Theorie und Praxis - Universität Potsdam

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Universität: Abriss
oder Umbau?
Arnd Morkel
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Theorie und Praxis
Die Aufgabe der Universität
Arnd Morkel, Dr. rer. pol.,
Univ.-Professor (em.),
Politikwissenschaft, ehem.
Präsident der Universität Trier
Die Theorie hat derzeit einen schweren Stand.
Was sich nicht als „praxisrelevant" ausweisen kann,
erscheint unerheblich für Gegenwart und Zukunft.
Deshalb erscheint es wichtig, wieder daran zu erinnern,
dass Leben, Wissenschaft und Universität ohne Theorie
verkümmern.
„Viele Wege führen nach Rom, nur nicht der kürzeste", soll
Arnold Schönberg gesagt haben. Halten wir uns an diesen Satz
und nähern uns unserem Thema auf einem Umweg, indem wir
zunächst nach der Aufgabe der Universität fragen. Die gängige
Antwort lautet: Die Universität dient Forschung, Lehre und
Studium. Das ist nicht falsch, aber unvollständig. Es trifft auch
nicht den Kern, es fehlt das Entscheidende: Die Suche nach
Wahrheit. Die Suche nach Wahrheit - oder sagen wir
bescheidener, weniger vollmundig: der Versuch, unserer
Unwissenheit aufzuhelfen und unsere Irrtümer, Verschleierungen
und Illusionen ans Licht zu bringen - ist die eigentliche
Bestimmung der Universität. Erst unter dieser Bestimmung
gewinnen Forschung, Lehre und Studium ihren präzisen Sinn.
Die Suche nach Wahrheit
Nach Wahrheit lässt sich auf vielen Wegen streben, zum
Beispiel auf den Wegen der Religion, der Kunst, der Meditation.
Die Universität sucht die Wahrheit mit den Mitteln der
Wissenschaft, das heißt, sie treibt Forschung. Zur Forschung
gehört, dass sie sich mit dem jeweiligen Stand des Wissens nicht
zufrieden gibt. Sie sieht jede Erkenntnis für vorläufig an und
strebt nach neuen Einsichten, ohne dabei der Illusion zu
verfallen, jemals endgültig in den Besitz der Wahrheit zu gelangen. Vom Sinn der Suche nach der Wahrheit überzeugt, hält
sich der Forscher gleich fern von denen, die meinen, der
Wahrheit nicht zu bedürfen, wie von denen, die glauben, die
Wahrheit in Händen zu halten. Zu dieser Haltung will auch die
Lehre erziehen. So gewiss sie Wissen vermittelt, sie erschöpft
sich nicht darin. Sie lehrt nicht die Wahrheit, sondern die Suche
nach Wahrheit. Im Studium soll der Student nicht lernen
nachzureden „was andere gedacht haben, sondern selbst wissen
zu wollen, wie sich die Dinge in Wahrheit verhalten" (Thomas
von Aquin). „Letztlich zählt nur, was ich selbst eingesehen habe"
(Norbert Hinske).
Artikel 5 des Grundgesetzes bestimmt: Wissenschaft, Forschung
und Lehre sind frei. Jedermann kennt dieses Gebot, aber vielleicht nicht
alle machen sich klar, worin es begründet ist und welche
Verpflichtungen sich daraus ergeben. Wissenschaft, Forschung und
Lehre sind frei, weil anders die Universität ihrer Aufgabe nicht gerecht
werden kann. Wäre die Universität eine Berufsschule, ein
Wirtschaftsuntemehmen oder eine Kaderschmiede, könnte sie dieser
Freiheit entraten. Da sie dies aber nicht ist, da sie vielmehr den Dingen
auf den Grund gehen und erkunden soll, wie sie wirklich sind, darf sie
sich die Themen, die sie aufgreift, und die Ergebnisse, zu denen sie
kommt, von niemandem einengen oder gar vorschreiben lassen.
Mit der Wissenschaftsfreiheit allein ist es jedoch nicht getan. Die
äußere Freiheit von Forschung und Lehre setzt die innere Freiheit des
Hochschullehrers voraus. Ein Professor ist nicht schon dann frei, wenn er
formell an keinerlei Weisungen gebunden ist, sondern erst dann, wenn er
tatsächlich auf keinerlei Weisungen hört; wenn er sich den Blick auf die
Wirklichkeit nicht durch politische, wirtschaftliche oder sonstige
Wünsche trüben lässt; wenn er den Mut hat, Fragen auch dann
aufzuwerfen und Erkenntnisse auch dann zu veröffentlichen, wenn sie
nicht opportun sind. Erst diese Unabhängigkeit und nicht schon die in
der Verfassung verbriefte Autonomie garantiert die Freiheit der
Universität. Ein Hochschullehrer, der sich, bewusst oder unbewusst für
ökonomische Zwecke einspannen lässt, bedroht die Aufgabe der
Universität - die Suche nach Wahrheit - nicht weniger als ein Staat, der
die Leistungen seiner Universitäten ausschließlich an den Erwartungen
der Wirtschaft misst.
Was heißt Theorie?
Was wir Suche nach Wahrheit nennen, nannten die Griechen Theorie.
Das Wort theorein meint ursprünglich Schauen, Zuschauen, etwa bei
einer Festversammlung, später wird es im übertragenen Sinne gebraucht
und bedeutet soviel wie geistiges Betrachten, Erkennen. Für Aristoteles
ist theoria die Erforschung der Wahrheit. Die Erforschung der Wahrheit
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zweckfreien Bemühungen um Wahrheit oft zu den größten Erfolgen
bei der Bewältigung praktischer Probleme führt. Der Physiologe
Hastings hat recht, wenn er schreibt, die theoretische
Grundlagenforschung sei die praktischste Sache der Welt.
Vom Nutzen der Theorie für die Praxis. Es gibt Ausbildungsgänge, die vorwiegend praktische Kenntnisse und Techniken
vermitteln. In vielen Bereichen reicht das auch aus, aber nicht in
allen. Natürlich kann man sich damit begnügen, künftigen Biologen,
Richtern, Ärzten, Pfarrern oder Lehrern das Handwerkszeug
beizubringen. Viele erwarten von einer Universität gar nichts
anderes, und mancher Studiengang, auf kleine Münze gebracht,
kommt dem vielleicht schon nahe. Mit Handwerkern der Gentechnik,
des Rechts, der Gesundheit, der Seelsorge, der Erziehung allein ist
der Gesellschaft jedoch nicht gedient. Was wir in diesen Berufen
Der Philosoph Aristoteles unterrichtet Alexander den Großen und andere.
brauchen, sind Menschen, die gelernt haben, nach Wahrheit zu
Foto: AKG
fragen und Unwahrheit zu bekämpfen. Die Ausbildung in diesen
Berufen muss daher mehr vermitteln als bloß technische Kompetenz.
wird theoretisch genannt, weil sie sich, unbekümmert um praktische Sie darf „von der Denkungsart des eigentlichen Wahrheits-suchens
nicht losgelöst werden. Wer ausgebildet wird, soll nicht nur der
Zwecke, „zu freier Betrachtung des Seienden erhebt" und „im
Anschauen, Betrachten und genauen Zusehen den Dingen
richtig funktionierende Teil einer Maschine, sondern der mit seinem
zuwende(t), um ihr Wesen und ihre Gründe und Ursachen zu
Wesen für Wahrheit und Wissenschaft wirkende Mensch werden"
begreifen" (Joachim Ritter).
(Karl Jaspers).
Dem theoretischen Denken geht es primär nicht um Nutzen,
sondern um Erkenntnis. Von daher gesehen verlangt der theoretische
Lernprozess immer eine gewisse Distanz zur Praxis - nicht aus
Ignoranz oder Arroganz gegenüber den Interessen des Tages,
sondern um nicht der Gefahr zu unterliegen, sich von diesen
Interessen instrumentalisieren zu lassen und dadurch parteiisch zu
werden. Unter diesem Aspekt hat die Rede vom „Elfenbeinturm"
durchaus ihre Berechtigung.
Die Theorie ist zweckfrei, nicht zwecklos
Wenn das theoretische Denken aber in erster Linie der
Erkenntnis, nicht dem praktischen Nutzen dient, ist es dann nicht
unnütz? Der Verdacht ist alt. Seit jeher muss sich die Theorie gegen
den Vorwurf verteidigen, sie sei weltfremd, tauge nicht für die Praxis
und helfe niemandem. Das ist in der Tat häufig der Fall. Ebenso
häufig liegt dem Verdikt aber auch ein Missverständnis zugrunde.
Thaies soll bei der Betrachtung der Sterne in einen Brunnen gefallen
sein, weil er nicht auf den Weg achtete. Möglicherweise war er
jedoch in den Brunnen gestiegen, um ihn als Fernrohr zu benutzen.
Vom Nutzen der Theorie für die Wissenschaft. Wie nützlich
die Theorie sein kann, zeigt sich bereits bei den Griechen. So beruht
etwa die Überlegenheit der griechischen Medizin über die ägyptische
Heilkunst nicht zuletzt auf der Hinwendung zur Theorie. Während
die ägyptische Medizin ihr Wissen hauptsächlich der praktischen
Erfahrung, will sagen der Beobachtung einzelner Fälle verdankte,
erforschte die griechische Medizin zuallererst die Natur des
Menschen, fragte nach den Ursachen, Zusammenhängen und
Gesetzmäßigkeiten der Krankheiten und leitete ihre therapeutischen
Vorstellungen aus allgemeinen Prinzipien ab. Damit schlugen die
griechischen Ärzte ihre ägyptischen Kollegen aus dem Feld. Ihre
Methode war erfolgreicher, weil sie auf einer theoretischen Einsicht
in die Wirkungsweise der Natur beruhte. Mutatis mutandis gilt das damals wie heute - auch für andere Disziplinen. So sehr sich antike
und moderne Wissenschaft unterscheiden - die Erfahrung lehrt
immer wieder, dass gerade die
Vom Nutzen der Theorie für
die Politik. In der Politik
bekämpfen sich unterschiedliche
Interessen,
Werte
und
Zielsetzungen. Die Universität
kann diesen Streit nicht aufheben,
aber darauf hinwirken, dass er
verlässliche
Erkenntnisse
berücksichtigt. Sie kann helfen,
die
falschen
Vorstellungen,
Selbsttäuschungen
und
Frageverbote aufzuheben, die den
Blick der Politiker auf die
Wirklichkeit
verstellen. Sie
kann darlegen, was wir wissen und
was wir nicht wissen, und auf diese
Weise vielleicht dazu beitragen,
den „terribles simplifi-cateurs" „Le Penseur" (Der Denker), 1889,
das gute Gewissen zu nehmen. Auguste Rodin, Foto: AKG
Beachtung
von
Tatsachen,
Objektivität und Skepsis mögen
im öffentlichen Leben nicht allzusehr ins Gewicht fallen, aber sie
sind das einzige, was die Universität den Fahnenschwingern
entgegensetzen kann, vorausgesetzt, sie läuft nicht selbst hinter einer
Fahne her, sondern begreift es als ihre Aufgabe, alle Ansichten einer
Prüfung zu unterziehen. Für die Gesellschaft ist es nicht gleichgültig,
ob es eine solche Instanz gibt oder nicht. Alles spricht dafür, dass wir
uns, um leben und überleben zu können, in Zukunft mehr denn je um
Wahrheit bemühen müssen.
Vom Nutzen der Theorie für die Studierenden. Schließlich
fördert die Suche nach Wahrheit auch die geistige Selbständigkeit
der Studenten. Ein Studium, das nicht auf technische Abrichtung
zielt, regt zum Selbstdenken an, macht nachdenklich, weckt Zweifel
an eingefahrenen, scheinbar selbstverständlichen Auffassungen, löst
Vorurteile auf, zerstört Illusionen, erweitert den Horizont, kurzum:
Es bewirkt Distanz
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zu sich selbst und zum Hier und Heute, und Distanz befreit. „Die
Wahrheit wird euch frei machen", heißt es in Johannes 8,32. Der Satz
gilt auch dann, wenn nicht die christliche Wahrheit und auch nicht
der Besitz der Wahrheit, sondern nur das Streben nach Wahrheit
gemeint ist. Mit Recht steht er über der Aula der Freiburger
Universität. (Welche Universität würde heute noch wagen, ein so
stolzes Wort als Motto zu wählen?)
Entgegen der landläufigen Meinung ist die reine Wissenschaft für die Praxis also durchaus nicht irrelevant. Freilich dient
die Universität der Praxis nur dann, wenn sie ihre theoretischen
Bemühungen nicht vernachlässigt, wenn sie mehr als das unmittelbar
Nützliche lehrt, mit einem Wort: wenn sie mehr als eine bloße
Berufsschule ist. Der Nutzen der Universität ist abhängig von einer
Substanz, die auf dem Wege einer bloß auf das Nützliche reduzierten
Ausbildung nicht erworben werden kann.
Wissenschaftlerin beim Mikroskopieren
Foto: Süddeutscher Verlag - Bilderdienst
entsteht jene Klugheit, auf die es in der Realität ankommt. „Wer eben
begonnen hat, etwas zu lernen, der reiht die Lehrsätze zwar
aneinander, aber er hat noch kein Wissen (phronesis). Vielmehr muss
Mit dem theoretischen Studium ist die akademische
der Gegenstand erst ganz mit dem Menschen verwachsen sein und
Ausbildung jedoch nicht abgeschlossen; eine praktische Lehrzeit
das braucht Zeit" (Aristoteles).
muss sich anschließen. Worin liegt deren Sinn? Auch hier lohnt es
sich, auf die Griechen zu hören. Von Aristoteles kann man lernen,
dass es in der Praxis vor allem darauf ankommt, zu begreifen, dass
Klare Unterscheidung
sich theoretische Erkenntnisse nicht unmittelbar umsetzen lassen.
droht verloren zu gehen
Der „Praktikant" muss lernen, dass die Wirklichkeit aus einer
verwirrenden Vielfalt von Einzelfällen besteht und sich nicht auf
einen einfachen Nenner bringen lässt. Um zu wissen, welche Lehre
Lange Zeit zeichnete sich die akademische Ausbildung durch
man wann und wie
eine klare Unterscheidung von theoretischem Studium und
beruflichem Vorbereitungsdienst aus. Damit scheint es nun vorbei zu
sein. Die Universität gerät zunehmend unter Druck, ihre
Studiengänge von allem theoretischen „Luxus" zu reinigen und den
Bedürfnissen der Praxis anzupassen. So wie die Dinge liegen, dürfte
dabei nicht viel mehr als ein Mischmasch herauskommen: ein
bisschen Theorie und ein bisschen Praxis. Von da zur schlechten
Theorie und schlechten Praxis ist nur ein kurzer Schritt. Theorie,
Praxis und Universität bleiben von dieser Entwicklung nicht
unberührt. Sie büßen ihren traditionellen Sinn ein, soll heißen: Die
Theorie klammert die Frage nach der Wahrheit aus und stellt sich
beliebigen Zwekken zur Verfügung. Die Praxis hört auf, ein
Widerlager gegen schlechte Theorie zu sein; was technisch möglich
ist, wird gemacht, auch wenn sich ein Nutzen nicht erkennen lässt.
Die Universität bleibt nicht länger das, was sie in den Augen der
Klassiker der Universität und ihrer Vorläufer - von Platon bis Jaspers
- sein soll: „eine Zone der Wahrheit, ein Hegungsraum der
unabhängigen Befassung mit Wirklichkeit, in welchem ungehindert
gefragt, erörtert und ausgesprochen wird, wie die Wahrheit der Dinge
sich verhält" (Josef Pieper); sie verliert ihre Auto-nomie und wird
zum Bestandteil einer riesigen Ausbildungsmaschinerie.
Was heißt Praxis?
Labor der Universität München
Foto: Heddergott, Süddeutscher Verlag - Bilderdienst
Vom Autor liegt im Primus-Verlag, Darmstadt, das Buch „Die Universität
anwenden soll, muss man die konkreten Umstände kennen. Dazu muß sich wehren: Ein Plädoyer für ihre Erneuerung" vor.
reicht auch das beste Lehrbuchwissen nicht aus; erst die praktische
Erfahrung macht mit dem Einzelnen vertraut, während die Theorie
vom Einzelfall abstrahiert und auf das Allgemeine zielt. Für
Aristoteles ergänzen Theorie und Praxis einander. Ohne Erfahrung Anschrift des Autors
droht die Theorie mehr Schaden als Nutzen zu stiften, ohne Theorie Kurfürstenstraße 68, D- 54 295 Trier
läuft die Praxis Gefahr, blind zu werden. Erst wenn theoretische
Anstrengung und prakti sehe Erfahrung zusammenkommen,
Forschung & Lehre
8/2000
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