
bildungsbürgerliche Ressentiments nunmehr gänzlich hinwegsetzen konnte.
Der Meininger Kapellmeister Gustav Adolf Schlemm wurde im Jahre 1933 seines
Postens enthoben, weil er eine Mendelssohn-Komposition, das Klavierkonzert Op. 25
ins Programm eines am 7. Februar im Landestheater gegebenen Jugendkonzertes
genommen hatte; sein Handeln vom Leiter des "Gaukulturamtes der N.S.D.A.P"., Hans
Severus Ziegler als Brunnenvergiftung deutscher Jugend gegeisselt. Der Frankfurter
Dirigent Joachim Martini verdeutlicht in seinem Beitrag zum 1. Leipziger MendelssohnKolloquium im Juni 1993 präzise die Perfidie, mythologische Sublimität und implizite
psychologische Nachhaltigkeit dieser Metapher: „Bösartig, denn das Bild suggeriert
nicht nur die seit Jahrhunderten zu Pogromen Anlass gebende Fantasie des Ritualund...Massenmordes, sondern unterstellt gleichzeitig dem Komponisten die abgefeimte
Intention, die Jugend, die Blüte, die Hoffnung der Nation mit seinem Pesthauch
korrumpieren zu wollen".
Der Doyen damaligen deutschen Dirigententums, Wilhelm Furtwängler, hielt in den
Jahren 1933 und 1934 in den Programmen der von ihm geleiteten Berliner
Philharmoniker noch an Mendelssohnschen Orchesterwerken fest. So ist vom Februar
des Jahres 1933 eine Aufführung der Schauspielmusik zum "Sommernachtstraum"
überliefert.
Die im Jahre 1933 in der Leipziger Thomaskirche aufgeführte Sylvestermotette des
Thomanerchores brachte u. a. das Neujahrslied „Mit der Freude zieht der Schmerz“ von
Felix Mendelssohn zu Gehör, ohne das NS-Behörden dem Chor zu diesem Zeitpunkt
deswegen Schwierigkeiten bereitet hätten.
Die Rezensentin Grete Altstadt Schütze bezeugt im gleichen Jahre im Märzheft der
Zeitschrift für Musik eine zeitnahe Aufführung des Violinkonzertes Op. 64 in Wiesbaden.
Demonstrativ stellt sie sich dabei an die Seite des "aus innerstem Adel musizierenden
Prof. Georg Kulenkampff,...der bewies, dass man Mendelssohns Violinkonzert in solch
meisterlicher Aufmachung noch lieben könne".
Gleichsam in Wiesbaden kam es zu Beginn des Jahres 1934 zu erneuter Aufführung
des Violinkonzertes, ohne das die Ausführenden vorab oder im Nachhinein mit
Repressalien konfrontiert wurden. Es spielte der junge Wolfgang Schneiderhan, am Pult
stand Carl Schuricht; beide nach dem Kriege, in den 50ziger und 60ziger Jahren
Kapazitäten ihres Faches.
Anfang des Jahres 1935 stellte der Engländer Frederic Lamont in Berlin ein Programm
vor, das ausschliesslich aus Werken Mendelssohns bestand.
Im Februar des gleichen Jahres brachte der Thomanerchor in Leipzig noch einmal den
Psalm 43 op. 78 Nr. 2 zu Gehör, obgleich mit Karl Straube ein altverdientes
Parteimitglied (Parteieintritt i. J. 1926) die musikalische Leitung des Chores wahrnahm,
welcher im Jahre 1937 denn auch der HJ gleichgeschaltet wurde.
77
Wie stellt sich die publizistische Abhandlung des Sujets Mendelssohn, nunmehr dem
von den Machthabern propagierten "rassebiologischen" Aspekt unterworfen, in der
Frühzeit des Regimes dar?
Hans Mersmann vermengt in „Eine deutsche Musikgeschichte“ zeitgeistgerecht die
„rassische“ Belange des musikalischen Vorfalls Mendelssohn mit den tradierten
bioigraphisch-musikalischen Stereotypen Familienclan, Reichtum, omnipotente
musikalische Protektion, Frühreife und –stagnation, formaltechnisch vollendeter
Leerlauf, Klein-(kunst)-meister etc. Wie zahlreiche Musikpublizisten paraphrasiert
Mersmann dabei Thesen aus Wagner/ Freigedanks Traktat. So spricht Mersmann
Mendelssohn die "stetige wärmende Kraft" ab, welche Wagner/ Freigedank zufolge nur
in der Verwurzelung im deutschen Volke reüssieren könne, welche Mendelssohn als
Jude ja von Grund auf verwehrt sei. Die These von der "technischen Meisterschaft",
welche "bisweilen schon als Leerlauf" empfunden würde spielt wiederum auf Wagner/
Freigedank Invektive der seelenlos, technisch vollendeter Kälte in der Musik jüdischer
Komponisten.
So heisst es auf Seite 419 ff:
"...Der Enkel von Moses Mendelssohn...war Träger einer...ausgeprägt jüdischen
Familienkultur, in welcher die Musik von jeher eine Rolle spielte. (...) alle
Schwierigkeiten wurden aus dem Weg geräumt. (...) Und so erreichte er
verhältnismässsig früh einen Grad von Vollendung, den eine spätere Entwicklung nicht
mehr übertraf. Mehrere Vorzeichen treffen zusammen: Rasse, schöpferische Begabung,
Überzüchtung und eine schon zur Dekadenz hinüberneigende Familienkultur...: er
beginnt mit genialem Schwung (...) und hat dann Mühe, die immer wieder
hinabgleitende Höhe zu halten. (...) Aber hinter dem Werke lebt nicht mehr die stetige,
wärmende Kraft und seine vollendete technische Meisterschaft wirkt bisweilen schon als
Leerlauf. (...) Er ist der erste, dessen entscheidende Äusserungen in der Kleinkunst
liegen.
Der "Westdeutsche Beobachter" veröffentlichte am 10.3.1935 ein Traktat Dr. Karl
Grunskys; welcher sich, gänzlich zeitgeistgerecht, "Gedanken über Mendelssohn" gemacht hatte. Grunsky, ein vormals in Stuttgart ansässiger Musikschriftsteller und
Bruckner-Experte, war bereits in den ersten Jahren der Weimarer Republik als
Vorkämpfer einer "musikalische(n) Erneuerungsbewegung vor der deutschen
Revolution" mit der Publikation antisemitischer Musikrezensionen hervorgetreten. Mit
der Publikation von "Abwehrschriften", welcher der Komponist Hans Gansser in der
Septemberausgabe der "Zeitschrift für Musik" von 1935 "höchst wertvoll und
aufschlussreich" bezeichnete. So veröffentlichte Dr. Grunsky um 1920 herum eine
Studie, welche sich dem einschlägig bewährten Thema "Richard Wagner und die Juden"
widmete und von Rezensent Gassner als "deutsche Tat von bemerkenswerter
Zivilcourage!" eingeschätzt wurde.
Des Weiteren versuchte sich Dr. Grunsky bereits im Jahre der "Machtergreifung" in der
Rolle einer publizistischen Denunziation missliebiger Kollegen des akademischen und
ausübenden Musikbereichs.
78
In einer Schrift mit dem martialisch vorgeprägten Titel "Der Kampf um deutsche Musik.
Der Aufschwung", erschienen im Jahre 1933 in Stuttgart, suchte Grunsky in anmassend
-subjektiver Schreibweise erfolglos Komponisten wie Hugo Herrmann und Wolfgang
Fortner, Funktionäre wie Prof. Fritz Jöde und Prof. Leo Kestenberg sowie auch den
Dirigenten Wilhelm Furtwängler als wesenssynonym jüdisch und sozialdemokratisch, als
unbelehrbare Propagandisten sozialistischen Musikgutes sowie Marxisten zu
diffamieren.
Kaum verwunderlich, daß Grunskys "Gedanken über Mendelssohn" somit nur von
brachial zu Werke gehender Subjektivität und Polemik sowie ungeschlachter Redeweise
geprägt sein konnten:
"Die "Lieder ohne Worte" (schon der Titelwitz verstimmt!) haben eine überlange Zeit
hindurch den musikalischen Geschmack bestimmt, das heisst verderbt; denn was am
Klavier als am Tonwerkzeug des häuslichen Alltags erklang, musste sich auf alle
anderen Neigungen auswirken (...) Die Wut musste einen packen, wenn diese
geschwätzigen Auslassungen wegen besserer Verständlichkeit hoch über Beethoven
emporgerückt wurden. Und spielte die Tochter des Hauses mit einer Freundin gar
vierhändig, so mussten es Mendelssohns Sinfonien sein, weil sie so plätschrig
dahinflossen (....)
Damit, daß Mendelssohn als Ersatz für deutsche Meister in unser Musikleben eindrang,
sind wir an dem entscheidenden Punkte angelangt, der unser Verhalten künftig regelt;
wir brauchen solchen Ersatz nicht mehr, weder im Konzertsaal noch im Hause! Auch
nicht in der Kirche! Als Übungsstoff kam Mendelssohn vielleicht in Betracht, aber nie als
gleichwertige Offenbarung (...)
Nicht zu rechtfertigen ist also die Überschätzung, die unsere Musikwelt Mendelssohn
auf jedem Gebiete zugestanden hat. In Kretschmars "Führer durch den Konzertsaal"
sind Mendelssohns 5 Sinfonien zusammen 11 Seiten gewidmet; 7 Sinfonien Bruckners,
die vor 1890 entstanden waren, werden auf wenig mehr als einer Seite erledigt, ein
krasser Fall des Mißverhältnisses zwischen Jüdischem und Arischem in einem
deutschen Buche!"
Im Jahre 1935 legte Christa Maria Rock einen enzyklopädischen Konstrukt vor, welcher
sich bereits im Titel „Judentum und Musik: mit dem ABC jüdischer und nichtarischer
Musik“ als Paraphrase der historischen Publikationen Wagners und Fritschs ausweist.
Als Co-Autor firmiert Hans Brückner; die Herausgeber verweisen auf die Auswertung
„authentischer
Unterlagen.“
Das
Buch
erreichte
bis
zum
Ende
der
nationalsozialistischen Diktatur eine Auflagenhöhe von insgesamt etwa 200000
Exemplaren. Tendentiell liegt es ganz auf der Linie jener zahlreichen, im Zeitraum von
1934
–
40
veröffentlichten
einschlägigen
Publikationen
hinsichtlich
musikanthropologisch bemühter „Beweisführung“ einer "rassisch" bedingten arischen
Überlegenheit sowie der "semitischen" Befähigung zur Unterwanderung gewachsener
"völkischer" Strukturen im musikalischen Bereich.
79
Rhetorisch indeß vollends dilettantisch ausgeführt, trachtet es, dem Leser vermittels
dezidiert diffamierender Entstellung und Verzeichnung deutsch-jüdischer Vergangenheit, Persönlichkeiten wie Mendelssohn nachhaltig zu entfremden. Wie deutlich
ersichtlich, beruft Rock sich, im Tonfall der Übersteigerung und Nachereiferung
klassisch-subalternen Adeptentums verhaftet, auf den überkommenen Schlagwortkatalog der Freigedank/ Wagnerschen Argumentationskette: Mendelssohn = Jude =
Ekklektizist = geschmäcklerisch, insubstantiell.
Aber auch die von B. A. Marx (Mendelssohn-Synonym: weibisch) und Theodor Uhlig
(Mendelssohn-Synonym: Schaffenwollen und Nicht-Schaffen-Können) seinerzeit
ausgeprägten Rezeptionsstereotypen finden in nahezu identischer Wiederholung
Anwendung.
„Felix Mendelssohn Bartholdy (...) war ein Vollblutjude und der Enkel des als Philosoph
gepriesenen Moses Mendelssohn. (...) Seine Frau war die Tochter eines evangelischen
Predigers aus Frankfurt (Main), Cecilie Jeanrenaud, zu deutsch: Johann Fuchs, der
vielleicht auch nicht so ganz rasserein war. Bei Mendelssohns Tod wurden die Zipfel
des Leichentuches von den echten Juden, seinen Freunden Ignaz Moscheles, David
Moritz Hauptmann und Gade getragen.
(Den demagogischen Praktiken derartigen Schrifttums gemäss unterschlägt Rock dabei
die Sargträger Robert Schumann und Julius Rietz. Anderseits entgeht ihr der „Semite“
Ferdinand David. Gade und Hauptmann wiederum waren keineswegs jüdischer
Abstammung. Anmerk. d. Verf.)
Mendelssohn ist der Begründer des Sammelsurium-Stils, der dann von den
nachfolgenden Juden noch weiter verwässert wurde. Er gefiel sich besonders in
Monster-Vorstellungen, ein typisch jüdischer Geschmack, der dann auch von Mahler
besonders übertrieben wurde. Mendelssohns Musik ist überwiegend schwärmerisch und
sentimental, fast weibisch. Sein Schaffen zeigt immer wieder die Rasseeigentümlichkeit,
die gesuchte Anhäufung aller denkbaren Instrumentaleffekte. Immer zeigt sich in ihm
der Konflikt des Schaffenwollens und Nicht-Schaffen-Könnens. Rein jüdisch war auch
seine Abneigung gegen Wagner und gegen Beethoven. (...) Ihm fehlt Naturlaut. Er war
nur ein Kolorist der Tonkunst".
Rock biegt sich dabei die musikgeschichtliche Sachlage, ganz dem propagandistischen
Zwecke des Buches unterworfen, mit Brachialgewalt zurecht und befleißigt sich
stellenweise der reinen Unwahrheit . Mendelssohns Musik ist von der Stringenz und
Transparenz überschaubarer Besetzungen bei der Vorgabe rascher Tempi geprägt.
"Monster Veranstaltungen" laufen dem musikalischen Idiom der Mendelsohn´schen
Musik geradezu zuwider. Der Sittenstrenge humanistischen Komponierens verhaftet,
verwahrte sich Mendelssohn gegenüber jedwedem illustrem musikalischen Affektes,
welcher ihm letztendlich (auch in den Werken andere Komponisten) als unseriös
erscheinen mußte. Eine Abneigung Mendelssohns Beethoven gegenüber entspringt des
Weiteren der puren Erfindung Rocks. Beethovens Symphonien spielten eine
wesentliche Rolle in der Konzeption der Gewandhausprogramme Mendelssohns,
Beethovens Vorbild war in zahlreichen Kompositionen desselben lebendig.
80
Die Publikation Rocks und Brückners war in der Lesart und Recherche allerdings derart
schlampig verfertigt, daß das Autorenpaar eine Reihe von Prozessen auf sich zog,
angestrengt von Personen und Einrichtungen, welche sich durch eine irrtümliche
Konstatierung jüdischer Identität in diesem Buch in ihrem Ruf geschädigt sahen.
Im Sommer des gleichen Jahres leitete Franz von Hoeßlin im Schlossgarten der
Hohenzollern in Breslau ein Serenadenkonzert, welches u. a. auch Scherzo und
Notturno aus der "Sommernachtstraum"-Musik zu Gehör brachte. Die Presse
kommentierte diese Aufführung zweier Kompositionen eines zunehmend als Juden
verfemten Musikers dessenungeachtet als "unvergänglich schön".
Gleichsam im Sommer des Jahres 1935 trat die Frankfurter Museumsgesellschaft (eine
noch heute bestehende grossbürgerliche Konzertgesellschaft) in ausserordentlicher
Mitgliederversammlung mit dem Ziele zusammen, das Konzertprogramm der nächsten
Saison festzulegen. Der Komponist Dr. phil. h.c. Alexander Friedrich Prinz von Hessen
riet der Versammlung dabei nachdrücklich, "in Zukunft auch wieder dem Werk
Mendelssohns gebührende Beachtung zu schenken" (Prieberg), ohne sich mit dieser
Position bei der Museumsgesellschaft durchsetzen zu können.
Fred Prieberg, dessen, im einschlägigen Themenbereich langjährig führenden Studie
"Musik im NS-Staat" die Daten regimekontroverser Aufführungen von MendelssohnMusik
grösstenteils
entnommen
wurde,
listet
des
weiteren
folgende
Theateraufführungen des "Sommernachtstraums" mit der Mendelssohnschen
Schauspielmusik auf: 1934 vom Friedrich-Theater in einer im Dessauer Luisum
veranstalteten Vorstellung; im April des gleichen Jahres in Ulm, in den Ostertagen des
Jahres 1935 in Meinigen. Dem standen im gleichen Zeitraum aber bereits von der NSKulturpolitik initiierte Surrogat-Untermalungen mit Grammophonplatten (so am
Freilichttheater Märkisches Museum in Berlin), mit Instumentalmusik aus Purcells „The
Fairy Queen“ bei den Heidelberger Schlossgastspielen des Jahres 1934, mit einer nicht
näher genannten Barockmusik an der Naturbühne in Thale/ Harz sowie eine von Erwin
Baltzer mit Ausschnitten von Carl Maria von Webers „Oberon“ am Neuen Stadttheater
Greifswald zusammengestellte Kompilationsmusik. Die wahrscheinlich letzte Aufführung
des Schauspiels in der Vertonung Mendelssohns im Nationalsozialismus fand im Juni
des Jahres 1937 am Stadttheater Brandenburg/ Havel statt.
Auch im Verlagswesen konnte sich Mendelssohns Werk noch einige Jahre behaupten.
Die Verlage nutzten dabei offenkundig ein Schlupfloch innerhalb nationalsozialistischer
Verordnungen, welche ein Angebot von Musikmaterialien jüdischer Komponisten für
eine bestimmte Übergangszeit scheinbar zu dulden gestatteten. Hören wir dazu Joseph
Goebbels in einem Artikel der Zeitschrift für Musik aus Regensburg vom 1. Januar 1936.
Er verfügte darin: "daß wegen allenfallsiger Schädigung der betreffenden Verlage und
aus der Erwägung heraus, daß die Bekanntgabe von Werken jüdischer Komponisten
weder deren Ankauf noch deren Aufführung zufolge haben wird, ein Verbot der
betreffenden Verlagsverzeichnisse nicht ausgesprochen wird.
81
Für die Zukunft jedoch hat bei Neudruck von Katalogen selbstverständlich jedwedes
Anbieten von Werken nicht erwünschter Komponisten zu unterbleiben.
So bot der Musikverlag Hampe weiterhin ein Posaunenchorarrangement des
Kriegsmarsches der Priester aus Mendelssohns Schauspielmusik zu Racine`s Drama
"Athalia" zur Aufführung an. Ein Katalog des namhaften Musikverlages Bote & Bock in
Berlin wiederum bot Musikalben an, welche Mendelssohn´sche Kompositionen und jene
anderer jüdischer Tonsetzer gar mit Werken nationalsozialistischer Komponisten wie
Georg Blumensaat, Johannes Günther und Hans Miessner vereinten.
Im Jahre 1939 erklang Mendelssohn noch einmal an der Musikhochschule in Weimar.
Der Direktor des Instituts, Felix Oberborbeck, wurde daraufhin von seinem Posten
suspendiert Österreichische NS-Funktionäre erschlossen ihm daraufhin einen neuen
Wirkungsbereich an der Musikhochschule in Graz.
22. Auch in der Musik hat der Jude nie Kulturwerte geschaffen
Die Reichsleitung der N.S.D.A.P. war von den Vorgängen um die dillettierenden
Publizisten Rock und Brückner hinreichend gewarnt; diese hatten beträchtliche
Zahlungsbefehle hinsichtlich Schadensersatz gegen NS-treue Verlage mit sich gebracht
und diskreditierten das Unterfangen antisemitischer "Säuberung" der deutschen Kultur
in Gesamtheit im Vorfeld erheblich. Also beschloss die ranghöchste Ebene der NSKulturpropaganda die Vorlage eines von offizieller Seite initiierten musikalischen
Judenkatechismus: des "Lexikon der Juden in der Musik"
In den Jahren 1934/35 erschien ein Hauptwerk aggressiven nationalsozialistischen
Rassenschrifttums unter dem Titel „Handbuch der Judenfrage“. Wie im Titel bereits
verdeutlicht, handelt es sich dabei um eine aktualisierte, dem NS-Gedankengut
spezifisch Rechnung tragende Bearbeitung des berüchtigte "Handbuch der Judenfrage",
welches der Antisemit Theodor Friztsch bereits im Jahre 1887 erstveröffentlichte. Da
das Handbuch der antisemitischen Breitenbewegung Deutschlands seit jeher als
Zentralorgan galt, hatte es bis zu diesem Zeitpunkt bereits zahlreiche Wiederauflagen
erfahren: Allein bis zum Jahre 1907, also für einen Zeitraum von nur 20 Jahren, werden
26 Auflagen genannt.
Ob bereits die Neupublikation des "Handbuch der Judenfrage" auf Initiative und
Förderung der NS-Administration zurückging, ist nicht klar. Offiziellen Rang erhielt es
allerdings bereits dadurch, daß es in den Bestand sämtlicher Bibliotheken in
Deutschland einzog.
Im "Handbuch der Judenfrage" von 1935 greift Hans Koeltzsch in einem Kapitel gleichen
Namens auch den Gedanken vom "Judentum in der Musik" erneut auf.
Im Verweis auf Aspekte wie: "Glanz und Glitter des Theaters" (ein Beitrag über Giacomo
Meyerbeer); "Frivolität, Zynismus und Erotik" (...über Jaques Offenbach);
"Operettenschmierer" (...über jüdische Operettenkomponisten); "Oberflächliches
Mitmachen jeder Stilsensation" (...über Kurt Weill) betreibt er darin detaillgenaue
Demontage jüdischer Komponisten und deren Werke:
82
"Judentum in der Musik, das ist eine kurze, erschreckende und sehr vielfältige
Geschichte von Aufnahme fremden Gedankengutes, bar jeder urtümlichen
Schöpferkraft; von grösseren jüdischen Meistern (Mendelssohn, Mahler) in
schmerzlicher Tragik empfunden, gegen die anzukämpfen vergeblich blieb. (...) Fassen
wir zusammen: auch in der Musik hat der Jude nie Kulturwerte geschaffen. (...) Darum
kann es im weiteren Felde des neuen deutschen Musiklebens keine “Politik der mittleren
Linie” mehr geben, keine Duldung, Verständigung, keine Humanität; wir alle haben
vielmehr...die Pflicht, das Judentum in der Musik restlos auszuschalten”.
Der Autor dieser Zeilen reüssierte nach 1945 als “namhafter Hamburger
Musikwissenschaftler”
und
Chefredakteur
des
2.
UKW-Programms
des
Nordwestdeutschen Rundfunks Hamburg. Er veröffentlichte u.a. in den 60ziger Jahren
einen Standardopernführer, der über
Buchgemeinschaften verlegt, zahllosen
Haushalten zum Allgemeingut wurde und unentwegt vernichtende Urteile bezüglich
"Sommernachtstraum" und Meyerbeers gesamtes Opernschaffen verkündet.
Die von der nationalsozialistischen Propaganda synonym zu „jüdisch“ aufgewandten
Begriffe ”Atonalität” und “Entartet” waren der Entwöhnung von den harmonischmelodischen Kompositionen des Spätklassizisten Mendelssohn wenig dienlich. Zwang
administrativer Verordnung trat an die Stelle propagandistischer Rhetorik. Musikvereine,
Orchester und Konservatorien liessen vom Werke Mendelssohns ab und seine Musik
verstummte in Deutschland und Hitler-Europa für nahezu 12 Jahre.
Das im Jahre 1912 in der Berliner Staatsbibliothek zur Aufnahme und Exposition des
Nachlasses errichtete Mendelssohn-Zimmer wurde im Jahre 1933 umbenannt, die im
Jahre 1878 von den Erben und dem Preussischen Staat errichtete MendelssohnStiftung zur Förderung begabter Studenten der Fächer Komposition, Dirigat und Klavier
1934 eingezogen.
Der umsichtigen Sorge des Musikwissenschaftlers und Musikfunktionärs Prof. Georg
Schünemann als Direktor der Handschriftensammlung der Berliner Staatsbibliothek ist
es einzig zu verdanken, daß der unmittelbare schriftliche und musikalische Nachlass
Felix Mendelssohns die Zeiten des III. Reiches und des II. Weltkrieges weitgehend
unbeschadet überstand.
Auch die Musikstadt Leipzig hatte sich der Erinnerung an den bedeutenden einstigen
Mentor hiesigen Musiklebens rasch entledigt, eine Entwicklung, der mit der Vernichtung
des Mendelssohn-Denkmals vor dem Gewandhause öffentlichkeitswirksam besiegelt
wurde.
Zum Beweis dessen ein Blick in zwei Publikationen des maßgeblich auf die Initiative
Felix Mendelssohns im Jahre 1843 gegründeten und von diesem bis zum Todesjahre
1847 geleiteten Leipziger Konservatoriums.
Direktor Prof. Walther Davisson umriss in jenen Jahren in einem Editorial unter dem
Titel: "Das Landeskonservatorium" (ohne Datumsangabe) die Geschichte seines
Hauses folgendermassen: "
83
"Drei grosse Institute: Thomaskirche, Gewandhaus und Konservatorium haben den Ruf
Leipzigs als Musikstadt begründet und tragen heute noch Leipzigs Künstlernamen in
alle Welt. Das Landeskonservatorium nimmt unter ihnen als Musikbildungsstätte eine
sehr wichtige Stellung ein.
Es wurde am 2. April 1843 als erstes grosses deutsches Musikerziehungsinstitut mit der
Bezeichnung "Konservatorium für Musik" eröffnet und unterstand der Aufsicht der
Gewandhausdirektion. Unter den ersten Lehrern finden wir Namen wie: Moritz
Hauptmann, Dr. Robert Schumann, Christian August Pohlenz, Carl Ferdinand Becher,
Ernst Friedrich Richter und Nils W. Gade.
Das nachfolgend wiedergegebene Eröffnungsprogramm, das in seinen Hauptgedanken
noch bis zum heutigen tage Gültigkeit hat, zeigt uns, daß schon die Gründer der neuen
Musikschule von der Notwendigkeit einer umfassenden künstlerischen Ausbildung
überzeugt waren: Der zu erteilende Unterricht
umfasst folgende Gegenstände:
Komposition, Violinspiel, Klavierspiel, Orgelspiel und Gesang. (...) Als Bildungsmittel für
die Zöglinge bieten sich ferner dar: der unentgeltliche Besuch der in jedem Jahr
stattfindenden Abonnemontskonzerte im Gewandhaus und der diesfälligen Proben
sowie der Quartettunterhaltungen.
Auch der Besuch der vom Thomanerchor allwöchentlich aufgeführten Kirchenmusiken
und der Vorstellungen der städtischen Oper wird zur musikalischen Fortbildung
beitragen können".
Davisson streicht dabei in erheblichem Maße die auf Felix Mendelssohn Bartholdys
Wirken beruhende ungebrochene musikalische Tradition Leipzigs, die historische
Bedeutung des Konservatoriums, den Modellcharakter des im Jahre 1843 vorgelegten
Ausbildungskonzeptes heraus. Des weiteren scheute er keineswegs das umfangreiche,
anonyme wortwörtliche Zitat aus dem Programm, welches der totgeschwiegene oder mit
der Chiffre "Gewandhausdirektion" verkleidete Direktor Felix Mendelssohn zur Eröffnung
des Instituts verfasste.
Davisson geriet einige Zeit nach Vorlage des Artikels selbst in politische
Schwierigkeiten, da Zweifel an seiner "arischen" Herkunft aufkamen. Obgleich er die
Anfechtung der "Reinrassigkeit" stets durch die Pflege dezidiert völkischer Rhetorik zu
entkräften suchte, wurde er infolge des Verdachtes der Leitung des Konservatoriums
enthoben, das Institut einer kommisarischen Leitung anvertraut.
Getreu der Joseph Goebbels-Losung: "Judentum und deutsche Musik, das sind
Gegensätze, die ihrer Natur nach in schroffstem Widerspruch zu einander stehen“
erging an die Musikwissenschaft der Auftrag, das Idiom deutscher Musik zu definieren.
Dies vermochte sie ebenso wenig auf der Basis empirisch gesicherter Erkenntnisse zu
leisten, wie Freigedank/ Wagner seinerzeit ein vermeintlich semitisches Idiom von
Glätte, Kälte, seelenlos-perfektionistischer Eleganz im Werk Mendelssohns seriös
nachweisen konnte.
Im Zuge dessen bemühte sich beispielsweise der Musikwissenschaftler Robert
Pessenlehner "Vom Wesen der deutschen Musik" (Gustav Bosse Verlag, Regensburg,
1937) ultimative Kunde zu geben.
84
Er stellt darin die Behauptung daß "die höchste Formvollendung in den Werken aller
Zeiten und Epochen (...) nur in den Werken der Deutschen Tonkunst" gleichsam als
zentrale These, als Losung über die gesamte Thematik auf. .
An zahlreichen Fallbeispielen sucht Pessenlehner, die vom Propagandaministerium
eingeforderte Beweisführung einer spezifischen Vorrangstellung Deutscher Tonkunst im
Konzert der Völker und Nationen vorzunehmen.
So beklagt er eine "allmähliche Umwandlung des arischen Rhythmusgesetzes in ein
ausserarisches" als vormals schädlichen Prozess, zersetzend für die Deutsche
Tonkunst und stellt dieser Entwicklung einen Kanon unverbrüchlich-ewiggültiger
"Wesensmerkmale - Symbole der Deutschen Musik" entgegen. Als grundlegendes
"Wesensmerkmal", als "Symbol" hebt er beispielsweise die Synkope hervor.
Der Fall Mendelssohn, des "Kronzeuge(n) für die jüdische Musik, die erkenntlich ist am
Fehlen der deutschen Symbole, vor allem der Synkope", dessen Musik ja "jeglicher
Synkopen" ermangele, erledige sich im Benehmen, jener sei vorgeblich ein Deutscher
Komponist gewesen, somit ja von alleine.
Thesen wie jene, "innerhalb der deutschen Musikwelt" sei es das Phänomen der
Synkope, welches "ganz besonders arische und nichtarische Tonsetzer" unterscheide,
oder Betrachtungen wie "Deutsch sein heisst unklar scheinen" schliessen sich an.
Die Subjektivität, der vordringlich im Obsessiven, Pathologischen wurzelnde Versuch
um die Definition eines einzigartigen Idioms deutscher Musik; das persönliche Scheitern
Pessenlehners an dieser Aufgabe, ja die Vergeblichkeit derselben, streicht jener selbst
unzweideutig hervor:
Die Erklärung der "Merkmale der Deutschen Musik" wäre letztendlich "nach dem Stande
der gegenwärtigen Forschung auch nicht einzig und allein dem Rassengrundsatz (zu)
übertragen (...) Gewiss ist die Scheidung zwischen arischer und nichtarischer Rasse die
Grundlage für die gesamte Abhandlung. Aber innerhalb der arischen Rasse ergeben
sich von der Musik her Abwandlungen, für deren Bestimmung die bisherigen Ergebnisse
der Rassenforschung nicht ausreichen."
Wolfgang Boettcher, dessen Funktion innerhalb der nationalsozialistischen Rezeption
Felix Mendelssohns noch ausführlich zur Sprache kommen soll, hebt in einem im März
des Jahres 1938 im Monatsheft "Die Musik" des Gustav Bosse Verlages Regensburg
erschienenen Essay denn auch die Fragwürdigkeit des Pessenlehnerschen Versuches
unmissverständlich hervor. Begreiflicherweise kapriziert sich der Habilitant Boettcher,
der nach 1945 eine ausgewiesene musikwissenschaftliche Karriere durchlief,
vorwiegend auf die Wahrung musikakademischer Belange.
"Wenn man Pessenlehners Buch zur Hand nimmt, stellen sich zunächst Zweifel ein, ob
man es mit einer ernstgemeinten Darstellung zu tun hat oder ob sich der Verfasser (...)
in karnevalistischer ironisierender Form mit Fragen beschäftigt, die nur von höchster
fachlicher und weltanschaulicher Warte aus beantwortet werden können.
85
Das Buch ist vom Verfasser ernst gemeint. Das geht nicht zuletzt aus der
Selbstsicherheit , mit der Pessenlehner (bis dato der deutschen Musikwelt ein
Unbekannter) sich selbst auf einem ganzseitigen Bilde - dem einzigen des 193 Seiten
starken Buches - darbietet. (...)
Nach schweren Angriffen auf die deutsche Musikkultur der Gegenwart (...) kommt bei
Pessenlehner die deutsche Musikwissenschaft unters Messer (...) Pessenlehner meint
ironisch: "Die Männer, die einst an der Zeitschrift der Internationalen Musikgesellschaft
mitschufen", behaupteten im Januar 1934, sie hätten "den Ruf", sich "zu neuer
nationaler Einheit und Geschlossenheit zusammenzufinden, wohl verstanden. Er
entlarvt den "Ungeist", der die Deutsche Musikwissenschaft seit ihrer Entstehung
durchzieht" (...) Während er dem Deutsche Musikgelehrten die Ehre abschneidet,
berührt es peinlich, daß er den Juden Moritz Bauer ( + 1932, u.a. seit 1918 Professor &
Universitätsmusikdirektor in
Frankfurt a. M., Widmungsträger der Dissertation
Pessenlehners) aus begreiflichen Motiven kein einziges Mal erwähnt".
Während zahlreiche Autoren in Kampfschriften das Phänomen einer vermeintlich
nachhaltig "durchrassten" Deutschen Tonkunst blosszulegen trachteten, negierte eine
systemkonforme, übergreifend agierende Musikwissenschaft das Lebenswerk Felix
Mendelssohns vollständig.
”Es ist nicht Aufgabe einer deutschen Musikgeschichte, sich mit ihm und seinen
Ouvertüren, Sinfonien und Oratorien, seinen Liedern und seiner Klaviermusik zu
befassen” (Josef Müller-Blattau, Professor der MW in Frankfurt (1935) und Freiburg
(1937) in seiner "Geschichte der deutschen Musik", Berlin 1938) Sie gewärtigte sich des
Weiteren des Problems: Ist das Judentum eines musikgeschichtlich unumgänglich
aufzuführenden Komponisten durch die Formulierung ”der Jude Mendelssohn, der Jude
Mahler” oder durch Voranstellung eines Davidsterns oder in Klammern gesetzten J`s in
Text oder Register hervorzuheben?
Die Zerstörung des klassizistischen Mendelssohn-Denkmals vor dem Gewandhause zu
Leipzig im November 1936 - von jener wird noch ausführlicher die Rede sein - initiierte,
einer Initialzündung entsprechend, gleichsam eine Flut Deutscher Musikgeschichten,
welche das erklärte Bemühen um rassemusikalische Deutungen und Verurteilungen
Felix Mendelssohns vorzunehmen trachteten. Es scheint fast - nun das Denkmal
gefallen und damit ein Damm gebrochen, welcher Verunsicherte und zögernde bislang
in Bann hielt -, als ob sich ein Exorzismus, ein Massenphänomen gleichsam entfesselte,
der deutschen Tonkunst den bislang arrivierten, verehrten Musikjuden ein für alle Mal
auszutreiben.
Im gleichen Jahre referierte der Komponist und Musikdozent Walter Trienes - er war
seit 1925 Mitarbeiter des Konservatoriums in Hagen - in der Septemberausgabe des
"Repetorium(s) der Musikgeschichte. Das Wichtigste aus der Musikgeschichte aller
Kulturvölker in Frage und Antwort", welche in Köln erschien, über das Thema "Die
Entwicklung des Judentums in der Musik seit der Emanzipation". Trienes konstruiert in
diesem Beitrag das Unternehmen eines jüdischen "Vormarschs...um die Herrschaft in
der Musik".
86
Das Oeuvre Mendelssohns immerhin war dem Autor dabei eine "siebende und
sichtende Prüfung" wert, mit der Zielsetzung "welchen Wert wir den eigenen Leistungen
des Tonsetzers bei(zu)messen" fürderhin imstande zu sein vermögen".
Das Resultat entsprach vollständig den Vorgaben der von den Machthabern
propagierten völkischen Ideologie: Musikalischen Charaktermangel und musikalisches
Unvermögen attestierte Trienes dem Mendelssohnschen Schaffen und streicht erneut die Musikwissenschaft des späten 19. Jahrhunderts paraphrasierend - die fehlende
"Kraft, wirklich zu erschüttern" hervor. Auch die Analyse anderer Meister jüdischen
Glaubens oder jüdischer Herkunft resultiert somit in Verurteilung und Diskreditierung
derselben. So repräsentiere die Grand Opera Meyerbeeers irreversibel nur "hohles
Pathos", habe Mahler sich in seinem Schaffen lediglich einer "stetigen Selbsttäuschung"
hingegeben, wenngleich trienes der Person Mahlers mehr Charakterfülle als jener
Mendelssohns zugesteht.
Trienes Darlegungen eines vermeintlichen Phänomens unausgesetzten Bemühens um
feindliche Übernahme des europäischen Geisteserbes durch "das Judentum",
sekundiert von "Stimmungsmache" durch jüdische Pressemagnaten und eines
erfolgreichen "Geschichtsbetrugs" kulminieren schliesslich in
der apokalyptisch
anmutenden
Gewissheit
des
vollendeten
Triumphes
dezidiert
jüdischkulturpessimistischer Strategien: "Der Steilabhang führte über die "Versachlichung" und
Vernüchterung, über die Ausmerzung der Werte des Charakters, der Kriegserklärung
allem Gefühlsmässigen, der Objektivierung und Mechanisierung, über die Entfesselung
von rhythmischen Orgien zu dem absoluten Tiefstand ethischer Zersetzung...."
Trienes Argumentationsgang zufolge war es also Mendelssohn, welcher vermittels
"Versachlichung und Vernüchterung" (leere Formverbundenheit), "Ausmerzung der
Werte des Charakters" (anämische Schöngeistigkeit), der "Kriegserklärung allem
Gefühlsmäßigen" (Aversion gegenüber dem Affekthaften, innere Kälte) sowie
Objektivierung und Mechanisierung (Unterordnung des musikalischen Ideals unter
sachfremd philosophische; formelle Konventionalität) die deutsche Musik nachhaltig auf
den Weg zum "absoluten Tiefstand ethischer Zersetzung" brachte. Diesen sah Trienes
schliesslich im Werke Kurt Weills erreicht.
Nimmt man Trienes indes als Autor eines nationalsozialistisch-völkischen Traktates
wahr, verdeutlicht sich rasch die Affinität jener Mendelssohn-These zu den bekannten
Freigedank/ Wagnerschen Stereotypen vom seelenfremden jüdischen Objektivierer und
Kopisten deutscher Kunst.
Gleichsam im Jahre 1936 befasste sich Richard Litterscheid in der Märzausgabe der
"Musik" mit der Frage nach "spezifisch jüdischem Formwillen" oder dem "Schöpfertum
aus zweiter Hand", dargestellt an den Beispielen Mendelssohn und Gustav Mahler.
"So gesehen besteht kein Zweifel, dass auch Mendelssohns Schöpferkraft davor
versagt hat, ganz und gar in der großen deutschen Gefühls- und Formsprache zu reden
(...) Seine Werke vermögen trotz ihrer klassischen Haltung - an welchen Vorbildern auch
konnten Sie sich bilden! - vor einer strengen Prüfung nicht zu bestehen
87
(...) Die Lieder ohne Worte, einst die bevorzugte Hausmusik gefühlvoller Backfische,
besitzen des Unechten, Sentimentalen zuviel; sein sonst über alles gelobtes
Violinkonzert rutscht in den grossen Kantilenen immer wieder ins Gefühlsselige aus;
seine "Sommernachtstraum"-Musik bleibt (...) ohne schöpferische Stoßkraft in
musikalisches Neuland entworfen (...) in ihren Gefühlswerten unecht. Man wende nicht
ein, daß es gleichzeitig auch deutsche "Sentimentaliker" gegeben habe. (...)
Mendelssohn (...) der nicht neben sie, sondern neben Schubert und Schumann gestellt
zu werden pflegt, muss und kann nur mit diesen deutschen Meistern verglichen
werden".
Nach der Definierung Mendelssohns als "Sentimentaliker", wendet sich Litterscheid der
vermeintlichen Ursache solch auffälligen Sentiments zu, welche der Autor zwangsläufig
im Rassenproblem erkannte. Wenig verwunderlich, daß dabei auch wieder Wagner/
Freigedanksche Thesen paraphrasiert werden.
"Dann aber enthüllt sich die wahre Seele der Mendelssohnschen Musik, nicht als die
eines anderen Charakters, nein, eben als die einer anderen Rasse (...) Doch zu eigner
jüdischer Musik drang Mendelssohn eben nicht vor und zur vollendeten Gestaltung im
Sinne des deutschen Gastvolkes aus dessen spezifischem Gefühlsleben auch nicht. So
ist die Berechtigung gegeben, trotz der relativ großen Leistung dieses Mannes davon zu
sprechen, daß der Jude nicht eigenschöpferisch, jedenfalls nicht wie das deutsche
Genie (...) ist, und niemals sein kann".
Im Jahre 1937 erörterte Richard Eichenauer in nationalsozialistischem Geiste
Sachgebiete wie "Musik und Rasse". Dieser Versuch akribisch vorgenommener
Definition eines Phänomens "musikalischen Judentums" auf der Grundlage
rassebiologischer Theorien, unterteilte jüdische Herkunft und Wesensart pauschal in 2
Kategorien: ein "vorderasiatisches" und ein "orientalisches" Judentum. In der
rassistischen Interpretation der jeweiligen Lebensumstände ordnete Eichenauer die
herausragenden Persönlichkeiten jüdischer Herkunft in der Musikgeschichte einem der
genannten "Stämme" zu.
Person und Wirken Felix Mendelssohns hingegen ordnete der Autor gar beiden
genannten "Stämmen" zu. Den Schwerpunkt jener vermeintlich semitischen Kontur in
Person und Musik Mendelssohns, die Ursache der von Eichenauer erneut
paraphrasierten Freigedank/ Wagnerschen Invektiven von "Glätte", "Kälte";
"Nachprägung" sowie einer vorgeblich seichten Emotionalität Mendelssohnscher
Kompositionen sah er aber in der spezifischen Verwurzelung in der "vorderasiatischen"
Wesensart.
"Felix Mendelssohn Bartholdy zeigt körperlich die Züge beider Hauptrassen des
Judentums, der vorderasiatischen und der orientalischen; dazu ist gerade bei ihm der
starke Umwelteinfluss höchstgesteigerten deutschen Geisteslebens nicht zu vergessen.
88
Aus ihm sprechen lauter vorderasiatische Rassenzüge: Gabe der Einfühlung in fremdes
Seelenleben, der gefälligen Ausnutzung bestehender Formen, ein gewisser Mangel an
jenem Schwergewicht, das für nordisches Empfinden zu einem "grossen" Menschen
gehört".
Der Musikforscher Ernst Bücken bekundete wiederum in "Die Musik der Nationen. Eine
Musikgeschichte", welche zeitgleich in Leipzig herausgegeben wurde, dass der "Grund
einer gewissen Eintönigkeit" Mendelssohnscher Musik "in der oft leierig werdenden
Rhytmik (liegt), die schon H. von Waltershausen als ein fühlbar durchschlagendes
rassisches Merkmal" derselben "angesprochen hat".
Bücken veröffentlichte im Nationalsozialismus des Weiteren ein Wörterbuch der Musik,
Leipzig 1940, eine "Musik des 19. Jahrhunderts", eine "Musik der Deutschen" Köln
1941, welche unausgesetzt gegen avantgardistische Musik agitieren und, wenig
verwunderlich, von Thesen rassistisch-antisemitischer Prägung durchsetzt sind.
Im Jahre 1939 stellte Prof. Richard Blessinger - seit 1920 als Dozent an der Münchner
Akademie für Tonkunst tätig - in der Denkschrift "Judentum und Musik Ein Beitrag zur
Kultur- und Rassenpolitik" Felix Mendelssohn" explizit als Initiator einer
"Zerstörungsarbeit des Judentums an unserer Musik" heraus. Vornehmlichstes Anliegen
des Pamphletes war es denn auch anhand "des Wirkens dreier jüdischer Musiker (...)
bestimmte Etappen dieses Zerstörungswerkes" zu veranschaulichen.
Blessinger behauptet infolgedessen, dass jene "drei Männer" (...) welche "dabei
gleichzeitig in klarer Weise drei jüdische Typen darstellen, die an Gefährlichkeit
einander gleich, im Auftreten und in den Methoden sich deutlich voneinander
unterschieden. Mendelssohn, der das Zerstörungswerk eingeleitet hat, erscheint als der
Typus des sogenannten Assimilationsjuden; Meyerbeer, der mächtigste Mann der
zweiten Etappe, ist der skrupellose Geschäftsjude; Mahler, der Beherrscher des dritten
Stadiums, stellt den fanatischen Typus des ostdeutschen Rabbiner dar".
Dem bis in die Titelgebung des Pamphlets hinein offenkundig reflektierten Vorbilde
Freigedank/ Wagner gemäss, übte Blessinger sich in der Konstruktion eines mit
wissenschaftlicher Akribie aufgeführten antisemitischen Argumentationsgebäudes,
welches er vermittels historischen Querverweisen anthropologisch zu untermauern
trachtete. So wird die Lyrik des märkischen Dichters Theodor Fontane dazu
missbraucht, die Denunziation des "Juden als Kulturparasiten" durch die Aussage einer
unangezweifelten Autorität zu sanktionieren.
Blessinger geht in der Recherche seines Konstruktes tief in die deutsche Geschichte
zurück. Die Aufhebung der jüdischen Ghettos habe somit die voranschreitende
Infiltrierung des europäischen Geisteserbes vermittels Taktik und Tarnung bedingt. Eine
massgebliche Funktion dabei erkannte Blessinger Mendelssohns Grossvater, dem
Philosophen Moses Mendelssohn zu, dem es "in der Hauptsache zuzuschreiben (wäre),
daß die Juden, die unter rabbinischer Führung bisher geistig in ghettoartiger
Abgeschlossenheit gelebt hatten, nun aus dieser heraustraten und eine neue Taktik, die
der "Assimilation", der scheinbaren Angleichung an das Leben des Wirtsvolkes
anwendeten, um ihr erstrebtes Weltherrschaftsziel zu erreichen"
89
Blessinger geisselt dabei im Besonderen Moses Mendelssohns "vollständige
Umwertung des Begriffes der Philosophie" in den "geistreichen Plauderton einer
"gebildeten Konversation", welche alleinig beabsichtige "immer recht zu behalten, auch
wenn der andere im recht ist".
Die Folgewirkungen dessen monierte Blessinger am Phänomen des jüdischen Salons,
einer vermeintlichen Stätte subversiver Kultivierung des Degenerierens von Körper und
Geist:: "Hier sehen wir ganz deutlich, worauf es den ,,Häuptern" ankam.: die Menschen
bei ihren schwachen Seiten zu packen, diese Schwächen als etwas im Grunde
genommen geradezu Wertvolles hinzustellen und sie dadurch innerlich zu
spalten...Parasitäre Aneignung der Geschmackskultur durch die Juden" hätten somit
wesentliche Bereiche grossbürgerlichen Lebens dahingehend "umgebogen", dass es
einer "wirklich deutschen Romantik" nunmehr unmöglich gewesen sei "echte
Tiefenwirkung" zu erreichen und "der Jude Mendelssohn" somit als "echtester
musikalischer Künder (...) vielgepriesenen deutschen Gemüts" wahrgenommen wurde.
Einem Umriss nationalsozialistischer Rezeption von Person und Musik Felix
Mendelssohn Bartholdys stellte Blessinger eine Analyse der "Machenschaften" durch
den Funktionär Mendelssohn voran. Mit der Eloge vom "jüdischen Interesse", welches
Mendelssohn angeleitet habe, knüpft er an das Verdikt des Leipziger Tagblattes von
den "mosaischen Interessen" im November 1846, in Zeiten des Vormärz an und
verdeutlicht somit die ungebrochene Tradition pathologisch übersteigerter deutscher
Fremdenangst.
Mendelssohns Leistungen als Dirigent seien also "in Äusserlichkeiten" verblieben,
hätten vielmehr "die tieferen Werte der Werke verschlechtert," Mendelssohns Musik
hingegen "formalen Schematismus, (...) Mangel an wirklicher Schöpferkraft", Tonrede
"ohne wirklich etwas zu sagen" demonstriert. Dabei handele es sich "in der Hauptsache
(...) doch um eine Übertragung magischer Beschwörungsformeln des Orients in unseren
Bereich, (...) einer Formel, die so unablässig wiederholt wird, prägt sich dem Hörer
unauslöschlich ein, und will ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen". Infolgedessen habe
"der Jude seinen Zweck erreicht,: seine Musik ergreift Besitz von den Menschen selbst
wider deren Willen".
Wieder einmal vertieft sich ein Demagoge hier so sehr in den Gegenstand seiner
Betrachtung, dass er den Bezug zur Basis objektiver Betrachtung desselben verlor und
sich Aussagen somit in Gegensatz zur Intention des Autors stellen. Als Verweis darauf,
dass die von Blessinger angeführten Mendelssohnschen Verführungstechniken wohl
eher auf das Werk Richard Wagners zuträfen, sei dessen These folgende Einschätzung
des Wagner-Biographen Robert Gutman entgegengestellt:
"Wagner sprach vom "unvergleichlichen Zauber" seiner Werke - ihr stärkster Zauber war
die Musik. Ein Prospero mit Buch und Zauber-Musik, der zu herrschen suchte über eine
Welt niederer Geister, benutzte er die Musik, um die Sinne zu unterwerfen, um ein
Publikum, dem er alle Frage abgenommen hatte, zu fesseln, zu knebeln, zu belehren.
Seine Musik zwang zum Glauben, ihre herrliche Instrumentierung geht - wie
Nietzsche bemerkte - aufs Nervensystem, sie hat die Kraft, das Rückenmark zu
bezaubern und überredet selbst noch die Eingeweide".
90
Auch Blessinger bemüht sich um den Nachweis einer spezifisch rassischen
Beschaffenheit in der Musik jüdischer Komponisten. Dabei paraphrasiert er implizit die
Theorien Wagner/ Freigedanks:
"Zwischen organischer Formgestaltung deutscher Art und jüdischer Formkonstruktion
besteht ein unüberbrückbarer Gegensatz. Der schöpferische deutsche Genius gestaltet
ein Kunstwerk als Kosmos, der eine lebendige Einheit bildet (...) und in dem jede
Einzelheit trotz ihrer eigenständigen Bedeutung in das Ganze sich einordnet.
Der Jude aber, unschöpferisch, wie er ist, vermag nie die Einheit des Ganzen auch
nur zu sehen., geschweige denn selbst zu gestalten.
Für ihn löst sich das Ganze in einer Unmenge selbstständiger Einzelheiten auf, die
höchstens durch künstliche Mittel, niemals aber organisch miteinander verbunden sind,
(...) es ist im Grunde dasselbe, ob die Urheber des Talmud das "Gesetz" in eine
unübersehbare Menge von Einzelvorschriften aufteilen, ob ein Moses Mendelssohn den
geordneten Gang philosophischen Denkens durch geistreich sein sollende Einzelsätze
stört, oder ob ein Felix Mendelssohn rein verstandesmässig aus dem Schaffensprinzip
deutscher Tonmeister ein totes Formschema mechanisch herausdestilliert.
Und wenn heute noch immer Musiker und Musikfreunde es bedauern, dass ihre
Lieblingskompositionen, die "Sommernachtstraum"-Ouvertüre, die Hebriden-Ouvertüre,
das Violinkonzert usw. aus den Programmen verschwunden sind, so ist dem zuerst
entgegenzuhalten, dass es unendlich viel bedauerlicher ist, daß hochbedeutende Werke
deutscher Komponisten, wie das Schumannsche Violinkonzert, uns durch jüdische
Machenschaften ganz verlorenzugehen drohten".
(Eine signifikante nationalsozialistische Fehlinterpretation musikhistorischer Fakten: das
Violinkonzert d-moll Schumanns war von Clara Schumann, auf Anraten des jüdischen
Violinvirtuosen Joseph Joachim, postum von einer Veröffentlichung zurückgehalten
worden, da beide die hohe Qualität Schumannschen Schaffens in diesem Falle nicht
mehr gegeben sahen. Das Werk erfuhr eine propagandistisch-sensationell aufbereitete
Uraufführung im deutschen Nationalsozialismus des Jahres 1937. Der aus rein
künstlerischen Erwägungen heraus erteilte Rat des Robert und Clara
Schumannfreundes Joachim wurde also, im Hinblick auf dessen jüdische Herkunft, als
einschlägiger Beweis jener genannten "jüdischen Machenschaften" zu Lasten eines
bedeutenden deutschen Meisterwerkes; eines dezidiert vorgetragenen Anschlages auf
den Bestand der nationalen Tonkunst im Sinne rassisch-nationalsozialistischer
Propaganda missdeutet.)
Blessinger fährt fort:
"Und zum zweiten ist festzustellen, dass vor 1914 allgemein in Musikerkreisen die Musik
Mendelssohns nicht mehr ernstgenommen wurde, dass man mit einem
geringschätzigen Achselzucken über sie zur Tagesordnung überzugehen pflegte, und
dass erst der unselige November 1918 diese Musik wieder in den Vordergrund stellte.
Mendelssohn war, abgesehen von den Liedern ohne Worte in den Musikmappen der
höheren Töchter und von dem Chor Wer hat Dich, Du schöner Wald vor dem ersten
Weltkriege so gut wie vergessen.
91
Erst die Juden der Nachkriegszeit haben versucht, ihn endgültig unsterblich zu machen.
Machen wir uns ein für alle Ml von dieser jüdischen Suggestion los, dass der Verzicht
auf Mendelssohn eine Verarmung unserer Musik bedeute".
Walter Trienes, jener Komponist, welcher der nationalsozialistischen These einer
Verschwörung des Weltjudentums zur Infiltration und Vorherrschaft in der deutschen
Musik bereits eigenständig publizistisch Vorschub leistete, rezensierte am 30. Januar
1939 im Westdeutschen Beobachter eine Veröffentlichung Blessingers, welche im Jahre
1938 unter dem Titel: "Mendelssohn, Meyerbeer und Mahler: drei Kapitel Judentum in
der Musik als Schlüssel zu Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts" in Berlin
herausgegeben wurde.
Der Autor trachtete darin, die in "Musik und Rasse" erhobenen Theorien (Berlin 1938) in
der Folge detailliert darzulegen und zu erhärten. Dem Geiste der eigenen Publikation
und der NS-Ideologie gemäss, sekundiert Trienes dem Parteimitglied und "namhaften
Münchner Wissenschaftler
und
Pädagogen"
Blessinger
bereitwillig.
Das
Hauptaugenmerk seiner Betrachtungen richtet Trienes somit auf den Komplex jener
Verschwörungstheorien, welche auf Tendenzen jüdischer Beeinflussung, Beherrschung
und Machtvervollkommnung innerhalb der deutschen Tonkunst reflektieren. Sie lassen
sich in direkter Linie erneut auf das Motiv und die Argumentationsweise von Freigedank/
Wagners Traktat zurückführen.
Trienes schreibt also:
"In den drei Hauptvertretern des Judentums in der Musik erblickt der namhafte
Münchner Wissenschaftler und Pädagoge Karl Blessinger den Schlüssel zur
Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts. Vielleicht tut man den Juden zu viel Ehre an,
wenn man ihnen für diese erste Zeit bereits eine zentrale Stelle einräumt, die sie (...) in
Deutschland nach dem Weltkriege mehr und mehr einnehmen konnten. Ohne Zweifel
war ihre musikalische Machtposition allerdings auch in der Romantik schon weit stärker,
als es dem flüchtigen Blick infolge der geschickten Verschleierungskünste ihrer wahren
Absichten zunächst scheinen mag.
Der Verfasser enthüllt uns eine Reihe dieser Tarnungsmanöver und deckt die
heimlichen Regietricks des Erfolgs auf, die den jüdischen Komponisten den
entscheidenden Vorsprung vor den nichtjüdischen sicherten. Mendelssohn wird ihm für
diese Taktik zu einem wichtigen Präzedenzfall. Blessinger kommt in einem besonderen
Abschnitt auf die Legende von Mendelssohns vorgeblichen Verdiensten um das Werk
Bachs zurück. (...) Aufschlußreich sind die Untersuchungen über seine Kompositionen,
über den Unterschied der Gefühlsäusserungen deutschen und jüdischen Wesens in der
Musik, den unüberbrückbaren Gegensatz zwischen organischer Formgestaltung
deutscher Art und jüdischer Formkonstruktion und nicht zuletzt die Herkunft seiner
besten melodischen Einfälle."
92
23. Alles, alles wurde dem Juden zugesprochen
Der Generalsekretär des Salzburger Mozarteums Erich Valentin veröffentlichte im Jahre
1940 ein Musiklesebuch mit dem Titel "Ewig klingende Weise. Von deutscher Musik"
(Regensburg). Der Verfasser lässt darin den gebotenen Anspruch objektiv musikalischer
Betrachtungen vermissen und befleissigt sich vielmehr einer subaltern anderen Autoren
nachempfundenen antisemitischen Attitüde. Er beklagt somit, der Jude habe den
schwer um den Erfolg arbeitenden Deutschen stets um die Früchte seiner Arbeit zu
berauben verstanden.
Daher habe auch der Komponist Felix Mendelssohn - "Der Fremdling" - , wie die
nachfolgend wiedergegebenen Ausführungen Valentins denn auch überschrieben sind,
mit leichter Hand lediglich geerntet, was Heroen der Deutschen Musik wie Bach oder
Mozart einst mühsam gesät:
"In der Maske des Bettlers war er gekommen. Nun betrat er geltungsheischend die
Stufen von Theater und Konzertsaal, um über sie zu den Stufen der Throne zu
gelangen. (...) Das Zepter der musik ergriff einer, dem das Kämpfertum wie allen seines
Blutes, die nach ihm kamen, erspart blieb: Felix Mendelssohn Bartholdy, der
Bankierssohn, dem sich Ruhm, Glück, Erfolg und Macht zuwandten. Alles, alles wurde
ihm zugesprochen, selbst das verdienst der Erweckung Johann Sebastian Bachs. (...) In
mehr als einem Jahrtausend gewachsenes sollte in die Hände des ungerufenen
Fremdlings gegeben werden. An die Wurzeln des kraftstrotzenden Baumes wurde die
Axt angelegt.(...) Judentum, hiess der Fremdling. (...) Weltbürgertum und Judentum zwei Namen für den selben Begriff - befleckten die Unantastbarkeit der ewig klingenden
Weise. Der Kampf der hundert Jahre nahm seinen Anfang."
Der Publizist Otto Schumann, (auf ihn soll aus gegebenem Anlass erst anlässlich einer
seiner Nachkriegspublikationen detailliert eingegangen werden), veröffentlichte im
Nationalsozialismus u. a. eine "Geschichte der Deutschen Musik" (bibliographisches
Institut, Leipzig 1940) und "Meeres Opernbuch" (ebenda, 1935).
Die verfestigte völkische Gesinnung Schumanns offenbart sich bereits im Vorwort der
"Geschichte der Deutschen Musik":
"Musik gilt dem Verfasser nicht als "tönend bewegte Form", sondern als tönender
Ausdruck eines geistigen Leitbildes. Eine deutsche Musikgeschichte hat sich somit zu
beschäftigen mit der Frage, in welcher Weise die deutsche Tonübung im Laufe der
Jahrhunderte und Jahrtausende das geistige Leitbild der deutschen Volkheit verwirklicht
hat. Es muss also der Versuch gemacht werden, nicht nur die Form, sondern vor allem
auch den Inhalt musikalischer Schöpfungen darzustellen.(...) Die Mittel dazu liefern uns
die neuzeitliche Ausdruckskunde und Rassenkunde. Während nun der Verfasser das
Ausdruckskundliche (...) mit gebotener Behutsamkeit eingearbeitet hat, wurde im
geschichtlichen Ablauf grösster Nachdruck auf das rassische Grundwesen der
deutschen Tonübung gelegt.
93
Die Beschäftigung mit rassekundlichen Fragen ist (...) für den Verfasser zwangsläufig
aus der Beschäftigung mit der Tonkunst hervorgegangen: als sich auf Fragen, warum
die Tonkunst bestimmter Zeitalter (...) so und nicht anders geartet sei (...) keine
befriedigende Antwort mehr einstellte, wurde die (...) Rassenkunde herangezogen (...)
Und wenn auch das vorliegende Buch keine Rassegeschichte der deutschen Musik ist,
(...) so ist es doch eine deutsche Musikgeschichte auf rassekundlicher Grundlage."
Obgleich der Autor eine "zwangsläufig" aus "der Beschäftigung mit der Tonkunst"
hervorgegangene, ihm also vom Sujet schlüssig vorgegebene Erörterung amusikalisch
"rassekundlicher Fragen" beteuert, hat er in Wahrheit - neben Erich Valentin - erneut
ein Werk vorgelegt, welches die "rassekundliche" Belange bereitwillig über jene der
Musik stellte.
Dass das Sujet Mendelssohn unter diesen Voraussetzungen nurmehr in zersetzender
Weise zur Erörterung kommen konnte, wenngleich es nicht totgeschwiegen wurde, wie
es im Opus Müller-Blattaus geschah, verwundert kaum. Im Kapitel "Beginnender Einfluß
des Judentums" erörtert Schumann zu Beginn den "Einbruch" des "Judenproblems in
die deutsche Musikgeschichte" in der " ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts" im
Allgemeinen:
"Nach der sogenannten Judenbefreiung tauchten sogleich in vielen künstlerischen (...)
Tätigkeitsbereichen jüdische Menschen auf, denen es gelang, in erstaunlich kurzer Zeit
erheblichen Einfluss auf das deutsche Geistesleben zu gewinnen. Namen wie der des
Popularphilosophen Moses Mendelssohn, der Schriftsteller Heine und Börne, von Rahel
Varnhagen und Henriette Herz, in deren "Salons" die geistige Welt Berlins sich ein
Stelldichein gab, kennzeichnen zur Genüge den Einbruch jüdischen Wesens in die
deutsche Welt."
Traditionsgemäss greift der Autor wiederum auf zentrales Freigedank/ Wagnersches
Gedankengut zurück; der These vom Trieb jüdisch-deutschen Amalgamierens.
Thesen wie jene hatten sich vermittels unausgesetzter unreflektierter
Paraphrasierung zu diesem Zeitpunkt offenkundig längst zu Klischee und Stereotyp
vergröbert. Dennoch erweist sich die grundlegende Bedeutung Freigedank/
Wagnerschen Denkens, die Rezeption und Folgewirkung seiner von rassebiologischen
Obsessionen durchprägten Kulturtheorien, gleichsam in Vorlage, Verkündigung und
posthumer Vollendung des Konzeptes eines deutschen Radikalantisemitismus an
diesem Beispiel eindeutig. Lesen wir zuerst den Adepten des Jahres 1940:
"Erleichtert wurde ihnen das durch die erstaunliche Fähigkeit des Juden (...) sich
geschmeidig und schnell der besonderen Artung des Volkes anzupassen, bei dem er
lebt. Rechnet man dazu die formale Gewandtheit des Juden, seine oft verblüffend
wirkende zerglidernde (...zersetzende) Denkweise und die Fähigkeit, nicht
zusammengehörendes zu einer Schein-Einheit zusammenzudenken, so begreift man,
warum der Einfluss jüdischen Wesens sich gerade während der Romantik, dem Zeitalter
rassischer Auflösung, so mächtig durchsetzen konnte".
94
Und nun das Demagogenwort Freigedank/ Wagners aus dem Jahre 1850, welches
sowohl jene aktuell genannten, als auch im weiteren Verlaufe wiedergegebenen
Aussagen Schumanns bis ins kleinste Detail vorwegnimmt:
"Von nun an tritt also der "gebildete Jude" in unsrer Gesellschaft auf. (...) Der
gebildete Jude hat sich die undenklichste Mühe gegeben, alle auffälligen Merkmale
seiner niederen Glaubensgenossen von sich abzustreifen: in vielen Fällen hat er es
selbst für zweckmässig gehalten, durch die christliche Taufe auf die Verwischung aller
Spuren seiner Abkunft hinzuwirken. (...) Von dieser Gemeinsamkeit der Natur, (...) dem
Zusammenhange mit seinem Stamme gänzlich herausgerissen, konnte dem
vornehmeren Juden seine eigene erle4rnte und bezahlte Bildung nur als Luxus gelten .
(...) Ein Teil dieser Bildung waren nun aber auch unsre modernen Künste geworden, (...)
namentlich diejenige (...), die sich am leichtesten eben erlernen lässt, die "Musik" (...)
Was der gebildete Jude...auszusprechen hatte, wenn er künstlerisch sich kundgeben
wollte, konnte natürlich eben nur das Gleichgültige und Triviale sein (...), unwillkürlich
horcht er auf unser Kunstwesen (...) nur ganz oberflächlich hin, (...) ihm wird daher die
gefälligste Äusserlichkeit der Erscheinungen auf unsrem musikalischen Lebens- und
Kunstgebiete als deren Wesen gelten müssen. (...) So wirft der jüdische Musiker auch
die verschiedensten Formen und Stilarten aller Meister und Zeiten durcheinander. (...)
Die Zerflossenheit (...) unseres musikalischen Stiles ist durch Mendelssohns Bemühen,
einen unklaren, fast nichtigen Inhalt so interessant und geistblendend wie möglich
auszusprechen (...) auf die höchste Spitze gesteigert worden." (...)
Es ist zwecklos, den Aufwand künstlerischer Mittel zu beschreiben, deren er
(Meyerbeer, Anm. d. V.) sich bediente,(...) genug, daß er es (...) vollkommen verstand,
zu täuschen, (...) namentlich damit, daß er jenen (...) Jargon (...) als modern pikante
Aussprache aller Trivialitäten aufheftete" (...)
So lange die musikalische Sonderkunst ein wirkliches organisches Lebensbedürfnis in
sich hatte, bis auf die Zeiten Mozarts und Beethovens, fand sich nirgends ein jüdischer
Komponist: unmöglich konnte ein diesem Lebensorganismus gänzlich fremdes Element
an den Bildungen dieses Lebens teilnehmen. Erst wenn der innere Tod eines Körpers
offenbar wird, gewinnen (...) ausserhalb liegende Elemente die Kraft sich seiner zu
bemächtigen, (...) um ihn zu zersetzen; dann löst sich...das Fleisch dieses Körpers in
wimmelnde Viellebigkeit von Würmern auf. (...) Der Geist (...) floh von diesem Körper
hinweg zu ( ..) Verwandtem, und dieses ist nur das Leben selbst: nur im wirklichen
Leben können wir auch den Geist der Kunst wiederfinden, nicht bei Ihrer würmerzerfressenen Leiche."
Von solcher Lehre durchdrungen wendet sich Schumann nunmehr Felix Mendelssohn
zu:
"Felix Mendelssohn...galt eine Zeitlang als "die" Leuchte romantischen Musikschaffens
in Deutschland. (...) Nun wird niemand das ausserordentliche Können Mendelssohns
bezweifeln. (...) Aber dieses formsichere Bewegen, die glatte Problemlosigkeit, dieses
schmiegsame Anpassen an Deutsches erscheinen uns verderblicher als die
rücksichtslose Selbstbehauptung des "atonalen Mißtöners" Arnold Schönberg, der ja
gleichfalls Jude ist. (...)
95
Wie immer war das süsse Gift gefährlicher als das bittere: Mendelssohns süßliche
Schönmusik schmeichelte sich (...) in Ohr und Herz, (...) und so liess man sich in einen
Dornröschenschlaf singen und ist mancherorts (...) ein wenig ungehalten, daß der
weckende Prinz mit den Dornen und Spinnweben auch die Röslein zerhauen hat.
Die fast ein Jahrhundert währende Mendelssohn-Schwärmerei ist um so unbegreiflicher,
als zu allen Zeiten Männer aufstanden, (...) denen seine Musik allzu glatt erschien. (...)
Der Fehler lag wohl darin, daß man sich mit der Feststellung des "Allzu-Glatten"
zufriedengab, (...) nicht weiter forschte, welche Rückschlüsse sich daraus ziehen
lassen. Hätte Mendelssohn eine Musik geschrieben, die seiner rasseseelischen
Beschaffenheit entsprach, dann könnte sich vielleicht das Judentum eines grossen
Komponisten rühmen Da er aber solchen echten Stil nicht aufzubringen vermochte,
erschöpfte er sich in Nachbildung deutscher Eigentümlichkeiten.
Diese wiederum konnte er aus rassischen Ursachen nicht von innen erfassen. (...) So
erklärt sich das bloß Gefällige seiner Musik, ihre fliessende Glätte und mangelnde
Tiefenwurzelung (...) Mendelssohn erschaute die künstlerischen Fragen seiner Zeit mit
wachem Verstand und kühlem Herzen; das konnte er, weil sie ihn als Fremdrassigen im
Grunde nicht bewegten. (...) Da sein Geschmack ohne Zweifel geläutert war, gelangen
ihm Werke, deren glatte, gefeilte Aussenseite ihm zu Unrecht den namen eines
deutschen Meisters eingetragen haben."
Werfen wir noch einen Seitenblick auf die Schumannsche Betrachtung der Komponisten
Giacomo Meyerbeer und Jaques Offenbach sowie auf dessen Bestreben, der
Freigedank/ Wagnerschen Prämisse vollgültig zu entsprechen:
"Als Gegenstück zu ihm schrieb der Jude Meyerbeer bald in deutschem, bald in
französischem und bald in italienischem Stil, mischte auch wohl die drei Stilarten
durcheinander. (...) Wer (...) so haltlos auf die Ausdrucksweise verschiedener Nationen
schaut, ohne seinen eigenen, geschweige denn den Stil seiner Rasse zu finden, der
mag wohl vorübergehend als theaterdonnernder Zeus angehimmelt werden (...)
Mendelssohns wohlerwogene Beschränkung auf das Nachempfinden und Nachahmen
eines volkischen (des deutschen) Stils hatte immerhin zur Folge, daß sein Werk länger
zu wirken vermochte. (...) Meyerbeers Verzettelung auf die Nachahmung mehrerer
Volksstile hat ihn schneller gerichtet. (...)
Der in Deutschland geborene Offenbach aber meisterte musikalisch den französischen
Witz wie ein Pariser aus Paris. Wiederum also diese fast unheimliche Einfühlungsgabe
des Juden bei gleichzeitiger Preisgabe jeglichen rassischen Eigenstils"
Am Ende des Kapitels steht Schumanns Bemühen, den Volksgenossen in nahezu
beschwörendem Tonfall darzulegen, warum eine Musik, die erklärtermassen "schön" ist,
keineswegs "schön" sein darf. Dabei setzt er wie etliche Vorläufer das Element
umfassend gepflogener Spekulation gegen die Anforderungen von Objektivität,
Stichhaltigkeit, wissenschaftlicher Erkenntnis.
96
Das vielschichtig konstruierte, sprachlich gedrechselt und gewundene Freigedank/
Wagnersche Thesengebäude erfährt durch die Ausführungen des Adepten respektive
die dabei nahezu eins zu eins vorgenommene Übertragung einer musikalischen
"Problemstellung" in eine rein völkische denkbar grösste Banalisierung in Form und
Inhalt. Die Definition, welche Art von Musik ein rassisch "echter" Stil Mendelssohns oder
"rassischer Eigenstil" möglicherweise hervorgebracht hätte, bleibt der Autor hingegen
vollends schuldig.
"Ein rassisch gesundes und (...) rassebewusstes Volk würde Erscheinungen wie
Mendelssohn, Meyerbeer und Offenbach (...) ohne besondere Gefahren ertragen
können. (...) Aber das 19. Jahrhundert war eben ein Zeitalter rassischen Verfalls, in dem
die natürlichen Widerstandskräfte erlahmten. (...) Die aus seiner Anpassungsfähigkeit
entspringende Begabung des Juden, beachtenswerte nachschaffende Leistungen
hervorzubringen, wurde (...) als Beweis für musikalische Kultur betrachtet. (...) Wohin
das geführt hat, ist bekannt: das Judentum in Deutschland hat nicht eine einzige
musikalisch-schöpferische Persönlichkeit hervorgebracht, wohl aber den "Betrieb" mit
Dirigenten, Sängern und Spielern weitgehend beherrscht und entdeutscht.
Das muss gerade denjenigen vor Augen gehalten werden, die auch heute noch eine
Ehrenrettung Mendelssohns und seiner Musik versuchen. Nicht darauf allein kommt es
an, ob jemand die Töne kunstvoll und liebenswürdig zu setzen weiss (das verstand
Mendelssohn wirklich), sondern auf den Geist und die Haltung seines Werkes. Sie erst
machen das Wesen eines Kunstwerks aus. (...) Wollte ein deutscher, italienischer oder
französischer Musiker von Rang hingehen und ausschliesslich "im jüdischen Stil"
komponieren, so würde er sich bei seinen Volksgenossen lächerlich und verächtlich
machen. Mit dem gleichen Recht betrachten wir den Juden, der sich in der Nachahmung
anderer erschöpft, als lächerlich, verächtlich - und gefährlich. Auch Mendelssohn."
Karl Blessingers "Judentum und Musik" erfuhr im Jahre 1944, in Zeiten kontinuierlich
erfolgenden militärischen Rückschlags der Deutschen Wehrmacht auf nahezu allen
Kriegsschauplätzen und regulären Bombenterrors gegen Deutsche Städte, eine
inhaltlich erweiterte Wiederauflage und erreichte somit eine Gesamtzahl von 24 000
Exemplaren. Das beweist, allen nach 1945 erfolgten Beteuerungen vermeintlich
kollektiver Unwissenheit von Rassenwahn und Pogrom zum Trotze, den auch gegen
Kriegsende anhaltenden Bedarf an ideologischem und "rassekundlichem" Schrifttum,
die unausgesetzte Aufnahmebereitschaft für einschlägige Indoktrination.
Der Rezensent Erwin Völsing hebt in der Zeitschrift "Musik im Kriege" denn auch
wohlwollend hervor, dass das "wohltuend klar und stets fesselnd geschriebene Buch (...)
neue wichtige Erkenntnisse und höchst aufschlussreiche Ergebnisse historischer
Forschung" vermittle. Blessingers Thesen konform streicht auch der Rezensent einen
lobbyistisch herbeigeführten, zersetzenden Einfluss des "jüdischen" Klassikers
Mendelssohn demagogisch hervor:
"Wie gefährlich die vom Judentum mit allen Mitteln einer geschäftstüchtigen Reklame
herbeigeführte angesehene Stellung Mendelssohns sich auswirken konnte, ist uns
heute eindeutig klar geworden. (...)
97
Hatte sich Mendelssohn als Kapellmeister fast ständig am Geist der Deutschen Musik
vergangen, (...) so war auch sein kompositorisches Können von den Juden und einer
"kraftlos gewordenen deutschen Bürgerlichkeit" masslos übertrieben eingeschätzt
worden".
Im gleichen Jahre des totalen Krieges 1944 veröffentlichte der als Musikreferent des
Stiftes St. Ingbert im Saarland tätige Musikologe Albert Georg Niklaus die Studie "Liszt Schumann - Mendelssohn" im Hahnefeld Verlag in Berlin, welcher auch Blessingers
"Judentum und Musik" herausbrachte. Da die Studie in der gleichen Edition
kulturtheoretischer Betrachtungen erschien wie Blessingers "Judentum", jenes inhaltlich
in Behandlung vermeintlicher semitischer Infiltration Robert Schumanns und
biedermeierlichen Musiklebens gar vertiefte, wurde sie der Leserschaft in einer Anzeige
mit folgenden Worten angekündigt:
"Niklaus zeigt treffend die jüdische Einflussnahme auf das Deutsche Musikleben am
Beispiel der Geschichte der "Neudeutschen Schule" und des Liszt-Wagner-Kreises.
Dieses bewegte Kapitel deutscher Musikgeschichte ist ein weiterer Baustein zu der von
Blessinger begonnenen Forschungsarbeit zum Thema Judentum und Musik."
Intermezzo IV:
Die "Hohe Schule" I: kulturelle Neuordnung –
nicht nur für Europa, sondern für die Welt
Im Jahre 1940 wurde der konzeptionellen Grundstein zur Errichtung eines gigantischen
Projektes nationalsozialistischer Bildungspolitik gelegt, dessen Struktur und Systematik
unmittelbar auf „Führerbefehle“ (FB) Adolf Hitlers zurückgingen. Mit der Umsetzung war
Rosenberg beauftragt, der sich seit dem Jahre 1937 mit Vorbereitungen des Projektes
getragen hatte Die sogenannte "Hohe Schule" sollte, Rosenberg zufolge, „die Spitze der
gesamten Erziehungsarbeit für die NSDAP (...) bilden, praktisch somit eine geistige
Erziehungs- und Lenkungszentrale für das ganze Deutsche Volk" sein.
Neben der Errichtung einer Zentralbibliothek aller in Deutschland und Europa
konfiszierten Schriften „weltanschaulicher Gegner“, beinhaltete das Projekt vor allem die
Gründung übergeordneter Institute und Fachbereiche der parteikonformen
akademischen Elite. Die Niederlassungen der Institute sollten sich ursprünglich über das
gesamte Reichsgebiet erstrecken. Aufgabe derselben war einzig die ideologische
Komprimierung und Transformation europäischen Wissens hin zur Überhöhung einer
rassisch-hybriden, alleingültigen sozialdarwinistisch-faschistischen Überzeugung und
Lehre. Die Bibliothek wurde zu Beginn des Jahres 1939 in Berlin gegründet, das
Zentralinstitut sollte in einem monumentalen Neubau im Chiemgau angesiedelt werden;
des weiteren Fachbereiche und Dependencen in namhaften deutschen Städten.
Wesentlichstes Anliegen der Führerbefehle war die Errichtung eines Institutes zur
Abhandlung der Jüdischen Frage.
Es erstand im März des Jahres 1941 als erste Fachschaft der Hohen Schule in der
Stadt Frankfurt am Main. Ein "Führerbefehl" (FB) vom 2. April wies Rosenberg zur
Ausweitung der hiesigen „Fachbibliothek der Judenfrage“, "errichtet „nicht nur für
Europa, sondern für die Welt“, an.
98
Dem Befehl zufolge, sei „das Material, (...) unerwartet viel Material", * welches der
Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg (ERR) Juden und freikonfessionellen Vereinigungen
besiegter europäischer Länder fortwährend raubte, „zu Forschungszwecken“,
hinsichtlich einer „weltanschaulichen, politischen und kulturellen Neuordnung Europas
nach Kriegsende“ (FB v. 2.4.1940) sämtlich der Hohen Schule zuzuleiten. (zitiert nach
de Vriess, dessen Buch "Sonderstab Musik" die Informationen zur Hohen Schule
entnommen sind)
Da die "Hohe Schule" hierarchisch in „Kerngebiete“ (Biologie, Anthropologie,
Rassenlehre, indogermanische Geistesgeschichte, Erforschung der Judenfrage,
Theologie etc.) und „Randgebiete“ (Philosophie, Bildende Kunst, Ostforschung,
Erziehungswissenschaft, Geschichte, Theater etc.) untergliedert wurde, kam es erst im
April des Jahres 1943 zur Institutionalisierung eines Fachbereiches der "Hohen
Schule" in der Kategorie 8 mit dem Titel " Schule Sachgebiet Musik." Die Niederlassung
erfolgte im Gebäude der ehemaligen höheren israelitischen Schule in Leipzig, die
Institutsleitung hatte Dr. Phil. Habel. Herbert Gerigk inne. In einem Schreiben an den
Magistrat Leipzigs berief sich Rosenberg dezidiert auf „den traditionsreichen Ruf,
gerade auf musikalischem Gebiete“.
Ein Ruf, der sich ja, wie man seinerzeit im Amte Rosenberg und in der Stadt Leipzig
längst ignorierte oder vergass, in dezidierter Ausprägung und Vollendung seinerzeit ja
dem Wirken als jenem Mendelssohn Bartholdys zu verdanken war.
24. Das Lexikon der Juden in der Musik
Im Jahre 1940 beauftragte die "Hohe Schule" in der Person des Amtsleiters Alfred
Rosenberg die "Hauptstelle Musik" der DBFU Alfreds Rosenbergs (Dienststelle des
Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und
weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP) mit der Realisierung eines
Buch- und Rasseprojektes; einer Enzyklopädie musikalischen Judentums.
Infolgedessen legte ein Team promovierter Musikwissenschaftler (Wolfgang Boetticher,
Dr. Marlise Hansemann, Dr. Herrmann Killer, Dr. Lily Vietig-Michaelis, Teophil Stengl)
noch im gleichen Jahre
das "Lexikon der Juden in der Musik - Mit einem
Titelverzeichnis jüdischer Werke" vor. Als Supervisor und Herausgeber fungierte der
Leiter der Hauptstelle Musik sowie des Amtes Musik im Einsatzstab Reichsleiter
Rosenberg (ERR) als auch des Sachbereichs Musik der späteren "Hohen Schule" in
Leipzig, Dr. Phil. Habil. Heinz Gerigk.
(Die Aktivitäten und Wirkungsbereiche der genannten Institutionen lassen sich oftmals
kaum voneinander trennen, da es sich ja stets um den Arbeitsstab Gerigk handelte)
Die Publikation firmierte als Band 2 der „Veröffentlichungen des Institutes der NSDAP
zur Erforschung der Judenfrage (IEJ)“ in Frankfurt, dem erwähnten Gründungsinstitut
der Hohen Schule. Allein das von Gerigk verfasste Vorwort liest sich wie eine
Bekenntnisschrift pathologischen Rassenwahns. So war die „Reinigung unseres Kulturund (...) Musiklebens von allen jüdischen Elementen (nunmehr) erfolgt.“
99
Da „von unserer Seite ja nicht eine Verewigung der jüdischen Erzeugnisse geliefert
werden“ sollte, verzichtet das Lexikon folgerichtig „auf Werkverzeichnisse und
erschöpfende bibliographische Angaben". Da „die berühmtesten Sängerinnen für die
jüdische Rasse“ widerrechtlich beansprucht würden, liessen „die Namensänderungen
und die Gepflogenheiten vieler Juden, (...) die vorgeschriebene polizeiliche Meldepflicht
nicht zu vollziehen“, die Bemühungen „zu überprüfen“ bis „an die Schwelle der
Gegenwart (...) langwierig werden."
Das Lexikon listet in dem sich über 2 Seiten hin erstreckenden (selbstverständlich mit
Bindestrich versehenen) "Felix Mendelssohn-Bartholdy"-Eintrag den einschlägig
vertrauten, im Tonfall lediglich nochmals verschärft vorgebrachten Katalog stereotyper
Mendelssohndiffamierungen auf. Ferner halten spezifisch neuwertige Absurditäten; pure
Behauptungen, Umkehrungen historisch verbürgter Tatsachen aufgrund verfälschter
authentischer Dokumente Einzug in denselben. Ohne das die Ausführungen einem
einzelnen Mitarbeiter durch Namensnennung oder Sigle zuzuordnen wäre, ist im
einzelnen u. a. zu lesen, das Felix Mendelssohn „bekanntlich einer reichen jüdischen
Bankiersfamilie entstammte, (...) der „Mendelssohnkultus bereits zu Lebzeiten von einer
grossen Zahl von Rassegenossen entfacht wurde, (...) die Lieder ohne Worte (...) die
deutsche Romantik, die in ihren Anfängen eine starke Hinneigung zum Volkstum und
(...) deutscher Innerlichkeit gezeigt hatte (...) verwässert(en).“ Der Beitrag zitiert
ausführlich aus Freigedank/ Wagners „Judenthum“ und verweist auf die (verfälschten)
Tagebuchaufzeichnungen Robert Schumanns, von denen anschliessend noch die Rede
sein wird.
Bemerkenswert ist darüberhinaus ein Konstrukt, gebildet aus Originalzitaten Carl
Friedrich Zelters und geschichtsfälschenden Rückverweisen auf das Wirken der Berliner
Singakademie Zelters, welches Felix Mendelssohn jedweden Verdienst um die
Neubewertung der "Matthäus-Passion" abspricht.
Es heisst dort also:
"Daß der Verdienst dieser wegweisenden Bachaufführung M. gebühre, der wohl als
einziger die wahre Grösse des Barockmeisters begriffen habe, ist eine Verfälschung
geschichtlicher Tatsachen. (...) Aus den Darstellungen Alfred Morgenroths und Georg
Schünemanns geht einwandfrei hervor, daß das Verdienst um das Zustandekommen
dieser Aufführung fast ausschliesslich Karl Friedrich Zelter gebührt , der (...) die (...)
Singakadamie (...) zu einer in ihrer Art damals einzig dastehenden Stätte der
Bachpflege (gemacht hatte. So (...) erhielt (...) Mendelssohn durch die Teilnahme an
den Proben die entscheidenden Anregungen. So konnte er ohne viel eigenes Zutun an
die Aufführung der Matthäuspassion gehen, zumal Zelter die hierzu erforderlichen
Proben meist selbst leitete und ausserdem seinem Schüler dirigiertechnische
Anweisungen gab. Hierüber schrieb (Zelter) an Goethe 1829: "Felix hat die Musik unter
mir eingeübt und wird sie dirigieren, wozu ich ihm meinen Stuhl überlasse".
Gerigk, dem es bereits vor seiner Ernennung zum NS-Funktionär niemals gelang, eine
akademische Berufung zu erlangen, blieb – nachdem er sich als Dienststellenleiter des
III. Reiches exponiert hatte – eine akademische Karriere auch nach 1945 versagt.
100
Einer Tätigkeit als Musikfeuilletonist der Dortmunder Ruhr Nachrichten stand indessen
nichts entgegen. Auch nicht der Umstand, nunmehr Musik rezensieren zu müssen,
welche er wenig zuvor als „zersetzend“, „jüdisch, „kulturbolschewistisch“ apostrophierte;
ja beruflich mit Musikern zusammenzutreffen, welche er zuvor zur „schnellsten
Ausmerzung (...) aus unserem Kultur- und Geistesleben“ freigegeben hatte.
25. ...das Benehmen Mendelssohns, daß er als Director angesehen werden wolle
Der junge Musikwissenschaftler Wolfgang Boetticher, der im Jahre 1941 an der
Universität Berlin mit einer Arbeit über Robert Schumann promovierte, betätigte sich in
den Jahren 1940 und 42 als Herausgeber von Schumanns Tagebuchaufzeichnungen
und Briefen und Co-Autor des 1940 herausgegebenen "Lexikon der Juden in der Musik Mit einem Titelverzeichnis jüdischer Werke." Bestärkt von wohlwollenden Beurteilungen
seines Vorgesetzten in der "Hauptstelle Musik" der DBFU Alfreds Rosenbergs, Heinz
Gerigk: war er "seit 1.12.1937 als Referent in der Hauptstelle Musik tätig und (...) hat
sich in dieser Zeit stets als ein ausgezeichneter Sachkenner und als instinktsicherer
Nationalsozialist bewährt. (...) Wie mir berichtet worden ist, hat Boetticher den gesamten
Umkreis der Robert Schumann-Forschung unter Berücksichtigung unserer
weltanschaulichen Haltung durchgearbeitet, und ist (...) zu wertvollen Ergebnissen
gelangt, die das Schumann-Bild (...) neu gestalten." (29.3.1940; zit. nach de Vriess,
"Sonderstab Musik")
Was verhalf dem jungen Wissenschaftler zu diesen, von Gerigk so wohlwollend
hervorgehobenen, gleichsam unverhofft erbrachten "wertvollen Ergebnissen" und der
"Neugestaltung des Schumann-Bildes", welche zur Vervollkommnung der
"weltanschaulichen Haltung" des Nationalsozialismus so trefflich geeignet schienen?
Boetticher verfälschte Schumanns Tagebucheintragungen, Erinnerungen und Briefe an
Felix Mendelssohn Bartholdy durch Hinzufügung oder Unterlassung einzelner Worte
oder Sätze und verlieh ihnen somit einen Tonfall antisemitisch-motivierten Vorbehaltes
Schumanns gegen den Freund und Musikerkollegen Felix Mendelssohn.
Zur Veranschaulichung dessen folgende Gegenüberstellung eines authentischen sowie
von Boetticher manipulierten Zitates. Robert Schumanns Autograph: "Seine
(Mendelssohns) Gedanken üb(er) das Conservatorium, daß er namentlich den Musikern
auch einen Verdienst zuweisen wollte", "Gründung des Conservatoriums und sein
Benehmen dabei, daß er nie als Direktor angesehen werden wollte."
Von diesem Zitat verbleibt in der Publikation Boettichers von 1940/42: (...) "Gründung
des Conservatoriums und sein Benehmen dabei, daß er (...) als Direktor angesehen
werden wolle."
Erst der Rückgriff auf die im Jahre 1947 anläßlich des 100. Todestags Mendelssohns
vom Robert Schumann-Archiv in Zwickau zur Verfügung gestellten Autographen
vermochte es, die von Gerigk, Boetticher und Dr. Lila Vietig-Michaelis lancierte
Erkenntnis nachhaltig aufzuheben:
101
"Auch Robert Schumann zählte keineswegs zu den bedingungslosen Bewunderern (...),
wie lange geglaubt wurde. Aus den (...) erstmalig veröffentlichten Notizen (...) und
Briefen geht deutlich hervor, daß Schumann von Anfang an der Erscheinung
Mendelssohns kritisch gegenübergetreten ist". ("Lexikon der Juden in der Musik")
Boetticher diente dem Nationalsozialismus auch als Mitarbeiter des Sonderstabs Musik
des Amtes Rosenberg zu systematischer Erfassung und Konfiszierung der kulturellen
Hinterlassenschaften geflohener oder ermordeter Juden in besetzten Gebieten und
Mitglied der Waffen-SS. Dennoch machte er nach 1945 als Musikwissenschaftler und
Publizist hochrangig Karriere in den Positionen: Dozent, Professor und Dekan der
Universität Göttingen (1955/57/72), Gastdozent an den Universitäten Cambridge und
Oxford (1952-72), Kurator der Staatl. Hochschule f. Musik Hannover (1958), Gastdozent
an der Karls-Universität Prag (1963). Daneben erhielt er die Möglichkeit zu folgenden
Veröffentlichungen: Gesamtausgabe der Klavierwerke Robert Schumanns/ Henle Verlag
München, Essays, Zeitschriftenartikel, Beiträge in Handbüchern und Enzyklopädien,
Nachrufe etc. Boetticher arbeitete nach seiner Emiritierung weiterhin als
Hochschullehrer und musikwissenschaftliche Kapazität an der Universität Göttingen, bis
im Jahre 1999 wachsende Aufarbeitung seines Wirkens im III. Reich auf internationaler
Ebene die Suspendierung von aller Lehrtätigkeit erwirkte.
Intermezzo V:
Juden bleiben Juden. Oder: Von den Ehetagebüchern des Robert Schumann
Als Glücksfall anzusehen ist es angesichts jener Umtriebe, daß in den 40ziger Jahren
des 20. Jahrhunderts der Schumann-Forschung offensichtlich noch nicht alle schriftliche
Hinterlassenschaften des Musikerehepaares Clara und Robert Schumann zur Edition
und Auswertung zur Verfügung standen. Wie hätten nationalsozialistische Funktionäre
der Hauptstelle Musik wie Gerigk und Boettcher triumphiert, wenn sie anlässlich ihrer
Publikationen, auf authentische, unverfälschte Aussagen Schumanns hätten
zurückgreifen können, welche den Komponisten als offenkundigen Antisemiten und
Mendelssohngegner
zu
bezeugen
geeignet
wären.
Die
Musikund
Frauenwissenschaftlerin Beatrix Borchard zitiert in ihrer im Jahre 1985 veröffentlichten
Studie "Robert Schumann und Clara Wieck - Bedingungen künstlerischer Arbeit in der
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts" eine Passage aus den Ehetagebüchern, welche bis
dahin unveröffentlicht geblieben war und ein zeitweiliges tiefes Zerwürfnis zwischen
dem Künstlerehepaar dokumentiert, in welches Felix Mendelssohn mental einbezogen
wurde:
"Clara sagte mir, daß ich gegen Mendelssohn verändert schiene, gegen ihn als Künstler
gewiß nicht - das weißtest Du - hab` ich doch seit vielen Jahren so viel zu seiner
Erhebung beigetragen, wie kaum ein Anderer. Indeß - vergessen wir uns selbst nicht zu
sehr dabei. Juden bleiben Juden; erst setzen sie sich zehnmal, dann kömmt der Christ.
Die Steine, die wir zu ihrem Ruhmestempel mit aufgefahren, gebrauchen sie dann
gelegentlich, um auf uns damit zu werfen. Also nicht zuviel, ist meine Meinung. Wir
müssen auch für uns thun und arbeiten. Vor allem laß uns nur immer dem Schönen und
Wahren in der Kunst nahekommen" (Robert Schumann, Ehetagebücher, 8.-15.11.1840,
Autograph)
102
Vor welchem Hintergrund müssen diese beschämenden, unverhohlen die antisemitische
Vorurteile dieser Zeit reflektierenden Äusserungen rezipiert werden? Obgleich man
Robert Schumann als Herausgeber der NZfM stets einen latenten, auf Besprechungen
des Meyerbeerschen Opernschaffens abzielenden Verbalantisemitismus nachsagt,
lagen ihm radikalantisemitische Positionen - jenen der Jungdeutschen Bewegung
vergleichbar - denkbar fern. Über jeden Zweifel erhaben waren die privat und beruflich
gepflegten Beziehungen der Familie Schumann zu dem Komponisten, Musiker und
Musikfunktionär Felix Mendelssohn, wie die in den Jahren 1835 - 47 im Tonfall einer
nachgeradezu hymnischen Verehrung niedergeschriebenen Gedenknotizen Schumanns
eindeutig belegen. (Vergl. dazu Arnd Richter, Mendelssohn - Leben, Werke,
Dokumente, Piper - Schott 1994, s. 313-17) Die Behauptung, er, Robert Schumann,
habe als Autor und Herausgeber der NZfM massgeblich zur Protektion des
Komponisten Mendelssohn beigetragen, kann als Zeichen der Selbstüberschätzung und
puren Wunschdenkens genommen werden, da Mendelssohn seit den Zeiten
wiedergewonnener Matthäus-Passion und Düsseldorfer Generalmusikdirektorats als
Komponist und Dirigent derer nicht mehr bedurfte.
Nun, die Äusserungen resultieren aus einer Situation vermeintlicher Zurücksetzung,
welcher sich Schumann als mindererfolgreicher Komponist in den Jahren 1840ff
ausgesetzt sah. Voller Eifersucht sah er, dass die den Schumanns gewidmete
öffentliche Aufmerksamkeit fast ausschliesslich seiner Frau, der gefeierten Pianistin
Clara Schumann galten, während seine Kompositionen vor allem im kleinen Kreise von
Kennern und Liebhabern rezipiert wurden. Somit sind unausgesetzte Versuche
wissentlich oder unwillkürlich begangener Herabminderung der Interpretin Clara
Schumann nachweisbar. Schumann widersetzte sich hartnäckig allen Bestrebungen
Claras, überregionale oder europäische Konzerteinladungen anzunehmen, stellte das
Metier des Komponierens dem des Konzertierens als erhaben gegenüber, mäkelte
fortwährend an ihrer Spielweise und Interpretation herum. Legendär die Befürchtung
des Komponisten, ob ihr Hausstand denn die Bereitstellung und professionelle
Betätigung zweier Flügel zu kompensieren in der Lafge sei.
Clara Schumann indes war durch all diese innerfamilliär verübten Widrigkeiten Mobbing würde es im Sprachgebrauch unserer Tage heissen - zutiefst verunsichert
worden und nahm vom Gedanken öffentlichen Konzertierens mehr und mehr Abstand.
Allein in der Person und Begegnung Mendelssohns fand sie Hilfestellung in dieser
ausweglosen Lage. Jener bestärkte sie in der Position einer musikalisch autonom
rezipierenden und handelnden Interpretin, leitete sie freundschaftlich auf ihrem Wege
zurück auf das lange gemiedene Podium des Gewandhauses und überwand durch
persönliche Fürsprache stetig Schumanns Widerstände gegen das Projekt neuerlicher
Konzertreisen. Schumann sah durch das persönliche Verwenden Mendelssohns
offensichtlich das künstlerisch kurzzeitig in Händen gehaltene Heft sich neuerdings
entgleiten. Er reagierte sich quasi durch genannten, auf Mendelssohn als
Hauptschuldigem an Claras neugewonnenen musikalischen Mute, abzielenden Anwurf
schriftlich ab. In jenem Affekt, welcher für Schumanns labilen Gemütszustand vor allem
in späteren Jahren symptomatisch und berüchtigt war.
103
In jenem Affekt, welcher auch für zahlreiche massive Verbalinjurien Wagners und von
Bülows unmittelbar verantwortlich zeichnete. Während ersterer, durch Cosima Wagners
getreuliche Aufzeichnungen von "Tischgesprächen" in der Verkündigung von
Gewaltrhetorik seine Verewigung erfuhr, sah sich jener ja genötigt, im Alter manches zu
relativieren oder gar zu konterkarieren.
Ein neues Feld widerum eröffnen die im Jahre 1847 getätigten, abfälligen,
unerträglichen Bemerkungen Schumanns, welche man Mendelssohn offenkundig
zugetragen hatte und ihn zum endgültigen Bruch mit dem Kollegen veranlassten. In
einem Brief an den Dichter und Freund Karl Klingemann beklagte sich Mendelssohn,
Schumann "habe sich sehr zweideutig gegen ihn benommen und ihm eine recht
häßliche Geschichte eingerührt, die ihn in seinem Eintreten für Schumann sehr
abgekühlt habe. Mehr wissen wir nicht" (Dahms, S. 94) Ob Schumann sich neuerdings
im Affekt zu radikalantisemitisch munitionierten Schmähungen gegen den ungleich
erfolgreicheren Kollegen Mendelssohn hatte hinreissen lassen und in seinem Wirken
von diesem nicht hinreichend gewürdigt fand? Ob er sich vom beruflich überlasteten und
in den letzten Lebensmonaten kräftemässig rapide abbauenden Mendelssohn
persönlich hintangesetzt fühlte und im Kollegen- oder Freundeskreise darüber beklagte?
Ob er sich der musikalischen Öffentlichkeit gegenüber missbilligend über ein Werk aus
der letzten Schaffensperiode Mendelssohn´s geäussert hatte? Was immer es konkret
gewesen sein mag, es wäre eine eigene Untersuchung wert.
26. Denkmalspflege; nationalsozialistisch
Ein in der Anonymität verbliebener Zeitzeuge gab im Nachhinein zu Protokoll, was
Leipziger Bürger explizit von einem Vorfall wahrnahmen, dessen Inszenierung sich
„insgeheim“ abspielte, dessen Wirkung aber offenkundig wurde. Wann, in welchem
Zusammenhang, auf welcher Behörde der Bericht gegeben wurde, ist nicht angegeben.
Das Leipziger Stadtarchiv hat ihn in der Sammlung StV u R, Nr. 8617, Bl. 12 der
Nachwelt überliefert.
„Am Morgen des 10. November raunte es in Leipzig einer dem anderen zu, die
Mendelssohn-Statue sein in der Nacht von ihrem Sockel gerissen und die allegorischen
Figuren losgewuchtet worden; der Granitsockel sei in Stücke zertrümmert. Die ganze
Nacht hätten die Presslufthämmer gerattert und gedröhnt, um den massiven Sockel
samt seinem Unterbau zu zerstückeln und die Stätte dem Erdboden gleichmachen zu
können. Man habe die Absicht gehabt, die Stelle als Blumenbeet anzulegen und Gras
über den Standort wachsen zu lassen, um jede Spur zu tilgen. Das Fundament habe
sich aber bis zur Morgendämmerung nicht mehr herausstemmen lassen, so daß man
sich begnügen musste, die Stelle mit Kleinsteinpflaster zu befestigen, das allerdings den
Standort nicht verheimlichen konnte."
Erste Stimmen seitens der NS-Administration, welche die Beseitigung des
Mendelssohn-Denkmals vor dem alten Gewandhause einforderten, erhoben sich im
Frühjahr 1936, also genau 3 Jahre nach der Machtergreifung.
104
So schrieb die Kreisleitung der NSDAP Leipzig in Person des Beauftragten Leiters des
Kulturamtes Eckert an den Oberbürgermeister der Stadt Leipzig, Dr. Carl Friedrich
Goerdeler z. H. des Leiters des Kulturamtes, Stadtrat August Hauptmann am 8. Mai d.
J. 1936:
"Aufgrund verschiedener Beschwerden bei uns fühle ich mich verpflichtet; sie darauf
hinzuweisen, dass das vor dem Gewandhaus aufgestellte Denkmal des Vollblutjuden
Mendelssohn-Bartoldie öffentliches Ärgernis erregt. Die Leipziger Bevölkerung, die zum
weitaus grösstenteil gut nationalsozialistisch denkt, ist der Auffassung, dass dieser Jude
in 2Erz" besser in einem Museum aufzubewahren wäre: Ich bitte Sie als Beauftragten
Leiter des Kulturamtes beim Rat der Stadt Leipzig zu erwirken, dass dieses Denkmal
entfernt wird..."
Dies war der Auftakt einer Kampagne seitens Leipziger NS-Gremien, welche die
endgültige und kompromisslose Beseitigung des "Juden" Felix Mendelssohn aus dem
Stadtbild zum Ziele hatte. Einmal mehr zeigt sich, wie sehr sich das Regime in allen
Lebensbereichen in diesen 3 Jahren bereits verfestigt hatte. Die Forderung nach
publicityträchtiger Entfernung eines Monumentes wie des Leipziger MendelssohnDenkmals wagte das Regime zu Anfang nicht. Es beschränkte sich im Jahre 33ff vorerst
auf die Beseitigung der regimefeindlichsten Ehrentafeln, Strassennamen etc.
Noch hatte man beispielsweise auf die Reaktionen des Auslandes Rücksicht zu
nehmen. Nun, nach stetiger Verfestigung der Machtvollkommenheit der NSAdministration, kündigte sich mit der Forderung nach Beseitigung des MendelssohnMonumentes aber eine zweite radikalisierte Welle der Denkmalszerstörung an. Diese
brachte deutschlandweit die Zerstörung öffentlicher Mahnmale und Gedenkstätten an
Juden und Regimegegnern mit sich. Die Forderung nach Beseitigung des MendelssohnMonumentes erhob und vollzog sich zeitlich analog der zunehmenden Verdrängung des
Mendelssohn-Werkes von Konzertpodien und aus den Hochschulen.
3 Wochen nach dem erwähntem ersten Schreiben an Stadtrat August Hauptmann
verlangte der Kulturbeauftragter der Kreisleitung der NSDAP Eckert in einem weitern
Schreiben verschärften Nachdrucks, unter Ankündigung des Hinzuzugs weiterer NSStellen in Sachen Forderung nach Denkmalsentfernung. So schreibt er am 27. Mai 1936
also:
"Bei dieser Gelegenheit teile ich Ihnen mit, dass ich mich des Weitern mit dem KreisPropagandaleiter Pg. Krüger in Verbindung gesetzt habe, damit auch von dieser Seite
das Notwendige veranlasst werden kann."
Die Stadt Leipzig in der Person des Stadtrates August Hauptmanns kündigte daraufhin
"eine sehr genaue Prüfung der Angelegenheit" an.
In einer Sitzung des Stadtrates vom 19. Juni wurde schliesslich der Vorschlag
unterbreitet, das Mendelssohn-Denkmal abzutragen und an dessen Stelle die Statue
eines anderen "bedeutenden deutschen Musikers" (Sitzungsprotokoll) zu errichten. Das
Sitzungsprotokoll führt des weiteren an:
105
"Oberbürgermeister Dr. Goerdeler erklärt diesen Vorschlag für prüfbar. Man werde im
Herbst in die Prüfung eintreten. Dann müsse aber auch das Mendelssohn-Denkmal auf
anständige Weise beseitigt und anständig untergebracht werden."
Dr. Goerdeler erwies sich als erklärter Gegner einer Kulturschändung durch Abriss des
Mendelssohn-Denkmals.
Durch
die
Ankündigung
eines
längerwierigen
Prüfungsverfahrens seitens der Stadt Leipzig vermochte er es somit, etwas Zeit
gegenüber den lokalen NS-Einrichtungen zu gewinnen. Zeit welche er benötigte, um
Verbündete auf höherer Parteiebene in Berlin in Sachen Erhalt des MendelssohnDenkmals zu gewinnen. Der NS-Beauftragte für jüdische Kulturfragen, Hinckel, sprang
Goerdeler schliesslich bei und teilte ihm mit: "er könne auch im Namen von Goebbels
und damit im Namen Hitlers sagen, dass das Denkmal stehen bleiben solle. Solche
Bilderstürmerei würde nicht gewünscht." (Aufzeichnung Goerdeler a. d. Nachlass)
Daraufhin erklärte Dr. Goerdeler im Namen der Stadt den Erhalt des Denkmals, sehr
zum Ärger des nationalsozialistischen 2. Bürgermeisters Rudolf Haake; des
entschiedensten Goerdeler-Gegners und erklärten Mentors eines Denkmalabrisses.
Am 16. September d. J. 1936 erschien in der Leipziger Tageszeitung ein Pamphlet,
welches sich unter dem Titel "Um jüdische Musik und das Denkmal eines Juden"
öffentlich für die Beseitigung des Denkmals einsetzte. es heisst darin u. a.:
"Bei uns aber, in der Öffentlichkeit, ist die Existenz des Denkmals eines Juden auf die
Dauer eine Unmöglichkeit. Dem dürfen weder Gründe der Pietät, noch rein
künstlerische Erwägungen entgegenstehen. Solche Pietät und solche Erwägungen
gehören nicht mehr in unsere Zeit, die in ihren Entscheidungen ausschliesslich den
Stimmen des Blutes und des völkischen Gewissens zu folgen hat".
Der Chefredakteur der Leipziger Tageszeitung rechtfertigte die Veröffentlichung des
Pamphlets in einem Schreiben vom 16. September 1936 an Dr. Goerdeler
folgendermassen:
"Ich habe die Glosse erst nach langen und ernsten Überlegungen in die Zeitung
gebracht. Ich glaubte aber um die öffentliche Diskussion dieser Frage nicht mehr
herumzukommen, nachdem ich (...) schon seit langem aus Kreisen der
Altparteigenossenschaft mit mehreren Zuschriften bedacht worden war. Nachdem mir
jetzt gedroht wurde, die Angelegenheit dem "Stürmer" zu übergeben, der eine recht
sensationelle Sache daraus gemacht hätte, zog ich es doch vor, die Sache in der
Tageszeitung zu behandeln. Die Dinge liegen nicht einfach so, dass der einfache Mann
es nicht begreift, wenn ihm immer wieder gesagt wird, es bestehe kein Unterschied
zwischen guten und schlechten, wertvollen und minderwertigen Juden und er auf der
anderen Seite sehen muss, dass ein Denkmal stehenbleibt mit der Begründung: Die
Musik dieses Juden sei eine wertvolle.
Wir müssen in diesen Dingen gerade im Hinblick auf den kleinen Mann konsequent
sein. Ich glaube, dass die vorgeschlagene Lösung, das Denkmal dem jüdischen
Kulturbund zur Verfügung zu stellen, auch dem Ausland gegenüber den Vorwurf
etwaiger Bilderstürmerei abmildern wird."
106
Haake machte sich den öffentlichen Druck, den die Behandlung der Forderung nach
Beseitigung des Mendelssohn-Denkmals in der Leipziger Presse nach sich zog,
zunutze. Er insistierte bei Goerdeler erneut auf eine Vernichtung desselben. So schrieb
er an Dr. Goerdeler im Jahre 1936 im Rückblick auf die Ereignisse:
"Ich sah in dieser Anfrage nur ein Abschieben der Verantwortung auf die
Reichsregierung, weil Sie selbst aus ihrer inneren Einstellung zur Judenfrage heraus
diese Verantwortung nicht glaubten tragen zu können."
Haake entschloß sich, nach dem letzten ablehnenden Entscheid Goerdelers zum
Thema der Denkmalsbeseitigung, zu eigenmächtigen Handeln bei der nächsten sich
bietenden Gelegenheit. Er schrieb wiederum im Rückblick auf die Ereignisse: "...war ich
fest entschlossen, bei der nächsten geeigneten Gelegenheit (...) zu handeln und die
Verantwortung zu übernehmen. Mein Gewissen als Nationalsozialist liess in dieser
Frage keinen Kompromiss mehr zu."
Im November 1936 weilte das London Philharmonic Orchestra unter der Leitung des
berühmten englischen Dirigenten Dirigent Sir Thomas Beecham einige Tage in Leipzig,
um im dortigen Gewandhaus zu konzertieren. Neuere Musikpublizisten wie Norman
Lebrecht sagen Beecham eine gewisse ideologische Affinität zur NS-Ideologie nach, so
dürfte er wohl der einzige Dirigent internationalen Ranges gewesen sein, der mit dem
NS-Musikbetrieb im Rahmen aufwendiger Operngesamtaufnahmen wie jener
reichsdeutschen "Zauberflöten"-Produktion kooperierte. Möglicherweise gab also diese
ideologische Verbundenheit des Künstlers zu Positionen des Regimes beiderseits den
Ausschlag zur Realisierung des zu diesem Zeitpunkt bereits ausserordentlichen
Gastspielvorhabens eines englischen Klangkörpers auf faschistischen Territorium.
Strittig scheint zu sein, an welchem Tag das Orchester im Gewandhaus vor das
Leipziger Publikum trat, da diesbezüglich von einander abweichende Aussagen
vorliegen. Entscheidend hingegen ist, daß es im Zuge des Leipzigbesuches des
Orchesters zum Abruch des Mendelssohn-Denkmals durch die NS-Administration kam.
Der Zeitzeuge Kurt Sabatzky schilderte die Umstände des Besuches und der
Denkmalsvernichtung später folgendermassen:
"Etwa 2-3 Jahre vor dem Krieg unternahm das Londoner Philharmonische Orchester
unter Leitung von Sir Thomas Beecham eine Kontinental-Konzertreise, die es auch nach
Leipzig führte. Sir Thomas fragte vorher bei Goerdeler an, ob es wohl erwünscht sei,
wenn er mit einer Abordnung seines Orchesters am Mendelssohn-Denkmal eines Kranz
niederlege. Im Hinblick darauf, daß Mendelssohn eine besondere Brücke im Musikleben
von Leipzig nach London geschlagen habe.
Goerdeler erklärte darauf, daß er eine solche Ehrung begrüssen würde.
Unglücklicherweise befand sich Goerdeler zur Zeit des Konzertes, daß einen grossen
Erfolg für die Londoner Philharmoniker darstellte, gerade auf Urlaub." (Meine
Erinnerungen an die Nationalsozialisten, Manuskript Nr. 3015 im Archiv von The Wiener
Library, London)
107
Als Beecham, Sabatzky zufolge, am darauffolgenden Morgen also von Mitgliedern des
Orchesters begleitet, vor dem Mendelssohn-Denkmal einen Kranz niederlegen wollte,
musste er feststellen, daß es verschwunden, genauer, auf Befehl Rudolf Haakes in der
Nacht abgetragen und im Keller eines öffentlichen Gebäudes zerschlagen worden war.
Haake hatte somit , gemeinsam mi dem Ratsherrenältesten Otto Wolf die Gunst der
Stunde, die Abwesenheit Dr. Goerdelers genutzt und nächtlings zugeschlagen.
Hinsichtlich der Abwesenheit Dr. Goerdelers, welche das Denkmals Attentat, verübt
durch subalterne Magistratsmitglieder ja erst ermöglichte, irrt Sabatzky allerdings in der
Begründung derselben: Dr. Goerdeler befand sich zu diesem Zeitpunkt keineswegs im
Urlaub; vielmehr kam er durch eine Reise nach Skandinavien diplomatischen
Verpflichtungen nach.
Schwerlich erstaunlich, daß eine Berichterstattung des Vorfalls in der damaligen
Presselandschaft nahezu ausblieb; das Ausland, genauer: das "Allgemeen
Handelsblad" in Amsterdam führte es in einer Meldung vom 18.11.1936 u. a. auf eine
Anweisung Dr. Goerdelers an die Leipziger Lokalpresse zurück, den Vorfall in der
Berichterstattung zurückzuhalten.
Die Position Dr. Goerdelers war, angesichts offener Insubordination untergeordneter
Magistrats
und
Parteigremien,
welche
ideologische
Belange
über
die
Richtlinienkompetenz des Stadtoberhauptes erhoben, somit nahezu unhaltbar
geworden. Nirgends fand er Rückhalt bei den Forderungen, die eigenmächtige
Untergrabung der Richtlinienkompetenz des Oberbürgermeisters durch untergeordnete
oder externe Gremien zu ahnden und das Mendelssohn-Denkmal auf Kosten der Partei
wiederherstellen zu lassen. Etwa 14 Tage nach Abbruch des Denkmals reichte Dr.
Goerdeler seinen Rücktritt vom Amte des Oberbürgermeisters der Stadt Leipzig ein. Er
begründete diesen Schritt mit der mangelnden Entschlossenheit des Magistrats und
übergeordneter Behörden wie des sächsischen Innenministeriums "den offenbaren
Ungehorsam meines Vertreters so zu ahnden, wie ich es verlangen musste, wenn
meine Autorität gewahrt werden sollte. Also hatte ich Folgerungen für meine Person zu
ziehen. Sie konnten nur in dem Antrag bestehen., mich aus meinem Amte zu
entlassen."
Im Jahre 1944 fasste Dr. Carl Friedrich Goerdeler in einer Niederschrift im Gefängnis
den Rücktrittsentschluss rückblickend noch einmal folgendermassen zusammen:
"Damals führte ich den klaren Entschluss aus, nicht die Verantwortung für eine
Kulturschandtat zu übernehmen. Mendelssohns Lieder haben wir alle mit Entzücken
gehört und zum Teil gesungen, ihn zu verleugnen wäre feige und lächerlich gewesen.
Aber ich hoffte im Stillen, eines Tages wieder in reiner Luft dem Vaterlande dienen zu
können. Auch dafür und für die Stellung des deutschen Volkes im Ausland wollte ich
meinen guten Namen wahren. Vor aller Welt hatte ich mit meinem Abschied gegen den
Sturz des Mendelssohn-Denkmals protestiert und so wurde dies auch überall
aufgefasst."
Dr., Carl Friedrich Goerdeler fiel 9 Jahre darauf als führender Widerständler den
Hinrichtungen, die dem 20. Juli 1944 folgten, zum Opfer.
108
Der Dirigent Fritz Busch, der sich als Generalmusikdirektor des Dresdner Staatstheaters
der geforderten Entlassung jüdischer Künstler verweigerte und 1935 emigrierte,
kommentiert diesen Vorgang in seinen Lebenserinnerungen mit wenigen eindringlichen
Worten:
”In Vertretung Arthur Nikischs habe ich wiederholt im Gewandhaus dirigiert, an jener
klassischen Stätte edelster Musikpflege, auf die Deutschland stolz sein durfte, bis man
Felix Mendelssohns Denkmal und den Geist deutscher Kultur von dort entfernte”.
27. Ein nordischer Sommernachtstraum
Partiell erwies sich die befohlene Verneinung der Werke Mendelssohns als
unrealistisch, gemessen an den Bedürfnissen alltäglichen kulturellen Lebens: Wie wären
die zahlreichen Gesangsvereinigungen des Landes der Pflege längst ins
Allgemeinmusikgut eingegangener Chorsätze zu entheben gewesen? Nachhaltig aus
dem Geiste der hohen Romantik hervorgegangene Kanzonen, welche in formeller
Schlichtheit Eichendorff - Zeilen wie: ”O Täler weit, o Höhen, o schöner grüner Wald,
du meiner Lust und Wehen andächtger Aufenthalt...” in vollkommener Übereinstimmung
von Wort und Musik interpretierten. Verboten als Entwürfe eines “vorderasiatischorientalischen Juden" (Eichenauer, Musik und Rasse, München 1937), wie die völkische
Rassenlehre Felix Mendelssohn einstufte.“ ?
Der Nationalsozialismus fügte sich der Verbundenheit der Liedertafel zu Mendelssohns
Chorwerk schliesslich und wies an: daß man den Vortrag dieser Sachen weiterhin
gestatte, allerdings hätten die Chöre zu verschweigen, wer sie komponiert hatte.
Das Theater sah sich durch das Verbot der romantischen Bühnenmusik zu
Shakespeares Komödie "Ein Sommernachtstraum" erheblichen Problemen ausgesetzt.
Da jene im Bewusstsein des Publikums mit der Dichtung kongenial einherging und der
Rückzug der Musik die Aufführungszahlen des Shakespeare-Stücks zeitweise deutlich
minimierte. So vermelden die Shakespeare-Jahrbücher des Jahrgangs 1933 nur noch
11, des Jahres 1934 20, des Jahres 1935 wiederum 11, des Jahrgangs 1936 13, des
Jahrgangs 1937 12, des Jahrgangs 1938 17, des Jahrgangs 1939 17 und des
Jahrgangs 1940 bereits 20 "Sommernachtstraum"-Produktionen an deutschen Theatern.
Auffällig ist die gegen Ende der dreissiger Jahre leicht ansteigende Anzahl von
Produktionen. Dies muss unmittelbar mit den nachfolgend detaillierter beschriebenen
Versuchen
um
Ersatzlösungen
für
Mendelssohns
verfemte
Komposition
zusammenhängen. In den ersten Jahren des Regimes behalfen sich die Theater,
welche den Rückgriff auf Mendelssohns Schauspielmusik nicht mehr wagten, oftmals
mit diversen Kompilationsmusiken, welche aus Barockmusikvorlagen oder romantischer
Klaviermusik zusammengestellt wurden.
Zwar hatte es bereits in den zwanziger Jahren einige, rein künstlerisch motivierte
Versuche gegeben, das Shakespeare Stück in einem anderen musikdramaturgischen
Kontext als jenem Mendelssohns zu setzen.
109
Schauspielmusikkompositionen von August Halm und Alexander Laszlo, von dem
Dirigenten und Komponisten Bernhard Paumgartner im Jahre 1924 für Wien, von
Christian Lahusen im Jahre 1925 für Otto Falckenberg in München, und von Ernst
Krenek für den Dichter und Intendanten Hugo Hartung und die Heidelberger Festspiele
des Jahres 1926 erarbeitet, sind überliefert. Aber diese Kompositionen müssen den
diversen Kulturfunktionären des NS-Regime entweder stilistisch oder hinsichtlich Person
und Abkunft der Komponisten missfallen haben. Oder wurden seinerzeit über ihren
lokalen Wirkungsbereich hinaus schlichtweg nicht wahrgenommen. Jedenfalls ist von
einem Rückgriff auf diese Musiken anlässlich von "Sommernachtstraum"-Aufführungen
des "III.-Reiches" nichts bekannt.
Bereits im Jahre 1934 wurden indeß erste Versuche unternommen, die verfemte
Mendelssohn-Schauspielmusik durch Neukonzeptionen und Surrogate zu ersetzen.
Kam anlässlich der "Sommernachtstraum"-Vorstellung der Naturbühne Märkisches
Museum vom 12. Juli 1934 die Begleitmusik noch von der Grammophonplatte - Titel und
Stil derselben wurden nicht überliefert - ; so wurde am 20. Juli 1934 bei den
Heidelberger Festspielen ein erster Rückgriff auf Barockmusik von Henry Purcell
vorgenommen. Friedrich Baser forderte in einem Kommentar in der Zeitschrift "Signale
für die musikalische Welt" vom 5. September 1934 denn auch behende die zeitgerechte
Kreation
eines
"nordischen"
Shakespeare-Stiles
gegen
die
südöstliche"
("vorderasiatisch-orientalische"?!) Dominanz einer "semitischen" Felix MendelssohnÄsthetik aus der Romantik ein:
"Hier fiel der Musik die bedeutsamste Aufgabe zu, und schon die Wahl des
Komponisten musste nach neuen Gesichtspunkten vorgenommen werden. Galt es
doch, statt der sinnlich-prächtigen Musik südöstlicher Farbe, wie sie durch
Mendelssohns Komposition ein Jahrhundert lang restlos das Feld beherrscht hatte,
einen nordischen "Sommernachtstraum" erstehen zu lassen".
Ein fortwährender, auch über das Jahr 1934 hinaus bestehender, Rückgriff auf
Kompilationen wurde dauerhaft als unbefriedigend empfunden. Somit suchten NSOrganisationen wie das "Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda" in Person
des Ministers Dr. Joseph Goebbels und der "Volkskulturbund Kraft durch Freude" in
Person des Reichsorganisationsleiters Dr., Robert Ley Komponisten ersten und zweiten
Ranges zur einer definitiven Neukomposition des "Sommernachtstraums" anzuregen.
Der Komponist Edmund Nick war der erste, der im Zuge der eingeforderten
Neukomposition in arischem Auftrage Hand an das "Sommernachtstraum"-Sujet legte.
Nick verdingte sich dem Regime auch als "Bearbeiter"
"rassisch" verfemter
Musikvorlagen; umgewandelt in "arisch" unbedenkliche Fassungen im Auftrage der
Reichsstelle für Musikbearbeitungen und ihres Leiters GMD Dr. Heinz . Da er, wie er im
Jahre 1964 in einem Brief an Fred Prieberg schilderte, im Zuge dessen offenkundig "die
Mendelssohn Musik sowie das "Elfenlied" von Hugo Wolf studiert hatte" konnte sein
Werk nur wenig befriedigen. Zahlreiche Theaterkritiker waren sich noch des
Mendelssohn´schen Originals bewusst. Der Rezensent Fritz Stege gab in der Zeitschrift
Berliner Musik in der Oktoberausgabe des Jahres 1934, nach der Premiere von Nicks
Komposition, welche am 15. September des Jahres 1934 im Grossen Schauspielhaus in
Berlin über die Bühne ging, denn auch zu bedenken:
110
"Man mag gegen Mendelssohn auch berechtigte Bedenken vorzubringen haben, so
lässt sich nicht leugnen, dass Mendelssohn den Zauber des Waldes in einer Weise
eingefangen hat, die im Stimmungsinhalt einmalig bleibt. Von Mendelssohn hätte Nick
lernen können, wie man dem Wesen der dramatischen Vorlage gerecht zu werden
vermag, ohne sich auf die Abwege musikalischer Geistreicheleien oder trivialer
Salonmusik zu begeben. Ich möchte es dahingestellt lassen, wen von beiden der
Vorwurf der Sentimentalität mit grösserer Berechtigung trifft.
Wobei ausserdem noch festzustellen bleibt, dass Mendelssohns sogenannte
"Sentimentalität" gar nicht in seinem Wesen, sondern nur in der Fälschung des
Aufführungsstils nachzuweisen ist. Nein: zum Sommernachtstraum gehört nun einmal
Mendelssohns Musik. Es gereicht keinem Bearbeiter zur Ehre, diese künstlerische
Meisterwerk anzutasten."
Bemerkenswert an Steges Ausführungen ist nicht allein ein gewisser publizistischer Mut
- wie eingangs dargelegt, war es angesichts indifferenter Richtlinienerfahrungen
zahlreicher Musiker und Publizisten in den ersten Jahren des Regimes allerdings noch
gefahrloser, für Mendelssohn einzutreten als in späterer Zeit. Mehr noch dessen klarer
Hinblick auf die Verfälschung von Mendelssohns Werk durch eine, dem Musizieren in
breitem spätromantischen Stil verhafteten Idiom - ein Umstand, auf den allein Karl-Heinz
Köhler in späteren Jahren umfassend verwies.
Stege, ein erklärter Nationalsozialist, Verfechter der Rassenlehre, Parteimitglied und
KfdK-Genosse, versuchte später, nach Kriegsende, in BRD-Zeiten, sein Plädoyer für
Mendelssohns "Sommernachtstraum"-Musik, also eine vergleichsweise harmlose
publizistische Aktion in Zeiten nationalsozialistischer Kompetenzwirren, als exorbitante
Heldentat zu deklarieren. So schrieb er am 7. Juni 1966 an Fred Prieberg:
"Vergessen ist, daß ich mehrfach Kopf und Kragen riskiert und mit einem Fuß im KZ
gestanden habe, als ich den Mut aufbrachte, 1934 öffentlich für Mendelssohn
einzutreten
(,..)
.gegen
den
gesamten
Völkischen
Beobachter
ein
Ehrengerichtsverfahren einzuleiten usw. Und niemand wird je eine Ehrenrettung für
mich wagen:"
Immerhin wurde Fritz Stege in seinem Eintreten für Mendelssohn´s Musik, gegen Nicks
Surrogatkomposition des "Sommernachtstraum"-Sujets, von Rezensenten wie Karl
Heinz Ruppel unterstützt. Jener schrieb in seinem Artikel "Sommernachtstraum im
Herbst" im Hamburger Fremdenblatt vom 19. September 1934 u. a.:
"Die
kongeniale
Inspiriertheit
der
von
Goethe
so
hochgeschätzten
"Sommernachtstraum"-Musik des jungen Mendelssohn vermag Nick nicht zu ersetzen."
Ende September 1934 erfuhr der "Sommernachtstraum" Premiere im Stadttheater
Hagen, mit einem vom Solokorrepetitor Kurt Nichterlein vorgelegten Carl-Maria von
Weber-Arrangment.
111
Bemerkenswert dabei der erneute Versuch, stilistisch und dramaturgisch in der von
Mendelssohn mustergültig definierten Aura romantischen Waldeszaubers zu verbleiben,
ohne Mendelssohn spielen zu müssen.
Im Herbst des Jahres 1934 eröffnete der Leiter der Musikabteilung der NSKulturgemeinde (NSKG) und Reichsschriftleiter Friedrich W. Herzog eine erneute
Initiative seitens der NS-Machthaber, renommiertere Komponisten zur arisch-definitiven
Neukomposition des Sujets zu bewegen. Das Ersuchen erging somit unter anderem an
die Komponisten Werner Egk, Gottfried Müller, Hans Pfitzner, Rudolf WagnerRegégeny, Julius Weismann und Winfried Zillig.
Herzog sekundierte dem Ansinnen, eine Musik zu initiieren, welche Mendelssohns
Schauspielmusik endgültig verdrängen und ersetzen sollte, publizistisch in dem Aufsatz
"Eine neue Musik zum "Sommernachtstraum" vom 2. November 1934. Dabei offenbart
er unmittelbar den Zwiespalt eines völkisch bewegten traditionsbewussten deutschen
Bildungsbürgers. Jener trug die Konventionen des deutschen Theaters und Musiklebens
und somit auch die Beziehung zum überkommenen verehrten Shakespeareoeuvre "des
Juden" Felix Mendelssohn tief in sich und konnte, aller Versuche nationalsozialistischer
Autosuggestionen zum Trotze, schwerlich gänzlich vom tradierten musikalischen Vorbild
loskommen:
"Wenn die NS-Kulturgemeinde (...) als ersten Kompositionsauftrag eine neue Musik zu
Shakepeares "Sommernachtstraum" bestellt, so will sie damit gleichzeitig einen durch
die nationalsozialistische Revolution herbeigeführten "Notstand" beseitigen. Denn die
Musik Mendelssohns ist im Dritten Reich mit den unumstösslich und kompromißlos
gültigen Gesetzen von Primat der Rasse und des Blutes nicht mehr zu verantworten.
Diese Musik ist genialisch, aber unbeschadet ihrer musikalischen Werte ist sie für eine
völkische Kulturbewegung untragbar."
Hans Pfitzner wies es vermittels knapper Mitteilung auf einer Postkarte zurück: "Es gibt
bereits eine hervorragende Musik zum "Sommernachtstraum!" und gab in späteren
Jahren seinem Biographen Ludwig Schrott zu Protokoll:
"Denken Sie, man ist an mich herangetreten und wollte, daß ich den
"Sommernachtstraum" neu komponieren solle, weil die jüdische Mendelssohn-Musik
nicht mehr tragbar sei. So etwas ist doch eine Gemeinheit! Ich habe diesen Burschen
aber heimgeleuchtet. Mendelssohns "Sommernachtstraum" habe ich erklärt, ist
schlechthin kongenial, eine Leistung, die der Schlegel-Tieckschen ShakespeareEindeutschung gleichkommt. Ich wäre nie in der Lage, eine bessere Musik zum
"Sommernachtstraum" zu schreiben als Mendelssohn."
Gleichzeitig verwies Pfitzner auf den Umstand, allen späteren anderslautenden
rechtfertigenden Beteuerungen von "Sommernachtstraum"-Komponisten des III.
Reiches zum Trotze, dass man einen entsprechenden Kompositionsauftrag
Zurückweisen konnte, ohne Gefahr für Besitz, Leib und Leben zu laufen.
112
Werner Egk verwahrte sich somit des Kompositionsansinnens "mit einem gewissen
Vergnügen mit dem Hinweis auf" (seine) "Bewunderung der musikalischen
Ausdrucksfähigkeit des jungen Mendelssohn, (...) was um diese Zeit ohne schlimme
Folgen wohl möglich war."
(Brief an Fred Prieberg vom 6.7.1964)
Rudolf Wagner-Régenyi indes liess sich zur Komposition einer "Sommernachtstraum"Musik verleiten. Wagner-Régenyi wird als Komponist heute nurmehr marginal
wahrgenommenen , machte aber nach dem Kriege in der DDR eine gewisse Karriere;
beispielsweise als Professor für Komposition in Ostberlin.
Möglicherweise haben einige Vorleistungen des Regimes den Ausschlag zu dieser
Entscheidung gegeben.
So ist von Zusagen, die Rede, das Werk nach der Vollendung mit Garantiertheit im
NSKG-eigenen Musikverlag herauszubringen; des weiteren von der ersten
Veröffentlichung einer Wagner-Régenyi-Biographie mit dem Titel "Rudolf WagnerRégenyi. Bildnis eines Schaffenden", erschienen in der Musikalischen Schriftenreihe der
NS-Kulturgemeinde, mit welcher der Komponist geködert wurde. Auch war der Auftrag
mit einem Honorar von 2000 RM lukrativ dotiert.
Wagner-Regenyi versuchte nach 1945 die Willfährigkeit zu kaschieren, mit welcher er
mit dem Regime in der Person des musikalischen Leiters der NSKG, F. W. Herzog
kooperierte. So schrieb er u. a.:
Die "Sommernachtstraum"-Musik war ein (peinlicher) Auftrag (...) Zu Shakespeare ist
die Musik niemals gespielt worden." (Brief Wagner-Regenyis an Fred Prieberg vom
30.10.1963)
Wagner-Regenyis Bemühungen um eine definitive musikalische Neufassung des Sujets
parallel, erging ein entsprechender Auftrag auch an den Komponisten Julius Weismann.
Beide Kompositionen erfuhren ihre konzertante Uraufführung in der zweiten Hälfte des
Jahres 1935 anlässlich der Reichstagung der Nationalsozialistischen Kulturgemeinde
(NSKG) und ernteten nur verhaltene Zustimmung seitens des Theaterbetriebes und der
Presse. So schrieb der Rezensent W. Wesselhoeft in der Kölnischen Zeitung,
Abendblatt vom 7. Juni 1935 über Wagner-Regényis "Sommernachtstraum"-Opus:
"Seine Musik ist bewusst grob, holzschnittmässig, mit einfacher, dicker Linienführung
und stark rhythmisch betont. Die zarten Farben, das Mondlicht, die Poesie fehlen; (...)
So bleibt das Werk im wesentlichen trocken und ohne Reiz."
Wesselhoefft fordert somit entschieden eine Rückkehr des Theaters zur bewährtromantischen Aufführungstradition ein, freilich ohne den Namen Mendelssohn zu
erwähnen. Dies beweist einmal mehr, wie tief das Verständnis des
"Sommernachtstraum"-Stoffes in Deutschland von der musikalischen Auffassung Felix
Mendelssohns geprägt und verwurzelt war.
113
Ähnlich erging es der Komposition Weismanns: Anlässlich ihrer Bühnenpremiere im
Stadttheater Freiburg vom 20. Oktober 1935 schrieb der Rezensent A. Weber am 11.
März 1936 in erneutem Rückverweis auf das übermächtig im Bewusstsein der
damaligen Zeit verankerte Mendelssohn´sche Original:
"So hocherfreulich die Arbeit ist - und sie wird immer als wertvoller Beitrag zu diesem
Thema gewertet werden müssen -, so vermag sie doch nicht die Erinnerung an das
vollkommenere Vorbild zu verwischen."
Wagner-Regenyis "Sommernachtstraum"-Musik wurde am 1. Oktober 1935 im Theater
Harburg-Wilhelmsburg erstmalig im Zusammenhang mit einer Bühnenproduktion des
Stücks aufgeführt und ab dem Jahre 1938 u. a. von den Theatern in Giessen, GothaSonderhausen und Oldenburg übernommen. Es stimmt einfach nicht, dass dieselbe "zu
Shakespeare niemals gespielt wurde"
Weismanns Komposition entwickelte sich Fred Prieberg zufolge nahezu zum
Erfolgsstück und wurde von zahlreichen Theatern - so dem Stadttheater Hanau, dem
Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin und der Freilichtbühne Birten bei Xanten nachgespielt.
Ungeachtet eines anfänglich verhalten vorgebrachten Presseechos frohlockte die NSKG
angesichts des erfolgreich vollbrachten "Neuanfangs" bühnenmusikalischer
"Sommernachtstraum"-Rezeption sowie des allgemeinen Durchbruchs, welche vor allem
die Weismann-Komposition noch in dem Jahre ihrer Uraufführung in die Theaterpraxis
erfuhr.
So schrieb Rudolf Sommer in dem Aufsatz "Aus der Musikarbeit der NS.Kulturgemeinde" im "Deutschen Musikjahrbuch" des Jahres 1937:
"Diese beiden Bühnenmusiken sind geeignet, den Juden Mendelssohn abzulösen."
F. W. Herzog versuchte nach Kräften, die von ihm in Auftrag gegebenen Kompositionen
Wagner-Regenyis und Weissmanns bei weiteren Bühnen unterzubringen, in der
Hoffnung diese könnten sich als allgemeingültig im Theatergebrauch etablieren. Da sich
zahlreiche Theater Herzogs Bemühungen entzogen und weiterhin auf Lösungen
setzten, welche auf Barockmusik, beispielsweise auf Werke Purcells zurückgriffen,
unterstellte er den Intendanten
in versteckter Anspielung die Sabotage
nationalsozialistischer Erneuerungsbestrebungen. Quasi den konspirativen Rückzug
auf das bewährt historische Terrain und dadurch möglicherweise die heimliche
Solidarisierung mit dem kulturellen Erbe eines Felix Mendelssohn.
So schrieb Herzog in "Die windgeschützte Ecke" vom 6. März 1937:
"Unser völkisches und sittliches Empfinden macht es uns...unmöglich, ein Werk wie
Shakespeares "Sommernachtstraum" mit jüdischer Begleitmusik zu ertragen. (...) Nun
gibt es aber zahlreiche Theaterleiter, die aus Gründen, denen nachzugehen zu weit
führen würde, die neue Musik von vornherein ablehnen und sich lieber in die
windgeschützte Ecke der Vergangenheit zurückziehen. Der alte Engländer Purcell wird
plötzlich aus dem Historienschrein hervorgeholt und hergerichtet."
114
Nach dem Kriege versuchte auch der ehemalige Reichsschriftleiter F.W.Herzog,
zahllosen Repräsentanten und Mitläufern des Regimes vergleichbar, sich vermittels mit
Behauptungen, Verdrehungen und Unterdrückung von Fakten der Verantwortung für
nationalsozialistisches Tun - in diesem Falle ein erklärtes Bemühen um Ausmerzung
des "Juden" Mendelssohn aus dem Kontext deutschen Kulturlebens - zu entziehen.
So konstatiert er im Rückblick auf die an Rudolf Wagner-Régenyi und Julius Weissmann
ergangenen Kompositionsaufträge in einem Schreiben an Fred Prieberg vom 20.
Dezember 1964:
"Ich kannte beide Komponisten seit Jahren und wußte, daß sie gute Arbeit leisten
würden.
Nachdem Herzog einmal den Anstoss zur "arischen" Neuvertonung der ShakespeareKomödie gegeben hatte, drängten zahlreiche Theaterintendanten und Regisseure ihre
Hauskomponisten zu eigenen Neukompositionen. Das Phänomen gemahnt unmittelbar
an die Flut antisemitischer, mendelssohnverächtlicher Musikpublizistik, welche nach der
Initialzündung des Leipziger Denkmalabbruchs im November 1936 so übermässig
einsetzte.
So schrieben der Komponist Alfred Irmler eine Schauspielmusik für das Deutsche
Nationaltheater Weimar, die Uraufführung erfolgte am 24. November 1935.
Der Komponist rechtfertigte sich im Jahre 1964 in einem Schreiben an Fred Prieberg
vom 4. Mai:
"Ob diese Musik nun mit oder ohne Auftrag geschrieben wurde, ist unwesentlich (...) Der
"Sommernachtstraum" reizt immer wieder die Komponisten, dazu die Musik zu
schreiben. (...) Das hindert mich nicht, die Schönheit der Mendelssohnschen
"Sommernachtstraum " Musik voll und ganz anzuerkennen. Ich bin 1935 als Dirigent der
Meininger Kapelle noch für sie eingetreten, trotz des Widerstandes der Parteistellen."
Am 9. Oktober 1935 erfuhr am Landestheater Coburg eine "Sommernachtstraum"-Musik
die Premiere, welche Werner Creutzburg, seinerzeit als Kapellmeister und
Schauspielmusiker am Theater Trier tätig, geschrieben hatte.
Robert Tants, Direktor der Schauspielmusik am Münchner Residenztheater,
komponierte das Sujet für eine dortige Hausproduktion, die Premiere erfolgte am 7. Juli
1936.
Die Waldbühne Tannenkamp in Hannoversch-Gmünden bemühte Musiken für Streicher
von diversen nichtgenannten Komponisten des 16. Jahrhunderts und setzte
darüberhinaus Waldhornbläser ein. Die Premiere erfolgte am 13. August.
Hier nun eine Aufzählung weiterer Neukompositionen und deren Komponisten der Jahre
1936 ff; Aufzählung nach Fred Prieberg:
115
Festspiele der Naturbühne Luisenburg in Wunsiedel, Komponist Paul Oskar, Premiere
am 29. August; Schauspielhaus Hamburg, eine Reprise der Musik von Edmund Nick,
Premiere am 5. Dezember; Schauspielhaus Hannover; Komponist Siegbert Mees, die
Premiere erfolgte an Sylvester des Jahres 1936, die Produktion blieb über 2 Jahre Im
Spielplan; Schauspielhaus Düsseldorf, dort konfigurierte Heinz Vogt altenglische Musik,
die Premiere fand im Februar 1937 statt; Neues Theater Leipzig, dort bezog man sich
wiederum auf Purcells Musik zu "The Fairy Queen" und beauftrage den Musiker Hans
Stieber mit einer shakespearetauglichen Bearbeitung derselben; Premiere war am 26.
Februar 1937.
Zahlreiche Intendanten siedelten das Shakespeare-Stück in den Jahren 1934 - 37
dramaturgisch exemplarisch im Historizismus oder der Romantik an und verschlossen
sich neueren Sichtweisen hinsichtlich einer historisch wohl korrekteren,
volkstümlicheren Deutung gänzlich aus der Rüpel- und Zotensprache bzw. einer Ebene
unausgesetzter, derber sexueller Anspielungen des Shakespearischen Originals heraus.
Möglicherweise verbarg sich dahinter tatsächlich der Versuch von Theaterintendanten,
sich den Zumutungen unausgesetzter Eingriffe von Parteiorganen in die künstlerischen
Belange und somit der notwendigen künstlerischen Freiheit des Theater nahezu
konspirativ zu entziehen, wie F. W. Herzog es seinerzeit vermutete. Jener Rückzug in
eine von F. W. Herzog beargwöhnte "windgeschützte" Ecke also. Die Musik
Mendelssohns stand ihnen bei dem Bemühen, dem Stück die überlieferte romantische
Aura deutscher Aufführungstradition zu bewahren, allerdings nicht mehr zur Verfügung.
Das Ersuchen der Intendanten an Musiker des III. Reiches, ein quasi Mendelssohn´sche
Surrogat im romantischen Stil nachzuschaffen, verlief aber oftmals gegen Ethos
autonomen Komponierens jener Musikschaffenden. So blieb erneut nur wieder der
Ausweg der Bearbeitung von Vorlagen originärer, "rassisch unverdächtiger" Romantiker
wie jene Carl-Maria von Webers.
So erinnerte sich der später auch als Filmkomponist hervorgetretene Bernhard Eichhorn
im Jahre 1967 Fred Prieberg gegenüber eines seinerseits ergangenen
Kompositionsauftrages:
"Im Jahre 1937 wollte der damalige Intendant der sächsischen Landesbühne...auf der
Freilicht-Felsenbühne bei Rathen...den "Sommernachtstraum" aufführen. Da die
Mendelssohn´sche Musik im tausendjährigen Reich verboten war, bat er mich, eine
neue romantische Musik dazu zu schreiben. Gut - man kann durchaus eine neue Musik
schreiben, die modern ist und dem eigentlichen - englischen Charakter dieses Werkes
in seiner naturhaften - stellenweise bösen - Spukhaftigkeit dramaturgisch mehr
Rechnung trägt als eine romantische. Jedoch, man wollte durchaus eine "romantische".
Die Ehrfurcht vor der nun wirklich genialen Musik Mendelssohns verbot es mir, eine
eigene romantische Musik zu schreiben. Ich verfiel auf den Ausweg, aus (...)
Klavierkompositionen Carl Maria von Webers eine der Mendelssohnschen
einigermassen adäquate Musik zusammenzustellen, einzurichten und zu
instrumentieren."
Die Kompilationsmusik Eichhorns wurde in Rathen am 4. Juni 1937 uraufgeführt und
dort über mehrere Spielzeiten hinweg zu Shakespeares Komödie gegeben.
116
Im Jahre 1939 wurde sie vom Komponisten für das Schauspielhaus Dresden
umgearbeitet und erklang dort erstmalig am 16. Februar. Auch an anderen Bühnen wie
jenen in Heidelberg (Reichsfestspiele, Premiere 12. Juli 1939), in Hamburg (26. Oktober
1939) und Schneidemühl (8. November) sollte sich diese Version von
"Sommernachtstraum"-Musik im Original oder Neufassungen zum Einsatz kommen.
Eichhorn komponierte nach dem Krieg u. a. die Filmmusik zu Helmut Käutners
"Schinderhannes"-Melodram aus dem Jahre 1957.
Am 28. Dezember 1937 stellte das Kurmärkische Landestheater Luckenwalde eine
"Sommernachtstraum"-Musik des Berliner Kapellmeisters Theo Knobel vor. Im Mai 1938
wiederum wurde von den Städtischen Bühnen Königsberg eine Komposition des
dortigen Chordirektors Egon Bölsche vorgestellt, welche erneut versuchte, das Problem
vermittels ersatzweise erfolgenden Rückgriffs auf romantische Instrumentalmusik zu
bewältigen. Jener hatte offenkundig "den guten Einfall gehabt, aus wenig bekannten
Werken Carl Maria von Webers einen Kranz herrlicher Melodieblüten zu winden und die
unsterbliche Dichtung damit zu schmücken." Natürlich sei darin auch "die "blaue Blume"
der Romantik, hauptsächlich aus "Euryanthe" und "Oberon" bezogen" gewesen, wie der
Rezensent Hans Wyneken im Jahre 1938 "Aus den Königsberger Theatern" in der in
Berlin herausgegebenen Zeitschrift "Die Musikwoche" vom 11. Juni 1938 berichtete.
Das Theater Erfurt brachte im Jahres 1938 die "Sommernachtstraum"-Musik op. 14 von
Ernst Roter aus dem Jahre 1920 neu heraus und stellte sie anlässlich der Premiere vom
6. April in Anwesenheit des Komponisten dem Publikum vor. Auch das Staatstheater
Württemberg griff noch im gleichen Jahre auf diese Version zurück.
Im Jahre 1938 machte sich gar ein Engländer daran - der junge Komponist Walter
Leigh - das Sujet für die Belange des nationalsozialistischen Kulturbetriebs tauglich
musikalisch aufzubereiten. Leigh komponierte eine dem Schulorchester der auf Schloss
Bieberstein in der Rhön residierenden Hermann-Lietz-Schule gewidmete Suite in
Sinfonietta-Besetzung. Das Orchester wurde schliesslich sogar eingeladen, die Suite
Leighs im Ausland, genauer: in mittel- und südenglischen Internatsschulen aufzuführen.
Leigh fiel im Jahre 1942 in Nordafrika im Kampf gegen die Deutschen.
Damit wurde das Moment fortschreitender, zielstrebig vorgenommener MendelssohnEntwöhnung erstmalig in die so wesentliche Ebene der Jugendmusikpflege
hineingetragen. Dem Regime war es offenkundig nicht nur darum zu tun, den "Juden"
Mendelssohn aus der Erinnerung
älterer Generationen von Kulturfreunden zu
verdrängen; auch eine Begegnung der Jugend mit ihm und seinem Werk sollte also
kategorisch vermieden werden. Leigh, der seine musikalische Ausbildung in
Deutschland absolvierte und an der Berliner Musikhochschule bei dem später
gewaltsam entfernten und in die Emigration getrieben Paul Hindemith studierte, machte
sich dadurch faktisch zum Helfershelfer der kulturpolitischen und propagandistischen
Ziele des Regimes.
Gleichsam im Bereich der NS-Jugendmusikpflege, also im Bemühen um Unterbindung
jedweden Kontaktes der damaligen deutschen Jugend zum Werke des um die
Musikpädagogik dieses Landes so verdienten Felix Mendelssohn Bartholdy, tätig war
Hilmar Höckner.
117
Er trug als Musikpädagoge für die Pflege der Tonkunst an den Landschulheimen des
Kreises Fulda, darunter auch Schloss Bieberstein, Verantwortung und gab somit im
Jahre 1938 eine Suite von 10 Tanzsätzen heraus, welche er der "Fairy Queen"-Musik
Henry Purcells entnommen hatte. F. Mahling attestierte der Kompilation in "Völkische
Musikerziehung", Berlin, Leipzig vom 6. Juni 1938 dass sie, " zwar eine ganz andere
Haltung zeigt, als die im 19. Jahrhundert so beliebte Bühnenmusik Mendelssohns, es
aber gerade deshalb wohl verdient der Vergessenheit entrissen und wieder praktisch
verwendet zu werden."
Es mutet nachgerade als musikhistorische Ironie an, dass man sich im Vollzuge von
Bestimmungen der NS-Kulturpolitik darum bemühte; Komponisten und deren Musik der
Vergessenheit zu entreissen, um einen anderen Komponisten willentlich der
vollständigen Vergessenheit anheimgeben zu können.
Nun des weiteren eine Aufzählung von "Sommernachtstraum"-Bühnenproduktionen
sowie den dazugehörigen Schauspielmusikern aus dem Jahre 1938. Als Quelle dient
wieder Fred Prieberg.
Hannover, 1. Januar/ Siegbert Mees; Bonn, 4. Januar/ Robert Tants; Stendal, 9. Januar/
Heinz Joachim Fritzen; Erfurt, 6. April/ Ernst Roters; Königsberg, 14. Mai/ Kompilation
von Musik C. M. von Webers durch Egon Bölsche; Felsenbühne Rathen, 4. Juni/ die
Kompilation von Musik C. M. von Webers durch Bernhard Eichhorn; BerlinFriedrichshagen, 17. Juni/ Leo Spies; Hungerturm-Festspiele Priebus, 18. Juni/ Helmut
Bernert; Baden-Baden, 7. Juli/ Edmund Nick; Marburg, 13. Juli/ Kompilationsmusik aus
der Symphony Nr. 9 in e-moll "Aus der neuen Welt" Antonin Dvoraks und Edvard Griegs
Norwegischem Tanz (Eselstanz); Koblenz, 16. September/ Leo Spies; Allenstein, 17.
September/ Leo Spies; Giessen, 28. September/ Rudolf Wagner-Regényi; GothaSondershausen, 3. Oktober/ Rudolf Wagner-Regényi; Oldenburg, 21. Oktober/ Rudolf
Wagner Regényi; Stuttgart, 25. Dezember/ Ernst Roters; Deutsches Volkstheater Wien,
31. Dezember/ Ludwig Maurick.
Im Anschluss die Produktionsdaten der "Sommernachtstraum"-Inszenierungen des
Jahres 1939:
Prinzregenten-Theater München, 2. Januar/ Robert Tants; Linz, 14. Februar/ Robert
Tants; Dresden, 16. Februar/ C. M. von Weber-Kompilation durch Bernhard Eichhorn;
Essen, 28. Mai/ Winfried Zillig; Reichsfestspiele Heidelberg, 12. Juli/ Neufassung der C.
M. von Weber Kompilation von Bernhard Eichhorn; Elbing, 5. August/ kein Komponist,
Arrangeur genannt; Bremen; 6. September/ Theodor Holterdorf; Regensburg, 13.
September/ Paul-Oskar Nebelsiek; Burgtheater Wien, 20. September/ Franz Salmhofer;
Münster, 26. September/ Wolfgang Rößler; Frankfurt am Main, 14. Oktober/ Carl Orff;
Hamburg, 26. Oktober/ C.M.von Weber Kompilation von Bernhard Eichhorn;
Schneidemühl, 8. November/ C.M.von Weber Kompilation von Eichhorn; Göttingen, 7.
Dezember/ Carl Orff; Wesermünde, 25. September/ Theodor Holterdorf.
Von welcher Seite man es auch angehen mag; war es künstlerische Profilierungssucht
und Karrierismus, völkisch-rassistische Überzeugungstat, indifferentes Mitläufertum oder
schlichtweg politisch-ästhetische Unbedarftheit als Beweggrund?
118
Alle diese Komponisten, Arrangeure und Schauspielmusikdirektoren machten sich
schuldig. Schuldig des Tatbestandes, als willfährige Helfershelfer eines inhumanem,
mörderischen, rassistischen Regimes zur Hand gewesen zu sein, einem verbrieften
Kapitel deutscher Theatergeschichte, also deutscher Kulturgeschichte letztendlich den
Bezug auf, die Erinnerung an ein zentral bedeutsames Werk des Komponisten Felix
Mendelssohn Bartholdy auszutreiben. Eine Schuld, welcher man sich, wie in so vielen
Bereichen der NS-Täterschaft unisono geschehenem, nach 1945 zumeist weder zu
stellen, noch einzugestehen und aufzuarbeiten bereit war. Auch dies mangelnde
Schuldbekenntnis hinsichtlich tätiger Ausmerzung von lebendiger gewachsener
kultureller Tradition ist ein wesentlicher Aspekt der so lange Zeit nachgeradezu
verhinderten, vermissten ausgleichenden Rehabilitation des Komponisten Felix
Mendelssohn Bartholdy.
Fred Prieberg bringt dies Phänomen völkisch-kulturellen Exorzismus und die Schuld der
musikalischen Helfershelfer trefflich auf den Punkt, indem er zu dem Schluss kommt,
"daß sämtliche neuen "Sommernachtstraum"-Musiken zwischen 1933 und 1945 - so
viele wie nie zuvor oder danach in einem Jahrdutzend - nur eine einzige Aufgabe hatte:
Mendelssohn zu ersetzen. Wer auch immer in dieser Periode mit einer Partitur zu
Shakespeares Werk befasst war, trug wissentlich und willentlich dazu bei, den "Juden"
Mendelssohn abzuschaffen. (...) Daß Musiker weithin den politischen Stellenwert ihrer
Beteiligung an der historischen Liquidierung Mendelssohns nicht begriffen, wofern sie
ihre Beteiligung später nicht überhaupt bestritten, lehrt eine andere Episode vielleicht
noch eindringlicher"
Dennoch wurde keine der genannten Kompositionen theaterübergreifend als dauerhaft
befriedigend eingeschätzt, wurden sie vielmehr als lokale Verlegenheitslösungen
angesehen. Keine derselben konnte den Rang einer spezifischen, "gültigen",
allgemeinverbindlichen Vertonung des Sujets einnehmen, so wie Mendelssohns
"Sommernachtstraum"-Musik bis zum Beginn des "III.-Reiches" ja empfunden wurde. So
überdies auch eine offenkundige grosse Ausnahme hinsichtlich eines musikalischen
Gesamtwerkes, dessen Wertschätzung ja bereits vor 1933 erheblich im Schwinden
begriffen war.
Der Rezensent Hans Wyneken erhob in der Deutschen Musikwoche VII vom 29. Juli
1939 im Rückblick auf die Heidelberger Reichsfestspiele (dort spielte man ja die WeberKompilation Eichhorns) denn auch die Frage nach einer definitiven Neuvertonung des
Sujets:
"Trotz alledem bleibt der Wunsch nach einer ganz neuen, auf eigenen Füssen
stehenden Sommernachtstraum-Musik offen. Wer schreibt sie?"
119
28. Von bajuwarischen Sommernachtsträumen
Neben Rudolf Wagner-Regenyi erbot sich mit Carl Orff der einzig prominente Komponist
den Machthabern zur Komposition des "Sommernachtstraumes"; ja der einzige, dessen
Prominenz eingeschränkt bis in unsere Tage andauert. Freilich nur aufgrund eines
einzigen Werkes, jener Cantiones profanes nach der alten Benediktbeurischen
Handschrift "Carmina Burana", deren ungemein erfolgreicher Premiere in Frankfurt am
Main im Jahre 1937 der Komponist einen kometenhaften Aufstieg verdankte.
Die Initiative zu einer weiteren "Sommernachtstraum"-Vertonung ging vom
Generalintendanten der Frankfurter Bühnen Hans Meissner aus. Er schlug dem
Frankfurter Oberbürgermeister in einem Schreiben vom 2. April 1938 dabei auch
sogleich Carl Orff als Komponisten vor. Der Intendant, dessen Stellvertreter, SSObersturmbannführer Frank Bethge und der Frankfurter Oberbürgermeister, Dr. Fritz
Krebs, welcher auch Kreisleiter der NSDAP Frankfurt und Präsidialratsmitglied der
Reichsmusikkammer war, stimmten vollkommen in der Ansicht überein, dass diese
Komposition den Rang der Allgemeingültigkeit für alle deutschen Theater einnehmen
müsse. Meissner schrieb als an Dr. Krebs:
"Die Aufführung von Shakespeares "Sommernachtstraum" scheitert immer wieder
daran, daß noch keine Musik geschaffen ist, die der künstlerischen Höhe der Dichtung
ebenbürtig ist. Ich möchte vorschlagen, dem Münchner Tondichter Carl Orff, der durch
die "Carmina Burana" die persönliche Eigenart seiner musikalischen Erfindungs- und
Gestaltungskraft unter Beweis gestellt hat, mit der Schaffung einer Musik zu
Shakespeares Dichtung zu beauftragen."
Die Selbstverständlichkeit der Einklagung eines Vakuums, eines Mangels, der
Einforderung einer Komposition des Sujets - quasi so, als ob es eine Musik
Mendelssohns zu diesem Thema niemals gegeben hätte - durch Meissner, beweist, wie
sehr sich auch dieser bedeutende Theatermann bereits korrumpiert hatte. Wie gross
dessen willentliche und wissentliche Bereitschaft ausgeprägt war, an einem Vorgang
teilzuhaben, den Fred Prieberg als "schöpferische Verdrängung Mendelssohns"
bezeichnete.
Prieberg konstatierte also des Weiteren zu Recht: "Denn schöpferische Verdrängung
Mendelssohns - und das ist mehr als bloße Austreibung - gehörte zu den zentralen
Zielen der NS-Musikpolitik. Ohne emsige Beihilfe durch Regisseure, Intendanten,
Komponisten und Kapellmeister wäre sie schon im Ansatz gescheitert, wogegen eben
erst diese tätige Unterstützung suggerierte, der Zweck sei rechtens und daher eine
gleichsam historisch bedingte Erscheinung."
Die Idee Dr. Krebs, die Komposition in einem Wettbewerb hochrangiger Komponisten gedacht war dabei an Orff, Herrmann Reuter und Werner Egk, wurde dabei von
Meissner als kontraproduktiv verworfen.
Carl Orff akzeptierte, in der Hoffnung auf dauerhafte Patronage seitens jener
hochrangigen Frankfurter NSDAP-Funktionäre, ein Honorar von 5000 RM und machte
sich an eine archaisch eingestimmte Vertonung des Sujets.
120
In einem Dankschreiben an Oberbürgermeister Dr. Krebs vom 10. Juli 1938 bestätigte
er die Auftragsübernahme:
"Sehr geehrter Herr Staatsrat! Ich empfing heute mit großer Freude die
Auftragserteilung zu einer Musik zu Shakespeares Sommernachtstraum durch Herrn
Generalintendanten Meißner, und ich danke Ihnen außerordentlich für das wiederum
bewiesene Vertrauen. Ich freue mich sehr, die handschriftliche Partitur nach
Fertigstellung der Arbeit der Stadt Frankfurt am Main übergeben zu können, denn ich
verdanke der Stadt und damit Ihnen, sehr verehrter Herr Oberbürgermeister, eine
entscheidende künstlerische Förderung und bin glücklich, daß ein weiteres Werk von
mir in Ihrem Theater zur Aufführung kommen soll.
Mit ergebenen Grüssen, Heil Hitler!"
Die Orffsche Komposition wurde nach ihrer, wahrscheinlich Mitte Oktober 1938 erfolgten
Premiere von der Presse nachgeradezu hymnisch aufgenommen. So schrieb der
Rezensent Walter Dirks in der "Neuen Musikzeitung" von November 1938 von der
Enttäuschung jener "die zu sehr an den durch Mendelssohn vorgeprägten Vorstellungen
festhielten, vielleicht auch" (jener) "denen eine Musik von Shakespearescher seelischer
Mächtigkeit vorschwebte. Von solchen Ansprüchen muß man absehen, wenn man
würdigen will, was Orff geleistet hat: eine für heute und viele Jahre gültige praktikable,
würdige und durchaus angemessene Musik dienender Haltung. Es ist Orff geglückt, für
die mancherlei Situationen in den verschiedenen Sphären des zauberhaften Werkes (in
der höfischen, der elfischen, der panischen, der Rüpelsphäre) ungemein treffende
Formulierungen zu finden."
Fred Prieberg weist noch 9 weitere positiv ausgefallene Rezensionen in Zeitungen des
gesamten damaligen Reichsgebietes nach, ein Zeichen dafür, dass die Uraufführung
des Orff-Werkes als ein Theaterereignis überregionalen Ranges angesehen oder von
den NS-Institutionen Frankfurts zumindest reichsweit propagandistisch als solches
lanciert wurde.
Im Gegensatz zur Presse reagierten die Theater eher verhalten auf die Vorstellung einer
weiteren "Sommernachtstraum"-Partitur. So werden bei Fred Prieberg nurmehr 4
weitere Bühnen genannt, welche auf die Orffsche Komposition in der Originalgestalt
oder in einer Bearbeitung durch den Komponisten zurückgriffen: die Theater in
Göttingen (Dezember 1943), in Karlsruhe (1940), Mainz (1943) und Leipzig (1944).
Der Komponist behauptete später, sich bereits 1917 und auch vor 1933 mit dem
"Sommernachtstraum"-Sujet auseinandergesetzt zu haben und suggerierte dadurch,
dass das Werk somit innerhalb seines Oeuvres quasi organisch herangereift. Dass
demselben kein nationalsozialistischer Hintergrund oder eine gezielte MendelssohnVerdrängung gar unterstellt werden könne.
Fakt ist, dass Orff das Werk in Zeiten des III. Reiches komponierte, vorstellte und
mehrfach umarbeitete, so liegen Fassungen aus den Jahren 1943 und 1944 vor.
121
Der Orffsche Sommernachtstraum wurde bereits im Jahre 1938 in dessen "Hausverlag"
B. Schotts Söhne in Mainz verlegt, welcher zur Uraufführung etwas voreilig bereits 300
Klavierauszüge zur Ansicht in den Theatern und im Jahre 1944 weitere 400
Klavierauszüge einer bearbeiteten Fassung vorlegte. Weitere Retuschen des Werkes
datieren aus dem Jahre 1952.
Und dies das Novum dieser Komposition aus einer langen Reihe von denselben
unseligen Anlasses (insgesamt 44 hat Prieberg recherchiert): es war die einzige, welche
nach 1945, in der BRD noch und wieder gespielt wurde. Dabei wirkten 2 Umstände
zusammen. Ein namhafter, erfolgreicher Komponist, welchem seine Verstrickungen in
Ereignisse und Machenschaften der NS-Zeit offenkundig nichts anzuhaben vermochte.
Sowie dessen "gut eingeführte(r), mächtige(r), und seine Werbe- und Wirtschaftskraft
nach dem Zusammenbruch des Reiches erst recht aufbauenden Groß-Verlegers"
(Prieberg), welcher das Werk zugkräftig an die deutschen Bühnen lancierte. Ungeachtet
der Tatsache, das zur ersten Bühnenproduktion nach dem Zusammenbruch der HitlerDiktatur im Dezember 1945 wieder Felix Mendelssohn gegeben wurde.
Des Bemühens um eine neue Einzigartigkeit der Orffschen "Sommernachtstraum"Musik durch Frankfurter NS-Funktionäre zum Trotze entstanden auch nach
Fertigstellung derselben an deutschen Bühnen noch weitere Fassungen. So beauftragte
der legendäre Theatermann Dr. Saladin Schmitt im Frühjahr 1940 den
Hauskomponisten des Bochumer Schauspielhauses Emil Peters mit einer Bühnenmusik
zum "Sommernachtstraum", Sie wurde am 24. März 1940 uraufgeführt. Der Komponist
lehnte eine vollständige Neukomposition des Themas allerdings ab - aus
eigenschöpferischen Skrupeln gegen eine offenkundige Mendelssohn-Verdrängung
heraus? - und griff ein weiteres Mal auf Kompositionen Carl Maria von Webers zurück.
Der namhafte Regisseur Franz Stroux brachte das Stück am 20. September 1939 am
Wiener Burgtheater mit der bereits genannten Musik Franz Salmhofers heraus. Am 18.
Januar 1940 erschien das Werk am Stadttheater Wilhelmshaven mit der gleichsam
bereits erwähnten Musik Theodor Holterdorfs auf der Bühne; Bielefeld sah das gleiche
Stück am 13. April 1940 mit der Musik von Adam Rauh. Am 30. April 1940 reüssierte
eine Musik von Konrad Brenner am Theater Ulm; am 1. Mai jene von Franz Binder in
Karlsbad.
All diesen Lösungen zum Trotze konstatierte Rudolf Sonner in "Musikstadt Wien" vom 6.
März 1939 anlässlich einer Sylvestervorstellung des "Deutschen Volkstheaters" in Wien
weiterhin die dringliche Notwendigkeit neuer "Sommernachtstraum"-Kompositionen.
Dabei versuchte er nach Kräften das übermächtig präsente Vorbild Mendelssohns, unter
zeitgeistgerecht perfidem Rückgriff auf ein Vokabular völkisch-rassistischer Schmähung
und pure Behauptungen, nach Kräften zu demontieren:
"Die unwirklich-wirkliche Welt des "Sommernachtstraums", die Shakespeare in die
Schönheit seiner Verse gebannt hat, der kraftvolle Humor, der Übermut und die zarte
Innigkeit, all das gibt einem echten Musiker Gelegenheit zu einer Begleitmusik, ja fordert
eine solche geradezu heraus. Gewisse Kräfte
trauern heute noch der
Sommernachtstraum-Musik des Juden Mendelssohn nach und tun so, als bedeute ein
Verzicht auf diese einen unwiederbringlichen Verlust.
122
Mendelssohn war ein Exponent des Judentums, und darum wurde seine Musik so
aufdringlich in den Vordergrund geschoben. Ihren Gehalten nach hat sie das gar nicht
verdient; denn schon die Ouvertüre ist ein billiges Potpourri gestohlener Themen von
Johann Rudolf Zumsteeg und C. M. von Weber, verkittet mit französischer Ballettmusik.
Nichts von dieser mauschelnden Geschwätzigkeit findet sich in der neuen
Sommernachtstraummusik von Ludwig Maurick."
Otto Falckenberg, der berühmte Intendant der Münchner Kammerspiele schliesslich
verlagerte
anlässlich einer Neuinszenierung im Frühjahr 1941 die Problematik
beflissentlich von der unumgänglich bestehenden Ebene kulturpolitischer Doktrinen auf
eine solche rein ästhetischer Argumentation. Er sprach Mendelssohns Musik
schlichtweg die Eignung einer Bühnenmusik zu Shakespeares Werk ab:
"Mendelssohn hat gar nicht versucht, eine wirkliche Traummusik zu schreiben. Seine
Musik ist thematisch klar durchgearbeitet und von einer Konsequenz, die der Logik oder
Unlogik des Traums nicht entspricht". (Der neue Sommernachtstraum, Münchner
Neueste Nachrichten v. 16. März 1941)
Darüberhinaus deklariert Falkenberg Mendelssohn als reinen Klassizisten und spricht
ihm somit die Teilhabe an der deutschen Romantik ab; ja unterstellt ihm gar, als
Romantiker und Bühnenkomponist eklatant versagt zu haben. Zur Münchner
Neuinszenierung des Sommernachtstraumes erklang schliesslich eine Neukomposition
von Gerhard Münch.
Das Jahr 1944 schliesslich brachte noch zwei weitere Kompositionen zu Shakespeares
Stück hervor. Hilde Pfeiffer-Dürkorp arrangierte Musik des Rudolstädter
Barockkomponisten Philipp Heinrich Erlebach zu einer Inszenierung des
Braunschweiger Staatstheaters im Park von Salve Hospes, welche am 16. Juli 1944 ihre
Premiere hatte.
Eine weitere Komposition von den Händen Franz Anton Wolperts, eines Dozenten des
Mozarteums in Salzburg erfuhr kriegsbedingt nur noch eine konzertante Aufführung der
Ouvertüre am Mozarteum.
Dies stellt wohl den Endpunkt dar im Bestreben, ein unbestrittenes, tief im Denken und
Empfinden der Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts verankertes Meisterwerk
rückstandslos zu eliminieren. Es mitsamt dem Komponisten ein für allemal historisch zu
entsorgen. Nun, die Sommernachtstraum-Musik dürfte weiterhin zu den bekanntesten
und beliebtesten Werken des Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy zählen. Keine
der vom Regime anbefohlenen und eilfertig vollführten Surrogatmusiken konnte sich
nach 1945 als ernsthafte Alternative bühnenpraktisch behaupten.
Carl Orffs Komposition zumindest konnte sich, mit tätiger Unterstützung eines
einflussreichen Musikverlages in den Kulturbetrieb der BRD hinüberretten. Wurde von
diesem in einem demokratisch orientierten Staat mit einer Selbstverständlichkeit als
hochrangiges Kulturgut verbreitet, als hätte es das auftraggebende verbrecherische
Regime niemals gegeben. Als wäre sie niemals aus dem Bestreben der Beihilfe heraus,
Felix Mendelssohn Bartholdys Werk endgültig zu eliminieren entstanden.
123
Als hätte Orff die blumig verklausulierte Auftragsbestätigung niemals mit einem
schneidigen "Heil Hitler" unterzeichnet. Aber auch sie ist mittlerweile Vergangenheit,
musikalisch dahingeschieden, tot; Nebenerzeugnis eines bayerischen Kleinmeisters,
welcher lediglich mit einer spektakulären Komposition sowie in einem Schulwerk für
Kinder im Bewusstsein der Musikfreunde präsent ist. Rudolf Wagner-Regény, dem
einzigen Komponisten neben Carl Orff mit einer gewissen Prominenz versehen, welcher
sich auf das nationalsozialistische Ansinnen einliess, gelang mit seiner Komposition
nicht einmal der Sprung in die Nachkriegszeit. Der Musikverlag der NS-Kulturgemeinde,
welcher das Werk herausbrachte, fand mit dem Regime gemeinsam sein folgerichtiges
Ende und erfuhr nach dem Kriege keine Neugründung.
In seinem Standardwerk "Musik im NS-Staat" schliesst Fred Prieberg das Felix
Mendelssohn gewidmete Kapitel denn auch mit der kurzen, betont nüchtern gehaltenen
Erklärung: ”Die Sommernachtstraum-Musik indessen hat die Führer des
Nationalsozialismus und ihre Politik der schöpferischen Liquidierung unbeschadet
überstanden”.
Intermezzo VI: "Die hohe Schule" II oder "Musik in Geschichte und Gegenwart"
Prieberg irrte in diesem Punkt nachweislich. In der BRD herrschte ein unsägliches
Klima zügig vorgenommener Restauration vor. Jenes erschloss einstigen,
nationalsozialistisch ausgeprägten Eliten der Bereiche Politik, Militär, Rechtswesen,
Medizin, Kultur und akademische Bildung im Zeichen unbedingten förderalistischen
Wohlfahrtsbestrebens sowie der Anbiederung an die USA in steigendem Maße neue
Wirkungskreise. So gewährleisteten musikpublizistische Koryphäen, getreuliche Diener
oder Mitläufer des gefallenen Regimes, nicht zuletzt auch die ungebrochene Kontinuität
eines anämisch gezeichneten Mendelssohn-Bildes.
Dies Phänomen eingehender darzulegen, wollen wir uns an dieser Stelle ein
wesentliches Fundament, einen Bestandteil musikalisch-akademischen Lehrens in der
BRD nach 1945 auf seine Substanz, seine Verwurzelung zurück in Zeiten des NSRegimes hin betrachten.
Im Jahre 1949 veröffentlichte der Bärenreiter-Verlag in Kassel den ersten Band einer
neuzeitlich-musikalischen Enzyklopädie, welche unter dem Titel "Musik in Geschichte
und Gegenwart" (MGG) reüssierte. Als Herausgeber wirkte der hochangesehene
Freiburger Musikwissenschaftler Friedrich Blume. Die Edition war auf insgesamt 20
Bände angelegt, deren Folgeveröffentlichungen sich bis in die sechziher Jahre
hinziehen sollten. Die Creme zeitgenössischer deutscher Musikwissenschaft wurde in
die Erarbeitung der Enzyklopädie eingebunden; ausgesuchte europäische und
amerikanische Musikologen sekundierend herangezogen. MGG zählte, als
Kompendium, verbindliche Quintessenz musikwissenschaftlichen Strebens mehrerer
Generationen verstanden, zum Grundbestand jedweder musikalischer Bildung und –
Lehre der BRD und war somit als Bestandteil jeder seriös konzipierten Bibliothek
eingegliedert. Der Anteil, von der Edition Bärenreiter zu erheben am Verdienst, ein
Bildungsgut von so zentraler Bedeutung, weitreichender Folgewirkung konzipiert und
realisiert zu haben, ist allerdings kein entscheidender.
124
"Musik in Geschichte und Gegenwart" wurde vielmehr als Projekt der "Hohen Schule"
innerhalb des Amtes Rosenberg in Auftrag gegeben, erste konzeptionelle Dispositionen
lassen sich bereits für August 1939 nachweisen. Als Projektleiter agierte der im
Zusammenhang mit dem Lexikon der Juden in der Musik bereits genannte Heinz
Gerigk; als Autoren wurden u. a. die Musikwissenschaftler Friedrich Blume, Wolfgang
Boetticher, Werner Danckert, Karl Gustav Fellerer, Prof. Rudolf Gerber, Ewald
Jammers, Prof. Hellmuth Osthoff, Erich Schenk, Heinrich Schole, Erich Schumann und
Rudolf Sonner verpflichtet. Alle hier genannten hatten sich zu diesem Zeitpunkt bereits
innerhalb musikanthropologischer oder kultur-rassetheoretischer Projekte des
Nationalsozialismus profiliert. Die Teilnahme einer von Gerigk herausdefinierten Elite
nationalsozialistisch-musikideologischer Überzeugung an einem von der Parteileitung
zum Renommier-Projekt erklärten enzyklopädischen Vorhaben wurde von den
Sicherheitsdiensten dementsprechend abgesegnet.
Friedrich Blume, Ewald Jammers und Karl Gustav Fellerer waren des weiteren auch im
Rahmen des SS-Projektes Ahnenerbe tätig. Blume betreute darüberhinaus auch eine
Publikationsreihe des Namens: Schriften zur musikalischen Volks- und Rassenkunde.
Karl Gustav Fellerer wiederum entlarvt sich in Briefdokumenten privater Natur als
schneidiger, nationalsozialistisch engagierter, akademischer Intrigant und Karrierist. So
verhöhnte er den missliebigen jüdischen Akademiker Fischer als „Schweizer Idioten“,
frohlockte im August 1939 wohlinformiert (also exorbitant regimenah!), ein polnischer
Professor namens von Oulikovski mitsamt seinen Landsleuten bezöge dafür, das er
dem „Idioten“ Fischer die Stange gehalten habe, "bald die entsprechende Abreibung“. Er
belobigte die Projektleitung Herbert Gerigks für MGG nach der Prämisse des erprobten
„Führerprinzips“ und insistierte auf die Definition „neue(r) Gesichtspunkte und
Nachschlagworte“ zur Unterscheidung von „den übrigen, eingekalkten Lexika“, damit
„man (...) zum Stammhaften und Rassischen (...) (Sippe)“ vorstossen könne. Die Briefe
schliessen erwartungsgemäss mit „Heil Hitler!“
Im Februar 1940 vermeldete Gerigk dem designierten Autor Prof. Rudolf Gerber (ein
„begeisterter Nationalsozialist“/ Eva Weissweiler) emphatisch, daß „der Führer befohlen“
habe, „daß auch in der Kriegszeit namentlich die Forschungsarbeit weitergeführt
werden“ sollte und der Enzyklopädie daher derzeit „für die einzelnen Teilgebiete (...) aus
unserer Stichwortkartei die Listen der bisher erfassten Namen und Stichworte
zusammengestellt“ würden und „insgesamt bereits (...) die Zahl von 20000
überschritten“ sei. Die wissenschaftliche Integrität der Projektverantwortlichen erscheint
nicht zuletzt dadurch zunehmend in Zweifel gezogen, daß jene besagten 20000 Namen
und Stichworten, zugrundeliegende Systematik vollständig den Enzyklopädien
Riemanns, H. J. Mosers sowie des im Jahre 1926 herausgegebenen „Neuen
Musiklexikons“ des jüdischen Musikwissenschaftlers Alfred Einstein entlehnt worden
war. Ende des Jahres 1943 kündete der Bärenreiter-Verlag, Kassel die absehbare
Publikation von „Musik in Geschichte und Gegenwart“ an und nannte Friedrich Blume
nunmehr als Herausgeber. Die Kriegswirren des Jahres 1943, welche vermittels
unausgesetzter alliierter Bombenangriffe auf deutsche Städte nunmehr zunehmend
auch deutsches Kerngebiet erreichten, bedingten die Auslagerung des Amtes Musik und
seiner Aktivitäten in sichere Provinzstädte.
125
Während Gerigk mit der Behörde nach Schlesien abwanderte, wurde der
Gesamtbestand bisheriger MGG-Recherche an die Universität Kiel delegiert, welche
sich kriegsbedingt mittlerweile zur Dependance der "hohen Schule" entwickelt hatte und
mit Blume über eine renommierte, langjährig verdiente akademische Kraft verfügen
konnte. Ob Blume von den Behördenvorständen Rosenberg oder Gerigk
umständehalber mit der Edition von MGG betraut wurde oder ob es jenen
möglicherweise aus den Händen geglitten war und sich Blume den zur Fortsetzung der
Erarbeitung der Enzyklopädie notwendigen Parteisegen anderweitig zu verschaffen
verstand, ist nicht mehr nachzuvollziehen. Rivalitäten zwischen gemässigt
nationalsozialistisch infiltrierten Akademikern wie Friedrich Blume, Hans Joachim Moser
und Schole einerseits und erklärt-ideologischen Überzeugungstätern wie Gerigk,
Boetticher, Fellerer, Gerber etc. sind aktenkundig; so wurde Blume beispielsweise Mitte
des Jahre 1940 das designierte Referat protestantischer Kirchenmusik in MGG
zugunsten Gerbers wieder entzogen.
Das Gerigk sich noch im April 1944 hartnäckig um die Frontbefreiung
wesensverwandter nationalsozialistischer Wissenschaftler wie Fellerer, Gerber, Osthoff
und Boetticher bemühte (alles Namen, welche im Zusammenhang mit dem
Enzyklopädie-Projekt schon genannt wurden), spricht allerdings in hohem Maße dafür,
dass er jene zur Fortsetzung der Konzeption von MGG einzusetzen trachtete und Blume
in Kiel als neuer Herausgeber der Enzyklopädie somit auf strikte Anweisungen des
Amtes Rosenberg und Gerigks agierte. Im April des Jahres 1944 wurde das Projekt
MGG von hochrangigen Partei- und Regimebehörden denn auch kontrovers erörtert. So
verwies die N.S.D.A.P.-Verwaltung im Münchner Führerbau in einem Schreiben an das
"Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung" auf das Problem,
„eine umfassende, mehrbändige Enzyklopädie (...) die gesamte Musik aller Länder und
Zeiten umfasse (...) jetzt überhaupt“ anzukündigen, da man „es für ein
eine
Benachteilgung der bei der Wehrmacht befindlichen Fachvertreter und des gesamten
Nachwuchses“ gleichdort befindlich hielte, “wenn für diese Standardwerke die
Daheimgebliebenen unter sich die Aufteilung vornehmen".
Die Anfrage, etwa ein Jahr vor dem Zusammenbruch des Regimes formuliert, spricht,
eindeutig oder indirekt zwei wesentliche Sachverhalte im Umfeld des Projektes an.
Zum einen verweist sie, ungewollt zwar, aber wahrhaft prophetisch, auf die zukünftige
Relevanz unbestreitbar nationalsozialistisch indoktrinierten musikwissenschaftlichen
Nachwuchses für die Jahre nach 1945.
Zum anderen spielt sie unverhohlen auf den Umstand an, das die Erarbeitung der
Enzyklopädie
mittlerweile
möglicherweise
einer
verschworenen
musikwissenschaftlichen Clique nurmehr als Vorwand diente, der Front ferngehalten zu
werden und somit im Schutze des Projektes das Kriegsende abzuwarten. Prof. Gerber
gestand genau dies bereits in mehreren an Projektleiter Gerigk gerichteten Schreiben
des Jahres 1940 offen ein: Wunsch nach Teilhabe am Prestigeprojekt des Regimes,
welche ihm, dem Intellektuellen besser und nützlicher anstehe als das Waffenhandwerk,
indem sich ja verstärkt die Primitivität und Einfalt zum Wohle des Deutschen Volkes
üben könne.
126
Im September 1944 bezeugte die Essener Allgemeine Zeitung ungebrochen fortgeführte
Aktivitäten hinsichtlich MGG dadurch, das sie auf das baldige Erscheinen eines
herausragenden Projektes der „deutschen Musikforschung“, genauer: die
Veröffentlichung einer „umfassende(n), grosszügige(n) musikalische(n) Enzyklopädie“
hinwies, welche eine „Gemeinschaftsarbeit führender deutscher Musikforscher“ darstelle
und den Titel "Musik in Geschichte und Gegenwart" tragen werde.
Wie eingangs erwähnt , fand die Publikation des ersten Bandes von Musik in
Geschichte und Gegenwart im Jahre 1949 statt; als Herausgeber und Verlag firmierte
weiterhin Friedrich Blume. Massgeblich beteiligt an der Erarbeitung des ersten und
weiterer Bände waren die ehemaligen Gerigk-Untergebenen Boetticher, Danckert,
Fellerer, Gerber, Jammers, Osthoff, Schenk. Eva Weissweiler schildert in ihrer engagiert
und umfassend vorgelegten Studie über „das Lexikon der Juden in der Musik“ (incl.
Kompletten Faksimile-Reprints desselben !) und das Amt Gerigk trefflich, wie die
Mitarbeit der genannten an der Bärenreiter-Enzyklopädie konkret vonstatten gegangen
sein mochte: „ Sie brauchten nur ihre Manuskripte aus der Schublade zu holen und die
schlimmsten nationalsozialistischen Formulierungen daraus zu streichen.
Blume und die Edition Bärenreiter verwandten wenig Sorgfalt auf humanistischanthropologische Bereinigung des Materials oder eher überhaupt keine. Die mit der
Edition übernommene Teilverantwortung für das bildungsspezifische Klima des neuen
Föderalismus muss ihnen vollkommen gleichgültig gewesen sein. Wie wäre es sonst zu
verstehen, das die genannten „führenden Musikforscher“ des ehemaligen Regimes die
autobiographischen Einträge in MGG eigenhändig autorisieren und ihre Biographie
somit erstmalig manipulieren durften? Auch andere „internationale Musiklexika“ (de
Vriess) griffen auf die Fähigkeiten der ehemaligen Gerigk-Mitarbeiter zurück,
möglicherweise getäuscht durch die neugewonnen-manipulierte biographischakademische Integrität. Substanzieller noch sollte sich auswirken, das man
beispielsweise einem ausgewiesenen nationalsozialistischen Überzeugungstäter wie
Boetticher das Referat über jüdische Musiker überliess. Wie jenes über Joseph
Joachim, den Weggefährten Mendelssohn Bartholdys, Johannes Brahms und Clara
Schumanns.
Der Band von Musik in Geschichte und Gegenwart, der auch Felix
Mendelssohn Bartholdy zur Veranschaulichung bringt, erschien editionsbedingt erst im
Jahre 1961.
Es referiert dort der über jeden Zweifel erhabene amerikanische Mendelssohn-Forscher
Eric Werner. Sein Text weist stellenweise eine Reserviertheit gegenüber Leben und
Werk Felix Mendelssohns auf, die sich im später veröffentlichten, Mendelssohn
gewidmeten Hauptwerk Werners, so nicht findet.
Der Herausgeber von MGG, Friedrich Blume referierte, wie bereits erwähnt, im August
des Jahres 1938 in der Zeitschrift "Musik" über die Fragestellung "Musik und Rasse Grundlagen einer musikalischen Rasseforschung". Er attestierte sich in seinem im Jahre
1938 vorgelegten Lebenslauf u. a. auch die Erarbeitung von "musikalischer Volks- und
Rassenkunde und musikalische(r) Raumforschung" und nahm im III. Reich u. a.
folgende Positionen wahr:
127
1933 außerordentlicher Professor an der Berliner Universität, 1934 Leitung des
"Musikwissenschaftlichen Institutes", 1935 Mitglied des "Staatlichen Institutes für
Deutsche Musikforschung", 1938 Ordinarius der Universität Kiel, 1939 Leitung des
"Institutes Erbe deutscher Musik" und Redaktion der Zeitschrift "Deutsche Musikkultur",
letztere beiden fester Bestandteil nationalsozialistisch-rassistischer Kulturpolitik.
Des weiteren betätigte er sich als Referent und Herausgeber einschlägig belasteten und
belastenden Gedankengutes und Schriftentums. Bei den ersten Reichsmusiktagen im
Jahre 1938 referierte Friedrich Blume über das Thema "Musik und Rasse - Grundlagen
einer musikalischen Rasseforschung", welches ja auch Grundlage jenes in der
Zeitschrift "Musik" veröffentlichten Aufsatzes war. Im gleichen Jahre gab er das Buch
"Das Rasseproblem in der Musik" heraus. Es war dies die erste Ausgabe der von Blume
publizierten "Schriften zur musikalischen Volks- und Rassenkunde"; noch drei Bände
sollten bis zum Jahre 1944 folgen.
In der ab 1994 herausgegebenen Neuausgabe von MGG bestreitet der BärenreiterVerlag und der Herausgeber Ludwig Finscher jedwede Verbindung der Erstausgabe von
der Enzyklopädie zum Nationalsozialismus und tut den Gedanken daran als Spekulation
Wilhelm de Vriess ab. So ist in dem biographischen Abriss, welchen die Enzyklopädie
dem Erstherausgeber Friedrich Blume widmet zu lesen: "Im Jahre 1943 begab Blume
auf Anregung des Gründers des Bärenreiter-Verlages Karl Vötterle und zusammen mit
Hans Albrecht mit der Vorbereitung der Enzyklopädie "Die Musik in Geschichte und
Gegenwart. Dass diese Arbeit irgendetwas mit Plänen und Materialsammlungen von
Herbert Gerigk für eine von diesem spätestens seit 1939 geplante Enzyklopädie zu tun
gehabt haben könnte, wie de Vriess 1998, 108 -115 behauptet, ist pure Spekulation."
Das Buch von Eva Weissweiler, welches die Sachlage einer Initiierung von MGG durch
die "Hohe Schule" der NSDAP und Herbert Gerigk erhärtet, war zu jenem Zeitpunkt
noch nicht erschienen. Die Erklärung in der Blume-Biographie der Neuausgabe
wiederum muss als pure Behauptung des Verlages, genauer, als Schutzbehauptung
angesehen werden.
In den Vorworten zu den verschiedenen Auflagen erkennt sich der Bärenreiterverlag
wiederholt das alleinige Verdienst um Initiierung von MGG zu und verweist im übrigen
auf den Herausgeber Friedrich Blume. So schreibt Blume in seinem Vorwort des
abgeschlossenen 1. Bandes aus dem Jahre 1951/ Tb-Ausgabe 1989:
"Der Gedanke der Enzyklopädie ist bereits 1943 von dem Bärenreiter-Verlag in Kassel
ausgegangen und ist seitdem in ständigem engem Gedankenaustausch zwischen ihm
und dem Herausgeber unter allmählicher Einbeziehung vieler Mitarbeiter und Helfer
entwickelt worden".
Ludwig Finscher wiederum schreibt im Vorwort des im Jahre 1994 erschienenen
Bandes der Neuausgabe von MGG: "Die Zeit, in der Karl Vötterle und Friedrich Blume,
der Musikverleger und der Musikwissenschaftler, die schon in den letzten Jahren des
zweiten Weltkrieges entwickelte Konzeption der MGG zu verwirklichen begannen, war
einzigartig (...)
128
Ungewöhnlich war, daß Friedrich Blume als der Spiritus rector des Unternehmens eine
viel weiter reichende Konsequenz aus der Situation zog: Die Entwicklung nicht eines
Lexikons, sondern einer Enzyklopädie, wie es schon im Geleitwort zur ersten Lieferung
1949 heißt."
2 Faktoren sind massgeblich geeignet, die Behauptungen des Bärenreiter-Verlages und
seiner Herausgeber, die Entwicklung der Enzyklopädie stehe jeder Verwurzelung im
Nationalsozialismus vollständig fern, zu widerlegen.
Erinnern wir uns der Meldung in der "Essener Allgemeinen Zeitung" von September
1944 hinsichtlich baldigen Erscheinens eines herausragenden Projektes der „deutschen
Musikforschung“, genauer: die Veröffentlichung einer „umfassende(n), grosszügige(n)
musikalische(n) Enzyklopädie“, welche eine „Gemeinschaftsarbeit führender deutscher
Musikforscher“ darstelle und den Titel "Musik in Geschichte und Gegenwart" tragen
werde.
In dieser Meldung wird der ausserordentliche Rang, die Dramaturgie und der Umfang
der Enzyklopädie "Musik in Geschichte und Gegenwart" explizit vorweggenommen und
hervorgehoben. Nun, beide Instanzen, der Verleger Karl Vötterle und sein BärenreiterVerlag sowie der Musikwissenschaftler Friedrich Blume, verfügten in den Kriegsjahren
1943 - 45 wohl kaum über die Machtvollkommenheit, ein Unternehmen solchen
Ausmaßes zu konzipieren und vorzubereiten. Es ist wenig glaubhaft, dass Blume als
Ordinarius der Universität Kiel, also von einer Provinzuniversität aus, obgleich er
Mitglied und Präsident div. musikwissenschaftlicher Gesellschaften war, autonom, fern
jeder Weisung und Kontrolle durch die Partei ein herausragendes Projekt der
"deutschen Musikforschung" zu initiieren imstande war. Eine "Gemeinschaftsarbeit
führender deutscher Musikforscher" (Essener Allgemeine 1944) "unter ...Einbeziehung
vieler Mitarbeiter und Helfer" (Blume 1951) herzustellen. Des gleichen war ein kleiner
Musikverlag in Kassel dazu nicht in der Lage.
Wie wir gesehen haben, unterlagen führende Wissenschaftler und ihre Tätigkeit der
Zustimmung und Aufsicht von Parteigremien, wurden Wissenschaftler, die an Projekten
teilnehmen sollten, von der Partei auf ihre ideologische Zuverlässigkeit hin
durchleuchtet.
Eva Weissweiler dokumentiert in "Ausgemerzt! Das Lexikon der Juden in der Musik"
treffend das Wesen der von der Partei ausgeübten Kontrolle über etwaige in
Kriegszeiten vollführte wissenschaftliche Arbeit: "Von irgendeiner direkten oder
indirekten Form der Mitarbeit bei Forschungsunternehmen der NSDAP, SS oder "Hohen
Schule" war allerdings kaum ein namhafter deutscher Musikwissenschaftler
freizusprechen;
denn
der
politische
"Anschluss"
an
offiziell
gebilligte
Publikationsprojekte dieser Art stellte (...) nahezu die einzige Möglichkeit dar, in
Kriegszeiten überhaupt noch veröffentlichen zu können. Jeder Versuch eines
wissenschaftlichen "Alleingangs" (...) wäre von Gerigk und der "Parteiamtlichen
Prüfungskomission zum Schutze des NS-Schrifttums gnadenlos unterdrückt worden".
Obschon Hitler und die Partei Forschungsvorhaben gerade in Kriegszeiten höchste
Priorität einräumten, wurde jeder Wissenschaftler, der nicht in derartige, von der Partei
initiierte oder genehmigte Vorhaben eingebunden war, in den letzten Kriegsjahren zum
Wehrdienst eingezogen.
129
Im Jahre 1944 schliesslich kamen unter dem Zeichen des "Totalen Krieges" nahezu alle
kulturellen Aktivitäten in Deutschland zum Erliegen, stellten die Theater und
Opernhäuser ihren Spielbetrieb ein, insofern sie nicht bereits zerstört waren, wurden die
meisten wissenschaftlichen Vorhaben abgebrochen und die Verlage geschlossen. Für
Projekte wie der Konzeption von MGG tätige Wissenschaftler wie Blume handelten in
dieser Situation also unmittelbar auf Weisung, also unter Aufsicht nationalsozialistischer
Funktionäre. Dabei bemängelten rivalisierende Parteigremien die Fragwürdigkeit einer
bevorzugten Projekt-Beteiligung einzelner Forscher zuungunsten des gesamten sich an
der Front befindlichen Nachwuchses. Gerigk musste somit um die WehrdienstFreistellung jedes einzelnen an der Vorbereitung von MGG beteiligten Wissenschaftlers
kämpfen; wie bereits dargelegt, baten einzelne Akademiker dringlich um Aufnahme in
das Projekt, um dem Frontdienst zu entgehen. Nein, weder Verleger Karl Vötterle noch
der Ordinarius der Universität Kiel besassen in den letzten Kriegsjahren über genug
Autorität und Einfluss, die deutsche Musikwissenschaft gezielt in die konzertierte Aktion
der Erarbeitung eines monumentalen enzyklopädischen Vorhabens hineinzuführen.
Ein weiteres Indiz dafür, dass die Herausgeber von MGG lediglich ein Projekt der
"Hohen Schule" der NSDAP weitergeführt hatten und keinesfalls als Urheber der
Enzyklopädie gelten können, liefert Blume im Vorwort des 1. Bandes von 1949/51
selbst:
"Jedoch wurde das gerettete Karteimaterial im Musikwissenschaftlichen Institut der
Universität Kiel in der Stille weiter ausgebaut."
Damit bringt Blume die einstmals von Gerigk erstellte Systematik von 20 000
Stichworten sowie das daraufhin erstellte Karteikartensystem der MGG-Recherche ins
Spiel, welches im Jahre 1943 auf Anordnung Rosenbergs oder Gerigks an die
Universität Kiel ausgelagert wurde. Ungeklärt bleibt lediglich, ob Blume offiziell von
Rosenberg oder Gerigk mit der Weiterführung der Enzyklopädie beauftragt wurde oder
aber die Partei gegen Kriegsende die Kontrolle über das Projekt verlor, so dass er das
Material übernehmen und "in der Stille" einer abgeschiedenen Provinzuniversität über
die Stunde 0 hinaus ausbauen konnte.
29. Die zierlich-empfindsamen Lieder und Duette...
Gleichsam im Jahre 1949 lässt sich auch der als ambivalent erinnerliche Hans-Joachim
Moser wieder zum Thema Felix Mendelssohn vernehmen; in seinem "Lehrbuch der
Musikgeschichte" vertritt er folgende Einschätzung:
“Die zierlich-empfindsamen Lieder und Duette, die bald behende, bald etwas
sentimentale Kammermusik, die freundlichen Orgelsonaten verblassten vorzeitig infolge
“ursacheloser Schwermut” und einer gewissen Glätte, die Überdruss erregte.”
Arnold Schering sekundiert Moser im gleichen Jahre im Bemühen, alten Geist in
vermeintlich neuen Zeiten lebensfähig zu halten. In den in Leipzig herausgegebenen
Betrachtungen "Vom musikalischen Kunstwerk" veredelt er die Vorstellung vom
künstlerischen Heros auf bezeichnende Weise.
130
In der Person des autonomen künstlerischen Genius Beethoven sucht er den Heros
demonstrativ von der kleinbürgerlichen, vermittels sentimentaler Musikerromane und –
filme transportierten, Popularisierung einer Stereotype des armen musikalischen Poeten
unterm Dache, zu separieren. Schering nimmt dabei in Kauf, dass der im Jahre 1824
verstorbene Beethoven sich anachronistisch zu einer Problemstellung zu äußern hat,
welche sich nachweislich erst in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts ausprägte.
„Damals kam die Legende auf, ein grosser Künstler – insbesondere ein Tonkünstler –
müsse jederzeit ein grosser Leidender am Leben gewesen sein. Wo, bei Gott, sollte
sonst die überzeugende Macht seiner Schöpfung herkommen? Als klassisches Beispiel
galt Beethoven. Kein anderer als dieser selbst, der männlichste unter den Klassikern,
hat sich schärfer gegen diesen Aberglauben gewandt, in dem er das Wort sprach:
„Die meisten Menschen sind gerührt über etwas Gutes, das sind aber keine
Künstlernaturen. Künstler sind feurig, aber sie weinen nicht – Rührung passt nur für
Frauenzimmer; dem Manne muss Musik Feuer aus dem Geist schlagen.“
Also muss auch Ludwig van Beethoven als Zeuge der zu jener Zeit weitverbreiteten
Ansicht herhalten, dass die Poesie und der musikalische Humanismus eines Felix
Mendelssohn im Reich wahrhaft grosser Musik keinen Raum haben könne.
Demgegenüber wurde im angloamerikanischen Sprachraum ein objektiverer Umgang
mit musikhistorischen und –ästhetischen Entwicklungen, also auch dem musikalischen
Erbe Felix Mendelssohns respektive seiner unangezweifelt bedeutsamen
musikgeschichtlichen Stellung praktiziert als im deutschsprachigen Raum nach dem
Kriege. Das beweisen zeitgenössische Musiklehrwerke der Exilanten Arnold Schönberg
und Paul Hindemith, die Studienbeispiele aus Mendelssohns Werken zur
Veranschaulichung von musikalischer Präzision und Formbeherrschung anführen.
Desgleichen gab die "Musical Times" im Leitartikel der Oktoberausgabe des Jahres
1947 (möglicherweise im Vorgriff auf Mendelssohns 100. Todestag am 4.11. dieses
Jahres) zu Bedenken:
„Seitdem das handwerkliche Können des Komponisten auf der Suche nach neuen
Wirkungen an einem Stagnationspunkt angelangt ist, wird die Eleganz der Technik und
Formgebung, für die Mendelssohn so charakteristisch ist, wieder bewundert, nicht ganz
neidlos. Er zählt nunmehr zu der erlesenen Schar jener Komponisten (Mozart und Ravel
gehören dazu), die genau wussten, wieviel Noten zu schreiben und wie sie anzuordnen
(sind)".
Im Jahre 1950 veröffentlichte der Publizist Friedrich Herzfeld (vor allem bekannt
geworden durch sein Dirigentenkompendium "Magie des Taktstocks") eine
volkstümliche Musikgeschichte unter dem Titel "Du und die Musik - eine Einführung für
alle Musikfreunde"; erschienen im Ullstein Verlag/ Frankfurt-Berlin. Auf den Seiten 226 29 nimmt er auch zu Person und Lebenswerk Felix Mendelssohns Stellung. Einmal
mehr werden
tradierte abwertete Stereotypen von Milde, Sentimentalität,
Nachrangigkeit und Kleinmeisterei versammelt.
131
Herzfeld macht Mendelssohns grossbürgerliche Herkunft für die vermeintliche
Schwäche seiner Tonsprache verantwortlich und kommt nahezu zu dem Schluss, dass
Mendelssohn in der Durchführung seines musikalischen Lebensentwurfes letztendlich
gescheitert sei.
"Nach der Hochglut eines Erzromantikers wie Berlioz nimmt sich das Feuer deutscher
Romantiker wie des in Kassel wirkenden Geigenmeisters Louis Spohr oder eines Felix
Mendelssohn-Bartholdy" zahm aus. (...) Die milde Temperatur seiner (Mendelssohns)
Persönlichkeit suchte das Neue nicht auf so erregende Weise. Mendelssohn war ein
echter Vertreter des Grossbürgertums, wie es sich in diesen politisch ruhigen Jahren
entwickelte. Im Hause seiner Eltern...in Berlin verkehrte alles, was Rang und Namen
hatte. Dieses Bürgertum neigte zur Weichheit bis zur Sentimentalität. Die Tränen allzu
reger Empfindung, die in den Versen von Heinrich Heine oft fliessen, begegnen uns bei
Mendelssohn wieder. Um Gegenkräfte zu entwickeln, versuchte er die kontrapunktische
Kunst Bachs und Händels zu erneuern. Es ist aber nicht alles zu allen Zeiten möglich.
Die Fugen Mendelssohns sind von den alten Fugen himmelweit entfernt. Auch seine
Oratorien Elias und Paulus, die er nach Vorbildern Händels schrieb, haben vor dem
Ansturm der Zeit an Geltung verloren. (...)
Offenbar gehörte Mendelssohn zu denen, die im kleinen am grössten sind. Seine Lieder
ohne Worte haben in der Hausmusik des neunzehnten Jahrhunderts begreiflicherweise
eine grosse Rolle gespielt. Es gehörte in der Generation unserer Gross- und
Urgroßeltern zur guten Bildung, sich von diesen einschmeichelnden Weisen durch die
Lagunen von Venedig führen zu lassen. (...)
Alle Anerkennung seiner Meisterschaft hat nicht verhindern können, dass sein Bild mit
den Jahrzehnten allmählich, aber unaufhaltsam verblasste."
Am Ende seiner Mendelssohn-Betrachtungen gereift der Verfasser erneut auf die
Metapher vom Heros in der Kunst zurück, der Mendelssohn Herzfeld zu Folge
möglicherweise nicht gerecht worden sei. Obgleich Herzfeld diese Sichtweise auf
musikalisches Wirken durchaus als romantizistisches Relikt in Frage stellt, hindert es ihn
doch keineswegs daran, sich ihrer selbst in der Mendelssohn-Infragestellung indirekt zu
bedienen:
"Es war nicht nur Spott, wenn man behauptet, es sei ihm im Leben immer zu gut
gegangen. Dass das Genie darben müsse, war auch eine romantische Vorstellung. Für
die Eingebung von oben müsse es durch Leid empfänglich gemacht werden.
Künstlerschaft war danach ein Ersatz für Lebensglück. Zur Quelle der Kunst wurde das
Leid. Dass sich die Not niemals an Mendelssohns Fersen heftete, wäre danach die
Ursache für seine allzu grosse Gefälligkeit und Untiefe."
Der Münchner Merkur attestierte der Musikgeschichte u. a.: "Sie kann insbesondere
Laien und Jugendlichen empfohlen werden, da sie in warmherziger, leichtverständlicher
Form (...) alles Wissenswerte von den Anfängen der Musik bis zur unmittelbaren
Gegenwart vermittelt."
132
Es stimmt im Nachhinein bedenklich, dass ein Buch, welches gerade Laien und
Jugendlichen zur Lektüre anempfohlen wurde, auch nach dem Kriege einer
nachwachsenden Generation von Musikfreunden wiederum ein einschlägig
klischeebeladenes, verzerrtes Mendelssohn-Bild vermittelte. "Du und die Musik" wurde
im Jahre 1962 im Deutschen Bücherbund, Stuttgart/ Hamburg wiederveröffentlicht.
Friedrich Herzfeld war in den Zeiten des III. Reiches als Musikpublizist und Rezensent
tätig, u.a. für die "Allgemeine Musikzeitung", Leipzig und "Die Musik", Berlin. In der
Neuauflage des "Lexikon der Juden in der Musik" des Amtes Rosenberg wurde er dann
allerdings als "Mischling zweiten Grades festgestellt, dessen Schriften damit für die
Parteiarbeit entfallen" (Herbert Gerigk, L. d. J. i. d. M., Editorial).
Im Jahre 1950 wurde das im Jahre 1934 erschienene Atlantisbuch der Musik vom
Atlantis-Verlag in Zürich neu veröffentlicht. Als Herausgeber wirkten Fred Hamel und
Martin Hürlimann. Somit ist die Gelegenheit gegeben, einmal die MendelssohnBetrachtung vom Standpunkte eines deutschsprachigen Nachbarlandes, der Schweiz,
zu überprüfen.
Wieder einmal ist dort, wie sich zeigt, die Notwendigkeit zum Monumentalen,
Heroischen das Mass aller musikalischen Dinge, dem ein Felix Mendelssohn auf Grund
allzu sorgenlosen Lebenswandels schicksalsbedingt nun einmal nicht habe entsprechen
können. Der Verfasser Fred Hamel macht dies denn auch für vermeintliche eklatante
Mängel und Schwächen sowie Epigonentum in Mendelssohns symphonischer Sprache
verantwortlich.
"Denn eines war dieser Kunst wie diesem Leben vorenthalten: die äusseren Reibungen
und inneren Spannungen, die zum Monumentalen unerlässlich sind. Das Schicksal, das
diesen Künstler der kämpferischen Problematik enthob und ihm zwischen
Freiheitskriegen und Märzrevolution symbolische Grenzen zog - dieses Schicksal
verwehrte ihm auch den eigentlich symphonischen Atem. So fehlt seinen Sinfonien im
grossen die stilgeschichtliche Bedeutung; sie folgen fremden Spuren - "Schottische" und
"Italienische" dem klassischen Formideal, der "Lobgesang" der Sinfoniekantate nach
dem
Muster
von
Beethovens
"Neunter",
die
"Reformationssinfonie"
programmmusikalischen Einflüssen."
Was schreibt Walter Georgi im gleichen Werk über Mendelssohns Klaviermusik? Er
repetiert erneut Freigedank/ Wagners Invektive vom Mangel an Wärme und Tiefe in der
Musik eines jüdisch-stämmigen Komponisten, verweist des weiteren auf das Stereotyp
der vermeintlichen Sentimentalität von Mendelssohns Musik.
"Sein Bestes gibt er in leicht und zierlich dahinhuschenden Sachen (Charakterstück Nr.
7, Lied ohne Worte Nr. 47, Scherzo Werk 16/2, Rondo Capriccioso) Als gewandtester
Kontrapunktiker unter den Romantikern verfügt er über einen vornehmen, frei
polyphonen Klaviersatz (...) Aber dieses Formgenie kann nicht darüber hinwegtäuschen,
dass ihm etwas Wichtiges fehlt: Tiefe und Wärme der Empfindung. Mendelssohn
vermag kein Adagio zu schreiben. Vieles von seiner Musik ist verblasst. Ihre weichliche
Sentimentalität wirkt nicht immer erfreulich (...) Mendelssohns zwei Konzerte und drei
Konzertstücke verschwinden immer mehr aus dem Konzertsaal"
133
Helmut Osthoff hingegen merkt über Mendelssohns Kompositionen für Streicher solo
an:
"Von Felix Mendelssohn besitzen wir eine Violinsonate und zwei (...) Sonaten für Cello
und Klavier. Die letzteren sind für beide Partner dankbar, rechnen aber ebenso wie die
Violinsonate nicht zu den erstrangigen Werken der Gattung. Ein grosser Wurf gelang
Mendelssohn dagegen mit seinem Violinkonzert in e-moll, op. 64 (1845). Wir verhehlen
uns heute nicht, dass Mendelssohns Konzert letztlich durch seine blendende äussere
Aufmachung besticht."
Auch hier gesteht der Verfasser Qualitäten in Mendelssohns Musik nur vorbehaltlich zu;
geht seine Beschreibung der Werke stets mit abwertenden Urteilen einher. Ausdruck
persönlicher Vorbehalte des Autors oder Zeichen dafür, wie tief die jahrzehntelang
gepflogene Dramaturgie der Mendelssohn-Negation Betrachtung und Urteil jener Zeit
doch geprägt hatte?
Martin Hürlimann beschwört in seinen Betrachtungen über den Dirigenten Mendelssohn
das Bild eines unverbindlichen urbanen (jüdischstammig konvertierten?) Grossbürgers
im Musikergewande herauf, ein Bild, das uns in den Darlegungen Walter Abendroths in
deutlich antisemitischer Zielrichtung entscheidend wiederbegegnen wird:
"In ähnlicher Weise, konservativ in seinen Kunstanschauungen, liebenswürdig und in
vornehmer Zurückhaltung wirkte Mendelssohn von 1835 bis zu seinem Tode 1847 als
Dirigent des Gewandhaus-Orchesters in Leipzig"
In der Betrachtung der "Sommernachtstraum"-Musik pflegt auch Otto Riemer das
Stereotyp vermeintlicher Oberflächlichkeit von Mendelssohns Musik. Des Weiteren
verweist er auf die Neuvertonungen der 30ssiger und vierziger Jahre, ohne mit einem
einzigen Wort den Hintergrund eines Musiknotstandes durch das regimebedingte Verbot
der Mendelssohn-Komposition im "III.-Reich", ja die Beauftragung zur Schaffung von
Neukompositionen durch die Machthaber zu erwähnen.
"Die ausserordentliche melodische Leichtigkeit, die Mendelssohn auszeichnete und die
ihm nicht immer zum Vorteil gereichte: hier in diesem märchenhaften Koboldspiel gab
sie die glücklichste Ergänzung der Dichtung. In jüngster Zeit haben auch Edm. Nick,
Julius Weissmann und Rudolf Wagner-Régenyi Kompositionen zu Shakespeares
"Sommernachtstraum" geschrieben."
Werfen wir nun wiederum einen Blick auf den zu jener Zeit in Westdeutschland
vorherrschenden Stand der Mendelssohn-Sicht:
“Doch für eine solche Aufgabe war Mendelssohn zu schwach. Körperlich zart, niemals
vor wesentliche Entscheidungen gestellt, woher sollten ihm Tatkräfte zugewachsen sein,
die nur in geistigem Ringen oder harten Auseinandersetzungen mit dem Leben
gedeihen. Mendelssohns Schaffen hat zu keiner Zeit Frucht getragen, es war eine Fülle
von Blüten, die bald welkten und nicht viel mehr zurückliessen, als einen wehen Duft.“
134
Der Verfasser dieser Zeilen, die einen vermeintlichen Mangel Mendelssohnscher Musik
vor allem aus schwachem Erbgut heraus begründen, ist Otto Schumann. Sie wurden
seinem im Jahre 1951 erschienen Handbuch der Klaviermusik entnommen. Diese,
unterschwellig die rassebiologischen Thesen des III.-Reiches reflektierende Sichtweise,
verwundert wenig, wenn man sich folgendes vor Augen hält: Es handelt sich um den
gleichen Otto Schumann, welcher 11 Jahre zuvor in seiner "Geschichte der Deutschen
Musik" die Aufarbeitung der Musikgeschichte explizit den Aspekten des Rasseprinzips
unterwarf und somit schrieb:
"Hätte Mendelssohn eine Musik geschrieben, die seiner rasseseelischen Beschaffenheit
entsprach, dann könnte sich vielleicht das Judentum eines grossen Komponisten
rühmen."
Im Jahre 1954 gab Schumann ein Handbuch der Orchestermusik heraus; erschienen im
Heinrichshofen Verlag, Wilhelmshaven.
In diesem nimmt Schumann noch eindeutiger Bezug auf seine Tätigkeit
ideologienahen, völkischen, von antisemitischen Überzeugungen geprägten
Publizierens in Zeiten des Nationalsozialismus. Schumann paraphrasiert darin Zeilen
und Sichtweisen aus der "Geschichte der Deutschen Musik" aus dem Jahre 1940
nahezu wortwörtlich - ein Faktum, das einmal mehr veranschaulicht, wie nachhaltig
ideologische Positionen des N.S.-Faschismus in Kultur und Gesellschaft der BRD zu
verankern möglich war.
Gleich zu Beginn der Mendelssohn-Darlegungen schreibt Schumann im Jahre 1954
also:
"Schon seit Jahrzehnten sind immer neue Stimmen laut geworden, die gegen eine
Überschätzung Mendelssohns zu Felde zogen. Umstritten wurde - übrigens schon zu
Lebzeiten des Komponisten - der innere Gehalt seiner Tonschöpfungen. Seine
ungewöhnliche Form und sein erstaunlicher Formensinn geben den Werken zumeist
eine Glätte, die unbehaglich wirkt."
Im unmittelbaren Vergleich dazu nun die Sichtweise des Jahres 1940:
"Die fast ein Jahrhundert währende Mendelssohn-Schwärmerei ist um so
unbegreiflicher, als zu allen Zeiten Männer aufstanden (schon als Mendelssohn noch
lebte), denen seine Musik allzu glatt erschien, - ein Urteil, das auch die unentwegtesten
Mendelssohn-Verehrer nicht bestritten."
Auch die ferneren Darlegungen Schumanns aus dem Jahre 1954 lassen eine
Verwurzelung in völkischem Denken unausgesetzt spüren: Stellenweise befleissigt
Schumann sich gar der Tatsachen- und Geschichtsfälschung, indem er die von
Mendelssohn begründete Tradition des Leipziger Konservatoriums unterschlägt.
"Der Deutsche hat ein ganz besonderes Verhältnis zur Form: er weiß sie zu schätzen;
aber sie ergreift ihn nur dann, wenn sie sich darstellt als letztes Ergebnis inneren
Ringens. (...) Mag er sich zuweilen an ihr ergötzen - zum tiefem Erlebnis wird sie ihm
nicht.
135
Mendelssohn aber ist der Meister der nur "schönen" Form. Seine melodische Erfindung,
sein thematischer Aufbau und die instrumentale Einkleidung sind untadelig, aber zu sehr
nach Mass gefertigt. (...) Entsprechend seiner Formensprache hat Mendelssohn
instrumentiert: glatt, sorgsam getönt, alle Ausbrüche werden vermieden - MUSSTEN
vermieden werden, weil in Mendelssohn kein vulkanisches Feuer brannte.
Überzeugender noch als die Meinung mag die Geschichte reden: Mendelssohns
Schaffen hat keine Nachfolger gefunden. Man hat ihm Einzelheiten abgelauscht, aber
die Glätte seines Musizierens hat sich niemand zu eigen gemacht (ausser den
Edelkitsch-Komponisten der "Salonstücke")".
Was lesen wir zur "Italienischen" Symphony:
"1833 (...) wurde die "Italiensche Sinfonie" aufgeführt.. Auch sie geht auf Eindrücke
einer Reise zurück. Sah der Jüngling in Schottland wenigstens noch etwas ähnliches
wie Konfliktstimmung, so fand er, wie es scheint, in Italien eine gänzlich problemlose
Weilt vor. Wirklich "Italienisches" tönt nur im Schlusssatz auf (...) Aber weder das Allegro
vivace (...) noch die d-moll Ballade des Andante con moto haben etwas Italienisches,
und der dritte Satz. (...) mit seinem anmutigen Ländler und den "romantischen"
Hornklängen (...) weisen vollends auf Deutschland zurück".
Wie auch die Zeilen zur "Italienischen" Symphony" sind Schumanns Bemerkungen zu
den Konzerten für Klavier und Orchester vom Bemühen geprägt, abfälliges über die
genannten Werke vorzubringen:
"Bis in die allerjüngste Vergangenheit reichen die Versuche, Mendelssohns
Klavierkonzerte neu zu beleben. Diese Versuche dürften vergeblich sein. Von dem
zweiten Klavierkonzert rückte schon Schumann höflich ab, und es ist doch wohl kein
Zufall, daß auch das erste Klavierkonzert (...), einst ein Schlager, der "auf keinem
Programm fehlen durfte", längst Seltenheitswert bekommen hat. Mendelssohns Absicht
war es, dem hohlen Virtuosenkonzert seiner Zeit etwas technisch Einfacheres und
musikalisch Wertvolleres entgegenzusetzen. Das ist ihm mit seinem ersten Konzert
auch gelungen, (...) weil es dem Pianisten "in der Hand liegt", ohne großen
Virtuosenaufwand konzertmässige Wirkung hervorbringt (...) Doch einmal hat die
Romantik bald stärkere Werke hervorgebracht, und zum anderen haben wir heute
Klavierkonzerte, deren Zielsetzung der Mendelssohnschen gleichkommt, deren Geist
uns aber näher ist".
Einen bemerkenswerten Ausbruch aus der uniform tendenziellen Sichtweise, welche
Schumanns bisherige Darlegungen prägt, vollzieht sich allerdings in der Vorstellung des
Violinkonzertes.
Schumann verfällt in der Schilderung der musikalischen Vorzüge desselben
phasenweise in einen geradezu hymnischen Tonfall, obgleich er im Klaviermusikführer
ja unmissverständlich konstatierte, dass " Mendelssohns Schaffen zu keiner Zeit Frucht
getragen" habe. Das Bemühen um Rückkehr in die bislang an den Tag gelegte
"Objektivität", also tendentiell abfällige Einschätzung Mendelssohns, ist denn auch
immer wieder zu bemerken.
136
"Bedeutend und unverblasst steht dagegen das Violinkonzert vor uns. (...) Nach
Meinung des Verfassers reicht es fast in die Nähe der drei grossen Geigenkonzerte von
Beethoven, Brahms und Tschaikovsky. Form, Erfindung und Gestaltung sind hier
Einheit geworden wie sonst in keinem anderen Werke Mendelssohns (...) Von erlesener
Schönheit und ergreifender Wirkung das (...) zweite Thema. (...) Die Durchführung stellt
an den Hörer keine großen Ansprüche, weil ihre Größe in ihrer Einfachheit besteht. Vom
Prestoschluß dieses Satzes leiten Halbtonschritte (...) in den zweiten Satz (...), ein Lied
ohne Worte von inniger Süße".
Ein kurzer Blick nur in das Handbuch der Chormusik und des Klavierliedes Otto
Schumanns, 1953 wiederum im Herrmann Hübner Verlag, Wilhelmshaven erschienen.
Die Eröffnungszeile des Mendelssohneintrags führt sogleich in den vertrauten Tonfall
des Jahres 1940 hinein, variiert erneut eine zentrale These Schumanns aus jener Zeit:
"Schon manche seiner Zeitgenossen empfanden Mendelssohns Intrumentalwerk als zu
glatt und Poliert, vermissten in ihnen echte Auseinandersetzungen geistlicher und
musikalischer Art, wie man das bei deutscher Intrumentalmusik für selbstverständlich
hielt. Da man derartige Ansprüche nur sehr schwer an schlichte Chorwerke stellen kann
und die zahlreichen Chorvereinigungen sich gern nach schlichten, dabei wohllautenden
Werken umtun, sind Mendelssohns geschmeidig geschriebene, gutklingende acappella-Chöre schnell volkstümlich geworden"
In den Klavierliedkapiteln heisst es wiederum:
"Von Mendelssohns Klavier-Liedern ist man - nach der erstaunlichen Hochschätzung im
19. Jahrhundert - schon seit einem halben Jahrhundert abgerückt; ja man könnte sagen,
die wachsende Scheu vor dem Klavierlied habe sich erstmals deutlich bei
Mendelssohns Liedern gezeigt. Das allzu Glatte, Gefühlsselige dieser Weisen spricht
nicht mehr an. Rein kompositorisch bleibt ebenfalls vieles unbefriedigend. (...) So wie er
einige Hefte seiner Klavierstücke "Lieder ohne Worte " nannte, könnte man seine
meisten Klavierlieder als "Klavierstücke mit Worten" bezeichnen".
Intermezzo VII: Vom deutschen Hausbuche
Otto Schumann wurde im Jahre 1897 geboren. Er studierte Musikwissenschaft an den
Universitäten Frankfurt am Main und Leipzig. Danach war er als Musikkritiker
„zahlreicher“ Zeitungen und Publizist tätig. Otto Schumann starb im Jahre 1981.
Die akademische Ausbildung in Zeiten der Republik, die Vielzahl daraufhin
erfolgender Veröffentlichen, die Kontinuität des Publizierens in Zeiten des
Nationalsozialismus und der BRD, versinnbildlichen somit den Lebensweg eines
unbeirrbar deutschen bildungsbürgerlichen Intellektuellen oder vielmehr: eine klassische
deutsche Sachbuchkarriere des 20. Jahrhunderts.
Publikationen Otto Schumanns u. a.:
Meyers Opernbuch, Leipzig, 1938; Meyers Konzertführer, Leipzig, 1938; Geschichte der
deutschen Musik, Leipzig, 1940; Albert Lortzing, 1801-1851, Leipzig, 1941,
Neupublikation Opernbuch, Berlin, 1948; Neupublikation Opernbuch, Wilhelmshaven,
1948; Orchesterbuch, Berlin, 1949;
137
Die jüngere Cambridger Liedersammlung, Torino, 1950; Schumanns Schauspielbuch,
Wilhelmshaven, 1950, Wiederauflage [Schauspielbuch], Wilhelmshaven, 1951;
Schumanns
Kammermusikbuch,
Wilhelmshaven,
1951;
Klaviermusikbuch,
Wilhelmshaven, 1952; Schumanns Chormusik- und Klavierliedbuch, Wilhelmshaven,
1953; Neupublikation Opernbuch ,Wilhelmshaven, 1954; Neupublikation Handbuch der
Orchestermusik, Wilhelmshaven, 1954, Kleine lateinische Formenlehre, Frankfurt am
Main 1954, Das Manuskript, Wilhelmshaven, 1954;
Wiederauflage Handbuch der Kammermusik, Wilhelmshaven, 1956; Neupublikation
Schauspielbuch, Stuttgart, 1958; Ich weiß mehr über die Operette und das Musical,
Wilhelmshaven, 1961; Wege zum Musikverständnis, Olten 1963; Wiederauflage
Handbuch der Klaviermusik, Otto. Wilhelmshaven, 1969; Wiederauflage Handbuch der
Opern , Wilhelmshaven, 1972; Quellen und Forschungen zur Geschichte des Orgelbaus
im Herzogtum Schleswig vor 1800, München, 1973; Wiederauflage Das Manuskript,
Wilhelmshaven, 1977; Wiederauflage Handbuch der Klaviermusik, Wilhelmshaven,
1977; Neupublikation Opernführer, Reinbek bei Hamburg, 1982; Neupublikation/ Imprint
Handbuch der Klaviermusik Schumann, München, 1982; Imprint bei Pawlak, Der große
Konzertführer Herrsching, 1982; Imprint bei Pawlak Der große Schauspielführer,
Herrsching 1983; Imprint bei Pawlak Der große Opern- und Operettenführer Herrsching,
1983; Handbuch der Kammermusik, Herrsching 1983; Neupublikation Das Manuskript
unter Grundlagen und Technik der Schreibkunst, Herrsching 1983; Wiederauflage
Imprint Der große Schauspielführer, Herrsching 1987; Wiederauflage Opernführer,
Reinbek bei Hamburg, 1989; Grundlagen und Techniken der Schreibkunst, Hamburg,
1995; Der neue Literaturführer, Weyarn, 1996.
Im Jahre 1955 legte der Musikjournalist und Autor Hans Schnoor ein musikalisches
Hausbuch mit dem Titel "Oper, Operette, Konzert" vor. Schnoor war in den Jahren 193345 als Musikkritiker tätig, dessen Rezensionen mit der Regimeideologie konform gingen.
Prieberg atestiert auch dem Nachkriegswirken Schnoors "antisemitischen Unterton"
und "Vokabular des NS-Journalismus von ehedem". Dies geschah wohl zu recht, da
man Schnoor bereits im Jahre 1956 in einer Sendung des Südwestfunks Baden Baden
"nationalsozialistische Musikkritik" attestierte. Schnoor führte daher einen Prozess
gegen den Sender, doch die Gerichte gaben dem Ausdruck in einem mehrjährigen
Verfahren als "Wahrnehmung berechtigter Interessen, zumal sich die Absicht einer
Beleidigung weder aus der Form noch aus den Umständen ergibt" statt. Wie berechtigt
die Attestierung "nationalsozialistischer Musikkritik" erfolgte, zeigt auch die Tatsache,
dass Schnoor in einem Buch über zeitgenössische Musik unausgesetzt von
"Negermusik" spricht, wenn es um den von ihm ungeliebten Jazz geht.
Schnoor engagierte sich im III.-Reich des Weiteren in einer vom Amte Rosenberg ins
Leben gerufenen "Arbeitsgemeinschaft deutscher Musikkritiker". Dort war er nicht nur
als lokaler Funktionär, als Leiter der Ortsgruppe Dresden, sondern auch als Organisator
und Referent von Vortragsabenden tätig. Weitere Aktivitäten Schnoors zu
"Reichszeiten" galten u. a. Artikeln wie jenem: Peinliche Ehrenrettung des "Riemann".
"Deutsche Juden im neuen Musiklexikon". Dresdner Anzeiger, Nr. 73, 15. März 1939
138
In besagter Publikation "Oper Operette Konzert" aus dem Jahre 1955, 29. Auflage 342 361. Tausend, Bertelsmann Lesering 1962) wird das Mendelssohn-Bild dann auch
erwartungsgemäss in jene bekannte Schieflage gebracht, ja vom Verfasser
stellenweise als gänzlich verblasst umrissen. In dem, den einzelnen
Komponistenportraits vorangestellten musikgeschichtlichen Umriss kommt das Wirken
des Felix Mendelssohn Bartholdy in den relevanten Kapiteln "Revolution und Romantik"
bzw. "Strömungen im 19. Jahrhundert" gar nicht erst zur Sprache.
"Über Beethoven, Weber, Berlioz, Liszt hinaus, kündigt sich das Jahrhundert Richard
Wagners an, das seine sinfonische Auflösung nach 2 Richtungen sucht: in den Werken
von Bruckner und Brahms. Mit diesen namen ist eigentlich alles bezeichnet, was bis zu
Wagners Tode (1883) schöpferisch am werke bleibt, ohne unter den Einflüssen des
nihilistischen 19. Jahrhunderts zu verzagen"
In Sätzen wie jenen, verurteilt Schnoor das ausserhalb des Spektrums der genannten
Komponisten liegende zu musikgeschichtlicher Bedeutungslosigkeit. Wenig später
referiert Schnoor in sattsam vertrauter, entwertender, stereotypischer Weise über den
Komponisten Felix Mendelssohn und stellt des Weiteren das Ideal des humanistischen
Menschenbildes, welches dessen Musik prägt, in Frage:
"Mendelssohn war unbestritten die musikalische Autorität der Biedermeierzeit. (...) Das
konzertierende Vituosentum zehrte von seinem ausserordentlich vielfältigen Schaffen
ebenso wie die Hausmusik und der Kantor auf dem Lande. Was Mendelssohn und die
Mendelsohnianer mit Ihrer zur Glätte und Unverbindlichkeit, tieferen und echteren
Konflikten ausweichenden Kunst boten, entsprach genau den Bedürfnissen eines
selbstzufriedenen Publikums" (...) Erst Wagner und Brahms haben das Ideal des
"Mendelssohnschen Menschen" fragwürdig gemacht, und in unserer Zeit zeugen meist
nur noch vergilbte Blätter vom geschichtlichen Dasein einer biedermeierlichen
Romantikertums, dessen liebenswerte Seiten bis heute nachwirken."
Weitere Tätigkeitsnachweise Hans Schnoors vor und während des Krieges waren u. a.
Musikredakteur der "Neueste(n) Nachrichten" im Jahre 1922, "Leipziger Tageblatt" in
den Jahren 1923 - 25, "Dresdner Anzeiger" in den Jahren 1926 - 45. Des Weiteren
veröffentlichte er in den späten 30ssiger Jahren auch einen umfangreichen, 2-bändigen
Führer durch den Konzertsaal.
30. Der Ausweg des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit oder
vom Ende der "zeitlosen" Zeit
In den 50ziger Jahren kehrten auch vermehrt Emigranten nach Deutschland zurück,
welche sich einem neuen und besseren Deutschland zur Verfügung zu stellen sich
verpflichtet fühlten. Gegen ein Konglomerat vorbelasteter Koryphäen der Bereiche
Musik, Literatur, Theater, Film und Akademie, welche sich in Zeiten des Regimes im
Stande von Funktionären oder Mitläufern graduierten und profilierten hatten die
Remigranten stets einen schweren Stand.
139
Die Namen derer, welche, ausgeschlossen aus den etablierten Kollegenzirkeln
verbleibend, künstlerisch und institutionell untergraben, gemobbt, in einem Klima
erstarkender politischer Konservative und Kalten Krieges publizistisch und
parlamentarisch angefeindet, aus Positionen geekelt wurden, sind Legion.
Das Schicksal des Film- und Theaterregisseurs William Dieterle sei stellvertretend für
andere
genannt:
Dieterle,
seinerzeit
ein
hochprominenter,
erfolgreicher
Hollywoodregisseur kehrte Mitte der 50ziger Jahre nach Deutschland zurück und
inszenierte im Schauspielhaus Frankfurt, am Württembergischen Staatstheater
Stuttgart, bei den Salzburger Festspielen, am Stadttheater Basel, am Schillertheater in
Berlin, am Schauspielhaus Essen, am Zürcher Schauspielhaus sowie bei den Bad
Hersfelder Festspielen. Die wenigen Filme, welche er, nach glänzender Karriere in
Hollywood, in Europa realisierte, wurden von konservativ-reaktionären Kreisen in der
BRD als "deutschfeindliche" Machwerke eines nach Hollywood emigrierten
Vaterlandsveräters diffamiert oder erwiesen sich als Publikumsflop. Erfolgreicher war er
als Regisseur von Fernsehfilmen, welche oftmals als Aufzeichnung seiner
Bühneninszenierungen entstanden. Anfang der 60ziger Jahre übernahm er erfolgreich
die Intendanz der Bad Hersfelder Festspiele. Widerum nahmen konservativ-restaurative
Funktionäre und Medien Anstoss an seinem Wirken. Man verübelte ihn u.a. den von ihm
initiierten Theateraustausch mit der DDR sowie die Bevorzugung junger Schauspieler zu
Lasten "grosser" Namen, welche sich aber zum Teil durch Karrieren in der NS-Zeit
diskreditiert hatten.
Schliesslich wurde ihm sein Vertrag im Jahre 1965 nicht verlängert. Pläne, andere
Bühnen als Intendant zu übernehmen sowie Rückkehr-Bestrebungen nach Hollywood
zerschlugen sich. Ein Prozess gegen die Stadt Bad Hersfeld wegen ungerechtfertiger
Kündigung seines Vertrages als Intendant wurde verloren. Die Medien begannen, ihn
und sein Wirken zunehmend zu ignorieren. Im Jahre 1966 übernahm er das
Tournéetheaterunternehmen "Der grüne Wagen", ein Schritt, der langfristig sehr an
seiner Gesundheit und seinen Finanzen zehren sollte. Dieterle Starb am 8. Dezember
1972 an einer Erkältungskrankheit nach dem er gegen das Interesse seiner Gesundheit
für einen erkrankten Schauspieler in einer Produktion des "grünen Wagens einsprang
und sich somit körperlich ruinierte. Sie Beisetzung erfolgte im engsten Freundes- und
Familienkreise auf dem Friedhof von Ottobrunn in der Nähe von München.
Wie sollte der hochgebildete jüdische Musikpublizist Alfred Einstein da mit
nachdenklicheren Tönen bezüglich schwindender Mendelssohnrezeption in der BRD
gegenzuhalten vermögen? Jener Musikwissenschaftler, dem wir u. a. eine seinerzeit
hochrenommierte Mozartbetrachtung verdanken, welcher zuerst nach England und
dann in die Vereinigten Staaten emigrierte und dort unausgesetzt publizistisch tätig
blieb.
In "Die Musik der Romantik", erschienen in Wien im Jahre 1950, stellte er in verhaltenanalytischer Vorgehensweise die Spezifika und Elemente eindeutig heraus. Jene
Spezifika, welche die unausgesetzt humane Ansprache durch die Musik Mendelssohns
und somit den potentiellen Langzeitwert seines Wirkens bedingen, Es ist zugleich ein
demonstrativ vorgebrachtes Plädoyer gegen die sonstig unausgesetzt repetierten
Stereotypen von Glätte, Kälte und rein formeller Perfektion. Es heisst darin:
140
"Die Ebenmässigkeit der Form seiner Sätze und seiner Zyklen ist nicht zu übertreffen;
aber über allen seinen Äusserungen glänzt etwas subjektives, rein romantischer
Schimmer, im Gefühlhaften – die Nachwelt nannte es Sentimentalität -, in einer
Mischung von Grazie und Humor, die, wenn ins Objektive gewendet oder gedeutet, als
die Elfenmusik seiner "Sommernachtstraum"-Ouvertüre erscheint, und schliesslich in
einer Leidenschaftlichkeit, die romantisch wirkt durch eine Art von Ziellosigkeit".
Und darin schliesslich findet sich der unverbildet hörende Mensch unserer Zeit in der
Musik des Felix Mendelssohn wieder. Wie in dem Kapitel, welches sich dem einstigen
ephemerischen Glückskinde widmete bereits erwähnt, waren die Umstände wahrhaftig
materieller und künstlerischer Prosperität nur eine Folie äusserlicher Wahrnehmung. Da
er, von den letzten beiden Lebensjahren einmal abgesehen, gesellschaftlich,
musikalisch und familiär perfekt funktionierte, den Ansprüchen hundertprozentig
genügte, teilte sich die Verlorenheit, welcher sich Felix Mendelssohn dessenungeachtet
mit jedem Lebensjahre zunehmend überantwortet fühlte, nur durch seine Musik mit. Er
vermochte die Zeit und damit die Zeitenwende nicht aufzuhalten. Agressiver
Kapitalismus, Industrialisierung und maschinelle Rationalisierung, das heranwachsen
molochartiger Grossstädte, politische Radikalisierung der gegeneinander agitierenden
revolutionären Parteien und prosperierender Nationalismus brachte diese eindeutig mit
sich.
Die humanistischen Ideale der Aufklärung, oder besser gesagt, der aufgeklärten
Bildungsbürgerschaft, welche ihn zeitlebens prägten, denen er sich verpflichtete, die
Wertschätzung gesellschaftlichen und menschlichen Ausgleichs, intellektueller, sittlicher
und religiöser Bildung,
die Veredelung des Menschen durch die klassischen
künstlerischen Erfahrungswerte des Wahren, schönen und Guten, verloren zunehmend
an Wert. Auch die Achtung vor der Kreatur und der in zahllosen Dicherworten so
eindringlich verherrlichten natürlichen Umgebung des Menschen schwand. Die
Menschen, die ihn prägten, die ihn auf seinem Lebensweg begleiteten, waren nahezu
alle dahingegangen: Zelter, sein bewunderter Lehrer, Goethe, der kindlich verehrte
Dichterfürst und Mentor, die Eltern Abraham und Lea, zuletzt Fanny, die seelisch und
musikalisch kongenial prädestinierte Schwester. Was sollte er in dieser neuen Zeit
vermögen, was konnte sie ihm bringen, er ihr geben?
Das Zeitalter der "Zeitlosigkeit", von der Heinrich Eduard Jacob in seinem Buche "Felix
Mendelssohn Bartholdy und seine Zeit" spricht, war zu Lebzeiten Mendelssohns zu
Ende gegangen. Jenes Zeitalter bedingte einstmals die Abkehr von tagespolitischem
Rumor, vom den nationalistischen Exzessen der Burschenschaften, der Revolution, der
Reaktion und anderen Beunruhigungen in deutschen Landen, also den vielfältigen
oftmals kurzlebigen Vorfällen von
"Zeit" zugunsten der Bewahrung und
Vervollkommnung des "Zeitlosen". Das Leben und Werk Johann Wolfgang von Goethes
stand dafür Pate und Modell. Im Todesjahre 1847 befand sich das Leben des Felix
Mendelssohn somit in einer substanziellen Krise. Briefe, welche in diesem Jahre
verfasst wurden künden von tiefen Depressionen. So schrieb Felix Mendelssohn im
Sommer 1847:
"Wenn Menschen kommen und durcheinander sprechen, von allen Alltäglichkeiten und
von Gott und der Welt, so wird mir gleich so unsäglich traurig zumute, dass ich gar nicht
weiss, wie ich´s aushalten soll."
141
Nachfolgend bekundet er noch einmal dezidiert das Ende einer Ära; den Niedergang der
"Zeitlosigkeit" der klassizistisch-humanistischen Epoche:
"Ein grosses Kapitel ist nun eben aus, - und von dem nächsten ist weder die
Überschrift, noch das erste Wort bis jetzt da. Aber Gott wird es schon recht machen;
dass passt an den Anfang und den Schluss von allen Kapiteln."
Dem grossen Rembrandt in Carl Zuckmayers inspiriertem, feinfühlig nachgestaltendem
gleichnamigen Historien-Script resümierte Mendelssohn, wie auch jener, am Ende
seines Lebens das fatalistisch substanzielle Predigerwort Salomons von der Eitelkeit,
Müssigkeit allen menschlichen Tuns aus dem alten Testament. Es kommt nicht von
ungefähr, das uns diese letzten Jahre die erhabensten, von höchster melancholischer
Intensität erfüllten Werke des Komponisten beschieden. Dennoch blieb Felix
Mendelssohn Bartholdy dem neuanbrechenden Zeitalter die Antwort, was er diesem
spezifisch zu geben vermocht hätte, letztendlich schuldig. Er hat diese Krise nicht
überstanden und starb, bevor es ihn vollends zu erreichen vermochte. Und so schrieb
der Mendelssohn-Zeitgenosse Werner A. Lampadius zum Tode des Komponisten im
Nachruf so trefflich:
"Denn mit ihm ist für jetzt der letzte classische Geist aus Germaniens grosser
Bildungsepoche seiner irdischen Behausung entflohen.“
Welcher Mensch auch unserer Tage kennt es nicht, hat es nicht selbst schon einmal
erfahren: die Situation vollendeter Ausweglosigkeit, das Gefühl, das Leben gleite ihm in
allen Bereichen unaufhaltsam aus den Händen, den Zweifel am Sinn bisherigen Tuns
und künftigen Strebens, die von Einstein feinfühlig bemerkte substanzielle Ziellosigkeit?
Dies, das Erspüren, Erleiden, Durchleben; das solidarische Mitfühlen und Überliefern
einer fragilen Conditio Humana in der Sprache der Musik wie auch das Bemühen
"zeitloses" musikalisch exemplarisch festzuschreiben und somit den Mitmenschen für
alle Zeit erfahrbar zu machen, ist die Aktualität, der Jetztzeitwert, welcher der Musik
Felix Mendelssohns unausgesetzt inne wohnt. Dies also ist ihre Botschaft an uns und
Nachgeborene!
Ulrich Schreiber resümiert das "Schicksal des Komponisten Felix Mendelssohn
Bartholdy" in seiner Betrachtung "Die Unbequemheit eines romantischen Klassizisten"
aus dem Jahre 1972 auf dem Cover einer Aufnahme der "Schottischen Symphony" mit
dem Gewandhausorchester unter Kurt Masur (Eurodisc/ Bertelsmann Club Ed. 1972)
denn auch mit vergleichbarem Resultat. Resignierend verweist er auf den hohen
Symbolcharakter Mendelssohn´schen Lebens und Wirkens für die Befindlichkeiten, das
Sein oder Nichtsein eines prosperierenden, den gesellschaftlichen, kulturellen und
historischen Konsens erstrebenden deutschen Vaterlandes. Somit verdeutlicht sich der
Status Quo Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert - am Vorbilde Felix Mendelssohn
gemessen - in nahezu erschreckendem Ausmasse. Ein Deutschland - geeint oder nicht
- das den strebsamen Humanisten Felix Mendelssohn Bartholdy nicht zu ertragen fähig
war, krankte an sich selbst und konnte somit keinen Bestand und keine Zukunft haben.
Eine Tatsache, welche die plangemäss vollführte Vernichtung von Millionen
Menschenleben und die Verheerungen an nahezu allem architektonisch-historisch
gewachsenem Kulturerbe auf deutschem Boden, anschaulich hervorheben.
142
(Es) "begann eigentlich erst nach seinem Tod ein spezifisch deutsches zu werden. (...)
Was diesem kurzen Menschenleben in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
widerfuhr, war die Konkretisierung der Popularphilosophie seines Grossvaters Moses
Mendelssohn (...), Konkretisierung einer Lebensphilosophie, die - wäre sie nicht nur
Vorschuss bis zum Lebensende gewesen - die Zukunft Deutschlands über die zweite
Hälfte des vorigen Jahrhunderts bis zu unserer Zeit hin hätte prägen können als eine
Synthese der Kantschen Aufklärungsphilosophie, als Ausweg des Menschen aus seiner
selbstverschuldeten Unmündigkeit. (...) Doch der Weg der Menschheit ist nicht jener der
Vernunft, nicht jener, der aus der Unmündigkeit herausführt. Mendelssohn, der als
Siebenjähriger protestantisch getauft wurde, hat vielleicht nur ein einziges Mal erfahren,
daß die deutsche Philosophie zwar für die Vernunft und gegen die Unmündigkeit focht,
daß sie aber kein Mittel besaß, einer Machtergreifung vorzubeugen, (...) als deren Folge
Vernunft und Mündigkeit ihres universal-humanen Wirkungshorizontes beraubt und zum
reinen Verfügungsobjekt einer sich rassisch auserkoren dünkenden Schicht werden
wurde".
Nachfolgend verweist Schreiber auf jenes einschlägige Zelterwort vom "Judensohne",
lässt dabei aber die Anwürfe auf den Strassen Berlins und Dobberans ausser Acht.
Der Zwiespalt, welcher sich - Zelters Worten zufolge - zwischen den Positionen
Deutscher und Jude, Jude und Taufe, Lehrer und Meisterschüler unverkennbar auftat,
wird in der Biographie Mendelssohns allein dadurch offenbar, das jener sein
Deutschsein gerade in früher erwähntem Schreiben an den Lehrer exemplarisch für sich
einforderte.
Schreiber kommt denn auch folgerichtig auf die vermeintliche Unvereinbarkeit all dieser
Begriffe und Daseinszustände zu sprechen:
"Dass dieser Ausspruch zu einem hoffnungslosen Stigma werden sollte, wissen erst die
weit nach Mendelssohn geborenen: dass die einen ihn als Juden reklamierten, wo doch
in seinem Werk sich nicht ein einziger Takt von Synagogenanklängen findet, und dass
die anderen ihn als Christen für sich forderten, wo er doch Zeit seines Lebens sich nur,
und um so stärker, je weiter er auf seinen Reisen von der Heimat entfernt war, als
Deutscher fühlte."
Intermezzo VIII: Es ist alles ganz eitel und ein Haschen nach Wind
Dies sind die Reden des Predigers des Sohnes
Davids, des Königs zu Jerusalem:
Es ist alles ganz eitel, sprach der Prediger, es ist alles ganz eitel.
Was hat der Mensch für Gewinn von all seiner Mühe, die er hat unter der Sonne?
Ein Geschlecht vergeht, das andere kommt; die Erde bleibt aber ewiglich. Die Sonne
geht auf und geht unter und läuft an ihrem Ort, dass sie wieder daselbst aufgehe.
143
Der Wind geht gen Mittag und kommt herum zur Mitternacht und wieder herum an den
Ort, da er anfing. Alle Wasser laufen ins Meer, doch wird das Wasser nicht voller;
an den Ort, da sie her fliessen, fliessen sie wieder hin.
Es sind alle Dinge so voll Mühe, dass es niemand ausreden kann.
Das Auge sieht sich nimmer satt, und das Ohr hört sich nimmer satt.
Was ist´s, das geschehen ist? Eben das hernach geschehn wird.
Was ist´s, das man getan hat? Eben das, was man hernach wieder tun wird;
und geschieht nichts neues unter der Sonne.
Geschieht auch etwas, davon man sagen möchte: Siehe, das ist neu?
Es ist zuvor auch schon geschehen in den langen Zeiten, die vor uns gewesen sind.
Man gedenkt nicht derer, die zuvor gewesen sind; also auch derer,
so hernach kommen, wird man nicht gedenken bei denen, die darnach sein werden.
Ich, der Prediger, war König über Israel zu Jerusalem und richtete mein Herz,
zu suchen und zu forschen weißlich alles, was man unter dem Himmel tut.
Solche unselige Mühe hat Gott den Menschenkindern gegeben, dass sie
sich darin müssen quälen. Ich sah an alles Tun, das unter der Sonne geschieht; und
siehe, es war alles eitel und haschen nach Wind. (...)
Und richtete auch mein Herz darauf, dass ich erkenne Weisheit und erkenne Tollheit
und Torheit. Ich ward aber gewahr, dass solches auch haschen nach Wind ist.
Denn wo viel Weisheit ist, da ist viel Grämens; und wer viel lernt, der muss viel leiden.
Ich sprach zu meinem Herzen: Wohlan, ich will wohl leben und gute Tage haben!
Aber siehe, das war auch eitel. (...)
Ich tat grosse Dinge: ich baute Häuser, pflanzte Weinberge; (...) ich hatte
Knechte und Mägde und auch Gesinde, (...) ich hatte eine grössere Habe an
Rindern und Schafen denn alle, die vor mir in Jerusalem gewesen waren;
ich sammelte mir auch Silber und Gold und von den Königen und Ländern einen Schatz
(...) und nahm zu über alle die vor mir zu Jerusalem gewesen waren (...)
und alles, was meine Augen wünschten, dass liess ich ihnen und wehrte meinem
Herzen keine Freude, dass es fröhlich war von all meiner Arbeit;
und das hielt ich für mein Teil von aller meiner Arbeit.
Da ich aber ansah alle meine Werke, die meine Hand getan hatte und die Mühe, die ich
gehabt hatte, siehe, da war es alles eitel und haschen nach Wind
und kein Gewinn unter der Sonne.
144
Da wandte ich mich zu sehen die Weisheit und die Tollheit (...).
Da sah ich, dass die Weisheit die Tollheit übertraf wie das Licht die Finsternis;
dass dem Weisen seine Augen im Haupt stehen, aber die Narren
in der Finsternis gehen; und merkte doch, dass es einem geht wie dem anderen.
Da dachte ich in meinem Herzen: Weil es denn mir geht wie dem Narren,
warum habe ich denn nach Weisheit getrachtet?
Da dachte ich in meinem Herzen, dass solches auch eitel sei.
Denn man gedenkt des Weisen nicht immerdar, ebensowenig wie des Narren,
und die künftigen Tage vergessen alles; und wie der Narr stirbt, also auch der Weise.
Darum verdross mich zu leben; denn es gefiel mir übel,
was unter der Sonne geschieht, dass alles eitel ist und Haschen nach Wind.
Und mich verdross alle meine Arbeit, die ich unter der Sonne hatte,
dass ich dieselbe einem Menschen lassen müsste, der nach mir sein sollte.
Denn wer weiss, ob er weise oder toll sein wird? Und soll doch herrschen in aller
meiner Arbeit, die ich weißlich getan habe unter der Sonne. Das ist auch eitel. (...)
Denn es muss ein Mensch, der seine Arbeit mit Weisheit, Vernunft
und Geschicklichkeit getan hat, sie einem andern zum Erbteil lassen,
der nicht daran gearbeitet hat. Das ist auch eitel und ein grosses Unglück.
Denn was kriegt der Mensch von aller seiner Arbeit
und Mühe seines Herzens, die er hat unter der Sonne?
Denn alle seine Lebtage hat er Schmerzen mit Grämen und Leid,
dass auch sein Herz des Nachts nicht ruht. Das ist auch eitel. (...)
Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vornehmen
unter dem Himmel hat seine Stunde.
Geboren werden und sterben, pflanzen und ausrotten, was gepflanzt ist,
würgen und heilen, brechen und bauen, weinen und lachen, klagen und tanzen,
Steine zerstreuen und Steine sammeln, herzen und ferne sein von Herzen, suchen und
verlieren, behalten und wegwerfen, zerreissen und zunähen,
schweigen und reden, lieben und hassen,
Streit und Friede hat seine Zeit.
Man arbeite, wie man will, so hat man keinen Gewinn davon. Ich sah die Mühe,
die Gott den Menschen gegeben hat, dass sie darin geplagt werden,...
145
denn der Mensch kann doch nicht treffen das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch
Ende (...) Was geschieht, das ist zuvor geschehen, und was geschehen wird, ist auch
zuvor geschehen; und Gott sucht wieder auf, was vergangen ist. (...)
Ich sprach in meinem Herzen: Es geschieht wegen der Menschenkinder,
auf dass Gott sie prüfe und sie sehen, dass sie an sich selbst sind wie das Vieh.
Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh: wie dies stirbt, so stirbt er auch,
und haben alle einerlei Odem, und der Mensch hat nichts mehr als das Vieh;
denn es ist alles eitel.
Es fährt alles an einen Ort; es ist alles von Staub gemacht und wird wieder zu Staub.
Wer weiss, ob der Odem der Menschen aufwärts fahre und der Odem des Viehs
unterwärts unter die Erde fahre?
So sah ich denn, dass nichts besseres ist, als dass ein Mensch fröhlich sei in seiner
Arbeit, denn das ist sein Teil. Denn wer will ihn dahin bringen, dass er sehe, was nach
ihm geschehen wird? (...)
Ich sah an Arbeit und Geschicklichkeit in allen Sachen; da neidet
einer den andern. Das ist auch eitel und haschen nach Wind. (...)
Ich wandte mich und sah die Eitelkeit unter der Sonne. Es ist ein
einzelner (...) und hat weder Kind noch Bruder; doch ist seines Arbeitens
kein Ende, und seine Augen werden Reichtums nicht satt.
Wem arbeite ich doch und breche meiner Seele ab? Das ist auch eitel und eine böse
Mühe. (...) Wo viel Träume sind, da ist Eitelkeit und viel Worte; aber fürchte du Gott. (...)
Wer Geld liebt, wird des Geldes nimmer satt; und wer Reichtum liebt,
wird keinen Nutzen davon haben. Das ist auch eitel. (...)
Denn der Reiche kommt um mit grossem Jammer, (...) wie er nackt ist von
seiner Mutter Leibe gekommen, so fährt er wieder hin, wie er gekommen ist,
und nimmt nichts mit sich von seiner Arbeit in seiner Hand, wenn er hinfährt.
Das ist ein böses Übel, dass er hinfährt, wie er gekommen ist.
Was hilft´s ihm denn, dass er in den Wind gearbeitet hat? (...)
Einer, dem Gott Reichtum, Güter und Ehre gegeben hat und mangelt ihm keins, das
sein Herz begehrt; und Gott gibt doch ihm nicht Macht, es zu geniessen, sondern ein
anderer verzehrt es; das ist eitel und ein böses Übel. (...)
Es ist besser, das gegenwärtige Gut gebrauchen, denn nach anderem gedenken.
Das ist auch Eitelkeit und haschen nach Wind. (...)
146
Das habe ich alles gesehen, und richtete mein Herz auf alle Werke, die unter der Sonne
geschehn. Ein Mensch herrscht zuzeiten über den andern zu seinem Unglück.
Und da sah ich Gottlose, die begraben wurden und zur Ruhe kamen;
aber es wandelten hinweg von heiliger Stätte und wurden vergessen
in der Stadt die, so recht getan hatten. Das ist auch eitel. (...)
Es ist eine Eitelkeit, die auf Erden geschieht: es sind Gerechte,
denen geht es, als hätten sie Werke der Gottlosen - und sind Gottlose,
denen geht es, als hätten sie Werke der Gerechten. Ich sprach: Das ist auch eitel. (...)
Frühe säe deinen Samen und lass deine Hand des Abends nicht ab; denn du weisst
nicht, ob dies oder das geraten wird; und ob beides geriete, so wäre es desto besser.
Es ist das Licht süss, und den Augen lieblich, die Sonne zu sehen.
Wenn ein Mensch viele Jahre lebt, so sei er fröhlich in ihnen allen und gedenke
der finstren Tage, dass ihrer viele sein werden, denn alles, was kommt, ist eitel.
So freue Dich, Jüngling, in deiner Jugend und lass dein Herz guter Dinge sein
in Deiner Jugend. Tue, was Dein Herz gelüstet und deinen Augen gefällt (...)
Lass die Traurigkeit aus deinem Herzen und tue das Übel
von deinem Leibe; denn Kindheit und Jugend sind eitel.
Gedenke an deinen Schöpfer in deiner Jugend, ehe denn die bösen Tage kommen
und die Jahre herzutreten, da du sagen wirst: sie gefallen mir nicht;
ehe denn die Sonne und das Licht, Mond und Sterne finster werden
und Wolken wieder kommen nach dem Regen; (...)
wenn man auch vor Höhen sich fürchtet und sich scheut auf dem Wege;
wenn der Mandelbaum blüht, und die Heuschrecke beladen wird,
und alle Lust vergeht (denn der Mensch fährt hin (...) und die Klageleute gehen umher
auf der Gasse) (...) Denn der Staub muss wieder zu der Erde kommen, wie er gewesen
ist. (...)
Es ist alles ganz eitel, sprach der Prediger, ganz eitel.
Die Lektüre dieses erhabenen alttestamentarischen Textes verdeutlicht, wie folgerichtig
Felix Mendelssohn Bartholdy denselben kurz vor seinem Tode rezitierte. Reflektiert sich
doch dessen gesamter Lebenswandel oder das Spektrum seines Lebens bishin zu der
unmittelbaren seelischen Befindlichkeit der letzten Monate in hoher Affinität in diesen
Versen. Die Lektüre lässt uns auch massgeblich an der ethischen Persönlichkeit
Mendelssohn teilhaben. Sie zeigt uns somit auch den tiefgläubigen Menschen, welcher
sein ganzes Leben dem Predigerworte gemäss verbrachte.
147
Sich in maßgeblicher ethischer Selbstverpflichtung, bishin zu Überlastung und
Überarbeitung seiner musikalischen und somit humanistischen Tätigkeit, dabei "fröhlich
war in seiner Arbeit" und somit der Aussendinge, der "Eitelkeiten" wenig achtete.
Oh ja, Felix Mendelssohn Bartholdy hatte die Jahre der Jugend, stetigen musikalischen
Wirkens zum Trotze, wahrlich genossen, sich "ihrer erfreut" und "liess sein Herz guter
Dinge sein". Ehe denn die "bösen Jahre kamen", welche ihm nach und nach die
Mitglieder seiner Familie und andere geliebte Menschen vor der Zeit rauben sollten.
"Eitel" erschienen am Ende seines Lebens die Jahre jugendlicher Freuden und jene
erfolgreichen, musikerfüllten Mannestums.
Nichtig war ihm der Reichtum, den man ihm noch so häufig zum Vorwurf machen sollte.
Mendelssohn achtete des Geldes, der irdischen Güter nicht und verwandte es stets zum
Wohle der Familie, der ihm unterstellten Musiker, der Musik und anderen wohltätigen
Zwecken. Konnte es doch vom Streben eines ethisch angeleiteten Herzens nach
menschlicher Vollendung nicht für einen Augenblick freikaufen; es lediglich auf dem
Wege der Vervollkommnung begleitend und unterstützend zur Geltung kommen.
Nichtig erschien ihm am Ende seines Lebens auch sein musikalisches Schaffen, sein
unaufhörliches Bemühen um das Wohl des deutschen Musiklebens, mit welchem er
einstmals glaubte, zur Verschönerung der Welt, zur Verbesserung der Lebensumstände
auf ihr und in beitragen zu können. Nichtig, "eitel", ein vergebliches "haschen nach
Wind" erschien ihm nunmehr das Streben um Vervollkommnung der musikalischen
Form und des musikalischen Ausdrucks, jenes Elementes also, das man später so
oftmals in erklärter oder willfähriger Ächtung als "perfektionistische Glätte" seiner Musik
verunglimpfen sollte. Hätte er ahnen können, dass Wagner und Nationalsozialisten,
willfährige Musikwissenschaftler, Enzyklopädisten, Rezensenten und Adepten jedweder
Art es vermochten, die fatalistisch heraufbeschworene Nichtigkeit musikalischen
Mendelssohnschen Strebens nahezu dauerhaft zu bewahrheiten?
31. Grenzen in der Bedeutung dieser Musik
Gerhard von Westerman, als Musikfunktionär und Autor in den Kultur- und
Propagandabetrieb des "III. Reiches" seinerzeit fest eingebunden, legte im Jahre 1956
einen Konzertführer vor, welcher neben Hans Renners Standard-Veröffentlichung aus
dem Hause Reclam bis in die 70ziger Jahre hinein Allgemeinverbindlichkeit unter
Musikfreunden der BRD besass. Von Westerman war in der NS-Zeit als Intendant der
Berliner Philharmoniker tätig und gehörte im Jahre 1942 neben den Komponisten
Werner Egk und Paul Höffer, sowie Egon Kornrauth einer Kommission an, welche im
Auftrage des Propagandaministeriums über die publicityträchtige Verteilung finanzieller
Zuwendungen an zahlreiche prominente und nachgeordnete Komponisten zu befinden
hatte.
Er präsentiert in seinem Konzertführer Beschreibungen folgender Werke Mendelssohns:
des "Violinkonzertes in E-moll" op. 64., des "Klavierkonzertes in G-moll" op. 26, der
"Italienischen" und "Schottischen Symphony", der Ouvertüren "Hebriden", "Meeresstille
und Glückliche Fahrt", "Das Märchen von der schönen Melusine", und
"Sommernachtstraum"; sowie den Oratorien "Paulus" und "Elias" .
148
Dies stellt zugleich einen Überblick der Werkfolge, auf welche sich Felix Mendelssohns
umfangreiches Orchester- und Vokalschaffen in Westdeutschland nach 1945 reduzierte,
dar. Den Werkbetrachtungen gibt er einleitend Einschätzungen vorweg, welche alle
bislang dargelegten Traditionen und Stereotypen der Mendelssohn-Rezeption innerhalb
der Deutschen Musikwissenschaft der vergangenen 100 Jahre bruchlos fortschreiben.
Daneben stehen unumgänglich vorzubringende Worten der Relativierung unhaltbarer
Positionen des 19. Jahrhunderts sowie der Anklage von Nazi-Willkür. Es werden
Eischätzungen vorgelegt, welche im Anspruche abschliessenden endgültigen Urteils die
gültigen Invektiven der Mendelssohn-Verunglimpfung zusammenfassen:
"Sein Leben war ein einziger Siegeslauf. Die glänzende musikalische Begabung, die
ihm (...) Erfolge über Erfolge eintrug, das Liebenswürdige seiner Persönlichkeit, das ihm
aller Sympathien verschaffte, die finanzielle Unabhängigkeit durch den grossen
Reichtum seines Vaters (...) - alle diese Glücksumstände wirkten zusammen (...).
Gegenüber dem unsteten Stürmer und Dränger Schumann (...) wirkte der überaus
frühreife Mendelssohn ruhig und überlegen in der klassischen Formbeherrschung. (...)
Man hat Mendelssohn daraufhin eine gewisse inhaltsleere Glätte vorgeworfen (...). Die
Wiederbegegnung mit seinen Werken nach dem sinnlosen Verbot in der
nationalsozialistischen Zeit zeigte dann deutlich die Grenzen in der Bedeutung dieser
Musik. (...) Seine Melodien vermögen ebenso zu rühren wie zu bezaubern, seine Musik
vermittelt Freude und Entzücken, zu ergreifen oder gar zu erschüttern vermag sie
allerdings in den seltensten Fällen. In der kleinen Form, etwa in den reizenden Lidern
ohne Worte oder im virtuosen Stil (...) konnte Mendelssohn sein Bestes geben."
32. Sein Platz nach Beethoven und Brahms ist ehrenvoll genug
Im Jahre 1965 erschien das "Musiklexikon" der "Deutschen Buchgemeinschaft" als
Nachdruck eines vormals veröffentlichten Lexikons aus dem Hause Ullstein.
Herausgeber war Friedrich Herzfeld.
Das Ullstein/ DBG-Musiklexikon wurde, enzyklopädischen Gepflogenheiten gemäss,
von einem wissenschaftlichen Autorenteam erarbeitet, die Beiträge selbst verbleiben im Gegensatz zu Kompendien, welche den Artikeln zumindest ein Sigle zugestehen vollends in der Anonymität.
Erneut ist der Felix Mendelssohn Eintrag eines Lexikons insgesamt von
Geringschätzung des Sujets Mendelssohn geprägt. Er irritiert des weitern durch die
merkwürdige Gepflogenheit, biographische Fakten weniger zu präzisieren, sondern
lediglich lakonisch anzudeuten, als ob es der genaueren Darlegung nicht wert wäre.
"F. M. trug seinen Vornamen Felix zu Recht, denn das Leben zeigte sich ihm von seiner
lichten Seite. Der Reichtum des Elternhauses erlaubte vielseitige Ausbildung.
Mendelssohn.-Bartholdy wurde mit seiner Schwester Fanny im Klavierspiel unterrichtet.
(...)
149
1826, also mit 17 J.; komponierte M. die Ouvertüre zu Shakespeares
"Sommernachtstraum". Keines seiner späteren Werke konnte dieses geniale Stück
übertreffen. (...)
In solchen kleinen KlStücken (Klavierstücken, Anm. d. Verf.) zeigte sich M. von der
besten Seite. Als Zeugnisse seiner sensitiven Romantik entzücken sie durch
schmachtende Melodik und Formglätte. M.s Lieder ohne Worte waren daher für das
Bürgertum des 19. Jh. ideale HausMs. Gerade deshalb haben sie heute an Geltung
verloren. (...)
Eine Berufung als MusTheoretiker an die Berliner Univers. lehnte M. ab. Seiner
Bewerbung als Dirigent der Singakademie wurde nicht entsprochen. Daher trennte sich
M. von Berlin. (...)
M. offenbarte hier den Grundzug seines Tonschaffens: romantischen Ausdruck mit
klass. Form zu verbinden. Aus der Beschäftigung mit Bach erwuchsen für M. freilich
auch Gefahren, denn sein Kontrapunkt geriet nur äußerl. In grösseren W. blieb ein
Zwiespalt zwischen Form und Inhalt (...)
Die OrgelW. verblassten schnell. (...)
Nach der "Sommernachtstraum-Ouverture" war M. nie wieder so glücklich in der them.
Erfindung wie bei seinem VlKonz.e moll opus 64. Sein Platz nach Beethoven und
Brahms ist ehrenvoll genug. Ein halbes J. nach dem Tod der geliebten Schwester starb
M. ohne ersichtliche Krankheit."
"Diese Musik wurde ermordet" I
"Das Problem Mendelssohn" war demzufolge ein im Jahre 1972 von der musikwissenschaftlichen Autorität Carl Dahlhaus in Berlin veranstaltetes Symposium betitelt, das
sich, dem dramatischen Titel zuwiderlaufend, nüchterner Analyse dramaturgischer und
kompositionstechnischer Fragen von Mendelssohns Musik widmete. Das wahre
Problem Mendelssohn fasst Heinrich Eduard Jacob in seinem engagierten
Mendelssohn-Portrait "Felix Mendelssohn und seine Zeit" von 1958 denn auch
symbolträchtig zusammen:
”Musik, wie sich erwiesen hat, ist durchaus nichts unsterbliches. Aber wie jedes
Zeitalter, dessen innerster Ausdruck sie ist, hat sie Anspruch auf einen natürlichen Tod.
Die Musik Felix Mendelssohns ist keines natürlichen Todes gestorben. Sie wurde
ermordet.”
Musikwissenschaftler in der sozialistischen Deutschen Demokratischen Republik und
den USA bemühten sich ab Ende der 50ziger Jahre entschiedener um Relativierung und
grundlegende Neudefinierung eines vergangenheits- und gegenwartgerechten
Mendelssohn-Bildes. Die 2. Ausgabe der Zeitschrift "Musik und Gesellschaft" (DDR
1959) bezog sich in grossen Teilen auf den Anlass der Wiederkehr des 175.
Geburtstages des Komponisten.
150
Der Musikhistoriker Karl-Heinz Köhler, damals Leiter der Musikabteilung der "Deutschen
Staatsbibliothek Berlin" (Ost), legte darin erstmals einen Überblick der Jugendwerke vor,
welche auch die handschriftlich überlieferten, in der bisherigen Gesamtausgabe
ausgeklammerten Werke einbezog. Der Beitrag ging mit den Vorbereitungen der
"Leipziger Ausgabe der Werke F. M. B." einher, welche in den ersten Bänden
ausschliesslich unveröffentlichte Werke vorlegte und Mendelssohn somit in den Rang
anderer grosser Musiker erhob, die zeitgleich fundamentale, philologisch exakte
Gesamtausgaben erfuhren.
In einem anderen Beitrag setzte sich Georg Knepler eine auf
Prämissen
musikhistorischer Objektivität gründende Gesamtwürdigung des Lebens und Werkes
Mendelssohns zum Ziel, die auch das weitreichende Feld der Analyse von
Spezialfragen bezüglich Mendelssohns Wirken ansprach. Mit dem Essay unternahm
Knepler die Vorveröffentlichung von Passagen seiner umfassenden Musikgeschichte
des 19. Jahrhunderts aus dem Jahre 1961, welche die dringlich gebotene Auflösung
einheitlich verstandener Betrachtung von musikalischer Werk- und Rezeptionsästhetik
des späten 19. Jahrhunderts vornahm, die Riemanns Enzyklopädie so nachhaltig
prägte.
In den USA wirkten beispielsweise Eric Werner und Donald Mintz im Sinne einer
objektiven Neusicht auf das Oeuvre Mendelssohns. Neben zahlreichen Essays, welche
sich mit Spezialfragen des Sujets befaßten, legte Werner im Jahre 1963 eine Biographie
des Komponisten vor, die Erkenntnisse aus bislang unveröffentlichtem Briefmaterial
bezog und mittlerweile als Standardwerk eingeschätzt wird.
In der bereits herangeführten Betrachtung Ulrich Schreibers von der "Unbequemheit
eines romantischen Klassizisten" nimmt der westdeutsche Autor auch eine
Bestandsaufnahme vom Tageswert Mendelssohnscher Musik in den 70zigerJahren vor.
Dabei kommt in behutsam allegorischer Verklausulierung auch die massive Präsenz
ehedem
nationalsozialistisch
geprägter
Funktionäre
in
allen
Bereichen
bundesdeutschen Musiklebens zur Sprache.
"Sicherlich wäre es unsinnig, vom Deutschen Musikbetrieb eine Wiedergutmachung an
einem lange diffamierten Komponisten zu verlangen; denn dieser Musikbetrieb ist selbst
derart hoffnungslos stigmatisiert, dass von ihm keine Klärung seiner Zukunft über eine
Bewältigung der Vergangenheit zu erhoffen ist.
Denn eines steht fest: bis auf eine oder 2 Ouvertüren, bis auf eine oder 2 Symphonien,
bis auf das Violinkonzert schliesslich ist Mendelssohn heute tot. Seine Chormusik, seine
Streichquartette, seine Lieder ohne Worte, das alles ist vergessen, weil niemand sich
Gedanken darüber macht, dass in der Musik dieses klassischen Romantikers geradezu
paradigmatisch
das
zum
Ausdruck
kommt,
was
heute
noch
unser
Musikleben...ausmacht: eben die kanonischer Verbindung von Klassik und Romantik."
151
34. Das erreichbare Höchstmass an Glätte und Ausgeglichenheit...
Im Nachbarstaat Österreich wiederum ist die Tradition der Mendelssohn-Pflege unter
umgekehrtem Vorzeichen, also einschlägigen ästhetischen Vorbehalten gegen seine
Musik auch in neuerer Zeit zumindest partiell nachweisbar. Der Verlag „Jugend und
Volk“ (!) Wien beschied den im Verlagsnamen genannten Zielgruppen im Jahre 1970 im
„Symphoniekonzert – ein Stilführer durch das Konzertrepertoire“, daß: „die
Vollkommene Beherrschung der kontrapunktischen Technik und sein spezieller Sinn für
das Verbindliche (...) ihn (Mendelssohn) zu einem symphonischen Stil (führten), der das
erreichbare Höchstmass an Glätte und Ausgeglichenheit erzielte“
In der Betrachtung der 4. Symphony – die "Italienische" interpretiert der Autor Rudolf
Klein des Weiteren den Werkcharakter ausschliesslich aus schriftlich niedergelegten
Impressionen heraus, welche das Land Italien beim Komponisten hinterliess.
Klein behauptet, daß „für ihren (der 4. Symphony) Charakter (...) bezeichnend (ist), was
der Komponist über seine Empfindungen in Italien schrieb: „Ich habe mir den ganzen
ersten Eindruck von Italien wie einen Knalleffekt, schlagend, hinreissend gedacht; - so
ist es mir bis jetzt nicht erschienen, aber von einer Wärme, Milde, Heiterkeit, von einem
über alles sich ausbreitenden Behagen und Frohsinn, daß es unbeschreiblich ist.“
Behagen und Frohsinn sprechen auch aus dem Werk, daß direktere Beziehungen zu
seinem Titel nur durch den letzten Satz schafft, einem Saltarello, in dessen Rhytmik und
Melodik die Tarantella des Italieners eingefangen scheint.“
Da diese, ohne jeden Hinweis auf Quelle und Datum herangeführte Konstatierung
impliziten Klischees bezüglich „Wärme, Milde und Heiterkeit“ aus dem Munde des
Komponisten selbst in keinem erkennbaren Zusammenhang zur Komposition steht,
erscheint die Vorgehensweise Kleins, eine Werkinterpretation nicht aus der Analyse
konkret vorgelegter Musik, sondern aus autonomen biographischen Subjektivismen
herzuleiten, als fragwürdig und tendenziell.
Übereinstimmung oder Abweichung der Mendelssohn-Rezeption Österreichs bis zum
„Anschluss“ im Jahre 1938 und nach dem Ende des nationalsozialistischen Regimes;
des Weiteren die Mendelssohn (und Meyerbeer)-Rezeption in der deutschsprachigen
Schweiz vollständig nachzuvollziehen, dies Thema wäre wiederum einer eigenständigen
Untersuchung wert.
35. Philosophische Musici: vom Gewandhausdirecteur Moses Mendelssohn
Der Komponist und Musikpublizist Walter Abendrot war in den Jahren des III. Reiches
aus einem Freundeskreis um den in nationalistisch-antisemitischer Zwiespältigkeit
befangenen
Komponisten Hans Pfitzner heraus als Agitator gegen ”jüdische
Musikzersetzung” und neue Musik tätig. Er verkündete nach 1945 u. a. als
Feuilletonchef der renommierten Wochenzeitung "Die Zeit", Gründungsmitglied der
"Freien Akademie" in Hamburg und Autor weiterhin Lehrmeinungen latent
antisemitischen Charakters.
152
In einer Ende der sechziger Jahre erschienenen "Kurzen Geschichte der Musik"
zeichnet er so mit ausgesucht freundlichen, diffamierenden Worten das Portrait eines
charmanten, oberflächlichen jüdischen Dandys:
”Ein anderes Berliner Bankhaus bescherte der deutschen Musikromantik ihren
urbansten Vertreter: den liebenswürdigen, eleganten, formgewandten und
lebenstüchtigen, heiter-gebildeten und jünglinghaft-verschwärmten Felix MendelssohnBartholdy.”
Wenige Zeilen später verlässt er die Ebene wohlwollenden Kulturplauderns zugunsten
deutlicher Worte:
”Es unterliegt keinem Zweifel, das (...) das Violinkonzert die Geiger immer anziehen
wird, von den Klavierkompositionen die Lieder ohne Worte beste Hausmusik sind, auch
in gewissen dünnblütigen Nummern, die dann wieder durch ihre spielerische Leichtigkeit
entschädigen. Die beiden Oratorien Paulus und Elias haben uns nicht mehr allzuviel zu
sagen, desgleichen die meiste Kammermusik, die Psalmen, Motetten, Lieder und jene
Art von Männer- und gemischten Chören, an denen sich biergemütliche
Gesangsvereine jahrzehntelang nicht ersättigen konnten.”
Die "Kurze Geschichte der Musik" Walter Abendroths wurde im Jahre 1978 als
Taschenbuch neu verlegt. Sie ist in der 4. Auflage von 1994 (DTV/Bärenreiter) weiterhin
problemlos erhältlich und wirbt mit “dem Vergnügen einer fast plaudernd vorgetragenen
Belehrung” für “ oberflächlich Interessierte”. Somit stellt diese nur 147 Seiten
umfassende Musikgeschichte auch hinsichtlich ihres attraktiven Taschenbuch-Preises
sicherlich die ideale Erstlektüre für junge Musikliebhaber dar, der Fortbestand der
Auffassung Mendelssohns als eines überschätzten Kleinmeisters ist somit partiell
gewährleistet.
Auch Walter Abendroth liess sich in jenen unseligen Jahren der Hitler-Diktatur u. a. über
die Frage "Musik und Rasse" aus, herausgegeben in "Deutsches Volkstum" von 1937.
Ein weiteres Traktat liegt in "Opernideale der Rassen und Völker" aus "Die Musik" vom
März des Jahres 1936 vor.
Musikführer aus dem Traditionshause Reclam transportierten die das Oeuvre
Mendelssohns entwertenden Stereotypen bis in die neunziger Jahre hinein. Sie halten,
der Überarbeitung jüngster Zeit zum Trotz, Beurteilungen vom „Sinn für ästhetisch
„schöne“ Wirkung”, vom “Stil (...) der klassisches Ebenmass der Form mit romantischer
Empfindsamkeit wohltuend verbindet“ als “Stil des geringsten Widerstands”, wie Hans
Renner im dem in den 60ziger Jahren erschienen Orchestermusikführer aus dem
Reclam-Verlag schreibt; also geläufige Entwertungen von Mendelssohns Schaffen, dem
erwähnten Konzertführer von Westermans gleich, über Bibliotheken weiterhin aufrecht.
Der Musikpublizist Hans Renner, Autor einer umfangreichen Musikgeschichte, welche u.
a. in den 90ziger Jahren über Buchgemeinschaften vertrieben wurde, war im III. Reich
im Rahmen der Organisation "Deutsche Arbeitsfront" (DAF) tätig.
153
So gehörte er im Jahre 1934 einem Gremium der DAF an, welches einen Musikpreis für
Kompositionen zu vergeben hatte, die den Ethos Deutscher Arbeit verherrlichten. Der
Preis von 500 RM erging an "Weckruf und Lob der Arbeit" von Karl Gerstenberg.
In seiner Geschichte der Musik", erstmals erschienen im Jahre 1965 und im Jahre 1991
unverändert vom Bertelsmann-Buchclubverlag nachgedruckt, prägt Renner das Bild
eines Kleinmeisters der Biedermeier-Zeit, welcher seine eng bemessenen Grenzen klar
erkannt und somit lediglich als "schönster Zwischenfall der deutschen Musik" zu gelten
habe. Die tendentielle, von Antisemitismus und NS-Zeit beeinflusste Sichtweise auf
Person und Werk Felix Mendelssohns in der Publizistik Hans Renners, belegt sich allein
schon durch die wahrheitswiedrige Schreibweise des unverbundenen Doppelnamens
als Mendelssohn-Bartholdy. Renner verkennt dabei eklatant die tiefe Verwurzelung von
Mendelssohns unaffektiertem Komponieren in rein humanistischen, ethisch
empfundenen Idealen und sperrt ihn vielmehr in den engen Käfig der genannten
Grenzen einer hypersensiblen Unfähigkeit zu dramatischem Ausdruck. Obgleich Renner
selbst von einer Mendelssohn-Schule spricht, aus welcher Komponisten wie Hiller,
Volkmann, Kiel, Reinecke und Draeseke hervorgegangen sind, neigt er doch zum
Widersprüchlichen. Ohne auf das Leipziger Konservatorium und dessen MendelssohnPflege in der Nachfolge des Komponisten oder die Affinität Mendelssohns zu
Schumanns und Brahms Schaffen, zu jenem Bruchs und Regers einzugehen, spricht
Renner dem "schönsten Zwischenfall der Musik" Mendelssohn des Weiteren jedwede
Stilprägung und musikalische Gefolgschaft rundweg ab.
Renner schreibt also:
Felix Mendelssohn-Bartholdy, Romantiker mit biedermeierlichem Einschlag, war nach
der Ansicht seines Freundes Schumann "der hellste Musiker, der die Widersprüche der
Zeit am klarsten durchschaute und zuerst versöhnte." (...) Alles Extreme, übersteigert
emotionale war ihm zuwider. Die ungestümen Kraftausdrücke in Beethovens "IX.
Sinfonie" erschreckten ihn ebenso wie das Zerrissene, Dunkle, Exzessive in manchen
Werken Schumanns. Mit heiterer Selbstironie meinte er einmal, er sei ein Philister
gegenüber Berlioz, denn nicht das Grenzenlose, vielmehr das Umgrenzte, Einfache,
Klare entspreche seiner Natur. Er kannte seine Grenzen genau und er hielt sich in
ihnen, das war seine Stärke. (...)
Mendelssohn blieb "der schöne Zwischenfall der deutschen Musik" (...) Zu einem
Ausgleich der in ihr wirkenden Gegenkräfte kam es nicht. Jeder der "Grossen" ging
seinen eigenen Weg, um jeden bildete sich eine Schule von Mit und Nachläufern, keiner
vermochte wiederherzustellen, was verloren war: die Einheit der Anschauungen, der
Gesinnung, des Stils."
Noch in den achtziger und neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts reflektieren
über jeden Verdacht erhabene Kultur- und Medienbetriebe Geringschätzung und
Desinteresse des musikalischen Tagesgeschehens an Musik, Person und
Rezeptionsgeschichte Felix Mendelssohns. Lassen die Musikredakteure – geschult an
den im Verlaufe dieser Abhandlung genannten Enzyklopädien und Handbüchern des
zwanzigsten Jahrhunderts – wiederum die stetig repetierten stereotypen Wendungen
anklingen.
154
So geschehen in einem im Jahre 1984 anläßlich des 175. Geburtstages Mendelssohns
am
4. Februar in der liberalen "Frankfurter Rundschau" veröffentlichten
Gedenkbeitrags,
welcher
vom
”Musterschülerhaften
der
Formprägung”
Mendelssohnscher
Kompositionen
der
”Sonatenform
als
Maske”,
den
”Gewächshausblumen der Klavierstücke”, der ”nazarenisch geleckten Verzückung der
Oratorien” spricht. Ja, der Artikel nimmt gar - zitiert nach Wulf Konold ” - mit seiner Kritik
an Mendelssohns schnellen Sätzen, seinem Hinweis auf ”nervöse Ratlosigkeit” und
”verdrängte Lebensunruhe” unbewusst unmittelbaren Bezug auf den rassisch
begründeten Aspekt der ”semitischen“, der „prickelnden Unruhe” in dem Juden-Aufsatz
Freigedank/ Wagners aus dem Jahre 1850.
Im gleichen Jahre ging Gustav Stresemann - langjähriger Intendant der Berliner
Philharmoniker zu Furtwänglers und von Karajans Zeiten - daran, seine "Lanze für Felix
Mendelssohn" zu brechen.
Aber gleich zu Beginn seines durchaus engagiert erarbeiteten, etwa 250 Seiten
umfassenden Mendelssohn-Portraits, wird der Leser mit widersprüchlichen Fragen und
Betrachtungen verwirrt.
So heisst es zu Anfang durchaus zutreffend:
"Muss man sie brechen? Rennt man nicht offene Türen ein? Leider nicht. So seltsam es
klingt, auch heute begegnet man manchen Missverständnissen gegenüber einem
Komponisten (...), der sich schwer einordnen lässt, im Vergleich mit den berühmtesten
seiner Zeitgenossen den kürzeren zu ziehen scheint und mit vielen seiner bedeutensten
Werke nahezu ein Schattendasein führt."
Wenige Zeilen später verstört Stresemann mit einer Missinterpretation, einer markanten
Negation der bislang dargelegten antisemitischen und musikgeschichtlichen Vorfälle
und Traditionen der Mendelssohn-Rezeption.
Als unmittelbarem Zeitzeugen der NS-Diktatur und deren Eliminierung von
Mendelssohn-Musik hätten ihm, auch als führendem Vertreter des deutschen
Musiklebens jener Zeit, vor allem die Auswirkungen und Folgen des unmittelbaren
Verbotes der NS-Zeit auf die Mendelssohn-Rezeption nach dem Kriege wie auch jene
der Fortschreibung braunen Gedankengutes oder jener von Riemann u. a. autorisierten
entwertenden Klischees von Glätte, Kälte o. ä. im akademischen und musikpublizistischen Bereich nach 1945 zwingend bewusst sein können und müssen:
"Aber schon bald begann sein Stern zu verblassen, die ihm zu Lebzeiten zuteil
gewordene Wertschätzung zu sinken. Es wäre durchaus verfehlt, hierfür Richard
Wagners spätere Attacken oder Hitler mit seinem Verbot sogenannter nichtarischer
Musik besonders verantwortlich zu machen. Denn auch nach deren Tode ist es zu einer
wahren Mendelssohn-Rennaissance nicht gekommen. Aus Felix, dem Glückskind,
wurde im Laufe der Jahrzehnte ein "Stiefkind", und diese Entwicklung hat sich bis in
unsere Tage fortgesetzt."
155
Im Abschluss des Vorwortes zu seinem Mendelssohn-Portrait stellt Stresemann den
Gegenstand desselben, also Leben und Werk des Komponisten, in hohem Masse in
Frage, reflektiert die bekannten Stereotypen Mendelssohnscher Entwertung. Die Lanze,
vorgeblich für Mendelssohn eingelegt, muss somit von Anbeginn an stumpf bleiben.
"Niemand bestreitet zwar die Bedeutung der Musik zum Sommernachtstraum oder des
nur selten zu hörenden "Oktetts", Werke, die Felix mit 17 oder 18 Jahren schrieb; auch
das Violinkonzert, ...sowie 2 seiner Symphonien finden allgemein Zustimmung. Aber
Mendelssohns Gesamterscheinung bleibt umstritten. Dies gilt für einen erheblichen Teil
seiner Kompositionen, die oft als glatt, oberflächlich, zu gefällig bezeichnet werden, wie
auch für sein Leben, einmal der strahlenden, vom Glück überreich gesegneten Jugend,
die Leid nicht kannte, daher unfähig, tiefere Werke zu erzeugen, dann von den
späteren, Nicht selten ruhelosen Jahren mit ihrer vielgleisigen Betriebsamkeit, Folge fast
zu mannigfacher Gaben oder vielleicht auch des Wunsches, sie zur Schau zu stellen".
Im Jahre 1983 gab Joseph Wulf seine dankenswert umfassend erstellte Sammlung
aufschlussreicher Dokumente aus dem "Kultur"-Betrieb des "III. Reiches heraus. Im
Vorwort des Bandes "Musik im III. Reich" - es diente auch als Grundlage zahlreicher hier
wiedergegebener Traktate des akademischen und musikalischen Nationalsozialismus fasste Wulf Ursprung und Entwicklung des musikalischen Chauvinismus, also auch die
Geschichte Mendelssohnscher Entwertung, in wenigen Zeilen hellsichtig zusammen:
Mit seinen Ideen und vielen Schriften legte Richard Wagner den Grundstein für eine
verhängnisvolle Richtung in der deutschen Musikwelt, die in ihrer Entwicklung
fortlaufend bereichert, ergänzt und endlich vervollkommnet wurde. Um diesen
Wachstumsprozess in seiner ganzen Eindeutigkeit unmissverständlich zu erkennen,
braucht man nur den Wagner des 19. und den Hans Pfitzner des 20. Jahrhunderts zu
lesen. Wenn gewisse Wisssenschaftler des Dritten Reichs Schiller als ersten
Nationalsozialisten bezeichnen, so kann man darüber wirklich nur lächeln. Falls sich
jedoch diese Behauptung auf Wagner bezieht, besteht eine gewisse Berechtigung.
Dem Buch "Musik im III. Reich" ist denn auch wahrhaft symbolträchtig jene Metapher
Thomas Manns aus dem Jahre 1911 vorangestellt:
"Die Deutschen sollte man vor die Entscheidung stellen: Goethe oder Wagner. Beides
zusammen geht nicht. Aber ich fürchte, sie würden Wagner sagen".
Im Jahre 1988 legte der russische Dirigent Semyon Bychkov auf dem Philips-Label eine
Schallplattenaufnahme der 3. und 4. Symphony Mendelssohns, der "Schottischen" und
"Italienischen" vor, welche er im Jahre 1986 mit dem London Philharmonic Orchestra
realisiert hatte. In einer Rezension reflektiert Werner Bollert in der Musikzeitschrift "Fono
Forum" vom Februar des Jahres 1988 in abfälligem Tonfall anschaulich die Tatsache,
dass man Mendelssohns Hauptwerke keinesfalls als festen Bestandteil des
Kernrepertoires auf den Konzertpodien der Welt ansah und anzusehen habe. Bestätigt
er die durch eine unsäglich hürdenreich, ja katastrophal verlaufene
Rezeptionsgeschichte geprägte Aussenseiterposition, die Mendelssohn
im
Konzertrepertoire immer noch einnimmt.
156
Anschließend stellt Bollert gar den musikalischen Wert der "Schottischen", sicher eines
der hochrangigen Mendelssohnschen Meisterwerke, pauschal in Frage und stellt sich
dabei in den Gegensatz zum Dirigenten, welcher sich - Bollerts Worten zufolge - den
beiden Werken mit grosser Aufmerksamkeit und Hingabe widmete.
"Selbstverständlich war und ist er (Bychkov) bestrebt, sein Repertoire zu erweitern und
die grossen Meister der Sinfonik in seine Programme miteinzubeziehen (...) Dem
Medium Schallplatte hat er sich ebenfalls nicht verschlossen; hier begann er
bezeichnenderweise mit der fünften Sinfonie von Schostakowitsch, der er
Tschaikowskys "Nussknacker" folgen liess. Die dritte Produktion...galt diesen beiden
Schöpfungen Felix Mendelssohns. Ob Bychkov aber damit schon zum "harten Kern" der
klassisch-romantischen Sinfonik vorzustossen vermochte (wie es die Plattenwerbung
formuliert), sei dahingestellt.
Gerade an diese Aufnahme hat Bychkov offenbar viel Mühe gewandt; doch das
klingende Ergebnis ist nicht sehr zwingend ausgefallen. Bei der "Schottischen" liegt das
Problem zweifelsohne im Werk selbst, in der Konzeption der Ecksätze (beispielsweise
will es nur selten gelingen, die A-Dur-Krönung des Finales, Allegro maestoso assai,
wirklich plausibel darzustellen)."
Eine im Jahre 1989 vom westdeutschen Fernsehen produzierte Dokumentation der
Geschichte des Leipziger Gewandhauses und seines Orchesters erwähnt mehrfach den
Komponisten „Moses Mendelssohn Bartholdy“ bzw. „Moses Mendelssohn“, welcher
seinerzeit dort als Dirigent tätig war.
Im Jahre 1991 promovierte Hartmut Wecker mit einer Studie über den "Epigone(n) Ignaz
Brüll". Nicht allein, daß Wecker darin eine Verharmlosung von Wagner/ Freigedanks
Judenschrift in der Thesenstellung und Folgewirkung vornimmt. Er behauptet darin,
dass jene "mit Recht "Das Epigonentum in der Musik" lauten" müsse; ein
"Faktum"...(welches)...bislang unbeachtet geblieben" sei. Bedenklicher als dies stimmt
noch das abschliessende Urteil, welches Welcker über die jener Studie
zugrundeliegende Persönlichkeit Ignaz Brüll fällt: Brüll sei ein Epigone gewesen, "weil er
Jude war."
36. Dass Mendelssohn Grenzen hat, sei unbestritten
Im Jahre 1997 verweist Gerhard R. Koch im umfangreichen Gedenkartikel der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung anlässlich des 150. Todestages Mendelssohns am 4.
November dezidiert auf „Grenzen“, welche der Musik Mendelssohns „unbestritten“
gezogen seien. Koch paraphrasiert mit dem Satz "Dass Mendelssohn Grenzen hat, sei
unbestritten." unmittelbar eine zentrale Sentenz aus von Westermans maßgeblichen
Darlegungen aus dem Jahre 1956. Dieser Gedenkbeitrag „Weltgeist, auf Flügeln des
Gesanges“ Gerhard R. Kochs ist einmal mehr einer spezifischen Dramaturgie
musikgeschichtlicher Analyse unterworfen, welche sich exklusiv in der Darstellung des
musikalischen Phänomens Mendelssohn findet und aus etlichen, vermeintlich objektiv
vorgenommene Betrachtungen hervorgeht.
157
Nicht allein die Nachwirkungen fataler musikpublizistischer und –wissenschaftlicher
Überlieferungen; auch die suggestive, faszinierende Negativ-Aura, welche die
Rezeptionsgeschichte um das Phänomen Mendelssohn zu errichten verstand, fanden in
dieser Dramaturgie der Negation ihren Ausdruck. Auch die Dominanz spätromantischsubjektiven Musizierens das Ideal heroisch-monumentalen Tonfalls, welche das
Musikleben in Deutschland bis in die 60ziger Jahre hinein prägte, mag in diesem und in
anderen Fällen unwillkürlich ihren Ausdruck gefunden haben. Das Muster ist wie folgt:
Umsichtig, sachkundig, „objektiv“, ausführlich werden die spezifischen hohen Qualitäten
des Idioms mendelssohnscher Musik gewürdigt; desgleichen Ungerechtigkeit, ja
Absurdität ideologisch besetzter Urteile und Stereotypen hervorgehoben. Doch im
wenigen bedeutsam formulierten Worten oder Zeilen wird dann zumeist aber eine
pauschale Zurücksetzung des gesamten Sujets Mendelssohn vorgenommen. Lassen
Autoren wie Koch das im Verlaufe eines äusserst umfangreichen Beitrags bedachtsam
errichtete Gebäude "objektiver" Würdigung der belasteten Mendelssohn-Rezeption mit
einem Satz wieder in sich zusammenfallen. In den Grundzügen geht es wiederum auf
das rhetorische und dramaturgische Vorbild zurück, welches Freigedank/Wagner
einstmals prototypisch vorgab.
Wir erinnern uns: Mendelssohn "hat uns gezeigt, daß ein Jude von reichster
spezifischer Talentfülle sein, die feinste mannigfachste Bildung, das gesteigertste...
Ehrgefühl besitzen kann, ohne es...je ermöglichen zu können, auch nur ein einziges Mal
die tiefe, Herz und Seele ergreifende Wirkung auf uns hervorzubringen, welche wir...der
Kunst...fähig wissen, weil wir diese Wirkung zahllos oft empfunden haben, sobald ein
Heros unserer Kunst sozusagen nur den Mund auftat”.
Phänomene werden am Vorfall Mendelssohn in kritischer Distanziertheit konstatiert,
welche im Falle anderer bedeutsamer Komponisten kaum einer Silbe gewürdigt würden.
„Grenzen, welche der Bedeutung dieser Musik unbestritten“ gesetzt sind: Diese liessen
sich wohl mit Leichtigkeit hinsichtlich der Musiksprache jedes Komponisten spezifisch
definieren. Doch nur in diesem speziellen Fall legen Publizisten wie Riemann, Keller,
Chop, Moser, von Westerman, Schweickart und Koch den eigentümlichen Sonderfleiss
zu Tage, "Grenzen" in der Tonsprache eines bestimmten Komponisten zu eruieren.
37. Wie ist eine derartige Gerinschätzung im Umgang mit einem doch
bedeutenden Komponisten überhaupt möglich?
Die Dramaturgie der Münchner Philharmoniker konstatiert in den Ankündigungen eines
Konzertes in der Saison 2001/02, welches Mendelssohns bedeutendes Chorwerk "Elias"
vorstellte, leichtfertig, das „die alttestamentarischen und damit jüdischen Traditionen der
Bibellektüre Felix Mendelssohn Bartholdy sozusagen „im Blut“ lagen.“ Dabei unterstellt
sie in unsäglicher Entlehnung fataler NS-Terminologien, das Mendelssohn als Jude
quasi einem semitisch-biologischen Rasseprinzip unterworfen gewesen sei.
Im Jahre 2003 legte der Chamber Choir of Europe unter der Leitung des Dirigenten
Nicol Matt bei Brilliant Classics in dankenswerter Initiative eine Gesamtaufnahme des
gesamten geistlichen Chorwerkes Felix Mendelssohns vor.
158
Zu Beginn seines engagiert erarbeiteten Mendelssohn-Artikels im Begleitbuch fasst
Christian Wildhagen die fatale Entwicklung der Mendelssohn-Entwertung noch einmal
prägnant zusammen und konstatiert demzufolge Mendelssohns fatale aktuelle
Positionierung im Musikleben als eines Komponisten quasi lediglich in der zweiten oder
gar erst dritten Reihe.
"Wenigen Komponisten hat die Nachwelt derart übel mitgespielt wie Felix Mendelssohn
Bartholdy. (...) Obwohl er noch zu Lebzeiten als überragender Vertreter der deutschen
Musik im frühen 19. Jahrhundert geehrt wurde, spielt sein Schaffen heute im Ganzen
nur mehr eine untergeordnete Rolle. Wären nicht Geniestreiche wie die Ouvertüre zu
Shakespeares "Sommernachtstraum", die "Italienische" Symphonie oder das
Violinkonzert - man würde Mendelssohn wohl umgehend, Carl Loewe oder Heinrich
Marschner vergleichbar, zu den Komponisten der zweiten und dritten Reihe schlagen.
Schon seine einst viel gesungenen Lieder, aber auch die Klaviermusik und die
ehedem als stilbildend geschätzten Streichquartette sind überwiegend an den Rand des
Repertoires gerückt, und man kann nicht umhin, diese Auslese als arg beschränkt zu
empfinden - namentlich im Vergleich mit Zeitgenossen wie Schumann oder Chopin,
deren Werk in weit reichhaltigeren Ausschnitten rezipiert wird. Noch ärger ist freilich ein
Bereich betroffen, der zweifelsohne zu den Schwerpunkten in Mendelssohns Oeuvre
zählt: die Chormusik. Hier hat sich die posthume Auswahl nahezu ausschliesslich auf
die beiden grossen Oratorien "Paulus" und "Elias" und einige wenige Einzelstücke
verengt.
Die Gründe für diese Entwicklung sind vielfältig. Dass Mendelssohn heute kaum mehr
die Wertschätzung erfährt, die seiner herausgehobenen Stellung im europäischen
Kultur- und Geistesleben um 1840 entspräche, mag zum einen, wie oft behauptet, noch
immer der Verfemung seiner Person und der Ächtung seines Werks durch den
Nationalsozialismus geschuldet sein. Von dem totalen Aufführungsverbot während der
Zeit des "Dritten Reiches" hat sich sein Schaffen tatsächlich nie recht erholt;
entsprechend ist auch die Wahrnehmung seiner Biographie nach wie vor nicht frei von
Denkmustern, die sich mitunter gefährlich im Fahrwasser antisemitischer
Rezeptionsmuster bewegen. Richard Wagners fatales Pamphlet über "Das Judentum in
der Musik" hat hier schon 1850 die Stossrichtung vorgegeben, und so scheint es, als
habe sich der Nationalsozialismus lediglich auf perfide Weise zu Nutze gemacht, was an
mehr oder minder künstlerisch motivierten Einwänden von jeher gegen Mendelssohn
vorgebracht worden ist. (...)
Dessen ungeachtet hatten bereits viele Zeitgenossen Mühe, die Vorstellung vom wohl
behüteten, mit der Leichtigkeit eines Mozart schaffenden Wunderkind, die Mendelssohn
so eindrucksvoll mit der "Sommernachtstraum"-Ouvertüre oder dem Streichoktett unter
Beweis gestellt hatte, in Einklang zu bringen mit dem bevorzugten Künstlertypus der
aufkommenden Romantik, die in der Nachfolge Beethovens gerade das titanhafte
Ringen um jeden Ton und jede Phrase als wahre Grösse schätzte.
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Mendelssohns religiöse Musik - und damit ein Grossteil seines Chorwerks - hatte
überdies lange vor 1933 unter dem Vorurteil zu leiden, ein zum Protestantismus
übergetretener Jude könne keine adäquate christliche Kirchenmusik verfassen. In
solchen Klischees, die leider in erheblichem Ausmass die Rezeptionsgeschichte sowohl
des 19. wie des 20. Jahrhunderts prägen, spiegelt sich allenfalls an der Oberfläche ein
viel tiefer liegendes Problem: die grundsätzliche Ungewissheit (...), welche Richtung die
Musik nach dem Ende der klassischen Epoche einschlagen werde..."
Werner Pfister rezensiert die Gesamtaufnahme der geistlichen Chorwerke
Mendelssohns unter Nicol Matt in der Oktoberausgabe der Zeitschrift "Fono
Forum"
des Jahres 2003 auf der Seite 77.
Gleich zu Beginn der Rezension wirft Pfister eine zentrale, entscheidende Frage der
Mendelssohn-Rezeptionsgeschichte auf:
"Liest man sich in Eric Werners Mendelssohn-Biographie im Werkverzeichnis durch die
geistliche Chormusik, stösst man wiederholt auf den Hinweis "Manuskript". In der Tat
sind wesentliche Werke, darunter die grossen Choralkantaten, erst vor gut 20 Jahren
erstmals gedruckt worden. Wie ist eine derartige Geringschätzung im Umgang mit
einem doch bedeutenden Komponisten überhaupt möglich? Die Frage ist um so
brisanter, als es sich beim geistlichen Chorwerk Mendelssohns nicht gleichsam um
Nebenprodukte handelt, sondern mehrheitlich um ausgereifte grosse Kantaten, um
Hymnen und Psalmen; auch Magnificat, Gloria und Te Deum fehlen nicht. Ganze zehn
Compact Discs machen sie insgesamt aus - mithin wohl die umfangreichste Gattung
überhaupt in Mendelssohns Schaffen".
Ja, wie war und ist die Geringschätzung eines bedeutenden Komponisten und
wesentlicher Teile seines Oeuvres überhaupt möglich gewesen? Dieser Frage
eingehender nachzuspüren, war und ist eben auch zentrales und wesentliches
Bestreben und Ziel beim Verfassen dieser Abhandlung gewesen. Wie konnte es
geschehen, dass der Pamphlet gewordene Künstlerneid eines musikalischen Rivalen
gleichsam zum Dogma ganzer Generationen von Musikliebhabern, -wissenschaftlern
und -publizisten wurde? Dass die Mär vom Heros in der Musik das Ansehen eines
feinsinnigen Humanisten auszulöschen verstand, der, dem Schaffen eines Mozart
vergleichbar, Werke von erhabener klassizistischer Klarheit, Hellsicht und Konzentration
zu schaffen verstand? Dass ein Publizist nach dem anderen manuskriptgewordene
Klischees und Stereotypen des Vorgängers transkribierte? Dass ein Volk in Gesamtheit
in den nationalen Grössen- und Rassenwahn verfallen konnte und somit Leben und
Werk eines ganzen Volkes in Deutschland zu verfemen, aus Deutschland auszumerzen
trachtete? Wie war es möglich, dass die Eliten des verbrecherischen Regimes mit dem
ethischen Wiederaufbau eines demokratischen Gemeinwesens betraut wurden und
somit Ungeist und Vorurteil in der Einschätzung eines einstmals von den Zeitgenossen
und hellsichtigen Repräsentanten eines besseren Musiklebens als wahrhaft gross
angesehenen Komponisten fortzuschreiben und fortzulehren vermochten? Dass die
Routine eines klassisch-romantisch dominierten Musikbetriebs sich bislang der Aufgabe
einer umfassend vorgenommenen Mendelssohn-Restaurierung auf den Konzertpodien
so hartnäckig und desinteressiert zu entziehen vermag?
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Ja, wie war und ist das alles im Bereich einer sich in Vergangenheit und Gegenwart als
aufgeklärt gerierenden Kulturnation überhaupt möglich?
Im weiteren Verlauf der Rezension relativiert Pfister die Bedeutsamkeit seiner so zentral
gestellten Aussage, indem er Mendelssohn Schaffen in der Tradition von Publizisten wie
von Westerman einmal mehr als vordringlich gefühlig und subjektivistisch bewertet.
Wieder haben wir es also hier mit der Einschätzung Mendelssohns als lyrisch
empfindsamem Kleinmeister zu tun, welcher zur Nachempfindung menschlichen Leides
nicht befähigt somit wahrhaft grosse und bedeutungstiefe Musik nicht vorzulegen
verstand.
"Der formale Aufbau - Chornummern wechseln mit Soloarien - orientiert sich am
barocken Vorbild, doch die Mittel, mit denen musikalisch gebaut wird, sind romantische.
Stilistisch heisst das: Statt einer scharf-linearen barocken Kontrapunktik herrscht hier
eine lyrisch innige Empfindsamkeit, die zwar gross und erhaben wirken kann, im
wesentlichen aber in den kleiner bemessenen Bereichen des subjektiven Gefühls ihren
eigentlichen Ort hat."
Dem Dirigat Matts bescheidet Pfister des Weiteren, dass er "ersichtlich ein Gespür hat
für das, was diese Musik leidet und was sie eben nicht leidet..."
Konold gibt dem Musikleben angesichts solch getreulicher Kontinuität unausgesetzter
Mendelssohn-Infragestellung und -Reduktion den salomonisch anmutenden Rat mit auf
den Weg: ”Man versteht Mendelssohns ausgeprägte Abneigung gegen jede Art von
Musikpublizistik und man kann - ein Lessing-Wort paraphrasierend - nur wünschen,
Mendelssohns Musik werde weniger beschrieben, aber mehr aufgeführt.”
38. "Diese Musik wurde ermordet" II
Auch ein Blick auf den musikalischen Tagesbetrieb verdeutlicht, das die Konstatierung
vollgültiger Rehabilitierung der Werke Felix Mendelssohns nach 1945 vorschnell
erfolgte.
Das im Jahre 1988 von der Musikhandelverlagsgesellschaft Bonn vorgelegte Handbuch
des Musikalienhandels, ein Lehrbuch für angehende Musikalienhändler gibt unter der
Rubrik V auf der Seite 21 auch einen Überblick über die "Wichtigsten Werke der
Klassik".
Es handelt sich dabei wohl um ein Verzeichnis der im Noten- und Schallplattenhandel
am meisten verlangten Werke; 67 Kompositionen gängigsten Repertoires werden
genannt.
Während Mozart beispielsweise mit 6, Beethoven mit 7, Schubert mit 6 und Chopin mit
immerhin 4 Kompositionen vertreten sind, ist Mendelssohn mit nur einem Werk
aufgelistet. Es handelt sich dabei aber nicht um die angeblich bei Musikanfängern so
beliebten, oftmals als "Fingerübungen" diffamierten "Lieder ohne Worte" sondern das
erhaben schöne Violinkonzert.
161
Nichts desto trotz ist die Verankerung Mendelssohns im aktuellen Musikbetrieb - analog
seiner Präsenz auf den Konzertpodien - quasi auf ein einziges Werk zurückgegangen.
Im Jahre 1995 veröffentlichte der süddeutsche Grossrezensent Joachim Kaiser im
Schneekluth Verlag München das Kompendium Kaisers Klassik, eine Umschau über
100 Meisterwerke der Musik, welcher aus einer wöchentlichen Zeitungskolumne
hervorging. Das Buch wurde im Jahre 2001 im btb-Verlag/ Goldmann als Taschenbuch
wiederveröffentlicht.
Die Umschau bietet ein dem Handbuch des Musikalienhandels vergleichbares Bild.
Unter 100 Meisterwerken, welche Joachim Kaiser als massgeblich vorstellt, firmiert
Mendelssohn wiederum nur mit einem Werk, dem Violinkonzert. Wenn man besieht,
dass es sich um nur ein Werk unter immerhin 100 handelt, bietet sich der Schnitt, die
Relation in Sachen Mendelssohn-Rezeption noch ungünstiger, als es im Verhältnis 1:67
im Handbuch des Musikalienhandels der Fall ist.
Wie präsentieren sich andere Komponisten mit Werken unter den 100 ausgewählten?
Ludwig van Beethoven dominiert die Auswahl mit sage und schreibe 14
Werkbeschreibungen bei weitem, aber auch andere Komponisten schneiden weit
günstiger ab, als es Felix Mendelssohn mit dem 1 Werk tut. Johannes Brahms ist mit
einer Auswahl von 7 Werken vertreten, Frederic Chopin mit 5, Wolfgang Amadeus
Mozart mit 12, Franz Schubert mit 8, Robert Schumann mit 6 und Mendelssohn-Gegner
Richard Wagner mit immerhin 9 seiner 13 Opern.
Wenn auch dieser Werkkanon als subjektiv vorgenommene Auswahl eines einzelnen
Rezensenten gelten muss, wirft er doch ein bezeichnendes Licht auf die aktuelle Felix
Mendelssohn Rezeption. Prägt die Meinung eines massgeblichen Rezensenten und
Publizisten als beachteten Multiplikators des deutschen Musiklebens doch ein
einschlägiges Bild eben jenes von Traditionen dominierten unflexiblen Musikbetriebes,
der Beethoven, Mozart und Brahms etc. demonstrativ auf den Schild hebt, einen Felix
Mendelssohn und sein Werk aber nahezu ausklammert. Müssen die Leser jenes
Buches doch zu der Ansicht gelangen, dass ein Felix Mendelssohn im Schatten
übermächtig repräsenter Meister nahezu nichts wert ist.
Zum weiterem Beweise einer erneuerungsbedürftiger Mendelssohn-Rezeption; einer
notwendigen Wiederbelebung seines musikalischen Renommees seien einige Zahlen
bezüglich klassisch-romantischer Komponisten wie Mendelssohn, Schumann und
Brahms genannt, welche vor allem die aktuelle Situation im Konzertleben
berücksichtigen:
Felix Mendelssohn und Johannes Brahms haben jeweils etwa 120 mit einer Opuszahl
im Werkverzeichnis aufgelistete Kompositionen hinterlassen. Robert Schumann ging mit
etwa 150 sogar darüber hinaus. Zuzüglich jeweils 30 von Brahms, 48 von Schumann
und immerhin 180 von Felix Mendelssohn Bartholdy nachgelassene Werke ohne
Opuszahl.
162
Ein Gesamtverzeichnis der Klassikaufnahmen der "Deutschen GrammophonGesellschaft" von 1956 verweist in der Sache der erwähnten Komponisten auf folgende
Einträge: Johannes Brahms 45; Robert Schumann 22 Einträge; Felix Mendelssohn 13
Einträge. Was zeigt der Hauptkatalog des Jahres 2005?
Brahms 127 Einträge; Schumann 92 Einträge; Mendelssohn 52 Einträge.
Der deutsche Konzertalmanach der Saison 2000/1 sowie jener der Saison 1992/93
vermittelt ein ähnliches Bild: Johannes Brahms
633 (636) Einträge, sprich
Aufführungen; Robert Schumann 409 (462) Einträge; Mendelssohn 358 (360)
Einträge.
Nach einer Hausse Mendelssohn´scher Kompositionen im Gedenkjahr 97 fortfolgend
hat sich die Aufführungsdichte der Saison 2000/1 also wieder auf die Ebene um 360 der
Saison 92/93 reduziert.
Zum Abschluss seien noch folgende Zahlen zur Kenntnis gegeben: Giacomo
Meyerbeer, als Meister der Grand Operá, ähnlich infamen Angriffen auf Werk und
Person ausgesetzt, war mit Opern wie "Robert le Diable", "Die Hugenotten", "Der
Prophet" etc. dennoch fester Repertoirebestandteil der Wilhelminischen Ära; in der
Weimarer Republik wurden dieselben rezeptionsgeschichtlich und aufführungspraktisch
lebhaft diskutiert. (59 Aufführungen von Meyerbeer-Opern in der Saison 1928/29.) Der
Nationalsozialismus schloss sein Werk sofort von der Bühne aus. Heute erleben wir
gelegentliche Aufführungen derselben als exotisch; feiern die szenische Realisierung
derselben als mutige Grosstat.
Der Gesamtkatalog der "Deutschen Grammophon" von 1956 bietet daher folgende Zahl:
6 Einträge; der "Konzert-Almanach" der Saison 2000/1: 7 Einträge (1992/3: 4); der
Hauptkatalog der "Deutschen Grammophon" des Geschäftsjahres 1997/ 98: keinen
Eintrag, jener des Jahres 2005: 6 Einträge. Dabei handelt es sich um einzelne Arien in
Operkompendien und Sänger-Recitals; es befindet sich keine einzige Gesamtaufnahme
seiner Opern darunter.
Copyright:
Rainer Hauptmann./ Die Cavallerotti - das
KulturNetzWerk e. V.
1997/2005
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Editoriale Anmerkungen
Dieser Essay ist ein Work in Progress und erhebt somit keinen wissenschaftlichen
Anspruch. Er wurde hauptsächlich geschrieben, um Musikfreunde sachdienlich anhand
eingehender Untersuchungen der Umstände, unter welchen sich die nachhaltige,
antisemitisch motivierte Entwertung des musikalischen Ansehens Mendelssohns im
Einzelnen vollzog, zu informieren.
Dem Werkstattcharakter des Projektes gemäss, werden weitere wichtige
Quellenverweise in Folge der Veröffentlichung des Essays eingefügt werden. Da ein
Grossteil der Literatur, welche die Erarbeitung des Essays ermöglichte, derzeit
umzugsbedingt nicht verfügbar ist, können weitere Quellenverweise erst in den nächsten
Wochen nachträglich in den vorhandenen Kontext des Essays eingefügt werden. Wir
bitten bis dahin um freundliche Nachsicht und etwas Geduld.
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