Kant und das Naturrechtsdenken - Ruhr

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Erschienen in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie (ARSP), vol. 87 (2001), 449-467
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart
Thomas Sören Hoffmann
Kant und das Naturrechtsdenken
Systematische Aspekte der Neubegründung und Realisierung der Rechtsidee in der kritischen
Philosophie
Es unterliegt keinem Zweifel, daß der philosophische Neuansatz Kants auch auf dem Gebiet
der Rechtsphilosophie Epoche gemacht hat – wenn nicht gar mehr als das. Kant hat in der
Vorrede zu den Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre (MAR) – nach seinen
eigenen Worten scheinbar „arrogant“ und „selbstsüchtig“, in Wahrheit aber nur in der
Konsequenz des Systematikers, der die Philosophie als sich in seinem Denken entfaltende
Vernunfteinheit aufzufassen hat und der aus eben diesem Grund nach den Worten des
italienischen Neoparmenideers Emanuele Severino niemals etwas anderes sagen kann als
„l’unico filosofo sono io e la mia è l’unica filosofia“: „der einzige Philosoph bin ich und die
einzige Philosophie ist die meine“1 – Kant also hat davon gesprochen, „daß vor dem
Entstehen der kritischen Philosophie es noch gar keine gegeben habe“. 2 Dies schließt ohne
weiteres ein, daß es nach Kants eigenem Dafürhalten vor dem kritischen Neuansatz auch
keine wahrhaft dieses Namens würdige Rechtsphilosophie gab und daß, wenn hier gleich an
„papierne[n] Systemen“, die jetzt jedoch „nach einander einstürzen“, gewiß kein Mangel war,
es nunmehr an dem „kritischen Philosophen“ ist, „zuletzt und so auch am besten zu lachen“.3
Die folgenden Ausführungen sind dem diesem Lachen des kritischen Philosophen
zugrundeliegenden kritischen Begriff des Rechts, insbesondere des Naturrechts, gewidmet –
einem Naturrecht, das freilich nicht mehr im Ernst bei einem dem Rechtsdenken normativ
vorgegebenen Begriff einer Natur des Menschen oder der Sachen an sich selbst ansetzt,
sondern bei Rechtsbegriffen a priori, die im praktischen Begriff von Freiheit als solchem
liegen und dem Wissen um die Freiheitlichkeit aller äußerlich gegeneinander Handelnden
verpflichtet sind, bei Rechtsbegriffen aber auch, die gleichwohl nicht nur im Formalen
verharren, sondern sich von sich aus einer Realisierung im Bereich erscheinender Freiheit
öffnen.4 In dieser Hinsicht wird es um die (im kantischen Sinne) dialektische Binnenstruktur
1
Emanuele Severino, La struttura originaria, 2. Aufl. Mailand 1981, 88
MAR, Akademie-Ausgabe (AA) VI, 206.
3
AaO. 209
4
Grundlegende Literatur zum Thema sei vorab benannt: Gerhard Dulckeit, Naturrecht und positives Recht bei
Kant, Leipzig 1932; Sverre Klausen, Die Freiheitsidee in ihrem Verhältnis zum Naturrecht und dem positiven
Recht bei Kant. Mit einer Kritik der empiristischen Richtungen in moderner nordischer Rechtsphilosophie
(Avhandlinger utgitt av det Norske Videnskaps-Akademi i Oslo, II. Hist.-Filos. Klasse, 1950, No. 3), Oslo 1950;
Friedrich Kaulbach, Naturrecht und Erfahrungsbegriff im Zeichen der Anwendung der kantischen
Rechtsphilosophie; dargestellt an den Thesen von P. J. A. Feuerbach, in: Zwi Batscha (ed.), Materialien zu Kants
Rechtsphilosophie, Frankfurt am Main 1976, 193-205; Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel
Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Berlin/New York 1984 bzw. Frankfurt am Main 1993 (passim); Kristian
Kühl, Naturrecht und positives Recht in Kants Rechtsphilosophie, in: Ralf Dreier (ed.), Rechtspositivismus und
Wertbezug des Rechts, Stuttgart 1990; Fernando Inciarte, Zwischen Natur- und Vernunftrecht. Bemerkungen zu
einem rechtsphilosophischen Kolloquium, in: V. Gerhardt/W. Krawietz (edd.), Recht und Natur. Beiträge zu
Ehren von Friedrich Kaulbach, Berlin 1992, 81-99; außerdem zur allgemeineren Orientierung: Werner Busch,
Die Entstehung der kritischen Rechtsphilosophie Kants 1762-1780, Berlin/New York 1979; Leslie Arthur
Mulholland, Kant’s System of Rights, New York/Oxford 1990 (Bemerkungen zum Naturrecht 10-15); Burkhard
2
2
der Rechtsidee gehen, mit der Kant die Frage nach der Einheit von „Idee“ und „Begriff“ des
Rechts,5 Vernunft und Empirie, Sein und Sollen im Recht beantwortet. –
Die Naturrechtssysteme, die Kant „einstürzen“ sah, haben insbesondere in ihrer seit Grotius
und Pufendorf vernunftrechtlich akzentuierten Gestalt im 18. Jh. bekanntermaßen reichlich
floriert; entsprechend lassen sich stattliche Autorenregister zu ihnen anführen. 6 Kant war
diese Tradition gut vertraut. Er selbst hat, wie man weiß, zwischen 1767 und 1788 zwölfmal
über Naturrecht gelesen; seine Textgrundlage bildete dabei in Sonderheit das Ius naturae in
usum auditorum des Göttinger Rechtsgelehrten Gottfried Achenwall, das ursprünglich in
Zusammenarbeit mit dem ebenfalls Göttinger Johann Stephan Pütter (1725-1807) entstanden
und 1750 als Elementa juris naturae zuerst erschienen war, später jedoch nur noch unter
Achenwalls Namen publiziert wurde und in fünfter, erweiterter Auflage, die Kant benutzte,
1763 herausgekommen ist; dazu treten für Kants Lehrtätigkeit noch die naturrechtlichen
Partien in den Vorlesungen nach Baumgartens praktischen Schriften.7 Aber für den kritischen
Naturrechtsbegriff Kants geben diese Quellen und Bezugspunkte noch nicht unbedingt allzu
viel her. Denn ähnlich, wie Kants moralphilosophische Vorlesungen nach Baumgarten nicht
unbedingt schon die kritische Moralphilosophie der Druckwerke enthalten – die einzige,
Kants definitive Emanzipation von seinem Katheder-Textbuch anzeigende Ausnahme bildet
hier die Moralphilosophie nach Vigilantius von 1793/94 –, so führt auch von Baumgarten und
besonders von Achenwall bzw. Kants Vorlesungen über dessen Naturrecht8 kein direkter Weg
zur eigentlich kritischen Rechtslehre. Die direkten Linien mußten sich an der Kritik brechen,
und erst mit dieser Brechung, die eine Brechung aller nur äußeren normativen Instanzen war,
hat Kant in der Rechtsphilosophie Epoche gemacht, hat er das Recht auf den Boden der
Freiheit gestellt. Der Deutsche Idealismus hat Kant sehr bald so verstanden, daß durch ihn das
Naturrecht und mit diesem alles philosophische Rechtsdenken gründlich entsubstantialisiert,
will sagen von außerfreiheitlichen materialen Prämissen befreit worden und vielmehr im
Freiheitsbegriff selbst neu „aufgehängt“ worden ist. Und in der Tat hat Kant auch das
Naturrecht so gefaßt, daß das Subjekt in allen Naturrechtssätzen immer die sich selbst
bestimmende Freiheit und niemals ein nur äußeres, normativ sein sollendes „So ist es“ sein
kann. Daß in eben dieser Tat Kants, das Recht als sich gesetzesförmig selbst bindende, nicht
als von außen her rückzubindende Freiheit zu verstehen, das Erfordernis lag, der Rechtsidee
die bereits angesprochene dialektische Form zu geben – denn Freiheit muß in Rechtsgestalt,
d.h. in Gestalt ihrer äußeren Selbstbindung immerhin äußeren Zwang, also wenigstens eine als
solche erscheinende Unfreiheit begründen –, dieses Formerfordernis mag dabei nur dafür
sprechen, daß Kant den naturrechtlichen Stier tatsächlich bei den Hörnern gepackt und ihn aus
einem Götzen oder auch Schrecken der positiv-rechtlichen Welten in ein dienstbares Tier bei
der Kolonisierung dieser Welten im Zeichen der Freiheit verwandelt hat. Etwas technischer
gesprochen: wenn die deutsch-idealistische Auffassung von der Tragweite der kritischen
Revolution des Rechtsdenkens bei Kant zutrifft – und wir gehen vorderhand davon aus, daß
sie kein Mißverständnis darstellt –, dann dürfen wir damit rechnen, daß zumindest im
Ergebnis der kantischen Rechtsphilosophie das Recht überhaupt und insbesondere auch das
Naturrecht nicht mehr nur im Sinne objektiver oder gar vorfindlicher Sachverhaltlichkeiten
Tuschling, Die Idee des Rechts: Hobbes und Kant, in: D. Hüning/B. Tuschling (edd.), Recht, Staat und
Völkerrecht bei Immanuel Kant, Berlin 1998, 85-117.
5
Cf. R. Dreier, Rechtsbegriff und Rechtsidee. Kants Rechtsbegriff und seine Bedeutung für die gegenwärtige
Diskussion, Frankfurt am Main 1986.
6
Man vergleiche nur die umfangreiche Liste von Autoren, die Kant in der Hufeland-Rezension (AA VIII, 127)
anführt; 24 der Genannten gehören dem Jahrhundert Kants an.
7
Cf. insbesondere die in AA XIX gebotenen Reflexionen zu Baumgartens Initia philosophiae practicae primae
sowie die auf die entsprechenden Teile der Ethica bezüglichen Partien in der Metaphysik der Sitten nach
Vigilantius (AA XXVII, 475ff.).
8
Die Akademieausgabe bietet in Bd. XXVII, 2/2, 1317-1394 die Nachschrift von G. Feyerabend zu der
Naturrechtsvorlesung von1784 (cf. dort auch die Einleitung 1053f.).
3
aufgerufen wird, sondern als sich auf sich beziehende, als sich verwirklichende, sich aus sich
selbst erzeugende Freiheitsgestalt anzusetzen ist.
1. Naturrecht als Frage nach der Vernunfteinheit äußerer praktischer Begriffe
In den rechtsphilosophischen Diskussionen seiner Zeit hat Kant schon vor der späten
Publikation der Metaphysik der Sitten Spuren hinterlassen. Daß die Kritik Morgenluft auch für
eine erneuerte Rechtslehre enthalten mußte, wurde von Zeitgenossen und Anhängern Kants
wie Salomon Maimon9, Carl Christian Erhard Schmid (1761-1812)10 oder dann auch von
Schelling11 und Fichte12 je auf ihre Weise schon vor 1797 bemerkt, und Kant hatte zu diesem
Bemerken durchaus seinerseits den einen oder anderen Anlaß gegeben – wir
vergegenwärtigen uns dazu hier an Stelle mancher anderer Beispiele aus den kleinen oder den
moralphilosophischen Schriften nur eine auf den ersten Blick eher beiläufige Bemerkung aus
der Kritik der reinen Vernunft (KdrV). In dem Abschnitt „Von der Vernunft überhaupt“ zu
Beginn des zweiten Teils der „Einleitung“ zur transzendentalen Dialektik heißt es: „Es ist ein
alter Wunsch, der, wer weiß wie spät, vielleicht einmal in Erfüllung gehen wird: daß man
doch einmal, statt der endlosen Mannigfaltigkeit bürgerlicher Gesetze, ihre Prinzipien
aufsuchen möge; denn darin kann allein das Geheimnis bestehen, die Gesetzgebung, wie man
sagt, zu simplifizieren. Aber die Gesetze sind hier auch nur Einschränkungen unsrer Freiheit
auf Bedingungen, unter denen sie durchgängig mit sich selbst zusammenstimmt; mithin gehen
sie auf etwas, was gänzlich unser eigen Werk ist, und wovon wir durch jene Begriffe selbst
die Ursache sein können. Wie aber Gegenstände an sich selbst, wie die Natur der Dinge unter
Prinzipien stehe und nach bloßen Begriffen bestimmt werden solle, ist, wo nicht etwas
Unmögliches, wenigstens doch sehr Widersinnisches in seiner Forderung. Es mag aber
hiermit bewandt sein, wie es wolle ..., so erhellet wenigstens daraus: daß Erkenntnis aus
Prinzipien (an sich selbst) ganz etwas andres sei, als bloße Verstandeserkenntnis, die zwar
auch andern Erkenntnissen in der Form eines Prinzips vorgehen kann, an sich selbst aber
(sofern sie synthetisch ist) nicht auf bloßem Denken beruht, noch ein Allgemeines nach
Begriffen in sich enthält.“ „Vernunft“ hingegen ist „das Vermögen der Einheit der
Verstandesregeln unter Prinzipien. Sie geht also niemals zunächst auf Erfahrung, oder auf
irgendeinen Gegenstand, sondern auf den Verstand, um den mannigfaltigen Erkenntnissen
desselben Einheit a priori durch Begriffe zu geben, welche Vernunfteinheit heißen mag, und
von ganz anderer Art ist, als sie von dem Verstande geleistet werden kann“.13
Wir heben an diesem Abschnitt jetzt nur stichwortartig heraus, daß hier Kant erstens die
Prinzipienerkenntnis in Sachen Rechtslehre als bis dato keineswegs geleistet ansieht; daß er
zweitens bereits die Selbstbeziehung der Freiheit als Form des Rechts bestimmt und von daher
dessen ganze Sphäre als „Autopoiesis“ konkret werdender Freiheit, nämlich als „gänzlich
unser eigen Werk“ als praktischer, d.h. freiheitlicher Wesen bestimmt, damit gegen eine wie
auch immer beschaffene Sphäre der „Gegenstände an sich selbst“ und auch der „Natur der
Dinge“ stellt; daß er drittens statt auf Verstandes- auf Vernunfteinheit zielt, wie denn die
Erwähnung des Rechts, das gleichfalls schon in der KdrV als „a priori gegebener Begriff“ 14
eingeführt wird, hier sicher nicht zufällig in die Einleitung der transzendentalen Dialektik als
des reinrationalen Bemühens, Vernunfttotalität zu denken, fällt. Kant hat so jedenfalls,
insbesondere am Beispiel des Einheits-Vielheits-Problems bei Feststellung des Prinzips zu
9
Cf. S. Maimon, Über die ersten Gründe des Narurrechts (1795).
Cf. C. Chr. E. Schmid, Grundriß des Naturrechts (1795).
11
Cf. F.W.J. Schelling, Neue Deduktion des Naturrechts (1796), in: Werke, ed. M. Schröter, Bd. I, 169-204.
12
Cf. J.G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre (1796/97), GA I/3, 291460 und I/4, 1-165.
13
KdrV A301f./B 358f.
14
A 728/B 756
10
4
„bürgerlichen
Gesetzen“,
eine
philosophische
Rechtslehre
als
vernünftige
Prinzipienerkenntnis wenigstens der Möglichkeit nach angekündigt.
Es sollte dann nicht lange währen, bis der erste Rechtslehrer, sich auf diese Stelle berufend,
den in Aussicht gestellten neuen Weg gehen zu können meinte. 1785 erschien in Leipzig
Gottlieb Hufelands (1760-1817) Versuch über den Grundsatz des Naturrechts, eine Schrift,
die aus ihrer kantischen Grundinspiration keinen Hehl machte, wenn sie sich in der Sache
auch damals nur erst auf Kants Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher
Absicht stützen konnte und der Verfasser bei allem, wie er sagt, „gerne zugestandene[n]
Einfluß“ Kants sich dennoch „der vollkommensten Denkfreyheit bedient“ haben und
keineswegs „blindlings auf die Worte des Meisters geschworen“ haben will.15 Kant hat
Hufelands Versuch in der Allgemeinen Litteraturzeitung insgesamt wohlwollend besprochen
und in der Hauptsache nur bemängelt, daß nach Hufeland „die Befugniß zu zwingen sogar
eine Verbindlichkeit dazu, welche uns von der Natur selbst auferlegt sei, durchaus zum
Grunde haben“ solle.16 In diesem kleinen Monitum dürfte sich freilich die Meinung Kants
verbergen, daß der junge Verfasser den nach der Kritik „alten Wunsch“ der Grundlegung des
positiven Rechts in einem einzigen, freiheitlichen Rechtsprinzip noch nicht zu befriedigen
verstanden hat. Kant wendet sich mit seinem Einspruch gegen Hufelands Ableitung der
Zwangsbewehrung des Rechts aus einer „natürlichen Verbindlichkeit“, die „Vollkommenheit
aller empfindenden, vorzüglich der vernünftigen Wesen“, darunter insbesondere die eigene,
zu befördern und jeder „Verminderung“ von Vollkommenheit „einen Widerstand, mithin
einen Zwang“ entgegenzusetzen.17 Nach Hufeland sind, so Kant, überhaupt „Principien, die
blos die Form des freien Willens unangesehen des Objects bestimmen, ... zum praktischen
Gesetze“ „nicht ... hinreichend“; er greift daher auf einen „höchste[n] Zweck eines
vernünftigen Wesens, den ihm die Natur der Dinge vorschreibt“, zurück18 – und zwar, wie wir
ergänzen können, obwohl in dem angezogenen Zitat aus der KdrV die Rechtssphäre gegen die
immer theoretische Sphäre, in der von einer „Natur der Dinge“ allein die Rede sein kann,
schon scharf abgehoben worden war. Hufeland hat die „Vernunfteinheit“, die Kant für den
Rechtsbegriff fordert, in der Tat als Einheit eines materialen Zwecks, also teleologisch
aufgefaßt;19 der Zwang, den er mit der seit dem Thomasius-Schüler Nicolaus Hieronymus
Gundling (1671-1729)20 vorherrschenden Tradition als notwendiges Unterscheidungsmerkmal
von Naturrechtsbefugnissen und –pflichten gegenüber moralischen Handlungsregeln (und
15
G. Hufeland, Versuch über den Grundsatz des Naturrechts. Nebst einem Anhange, Leipzig 1785, 226; cf. auch
7 (Bezug auf die Ideen), 8f. (Zitat von KdrV A 301), 28 (Zitat von KdrV A 728 über die Undefinierbarkeit des
Rechtsbegriffs); ferner Hufelands Begleitschreiben bei Übersendung seines Versuchs an Kant vom 11. Oktober
1785 (AA X, 412f.); in seiner Antwort vom 7. April 1786 (AA XIII, 173) spricht Kant nur von „Mißhelligkeiten,
die zwischen unseren beyderseitigen Beurtheilungen hin und wieder noch übrig bleiben“ und verweist den
Verfasser auf „die fernere Erwägung“ der bereits vorliegenden sowie auf „einige nächst bevorstehende“
„Schriften“.
16
AA VIII, 128f.
17
So nach Kants Zusammenfassung des Hufelandschen Grundsatzes AA VIII, 128; bei Hufeland heißt die
„Richtschnur für alle meine Handlungen“ wörtlich: „Befördere die Vollkommenheit aller empfindenden,
vorzüglich der vernünftigen Wesen“; darin ist enthalten: „Verhindere, daß die Vollkommenheit derselben nicht
gemindert werde“. Aus dem ersten Satz folgt: „Befördere deine Vollkommenheit“, worin wiederum liegt:
„Verhindere, daß deine Vollkommenheit nicht gemindert, d.h. dir nicht ein Theil derselben genommen werde“;
im letzten Satz liegen dann „alle Verbindlichkeiten, andre zu zwingen“ (aaO. 243).
18
AA VIII, 128.
19
Die „Regeln meines Rechtverhaltens müssen Einheit haben, um desto höhere Einheit, da sie Ideen (und nicht
sinnliche Begriffe) seyn sollen. Einheit in verbindlichen Handlungen ist nicht anders als durch den Zweck
möglich, worauf sie gerichtet sind ... Der höchste aller Zwecke, zu dem ich in Ansehung eines Dings handeln
kan, ist Vervollkommung desselben“ (aaO. 239f.). Hufeland ist übrigens auch der Meinung, daß Kant in der
Kritik dem physikotheologischen Beweis „nicht ganz Genüge“ getan habe (230); der Schluß aus den an der Form
der Welt ablesbaren „Wirkungen“ der göttlichen Ursache „auf die Wirklichkeit ihrer Existenz“ ist ihm zufolge
„einer der nothwendigsten“ (232).
20
Cf. N. H. Gundling, Ius naturae et gentium, Halle 1714, 8.
5
insoweit mit Kant übereinstimmend) ansetzt, gewinnt in seiner Ableitung einen quasientelechialen Charakter, und es ist in Folge dieser natural-teleologischen Direktion auf
Vollkommenheit hin, wie Kant weiter bemerkt, auch notwendig so, „daß man von seinem
Rechte sogar nichts nachlassen könne, wozu uns ein Zwang erlaubt ist, weil diese Erlaubniß
auf einer innern Verbindlichkeit beruht, sich durchaus und mithin allenfalls mit Gewalt die
uns gestrittene Vollkommenheit zu erringen“;21 der Zwang fließt eben aus einem materialen
Sollen auf Seiten des Rechtsträgers, und dieser sieht sich ihm „naturrechtlich“, will sagen von
der „Natur der Dinge“ her und mithin außerfreiheitlich, unterworfen. Es gibt insofern ein
Bestimmtwerden der Freiheit, aber nicht, worum es Kant geht, ein gesetzmäßiges Sich-selbstBestimmen der Freiheit auch zu ihrem Gegenteil, dem Zwang. Ohne daß Kant im
Zusammenhang der Hufeland-Rezension auf Näheres einginge und auch ohne eine alternative
Deduktion der Zwangsgewalt des Rechts zu geben, deutet er nur an, daß „ein Recht haben“
bei ihm selbst (zumindest für den einzelnen, also im „Naturzustand“) jedenfalls etwas anderes
heißen soll als kraft eines inneren Vollkommenheits-Sollens zur Zwangsanwendung
verpflichtet zu sein: es meint vielmehr nur, die Befugnis haben, etwas zu erzwingen, aber es
meint – wie gesagt für den einzelnen Rechtsträger – auch, dieser Befugnis gegenüber noch
einmal frei zu sein. Aber wie dem auch sei: Hufelands Naturrechtsgrundsatz erweist sich als
auf
einen
material-naturrechtlichen
Gedanken,
eben
den
universalen
Vervollkommnungsimperativ gestützt, den Kant hier vorsichtig als eine zu starke Annahme
für eine eigentlich kritische Rechtsbegründung bezeichnet22 und in dem durchaus auch
Heteronomie lauern könnte.23
Freilich können hier Rückfragen entstehen: Hat Hufeland mit der Bezugnahme auf einen
Zweckgesichtspunkt im Naturrecht nicht doch auch etwas Richtiges, wenigstens etwas für das
Naturrechtsdenken insgesamt Unverzichtbares gesehen? Enthält nicht jeder Rekurs auf das
Naturrecht – und Kant untersagt einen solchen ja nicht, sondern versucht das Naturrecht
seinerseits neu zu fassen – immer auch einen Vervollkommungsimperativ, z.B. gegenüber
positiven Rechtsordnungen, bis dahin, daß es beim wenn auch umstrittenen Widerstandsrecht
zum Versuch einer rein naturrechtlich begründeten Zwangsausübung gegen den wirklichen
oder vermeintlichen Unrechtsstaat kommen kann? Und ist, auch abgesehen von der Frage
nach dem Ursprung der Zwangsbefugnis überhaupt, gerade auch dann, wenn man die
Ergebnisse der dritten Kritik nicht aus dem Auge läßt, eine nicht-teleologische
Vernunfteinheit in Beziehung auf empirische Mannigfaltigkeit überhaupt denkbar? Enthalten
so nicht auch Kants eigene Entwürfe zur Geschichtsphilosophie eine Art
„Naturrechtsteleologie“, die auf einen normativen, nicht zuletzt durch „Kunstanstalten der
Natur“24 beförderten End- und Bestzustand hin angelegt ist, wobei diese kantische „List der
Natur“ doch gewiß mit Autonomie noch nicht viel zu tun hat? Welchen Sinn hat überdies,
wenn das Vervollkommnungsmotiv wegfällt, beispielsweise noch die heute ja durchaus auf
dem Vormarsch begriffene Rede von „Staatszwecken“? Gibt es also ein Naturrecht – und
Kant entwickelt, wie gesagt, in der Rechtslehre nach eigenem Bekunden durchaus ein solches,
nämlich nur Recht im Sinne von Rechtsprinzipien a priori –, das des Zweck- oder auch eines
Vollkommenheitsbegriffs entraten kann? Oder, kurz gefaßt: ist als Alternative dazu ein streng
autonomistisch entwickeltes Naturrecht überhaupt denkbar? Wir wissen bereits, daß Schelling
und Fichte in ihren Naturrechtsdeduktionen auf diese Frage eine bejahende Antwort gegeben
haben, aber wir wissen auch, daß die Grundlage für ihre Bejahung bereits eine Theorie
absoluter Subjektivität oder auch Subjekt-Objektivität war, die im strengen Sinne bei Kant so
21
AA VIII, 129.
Hufelands „Grund“ enthält „mehr ..., als zu jener Folge [sc. einer Zwangsbefugnis] nöthig ist“ (AA VIII, 129).
23
Kant weist auch darauf hin, daß ein „Vollkommenheitskalkül“, der ja immer auch das Ganze im Blick haben
soll, „selbst in den gemeinsten Fällen des Lebens“ kaum praktikabel zur Ermittlung realer Rechte sein dürfte
(ibd.).
24
Cf. Zum ewigen Frieden, AA VIII, 362.
22
6
nicht anzutreffen ist. Wir bleiben daher zur Beantwortung der gestellten Fragen auf
kantischem Boden, den wir dazu jedoch zuerst noch etwas genauer erkunden müssen.
2. Naturrecht als produktive Distanz zum positiven Recht
In bezug auf Kants Stellung zum Naturrechtsdenken kursieren noch immer die
unterschiedlichsten Auffassungen. Unter den älteren Autoren war etwa Dulckeit der Meinung,
„daß die kantische Rechtslehre“, konsequent zu Ende gedacht, „zu einer Verneinung allen
positiven Rechts hätte führen müssen“;25 er sah Kants Problem darin, von seinem konsequent
vernunftrechtlichen Ansatz aus nicht ohne Widerspruch in das Bathos des Empirischen
hinabsteigen zu können – insofern freilich habe Kant indirekt gezeigt, „daß ein Vernunftrecht,
Naturrecht, oder, wie man behaupten darf, jedes Idealrecht ... den Widerspruch in sich selbst
trägt“.26 Klausen hat demgegenüber das Verdienst Kants gerade darin gesehen, die schon
begründungs- und geltungstheoretische Unhaltbarkeit des rechtspositivistischen Standpunkts
aufgewiesen und ihm den Begriff eines „moralischen Rechts“, d.h. des Naturrechts,
entgegengesetzt zu haben.27 Allerdings weiß man auch, daß Kelsen in mancher Beziehung in
neukantianischen Bahnen dachte und etwa für seine Unterscheidung von Seins- und
Sollensordnung, aber auch für die von Recht und Moral bei Kant anknüpfen konnte28, und
von keinem geringeren als Radbruch stammt das Wort: „Nicht Rechtsgeschichte und
Rechtsvergleichung, sondern Erkenntnistheorie, nicht die Historische Schule, sondern die
Kritische Philosophie, nicht Savigny, sondern Kant hat den entscheidenden Schlag gegen das
Naturrecht getan“.29 Kersting schließlich hat von einem „mittleren Kurs“ gesprochen, den
speziell „Kants Theorie der Verbindlichkeit positiven Rechts ... zwischen der Scylla des
Naturrechts und der Charybdis des Rechtspositivismus ... zu halten“ versucht habe. 30 Derlei
Ambivalenzen in der Kantdeutung enthalten vielleicht einen ersten Fingerzeig auf das von
Kant in der (tatsächlich „den Widerspruch enthaltenden“) Rechtsidee selbst erkannte
Synthesisproblem, das uns noch beschäftigen wird.
Es dürfte sich an dieser Stelle lohnen, einen kurzen Blick zurück auf die zweifelsohne
imposante und übrigens ganz singuläre europäische Naturrechtstradition wie auch auf ihre
systematische Kernaussage zu werfen.31 Es ist dabei als bekannt vorauszusetzen, daß das
Naturrecht in der Gegenwart trotz mancher aktueller Diskussionen, die, wie diejenigen um
den „gerechten Krieg“ oder die universelle Geltung von Menschenrechten, von ihm kaum
ablösbar sind, nicht gerade Konjunktur hat – was freilich nicht unbedingt bedeutet, daß
deshalb die Begriffe und begrifflichen Bedürfnisse, denen der Naturrechtsgedanke antwortet,
wirklich geklärt wären. Den Kern alles Naturrechtsdenkens, und zwar des
„substantialistischen“ wie auch des kritischen, mag man in der These sehen, daß der Sinn des
Begriffs „Recht“ grundsätzlich niemals in den „Rechten“ und Pflichten aufgeht, die ein
empirischer Gesetzgeber empirischen Rechtsgenossen als seine hier und jetzt maßgebliche
Willensmeinung vorlegt. Bestreiten wird den Sinn dieser These dagegen, wer „Recht“ von
vornherein (nur) als zwangsbewehrte soziale Regel versteht, die zu befolgen eben hier und
jetzt „recht“, die nicht zu befolgen aber „unrecht“ sei und heißen müsse. Das heißt im
Extremfall, daß beispielsweise jemand, dem die Ausübung seiner Religion untersagt wird,
25
Dulckeit (Fn. 4), 62.
AaO. 68.
27
Klausen aaO. (Fn. 4), 11ff. 28.
28
Cf. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Auflage Wien 1960, 102ff. Anm.; auch Arthur Kaufmann,
Rechtsphilosophie, 2. Aufl. München 1997, 14. 214.
29
G. Radbruch, Rechtsphilosophie, ed. R. Dreier/St. L. Paulson, Heidelberg 1999, 21
30
Kersting (1984) (Fn. 4), 351; zur Illustration vergleiche Kerstings hilfreiche Darstellung der kantischen
Zurückweisung des Widerstandsrechts 348f., Anm. 267.
31
Problemüberblick bei R. Zippelius, Rechtsphilosophie, 3. Aufl. München 1994, § 12; bei Zippelius erscheint
Kant vor allem als Kritiker des naturalistischen Fehlschlusses (97).
26
7
allenfalls metaphorisch behaupten könnte, er habe doch ein „Recht“ auf seine Religion; im
eigentlichen Wortsinn hat er ein solches Recht dann nämlich gerade nicht. Der
Rechtspositivist, der so denkt, wird sich dabei etwa auf eine analytische Spracheindeutigkeit
berufen, und er wird in dem Versuch, den Sinn von „Recht“ weiter zu fassen, metaphysischen
Ballast (z.B. im Sinne einer Berufung auf einen nicht-empirischen Gesetzgeber, dem ein
Einspruchsrecht gegen den empirischen vorbehalten bleibt) vermuten, er wird das Naturrecht
generell unter Ideologieverdacht stellen oder aber auf seine juridische Nutzlosigkeit, wo nicht
gar seine Gefährlichkeit für den Bestand der wirklichen Rechtsordnung, also des eigentlichen
„Rechts“, hinweisen. Einwände dieser Art sind in der Tat oft erhoben worden, und sie sind in
mancher Beziehung durchaus ernstzunehmen. Der Einwand des metaphysischen Ballastes
betrifft beispielsweise alle Naturrechtstheorien, die im Sinne einer einfachen
Legeshierarchisierung materiale Rechtsnormen namhaft machen wollen, die zuletzt jeden
Gesetzgeber binden sollen und als deren eigener „Gesetzgeber“ dann Gott, die Natur des
Menschen oder auch eine dem Menschen vorgegebene naturgesetzliche Gesamt- oder
Sachordnung auftreten. In diesem Sinne hat beispielsweise Kants Lehrbuchautor Achenwall
das Naturrecht teils im Willen, im Wesen und den Eigenschaften Gottes, teils in der „Natur
der Dinge“ begründet, und es nimmt nicht wunder, daß Kants prinzipieller Einwand hier
lautet, daß uns die erforderliche theoretische Erkenntnis der dabei in Anspruch genommenen
Größen abgeht;32 mit diesem Einwand wird nur in Erinnerung gebracht, was als Ergebnis der
Kritik insbesondere auch in Beziehung auf die theoretische Erkennbarkeit Gottes und einer
Welt oder Naturordnung im ganzen feststeht. Auf die „Natur des Menschen“, speziell auf das
Sozialitätsbedürfnis des von Natur „gebrechlichen“ Menschen, hatten Pufendorf und seine
Nachfolger, die damals sogenannten „Sozialisten“;33 das Naturrecht gegründet. Der
Standardeinwand, der hier zu gewärtigen ist, würde lauten, daß aus einer wie auch immer
beschaffenen Natur und ihren Notwendigkeiten keine Sollenssätze, am wenigsten
überpositive Rechtsnormen abgeleitet werden können. Was schließlich eine naturgesetzliche34
Gesamtordnung angeht, eine Ordnung, die dann bis auf dem Menschen mit dem Tier
gemeinsame Instinkte zurückverfolgt werden35 und die von daher z. B. eine stoisch gefaßte
Teilhabe an der logischen Weltseele oder, wie bei Vico, ein ordnendes Walten der Vorsehung
auch dort, wo der Mensch keineswegs schon „rational“ Herr seiner selbst ist, meinen kann, so
scheint dergleichen zumindest einer rationalen Konstruktion des Rechtsbegriffs zu
widersprechen, wenigstens aber durch diese ablösbar zu sein; die terminologische Zäsur, die
der Schritt vom Natur- zum Vernunftrecht in der Neuzeit meinte, besagt immerhin nicht so
sehr, daß älteres Naturrechtsdenken keine Vernunftprinzipien in Anspruch genommen hätte,
als vielmehr, daß für die Begründung des überpositiven Rechts jedenfalls nicht auf einen
vorrationalen Bereich zurückgegriffen werden sollte. Der Ideologieverdacht gegenüber dem
Naturrecht läßt sich sodann auf die Formel bringen, daß im Naturrechtsdenken berechtigte
oder auch unberechtigte moralische Ansprüche in Rechtsform gekleidet werden sollen, daß
man also auf einem Schleichweg zu Zwecken gelangen will, die auf dem geraden rechtlichen
Wege nicht erreichbar scheinen – wobei es übrigens gleichgültig ist, ob das Naturrecht eher in
„konservativem“ oder aber in „reformistischem“, ja „revolutionären“ Sinne aufgerufen wird;
beides ist, wie man weiß, möglich, wie denn Naturrechtsformeln sowohl der Überhöhung wie
Cf. Kants Bemerkung im Naturrecht Feyerabend: „Der Autor nimmt in seinen Prolegomenen zum Princip des
Rechts, die Uebereinstimmung der Gesetze mit dem göttlichen Willen. Aber denn muß ich doch wissen, was
Pflicht sey, und wie der göttliche Wille beschaffen sey. - - Bei uns ist das Princip, daß eine Handlung mit der
Freiheit aller nach einem allgemeinen Gesetz beisammen bestehe, diese Handlung ist erlaubt und wir haben
Befugniß“ (AA XXVII, 2/2, 1332).
33
Cf. J.G. Buhle, Lehrbuch des Naturrechts, Göttingen 1798 (ND Brüssel 1969), 40.
34
Die „lex naturalis“ ist dabei im vorneuzeitlichen Sinne, d.h. nicht als deskriptiver allgemeiner Satz, sondern
teleologisch zu verstehen.
35
So in der berühmten Definition des justinianschen Corpus Juris: „Ius naturale est, quod natura omnia animalia
docuit: nam ius istud non humani generis proprium, sed omnium animalium ... commune est“ (D. I 1, 1, 3).
32
8
der Herabsetzung geltenden positiven Rechts dienen können: man kann, zumindest auf der
Oberfläche, mit solchen Formeln sowohl den Sinn gesetzter Ordnungen legitimieren wie ihre
Verwerflichkeit behaupten, man kann „naturrechtlich“ ebenso die Sklaverei wie ihre
Abschaffung rechtfertigen.36 Damit verbindet sich schließlich die Gefahr, die von allen
„Rechtspropheten“ (M. Weber)37, die innerhalb bereits festgefügter Rechtsordnungen
auftreten, auszugehen scheint: die Gefahr, daß die in der Naturrechtsthese liegende
Vorbehaltlichkeit gegenüber dem effektiv geltenden Recht dieses eben um seine effektive
Geltung oder, in modischeren Kategorien gesprochen, um seine spezifische „Funktion“, um
die Wirksamkeit und „Effizienz“ seiner öffentlichen Geltung bringen kann.
Trotz der genannten und in vielfacher Variation auch oft wiederholten Bedenken, die sich in
der Hauptsache auf je und je explizit gewordenes Naturrecht beziehen, eignet der
Naturrechtsthese, also der These, daß der Sinn von „Recht“ grundsätzlich nicht im hier und
jetzt geltenden Gesetz aufgeht, eine schwer zu überspielende Grundplausibilität. Diese
Plausibilität hängt nicht zum wenigsten damit zusammen, daß die Frage nach dem richtigen
Recht ohne die durch das Naturrechtsdenken eröffnete produktive Distanz zum positiven
Recht nicht eigentlich gestellt werden kann. Das Hauptproblem ist dabei nur, welcher Art die
Prinzipien sind, an Hand derer über die Rechtsrichtigkeit gestritten werden soll. Daß es sich
nicht eigentlich um moralische Prinzipien handeln darf, ist seit Thomasius38 und Gundling39
klar und wird von Kant mit Vehemenz festgehalten; daß es auch nicht eigentlich um
theoretische Erkenntnisse über „die Natur“ gehen kann, ist insbesondere durch Kant und seine
strikte Trennung von theoretischer und praktischer Vernunft klargemacht worden. Was zur
Beantwortung der Frage nach dem richtigen Recht damit übrig bleibt, ist der Rückgang auf
die Idee des Rechtes als solche, die hier jedoch in ihrer Sinnautonomie zur Geltung gebracht
werden muß. Bei Kant ist dies dadurch eindeutig der Fall, daß für ihn der Begriff des Rechts
ein Vernunftbegriff a priori ist und Naturrechtsdenken auch eigentlich nichts anderes meint
als die Entfaltung dieses apriorischen Begriffs. Die Distanz, die das Naturrecht gegenüber
dem positiven Recht einzunehmen gestattet, ist nicht etwa die Distanz einer Metarechtlichkeit,
die selbst aus anderen als Rechtsprinzipien konzipiert wäre. Die naturrechtliche Distanz ergibt
sich vielmehr aus dem Gefälle, das zwischen dem apriorischem Kerngehalt der Rechtsidee
und den empirischen Momenten ihrer Realisation entsteht; sie ist eine Distanz, die das Recht
eben als autonome, sich auf sich selbst beziehende Idee sich selbst gegenüber wahrt. Kant
spricht von „unwandelbaren Principien“ „zu aller positiven Gesetzgebung“, die in der
„natürlichen Rechtslehre“, dem „Ius naturae“, zu entwickeln seien;40 das positive Recht
dagegen geht von Fall zu Fall „aus dem Willen eines Gesetzgebers hervor[ ]“. 41 Der
Gesetzgeber bzw. das Staatsoberhaupt wiederum ist gehalten, dann, „wenn einmal Gebrechen
in der Staatsverfassung oder im Staatenverhältniß angetroffen werden, ... dahin bedacht zu
sein, wie sie sobald wie möglich gebessert und dem Naturrecht, so wie es in der Idee der
Vernunft uns zum Muster vor Augen steht, angemessen gemacht werden könne“.42 Bei Kant
kann dies nichts anderes heißen, als daß der Gesetzgeber aus Rechtsgründen verpflichtet ist,
auf die Rechtsidee als solche zurückzukommen, wo immer eine positive Gesetzgebung dieser
Idee widerstreitet, und die Rechtsidee positiv zu realisieren. Der Umkreis des Rechts wird
dabei durch diese Naturrechtsreflexion nicht verlassen, aber es wird die produktive Distanz
zugelassen; das Recht kann, wenn man so will, mit sich selbst in inneren Widerstreit treten,
36
Andere Beispiele bei H. Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?, Wien 1953, 38f.
Cf. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5., rev. Auflage Tübingen 1980, 504. Nach Weber überwiegt
übrigens die „revolutionäre“ Funktion des Naturrechts; cf. aaO. 497ff.
38
Cf. bei ihm insbesondere die Unterscheidung zwischen den zwangsbewehrten Gesetzen (imperia) und den rein
moralischen „Räten“ (consilia) (Chr. Thomasius, Fundamenta juris naturae et gentium, 1718, I, 5, § 34).
39
Cf. oben Fn. 20.
40
MAR, AA VI, 229.
41
AaO. 237
42
Zum ewigen Frieden, AA VIII, 372
37
9
aber sich gerade daraus seiner positiven Seite nach auch fortbestimmen. Kant hat diesen
Widerstreit dabei nicht etwa als zufällige Defizienzerscheinung am existierenden Recht
verstanden. Er hat in ihr vielmehr eine für die Rechtsidee als Gestalt von Vernunft-, nicht
Verstandeseinheit geradezu konstitutive Antinomie erblickt,43 eine Antinomie, die bei ihm
beispielhaft in der Konkurrenz einer „possessio noumenon“ und einer „possessio
phaenomenon“ innerhalb des Privatrechts konkret wird,44 die in der Sache aber eine weit über
diesen Zusammenhang hinausgehende Bedeutung hat. Man könnte etwas emphatisch
geradezu davon sprechen, daß das Leben des Rechts45 in diesem inneren, wiewohl lösbaren
Widerstreit von Naturrecht und positivem Recht besteht.46
3. Die Rechtsantinomie
Das Problem des Rechts ist nach Kant nicht nur, wie bereits gesagt, das Problem eines
Begriffs a priori überhaupt; es ist vielmehr das Problem eines synthetischen Begriffs a priori,
der zugleich nicht leer bleiben soll, der also raum-zeitlich zu schematisieren und empirisch zu
realisieren ist. Das formale Rechtsprinzip, daß die Freiheit des einen mit der Freiheit des
anderen in gesetzmäßiger Form zugleich soll bestehen können, entfaltet die Rechtsidee nur
erst analytisch; es besagt im Grunde nur, daß Freiheit der Freiheit nicht widersprechen kann
und entsprechend aller Gebrauch der Freiheit Freiheit nicht aufheben soll. Der unmittelbare
Naturrechtsgedanke, daß jeder Mensch frei geboren oder, wie Kant sagt, Freiheit das „einzige,
ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht“ sei,47 führt
demgemäß auch nicht sogleich auf eine echte Rechtsantinomie. Die Antinomie entsteht
vielmehr erst durch den synthetischen Ausgriff des Freien auf ein praeter se, auf einen
Gegenstand oder eine Person außer ihm, die unter das ursprüngliche „Ich bin frei“ subsumiert
werden sollen. Sie entsteht, sobald der mit dem angeborenen, in der Tat aber zunächst nur
intelligiblen Freiheitsrecht ausgestattete homo noumenon seinen Fuß auf diese Erde, in das
Reich der Erscheinung setzt und auch in ihm sein Freisein behaupten will. Die spezifische
Aufgabe des Rechtes ist es jedoch gerade, diesen Ausgriff auf die Erscheinung selbst realiter
freiheitserhaltend zu gestalten, nämlich so, daß die Synthesis von Ich und Objekt oder auch
von Ich und anderem Ich dem analytischen Gedanken, daß Freiheit Freiheit nicht aufheben
kann und soll, nicht zuwider läuft. Erst mit diesem Bezug auf die objektive oder äußere
Gestalt von Freiheit kommen nach Kant ihrer Wurzel nach außerfreiheitliche, naturhafte
Momente ins Spiel. Daß ich ursprünglich frei bin, heißt ja in rechtlicher Hinsicht nicht nur,
daß ich mich als frei denke oder mich in praktischer Hinsicht überhaupt selbst bestimme. Es
heißt zum Beispiel – noch ganz elementar – auch, daß ich befugt bin, einen bestimmten Raum
einzunehmen – jeder Mensch hat nach Kant das Recht, irgendwo auf der Erde zu weilen und
nicht überhaupt von allem Boden vertrieben zu werden. Dennoch kann ich als rechtlich
Handelnder nicht einfach jeden Boden besetzen, nicht einfach jedes Haus betreten. Die
Synthesis mit dem konkreten Raum ergibt in diesem Beispiel den Konflikt zwischen dem
intelligiblen Rechtstitel auf einen Raum überhaupt und der Unmöglichkeit, den abstrakten
Titel auf Raum überhaupt empirisch bestimmt durchzuführen; denn empirischer Raum ist
Daß es sich dabei nicht etwa nur um einen „Systemzwang“ handelt, dem Kant nur aus formalen Gründen
gefolgt wäre, zeigt P. Baumanns, „Kants Antinomie der reinen Rechtsvernunft in systemgeschichtlicher und
systematischer Hinsicht“, Philosophisches Jahrbuch 100 (1993), 282-300.
44
Cf. MAR AA VI, 254f., aber auch in den Vorarbeiten zur Rechtslehre AA XXXIII, 224ff., 230-233, 280f.,
324f., 326f. und 331-334 (dazu Baumanns [Fn. 43], 293-295).
45
Rechtsgeschichte, Rechtssoziologie und kulturgeschichtliche Betrachtung des Rechts sind entsprechend der
Lehre von der Rechtsidee nicht äußerlich, sondern von ihr umgriffen.
46
E. Zacher, Der Begriff der Natur und das Naturrecht, Berlin 1973, spricht von einer „Unschließbarkeit“,
„Transzendentalität“ und einem „Durchbruch in die Unendlichkeit“ als Naturrechtsmerkmalen (bes. 105ff.);
seine Ergebnisse liegen teilweise näher bei Kant und dem Deutschen Idealismus, als auf den ersten Blick erhellt.
47
MAR, AA VI, 237
43
10
eben nicht Raum überhaupt, sondern bestimmter Raum, der aber als bestimmter nicht
zugleich von mehreren Subjekten beansprucht werden kann, so daß hier eine negative
Grenzziehung oder die Errichtung einer „Rechtsgrenze“ erforderlich wird.48 Dasselbe
Problem äußert sich auch in Kants „Besitzantinomie“. Sie lautet in der Fassung der MAR:49
- (Thesis:) „Es ist möglich, etwas Äußeres als das Meine zu haben, ob ich gleich nicht im
Besitz desselben bin.“
- (Antithesis:) „Es ist nicht möglich, etwas Äußeres als das Meine zu haben, wenn ich nicht
im Besitz desselben bin.“
Die Antinomie zielt auf die Tatsache, daß die Rechtssynthesis von Subjekt und äußerem
Gegenstand ebenso sehr eine intelligible wie eine empirische Seite haben muß. Etwas
Äußeres als „das Meine“, als „meum iuris“ zu bezeichnen, ist zunächst eine empirisch
kontraintuitive Synthesis, wenigstens solange die gemeinte Meinigkeit nicht ebenso empirisch
demonstriert wird – zum Beispiel dadurch, daß ich, d.h. ich durch „meinen“ Leib den als das
Meinige beanspruchten Boden im Wortsinne „in Besitz nehme“, etwa mich darauf setze –
übrigens wird in dem hier indizierten Übergang von „Ich“ zu „meinem Leib“, wie man über
Kant hinausgehend sagen kann, bereits ein erstes, elementares Naturrecht deutlich, nämlich
das Naturrecht, „Ich“ überhaupt leiblich zu definieren, Ich also als selbst erscheinend zu
behaupten, an welchem naturrechtlichen „habeas corpus“ Grundrechte wie dasjenige auf die
Unversehrtheit des Leibes hängen, aus dem die naturrechtlichen Verbote von Mord, Totschlag
oder Verstümmelung folgen.50 Allerdings bleibt dabei nicht nur die Rechtsidee, sondern auch
die konkrete Rechtssynthesis, d.h. die tragende Form der Rechtswirklichkeit, primär ein
intelligibler Sachverhalt. Was es heißt, auf etwas ein Recht oder zu etwas eine Rechtspflicht
zu haben, kann man nicht einfach „sehen“, es ist nicht einfach an empirischen Merkmalen
ablesbar, auch nicht an leiblichen; Fichtes bekannte Formel, daß „Menschengestalt ... dem
Menschen nothwendig heilig“ sei,51 gehört zwar zweifelsohne zu den schönsten
Naturrechtsgrundsätzen, die jemals aufgestellt worden sind, aber sie bietet selbstverständlich
nicht einfach eine empirische Handhabe, durch welche etwa aktuelle Streitfragen wie die nach
Organentnahmen, Abtreibung, Euthanasie oder auch genetischer Manipulation schon auf der
Ebene des phänomenalen Vordergrundes, das heißt ohne Rückgriff auf die in ihrem Kern
nicht einfach erscheinende Bestimmung zur Freiheit jedes menschlichen Individuums schon
entschieden wären. Kant hat, indem er das Recht in dem angesprochenen Sinne als von
vornherein überempirische bzw. in ihrem Empiriebezug dialektische Wirklichkeit
herausgearbeitet hat, übrigens jeder Art empiristischer Kurzschlüssigkeiten in der
Rechtsbegründung den Boden entzogen, damit etwa derjenigen, die, nach Art des
sophistischen „Rechts des Stärkeren“, bei kontingenten empirischen Sachverhalten meinte
anknüpfen zu können. Im mundus phaenomenon rein als solchem gibt es nicht nur kein
„Recht“ des Stärkeren, es gibt in ihm rein als solchem vielmehr überhaupt kein Recht, so
wenig es in ihm eine wirklich gerade Linie, einen rechten Winkel oder auch eine Moral gibt,
ja so wenig es in ihm, wie die dritte Antinomie der KdrV gezeigt hat, überhaupt Freiheit gibt.
Kant hat dies des öfteren festgehalten, so etwa in den Vorarbeiten zur Rechtslehre, wenn es
dort heißt: „... das Recht läßt sich den Sinnen gar nicht in einer ihm correspondirenden
Cf. die Vorarbeiten zur Rechtslehre, AA XXIII, 279f.: „Jeder Mensch hat ein angebohrnes Recht an irgend
einem Orte der Erde zu seyn, denn sein Daseyn ist noch kein factum folglich auch kein iniustum. ... Da aber
jeder andere auch das Recht hat so hat der prior occupans das provisorische Recht jeden der ihn daran hindert zu
zwingen sich mit ihm in einen Vertrag einzulassen die Grenzen des erlaubten Besitzes zu bestimmen und bey
dessen Weigerung Gewalt zu brauchen“.
49
AA VI, 255
50
H. Reiner, Grundlagen, Grundsätze und Einzelnormen des Naturrechts, Freiburg/München 1964, bes. 33ff.
hat in diesem Zusammenhang vom „Recht auf den Urbesitz der Person“ gesprochen.
51
Fichte (Fn. 12), § 6, GA I/3, 383.
48
11
Anschauung geben d.i. darstellen“.52 Das Recht gehört wie die ihm in der Freiheit
gleichursprüngliche Moral vielmehr ursprünglich dem mundus noumenon an, und einen
Menschen als ursprünglich frei, d.h. als wirklichen Rechtsträger ansehen, wie es das
Naturrecht im kantischen Sinne verlangt, heißt immer zuerst, ihn schon als homo noumenon
ansprechen. Entsprechend legt sich das „Dies ist mein“ sozusagen aus der übersinnlichen
Welt über den sinnlichen Gegenstand; der Gegenstand wird, wenn man so will, von einer ihm
ursprünglich fremden Wirklichkeit her „kolonisiert“, und er wird zugleich, worin der
naturrechtliche Sinn des Eigentumsrechtes liegt, zur sozusagen erweiterten Leiblichkeit der
sich leiblich ursprünglich selbst besitzenden Person. Im Sinne dieser Kolonisierung der
Empirie im Zeichen des Rechts ist es dann aber prinzipiell nicht erforderlich, daß die
Inhabung des empirischen Bodens selbst empirisch erfolgt; es genügt, daß sie aus
Rechtsprinzipien heraus erfolgen kann, d.h. daß eine Befugnis, empirische Gegenstände als
meine erweiterte Leibessphäre anzusehen und entsprechend zu gebrauchen, gegeben ist. Die
Thesis der Besitzantinomie bringt gerade dies zum Ausdruck, während die Antithesis es zu
bestreiten scheint. Aber Kant löst die Antinomie, indem er die Antithesis ihrerseits vom
intelligiblen Besitz, nicht von der physischen Inhabung reden läßt. Unter dieser Bedingung ist
es tatsächlich zutreffend, daß es rechtlich unmöglich ist, daß ich ein Äußeres als ein „meum
iuris“ reklamieren kann, ohne auf es den intelligiblen, d.h. freiheitserhaltenden Rechtstitel zu
haben. Was auf den ersten Blick zumindest unter der Prämisse, daß Recht als überempirische
Wirklichkeit anerkannt ist, fast banal erscheint, betrifft dabei doch die Bedingungen der
Möglichkeit einer eigentlich so zu nennenden Rechtssynthesis; es betrifft die innere
„Umwendung“, die die Rechtsidee in sich selbst erfährt, indem sie überhaupt positiv wird.
Diese innere Umwendung ist ihre von Kant in der Rechtsantinomie gesehene und bereits
angesprochene Dialektik, eine Dialektik, die ihrerseits indiziert, daß es beim Recht um
konkrete Vernunfteinheit zu tun ist: um eine Einheit von Innerem und Äußerem, von Freiheit
und Notwendigkeit, von Einheit und Vielheit des Rechts und der Rechte überhaupt.
Transzendentallogisch wird in der Rechtssynthesis aus dem „Ich“ der praktischen Vernunft,
d.h. dem ursprünglichen „Ich bin frei“, ein „Dieses da fällt in die Sphäre meiner Freiheit“,
wodurch, rechtssynthetisch, das freie Ich immer auch selbst noch einmal anschaulich wird –
wie man denn in gewissem Sinne überhaupt sagen könnte, daß es die Aufgabe des
Rechtsdenkens ist, das sozusagen über die Grenzen meiner empirischen Leiblichkeit hinaus
erweiterte Leib-Seele-Problem zu erörtern, d.h. die legale Reichweite der „Beseelbarkeit“ der
empirischen Welt durch mich abzustecken. Daß im Leben und der Konkretion des Rechts das
Subjekt Objekt wird, also Kants Problem des „zweifachen Ich“53 eine sehr handfeste
Bedeutung gewinnt, daß dabei aber, wie bereits erwähnt, auch Freiheit in Zwang umschlägt
und umschlagen muß, ist von Kant in aller Schärfe gesehen, und es bietet sich geradezu an,
die antinomische Grundstruktur in der Auffassung der Rechtswirklichkeit auf alle weiteren
Grund-, d.h. Naturrechtsfragen im Umkreis der Rechtsphilosophie auszudehnen. Dies muß
hier unterbleiben; stellvertretend für weiteres sei nur auf die Gleichheitsantinomie verwiesen,
die insbesondere für den Begriff rechtlicher Gerechtigkeit nicht ohne Bedeutung ist. Nach
Kant fließt die ursprüngliche Gleichheit aller Rechtsgenossen unmittelbar aus dem
angeborenen Freiheitsrecht, denn eben in dieser Hinsicht, frei zu sein, sind alle Rechtsträger
eo ipso wirklich gleich54 – die allgemeine „Natur“ des Rechtssubjekts ist es, gerade kein
Naturgegenstand, sondern frei zu sein. Wieder ist klar, daß eine solche Gleichheit der Freien
keine Qualität ist, die irgend empirisch wahrgenommen werden könnte; sie ist daher
AA XXIII, 275; cf. auch 277: „Das Recht ... als Vernunftbegriff kann nicht anschaulich gemacht werden als
nur durch den Schematism des Besitzes der empirisch seyn kann[,] nicht des Rechts“.
53
Cf. Fortschritte der Metaphysik, AA XX, 270. – Zum systematischen Zusammenhang cf. E. Heintel, Das
„Faktum“ des „zweifachen Ich“ bei Kant, in: ders., Gesammelte Abhandlungen, Bd. 8, Stuttgart-Bad Cannstatt
2000, 159-186.
54
Cf. MAR, AA VI, 237f.
52
12
wiederum nur ein Attribut des homo noumenon oder des Rechts-Ichs als solchen; sie ist ein
Idealismus, der freilich den naturrechtlichen Kerngehalt der Rechtsidee betrifft. Die
Rechtsantinomie, für das Gleichheitsprinzip formuliert, würde beispielsweise besagen:
- Es ist möglich, den anderen Rechtsgenossen als mir gleich zu bestimmen, weil er ein
anderer Rechtsgenosse ist.
- Es ist nicht möglich, den anderen Rechtsgenossen als mir gleich zu bestimmen, weil er ein
anderer Rechtsgenosse ist.
Damit ist übrigens nicht nur eine Analogie zu der Besitzantinomie gebildet; es ergeben sich
vielmehr auch unmittelbar Ausblicke auf das Gerechtigkeitsproblem. Es liegt auf der Hand,
daß sich in der Gleichheitsantinomie, wie wir sie hier formuliert haben, das Problem des
Verhältnisses von kommutativer und distributiver Gerechtigkeit verbirgt. Der Kern des
Gleichheitssatzes ist der Begriff kommutativer Gerechtigkeit; diesem Kern nach ist der
Sachverhalt, daß der andere Rechtsgenosse ein anderer ist, gerade aufgehoben; der eine und
der andere sind vor dem Gesetz überhaupt gleich, nämlich beide frei und befugt, einen
gleichen ihnen vom Gesetz gewährten Raum einzunehmen. Aber der gleiche Gleichheitssatz
wandelt sich in seiner Realisierung an der Erscheinung oder angesichts erscheinender
Ungleichheit aus einem unbedingten in einen bedingten; er besagt jetzt zum Beispiel, daß
wenn eine gleiche Leistung vorliegt auch eine gleiche Gegenleistung zu erbringen ist, wenn
nicht, dann nicht und vielmehr eine proportional verschiedene, weil eben alles andere
ungerecht wäre – er begründet jetzt also das Prinzip distributiver Gerechtigkeit, das immer
auch Billigkeitsmomente55 oder Spielräume individueller Ausgestaltung enthält, dabei jedoch
den strikten, wenn auch „nur“ intelligiblen Grundsatz der kommutativen Gleichheit der
Rechtsgenossen nicht prinzipiell antasten oder unkenntlich machen darf. Diese Überlegungen
machen noch einmal deutlich, daß in einem kantischen Konzept von Naturrecht in
Übereinstimmung mit dem kritisch festgestellten Primat des Praktischen das im materialen
Sinne Naturhafte erst an zweiter Stelle, nämlich als einschränkende Bedingung in der
Anwendung der allgemeinen Rechtsprinzipien, nicht etwa als Prämisse oder Ansatzpunkt
solcher Prinzipien, in den Blick kommen kann; das Recht als Recht und auch als Naturrecht
empfängt keine Imperative von der Natur, es schematisiert sich allerdings selbst auf das
physische Erscheinen von Handlungen hin, das äußerlich-gesetzesförmig und insofern auf
Freiheit hin transparent sein soll, in das aber mittelbar auch rechtlich zu momentaneisierende
Naturbestimmungen eingehen müssen, eben insofern die äußeren Gesetze, also das positive
Recht, die Rechtsidee ja realisieren und anschaulich darstellen sollen. Bestimmte Natur ist so
zwar Moment des Schematismus des Rechts, Moment seiner Einsenkung in das raumzeitliche Dasein, was z.B. heißt, daß positiv-rechtliche Bestimmungen immer den
Bedingungen der Erscheinungswelt Rechnung tragen müssen, also, um es an einem
drastischen Beispiel zu illustrieren, von einem empirischen Rechtsträger keine Ubiquität als
Bedingung für den rechtlichen Besitz seiner physischen Besitzungen verlangen dürfen.
Eigentlicher Gesetzgeber oder Rechtsquelle ist Natur im Sinne des allgemeinen Horizonts
äußerer Handlungen so aber nicht; viel eher ist sie Medium, Mitspielerin, sunaitía des sich
verwirklichenden Rechts.
4. Rechtsrealisierung: der Schematismus und die Kategorien des Rechts
Als Zwischenergebnis unserer bisherigen Überlegungen können wir festhalten, daß
„Naturrecht“ bei Kant einerseits streng bei der noumenalen Natur des Rechtssubjekts, d.h. bei
seiner Freiheit oder überhaupt bei der Freiheit als Subjekt ansetzt, daß es aber andererseits im
Sinne der aufgegebenen Rechtssynthesis auch auf die zweite Natur des Menschen, seine
In den MAR behandelt Kant die Billigkeit bekanntlich unter dem Titel des „zweideutigen Rechts“ (AA VI,
233ff.) und versteht sie als ein „Recht ohne Zwang“, das strenger Gesetzesförmigkeit ermangelt.
55
13
Phänomenalität, ausgreifen und insofern seinem eigenen praktischen Begriff im engeren
Sinne naturhafte Momente integrieren können muß. Als eigentlich autonome Sinngestalt,
insbesondere als unterschieden von der Moral wird sich das Recht dabei nur insofern
erweisen, als es selbst den Brückenschlag von der Intellektual- zur Phänomenalwelt vollzieht,
d.h. insofern es innerhalb der Phänomenalwelt ein Gesetz der Freiheit aufzurichten vermag
und damit in ihr erst Bedeutung erlangt. Die damit aufgeworfene Frage ist gerade diejenige,
die Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre betrifft und in deren Beantwortung der
Philosoph zwar nicht Jurist oder gar empirischer Gesetzgeber wird, mit der er aber die Pflöcke
einschlägt, an welche ein vor der Rechtsidee Bestand habendes positives Recht in jedem Fall
angeknüpft werden muß.
Im März 1789 hat Heinrich Jung-Stilling Kant gegenüber „vier ... Principien des
Naturgesetzes“ aufgestellt, die ihm, wie er an Kant schreibt, „bey Lesung des Geistes der
Gesetze von Montesquieu“ eingefallen seien. Diese vier Prinzipien sind: „(1.) Erhalte dich
selbst. (2.) Befriedige deine Bedürfnisse. (3.) Sey ein Glied der bürgerlichen Gesellschaft, und
(4.) Vervollkommne dich selbst“. 56 In seinem als Entwurf erhaltenen Antwortschreiben ist
Kant auf diesen erkennbar wieder bei materialen Naturrechts-Imperativen ansetzenden
Versuch nicht eingegangen. Er hat stattdessen vier den Titeln der Kategorientafel
entsprechende Merkmale einer „bürgerlichen Gesetzgebung“ namhaft gemacht. Die Antwort
Kants ist für uns deshalb von Interesse, weil sie die Bahnen der Realisierung der Rechtsidee
eindeutig transzendentallogisch zu bestimmen versucht. Kant sagt, daß die „öffentlichen
Vorschriften“ des bürgerlichen Rechts „1. was die Quantität betrift so gegeben werden
[müssen], als ob einer sie für alle und alle für einen jeden einzelnen freywillig beschlossen
hätten. 2. die Qualität des Zwecks dieser Gesetze, als Zwangsgesetze, ist nicht Glückseligkeit,
sondern Freyheit für jeden, seine Glückseligkeit selbst, worinn er sie immer setzen mag, zu
besorgen, nur daß er anderer ihrer, gleich rechtmäßigen Freyheit, nicht Abbruch thut. 3. Die
Relation der Handlungen welche Zwangsgesetzen unterworfen sind, ist nicht die des Bürgers
auf sich selbst, oder auf Gott, sondern blos auf andere Mitbürger d.i. öffentliche Gesetze
gehen aus auf äußere Handlungen. 4. Die Modalität der Gesetze ist, daß die Freyheit nicht
durch willkührliche ZwangsGesetze, sondern nur die, ohne welche die bürgerliche
Vereinigung nicht bestehen kann und die also in dieser schlechthin nothwendig sind,
eingeschränkt werde. Salus reipublicae (die Erhaltung der bloßen gesetzlichen Form einer
bürgerlichen Gesellschaft) suprema lex est“.57 Was Kant hier benennt, sind die im Sinne
„Metaphysischer Anfangsgründe“ zu einer positiven Rechtslehre angebbaren Zwischenglieder
zwischen dem „natürliche[n] Recht der Menschen“ auf der einen Seite, das als solches
zunächst „eine bloße Idee ist“, und der „bürgerliche[n] Gesetzgebung“, die diese Idee zwar
„zu ihrem wesentlichsten obersten Princip“ hat, sie aber zugleich „unter allgemeine, mit
angemessenem Zwange begleitete, öffentliche Vorschriften“ bringt, „denen gemäß jedem sein
Recht gesichert, oder verschafft werden kan“.58 Diese transzendentallogisch aufstellbaren
Zwischenglieder oder vielmehr Formerfordernisse können wir kurz als solche kollektiver
Allgemeinheit, materialer Freiheitserhaltung, personaler Reziprozität und über das Ganze der
auf diese Weise allererst ermöglichten Rechtsgenossenschaft reflektierter Notwendigkeit
bezeichnen. Es handelt sich, wie man auch sagen kann, um die Formen der Transposition
intelligibler in äußere Freiheit, soweit sie die Rechtsphilosophie (immer noch a priori)
aufstellen kann. In einer Tafel der „12 Categorien des blos-rechtlichen Besitzes“, die sich in
den Vorarbeiten zu den MAR findet, hat Kant in ähnlicher und noch etwas detaillierterer
Weise die Formbestimmungen des Rechtssatzes, hier insbesondere des Urteils des Besitzes
angegeben.59 In der klassischen Tafelform dargestellt lauten diese Formbestimmungen,
56
Cf. den Brief an Kant vom 1. März 1789, AA XI, 9.
Kants Antwort an Jung-Stilling, AA XI, 10.
58
Ibd.
59
Cf. AA XXIII, 274.
57
14
verstanden als Bestimmungen des ursprünglich-syntehtischen Rechtssatzes „Dies ist das
Meine“:
Quantität
1. eigenmächtig
2. eingewilligt von einem anderen
3. abgeleitet vom Besitz aller
Qualität
1. des Vermögens des Gebrauchs
2. der Unabhängigkeit einer Sache vom Gebrauch anderer, d.i. der Freiheit
3. der Einschränkung der Willkür anderer durch meine Freiheit
Relation
1. der Substanz, d.i. der Sachen [ Sachenrecht]
2. der Kausalität, des Versprechens anderer [ persönliches Recht]
3. der Gemeinschaft, des wechselseitigen Besitzes der Personen [ auf dingliche Art
persönliches Recht]
Modalität
1. provisorisches Recht [ Naturzustand, „facto“]
2. erworbenes Recht [ Privatrecht, „pacto“]
3. angeborenes äußeres Recht [ öffentliches Recht, „lege“]
Fig. 1. Die „12 Categorien des blos-rechtlichen Besitzes“ nach den Vorarbeiten zur
Rechtslehre (AA XXIII, 274)
Auch wenn die MAR dann zuletzt keine Kategorientafel der Konstitution des Rechtsurteils
oder der Rechtssynthesis enthalten, zeigt doch das wiederholte Nachdenken Kants in diese
Richtung, daß prinzipiell an die Seite der theoretischen und der Freiheitskategorien eine dritte
Tafel hätte treten können.60 Diese hätte mit den Freiheitskategorien gemein, daß sie als
Kategorientafel praktischer Begriffe nicht für theoretische Gegenstände konstitutiv sein kann,
sondern auf die Bestimmung des freien Willens ginge. Die Freiheitskategorien sind nach Kant
dadurch ausgezeichnet, daß „sie die Wirklichkeit dessen, worauf sie sich beziehen, ... selbst
hervorbringen“,61 d.h., wenn man so will, praktisch-kreative Kategorien oder Formen der sich
„in Ansehung der Begriffe des Guten und Bösen“ selbst formierenden Autonomie sind, die
entsprechend auch keines Schematismus, sondern allenfalls einer heuristischen „Typik“
bedürfen; Kant stellt des näheren das „Naturgesetz, aber nur seiner Form nach“ als „Typus des
60
Über das Verhältnis von Natur- und Freiheitskategorien cf. J. Simon, Kategorien der Freiheit und der Natur.
Zum Primat des Praktischen bei Kant, in: Dietmar Koch/Klaus Bort (edd.), Kategorie und Kategorialität (FS
Klaus Hartmann), Würzburg 1990, 107-130.
61
KpV, AA V, 66
15
Sittengesetzes“ auf,62 und man könnte sagen, daß der bei Kant alleine verbleibende „Rest“
von Natur als ethisch orientierender Instanz eben in der Form des seinem Ursprung nach
gerade nicht der Natur als Natur verdankten Naturgesetzlichkeit besteht. Für das Recht gilt in
gewisser Weise zunächst generell die gleiche Naturgesetz-Typik, denn auch hier ist alles auf
die strenge Gesetzesförmigkeit abgestellt; in diesem Sinne ist es unter anderem zu verstehen,
wenn Kant die Konstruktion des Rechtsbegriffs, d.h. die „Darstellung desselben in einer
reinen Anschauung a priori nach der Analogie der Möglichkeit freier Bewegungen der Körper
unter dem Gesetze der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung“ vonstatten gehen läßt, der
Sache nach also auf das dritte newtonsche Axiom als den konkreten Rechtstypus anspielt.63
Aber zugleich bedarf das Recht, wie wir bereits wissen, anders als die Moral, die immer
unsichtbar bleibt, eines über die Formalität der Gesetzesförmigkeit hinausführenden
Schematismus. Dem Recht, das nicht nur in innerer Konsistenzprüfung von
Handlungsmaximen bestehen kann, sondern das erscheinende Handlungen mit dem
Freiheitsprinzip zu vermitteln hat, muß, wie Kant sagt, von vornherein „ein Gegenstand (eine
Handlung) in der sinnlichen Anschauung[,] mithin in Raum und Zeit correspondirend ...
gegeben werden können“;64 nur insofern hat es jene „objective practische Realität“, um die es
beim Recht als Recht originär geht. Daher haben die Rechtskategorien eigentliche Bedeutung
erst in Beziehung auf die äußere Tatsache anderer Freiheit bzw. auf den „physischen Act der
Willkühr“ als äußerem Bild oder Ausdruck von Freiheit.65 Diesem physischen Akt aber muß
der „Schematism“ der Rechtskategorien entsprechen, freilich nicht, insofern der Akt der
Willkür als Naturereignis erscheint, sondern insofern er „als frey betrachtet wird“.66
„Rechtsbegriffe“, sagt Kant, „können nur Erkenntnis werden[,] wenn der Wille anderer
vorgestellt wird[,] wie er erscheint und sich äußerlich den Sinnen offenbahrt“. 67 Der
Schematismus des Rechts muß die eine und die andere Freiheit als in Raum und Zeit
koexistenzfähig darstellen, was z.B. im Privatrecht heißt, daß der Boden in Sphären jeweils
privilegierten Gebrauchs parzelliert wird, die durch „Zeichen“68 als sinnliche Kundgebungen
des Willens zu einem solchen Gebrauch gegeneinander abgegrenzt sind. Die Rechtskategorien
bestimmen dann die Art und Weise der Vermittlung zwischen intelligiblem Rechtsprinzip und
den konkreten materiellen Rechten, die dem einzelnen Rechtssubjekt gegenüber anderen
Rechtssubjekten zustehen. Sie bestimmen die Realbedeutung, die beispielsweise der
synthetische Satz „Dieser Boden ist der meine“ mitsamt den ihm entsprechenden
Willkürakten als seinen Schematisierungen tatsächlich hat. In der Tat kann diese Bedeutung
nämlich eine vielfache sein, und Kant bringt diese Vielfachheit in der Tafel der
Rechtskategorien zum Ausdruck. „Dieser Boden ist der meine“ kann beispielsweise eine
„eigenmächtige“ Inbesitznahme bislang unbetretenen Landes meinen, er kann ferner meinen,
daß es zu einer privatrechtlichen Einigung mit einem anderen gekommen ist, mit dem ich mir
gemeinsam das bislang unbetretene Land teile, aber er kann auch meinen, daß ich meinen
Besitz „vom Besitz aller ableite“, also sage, daß mein Besitzanspruch öffentlich-rechtlich, d.h.
im Rahmen eines bürgerlichen Zustandes gesichert ist, daß er auf den Teil eines „Landes“ im
Sinne eines staatlichen Gemeinwesens geht und zur Not durch Inanspruchnahme einer
öffentlichen Gerichtsbarkeit verteidigt werden kann. Die drei genannten Bedeutungsstufen
geben die Aspekte der Quantität an dem synthetischen Rechtssatz „Dieser Boden ist der
meine“ wieder. Qualitativ kann ich mit dem gleichen Satz entweder sagen, daß ich überhaupt
AaO. 69; cf. 70: „Es ist also auch erlaubt, die Natur der Sinnenwelt als Typus einer intelligibelen Natur zu
brauchen, so lange ich nur nicht die Anschauungen, und was davon abhängig ist, auf diese übertrage, sondern
blos die Form der Gesetzmäßigkeit überhaupt“.
63
Cf. MAR, AA VI, 232.
64
Vorarbeiten zur Rechtslehre, AA XXIII, 275
65
Ibd.
66
Ibd.
67
AaO. 277
68
Cf. z.B. die „apprehension als Zeichen des Willens zum Besitz“ (ibd.).
62
16
in der Lage zu einem physischen Gebrauch dieses Bodens bin, daß dieser Boden von keinem
anderen als mir in Gebrauch zu nehmen ist oder auch, daß wiederum im Rahmen einer
bürgerlichen Verfassung mein Gebrauch über den Nichtgebrauch durch andere vermittelt ist
und umgekehrt. Der Relation nach bezeichne ich mit einem Satz wie „Dieser Boden ist der
meine“ meine Verknüpfung mit einer Sache oder Substanz, worin das Sachenrecht gründet;
zweitens kann ich mich mit ihm auf eine mir erteilte Zusage beziehen, die ich als
rechtswirksam ansehe, wobei das Verhältnis dann ein „kausales“ und der Gegenstandsbereich
der des „persönlichen Rechts“ ist, etwa indem ich einen Pachtvertrag für diesen Boden
unterzeichne, oder aber ich bezeichne drittens (wie mit dem Satz „Dies ist meine Frau“) einen
wechselseitigen Anspruch von Personen aufeinander; in diesem Fall ist von Kants „auf
dingliche Art persönlichem Recht“ die Rede. Die Abfolge dieser Rechtsbezirke gemäß den
Relationskategorien zeigt übrigens, was kaum verwundern kann, daß die Systematik von
Kants ausgeführter Rechtslehre in nuce in der Tafel der Rechtskategorien angelegt ist. Wir
können darüber hinaus aber beobachten, daß die erste Kategorie unter den beiden ersten
Titeln jeweils die für den auch noch privatrechtslosen Naturzustand elementaren
Bestimmungen angibt, die zweite wesentlich ein bereits interpersonal-privatrechtliches
Moment reflektiert, während die dritte jeweils den in einer bürgerlichen Verfassung bereits
aufgerichteten Rechtszustand voraussetzt. Die Abfolge von Naturzustand bzw.
provisorischem Recht, Privat- bzw. Vertragsrecht und schließlich öffentlichem Recht, das
alleine das angeborene äußere Recht eines jeden Rechtsgenossen zu gewährleisten vermag,
begegnet uns dann auch unter dem vierten Titel, dem der Modalität. Der Rechtssatz ist jetzt
durch diese verschiedenen Rechtsstatus modifiziert, und zwar durchaus in einem Sinne, daß
von einem möglichen, einem wirklichen und einem notwendigen Recht je nach Status
gesprochen werden kann: der Naturzustand, in dem alles an dem Vermögen und der Macht
des einzelnen liegt, enthält mit dem „provisorischen“ tatsächlich nur ein mögliches Recht,
oder das Possessivum „mein“ ist hier nur gemeint; beim privatrechtlichen Vertragsschluß
hingegen liegt bereits eine Vermittlung über den Willen des anderen Subjekts vor, insofern ist
das Recht hier wirklich, aber, da auf nichts weiter als eine unmittelbare, eventuell
mißverständliche und jedenfalls möglicherweise leicht hinfällige Abrede gestützt, nur
geglaubt; erst auf dem Boden des öffentlichen Rechts und einer öffentlichen Zwangsgewalt
weiß ich schließlich um mein Recht, und zwar in dem gleichen Maße, als die Möglichkeit zur
nötigenden Verhinderung von Hindernissen der Freiheit hier wirklich besteht. Übrigens
enthält die Einbettung der drei Rechtsstatus vom naturzuständlichen bis zum öffentlichen
Recht in eine Tafel von Kategorien einen deutlichen Hinweis darauf, daß Kant diese Status
insgesamt für elementare Momente des verwirklichten Rechts und jedenfalls nicht für
einander historisch einfach überholende und ablösende Zustände hält. Zwar ist klar, daß erst
mit der Errichtung des öffentlichen Rechtes das Recht im Vollsinne Wirklichkeit ist und daß
von daher auch eine weltgeschichtliche Teleologie auf diese Wirklichkeit hin angesetzt
werden kann, wie Kant ja tatsächlich, auch in völkerrechtlicher Perspektive, tut. Aber es ist
auch klar, daß zur Rechtswirklichkeit immer auch Momente der Naturzuständlichkeit und des
Privatrechts gehören werden. Ein einfaches Beispiel dafür ist schon die Tatsache, daß durch
bloße technische Entwicklungen rechtliches Neuland betreten werden kann, zu dessen
Bestellung noch kein allgemeiner Wille ausformuliert ist und das deshalb vorerst nur unter
„provisorischem“ Recht steht; ein anderes Beispiel ist etwa die Tatsache, daß derzeit
beispielsweise in Deutschland eine von den Gerichten geförderte Tendenz zu
außergerichtlichen Vergleichen besteht, was nichts anderes heißt, als daß auf die eigentlich
bereitstehenden Instrumentarien des strikten öffentlichen Rechts zugunsten eines
unmittelbaren Privatrechts verzichtet wird; ein drittes wäre, daß sich der Staat immer öfter auf
Verträge oder Vereinbarungen mit Privaten einläßt, die ihn selbst zumindest vordergründig
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als Privaten erscheinen lassen.69 Aber wie dem auch sei: Kant hat das Naturrecht in das
„natürliche“ und das „bürgerliche Recht“ geteilt; da das erstere das Privatrecht, das letztere
das eigentlich öffentliche Recht sein soll,70 das Privatrecht aber mit der Errichtung der
bürgerlichen Verfassung nicht einfach verschwindet, ist die Simultaneität der verschiedenen
Rechtsstatus bei ihm deutlich ausgesprochen. Die Tafel der Rechtskategorien gibt an, daß
diese Simultaneität transzendentallogische Gründe hat.71 Der Rechtssatz wird im Blick auf
seine möglichen Schematisierungen überhaupt vielfach ausgesagt. Die Teleologie, die dann
ihm gegenüber einzig bestehen kann, ist die Forderung, ihn in allen seinen möglichen
Bedeutungen zur Darstellung zu bringen, die jeweiligen kategorialen Titel also auch
systematisch auszufüllen.
Der historische Weg der Rechtszustände der Menschheit ist insofern dann auch gerade kein
„Naturprodukt“. Er ist vielmehr der Weg der sich realisierenden Freiheitsnatur, wie er sich in
Bezug auf Natur darstellt. Diese Folgerung ist wichtig, weil sie es erlaubt, in Kants oben kurz
erwähnter „List der Natur“ gerade keine irgendwie „handelnde“ Natur vorauszusetzen und so
auch die Frage nach dem Zweck im Naturrecht neu zu beantworten. Der Zweck im Naturrecht
kann nur in der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen im Sinne der dritten Formulierung des
kategorischen Imperativs begründet sein. In dieser Selbstzweckhaftigkeit ist der Mensch als
frei anerkannt, und sein Naturrecht ist, sich als Selbstzweck auch darzustellen. Er wahrt darin
einerseits eine Transzendentalität, die ihn von allem bloß Objektiven, aber auch je von
seinesgleichen unterscheidet; bei Kant schlägt sich dies in der dialektischen Form der
Rechtsidee nieder, von welcher die Rede war. Aber er darf sich als Selbstzweck auch darin
erweisen, daß er Zwecke setzt und verfolgt, soweit in diesen Setzungen nicht andere
Selbstzwecklichkeit berührt wird. Das Naturrecht des Menschen im kritischen Verstande ist,
auf das Recht ein Recht zu haben.
69
Cf. W. Leisner, Der unsichtbare Staat. Machtabbau oder Machtverschleierung?, Berlin 1994, bes. 229ff.
Cf. MAR, AA VI, 242.
71
Und es folgt aus ihr auch, daß Naturzustandstheorien weder historische Thesen noch einfachhin Fiktionen,
sondern auf kategoriale Momente des Rechtsbegriffs als solchen gestützt sind.
70
Abstract:
Kant’s philosophy of law is characterized by a clean break with the traditional ways of thinking natural law. Nevertheless specific functions of the idea of natural law such as unification
and systematization of the concept of law by grounding it on an a priori origin, correction of
historical contingency and arbitrariness in legislation in respect of a supreme rational norm,
enabling questions about “right law” to be put by opening a “productive distance” to positive
law etc., are obviously preserved in Kants critical approach to the concept of law. It is shown
that the starting-point of philosophy of law according to Kant can only be transcendental freedom as the primary “nature” of the legal subject, that the “nature” of law itself consists in its
sense-autonomy in mediating the intellectual and the empirical world by realizing freedom in
the latter, and that “natural law” therefore is nothing else than the concept of law conceived
according to its transcendental and self-realizing aspects. The study is based on systematical
interpretations of Kant’s critique of G. Hufeland, of his concept of an unavoidable “antinomy
of law”, and of the normally overlooked Kantian “table of categories of law” from the preliminary studies to the Doctrine of Law.
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