die füllung des wurzelkanalsystems

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Endodontie: State of the Art
Baumann
-Endodontie: Rückblick und Ausblick
Endodontics: Review and Preview
Michael A. Baumann, Univ.-Prof. Dr. med. dent.
Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde der Universität zu Köln
Abteilung für Zahnerhaltung und Parodontologie
Kerpener Straße 32, 50931 Köln
Univ.-Prof. Dr. Michael A. Baumann lehrt seit 1994 an der Universität zu Köln. Er ist Autor
einer großen Zahl nationaler und internationaler Veröffentlichungen und mehrfacher
Buchautor (z.B.: Beer, Baumann, Kim: Endodontology. Thieme color atlas of dentistry
2000). Im Jahre 2002 war er einer der Gründer der Deutschen Gesellschaft für
Endodontie und ist derzeit Vizepräsident der DGEndo (www.dg-endo.de).
Telefon: 0049-221-478 4714 Fax: 0049-221-478 6720 [email protected]
For there was never yet philosopher
That could endure the toothache patient.
Willima Shakespeare, Much ado about nothing
Akt V, Szene 1, Zeile 35-36
Die Geschichte der Endodontie reicht sicherlich bis weit zurück in die Anfänge der
Menschheitsgeschichte, wie Verweise auf Entzündungen der Pulpa im Papyrus Eber (um
1550 vor Christus) andeuten (Ring 1997). Wenn man das umfassende und schnelle
Informationsmedium unserer Zeit, das Internet nutzt, um etwas zur Historie zu finden, so
stellt man erstaunt fest, dass dennoch nur wenige Artikel oder Bücher zu finden sind. Am
umfangreichsten ist die Arbeit von Cruse und Bellizzi, die in einem dreiteiligen Beitrag im
Journal of Endodontics von 1980 die Endodontie im Zeitraum zwischen 1689 und 1963
beschreiben. Dabei dient die Publikation des ersten englischsprachigen Buches zur
Zahnmedizin von Charles Allen im Jahre 1689 als Beginn und die Anerkennung der
Endodontie als zahnmedizinische Spezialdisziplin durch die American Dental Association
im Jahre 1963 als Endpunkt.
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Endodontie: State of the Art
Baumann
Der Ahnherr der amerikanischen Endodontie, Louis I. Grossman (Philadelphia) hat sich
vielfach schriftlich zur Geschichte der Endodontie geäußert [15-17] und dabei vor einem
viertel Jahrhundert den Zeitraum von der amerikanischen Unabhängigkeit im Jahre 1776
zusammen mit dem Erscheinen eines Buches zur Oralchirurgie durch Jourdain als Anfang
gesetzt, um zwei Jahrhunderte später – zum Erscheinen der Übersichtsartikels im Jahre
1976 – zu enden. Einen sehr fundierten und detaillierten Überblick findet man durch
James L. Gutmann im Standardlehrbuch Pathways of the Pulp (4 th Edition1987), der
jedem Interessierten sehr zu empfehlen ist.
Der vorliegende Beitrag kann sicherlich nicht alle Details der langen Geschichte der
Endodontie
beschreiben,
doch
sollen
Marksteine
angesprochen,
Entwicklungen
aufgezeigt und zukünftige Perspektiven angedacht werden.
Die Anfänge
Von einzelnen Ereignissen abgesehen beginnt die Geschichte der Endodontie im 18.
Jahrhundert. Mit dem Buch “Le Chirurgien Dentiste” von Pierre Fauchard (1678-1761) aus
dem Jahre 1728 wird der Beginn der modernen Zahnheilkunde in Verbindung gebracht
(Gutmann S. 759). Fauchard beschreibt noch den Zahnwurm als Ursache von
Zahnschmerzen und Karies, so wie dies auch der Wegbereiter der Mikroskopie, Antoni
van Leeuwenhoek (1632-1723), meinte. Mit der Beschreibung der Möglichkeit zur
Transplantation von Zähnen mutet Fauchard recht modern an, doch findet sich schon
viele Jahrhunderte früher bei Abulcasis (1050-1122), einem arabischen Chirurgen, eine
Beschreibung dazu (Gutmann S. 760). Auch John Hunter legt eine diesbezügliche
Methode in seinem berühmten Buch “Natural History of the Human Teeth” im Jahre 1778
nieder (Gutmann S. 760).
Mit dem Verweis auf eine Art Trepanation des Zahnes und den Gebrauch eines heißen
Eisens zum Kauterisieren beschreibt Fauchard weiterhin ein Vorgehen, das sich auch
später findet. Das Kauterisieren erwähnen auch Robert Woofendale (1766), dem die erste
endodontische Behandlung in USA zugeschrieben wird (Cruze1) und Leonard Koecker
(1821), der ebenfalls die Nutzung eines heißen Drahtes empfiehlt (Grossman 1982).
Bei Fauchard findet sich auch die Exstirpation der Pulpa, doch die Erfindung der
Exstirpationsnadel
wird
dem
genialen
Erfinder
Edward
Maynard
(*1813-1891)
zugeschrieben (Gutmann S 778). Maynard war ein guter Mechaniker und erfand die
Reibahle (barbed broach) zur Pulpaentfernung. Aus ungetemperten Stahl von
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Endodontie: State of the Art
Baumann
Uhrenfedern feilte er Instrumente von der Feinheit eines Pferdehaars, die einseitig
gezackt wurden. Dieses Instrument empfahl er auch zur Bestimmung der Zahnlänge.
Seine Reputation sprach sich bis nach Europa herum, so daß Zar Nikolaus ihn nach St.
Petersburg einlud und ihm den Titel eines Hofzahnarztes im Range eines Majors anbot,
wenn er zehn Jahre in Rußland bliebe. Dies lehnte er jedoch ab (Gutmann 778).
Noch im achtzehnten Jahrhundert war auch Phillip Pfaff (1713-1766) als Hofzahnarzt bei
Friedrich dem Großen in Berlin tätig. Er ist sicherlich ein Wegbereiter der deutschen
Zahnheilkunde und hat z.B. die Pulpaüberkappung (1756) mit Goldfolie beschrieben
(Grossman 1982 S. 37). Dies findet sich auch bei Leonard Koecker (1821), der die Pulpa
erst kauterisiert und dann eine Bleifolie auflegt, was einen Kühlefekt habe! (Grossman
1982 S 37) G.V. Black (1870) empfiehlt zum Überkappen Zinkoxichlorid (Cruze1).
Ein weiterer bedeutender Wissenschaftler für die deutsche Zahnheilkunde, Adolf Witzel
(1847-1906), hat 1847 die Pulpotomie mit Arsen erwähnt. Er applizierte As für 24h auf die
entzündete Pulpa, um lediglich das koronale Gewebe abzutöten, und amputierte dann die
Kronenpulpa. Auch S. Spooner (1836) (Grossman 1982), Chase sowie C.F. Bodecker
(1886) werden mit der Arsenmethode in Zusammenhang gebracht (Cruse 1).
1873 adaptierte Witzel die Ideen von Joseph Lister (1827-1912), der die Antisepsis mit
Carbolsäure bzw. Phenol propagierte und empfahl die Sterilisation der Wurzelkanäle mit
Phenol (Cruze1 S. 498). Vorläufer in der Anwendung von Kaustiziden und Mitteln zur
Antisepsis sind Reichenbach (1830) mit der Einührung von Creosot sowie Runge (1834)
mit Phenol (Gutmann S. 771). In dieser Entwicklung steht auch das Formokresol, eine
Kombination aus Formaldehyd und Phenol, welches im ausgehenden 19. Jahrhundert bei
vielen bekannten Autoren nahezu zeitgleich zu finden ist (Gutmann S 771): Marion (1895),
Schroeder (1896), Witzel (1898), Gysi (1899), Buckley (1904/6).
Die Buckley´sche Lösung des Trikresolformalin mit 35 ml Trikresol, 31 ml Aqua destillata,
19 ml Formaldehyd (35%) und 15 ml Glycerin ist bis heute bekannt und findet in der
Milchzahnendodontie immer noch Berücksichtigung und Erwähnung (Gutmann S. 771).
Die Mumifizierung konnte sich bis etwa 1930 halten und fand vor allem in Europa
zuspruch, nachdem Dr. Alfred Gysi 1889 die Triopaste einführte (Grossman 1982 S. 37).
Erst die weitere Verbreitung von Röntgengeräten zu dieser Zeit machte sichtbar, daß die
Mumifikation häufig periapikale Läsionen verursacht (Grossman ebenda).
Dr. John Ross Callahan präsentierte 1893 vor der Ohio State Dental Society einen Vortrag
mit dem Titel “Sulfuric Acid for Opening Root Canals” in dem er 20-50%ige Schwefelsäure
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Endodontie: State of the Art
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für 24-48h auf Wattepelltes gibt und zur Eröffnung der Wurzelkanäle in schwierigen Fällen
anheim stellt. Als Alternative findet sich bei A.W. Harlan aus Chicago Papain, welches mit
Glycerol und Salzsäure zu einer zähen Paste vermischt für 5-8 Tage in der Pulpakammer
eingelegt wurde, um das Pulpagewebe zu verdauen (Cruze 2, S. 534).
Etwa zur gleichen Zeit sind Otto Walkhoff (1860-1934) in Braunschweig, Alfred Gysi
(1865-1957) in Zürich und Edmund Kells (1856-1930) in New Orleans tätig:
Otto Walkhoff hat die thermische Prüfung der Pulpavitalität propagiert, wobei eine
elektrische Pulpatestung bereits 1867 durch den Franzosen L.F. Magitot und 1891
erstmals für die USA durch den Amerikaner Dr. John Marshall Erwähnung finden
(Grossman 1982 S. 38). Außerdem erfand Walkhoff 1891 eine Mischung aus
Chlorphenol, Kampher und Menthol (CHKM), die auch heute noch - nach mehr als 100
Jahren - bis in die Gegenwart in Zahnarztpraxen zu finden ist. Im Jahre 1928 modifizierte
er diese Rezeptur und fügte Jod hinzu, so daß die Jodoformpaste geschaffen war – auch
dies ein aktuell genutztes Produkt.
Alfred Gysi erfand nahezu parallel dazu 1889 die Triopaste (Paraformaldehyd, Trikresol
plus Kreolin) und schlug vor, den Wurzelkanal mit Wasserstoffperoxid zu reinigen
(Gutmann S. 721). Überhaupt sind nahezu alle der heutigen Spüllösungen schon sehr
lange bekannt und in Gebrauch:
H2O2 geht auf Thenardin (1818) zurück, der als Erstbeschreiber des oxygenierten
Wassers genannt wird (Gutmann S. 772).
Natriumhypochlorit
wird
1915
von
Dakin
erfolgreich
im
ersten
Weltkrieg
als
Wunddesinfiziens benutzt und ist fortan als Dakin´sche Lösung bekannt (Grossman
1982).
Grossman und Meiman demonstrieren Mitte der 40iger Jahre des 20. Jahrhunderts die
Fähigkeit von NaOCl zur Gewebelösung und begründen damit nach Grossman´s Ansicht
die Ära der Wurzelkanalspülung (Grossman 1982). Allerdings schlug 1893 bereits
Callahan die Anwendung von Schwefelsäure bei schwierigen Kanalverhältnissen vor
(Grossman 1982) und sowohl Cohn und Mendelsohn (1883) sowie andere Autoren (Rhein
1895, Lehmann 1900: in Gutmann S. 772) erwähnen die Elektrosterilistion (Ionisation) der
Wurzelkanäle, da die bakterielle Genese von Pulpaerkrankungen sich allmählich ins
Bewußtsein der Forscher prägte.
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Endodontie: State of the Art
Baumann
Die Wechselspülung mit NaOCl und H2O2 wird 1943 ebenfalls von Grossman empfohlen,
da die sprudelnde Wirkung des freigesetzten Sauerstoffs hilft, um den Debris aus dem
Wurzelkanal herauszubringen (Grossman 1982).
Edmund Kells fertigte kurz nach C.W. Röntgen die ersten Röntgenaufnahmen in USA an
(siehe Röntgen).
Nygaard-Ostby schließlich lenkt 1957 das Augenmerk auf EDTA, welches mit einem pH
nahe dem des körpereigenen Gewebes die Chelatbildung mit den Calciumionen des
Dentins erlaubt und damit das Dentin zu erweichen hilft (Grossman 1982).
Anatomisches Wissen
Die erste umfassende Übersicht zu Anzahl und Verlauf der Wurzeln und Wurzelkanäle ist
Carabelli (1844) zu verdanken. Es folgen einzelne Publikationen und Lehrbücher so
bekannter Autoren wie Black (1902), Miller (1904) und Presiwerk (1901,1903,1908)
(Übersicht
und
Literaturstellen:
Baumann
1995).
Interessanterweise
finden
im
englischsprachigen und vor allem im amerikanischen Schrifttum viele dieser frühen Werke
keine Erwähnung wie überhaupt so manche deutsche oder europäische Erfindung in den
zitierten
historischen
Überblicken
unerwähnt
bleiben
oder
gerne
ein
anderer
Erstbeschreiber zu finden gesucht wird.
Die Aufklärung der Anatomie des Endodonts beginnt daher meist bei Walter Hess, dem
Züricher Pulpaforscher, der 1917 in seiner Habilitationsschrift unbestritten grundlegende
Einsichten zur Gestalt der Pulpa und der Wurzelkanäle legte (Lit). Doch erst die englische
Übersetzung bei Bale&Sons aus dem Jahr 1925 findet sich im angloamerikanischen
Schrifttum als Erstbeschreibung.
Interessant ist bereits 10 Jahre vorher ein Artikel von Moral (1915) in der ÖsterreichUngarischen Vierteljahresschrift für Zahnheilkunde, in dem Erwähnung findet, das erste
Molaren des Oberkiefers zu mehr als 60% vier Wurzelkanäle haben – eine Aussage, die
erst in den letzten Jahren durch die Anwendung des OP-Mikroskops zu neuen Ehren kam
und nun langsam weltweit ins Bewußtsein der Zahnärzte rückt. Ein Studium der alten
Literatur hält so manche Überraschung bereit, wie schon die Ausführungen zu den
Anfängen der Endodontie und so manche Jahreszahl der jeweiligen Erfindung oder
Erkenntnis zeigt.
Weitere Marksteine auf dem Weg des anatomischen Wissens sind die Arbeiten von Prof.
W. Meyer aus Göttingen, der die Vielgestaltigkeit der feinen Verästelungen des
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Endodontie: State of the Art
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Wurzelkanals an der Wurzelspitze durch seine Arbeiten der 50iger Jahre des zwanzigsten
Jahrhunderts zeigte (siehe Baumann). Die Arbeiten von Vertucci (seit 1974 bis heute)
haben mit den Aufhellungspräparaten ebenfalls viel zum Verständnis der Anatomie
beigetragen. In den letzten Jahren haben Untersuchungen mit der Röntgenmikrotomographie (Elliott und Dowker 1997), der Mikrotomographie (Peters 2001) und der
Kernspinmikroksopie (Baumann 1995, 1997) neue dreidimensionale Möglichkeiten zur
Darstellung des Endodonts aufgezeigt. Lediglich die Magnetresonanzmikroskopie
(Baumann) birgt dabei die Option, eines Tages auch am Patienten eine deutlich
detailliertere Wiedergabe der individuellen Anatomie des einzelnen Zahnes bis hin zur
Wiedergabe der Textur und des Zustandes der Pulpa zu erzielen.
Die Pulpabiologie und histologische Studien sind Grundlage für das Verständnis der
physiologischen Zusammenhänge und der pathophysiologischen Reaktion der Pulpa im
Zusammenspiel mit dem Parodont und der umgebenden Zahnhartsubstanz, die –
einzigartig für den gesamten menschlichen Organismus – ein starres Gehäuse für die
Pulpa darstellt und damit einige Besonderheiten der Reaktion bei Schmerzempfindung, weiterleitung und Entzündungsreaktion gibt. Das Buch “The Dental Pulp” von Seltzer und
Bender aus dem Jahre 1965 gibt eine exzellente Zusammenfassung des Wissens zu
diesem Zeitpunkt: “Pulpal inflammation was felt to be initiated by chemical, microbial and
thermal/mechanical irrigants. Bacterial irritants were thought to be aerobic and the use of
endodontic culturing was directed at these supposed pathogens” (Rosenberg&Schilder
2000, S. 46).
Die Arbeiten von Langeland (1959), Brannström (1964, 1972) und Trowbridge (1980)
sowie Pashley (1981: Dentinpermeabilität, Dentin-Pulpa-Interaktion), Scott (1955:
ultrastrukturelle Ebene der Pulpa durch REM) sowie Eifinger (Mikromorphologie der
Pulpa: 1970) ermöglichten ein tieferes Verständnis der Pulpa (lit. In Rosenberg&Schilder).
Die
Physiologie
des
pulpalen
Blutflusses
wurde
durch
van
Hassel
(1971)
beschrieben,durch Takahashi (1982) visualisiert und der Einfluß vasoaktiver Substanzen
und des Gewebdruckes durch Kim (1984) und später Raab (1992) untersucht (lit.
Rosenberg&Schilder).
Die Beschreibung der Innervation der Pulpa sowie deren Auswirkungen auf den
Zahnschmerz sind in jüngster Zeit Gegenstand der Forschung. Hier sind Forscher wie
Byers (1982), Nähri (1985), Heyeraas (1992), Hargreaves (1994), Goodis und Saeki
(1997) sowie Korkmaz (2002) zu nennen (Rosenberg&Schilder). Mit dem Verständnis für
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Endodontie: State of the Art
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die Schmerzentstehung und der Erstbeschreibung von Neuromediatoren wie Substanz P,
Galanin oder NO betritt die Pulpaforschung eine ganz neue Ebene der Erkenntnis.
Einfluß der Medizin, Mikrobiologie, Immunologie
Die Mär vom Zahnwurm und einem schlechten Verhältnis der Säfte als Ursache für
Krankheiten hat sich über lange Jahrhunderte gehalten. Erst die Erkenntnisse von Robert
Koch (1843-1910), der den Milzbranderreger (1876) und die Tuberkuloseerreger (1882)
fand (Nobelpreis 1905), begründeten die moderne Bakteriologie. Die Ansätze zur
Antisepsis durch Ignaz Semmelweis (1818-1865) und Joseph Lister (1827-1912) führten
dazu, daß die Desinfektion des Operationsfeldes mit Karbol ins Bewußtsein der Medizin
gerückt wurde. Doch schon bald sorgten die Arbeiten von William Hunter (1900/1910: The
role of sepsis and antisepsis in medicine: Lancet) und Billings (1904) dafür, daß die
Zahnmedizin in einen nahezu ein halbes Jahrhundert dauernden Disput über mögliche
Auswirkungen der bakteriellen Besiedelung der Zähne und des Endodonts auf den
Gesmatorganismus geriet (Grossman 1982 S. 40, Bellizi 3). Diese Phase ist als Zeit der
Herdlehre oder der Fokalinfektion bekannt.
Hunter schrieb: “No one has had more reason to appreciate the gastly tragedies of oral
sepsis which his (the dentist´s) ingenuity carries in its train. Gold fillings, gold caps, ... form
a veritable mausoleum of gold over a mass of sepsis to which there is no paralell in the
hole realm of medicine or surgery. The whole constitutes a perfect gold trap of sepsis.”
(Grossman 1982 S. 40)
Aufgrund dessen wurde die Entwicklung der Endodontie vom Anfang bis nahezu der Mitte
des zwanzigsten jahrhunderts paralyisert und die Wurzelkanalbehandlung hunderttausender Zähne zugunsten der Extraktion unterlassen.
Heute wird die Frage nach dem Einfluß endodontischer Erkrankunegn auf den
Gesamtorganismus wieder neu diskutiert (Murray&Saunders 2000), nachdem Zusammenhänge zwischen Parodontopathien und Allgemeinerkrankungen ins Blickfeld gerückt sind.
Für die Endodontie konnten solche Zusammenhänge aber nicht objektiviert werden
(Murray&Saunders).
Neben der Entwicklung der Röngentechnik, die gesondert beschrieben wird, hatte die
Entdeckung der Antibiotika sicherlich einen großen Einfluß auf die Endodontie. Alexander
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Endodontie: State of the Art
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Fleming (1881-1955), der 1921 Lysozym entdeckte und Penicillin 1928 erstmals beschrieb
sowie die Mitarbeiter der IG Farben, Fritz Mietzsch und Josef Klarer sowie schließlich
Gerhard Domagk (1895-1964), die die Sulfonamide (1932) entdeckten, sind die Väter
dieser Substanzen.
Fred Adams setzte 1941 erstmals Sulfonamide und 1944 erstmals Penicillin in der
endodontischen Behandlung ein (Cruze 3, S. 579). Auch Grossman setzte sich 1994 für
eine nichtwässrige Lösung von Penicillin ein und ersann kurze Zeit später den Einsatz von
Papierspitzen, die mit Penicillin getränkt waren (ebenda). 1951 beschrieb Grossman dann
seine berühmte Kombination PBSC:
Penicillin – gegen gram+ Bakterien
Bacitracin – gegen Penicillin-resistente Bakterien
Sulfonamide – gegen gram- Bakterien
Caprylat – gegen Pilze.
In dieser Reihe ist auch die Entwicklung von Ledermix durch André Schröder im Jahre
1962 zu sehen, welches aus der Kombination eines Antibiotikums (Tetracyclin) und eines
Cortisonderivates (Triamcinolon) besteht. Wenige Jahre zuvor wurde 1959 durch Sargenti
und Richter mit N2 ein Medikament und Sealer eingeführt, das Formaldehyd und weitere
fragwürdige Bestandteile enthält, die bis in die Gegenwart zu einer Kontroverse in der
Einschätzung beigetragen haben. Während einige Autoren die positiven Eigenschaften
von N2 beschreiben, verurteilen andere das Mittel vehement, da es massive Irritationen
der Pulpa bis hin zur Entstehung periapikaler Läsionen verursacht.
Damit ist auch ein neueres Arbeitsfeld der endodontischen Forschung, die Immuologie,
angerissen. Einer der ersten Autoren ist dabei Naidorf (1975), der en Zusammenhang
zwischen dem Immunsystem und Endodontie erkannte. Weitere Wissenschaftler auf
diesem Gebiet waren Torabinejad (1994) und Stashenko (1994) (Rosenberg und Schilder
2000). In Zukunft wird dieser Bereich sicherlich noch große Bedeutung erlangen.
Anästhesie
Bereits um 500 vor Christus findet sich in chinesischen Quellen ein Hinweis auf Arsen als
Anästhetikum und um 1800 wird NO für die Anästhesie beschrieben (Grossman 1976).
Dennoch waren Eingriffe an den Zähnen über Jahrhunderte hinweg eher martialische
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Endodontie: State of the Art
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Geschehnisse, die nur mittels Alkohol ertragen oder als Schauspiel auf Jahrmärkten
inszeniert wurden. Erst das ausgehende 19. Jahrhundert hat die Grundlagen für die
modernen Anästhesie geschaffen. Der Wiener Augenarzt Carl Koller setzte 1884 Cocain
als Lokalanästhetikum bei einem Eingriff am Auge ein und Charles A. Nash beschreibt im
gleichen Jahr die Verwendung von Cocain bei einer Infraorbitalisanästhesie für einen OKInzisivus (Grossman 1982, Gutmann). Mit der Erfindung des Novocains durch Alfred
Einhorn im Jahre 1905 ist die Basis für die modernen Lokalanästhesie gelegt (Gutmann).
Um 1920 werden verschiedene Spritzensysteme entwickelt, die teilweise nur gering
modfiziert noch heute angewandt werden (Grossman 1976).
Röntgen
Wilhelm Conrad Röntgen hat mit der Entdeckung der Röntgenstrahlen (“eine neue Art von
Licht”, die er “X-Strahlen” nannte) am 8. November 1895 der Medizin und Zahnmedizin ein
Hilfsmittel von größter Bedeutung an die Hand gegeben. So schnell und komfortabel wie
die Röntgentechnik sich heutzutage mit all ihren Varianten vom Zahnfilm über die
Panoramaschichtaufnahme, Computertomogramme (CT) bis hin zum Spiral CT und 3DTomogrammen präsentiert, war sie damals noch bei weitem nicht.
Wenige Wochen nach der Erfindung Röntgens war es Dr. Otto Walkhoff aus
Braunschweig, der sich für 25 Minuten! den X-Strahlen aussetzte und dabei eine –
zugegebenermaßen
sehr
schlechte,
Röntgendarstellung
menschlicher
diagnostisch
Zähne
machte
unbrauchbare
(siehe
–
Internet
erste
unter:
www.xray.hmc.psu.edu/rci/ss6/ss6_1.html). Die Entwicklung des Röntgenfilms dauerte
damals noch eine ganze Stunde. Im Januar 1896 machte Röntgen seine Erfindung
bekannt und bereits 14 Tage später fertigte Walkhoff die Bilder seiner Zähne an. Schon
am 1. Februar 1896 erstellte auch der Mediziner Walter König (1859-1936) Röntgenbilder
seiner OK-und UK-Frontzähne an, die wesentlich klarer und aussagekräftiger waren und
mit einer kürzeren Belichtungszeit von 9 Minuten entstanden (Internet ebenda).
Die X-Strahlen wurden in Europa und Amerika nahezu zeitgleich untersucht und wiederum
Gutmann erwähnt, daß William Herbert Rollins (1852-1929) – Erfinder zahlreicher
zahnmedizinischer Geräte und Instrumente – bereits 1896 einen X-Strahlen-Apparat
baute, der mit Tubus, Schwenkarm und Wandbefestigung den modernen Geräten sehr
ähnlich sieht (S. 770,771). Rollins hat seine Ideen nicht patentieren lassen, so daß Dr. C.
Edmund Kells (1856-1930) aus New Orleans häufiger als Urheber des ersten dentalen
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Endodontie: State of the Art
Baumann
Röntgenbildes in USA Erwähnung findet (Internetadresse, Gutmann S. 771, Cruse 2,
Grossman 1976). Seine ersten Aufnahmen sind danach um den April 1896 herum
entstanden und benötigten zwischen 5 und 15 Minuten Belichtungszeit. Er eröffnete
bereits im gleichen Jahr die erste Zahnmedizinische Röntgenklinik in den USA.
Tragischerweise verlor Kells, wie so viele Wissenschaftler, die noch ohne Kenntnis der
Schädlichkeit der Röntgenstrahlen ohne weiteren Schutz arbeiteten, zunächst einen Arm
durch Strahlenschäden. Als der zweite auch noch amputiert werden sollte, setzte er
seinem Leben durch Selbstmord ein Ende. Kells benutze Röntgenbilder nicht nur zur
Diagnose, sondern führte auch einen Bleidraht in die Wurzelkanäle ein und schuf damit
quasi die erste Röntgenmeßaufnahme sowie Röntgenkontrollen nach endodontischer
Behandlung und entwickelte bereits die Paralleltechnik (Grossman 1976, S. 83). Auch der
Arzt
W.J.
Morton
wird
genannt,
wenn
es
um
die
erste
zahnmedizinische
Röntgenaufnahme in USA geht (Cruse 2, S. 534).
Erst 1913 wurden Röntgengeräte kommerziell erhältlich und so findet sich auch vor 1913
keine Zahnklinik in Amerika, die Röntgengeräte benutzte (Grossman 1976 S. 84). Um
1950 nutzten etwa 75% der Zahnärzte Röntgengeräte (Grossman 1982). Mit der
Entwicklung des digitalen Röntgens (Benz&Mouyen 1987) hat sich eine neue interessante
Weiterentwicklung der dentalen Radiographie aufgetan, die technisch der konventionellen
Röntgentechnik mittlerweile sehr nahe kommt und augurnd der digitalen Speicherung und
Bearbeitung interessante Perspektiven bietet.
Entstehung von Fachgesellschaften und einer Spezialisierung
Am Ausgang des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Endodontie als
Wurzelkanalbehandlung oder Pathodontie bezeichnet (Gutmann S. 757). Dem Zahnarzt
Dr. Harry B. Johnston aus Atlanta (Georgia) wird die Begriffsfindung “Endodontie”
zugeschrieben, der 1928 eine eigene Praxis “limited to endodontics” eröffnete (Gutmann
ebenda). Er nahm dazu das griechische “en” = in, innerhalb und veband es mit “odous” =
Zahn (Gutmann ebenda). Schon mehr als ein Jahrhundert zuvor gibt es den ersten
Vollzeitzahnarzt Amerikas, Josiah Flagg (*1763-1816), der in Boston und Charleston
praktizierte. Er warb unter anderem auch mit endodontischen Themen: “Das Fühlen des
Zahnnerven im Kopf kann mittels eines einfachen, sicheren und leichten Vorgangs
beseitigt werden.” (Ring 1997, S. 195).
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Endodontie: State of the Art
Baumann
Philadelphia als Keimzelle der Endodontie
Die erste endodontische Begebenheit, die historisch in Philadelphia angesiedelt werden
kann, ist mit Dr. Edward Hudson verbunden. Er war seinerzeit ein bekannter Anführer und
Erinder zahnmedizinischer Techniken, so daß ihm 1809 bzw. 1825 auch die
Urheberschaft
der
ersten
Wurzelkanalfüllung
zugeschrieben
wird.
In
diesem
Zusammenhang müssen allerdings auch Pierre Fauchard (1728) mit einer WF aus Blei,
Bourdet (1757) mit WF aus Blei bzw. Gold sowie Townsend (1804) ebenfalls mit Gold-WF
berücksichtigt werden (Gutmann S. 773). Von Hudson ist eine Rechnung über insgesamt
112$ erhalten, die für die Zeit von November 1824 bis Anfang 1825 mehrere
Behandlungen erwähnt, darunter auch endodontische: “stuffing the cavity of one tooth
from the end of its root with gold”. Auch Elisha Townsend arbeitete in Philadelphia und
erhitzte Goldfolie für die WF. E.C. Kirk aus Philadeplhia beschreibt 1892 Natriumdioxid
zum Bleichen von Zähnen (Cruse 2 S. 533).
Mit der Tätigkeit von Louis I. Grossman in Philadelphia, der Begründung des nach ihm
benannten Lehrstuhls, auf dem in seiner Nachfolge bedeutende Endodontologen wie Prof.
Dr. Leif Tronstad und derzeit Prof. Dr. Syngcuk Kim arbeiten, ist der Weltruhm von
Phialdelphia und sein immenser Einfluß auf die Entwicklung der Endondotie über nahezu
zwei Jahrhunderte belegbar.
Prof. Kim hat die Mikrochirurgie weltweit bekannt gemacht und die Trias “magnification –
illumination – instrumentation” sind ein Inbegriff seiner globalen Vortragstätigkeit
geworden. Mit der Erfindung spezieller Mikroinstrumente, eigener Ultraschallspitzen und
der Verankerung, daß alle Postgraduiertenprogramme in USA seit 1999 das Mikroskop in
der Endodontie obligat nutzen, hat er in Kombination mit mehreren Lehrbuchbeiträgen
und einem eigenen Buch über Mikrochirurgie ein bleibendes Erbe geschaffen (Kim et al.
2000).
In diesem Sinne wird es sehr wohl verständlich, daß diese bedeutende Persönlichkeit
letztlich direkt und indirekt auch zur Gründung der Deutschen Gesellschaft für Endodontie
im Jahre 2002 beigetragen hat, da alle dreizehn Gründungsmitglieder seit Jahren durch
Fortbildungen oder mehrwöchige Aufenthalte in Philly viele Ideen von Kim in sich tragen
und weitergeben wollten.
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Endodontie: State of the Art
Baumann
Gründung der AAE
Im Jahre 1939 wurde in Philadelphia ein Endodontic Study-Club gegründet, der über viele
Jahre existierte und Ausgangspunkt dafür war, daß im Dezember 1942 die Einladungen
zur Gründung einer Organisation ergingen (Grossman 1976). Im Februar 1943 trafen sich
dann etwa 20 Zahnärzte im Palmer House in Chicago (Grossman 1982): die
Gründungsmitglieder der American Association of Endodontists (AAE), die die klinische
und laborgetragene Erforschung der Wurzelkanalbehandlung zum Ziel hatten: “The
charter membership list reads like an endodontic hall of fame: Grossman, Coolidge,
Johnston, Sommer, Davis, Kesel and Bender ...” (Chivian (1984).
1956 wurde das American Board of Endodontics geschaffen, das 1957 durch den Council
on Dental Education geprüft und anerkannt wurde. Die ersten Examnia wurden 1965
abgenommen (Grossman 1976).
Davor erfolgte 1963 die Anerkennung als “special area of practice” (Chivian S. 639), also
als Fachzahnarzt oder Spezialist für Endodontie, durch die American Dental Association
(ADA). Zu dieser Zeit gab es acht Fachgebiete der Zahnmedizin in USA mit einer
Fachzeitschrift: als erstes das Journal of Periodontology 1930, Kieferorthopädie 1930,
Oralchirurgie 1946, Mundpathologie 1948, Zahnersatzkunde 1948, Kinderzahnheilkunde
1949, öffentliche Zahngesundheit 1951, Pulpaerkrankungen 1963 (Ring 1997). Bereits
1963 existierten 200 reine Endodontiepraxen (Gutmann) und heute ist die AAE mit
weltweit über 5.300 Mitgliedern die größte Vereinigung endodontisch tätiger Zahnärzte. In
über 50 Spezialabteilungen werden in Postgraduateprogrammen die Spezialisten für
Endodontie ausgebildet, die aus aller Welt nach USA kommen, um dort am Schatz des
Wissens zu partizipieren.
Während die amerikanische Literatur A.B. Crane (1920) das erste Buch ausschließlich zur
Endodontie zuschreibt (Grossman 1976) gibt es schon viel früher von E. Albrecht (18231883) eine Monographie “Die Krankheiten der Zahnpulpa”. Das erste Buch mit weltweiter
Verbreitung und Bedeutung ist “Root Canal Therapy”, das 1940 von LI. Grossman in
erster Auflage erscheint und über 40 Jahre (bald als Endodontic Practice) bis zur 10.
Auflage in 1981 als Standardwerk angesheen werden kann. Nach Gründung der AAE in
1943 wird 1946 das Journal of Endodontia gegründet. Es wird von Balint Orban als
Herausgeber geleitet und erscheint zunächst 4 mal pro Jahr. Schon kurze Zeit später geht
es 1949 in die Sektion Endndotie von Oral Surgery Oral mediicne Oral Pathology über.
1975 wird dann das Journal of Endndotics als eigenständige Zeitschrift geründet.
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Endodontie: State of the Art
Baumann
Die Europäische Gesellschaft für Endodontie (ESE = European Society of Endodontology)
wurde offiziell am 28. Mai 1983 gegründet. Die Anfänge gehen aber weiter zurück auf das
Jahr 1971, als die European Aacademy of Endodontists zur Organisation der
Postgraduate-Ausbildung in Europa und zur Erzielung eines besseren Standards ins
Leben gerufen wurde. Nach mehr als 60 Kursen und der Ausbildung von mehr als 2.500
Zahnärzten wollte Dr. Gilbert Crussol, damaliger Präsident, die Vereinigung auf einer
formellen Ebene mit Konstitution, Europ. Kongreß und wissenschaftlichem Journal
institutionalisieren. Während des AAE-Kongresses in Phoenix, Arizona (April 1982) trafen
sich F. Harty (GB), G. Crussol (F), P. Guldener (CH), A. Castelucci (I), G. Lavagnoni (I) ,
A. Tamse (Israel), B. Tsatsas (GR), R. Mutschelknauss (Skandinavien), C. Stock (GB), R.
Inanan (E) und H. Rocke (D). Dr. Giorgio Lavagnoli (Mailand) wurde als President elect
benannt. Der Name der Gesellschaft wurde zunächst “European Academy of
Endodontology”, doch beim dritten Treffen der Ländervertreter im Mai 1983 kam es zur
jetzt gültigen Version als ESE = European Society of Endodontology.
In Deutschland übernahm die Deutsche Gesellschaft für Zahnerhaltung mit ihrer
Gründung im Jahr 1986 die Aufgabe, das Feld der Endodontie mit zu betreuen. Dies
erfolgte dadurch, daß alle 3-4 Jahre die Endodontie zum Hauptthema einer Jahrestagung
gewählt wurde. Mit der Gründung der Zeitschrift Endodontie im Quintessenzverlag im
Jahre 1992 unter der wissenschaftlichen Leitung von Hülsmann und Löst wurde der
Endodontie auch in Deutschland ein höherer Stellenwert zuerkannt und in der Folgezeit
waren immer wieder Bestrebungen zu erkennen, dem durch Gründung einer eigenen
wissenschaftliche Fachgesellschaft Ausdruck zu geben.
Es dauert aber noch bis ins Jahr 2002, bis die Deutsche Gesellschaft für Endodontie aus
den Reihen der 13 Gründungsmitglieder am 12. Januar 2002 in Frankfurt am Main den
ersten Vorstand für eine deutsche Fachgesellschaft wählte. Bereits im Februar war die
Gesellschaft als Verein eingetragen und im März 2002 ging die Homepage (www.dgendo.de) auf Sendung. Mit dem vorliegenden ersten Heft ist das Endodontie Journal
(Oemus: Herausgeber DGEndo, Chefredakteur Dr. Karl Behr, Direktor des wiss. Beirats:
Prof. Dr. Michael A. Baumann) als offizielles Organ der DGEndo begründet und am
22./23. November 2002 findet an der Universität zu Köln die erste Jahrestagung statt.
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Endodontie: State of the Art
Baumann
Die Gegenwart
Die letzten fünfzig Jahre haben – beginnend mit der Gründung der AAE, der Einrichtung
einer
Spezialisierung
für
Endodontie
und
einer
erstmaligen
und
intensiven
wissenschaftlichen Erforschung des Gebietes – für einen immensen Wissenszuwachs
gesorgt, der sich mit der mittlerweile großen Zahl von Forschern weltweit stets
beschleunigt
und
in
einer
Vielzahl
von
speziell
der
Endodontie
gewidmeten
Fachzeitschriften und Büchern (Textbücher und auch Farbatlanten) wiederspiegelt. Die
Bandbreite der Entwicklungen ist groß und eine historische Übersicht nur eines
Teilgebietes wie z.B. der Wurzelkanalfüllung oder der –aufbereitung alleine würde schon
sehr umfangreich werden.
In Deutschland sind es Wissenschaftler wie W. Ketterl, die die Endodontie maßgeblich
beeinflußt haben. Weltweit haben die Ideen der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts von
Schilder zum Cleaning and Shaping sowie der 3D-Obturation sicherlich einen großen
Einfluß bis in die Jetztzeit ausgeübt, da der Wurzelkanal in seiner gesamten komplexen
räumlichen Gestalt bei der Aufbereitung erfaßt und bei der Füllung verschlossen wurden.
In diesem Zusammenhang sind die Konzepte der kombiniert chemischen und
mechanischen Aufbereitung zu sehen.
Während sich bei den Spüllösungen NaOCl weltweit durchgesetzt hat und derzeit lediglich
durch EDTA unterstützt und in Einzelfällen durch Chlorhexidin ergänzt wird, gibt es erste
Ansätze zum Einsatz von elektrochemisch aktiviertem Wasser (Hata et al. 1996, Marais
2000, Solovyeva&Dummer 2000).
Die Aufbereitung des Wurzelkanals ist durch die Ablösung des etwa ein Jahrhundert
bevorzugten Werkstoffs Edelstahl für Wurzelkanalinstrumente durch Nickel-Titan (Walia
et al. 1988) revolutioniert worden und hat weltweit für einen qualitativen Schub auf breiter
Basis gesorgt. Die Aufbereitung auch ehemals schwieriger Kanalkrümmungen ist
vorhersagbar besser, sauberer und effektiver geworden.
Zusammen mit der mittlerweile sehr zuverlässigen elektronischen Längenmessung, deren
Anfänge schon sechzig Jahre zurück liegen, und der Strahlenreduktion beim
konventionellen wie auch digitalen Röntgen sowie einer weiteren Verbreitung der digitalen
Technik sind wertvolle Hilfsmittel auf dem Weg zu einer perfekteren Sichtbarmachung der
komplexen Anatomie der Zähne beschritten. Hier eröffnen die Techniken der
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Endodontie: State of the Art
Baumann
Magnetresonanzmikroskopie noch ein interessantes Forschungsfeld, da eine 3dimensionale Bildgebung mit der Darstellung der Gewebetextur zum einen die räumliche
Orientierung vereinfachen würde und zum anderen erstmals zuverlässige Aussagen über
das Ausmaß der pathophysiologischen Veränderung des Gewebes im Sinne einer Pulpitis
oder Degeneration erlaubte (Baumann 1995, 1997)
Die nicht-instrumentelle Technik (NIT), die bereits in den fünfziger Jahren erstmals in
einer Dissertation beschrieben wurde (Alfter 1958) griff Lussi wieder auf und nutzt dabei
lediglich NaOCl als Spülung unter Vakuum, ohne mechanisch instrumentieren zu müssen.
Auf gleichem Weg wird dabei auch die Füllung eingebracht. Insgesamt findet man bei den
Fülltechniken viele Variationen (Übersicht: Baumann PdZ), wobei derzeit die laterale
Kondensation mit verschiedenen Varianten der Warmfülltechnik mit Guttapercha
konkurriert. Aus der Fülle von Materialien hat sich aber ganz klar Guttapercha als Favorit
herauskristallisiert. Derzeit experimentiert man neben den klassischen Sealermaterialien
auf Eugenolbasis oder mit Calciumhydroxidzusatz auch mit Silikonen und Dentinbondings.
Selbst die komplette Wurzelkanalfüllung wird mit einem Komposit versucht (EndoREZ,
Ultradent).
Die Aufbereitung mit Laser oder Schall/Ultraschall hat trotz aller Bemühungen der letzten
Jahrzehnte immer noch keine Bedeutung in der internationalen Endodontie, was daran
sichtbar wird, daß die neueste, achte Auflage des sicherlich weltweit bedeutendsten
Lehrbuches – Pathways of the Pulp von Cohen und Burns – dem Laser nur drei Seiten
widmet.
Allerdings haben neuartige Ansätze für die retrograde Aufbereitung, die Bearbeitung von
Kalzifikationen oder das Lockern von Stiften, Kronen oder frakturierten Instrumenten die
Anwendung von Ultraschall bei der endodontischen Behandlung zu einem wichtigen
Werkzeug werden lassen, das für Revisionen und die Mikroretrochirurgie nicht mehr
wegzudenken ist. In diesem Zusammenhang ist auch die Entwicklung des Mineral
Trioxide Aggregate durch PittFord und Torabinejad zu nennen, die ein exzellentes
Material für Überkappungen, Reparatur von Perforationen und Wurzeldefekten sowie zur
Apexifizierung geschaffen haben [Lit.
]. Auch die gesteuerte Geweberegeneration
(GTR) hat mittlerweile einen wichtigen Platz in der Endodontie (Rosenberg&Schilder).
Last but not least ist die mittlerweile weite Verbreitung des Operationsmikroskops zu
nennen, die – etwa fünfzig Jahre nach dem Einzug bei HNO- und Augenärzten – auch die
Zahnmedizin und dabei auch und vor allem die Endodontie revolutioniert, da erstmals
feinste Details der Pulpakammer und der Wurzelkanäle für das Auge zugänglich werden
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Endodontie: State of the Art
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und ganz neue, teils bisher unbekannte Details ersichtlich machen (Baumann 2001).
Damit ist ein völlig neues Niveau endodontischer Behandlung möglich geworden, das
auch bei schwierigen Revisionen und Operationen eine Perfektion der endodontischen
Behandlung ermöglicht, wie sie bis dato nicht möglich war. Pioniere sind hierbei unter
anderen Gary Carr, Syngcuk Kim und Cliff Ruddle, die alle auch bei der Entwicklung der
Ultraschallansätze beteiligt waren.
All diese Ideen, Erfindungen und Entwicklungen werden derzeit durch ein Medium noch
stärker beschleunigt und ermöglicht als jemals zuvor, das Internet (Herrmann 2002). Der
weltweite Datenaustausch erfolgt heute praktisch sekundengenau, so daß Neuigkeiten in
Kürze in allen Winkeln der Erde verfügbar sind, diskutiert, angewendet und modifiziert
werden können, ohne daß es wie in früheren Jahren langer Zeiträume dazu bedarf. Schon
jetzt ist eine Fülle von Informationen über schriftliche Beiträge zur Endodontie in
Journalen, Büchern, bei Fachgesellschaften, Universitäten, Firmen bis hin zu den
Keimzellen der Zahnarztpraxen mit eigener, teils selbst gestalteter Homepage zu finden.
Suchmaschinen erlauben das schnelle Auffinden dieser Internetadressen, ermöglichen
eine umfassende und schnelle Literaturrecherche sowie den Versand von Röntgenbildern,
Patientenaufnahmen und Grafiken sowie den Wissensaustausch und Fragen/Debatten
über Neuigkeiten sowie Rat für Hilfesuchende in Chatrooms und Vereinigungen (Übersicht
bei Herrmann 2002). Rosenberg und Schilder (2000) schreiben dazu: “The greatest
technological advantage will be in the advancement of communication, which will
someday bring these advances to the four corners of the world.”
Die Zukunft
Die Geschichte der Endodontie füllt bereits viele Bücher und es war ein weiter Weg von
der Zeit der Empirie bis zum wissenschaftlichen Ansatz des 20. Jahrhunderts. Am Beginn
des 21. Jahrhunderts zeichnen sich einige technische Neuerungen für die Endodontie ab,
die derzeit noch in den bisherigen Denkstrukturen und Vorgehensweisen behaftet sind
(NiTi-Feilen, Mikroskop, Mikrochirurgie, ...). Andererseits zeigt die Wissenschaft in
benachbarten Fachgebieten wie der Medizin, der Biologie und Physik Möglichkeiten und
Perspektiven auf, die die Endodontie einst völlig neu definieren könnten:
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Endodontie: State of the Art

Baumann
Erkenntnisse der Mikrobiologie und Immunologie werden die Bekämpfung der
beteiligten Bakterien sowie die Stärkung und Forcierung der körpereigenen
Immunabwehr versuchen.

Das Wissen über Wachstumsfaktoren, die gezielte Steuerung der Gewebsneubildung
und die generative und regenerative Potenz von Stammzellen lassen die Züchtung
einer neuen Pulpa sowie des Parodonts möglich erscheinen.

Zahnschmerzen werden eventuell nicht mehr schicksalhaft und unausweichlich
auftreten müssen, wenn die Mechanismen der pulpalen Inflammation und der
Schmerzentstehung und –weiterleitung besser verstanden werden.

“However, success will come not only by the sophisticated advances in technology, but
also from the fundamental understanding and acceptance of the simple biological and
clinical realities.” (Rosenberg&Schilder)
All diese Entwicklungen finden derzeit vor dem Hintergrund eines Paradigmenwechsels
statt, der sich vor allem mit dem Begriff der Evidence Based Medicine und Dentistry
verbindet. “Evidenz-basierte Medizin (EBM) ist der gewissenhafte, ausdrückliche und
vernünftige Gebrauch der gegenwärtig besten externen, wissenschaftlichen Evidenz für
Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten. Die Praxis der
EBM bedeutet die Integration individueller klinischer Expertise mit der bestmöglichen
Evidenz aus systematischer Forschung.” (Sackett et al 1996). Interessanterweise wird
beschrieben, daß die philosophischen Anfänge der EBM bis ins Paris Mitte des 19.
Jahrhunderts zurückreichen, so daß sich hier eine lange philosophische Tradition verbirgt
(Sackett et al. Buch).
Die eigens gegründete Zeitschrift Evidence Based Dentistry (Nature Publishing Group)
erscheint nunmehr in ihrem vierten Jahr und erste endodontische Fragestellungen sind
gemäß der EBD-Methode aufgearbeitet worden (Hutter 2000, Saunders 2000).
Wahrheit ist das Ausmaß an Wirklichkeit, was wir wahrzunehmen imstande sind. So ist
jegliche menschliche Erkenntnis immer begrenzt und durch den Geist der Zeit geprägt (Es
gibt mehr Ding´ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumen läßt.”
(Shakespeare, Hamlet 1, 5). Dieses Problem ist von dem berühmten Mathematiker Kurt
Gödel (1906-1978) im Unvollständigkeitstheorem beschrieben worden:
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Endodontie: State of the Art
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In jedem System gibt es Aussagen, die zwar mit den Mitteln des Systems formuliert,
aber weder mit diesen Mitteln bewiesen noch widerlegt werden können.
Ein Weg aus diesem Dilemma ist der Versuch, Fragestellungen – hier also endodontische
– nicht nur mit “Leuten des Faches” zu erörtern, sondern neue Wege mit anderen
Fachleuten aus Medizin, Immunologie, Zellforschung, Biologen, Ingenieuren ... zu suchen.
Was heute selbstverständlich, war gestern noch nicht gedacht und ist morgen überholt.
Kontakt
Univ.-Prof. Dr. Michael A. Baumann
Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde der Universität zu Köln
Abteilung für Zahnerhaltung und Parodontologie
Kerpener Straße 32, 50931 Köln
Tel.: 0049 – (0)221 – 478 4714 Fax: 0049 – (0)221 – 478 6720
e-mail: [email protected]
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