1. Kapitel: Einleitung

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Von Triest nach Osttimor
Der völkerrechtliche Rahmen für die Verwaltung von
Krisengebieten durch die Vereinten Nationen
– Dissertationsentwurf –
zur Erlangung des akademischen Grades Dr. iur
Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin
von
Hans Fabian Kiderlen
geboren am 13. April 1976
in Heide (Holstein)
1
1. KAPITEL:
EINLEITUNG
1
A.
Gegenstand der Arbeit
2
B.
Gang der Untersuchung
4
2. KAPITEL:
A.
HISTORISCHE EINFÜHRUNG
Gebietsverwaltungen durch den Völkerbund
I.
Saarland (1920-1935)
II.
Leticia (1933-1934)
B.
Das Freie Territorium Triest (1947)
7
8
9
11
12
I.
Historischer Hintergrund
13
II.
Das Mandat des Sicherheitsrates
15
III.
C.
Bewertung
Die Internationale Stadt Jerusalem (1947)
17
19
I.
Historischer Hintergrund
19
II.
Das Mandat des Treuhandrates
21
III.
D.
Bewertung
Die internationale Verwaltung Libyens (1949-51)
22
24
I.
Historischer Hintergrund
24
II.
Das Mandat der Generalversammlung
26
III.
Bewertung
27
E.
Die Opération des Nations Unies au Congo (1960-1964)
28
F.
Die United Nations Temporary Executive Authority in West-Neuguinea (1962-1963)
31
I.
Historischer Hintergrund
32
II.
Das Mandat der UNTEA
34
III.
G.
Bewertung
Die United Nations Transition Group in Namibia (1989-1990)
35
37
I.
Historischer Hintergrund
37
II.
Das Mandat der UNTAG
38
III.
H.
Bewertung
Die United Nations Transitional Authority in Kambodscha (1992-1993)
39
40
I.
Historischer Hintergrund
40
II.
Das Mandat der UNTAC
42
i
III.
Bewertung
44
I.
Die United Nations Operation in Somalia (1993-1995)
46
J.
Bosnien
49
I.
Historischer Hintergrund
50
II.
Das Mandat der internationalen Gemeinschaft
50
III.
K.
Bewertung
Die UN-Übergangsverwaltung in Ost-Slavonien (1996-1998)
52
53
I.
Historischer Hintergrund
53
II.
Das Mandat der UNTAES
55
III.
L.
Bewertung
Die UN-Übergangsverwaltung im Kosovo (seit 1999)
56
58
I.
Historischer Hintergrund
59
II.
Das Mandat der UNMIK
62
III.
M.
Bewertung
Die UN-Übergangsverwaltung in Osttimor (1999-2002)
67
68
I.
Historischer Hintergrund
68
II.
Das Mandat der UNTAET
71
III.
Bewertung
76
N.
Die UN-Unterstützungsmission in Afghanistan (seit 2002)
77
O.
Multidimensionale Unterstützungsoperation der UN seit 1999
80
P.
Die Verwaltung des Irak durch ein Staatenbündnis (2003-2004)
82
3. KAPITEL:
DIE RECHTSGRUNDLAGEN FÜR UN-
GEBIETSVERWALTUNGEN
A.
Vorbereitende Überlegungen zur Rechtsgrundlage
89
90
I.
Erforderlichkeit einer Rechtsgrundlage
90
II.
Einwilligung durch den Territorialstaat
92
1.
Art. 2 Ziff. 7 SVN als dispositives Recht
92
2.
Völkerrechtliche Vorgaben
93
Die Unterscheidung zwischen Verwaltung und Souveränität
95
III.
B.
Krisengebietsverwaltung auf Grundlage der Peacekeeping-Befugnis des Sicherheitsrates
(Art. 24 Abs. 1 SVN)
I.
Die Grundlage in der Charta
97
97
ii
II.
Art. 24 Abs. 1 SVN als Rechtsgrundlage einer UN-Gebietsverwaltung
102
1.
Vereinbarkeit mit den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen
103
2.
Geeignetheit
104
a.
Rechtmäßige Vertretung des Gebietes
106
b.
Dauer und Rücknahme der Einwilligung
107
c.
Durchsetzung von Verwaltungsentscheidungen
110
3.
Erforderlichkeit
111
III.
Fallbeispiele: Triest und Kambodscha
113
IV.
Bewertung und Ausblick
115
C.
Krisengebietsverwaltung als friedenssichernde Zwangsmaßnahmen (Kapitel VII der
Charta)
I.
118
Errichtung einer UN-Verwaltung als Zwangsmaßnahme
119
1.
Ungeschriebene Rechtsgrundlagen
119
2.
Art. 41 und 42 SVN
121
a.
Die Auslegung der Art. 41 und 42 SVN – Zulässigkeit auch atypischer Maßnahmen?
121
b.
II.
Verortung und Umfang der Verwaltungskompetenz
Tatbestandliche Voraussetzungen einer UN-Zwangsverwaltung (Artikel 39 SVN)
125
127
1.
Gesichtspunkte bei der Auslegung des Art. 39 SVN
128
2.
Interne Konflikte als Friedensbedrohung
131
a.
Die Praxis des Sicherheitsrates
131
b.
Dogmatische Begründungsversuche
133
3.
Verletzung grundlegender Normen des Völkerrechts als Friedensbedrohung
136
a.
Menschenrechtsverletzungen und humanitäre Katastrophen
137
b.
Beseitigung einer demokratisch gewählten Regierung
139
c.
Missachtung des Selbstbestimmungsrechts
141
III.
Die Bedeutung staatlicher Zustimmung zu einer Zwangsverwaltung
142
IV.
Fallbeispiele
149
1.
UNTAES
149
2.
UNMIK
151
3.
UNTAET
154
D.
Die tatsächliche Ausübung der Verwaltungskompetenz des Sicherheitsrates
I.
Die Delegation der Verwaltungskompetenz des Sicherheitsrates
157
159
1.
Umfang der Delegation
160
2.
Die Zulässigkeit von Delegationen bei konsensgestützten UN-Verwaltungen
161
3.
Die Zulässigkeit einer Delegation von Befugnissen im Rahmen einer Zwangsverwaltung
162
4.
II.
Grenzen der Delegation von Kapitel VII-Befugnissen
Der rechtliche Status der UN-Verwaltungsmissionen
164
168
iii
1.
Der rechtliche Status der UN-Verwaltungsmissionen im Gefüge der Vereinten Nationen
168
2.
Der rechtliche Status der UN-Verwaltungsmissionen gegenüber Staaten und dritten
internationalen Organisationen
III.
175
Die Einbeziehung von UN-Unterorganisationen und dritter internationaler Organisationen
in eine UN-Zwangsverwaltung
IV.
177
Alternative Formen der Wahrnehmung der Verwaltungsbefugnisse des Sicherheitsrates
180
E.
1.
Die Beauftragung des UN-Generalsekretärs mit der Verwaltung eines Krisengebietes 181
2.
Die Ermächtigung regionaler Organisationen
184
3.
Autorisierung einzelner Staaten und Koalitionen von Staaten
190
4.
Die Rechtsgrundlage der Verwaltung des Irak durch die CPA – Beispiel einer Delegation
der Verwaltungsbefugnis an einzelne Mitgliedstaaten?
195
Krisengebietsverwaltung durch die Generalversammlung
200
I.
Rechtsgrundlage für eine Verwaltungskompetenz der Generalversammlung
200
1.
Zuständigkeit der Generalversammlung in Abgrenzung zum Sicherheitsrat
201
2.
Befugnis zur Gebietsverwaltung
204
3.
Die Bedeutung staatlicher Zustimmung für die Verwaltungskompetenz der
Generalversammlung
II.
Durchführung einer Gebietsverwaltung der Generalversammlung (Art. 22 SVN)
208
210
III.
Fallbeispiel: West-Neuguinea
211
IV.
Ausblick
214
F.
Krisengebietsverwaltung unter dem Regime des Treuhandrates (Kapitel XII und XIII der
Charta)
216
I.
Die Rolle des Sicherheitsrates
217
II.
Die formalen Voraussetzungen einer Treuhandverwaltung
218
III.
Ergebnis
4. KAPITEL:
220
DIE GRENZEN DER VERWALTUNGS-KOMPETENZ
UNTER KAPITEL VII DER CHARTA
A.
Organisationsinterne Grenzen der Verwaltungskompetenz des Sicherheitsrates
222
225
I.
Funktionale Grenze aus Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen
II.
Die Bindung des Sicherheitsrates an die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen (Art.
24 Abs. 2 Satz 1 SVN)
1.
Die relevanten Ziele und Grundsätze
226
227
229
a.
Friedenssicherung
230
b.
Selbstbestimmungsrecht der Völker und Menschenrechte
230
iv
c.
2.
Souveränität der Mitgliedstaaten
Einschränkung der Bindung durch eine Hierarchie der Ziele?
233
235
a.
Die Grundentscheidung der Charta für den Vorrang der Friedenssicherung
236
b.
Einschränkungen des Vorrangs in der Praxis
240
3.
Zwischenergebnis
242
III.
Interne Bindung an allgemeines Völkerrecht durch Art. 1 Ziff. 1 SVN?
243
IV.
Interne Bindung an das Treuhandprinzip der Kapitel XI bis XIII der Charta
245
V.
Bindung durch Handeln der Vereinten Nationen
1.
Konkretisierung der in Art. 1 Ziff. 2 und 3 SVN niedergelegten Ziele
250
2.
Selbstbindung durch eigene Handlungen des Sicherheitsrates
254
Zwischenergebnis: Die internen Bindungen des Sicherheitsrates
258
VI.
B.
249
Externe Grenzen der Verwaltungsmacht des Sicherheitsrates
260
Prinzipieller Vorrang der Charta vor allgemeinem Völkerrecht
262
I.
1.
UN-Charta als Weltverfassung mit Geltungsvorrang
263
2.
Vorrang der Charta nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen
266
II.
Dogmatische Bedenken gegen eine Bindung des Sicherheitsrates an Völkergewohnheitsrecht
268
1.
Die Adressatenbezogenheit des Völkergewohnheitsrechts und die daraus folgende
Notwendigkeit einer Einwilligung der Vereinten Nationen
269
2.
Stellungnahme
272
Eingeschränkte Rechtsbindung durch Art. 1 Ziff. 1 SVN?
275
III.
1.
Art. 1 Ziff. 1 SVN als Verzicht der Mitgliedstaaten auf Rechtspositionen aus allgemeinem
Völkerrecht
2.
Beschränkung der Freistellung nach Art. 1 Ziff. 1 SVN auf staatsbezogene
Rechtspositionen?
3.
IV.
C.
275
277
Beschränkung der Freistellung auf abdingbare Normen des allgemeinen Völkerrechts? 280
a.
Das Konzept zwingender Grundwerte (ius cogens)
281
b.
Bedenken gegen eine starre Bindung des Sicherheitsrates an ius cogens
283
c.
Bindung an zwingende Staatenrechte
286
d.
Bindung an den zwingenden Kerngehalt des Selbstbestimmungsrechts
287
e.
Bindung an individualschützende zwingende Menschenrechte
288
Zwischenergebnis: Die externe Bindung des Sicherheitsrates
Mittelbare Bindung des Sicherheitsrates
290
292
I.
Beschränkungen des Sicherheitsrates nach dem nemo transferre-Grundsatz
293
II.
Mittelbare Bindungen bei der Annahme originärer Sicherheitsratsbefugnisse
296
III.
Einschränkungen einer so so begründete Bindung an ius cogens
297
IV.
Zwischenergebnis: Mittelbare Bindung an zwingende Verpflichtungen der Mitgliedstaaten
298
v
D.
Auswertung: Relative und absolute Grenzen der Verwaltungs- kompetenz des
Sicherheitsrates unter Kapitel VII der Charta
300
I.
Zusammenfassung der bisherigen Erkenntnisse
300
II.
Das Verhältnis der Grenzen zueinander
301
III.
Anwendung auf die Befugnis des Sicherheitsrates zur zwangsweisen Verwaltung eines
Krisengebietes
E.
302
1.
Die Besonderheiten internationaler Verwaltung
303
2.
Auswirkungen auf die Befugnisse des Sicherheitsrates unter Kapitel VII SVN
306
3.
Kriterien für die Annahme eines Vorrangs der Friedenssicherung
309
a.
Beeinträchtigung eines der von Art. 1 Ziff. 2 und 3 SVN geschützten Rechtsgüter
309
b.
Kein Verstoß gegen zwingendes Recht
313
c.
Geeignetheit der Handlung zur Friedenssicherung
314
d.
Verhältnismäßigkeit der Maßnahme
315
e.
Einschätzungsprärogative des Sicherheitsrates
318
f.
Zusammenfassung
319
4.
Tendenz: Vom Vorrang der Friedenssicherung zur vollen Rechtsbindung
319
5.
Zusammenfassung: Die progressive Rechtsbindung des Sicherheitsrates
321
Die Grenzen der Verwaltungsmacht in der Praxis
I.
UN-Zwangsverwaltung und das Recht der kriegerischen Besetzung
323
324
1.
Grundzüge des Rechts der kriegerischen Besetzung
324
2.
Anwendbarkeit ratione materiae
327
3.
Anwendbarkeit ratione personae
331
4.
Ergebnis
336
II.
Völkerrechtliche Anforderungen an den Wiederaufbau des Justizwesens
337
1.
Praktische Schwierigkeiten und Anforderungen der Friedenssicherung
338
2.
Anforderungen an das Recht
341
3.
Anforderungen an das Gericht
346
III.
a.
Institutionelle Garantie einer Straf- und Zivilgerichtsbarkeit
346
b.
Unparteilichkeit des Gerichts
349
c.
Verfahrensdauer
352
Das Recht auf Freiheit der Person und Haftanordnungen durch die UN-Verwaltung
359
1.
Die Praxis von KFOR und UNMIK
360
2.
Die völkerrechtlichen Vorgaben
363
3.
Die Vereinbarkeit von UN-Exekutivhaft mit dem Verbot willkürlicher Freiheitsentziehung
(Art. 9 Abs. 1 IPbürgR)
4.
368
Die Vereinbarkeit von UN-Exekutivhaft mit dem Recht auf unverzügliche Haftprüfung
(Art. 9 Abs. 3 und 4 IPbürgR)
370
5.
Ergebnis
375
Rechtsschutz gegen Hoheitsakte der UN-Verwaltung selbst
376
IV.
vi
1.
Rechtliche Argumente für eine Überprüfbarkeit von UN-Hoheitsakten
380
2.
Rechtsschutzgewährung und Friedenssicherung
382
3.
Die Ombudsperson-Institution im Kosovo
384
V.
Der Aufbau eines neuen Staatswesens und das Selbstbestimmungsrecht
385
1.
Status des Selbstbestimmungsrechts im Völkerrecht
387
2.
Anwendungsbereich des Selbstbestimmungsrechts
390
3.
Externes Selbstbestimmungsrecht: Die Entscheidung über den territorialen Status
392
4.
Internes Selbstbestimmungsrecht: Die Entscheidung über die Regierungs- und
Wirtschaftsform
5.
394
Internes Selbstbestimmungsrecht: Die Beteiligung der Bevölkerung an der
Gebietsverwaltung
396
VI.
Das Recht der Staaten auf Achtung ihrer territorialen Integrität
399
VII.
Weitere Aspekte einer Zwangsverwaltung des Sicherheitsrates
404
1.
Die Vertretung des Gebiets nach außen
405
2.
Daseinsvorsorge und soziale Sicherungssysteme
405
3.
Vergangenheitsbewältigung und transitional justice
406
Auswertung
412
1.
Kurzfristiger Rechtsrahmen
412
2.
Langfristige Gestaltungsfragen
414
VIII.
5. KAPITEL:
DIE RECHTLICHEN GRENZEN KONSENS- GESTÜTZTER
UN-GEBIETSVERWALTUNGEN
416
A.
Umfang der staatlichen Zustimmung
416
B.
Sonstige Grenzen konsensgestützter Gebietsverwaltungen des Sicherheitsrates
417
C.
Sonstige Grenzen konsensgestützter Gebietsverwaltungen der Generalversammlung
419
6. KAPITEL:
ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK
421
A.
Ergebnis der Untersuchung
421
B.
Ausblick
425
vii
Abkürzungsverzeichnis
a.A.
anderer Ansicht
Abs.
Absatz
a.E.
am Ende
AEMR
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom
10. Dezember 1948
AFDI
Annuaire Français de Droit International
AfrCHPR
African Charter on Human and People’s Rights vom 17. Juni 1981
AJIL
American Journal of International Law
AmMRK
American Convention on Human Rights vom 22. November 1969
Am.Univ.ILR
American University International Law Review (ab Bd. 13)
Am.Univ.JIL&P
American University Journal of International Law & Policy
(bis Bd. 12)
A/RES/....
Resolution der Generalversammlung
Art.
Artikel
AU
African Union (früher OAU)
ausf.
ausführlich
Australian YBL
Australian Yearbook of International Law
AVR
Archiv des Völkerrechts
Bd.
Band
BdDGVR
Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht
BGBl.
deutsches Bundesgesetzblatt
brit.
Britisch
BYIL
British Yearbook of International Law
Case W.R.JIL
Case Western Reserve Journal of International Law
CEDH
Convention européene des droits de l’homme (auch: EMRK)
CoE
Council of Europe (Europarat)
CoE-PA-Res.
Resolution der Parlamentarischen Versammlung
des Europarates
CPA
Coalition Provisional Authority (Irak, Mai 2003 – Juni 2004)
Cornell ILJ
Cornell International Law Journal
Diss. Op.
abweichendes Votum (Dissenting Opinion)
DÖV
Die öffentliche Verwaltung
DPKO
Department of Peacekeeping Operations (Abteilung für
Friedensmissionen innerhalb des UN Generalsekretariates)
DVBl.
Deutsches Verwaltungsblatt
viii
EA
Europa-Archiv
ECHR
European Convention of Human Rights (auch: EMRK)
ECOWAS
Economic Community of West African States
EGMR
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
EJIL
European Journal of International Law
Emory ILR
Emory International Law Review
EMRK
Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und
Grundfreiheiten vom 4. November 1950
EPIL
Encyclopedia of Public International Law
EU
Europäische Union
EU ABl.
Amtsblatt der Europäischen Union
EUFOR
European Force (Multinationale Friedenstruppe in BosnienHerzegowina unter Führung der EU)
EuGH
Europäischer Gerichtshof
EuGRZ
Europäische Grundrechte Zeitschrift
EUPM
EU-Polizeimission EU in Bosnien-Herzegowina
F
Frankreich
FAZ
Frankfurter Allgemeine Zeitung
FS
Festschrift
FW
Die Friedens-Warte
G.A.O.R.
General Assembly Official Records
GB
Großbritannien
Georgia JI&CL
Georgia Journal of International & Comparative Law
GK III
III. Genfer Konvention über die Behandlung von Kriegsgefangenen
vom 12. August 1949
GK IV
IV. Genfer Konvention zum Schutze von Zivilpersonen in
Kriegszeiten vom 12. August 1949
GK-ZP I
I. Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen vom 12. August
1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter
Konflikte vom 8. Juni 1977
GK-ZP II
II. Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen vom 12. August
1949 über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter
Konflikte vom 8. Juni 1977
GUS
Gemeinschaft unabhängiger Staaten
GYIL
German Yearbook of International Law
Harvard ILJ
Harvard International Law Journal
HLKO
Haager Landkriegsordnung vom 18. Oktober 1907
HRC
Human Rights Committee (Menschenrechtsausschuss nach
ix
Art. 28 IPbürgR)
HRLJ
Human Rights Law Journal
HRQ
Human Rights Quarterly
HRW
Human Rights Watch (NRO)
HVR
Humanitäres Völkerrecht (Zeitschrift)
ICG
International Crisis Group (NRO)
ICJ
International Court of Justice (auch: IGH)
ICJ-Rep.
International Court of Justice – Reports of Judgments, Advisory
Opinions and Orders
ICLQ
International & Comparative Law Quarterly
ICTR
International Criminal Tribunal for Ruanda
ICTY
International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia
i.d.F.
in der Fassung
i.E.
im Ergebnis
IFOR
International Force (Bosnien)
IGH
Internationaler Gerichtshof (auch: ICJ)
IKRK
Internationales Komitee vom Roten Kreuz
ILC
International Law Commission
ILCYB
Yearbook of the International Law Commission
ILM
International Legal Materials
ILR
International Law Reports
insbes.
insbesondere
INTERFET
Intervention Force for East Timor (Sept. 1999 – Febr. 2000)
Int’l. PK (Cass)
International Peacekeeping (Verlag Frank Cass)
Int’l. PK (Kl.)
International Peacekeeping (Verlag Kluwer)
x
IPbürgR
Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom
19. Dezember 1966
IPwirtR
Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle
Rechte vom 9. Dezember 1966
IRRC
Revue Internationale de la Croix-Rouge / International Review of
the Red Cross
ISAF
International Security Assistance Force (Afghanistan,
seit Dez. 2001)
i.S.d.
im Sinne des
i.V.m.
in Verbindung mit
IWPR
Institute for War & Peace Reporting (NRO)
JC&SL
Journal of Conflict & Security Law
JICJ
Journal of International Criminal Justice
JSMP
Judicial System Monitoring Programme (osttimoresische NRO)
KFOR
Kosovo Force (seit Juni 1999)
Kp.
Kapitel
KRK
Kinderrechtekonvention (Übereinkommen über die Rechte des
Kindes vom 20. November 1989)
KSZE
Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (seit
1994 OSZE)
L.N.T.S.
League of Nations Treaty Series (Publication of Treaties and International Engagements registered with the Secretariat of the
League)
Melbourne ULR
Melbourne Univ. Law Review
Michigan JIL
Michigan Journal of International Law
MINUSTAH
United Nations Stabilisation Mission in Haiti (seit 2004)
MIP Bull.
Military Intelligence Professional Bulletin
MP-UNYB
Max Planck Yearbook of United Nations Law
m.w.N.
mit weiteren Nachweisen
NATO
North Atlantic Treaty Organization
NGO
Non-governmental organisation (auch: NRO)
NL
Niederlande
Nordic JIL
Nordic Journal of International Law
NRO
Nicht-Regierungsorganisation (auch: NGO)
NYT
New York Times
NYU-JIL&P
New York University Journal of International Law & Politics
xi
NZWehrR
Neue Zeitschrift für Wehrrecht
OAS
Organization of American States
OAU
Organization of African Unity (nunmehr AU)
ODIHR
OSZE Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte
(Office for Democratic Institutions and Human Rights)
OMIK
OSZE Mission im Kosovo
OSCE
Organisation for Security and Co-operation in Europe
(auch: OSZE)
OSZE
Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
(auch: OSCE)
ÖZöRV
Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht und Völkerrecht
PCIJ
Permanent Court of International Justice (auch: StIGH)
PISG
kosovarische Selbstverwaltungsorgane unter UNMIK (Provisional
Institutions of Self-Government)
RBDI
Revue Belge de Droit International
RdC
Recueil des Cours / Collected Courses der Académie de Droit
International
RGDIP
Revue Générale de Droit International
RPSC
Repertoire of the Practice of the Security Council
S.C.O.R.
Security Council Official Records
Sec.
Section
Sep. Op.
Sondervotum (Separate Opinion)
S.F.D.I.
Société Française pour le Droit International
SIPRI-YB
Yearbook of the Stockholm International Peace Research Institute
Slg.
Sammlung der Entscheidungen und Urteile des betreffenden
Gerichts (EuGH, EGMR)
S.N.J.O.
Société des Nations – Journal Officiel
sog.
so genannt
S/RES/…
Resolution des Sicherheitsrates
SRSG
Sondergesandter des UN-Generalsekretärs (Special Representative of the Secretary-General)
StIGH
Ständiger Internationaler Gerichtshof (auch: PCIJ)
st. Rspr.
ständige Rechtsprechung
SVB
Satzung des Völkerbundes
SVN
Satzung der Vereinten Nationen (auch: UN-Charta)
SZ
Süddeutsche Zeitung
SZIER
Schweizerische Zeitschrift für internationales und europäisches
Recht
xii
Temple I&CLJ
Temple International & Comparative Law Journal
Tulane JI&CL
Tulane Journal of International & Comparative Law
UDHR
Universal Declaration of Human Rights vom 10.12.1948 (auch:
AEMR)
UN
United Nations
UNAMA
United Nations Assistance Mission in Afghanistan (seit 2002)
UNAMET
United Nations Mission in East Timor (1999)
UNAMSIL
United Nations Assistance Mission in Sierra Leone (1999-2005)
UNCHR
United Nations Commission on Human Rights
UNCIO
United Nations Conference on International Organization (1945)
UN-GS
UN-Generalsekretär
UNHCR
United Nations High Commissioner for Refugees
UNJYB
United Nations Juridical Yearbook
UNMIK
United Nations Interim Administration Mission in Kosovo
(seit 1999)
UNMIK/REG/…
von UNMIK erlassene Verordnungen
UNMIL
United Nations Mission in Liberia (seit 2003)
UNMISET
United Nations Missions of Support in East Timor (2002-2005)
UNOCI
United Nations Operation in Cote d’Ivoire (seit 2004)
UNOSOM I/II
United Nations Mission in Somalia I/II (1993-1995)
UNSMA
United Nations Special Mission for Afghanistan (1993-2001)
UNTAES
United Nations Transitional Administration in Eastern Slavonia,
Baranja and Western Sirmium (1996-1998)
UNTAET
United Nations Transitional Administration in East Timor
(1999-2002)
UNTAET/REG/…
von UNTAET erlassene Verordnungen
UNTEA
United Nations Temporary Executive Authority
(West-Neuguinea 1962/63)
U.N.T.S.
United Nations Treaty Series
Vanderbilt JTL
Vanderbilt Journal of Transnational Law
VRÜ
Verfassung und Recht in Übersee
WVK
Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge
vom 3. Mai 1969
WVKIO
Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge zwischen
Staaten und Internationalen Organisationen und zwischen
Internationalen Organisationen vom 21. März 1986
Yale HR&DLJ
Yale Human Rights & Development Law Journal
YBIHL
Yearbook of International Humanitarian Law
xiii
ZaöRV
Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht
Ziff.
Ziffer
xiv
1. Kapitel:
Einleitung
Im Juni 1999 richtete der UN-Sicherheitsrat die United Nations Interim
Administration Mission in Kosovo (UNMIK) ein und betraute sie mit der Verwaltung
der serbischen Provinz Kosovo.1 Nur wenige Monate später rief er mit der United
Nations Transitional Administration in East Timor (UNTAET) eine weitere
internationale Verwaltung für die Osthälfte der Insel Timor ins Leben.2 Beide
Missionen waren autorisiert, all jene Befugnisse in ihren jeweiligen Gebieten
wahrzunehmen, die normalerweise durch den Territorialstaat ausgeübt werden. Die
Vereinten Nationen wurden so allein verantwortlich für die Aufrechterhaltung der
öffentlichen Sicherheit und Ordnung sowie für die Organisation und den Betrieb
eines Justizwesens.3 Zu ihren Aufgaben gehörten neben der Organisation von
Wahlen nunmehr auch der Wiederaufbau der örtlichen Wirtschaft und – ganz
allgemein – die staatliche Daseinsvorsorge.4 Zumindest für einen Übergangszeitraum
ersetzten die Vereinten Nationen den Territorialstaat und vereinten alle drei
staatlichen Gewalten in der Hand ihrer Sondergesandten.5
Auch wenn derartige internationale Gebietsverwaltungen nicht ohne Vorbild sind,
markieren UNMIK und UNTAET einen Höhepunkt in der jüngeren Geschichte des
UN-Peacekeeping.6 Nie zuvor hatten die Vereinten Nationen Gebiete dieser Größe
1
Eingerichtet durch S/RES/1244 (1999) vom 10.6.1999. Ausführlicher zur UNMIK unten 2.Kp. L.
2
Eingerichtet durch S/RES/1272 (1999) vom 25.10.1999. Ausfürlicher zur UNTAET unten 2.Kp. M.
3
Siehe die Aufgabenbeschreibung in UN, Brahimi-Report (2000), § 77.
4
Siehe die umfassende Aufzählung der Aufgaben in § 11 S/RES/1244 (1999) bzw. § 2 S/RES/1272
(1999).
Siehe UNMIK-Reg. 1999/1 vom 25.7.1999: „All legislative and executive authority with respect to
Kosovo, including the administration of the judiciary, is vested in UNMIK and is exercised by the
Special Representative of the Secretary-General.“ Ähnlich lautet § 1 S/RES/1272 (1999) vom
25.10.1999.
5
Griffin/Jones, Int’l. PK 7 (Winter 2001), 75 (75); Matheson, AJIL 95 (2001), 76 (79); Kondoch,
JC&SL 6 (2001), 245 (246). Einschränkend Wilde, EJIL 15 (2004), 71 (77 f.), der auf die zahlreichen
Präzedenzfälle verweist. Zu diesen siehe unten das 2. Kapitel (Kp.)
6
1
eigenständig verwaltet, und nie zuvor waren sie in diesem Umfang mit dem
Wiederaufbau eines Staatswesens betraut.7 Auf diese Weise übten sie nicht nur
direkte Exekutivgewalt gegenüber den Einwohnern des Kosovos und Osttimors aus,
sondern bestimmten auch über ihre Staats- und Wirtschaftsordnung. Statt
interstaatlich waren die Vereinten Nationen nunmehr innerstaatlich tätig, erließen
und vollstreckten Gesetze, sprachen Recht und änderten das Regierungssystem. Das
wirft die Frage nach dem rechtlichen Rahmen für eine solche Übergangsverwaltung
auf.
A.
Gegenstand der Arbeit
Gegenstand der Arbeit sind die völkerrechtlichen Rahmenbedingungen für die
Verwaltung von Krisengebieten durch die Vereinten Nationen. Der Begriff
Krisengebiet ist dabei weit zu verstehen. Er umfasst jedes Gebiet in einer
Sondersituation, welche die Einrichtung einer UN-Verwaltung sinnvoll erscheinen
lässt. Regelmäßig, aber nicht notwendig wird es sich dabei um failed states handeln,
mithin Gebiete, deren staatliche Strukturen zusammengebrochen sind oder aber
drohen zusammenzubrechen.8 Eine UN-Verwaltung kann aber auch aus anderen
Gründen sinnvoll sein, beispielsweise um einen geordneten und gesichtswahrenden
Souveränitätsübergang von einem Staat zu einem anderen zu ermöglichen oder um
vorhandene diskreditierte staatliche Strukturen durch neue, an Demokratie und
Menschenrechten orientierte zu ersetzen.9
Als Verwaltung wird vorliegend die Wahrnehmung staatlicher Befugnisse und
Aufgaben innerhalb eines bestimmten Territoriums bezeichnet. Im vorliegenden
7
Zwar besaß die UNTAES in Ostslavonien ein ähnliches Mandat. Das von ihr verwaltete Gebiet und
seine Bevölkerungszahl waren indes deutlich kleiner. Ausführlich zur UNTAES unten 2.Kp. K.
8
Der Begriff failed state wurde von Helman/Ratner, Foreign Policy 89 (1992/93), 3 (5), geprägt, um
das Phänomen zusammenbrechender Staaten zu beschreiben. Ausführlich zu diesem Begriff Bartl,
Humanitäre Intervention (1999), S. 74-82. Kritisch Wilde, EJIL 15 (2004), 71 (89-91), der diesen
Begriff als zu einseitig, weil nur auf die internen Ursachen des staatlichen Zusammenbruchs
verweisend, ansieht. Eine ausführlichere völkerrechtliche Behandlung dieses Phänomens findet sich
auch bei Thürer, FW 74 (1999), 275-306, sowie jüngst bei Geiß, Failed States (2005).
9
Beispiele für Ersteres sind die UN-Verwaltungen in West-Neuguinea und in Ostslavonien, ein
Beispiel für Letzteres ist UNMIK im Kosovo. Eine gute Analyse der verschiedenen Funktionen
internationaler Gebietsverwaltung liefert Wilde, AJIL 95 (2001), 583-606.
2
Zusammenhang umfasst der Begriff die Ausübung aller drei staatlichen Gewalten,
neben der staatlichen Verwaltung im eigentlichen Sinne daher auch die
Gesetzgebung und die Justiz. Die Berechtigung zur Ausübung dieser Befugnisse
innerhalb eines Gebietes wird im Folgenden als Verwaltungskompetenz bezeichnet.
Sie erfasst nur die Ausübung von Hoheitsbefugnissen innerhalb eines Gebietes, nicht
über das Gebiet als solches. Die Verwaltungskompetenz umfasst somit nicht die
Berechtigung, über ein Gebiet zu verfügen.10
Gegenstand der Arbeit ist ferner primär die eigenverantwortliche Ausübung
sämtlicher staatlicher Befugnisse innerhalb eines Gebietes durch die Vereinten
Nationen, mithin die vollständige Verdrängung des Territorialstaates aus der
Verwaltung eines Gebietes.11 Dadurch unterscheiden sich die hier behandelten UNGebietsverwaltungen von solchen Missionen, die nur sektoral Verantwortung
übernommen haben oder lediglich unterstützende Aufgaben besaßen.12
Diese Arbeit beschränkt sich ferner auf die Gebietsverwaltung durch die Vereinten
Nationen (UN). Untersucht wird die Verwaltungskompetenz ihrer Hauptorgane,
namentlich des Sicherheitsrates, der Generalversammlung und des Treuhandrates,
sowie ihre Möglichkeit, Nebenorgane mit dieser Aufgabe zu betrauen. In diesem
Zusammenhang spielt auch die Ermächtigung von Einzelstaaten und anderen
internationalen Organisationen eine Rolle. Ausgangspunkt bleiben aber die
Verwaltungskompetenzen der Vereinten Nationen. Untersucht wird daher nicht,
inwiefern Staaten und Regionalorganisationen auf anderer Rechtsgrundlage – etwa
aufgrund des Rechts der kriegerischen Besetzung – ein Gebiet verwalten können.13
Auch die Verwaltung von Flüchtlingslagern durch den UNHCR oder das IKRK
10
Ausführlicher zu dieser Unterscheidung unten 3.Kp. A.I. Zur Frage, inwiefern die Vereinten
Nationen über ein Gebiet verfügen können siehe auch unten 4.Kp. C.II und III.
11
§ 6 Annex II zu S/RES/1244 (1999) sah zwar vor, dass jugoslawische bzw. serbische
Funktionsträger in beschränktem Umfang im Kosovo verbleiben durften (u.a. zur „Präsenz“ an
serbisch-orthodoxen Klöstern). Aufgaben und Befugnisse wurden ihnen aber keine zugebilligt.
12
Diese werden nur am Rande behandelt. Beispiel für Erstere ist die UN-Mission in Kambodscha
(unten 2.Kp. H.), für Letzteres die neueren UN-Missionen in Afghanistan und im Irak (unten 2.Kp. N.
und O.).
13
Die Verwaltung des Irak durch eine Staatenkoalition unter amerikanischer Führung wird daher nur
am Rande behandelt. Siehe dazu unten 2.Kp. P. und 3.Kp. D.IV.4.
3
bleibt unberücksichtigt.14
Im Folgenden sei noch kurz die Verwendung einiger Begriffe erläutert: Der Staat, zu
dessen Territorium das von der UN verwaltete Gebiet gehört, wird hier als
Territorialstaat bezeichnet. Betroffener Staat kann daneben auch jeder andere Staat
sein, dessen wesentliche politische oder rechtliche Interessen von der Einrichtung
einer UN-Verwaltung berührt werden.15 Der Begriff Konsensverwaltung oder
konsensgestützte
Verwaltung
meint
eine
UN-Gebietsverwaltung,
die
im
Einvernehmen mit dem Territorialstaat erfolgt. Soweit es sich bei diesem um einen
failed state handelt, der nicht oder nicht mehr über effektive staatliche Strukturen
verfügt, kann die Einwilligung auch durch Bürgerkriegsparteien oder andere
hinreichend legitimierte Vertreter der Bevölkerung erfolgen. Dagegen bezeichnet der
Begriff Zwangsverwaltung eine UN-Gebietsverwaltung, die unabhängig vom Willen
des Territorialstaates und seiner Bevölkerung eingerichtet wurde.
B.
Gang der Untersuchung
Ziel dieser Arbeit ist es, den völkerrechtlichen Rahmen für die Verwaltung von
Krisengebieten durch die Vereinten Nationen zu bestimmen. Aufgrund der hohen
Bedeutung, die der Praxis bei der Auslegung und Fortbildung des Völkerrechts
zukommt, wird zunächst auf die historischen Vorläufer und die gegenwärtigen
Erscheinungsformen dieses Phänomens eingegangen (2. Kapitel). Anschließend wird
untersucht, auf welche rechtlichen Grundlagen eine UN-Gebietsverwaltung gestützt
werden kann (3. Kapitel). Damit verbunden ist die Frage, welche Organe der
Vereinten Nationen zu einer solchen befugt sein können. Ausgehend von den
unterschiedlichen Rechtsgrundlagen sollen sodann abstrakt die rechtlichen Grenzen
der Verwaltungskompetenzen der UN erarbeitet werden (4. und 5. Kapitel). Anhand
der so gewonnenen Erkenntnisse werden anschließend einzelnen Rechtsfragen
untersucht, die sich im Rahmen der bisherigen UN-Gebietsverwaltungen ergeben
haben. Exemplarisch werden neben ausgewählten Menschenrechten auch das
14
Siehe dazu Wilde, Yale HR&DLJ 1 (1998), 107-128.
15
So sind beispielsweise im Falle Osttimors sowohl die ehemalige Kolonialmacht Portugal als auch
Indonesien, das Osttimor widerrechtlich annektiert hatte, betroffene Staaten.
4
Selbstbestimmungsrecht der Völker und der Grundsatz der territorialen Integrität der
Staaten auf ihre beschränkende Wirkung hin analysiert.
Diese Arbeit bezieht sich nicht auf eine konkrete UN-Mission, sondern will den
rechtlichen Rahmen für jede Form umfassender Territorialverwaltung durch die
Vereinten Nationen aufzeigen. Daher kommen nicht nur Gebietsverwaltungen des
Sicherheitsrates, sondern auch solche der Generalversammlung zur Sprache. Ferner
wird kurz untersucht, inwiefern der Treuhandrat für diese Zwecke reaktiviert werden
könnte. Aufgrund ihrer überragenden Bedeutung in der Praxis16 steht die vom
Sicherheitsrat auf der Grundlage von Kapitel VII der Charta eingerichtete
Gebietsverwaltung allerdings im Zentrum der Untersuchung. Dagegen werden
frühere oder gegenwärtige UN-Verwaltungsmissionen außerhalb des historischen
Teils nur insoweit behandelt, als sie beispielhaft für die Wahl einer bestimmten
Rechtsgrundlage sind. UNMIK im Kosovo und UNTAET in Osttimor sind zwar
Anlass, nicht aber Schwerpunkt dieser Arbeit.
Ferner beschränkt sich die Arbeit auf die Untersuchung der rechtlichen
Rahmenbedingungen
einer
UN-Gebietsverwaltung,
so
dass
politische,
wirtschaftliche und soziale Erwägungen keine oder nur eine untergeordnete Rolle
spielen. Ziel ist es, den rechtlichen Handlungsrahmen abzustecken, innerhalb dessen
der Sicherheitsrat und andere Akteure ihre Entscheidungen treffen können. Soweit
rechtliche Kriterien darüber hinaus bei der praktischen Ausgestaltung dieses
Handlungsrahmens eine Rolle spielen, werden sie ebenfalls dargelegt.
Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Charta der Vereinten Nationen. Sie ist
zugleich Quelle und Beschränkung der Kompetenzen der Organisation. Die
Auslegung der Charta und die Bestimmung ihres Verhältnisses zum übrigen
Völkerrecht bilden daher den juristischen Schwerpunkt der Arbeit. Soweit vertretbar
gibt die Arbeit den Stand der Diskussion in der Völkerrechtswissenschaft wieder,
ohne eine vollständige und umfassende Wiedergabe aller vertretenen Meinungen
16
Alle jüngeren Verwaltungsmissionen wurden durch den Sicherheitsrat eingerichtet, wobei er sich in
den letzten drei Fällen (UNTAES, UNMIK und UNTAET) stets des Kapitels VII als Rechtsgrundlage
bedient hat.
5
anzustreben. Insbesondere in der Frage der allgemeinen Kompetenzen des
Sicherheitsrates sowie hinsichtlich der konkret untersuchten einzelnen Rechte wird
an geeigneter Stelle auf umfangreichere Arbeiten Dritter verwiesen.
6
2. Kapitel:
Historische Einführung
Die Verwaltung von Krisengebieten durch internationale Organisationen ist keine
Neuentwicklung der letzten fünfzehn Jahre. Vielmehr hat bereits der Völkerbund
Verantwortung für die Verwaltung bestimmter Gebiete übernommen und auch die
Vereinten Nationen haben bereits in ihrer Frühzeit Gebiete verwaltet oder dies
zumindest geplant. Mit Beendigung der UN-Mission in West-Neuguinea im Jahre
1963 geriet dieses Instrument der Krisenbewältigung jedoch gleichsam in
Vergessenheit und wurde erst mit dem Ende des Ost-West-Konflikts wiederentdeckt.
Beginnend mit der UN-Mission in Namibia im Jahre 1988 wurden bis hin zu jenen
im Kosovo und in Osttimor im Jahre 1999 eine ganze Reihe von UN-Missionen
eingerichtet, deren wesentliches Merkmal eine immer umfangreichere Befugnis zur
Verwaltung des Gebietes war und ist. Hatten die Vereinten Nationen in Namibia
noch weitgehend unterstützende Funktionen übernommen und arbeiteten nur in
Randbereichen eigenverantwortlich, so übernahmen sie im Kosovo und in Osttimor
schließlich die alleinige Verantwortung für alle Aspekte der Verwaltung und wurden
so gleichsam zur Regierung dieser Gebiete. Die neueren UN-Missionen in
Afghanistan, in Liberia und im Irak deuten demgegenüber eine Rückkehr zu primär
unterstützenden Funktionen an.
Im Folgenden werden die historischen Hintergründe der einzelnen UN-Missionen
und die von ihnen übernommenen Aufgaben kurz dargestellt. Soweit dies bereits
möglich ist, wird auch eine kurze Bewertung vorgenommen. Im Übrigen sei auf die
Literaturhinweise in den Fußnoten verwiesen. Nicht eingegangen wird auf
internationale Gebietsverwaltungen vor Gründung des Völkerbundes im Jahre 1919,
17
da es sich bei diesen nicht um Verwaltungen durch internationale Organisationen,
sondern zumeist lediglich um die Abtretung bestimmter Souveränitätsrechte an
Gruppen anderer Staaten handelt. Aus diesem Grund wird auch nicht auf das von
1923 bis 1956 bestehende internationale Regime für die nordafrikanische Stadt
17
Zu diesen siehe Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 22-39 u. 95-153.
7
Tanger (heute Marokko) eingegangen.18
A.
Gebietsverwaltungen durch den Völkerbund
Während der Zeit des Völkerbundes gab es eine ganze Reihe von Projekten,
bestimmte Gebiete übergangsweise oder dauerhaft durch den Völkerbund oder
zumindest unter seiner Aufsicht verwalten zu lassen. Viele von ihnen resultierten aus
ungeklärten Territorialfragen nach dem ersten Weltkrieg. Die meisten von ihnen
wurden nie verwirklicht. Zu diesen gehörten die internationale Verwaltung des
Memelgebietes19 und die Internationalisierung der Städte Fiume an der Adria,20
Wilna in Litauen21 und Alexandretta in Syrien22. Verwirklicht wurden die Freie Stadt
Danzig (1920 bis 1939), die internationale Verwaltung des Saarlandes (1920 bis
1935) sowie die Übergangsverwaltung von Leticia (1933 bis 1934).
Gewisse Ähnlichkeiten mit heutigen UN-Gebietsverwaltungen weisen indes nur die
Saarverwaltung und Leticia auf. Zweck der Internationalisierung Danzigs23 war es,
dem wiedererstandenen Polen den Zugang zur Ostsee zu sichern, ohne die Stadt
gegen den Willen seiner mehrheitlich deutschen Bevölkerung Polen zuweisen zu
müssen.24 Jedoch übernahm der Völkerbund selbst keine Verwaltungsaufgaben in
Danzig, sondern erfüllte lediglich die Funktion eines Garanten und Schiedsrichters.25
Die eigentliche Verwaltung teilten sich Polen und Organe der Stadt selbst. Dagegen
nahm der Völkerbund im Saarland und in Leticia selbst Exekutivverantwortung war.
18
Zu Tanger siehe Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 154-184; Beck, Internationalisierung
(1962), S. 9-17, jeweils m.w.N.
19
Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 48-50.
20
Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 51-59; Beck, Internationalisierung (1962), S. 26-30.
21
Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 36 m.w.N.
22
Wilde, AJIL 95 (2001), 583 (586) m.w.N.
23
Geregelt in Teil XI, Art. 100-108 Versailler Vertrag (1919), RGBl. 1919 II, 688 (868-877) sowie
im Vertrag Polens mit der freien Stadt Danzig vom 9. November 1920, abgedr. in L.N.T.S. VI (1921),
189-207.
24
Beck, Internationalisierung (1962), S. 19.
25
Ratner, New UN Peacekeeping (1995), S. 94. Zur Freien Stadt Danzig ausführlich Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 185-230.
8
Auf beide soll im Folgenden daher näher eingegangen werden.
I.
Saarland (1920-1935)
Wie die Freie Stadt Danzig fand auch die internationale Verwaltung des Saarlandes
ihre Rechtsgrundlage im Friedensvertrag von Versailles,26 und wie diese war auch
die
Saarverwaltung
eine
Kompromisslösung
zwischen
der
Wahrung
des
Selbstbestimmungsrechts der Saarbevölkerung und dem Wunsche Frankreichs, das
ihm zu Reparationszwecken übertragene Eigentum an den saarländischen
Kohlegruben zu sichern.27 Gemäß Art. 49 Abs. 1 des Versailler Vertrages übernahm
der Völkerbund die Regierungsgewalt über das Saargebiet treuhänderisch vom
Deutschen Reich. Die Einzelheiten des Völkerbundregimes über das Saargebiet
waren im Anhang zu den Art. 45 bis 50 des Friedensvertrages geregelt (im
Folgenden: Anhang).
Gemäß § 16 des Anhangs wurde das Saargebiet von einer fünfköpfigen Kommission
unter Leitung ihres Vorsitzenden regiert. Ihre Mitglieder wurden vom Rat des
Völkerbundes ernannt und erstatteten diesem mehrmals jährlich Bericht.28 Gemäß §
19 des Anhangs besaß die Kommission alle Regierungsbefugnisse, die zuvor vom
Deutschen Reich ausgeübt worden waren, darunter das Recht, Beamte zu ernennen
oder zu entlassen und Steuern und Abgaben zu erheben.29 Im Übrigen galt das
bestehende deutsche Recht fort, und auch die Volksvertretungen auf lokaler Ebene
existierten weiter.30 Die Gerichte wurden lediglich durch ein von der Kommission
26
Abschnitt IV, Art. 45-50 des Versailler Vertrag (1919) nebst zugehörigen Anhangs, abgedr. in
RGBl. 1919, 688 ff. (769-802).
27
Art. 45 des Versailler Vertrag (1919), RGBl. 1919, 688 (768 f.). Zur Verhandlungsgeschichte siehe
Beck, Internationalisierung (1962), S. 30-34.
28
Ratner, New UN Peacekeeping (1995), S. 92.
§ 19 Abs. I des Anhangs lautet im englischen Original: „Within the territory of the Saar Basin the
Governing Commission shall have all the powers of government hitherto belonging to the German
Empire, Prussia or Bavaria, including the appointment of officials, and the creation of such administrative and representative bodies as it may deem necessary“ (RGBl. 1919, 688 [786]). Das Recht zur
Steuerhebung findet sich in § 26 des Anhangs.
29
30
§ 23 und § 28 Abs. 1 des Anhangs.
9
eingerichtetes Obergericht ergänzt.31
§ 34 des Anhangs verpflichtete den Völkerbund, fünfzehn Jahre nach Inkrafttreten
des Versailler Vertrages eine Volksabstimmung über den künftigen Status des
Saargebietes abzuhalten. Deren Ergebnis hatte er bei seiner Entscheidung zur
künftigen Souveränität über das Saargebiet zu berücksichtigen (§ 35 des Anhangs).
Bei der Abstimmung 1935 votierte die Bevölkerung mit über 90% für eine
Zugehörigkeit zu Deutschland. Dem folgend übergab der Rat des Völkerbundes die
Regierungsgewalt über das Saarland am 1. März 1935 wieder dem Deutschen
Reich.32
Von
den
heutigen
UN-Gebietsverwaltungen
unterscheidet
sich
die
Saargebietsverwaltung des Völkerbundes zwar insofern, dass sie auf einem
Friedensvertrag und nicht auf einer einseitigen Entscheidung des Organs einer
internationalen Organisation beruhte. Auch verfügte das Saargebiet im Gegensatz zu
heutigen Krisengebieten über eine intakte Infrastruktur, eine entwickelte Wirtschaft
und eine gut ausgebildete Bevölkerung. Dennoch stellt die Saargebietsverwaltung
aufgrund des Umfangs der durch die Saarkommission ausgeübten Kompetenzen
geradezu einen Prototyp für die späteren UN-Verwaltungen im Kosovo und in
Osttimor dar.33 Denn hier war mit dem Völkerbund erstmals eine internationale
Organisation für sämtliche Regierungsaufgaben innerhalb eines Gebietes zuständig,
vom Straßenbau über die Erhebung von Steuern bis hin zur Einrichtung und dem
Betrieb eines Regierungsapparates. Mit der Organisation der Volksabstimmung über
den künftigen Status des Gebietes nahm die Saarverwaltung eine weitere wesentliche
Aufgabe späterer UN-Gebietsverwaltungen vorweg. Des Weiteren richtete der
Völkerbund eine internationale Schutztruppe aus 3.300 britischen, italienischen,
niederländischen und schwedischen Soldaten ein, um die öffentliche Sicherheit und
31
§ 25 des Anhangs.
32
Zu den Überlegungen einer Internationalisierung bzw. Europäisierung des Saarlandes nach dem
zweiten Weltkrieg siehe ausführlich Fischer, Die Saar zwischen Deutschland und Frankreich (1959),
sowie Beck, Internationalisierung (1962), S. 37-41.
33
Ähnlich Ratner, New UN Peacekeeping (1995), S. 91, im Hinblick auf die von ihm behandelten
UN-Friedensmissionen der zweiten Generation.
10
Ordnung im Vorfeld der Volksabstimmung zu gewährleisten. Auch hinsichtlich des
Einsatzes von Friedenstruppen unter der Kontrolle einer internationalen Organisation
spielte die Saarverwaltung mithin eine frühe Vorreiterrolle.34
II.
Leticia (1933-1934)
Die Völkerbundsverwaltung Leticias ist ein frühes Beispiel für internationale
Gebietsverwaltung als Mittel zur Beendigung eines akuten internationalen
militärischen Konflikts. Bei Leticia handelt es sich um ein trapezförmiges, etwa
100.000 km2 großes, im Süden an den Amazonas grenzendes und kaum bewohntes
Gebiet, dessen Zentrum die gleichnamige Hafenstadt von etwa 400 Einwohnern
war.35 Im kolumbianisch-peruanischen Grenzvertrag von 1922 war die Zugehörigkeit
des Gebietes zu Kolumbien vereinbart worden.36 Dennoch wurde es im September
1932 von irregulären peruanischen Einheiten besetzt. Bei Versuchen Kolumbiens,
das
Gebiet
militärisch
zurückzuerobern,
kam
es
zu
bewaffneten
Auseinandersetzungen mit peruanischen Regierungstruppen. Auf Antrag Kolumbiens
wurde gemäß Art. 15 Abs. 1 der Satzung des Völkerbundes (SVB) Anfang 1933 eine
Sondersitzung des Rates des Völkerbundes einberufen.37
Dieser erarbeitete gemäß Art. 15 Abs. 4 SVB einen Bericht,38 in dem die
Völkerrechtswidrigkeit der peruanischen Besetzung festgestellt und den Parteien
folgender
Vorschlag
zur
Streitschlichtung
unterbreitet
wurde:
Sämtliche
peruanischen Einheiten sollten das Gebiet verlassen und seine Verwaltung von einer
Kommission des Völkerbundes übernommen werden.39 Die Kosten der Verwaltung
34
Ratner, New UN Peacekeeping (1995), S. 93.
35
Weber, FW 33 (1933), 190 (191); Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 61. Eine Karte des
Gebietes findet sich im Anhang II des Berichts der Kommission des Völkerbundes, S.N.J.O. 1933, N°
4 (1ière part.), 599-612 (612).
36
Art. 1 des Tratado de límites y libre navegación fluvial entre Colombia y el Peru, unterzeichnet am
24. März 1922 in Lima/Peru, abgedr. als Nr. 1726 in L.N.T.S. 74, 9-17.
37
Weber, FW 33 (1933), 190 (193). Zum System friedlicher Streitbeilegung nach Art. 15 SVB
allgemein siehe Schücking/Wehberg, SVB-Kommentar (1924), S. 568-600.
38
S.N.J.O. 1933, N° 4 (1ière part.), 599-612. Zu den vorangegangenen Verhandlungen im Rahmen des
Völkerbundes siehe Weber, FW 33 (1933), 190 (192 f.).
39
Im Original: „Prise en charge du territoire par une Commission de la Société des Nations“
11
sollte Kolumbien tragen. Der Kommission sollten ferner kolumbianische Einheiten
direkt unterstellt werden, welche zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit
einzusetzen waren. Währenddessen sollten die Parteien über eine endgültige Lösung
des Konfliktes verhandeln. Diesem Vorschlag stimmten Peru und Kolumbien im Mai
1933 zu.40 Im Juni 1933 nahm die Kommission ihre Arbeit auf und regierte das
Gebiet unter der Flagge des Völkerbundes mit großem Geschick bis zu seiner
Rückgabe an Kolumbien genau ein Jahr später.41 Dabei richtete sie unter Leitung je
eines Kommissionsmitglieds Verwaltungsstellen für öffentliche Sicherheit, für
Aufgaben
der
Daseinsvorsorge
und
für
die
Beurteilung
von
Schadensersatzansprüchen aus der peruanischen Besetzung des Gebietes ein.42
Auch wenn es sich lediglich um ein kleines, kaum bewohntes und kaum entwickeltes
Gebiet handelte, treten in der Verwaltung Leticias bereits eine Vielzahl von
Aspekten späterer UN-Mission auf: die übergangsweise Verwaltung eines Gebietes
bis zur Klärung seines endgültigen Status, um diesbezügliche bewaffnete Konflikte
zu
beenden,
der
Wiederaufbau
und
die
Aufrechterhaltung
öffentlicher
Daseinsvorsorge und die Verantwortung für die Klärung privatrechtlicher Ansprüche
aus den vorangegangenen Konfliktereignissen. Auch wenn sich diese Aufgaben
sicherlich auf einem sowohl qualitativ als auch quantitativ wesentlich niedrigeren
Niveau bewegten, als dies bei heutigen UN-Verwaltungsmissionen der Fall ist, bleibt
Leticia ein wichtiger Präzedenzfall für die internationale Gebietsverwaltung als ein
Mittel friedlicher Streitbeilegung. Für den Völkerbund war die Lösung des LeticiaKonfliktes zudem einer der seltenen politischen Erfolge in schwierigen Zeiten.43
B.
Das Freie Territorium Triest (1947)
Das Freie Territorium Triest entstand mit Inkrafttreten des Friedensvertrages mit
(S.N.J.O. 1933, N° 4 (1ière part.), 605).
40
Genfer Abkommen vom 25. Mai 1933, abgedr. in S.N.J.O. 1933, N° 7 (2 ième part.), 944 f.
41
Leticia, in: Strupp-Schlochauer II (1961), S. 414 f.
42
Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 61.
43
Weber, FW 33 (1933), 190 (190); Leticia, in: Strupp-Schlochauer II (1961), S. 415.
12
Italien
am
15.
September
194744
und
endete
mit
dem
Londoner
Verständigungsmemorandum vom 5. Oktober 1954,45 ohne in diesen sieben Jahren je
tatsächlich zu existieren.46 Nach seinem Statut sollte das Gebiet durch einen
Gouverneur verwaltet werden, der vom Sicherheitsrat ausgewählt und diesem
Rechenschaft schuldig war. Auch sollte der Sicherheitsrat die politische und
territoriale Integrität des Gebietes garantieren. Wäre es je zustande gekommen, hätte
das Freie Territorium Triest mithin einen frühen Idealfall territorialer Verwaltung
durch den Sicherheitsrat dargestellt.47
I.
Historischer Hintergrund
Das Freie Territorium Triest umfasste die an der Nordspitze der Adria gelegene alte
Hafenstadt Triest und Teile ihres Hinterlandes.48 Das Gebiet hatte von 1382 bis 1918
zum habsburgischen Österreich beziehungsweise zu Österreich-Ungarn gehört, bevor
es 1920 im Vertrag von Rapallo mitsamt der Halbinsel Istrien Italien zugesprochen
wurde.49 Während die Einwohner der Stadt selbst überwiegend italienischen
Ursprungs waren, war ihr Hinterland slawisch geprägt.50 Nach dem zweiten
Weltkrieg wurde das Gebiet in zwei Besatzungszonen geteilt. Die Stadt selbst und
der sie umgebende, bis Italien reichende Küstenstreifen, die sog. Zone A, wurden
unter britisch-amerikanische Militärverwaltung gestellt, während das Gebiet südlich
44
Art. 22 Abs. 1 des Friedensvertrag mit Italien (10. Februar 1947). Der Vertrag trat gem. Art. 90 mit
seiner Ratifikation durch die vier Siegermächte UdSSR, USA, Großbritannien und Frankreich am 15.
September in Kraft (siehe UNTS Bd. 49 (1950), S. 126).
45
Memorandum über die Verständigung zwischen den Regierungen Italiens, des Vereinigten
Königreiches, der Vereinigten Staaten und Jugoslawiens betreffend das Freie Territorium Triest,
abgedruckt in British Parliamentary Papers No. Cmnd. 9288 (1954) bzw. in USA State Department
Bulletin 1954, 551 (Nr. 799). Eine deutsche Übersetzung findet sich bei Tončić-Sorinj, Schicksal
Triests, EA 10 (1955), 7461 (7479-7482).
46
Beck, Internationalisierung (1962), S. 44.
47
Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 71.
48
Eine Karte findet sich in Annex I.D. des Friedensvertrag mit Italien (10. Februar 1947), UNTS No.
747, Bd. 50 (1950), und bei Sluga, The Problem of Trieste (2001), S. 142.
Vertrag vom 12. November 1920. Ausführlich zu den historischen Hintergründen Tončić-Sorinj,
Schicksal Triests, EA 10 (1955), 7461-7482; Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 232-238
und – mit soziologischem Schwerpunkt – Sluga, The Problem of Trieste (2001), S. 11-83.
49
Tončić-Sorinj, Schicksal Triests, EA 10 (1955), 7461 (7466); Ydit, Internationalised Territories
(1961), S. 235.
50
13
der Stadt auf der istrischen Halbinsel als Zone B von Jugoslawien verwaltet werden
sollte.51
Die Frage, wie mit dem Gebiet verfahren werden sollte, zählte zu den ersten
diplomatischen
Auseinandersetzungen
des
beginnenden
Kalten
Krieges.52
Jugoslawien verlangte unter Verweis auf die slawische Bevölkerungsmehrheit eine
vollständige Angliederung des Gebietes an die Volksrepublik Jugoslawien. Darin
wurde es von der UdSSR unterstützt, wohl auch aus dem Gedanken heraus, Triest
wieder als Hafen für die Länder Mittel- und Osteuropas zu gewinnen, eine Funktion,
die Triest bereits zu Zeiten Österreich-Ungarns besaß.53 Italien verwies dagegen auf
die italienische Bevölkerungsmehrheit in Triest selbst und führte die historische
Zugehörigkeit der Stadt zum italienischen Kulturkreis an.54 Unterstützt wurde Italien
dabei von den Vereinigten Staaten und Großbritannien, die den Zugang des sich
entwickelnden Ostblocks zum Mittelmeer begrenzen wollten.
Obwohl die Fronten zwischen den vier Siegermächte zu diesem Zeitpunkt noch nicht
verhärtet waren, gelang es im Rahmen der Friedensverhandlungen mit Italien
zunächst nicht, die Triestfrage einer Lösung zuzuführen.55 Schließlich schlug der
französische Außenminister Bidault auf der Konferenz der vier Siegermächte im Juni
1946 mit der Internationalisierung nicht nur des Hafens, sondern des gesamten
Gebietes einen dritten Weg aus dem Konflikt vor.56 Dabei sollte der Sicherheitsrat
der Vereinten Nationen die territoriale Integrität des Gebietes garantieren. Obwohl
sich sowohl Italien als auch Jugoslawien gegen diesen Vorschlag aussprachen, wurde
er in modifizierter Form von den vier Siegermächten angenommen und in den
51
Sluga, The Problem of Trieste (2001), S. 99 f. (mit Karten auf S. 100 u. 142).
52
Beck, Internationalisierung (1962), S. 42.
Tončić-Sorinj, Schicksal Triests, EA 10 (1955), 7461 (7461-7463); Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 237 u. 239.
53
54
Beck, Internationalisierung (1962), S. 41 f.
Ausführlicher zum Gang der Verhandlungen Tončić-Sorinj, Schicksal Triests, EA 10 (1955), 7461
(7467-7569), und Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 238-243.
55
Tončić-Sorinj, Schicksal Triests, EA 10 (1955), 7461 (7469); Ydit, Internationalised Territories
(1961), S. 240.
56
14
Friedensvertrag mit Italien aufgenommen.57 Am 10. Januar 1947 bestätigte der
Sicherheitsrat die zu Triest getroffenen Regelungen des Friedensvertrages und
erklärte die Übernahme der ihm darin angetragenen Aufgaben.58 Am 10. Februar
1947 wurde schließlich der Friedensvertrag unterzeichnet, mit dessen Ratifikation
durch die vier Siegermächte am 15. September 1947 auch das in seinem Anhang VII
niedergelegte Instrument zur übergangsweisen Verwaltung des Freien Territoriums
Triest59 in Kraft trat. Das eigentliche, in Anhang VI des Friedensvertrages
niedergelegte Statut des Freien Territoriums Triest (Triest-Statut) sollte gemäß
seinem Art. 38 erst zu einem vom Sicherheitsrat zu bestimmenden Zeitpunkt in Kraft
treten. Dazu kam es jedoch nie.
II.
Das Mandat des Sicherheitsrates
Das Triest-Statut sah ein quasi-staatliches Gebilde unter der Aufsicht und dem
Schutz des Sicherheitsrates vor. Als Organe nennt Art. 9 des Triest-Statuts einen
Gouverneur, ein Parlament („popular assembly“), einen von diesem zu ernennenden
Regierungsrat und eine unabhängige Justiz. Ferner sollte in Übereinstimmung mit
den Vorgaben des Triest-Statuts eine Verfassung ausgearbeitet und vom Parlament
verabschiedet werden (Art. 10 Triest-Statut). Als Attribute der Staatlichkeit sollte das
Freie Territorium Triest über eine eigene Staatsbürgerschaft (Art. 6 Triest-Statut),
Flagge und Wappen (Art. 8 Triest-Statut) und auch ein eigenes Schiffsregister
einrichten (Art. 33 Triest-Statut). Im Gegensatz zum ursprünglichen französischen
Vorschlag war die Geltungsdauer des Statuts nicht begrenzt. Das Freie Territorium
Triest war daher nicht als Übergangslösung, sondern als dauerhafte Einrichtung
vorgesehen.
Die Gesetzgebung sollte dem in freier und geheimer Verhältniswahl gewählten
Parlament obliegen (Art. 12 Triest-Statut). Ferner hatte es die Mitglieder des mit der
57
Art. 21 u. 22 sowie Anhänge VI - X des Friedensvertrag mit Italien (10. Februar 1947).
58
Entscheidung („decision“) vom 10.1.1947, abgedruckt in RPSC 1946-51, S. 312 f., ebenso in den
S.C.O.R., 91. Sitzung, S/P.V./91, 61 f.
59
Instrument for the Provisional Regime of the Free Territory of Trieste, Anhang VII des Friedensvertrag mit Italien (10. Februar 1947).
15
Ausübung der Exekutivgewalt innerhalb des Gebietes betrauten Regierungsrates zu
benennen (Art. 13 Abs. 1 Triest-Statut). Dieser wiederum war dem Parlament
gegenüber verantwortlich.
Aufgabe des Gouverneurs sollte die Überwachung der Einhaltung des Statuts und der
zu verabschiedenden Verfassung sein. Dazu sollte er neben dem Recht, die
Mitglieder der Richterschaft zu ernennen, weitere weitreichende Eingriffsbefugnisse
besitzen. So gab ihm das Triest-Statut das Recht, die Verkündung von Gesetzen
durch sein Veto zu verhindern (Art. 19 Abs. 4 Triest-Statut) oder von Änderungen
abhängig zu machen. Völkerrechtsakte des Freien Territoriums Triest sollten gemäß
Art. 24 Abs. 2 des Statuts nur mit Unterschrift des Gouverneurs rechtskräftig sein.
Indes sollte er nur in Notstandssituationen selbst zu unmittelbar wirkenden
Exekutivakten berechtigt sein (Art. 22 Triest-Statut). Er besaß daher eher eine
Wächter- denn eine Regierungsfunktion.60 Nach Art. 11 des Statuts war der
Gouverneur durch den Sicherheitsrat nach Konsultation mit Italien und Jugoslawien
zu ernennen. Rechtlich gesehen war er als Vertreter des Sicherheitsrates (Art. 17
Abs. 1 Triest-Statut) ein Mitarbeiter der Vereinten Nationen. Dem Sicherheitsrat war
er für die statutskonforme Arbeit der Regierung des Territoriums verantwortlich,
wozu auch die Wahrung der Menschenrechte und die Aufrechterhaltung der
öffentlichen Sicherheit durch diese gehörte (Art. 17 Abs. 1 Triest-Statut). Ferner
hatte er dem Sicherheitsrat jährlich Bericht zu erstatten (Art. 17 Abs. 2 Triest-Statut).
Das Triest-Statut wies dem Sicherheitsrat im Wesentlichen die Funktionen eines
Garanten und eines Schiedsrichters zu. So sollte er nach Art. 2 des Statuts die
territoriale Integrität und die politische Unabhängigkeit des Gebiets garantieren. Dies
beinhaltete neben Sicherstellung der Einhaltung des Statuts explizit auch die
Verpflichtung, die Wahrung der Menschenrechte und der öffentlichen Ordnung
innerhalb des Territoriums sicherzustellen. Ferner sollte er in dem Fall entscheiden,
dass Gouverneur und Parlament hinsichtlich der Vereinbarkeit einzelner Normen der
auszuarbeitenden Verfassung (Art. 10 Abs. 2 Triest-Statut) oder einfacher Gesetze
(Art. 19 Abs. 5 Triest-Statut) mit dem Statut keine Einigkeit erzielen konnten. In
Zu weitgehend Tončić-Sorinj, Schicksal Triests, EA 10 (1955), 7461 (7469), der von
“diktatorischen Vollmachten” des Gouverneurs spricht.
60
16
diesen Fällen war das Vetorecht des Gouverneurs mit einem Petitionsrecht des
Parlaments an den Sicherheitsrat verbunden. Nur in diesen Fällen waren explizite
Einzelfallanweisungen des Sicherheitsrates vorgesehen (Art. 19 Abs. 6 Triest-Statut).
III.
Bewertung
Formal scheiterte das Projekt eines Freien Territoriums Triest an der Unfähigkeit des
Sicherheitsrates, sich auf eine Besetzung des Gouverneursposten zu einigen.61 In der
Praxis blieb es daher bei einer getrennten britisch-amerikanischen beziehungsweise
jugoslawischen Militärverwaltung in den Zonen A und B, wobei die damit
verbundenen Aufgaben in zunehmenden Maße italienischen beziehungsweise
jugoslawischen
Zivilbeamten
übertragen
wurden.
Die
Regelungen
des
Friedensvertrages wurden so immer weiter ausgehöhlt.62 Im Oktober 1954 einigten
sich die vier Siegermächte, Italien und Jugoslawien schließlich darauf, den status quo
zu formalisieren, indem Italien Zone A und Jugoslawien Zone B annektieren sollte.63
Somit wurde das Gebiet letztlich nach ethnischen Gesichtspunkten geteilt und der
Hafen von seinem Hinterland getrennt.64 Die Folgen dieser Entscheidung wurden erst
durch die Aufnahme Sloveniens in die Europäische Union am 1. Mai 2004 wieder
beseitigt.
Das Projekt eines internationalisierten Triests war ein Kind seiner Zeit. Seinen
Ursprung hatte es in den nationalstaatlichen Auseinandersetzungen zwischen Italien
und dem sich noch später konstituierenden Jugoslawien. Die Idee, das Gebiet unter
den Schirm der Vereinten Nationen zu stellen, spiegelt das große Vertrauen wider,
welches der Organisation entgegengebracht wurde.65 Letztlich scheiterte es aus
denselben Gründen, die den Sicherheitsrat bis weit in die achtziger Jahre zur
Untätigkeit verdammten und ihn die in ihn gesetzten Hoffnungen enttäuschen
61
Ausführlich zu den Ursachen und den politischen Hintergründen des Scheiterns Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 257-269.
62
Tončić-Sorinj, Schicksal Triests, EA 10 (1955), 7461 (7473 f.).
63
So festgehalten im Londoner Verständigungsmemorandum vom 5.10.1954 (siehe oben Fn. 45)
64
Zur Entwicklung des Gebietes nach 1954 siehe Tončić -Sorinj, Triest, EA 31 (1976), 571 ff.
65
Beck, Internationalisierung (1962), S. 47.
17
ließen.66 Von heutigen UN-Gebietsverwaltungen unterscheidet das Triest-Projekt,
dass es auf Dauer angelegt war und nicht lediglich als Übergangslösung zur
Bewältigung einer akuten Krise entworfen wurde. Teilweise wurden die Vereinten
Nationen deshalb auch als Träger der staatlichen Souveränität des Gebietes
bezeichnet.67
Als erstes Beispiel für eine Gebietsverwaltung unter der Ägide des Sicherheitsrates
ist das Freie Territorium Triest dennoch für heutige UN-Gebietsverwaltungen nicht
ohne Bedeutung. So ähnelt die Stellung des Gouverneurs in einigen Aspekten der
Stellung des Sondergesandten des Generalsekretärs (SRSG) in der Spätphase von
Krisengebietsverwaltungen wie im Kosovo oder Osttimor: Die eigentliche
Verwaltung wird von lokalen Institutionen wahrgenommen, der Sondergesandte
besitzt aber ein Vetorecht, wenn und soweit seines Erachtens gegen die der Mission
zugrunde liegende Sicherheitsratsresolution verstoßen wird.68 Auch die im
Friedensvertrag mit Italien vorgenommene formale Trennung zwischen einem
provisorischen Statut für die Zeit bis zur Einrichtung einer lokalen Verwaltung69 und
einem
Statut
für
die
Zeit
danach
könnte
ein
Vorbild
für
künftige
Gebietsverwaltungen des Sicherheitsrates sein. Denn auch wenn diese zur
Bewältigung konkreter Krisen erfolgen, teilen sie sich doch zumeist in eine
„Einrichtungsphase“, in der lokale Strukturen erst wieder organisiert werden müssen,
und eine „Aufbauphase“, in der ihre Entwicklung und Stabilisierung gefördert und
überwacht wird.
Ähnlich Tončić-Sorinj, Schicksal Triests, EA 10 (1955), 7461 (7472). Pessimistisch deshalb zur
Zukunft internationalisierter Gebiete Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 271.
66
Tončić-Sorinj, Schicksal Triests, EA 10 (1955), 7461 (7470); mit Verweis auf Äußerungen des
amerikanischen Außenministers Byrnes auch Beck, Internationalisierung (1962), S. 45. Kelsen, Law
of the United Nations (1950), S. 833, und ihm folgend Ydit, Internationalised Territories (1961), S.
271, sehen die Vereinten Nationen eher in der Rolle eines Staatsoberhauptes.
67
68
Siehe beispielsweise Kapitel 12 des Constitutional Framework, verabschiedet als UNMIK/REG/2001/9 vom 15.5.2001: „The exercise of the responsibilities of the Provisional Institutions
of Self-Government under this Constitutional Framework shall not affect or diminish the authority of
the SRSG to ensure full implementation of UNSCR 1244 (1999), including overseeing the Provisional
Institutions of Self-Government, its officials and its agencies, and taking appropriate measures whenever their actions are inconsistent with UNSCR 1244 (1999) or this Constitutional Framework.”
69
Anhang VII des Friedensvertrag mit Italien (10. Februar 1947).
18
Für die vorliegende Arbeit ist das Freie Territorium Triest aber insbesondere deshalb
von Interesse, weil es den Sicherheitsratsmitgliedern dazu Anlass bot, die in Frage
kommenden Rechtsgrundlagen für eine Gebietsverwaltung des Sicherheitsrates zu
diskutieren. So wurden auf der 89. und 91. Sitzung des Sicherheitsrates, bei denen
die dem Rat im Friedensvertrag mit Italien angetragenen Aufgaben debattiert
wurden, durchaus gewichtige Einwände aufgeführt.70 Zumindest Australien war bis
zuletzt nicht davon überzeugt, dass der Sicherheitsrat zu einem solchen Schritt
berechtigt sei, und enthielt sich daher bei der Abstimmung am 10. Januar 1947 als
einziges Mitglied der Stimme.71 Insbesondere bei der Frage, inwiefern der
Sicherheitsrat außerhalb der Voraussetzungen des Kapitels VII der Charta zur
Übernahme der Verwaltungshoheit über ein Gebiet berechtigt ist, wird daher das
Freie Territorium Triest eine Rolle spielen.72
C.
Die Internationale Stadt Jerusalem (1947)
Ähnlich wie im Falle Triests sollte auch durch das zeitgleich entwickelte Projekt
einer Internationalen Stadt Jerusalem ein territorialer Konflikt durch eine auf Dauer
angelegte Internationalisierung des Streitgegenstandes behoben werden,73 und wie im
Falle Triests scheiterte diese Idee letztlich an nationalstaatlichen Bestrebungen der
Bewohner des betroffenen Gebietes.74
I.
Historischer Hintergrund
Nach dem Zusammenbruch des osmanischen Reiches als Folge des ersten
70
Siehe S.C.O.R., 2nd year, No. 1, 4-19 (89. Sitzung), sowie S.C.O.R., 2nd year, No. 3, 44-61 (91.
Sitzung).
71
RPSC 1946-51, S. 312; S.C.O.R., 2nd year, No. 3 (91st sess.), 61.
72
Siehe unten 3.Kp. B.
73
Teil II.D. des in A/RES/181 (II) enthaltenen Teilungsplanes gab zwar für das Statut der Stadt eine
Geltungsdauer von zehn Jahren vor. Dann sollte es indes lediglich im Lichte der gewonnenen
Erfahrungen und entsprechend der Wünsche der Bevölkerung überarbeitet werden („reexamination“), nicht aber außer Kraft treten. Allgemein zur Entschärfung von Souveränitätskonflikten
als Ziel internationaler Gebietsverwaltung Wilde, AJIL 95 (2001), 583 (586-592).
74
Ausführlich zur internationalen Stadt Jerusalem Weiss, Stellung Jerusalems (1954), S. 513-557;
Falaize, RGDIP 62 (1958), 618-654; Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 273-315; Le
Morzellec, Jerusalem devant l’ONU (1979), S. 63-310.
19
Weltkrieges wurde Palästina britisches Mandatsgebiet.75 In der sog. BalfourErklärung vom 2. November 1917 hatte die britische Regierung die Errichtung einer
jüdischen Heimstatt in Palästina befürwortet, ohne dass dadurch die Rechte der
nicht-jüdischen Bewohner des Gebietes beeinträchtigt werden sollten.76 In der
Folgezeit kam es zu einer verstärkten Einwanderung von Juden nach Palästina,
welche zahlreiche, teilweise kriegerische Auseinandersetzungen zwischen arabischen
und jüdischen Bewohnern des Mandatsgebietes nach sich zog. Diese flauten während
des zweiten Weltkrieges nur vorrübergehend ab.77 Nachdem eigene Bemühungen zur
Lösung des Konflikts gescheitert waren, legte Großbritannien Anfang 1947 die
Frage, wie mit dem Gebiet und seinen beiden verfeindeten Bevölkerungsgruppen zu
verfahren sei, der Generalversammlung der Vereinten Nationen vor.78
Diese setzte zunächst eine Sonderkommission ein79, welche der zweiten
Generalversammlung der Vereinten Nationen am 31. August ihren Bericht
vorlegte80. Darin schlug die Mehrheit der Kommission vor, das Gebiet zu teilen und
in Form eines jüdischen und eines arabischen Staates in die Unabhängigkeit zu
entlassen. Die Stadt Jerusalem nebst einem kleinen Umland und der Stadt Bethlehem
sollten als corpus separatum internationalisiert und hinfort von den Vereinten
Nationen verwaltet werden.81 In ihrer Resolution 181 (II) vom 29. November 1947
entschied sich die Generalversammlung für diesen Teilungsplan und beauftragte den
75
Mandatsabkommen abgedruckt im Bericht der UN Sonderkommission für Palästina an die
Generalversammlung vom 3.9.1947 (UN-Doc. A/364), G.A.O.R, 2nd Sess., Supplement No. 11, Vol.
II, 18-22 (1947); sowie in Moore (Hrsg.), The Arab-Israeli Conflict (1977), S. 891-901.
76
Faksimile der Erklärung abgedruckt bei Moore (Hrsg.), The Arab-Israeli Conflict (1977), S. 885,
und in der ZaöRV 3 (1933), Teil 2, S. 234 f. Dt. Übersetzung bei Weiss, Stellung Jerusalems (1954),
S. 520.
77
Ausführlicher Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 276-283.
78
Zu den britischen Bemühungen um eine Konfliktlösung bis zu diesem Zeitpunkt siehe Le Morzellec, Jerusalem devant l’ONU (1979), S. 44-61.
79
United Nations Special Commission on Palestine (UNSCOP), eingerichtet durch A/RES/106 (S-1)
vom 15.5.1947, abgedr. in Wengler/Tittel, Documents (1971), S. 10 f.
80
UNSCOP Report to the General Assembly, UN-Doc. A/364 (3.9.1947), abgedr. in G.A.O.R, 2nd
Sess., Supplement No. 11, Vol. 11 (1947).
81
Ebenda, S. 47-58.
20
Treuhandrat damit, ein Statut für die Stadt Jerusalem zu erarbeiten. 82 Am 21. April
1948 legte der Treuhandrat seinen ersten Entwurf eines Statuts für die Stadt
Jerusalem (Jerusalem-Statut) vor, der sich eng am Bericht der Sonderkommission
orientierte.83
II.
Das Mandat des Treuhandrates
Art. 3 des Jerusalem-Statuts sah eine neutrale Verwaltung des zu entmilitarisierenden
Gebietes durch die Vereinten Nationen vor, die durch den Treuhandrat
wahrgenommen werden sollte. Dieser sollte einen Gouverneur ernennen, welcher als
Vertreter des Treuhandrates die Verwaltung der Stadt leiten und ihm regelmäßig
Bericht erstatten sollte. Zu seinen Aufgaben gehörten neben der Sicherung der
öffentlichen Ordnung die Wahrnehmung der außenpolitischen Belange der Stadt und
die Vorbereitung des Budgets. Er durfte ferner den gesetzgebenden Rat der Stadt
(„legislative council“) suspendieren oder auflösen und sodann selbst Legislativakte
erlassen. Des Weiteren war er befugt, Legislativakte in Kraft zu setzen, wenn er sie
für erforderlich hielt und der Rat ihre Verabschiedung verweigert hatte. In diesen
Fällen – wie auch bei der Ausübung seiner Notstandsbefugnisse (Art. 14) –
verpflichtete ihn das Jerusalem-Statut zur sofortigen Berichterstattung an den
Treuhandrat. Diese Kopplung von Sonder- und Ausnahmebefugnissen des
Gouverneurs mit einer Benachrichtigungspflicht an das Aufsichtsorgan – hier den
Treuhandrat – findet sich auch im Triest-Statut, wenn auch in etwas schwächerer
Form.84
Als gesetzgebendes Organ sah das Statut den aus vierzig Mitgliedern bestehenden
Legislativrat vor. Je achtzehn Mitglieder waren aus dem jüdischen und aus dem
arabischen Teil der Bevölkerung zu wählen, die übrigen vier waren für andere
Abgedruckt in G.A.O.R., 2nd Sess. – Resolutions (UN-Doc. A/519 vom 8.1.1948), 131-150; ferner
UNYB 1947/48, 247-256; und Moore (Hrsg.), The Arab-Israeli Conflict (1977), S. 907-933. Zur
Debatte in der Generalversammlung siehe UNYB 1947-48, 245-247.
82
83
UN-Doc. T/118 Rev.2 vom 21.4.1948. Eine ausführliche Analyse des Statuts findet sich bei Ydit,
Internationalised Territories (1961), S. 285-297, und Le Morzellec, Jerusalem devant l’ONU (1979),
S. 117-132.
84
Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 295. Zum Triest-Statut siehe oben 2.Kp. B.II.
21
Bewohner reserviert. Die vom Legislativrat erlassenen Rechtsakte sollten nur dann in
Kraft treten, wenn ihnen der Gouverneur nicht innerhalb von dreißig Tagen
widersprach. Auch in diesem Fall hatte er den Treuhandrat zu unterrichten (Art. 2023 Jerusalem-Statut). Auch eine unabhängige Justiz, bestehend aus Ober- und
Untergerichten, sah der Statutsentwurf vor.
Im Vergleich zum Triest-Statut fällt auf, dass die Rechtsstellung des Gouverneurs
hier zu Lasten der Bevölkerung stärker ausgebaut wurde. Zwar war auch hier ein
Regierungsrat („council of administration“) vorgesehen, doch sollte dieser weder
durch den Legislativrat gewählt werden noch diesem gegenüber verantwortlich sein.
Ferner wurde ihm lediglich beratende und unterstützende Funktion zugewiesen. Der
Bevölkerung wurde so nur geringer Raum zur Regelung ihrer lokalen
Angelegenheiten gegeben, was der erheblichen Verfeindung der beiden wesentlichen
Bevölkerungsgruppen geschuldet war. Hier sollte eine UN-Verwaltung auf der
Grundlage des Statuts einen neutralen Rahmen schaffen und so eine allmähliche
Annäherung von Juden und Arabern ermöglichen.85
Ähnlich wie das Triest-Statut besaß auch das Jerusalem-Statut einen Grundrechtsteil,
in dem insbesondere die Gleichheit aller Bewohner vor dem Gesetz und die
Religionsfreiheit betont wurden. Aber auch die Freiheit der Person, die
Prozessgrundrechte und das Eigentumsrecht wurden gewährt. Ferner sollte jeder
Einwohner das Recht haben, eine Petition an den Treuhandrat zu richten. Des
Weiteren enthielt das Statut eine umfangreiche Regelung hinsichtlich der in
Jerusalem und Bethlehem gelegenen heiligen Stätten mit besonderen Vorrechten des
Gouverneurs.
III.
Bewertung
Dem Teilungsplan der Generalversammlung begegnete von Anfang an heftiger
Widerstand
seitens
der
arabischen
Bevölkerung
Palästinas
und
der
sie
unterstützenden arabischen Staaten.86 Auch Großbritannien verweigerte die
85
Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 295.
86
Ausführlicher Weiss, Stellung Jerusalems (1954), S. 537-539, und Le Morzellec, Jerusalem devant
22
Kooperation und erklärte seinen einseitigen Abzug aus dem Mandatsgebiet zum 15.
Mai 1948.87 Am Tag davor riefen Vertreter der jüdischen Bevölkerung den Staat
Israel aus. Kurz darauf brach der erste arabisch-israelische Krieg aus, der zur
Besetzung der Altstadt von Jerusalem durch jordanische Truppen führte, während
israelische Einheiten Teile der Neustadt kontrollierten.88 Keine der beiden Parteien
hatte nunmehr Interesse an einer Internationalisierung der Stadt, und beide begannen,
die von ihnen kontrollierten Teile in ihr jeweiliges Staatsgebiet zu integrieren.89
Zwar hielt die Generalversammlung zunächst an einer Neutralisierung und
Internationalisierung Jerusalems fest90 und ließ den Entwurf des Statuts zweimal
überarbeiten, um ihn für beide Parteien akzeptabler zu machen.91 Die fehlende
Bereitschaft Jordaniens und Israels, das für die Internationale Stadt Jerusalem
vorgesehene Gebiet unter die Kontrolle der Vereinten Nationen zu stellen, ließen das
Projekt jedoch endgültig scheitern. Bis 1952 stand die Jerusalem-Frage noch auf der
Tagesordnung
der
Generalversammlung,
ohne
dass
jedoch
die
für
die
Verabschiedung einer Resolution erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit erreicht
werden konnte.
Das Projekt einer Internationalen Stadt Jerusalem ist trotz seines Scheiterns in
zweierlei Hinsicht von Bedeutung für die vorliegende Untersuchung. Erstens enthielt
der Statutsentwurf ähnlich wie im Falle Triests einen Grundrechtskatalog. Dieser
liefert Hinweise darauf, an welche Grundsätze die Vereinten Nationen sich selbst bei
der Ausübung territorialer Verwaltungshoheit gebunden fühlen. Dies gilt gerade auch
für das Petitionsrecht der Bürger Jerusalems und die Verpflichtung des Gouverneurs,
bei der Inanspruchnahme der ihm vom Statut eingeräumten Sonderrechte umgehend
l’ONU (1979), S. 111-115. Kritisch auch Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 195-197 (Fn.
7); ihm folgend Brownlie, Principles (1998), S. 169 f.
87
Siehe den Bericht der UN-Palästina-Kommission (UNCP) an die Generalversammlung vom
10.4.1948, abgedr. G.A.O.R., 2nd extraordinary sess. (UN Doc. A/532); ferner Le Morzellec, Jerusalem devant l’ONU (1979), S. 108 f.
88
Weiss, Stellung Jerusalems (1954), S. 543-545; Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 299.
89
Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 301.
90
Siehe A/RES/194 (III) vom 11.12.1948 und A/RES/303 (IV) vom 9.12.1949.
91
UN-Doc. A/973 vom 12.9.1949 und T/592 vom 4.10.1950. Zu den Änderungen siehe Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 302 f. und 305 f.
23
den Treuhandrat zu unterrichten.
Zweitens ist das Jerusalem-Projekt das bisher einzige – wenn auch nicht
verwirklichte – Beispiel für eine Gebietsverwaltung durch den Treuhandrat. In allen
anderen
Fällen
waren
entweder
der
Sicherheitsrat
oder
(seltener)
die
Generalversammlung die ausführenden Organe.92 Zwar sollte Jerusalem nicht als
echtes Treuhandgebiet im Sinne des Kapitels XII der Charta geführt werden, sondern
als corpus separatum einen völkerrechtlichen Sonderstatus besitzen.93 Dennoch ist
Jerusalem als Präzedenzfall für die Frage von Bedeutung, inwiefern der Treuhandrat
zur Bewältigung sog. failed states reaktiviert werden kann.94
D.
Die internationale Verwaltung Libyens (1949-51)
Die internationale Verwaltung Libyens in den Jahren 1949 bis 1951 war der erste
Fall, in dem die Vereinten Nationen außerhalb des Treuhandsystems der Kapitel XII
und XIII der Charta eine wesentliche Rolle bei der Verwaltung eines Gebietes
spielten. Interessanter Weise war es die Generalversammlung, nicht der
Sicherheitsrat, die federführend tätig wurde.95
I.
Historischer Hintergrund
Der
westlich
von
Ägypten
und
östlich
von
Tunesien
gelegene
Mittelmeeranrainerstaat Libyen besteht aus drei Teilen, dem dicht besiedelten
Tripolitanien sowie den weniger bevölkerungsreichen Gebieten des Fezzan und der
Cyrenaika. Tripolitanien und die Cyrenaika, die letzten nordafrikanischen Gebiete
92
Dass die Wahl auf den Treuhandrat fiel, mag daran gelegen haben, dass es sich bei Palästina zum
Zeitpunkt der Planung des Projektes um ein Mandatsgebiet des Völkerbundes handelte. Solche
Gebiete sollten gemäß Art. 77 Abs. 1 lit. a) SVN in das Treuhandsystem der Vereinten Nationen
überführt werden.
Teil III.A des Teilungsplans (A/RES/181 (II) vom 29.11.1947 – siehe oben Fn. 82), bestätigt in
§ 8 Abs. 3 A/RES/194 (III) vom 11.12.1948 und §. 1 A/RES/303 (IV) vom 9.12.1949. A.A. Ydit,
Internationalised Territories (1961), S. 310: „full-styled trusteeship (...) in accordance with
Chapter XII“.
93
94
Dazu u.a. Delbrück, in: FS Rauschning (2001), S. 427-439, und unten 3.Kp. F. Einen neueren
Beitrag zur Jerusalem-Frage liefert Shalakany, Leiden JIL 15 (2002), 431-444.
95
Zur Tätigkeit der UN in Libyen ausführlich UNYB 1948/49, 256-278; UNYB 1950, 345-362;
24
des Osmanischen Reiches, wurden 1911 von Italien erobert und im Friedensvertrag
von Ouchy vom 18. Oktober 1912 offiziell an Italien abgetreten.96 Nach und nach
wurde auch das Gebiet des Fezzan erobert und 1934 mit Tripolitanien und der
Cyrenaika erstmals zu einer Verwaltungseinheit unter dem Namen Libyen
zusammengefasst.
Während des zweiten Weltkriegs von allierten Streitkräften erobert, wurde das
Gebiet in einen französisch- (Fezzan) und einen englisch-verwalteten Teil
(Cyrenaika und Tripolitanien) geteilt.97 Nach 1945 war der Verbleib des Gebietes
zunächst umstritten. Im Friedensvertrag vom 10. Februar 1947 erklärte Italien den
Verzicht auf alle seine Kolonien, darunter auch Libyen.98 Die vier Siegermächte
verpflichteten
sich
ihrerseits,
die
Frage
des
künftigen
Verbleibs
der
Generalversammlung der Vereinten Nationen vorzulegen, wenn sie sich nicht binnen
Jahresfrist
untereinander
einigen
könnten.
Die
Entscheidung
der
Generalversammlung sollte von allen als bindend anerkannt werden.99 Durch die
Wahl der Generalversammlung anstatt des Sicherheitsrates wurde sichergestellt, dass
keine der vier Siegermächte ihr Vetorecht nutzen konnte, um eine Einigung zu
verhindern.100
Da es in der Tat bis 1948 aufgrund unterschiedlicher strategischer Interessen der
Vertragsparteien101 nicht zu einer Einigung kam, wurde die Libyen-Frage auf die
Tagesordnung der dritten Vollversammlung der Vereinten Nationen gesetzt.102 Ein
UNYB 1951, 266-277.
96
Mattioli, Libyen, verheißenes Land, Die Zeit Nr. 21/2003.
97
Zur brit. Verwaltung dieser Gebiete seit 1941 siehe Cumming, Int’l. Affairs 29 (1953), 11 (13-21).
98
Art. 23 des Friedensvertrag mit Italien (10. Februar 1947), abgedruckt in UNYB 1948/49, 256.
99
Art. 23 i.V.m. § 3 Annex XI des Friedensvertrag mit Italien (10. Februar 1947), abgedruckt in
UNYB 1948/49, 256.
100
Dennoch überrascht dieser Entschluss vor dem Hintergrund der Triest-Frage, deren Lösung die
Siegermächte in Art. 21 Abs. 3 i.V.m. Anhängen VI und VII desselben Vertrages zur Aufgabe des
Sicherheitsrates gemacht hatten. Dies lässt sich nur damit erklären, dass sie den ehemaligen
italienischen Kolonien geringere Bedeutung beimaßen und deshalb eher bereit waren, für sie
ungünstige Entscheidungen zu akzeptieren.
101
Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 68 m.w.N.
102
UNYB 1948/49, 256 f.
25
indischer Vorschlag, das Gebiet bis zu seiner Unabhängigkeit als Treuhandgebiet
von den Vereinten Nationen selbst verwalten zu lassen (Art. 81 Satz 2 Var. 3 SVN),
fand keine Mehrheit.103 Auch andere Vorschläge, die zumeist die Errichtung eines
Treuhandgebietes für einen Zeitraum von fünf bis zehn Jahren vorsahen104, konnten
sich nicht durchsetzen. Sie scheiterten insbesondere an Bedenken, Italien als
Verwaltungsmacht für das Gebiet Tripolitaniens einzusetzen.105 So wurde die
Entscheidung zunächst auf die vierte UN-Vollversammlung vertagt.106 Dort setzten
sich jene Staaten durch, die eine schnelle Unabhängigkeit Libyens favorisierten,
weshalb von einer formellen Unterstellung des Gebietes unter das UNTreuhandsystem abgesehen wurde.107
II.
Das Mandat der Generalversammlung
Resolution 289 A (IV) vom 19.11.1949108 sah vor, dass das aus dem Fezzan, der
Cyrenaika und Tripolitanien bestehende Gebiet bis spätestens 1. Januar 1952 als
Gesamtstaat Libyen unabhängig werden sollten. Durch § 4 der Resolution wurde das
Amt eines UN-Kommissars für Libyen geschaffen109. Dieser sollte die Bevölkerung
Libyens bei dem Entwurf einer Verfassung und der Einrichtung einer Regierung
unterstützen. Dabei wurde er seinerseits von einem Rat („council“) unterstützt, der
aus je einem Vertreter Ägyptens, Frankreichs, Italiens, Pakistans, Großbritanniens
und der Vereinigten Staaten, sowie vier Vertretern der libyischen Bevölkerung
bestand.110 Die Verantwortung für die eigentliche Verwaltung verblieb indes bis zur
103
UN Doc. A/C.1/448, abgedr. in UNYB 1948/49, 258.
104
UNYB 1948/49, 257 f. Hintergrund ist die unrühmliche italienische Kolonialherrschaft über das
Gebiet in den Jahren 1911 bis 1943. Siehe dazu Mattioli, Libyen, verheißenes Land, Die Zeit Nr.
21/2003.
105
UNYB 1948/49, 262 f.
106
A/RES/287 (III) vom 18.5.1949, abgedruckt in UNYB 1948/49, 264.
107
UNYB 1948/49, 265.
108
A/RES/289 A (IV), abgedruckt in: UNYB 1948/49, 275-277.
109
Dieses Amt wurde am 21.11.1949 mit dem Niederländer Adrian Pelt besetzt (UNYB 1948/49,
277).
110
Art. 6 A/RES/289 A (IV).
26
Unabhängigkeit bei den bisherigen Besatzungsmächten Frankreich (Fezzan) und
Großbritannien
(Cyrenaika
und
Tripolitanien).111
Diesen
wurde
lediglich
aufgetragen, ihre Mandatsgebiete auf die Unabhängigkeit vorzubereiten, der
Generalversammlung jährlich zu berichten und untereinander und mit dem UNKommissar zusammenzuarbeiten.112 Der UN-Kommissar selbst besaß keinerlei
administrative Befugnisse.113
Auch die Generalversammlung nahm lediglich die Berichte ihres Kommissars und
der Verwaltungsmächte entgegen und gab Empfehlungen, wie die Ziele der
Resolution 289 (IV) A zu erreichen seien.114 Diese wurden von Frankreich und
Großbritannien in den von ihnen verwalteten Gebieten umgesetzt. Zu derartigen
prinzipiell unverbindlichen Empfehlungen ist die Generalversammlung gemäß Art.
14 SVN befugt. Ihre bindende Wirkung beruhte allein auf den Verpflichtungen, die
sich die Siegermächte im Friedensvertrag mit Italien selbst auferlegt hatten. Die
Vereinten Nationen übten keinerlei legislative oder exekutive Befugnisse auf dem
Gebiet Libyens aus. Diese verblieben vielmehr Kraft des Friedensvertrages bei den
Siegermächten
und
wurden
durch
die
Besatzungsmächte
Frankreich
und
Großbritannien ausgeübt.115 Die Rolle der Generalversammlung war die eines
Schiedsrichters in der Frage des weiteren Verbleibs der italienischen Kolonien und
die eines Beobachters und Beraters auf dem Wege zur Unabhängigkeit Libyens. In
dieser Hinsicht übernahm sie jene Aufgaben, die der Treuhandrat gemäß Kapitel XIII
der Charta bei Treuhandgebieten wahrnimmt.
III.
Bewertung
Mangels eigener Verwaltungshoheit der Generalversammlung handelt es sich bei der
internationalen Verwaltung Libyens nicht um eine UN-Verwaltung der hier
111
Art. 10 lit. b) A/RES/289 A (IV).
112
Art. 10 A/RES/289 A (IV).
113
Dies stellte er in einer Sitzung des ad hoc-Komitees für politische Fragen der Generalversammlung
selbst fest (siehe UNYB 1951, 272).
114
So in A/RES/387 (V) vom 17.11.1950, abgedruckt in UNYB 1950, 354.
115
Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 69.
27
untersuchten Art,116 sondern eher um eine auf der Grundlage des Art. 14 SVN ad hoc
geschaffene Variante eines Treuhandgebietes. Sie ist damit auch kein unmittelbarer
Vorläufer der UN-Gebietsverwaltungen der neunziger Jahre des vergangenen
Jahrhunderts, sondern blieb ein durch seine tatsächlichen und politischen Umstände
bedingter
Einzelfall.
Das
Beispiel
Libyens
zeigt
jedoch,
dass
die
Generalversammlung von den Mitgliedstaaten nicht von vornherein für ungeeignet
gehalten wurde, an der Verwaltung eines Gebietes mitzuwirken. Sie weist auch auf
die Flexibilität der Mittel hin, mit denen die Vereinten Nationen seit ihrer Gründung
die ihnen angetragenen Aufgaben ausführten. Die internationale Verwaltung endete
mit der Erklärung eines unabhängigen Vereinigten Königreiches von Libyen durch
König Senussi am 24. Dezember 1951.117
E.
Die Opération des Nations Unies au Congo (1960-1964)
Die wohl bedeutenste und politisch folgenreichste UN-Friedensmission mit
Elementen einer Gebietsverwaltung war die Mission der Vereinten Nationen im
Kongo, bekannt unter ihrer französischen Abkürzung ONUC. Sie kostete über 200
Blauhelmsoldaten und UN-Mitarbeiter, darunter den damaligen UN-Generalsekretär
Dag Hammarskjøld, das Leben und stürzte die Organisation in eine schwere
finanzielle Krise.118 Rechtlich konnte sie sich zunächst auf die Zustimmung der
kongolesischen Regierung stützen, enthielt aber zunehmend Elemente einer
Zwangsmaßnahme.
Auslöser war die kurzfristig herbeigeführte Unabhängigkeit des Kongo am 30. Juni
1960, die zu Unruhen innerhalb des Vielvölkerstaates und zum Abzug der meisten
belgischen Staatsangehörigen führte. Diese hatten in der früheren belgischen Kolonie
alle relevanten Positionen in Verwaltung und Armee besetzt, ohne die Bevölkerung
116
Siehe oben 1.Kp. I.
117
UNYB 1951, 266.
118
Umfassend zu ONUC beispielsweise Franck/Carey/Tondel, UN Action in the Congo (1963); Urquhart, Hammarskjøld (1972), S. 389-589; Abi-Saab, Congo (1978); ferner Franke, UN Operation im
Kongo (1978); Higgins, UN Peacekeeping (III) – Africa (1980); Schaefer, Funktionsfähigkeit (1981),
S. 150-196; und Luard, History of the UN II (1989), S. 217-316. Zu den rechtlichen Aspekten siehe
auch Miller, AJIL 55 (1961), 1-28.
28
in irgendeiner Weise auf die Übernahme dieser Aufgaben vorzubereiten.119 In der
Folge brach das Staatswesen weitgehend zusammen, Belgien verstärkte aus nicht
gänzlich uneigennützigen Motiven seine Truppen in dem Gebiet, und die
rohstoffreiche Provinz Katanga erklärte ihre Unabhängigkeit.120 Der Sicherheitsrat
ermächtigte
daraufhin
den
Generalsekretär,
der
kongolesischen
Regierung
militärische und technische Hilfe zu leisten, ohne dieses Mandat zu präzisieren oder
eine bestimmte Rechtsgrundlage zu nennen.121
Von Anfang an saß die ONUC zwischen allen Stühlen. Die mehrfach wechselnde
kongolesische Regierung sah die UN-Mission zunächst als Hilfstruppe bei der
Durchsetzung ihrer jeweiligen innenpolitischen Ziele an. Sie begann daher, ihre
Zustimmung zu Maßnahmen der Mission zu verweigern, die diesen Zielen nicht
entsprachen.122 Auf der internationalen Ebene führten der zeitgleich in der KubaKrise eskalierende Kalte Krieg und der Dekolonialisierungsprozess zu völlig
widerstreitenden Positionen.123 In der Folge weigerten sich sowohl die UdSSR als
auch Frankreich, ihren Anteil der Kosten der ONUC zu tragen, so dass die Vereinten
Nationen in die bis dato schwerste finanzielle Krise ihrer Geschichte stürzten.124 Sein
unklares Mandat legte der Generalsekretär im Gegenzug zunehmend weiter aus und
nahm wenig Rücksicht auf die Zustimmung der kongolesischen Regierung.125 ONUC
119
Urquhart, Hammarskjøld (1972), S. 390; Abi-Saab, Congo (1978), S. 6. Zur Geschichte des Kongo
bis zur Unabhängigkeit siehe Franck/Carey/Tondel, UN Action in the Congo (1963), S. 1-11.
120
Franck/Carey/Tondel, UN Action in the Congo (1963), S. 11-14; Urquhart, Hammarskjøld (1972),
S. 395; Durch, Congo (1993), S. 317 f.
121
S/RES/143 (1960) vom 14. Juli 1960 (UN-Doc. S/4387, abgedr. in Higgins, UN Peacekeeping (III)
– Africa (1980), S. 15). Ausf. zur Rechtsgrundlage Miller, AJIL 55 (1961), 1 (2-9), der sich
hinsichtlich der Anfangszeit der ONUC für Art. 40 SVN ausspricht. In § 134 seines Abschlussberichts
S/5784 vom 29.6.1964 spricht der UN-Generalsekretär insoweit von einer kurzfristigen Improvisation
(ebenso Miller, ebenda, 1: „an emergency action“).
122
Siehe § 12 des 2. Berichts des Sondergesandten Dayal an den UN-Generalsekretär vom 2.11.1960
(UN-Doc. S/4557, part A), abgedr. bei Higgins, UN Peacekeeping (III) – Africa (1980), S. 310; ferner
§ 138 des Abschlussberichts S/5784 des Generalsekretärs vom 29.6.1964.
123
Franck, Nation against Nation (1985), S. 175 f.; Durch, Congo (1993), S. 320-326.
Zu den Kosten der ONUC siehe Higgins, UN Peacekeeping (III) – Africa (1980), S. 274-303; und
Durch, Congo (1993), S. 329-332.
124
125
Ratner, New UN Peacekeeping (1995), S. 107. Allgemein zur Auslegung der auf ONUC bezogenen
Sicherheitsratsresolutionen durch Generalsekretär Hammarskjøld siehe Franck/Carey/Tondel, UN
Action in the Congo (1963), S. 77-82; Abi-Saab, Congo (1978), S. 48-53.
29
wandelte sich so zumindest in tatsächlicher Hinsicht von einer konsensgestützten
Friedensmaßnahme hin zu einer friedensschaffenden Zwangsmaßnahme.126 Dem
folgte der Sicherheitsrat, indem er ONUC erstmals zur Anwendung von Gewalt als
letztes Mittel autorisierte.127
Die zivile Komponente – technische Hilfe zur Wiederherstellung der öffentlichen
Ordnung nach dem Wortlaut der Sicherheitsratsresolution128 – sollte der
kongolesischen Regierung beim Wiederaufbau eines funktionierenden Staatswesens
nach dem Abzug allen belgischen Personals helfen.129 Anders als ursprünglich
geplant, berieten UN-Mitarbeiter nicht nur kongolesische Beamte in allen Bereichen
oder bildeten sie aus, sondern übernahmen wesentliche Aufgaben mangels
geeigneten lokalen Personals selbst.130 Dabei wurde auch auf die personellen
Ressourcen der UN-Sonderorganisationen zurückgegriffen.131 So gelang es dem
Generalsekretariat relativ zügig, einen Verwaltungsapparat aufzubauen, dem
zeitweise bis zu 2.000 Mitarbeiter aus 48 Staaten angehörten.132
Mithin lassen sich bei ONUC viele charakteristische Merkmale späterer UNGebietsverwaltungen finden: der Einsatz in einem failed state, ein robustes Mandat,
welches auch die Anwendung von Gewalt einschloss, umfangreiche Aufgaben im
Bereich des nation-building und Personal, welches sich aus einer Vielzahl von UNInstitutionen und Mitgliedstaaten rekrutierte. Dass die ONUC dennoch nur bedingt
126
Ratner, New UN Peacekeeping (1995), S. 104; Chesterman, You, The People (2004), S. 104.
S/RES/161 (1961) vom 21.2.1961 (UN-Doc. S/4741, abgedr. in Higgins, UN Peacekeeping (III) –
Africa (1980), S. 30).
127
128
§ 2 S/RES/143 (1960).
129
Zur Arbeit der zivilen Komponente siehe §§ 78-109 des Abschlussberichts S/5784 des
Generalsekretärs vom 29.6.1964, ferner Franck/Carey/Tondel, UN Action in the Congo (1963), S. 4347. Weitere Nachweise bei Ratner, New UN Peacekeeping (1995), S. 274 Endnote 66.
130
Franck/Carey/Tondel, UN Action in the Congo (1963), S. 44-46; Bardehle, Zivile Komponente des
VN-Peace-keeping (1993), S. 196 f.; Ratner, New UN Peacekeeping (1995), S. 106; Chesterman, You,
The People (2004), S. 113.
131
Franck/Carey/Tondel, UN Action in the Congo (1963), S. 45. Grundlage war Art. 4 S/RES/145
(1960) vom 22.7.1960 (UN-Doc. S/4405, abgedr. bei Higgins, UN Peacekeeping (III) – Africa (1980),
S. 17).
132
Bardehle, Zivile Komponente des VN-Peace-keeping (1993), S. 196.
30
als Vorbild taugt, ist vor allem darauf zurückzuführen, dass sie nicht als eine
Verwaltungsmission geplant war. Vielmehr sollte sie lediglich eine Waffenruhe
erhalten, nicht aber eine politische Lösung herbeiführen oder gar ein Staatswesen
wiederaufbauen.133 Ihre tatsächlich wahrgenommenen Aufgaben sind daher weit
mehr den Verhältnissen vor Ort geschuldet als ihrem bewusst unklar formulierten
Mandat. 134
Als es den UN-Truppen schließlich Ende 1963 in einer Reihe von Kämpfen gelang,
die von ausländischen Söldnern unterstützten Sezessionisten in der Provinz Katanga
niederzuschlagen135,
konnte
die
Mission
zur
großen
Erleichterung
der
Staatengemeinschaft verkleinert und im Juni 1964 offiziell beendet werden. ONUC
war es zwar gelungen, das Land zusammenzuhalten und den Ausbruch eines
Bürgerkrieges vorerst zu verhindern. Aufgrund der hohen Opferzahlen, der Kosten
und der Uneinigkeit im Sicherheitsrat war die Mission jedoch zu einer Art Trauma
geworden und führte dazu, dass sich die Vereinten Nationen in den folgenden 25
Jahren ausschließlich auf konsensgestützte, klar definierte Blauhelm-Einsätze
beschränken sollten.136
F.
Die United Nations Temporary Executive Authority in WestNeuguinea (1962-1963)
Noch während ONUC andauerte, übernahmen die Vereinten Nationen vom 1.
Oktober 1962 bis zum 1. Mai 1963 die Verwaltung West-Neugineas137 und richteten
zu diesem Zweck die United Nations Temporary Executive Authority (UNTEA)
ein.138 Sie ist nicht nur deshalb von Interesse, weil sie die erste UN-
133
Kritisch Franke, UN Operation im Kongo (1978), S. 114 („untaugliches Konzept“).
134
Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 34 f. Zur Formulierung des Mandats Franck, Nation
against Nation (1985), S. 175.
135
Siehe dazu Abi-Saab, Congo (1978), S. 185-191.
136
Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 35; Chesterman, You, The People (2004), S. 104 f.
137
Andere Bezeichnung: West-Papua, West-Irian, Irian Barat bzw. Irian Jaya. Letzteres ist die heute
übliche Bezeichnung. In ihrem Abkommen über die Zukunft des Gebietes vom 15. August 1962
verwendeten die Niederlande und Indonesien die Bezeichnung West-Neuguinea („West New
Guinea“), die auch im Folgenden gebraucht werden soll.
138
Ausführlich zu allen Aspekten dieser Mission, den beteiligten Personen, den Kosten und ihrem
31
Verwaltungsmission war, bei der die Vereinten Nationen vollumfänglich und alleine
mit der Verwaltung eines Gebietes betraut waren und so für eine Übergangszeit die
Regierung eines Gebietes stellten.139 In dieser Hinsicht ist sie Vorläufer der heutigen
UN-Verwaltungen im Kosovo und in Osttimor. Sie ist aber auch das bisher einzige
Beispiel dafür, dass die Generalversammlung, nicht der Sicherheitsrat, eine solche
Verantwortung
übernommen
hat.
Eingerichtet
wurde
sie
aufgrund
von
Vereinbarungen mit den betroffenen Staaten, es handelte sich mithin um eine
konsensgestütze Verwaltungsmission.
I.
Historischer Hintergrund
Gegenstand der UNTEA-Tätigkeit war das Territorium der niederländischen Kolonie
Neuguinea.140 Diese befand sich auf der westlichen Hälfte der nördlich von
Australien gelegenen Insel Neuguinea. Das Gebiet wurde von der Republik
Indonesien beansprucht, welche sich – bis 1949 selbst eine niederländische Kolonie
– als Rechtsnachfolgerin der Niederlande auf dem gesamten Gebiet NiederländischOstindiens begriff.141 Infolge des ungeklärten Status West-Neuguineas kam es in den
späten fünfziger Jahren zu erheblichen Spannungen zwischen beiden Staaten, die in
der Infiltration indonesischer Fallschirmjäger und bewaffneten Zusammenstößen der
Seestreitkräfte im Jahre 1962 gipfelten.142 Vor dem Hintergrund der durch
Resolution 1514 (XV) angestoßenen Dekolonialisierungsbemühungen der Vereinten
Nationen gerieten die Niederlande auch unter zunehmenden internationalen Druck,
Erfolg Higgins, UN Peacekeeping (II) – Asia (1970), S. 91-149. Etwas kürzer Dicke-Rengeling,
Sicherung des Weltfriedens (1975), S. 149-162; Luard, History of the UN II (1989), S. 327-347; und
UN, The Blue Helmets (1996), S. 641-648.
139
Monconduit, AFDI 8 (1962), 491 (509); Bowett, UN Forces (1964), S. 257. Stahn, ZaöRV 61
(2001), 107 (124), nennt sie das erste Beispiel für eine Friedensoperation der zweiten Generation.
Ramsbotham/Woodhouse, Peacekeeping Operations (1999), S. 93, zählen sie dagegen – wohl aus
zeitlichen Gesichtspunkten – zur ersten Generation von Friedensoperationen.
140
Ein nicht-selbstregiertes Gebiet i.S.d. Kapitels XI der Charta. Siehe dazu Higgins, UN Peacekeeping (II) – Asia (1970), S. 95.
141
Ausführlich zu den rechtlichen und tatsächlichen Hintergründen dieses Streitfalles Leyser, AVR 10
(1962/63), 257 (258-266).
142
Higgins, UN Peacekeeping (II) – Asia (1970), S. 99 f.; UN, The Blue Helmets (1996), S. 641 f.
32
ihre Hoheitsrechte über West-Neuguinea aufzugeben.143 Gleichzeitig machte
Indonesien deutlich, dass es nicht bereit war, auf das Gebiet zu verzichten, und
drohte unverhohlen mit der Anwendung militärischer Gewalt.144 In der Folge kam es
zu weiteren Angriffen indonesischer Fallschirmjäger und Marineeinheiten auf dem
Territorium West-Neuguineas.145
Vor diesem Hintergrund kam es unter Vermittlung des Sondergesandten des
Generalsekretärs, des US-Botschafters bei den Vereinten Nationen Ellsworth
Bunker, zum Abschluss eines Übereinkommens zwischen den Niederlanden und
Indonesien,146 das eine kurze Übergangsverwaltung durch die Vereinten Nationen
vorsah, bevor die Verwaltungshoheit an Indonesien übergehen sollte. Indonesien
verpflichtete sich im Gegenzug, bis Ende 1969 einen „Akt der Selbstbestimmung“
durchzuführen,147
mit
dem
die
Bevölkerung
West-Neuguineas
über
eine
Zugehörigkeit des Gebietes zu Indonesien befinden sollte. Bei seiner Durchführung
sollten die Vereinten Nationen allerdings nur beratende Funktion haben.148
Entsprechend
ihres
Übereinkommens
brachten
die
Parteien
in
der
Generalversammlung einen Resolutionsentwurf ein, der als Resolution 1752 (XVII)
am 21.9. 1961 mit 89 - 0 -14 Stimmen angenommen wurde.149 In ihr nahm die
Generalversammlung das West-Neuguinea-Abkommen wohlwollend zur Kenntnis
und ermächtigte den Generalsekretär, entsprechend dem Abkommen tätig zu
143
Luard, History of the UN II (1989), S. 336 f.; Ramsbotham/Woodhouse, Peacekeeping Operations
(1999), S. 116. Zur Diskussion des Problems West-Neuguineas in der Generalversammlung in den
Jahren 1954-57 siehe Indonesian Ministry of Foreign Affairs, The Question of West Irian (1958).
144
Higgins, UN Peacekeeping (II) – Asia (1970), S. 98.
145
Luard, History of the UN II (1989), S. 337 f.
146
Übereinkommen zwischen dem Königreich der Niederlande und der Republik Indonesien
betreffend West-Neuguinea vom 15. August 1962 (im Folgenden: West-Neuguinea-Abkommen),
abgedr. in U.N.T.S. 437, 273-291 (No. 6311); Higgins, UN Peacekeeping (II) – Asia (1970), S. 101106; und AVR 10 (1962/63), 350-355. Eine deutsche Übersetzung findet sich in EA 17 (1962), D445D450. Ausführlich zu diesem Abkommen auch Monconduit, AFDI 8 (1962), 491-516.
Art. XX des West-Neuguinea-Abkommens spricht von einem „act of self-determination“.
Teilweise wird auch von von „arrangements (...) for freedom of choice“ (Art. XVIII, Art. XIX)
gesprochen.
147
148
Siehe Art. XVI des West-Neuguinea-Abkommens.
149
A/RES/1752 (XVII) vom 21.9.1962, mit Abstimmungsnachweisen abgedruckt bei Higgins, UN
Peacekeeping (II) – Asia (1970), S. 110 f.
33
werden.150
II.
Das Mandat der UNTEA
UNTEA begann ihre Arbeit am 1. Oktober 1962.151 Zu ihrem Mandat gehörte die
Überwachung des Waffenstillstands und des niederländischen Truppenabzugs,152 die
Ablösung der niederländischen Verwaltung und die Aufrechterhaltung der
öffentlichen Sicherheit. Zum Zwecke des Letzteren besaß UNTEA eine 1.500 Mann
starke militärische Komponente, die United Nations Security Force (UNSF), die
hauptsächlich aus pakistanischen Soldaten bestand.153 Für die Zeit der UNVerwaltung besaß der Übergangsverwalter die volle Exekutivgewalt über das
Gebiet154 und war auch berechtigt, legislativ tätig zu werden, soweit dies zur
Erfüllung seines Mandats erforderlich war155. Zur Verwaltung des Gebietes gehörte
auch die Organisation der Justiz. Wesentlicher Zweck der UNTEA war es, als ein
Puffer zwischen der niederländischen und der indonesischen Verwaltung des
Gebietes zu wirken. Dies bedeutete vor allem, das durch den Abzug niederländischer
Beamter entstandene Vakuum zu füllen.156 Für die Übergangszeit sollten die
höchsten Posten von der UN besetzt werden, zur Besetzung der übrigen sollte
zunächst auf qualifizierte Einwohner, hilfsweise auf indonesisches Personal
zurückgegriffen werden.157
150
Für eine ausführlichere Besprechung der rechtlichen Aspekte der UNTEA siehe unten 3.Kp. E.III.
151
UN, The Blue Helmets (1996), S. 644.
152
Basierend auf einem niederländisch-indonesischen Memorandum zu o.g. Abkommen vom 15.
August 1962 (UN-Doc. A/5170, add.I, annex A, abgedr.in Higgins, UN Peacekeeping (II) – Asia
(1970), S. 111-113).
Bowett, UN Forces (1964), S. 259; Higgins, UN Peacekeeping (II) – Asia (1970), S. 116-118;
Ramsbotham/Woodhouse, Peacekeeping Operations (1999), S. 116.
153
Art. V des West-Neuguinea-Abkommens lautet: „The United Nations Administrator, as chief executive officer of the UNTEA, will have full authority under the direction of the Secretary-General to
administer the territory fort the period of the UNTEA administration in accordance with the terms of
the present agreement.“
154
155
Art. XI des West-Neuguinea-Abkommens.
156
UN, The Blue Helmets (1996), S. 644.
157
Art. IX des West-Neuguinea-Abkommens.
34
Die UN besaß kein Mandat zur Reform des Gebietes oder zur Förderung seiner
Entwicklung. Auch die Wahrung des Selbstbestimmungsrechts gehörte nicht zu den
Aufgaben der UNTEA. Der Akt der Selbstbestimmung sollte erst in einer späteren
Phase (bis 1969) und allein in der Zuständigkeit Indonesiens erfolgen. Die UN besaß
diesbezüglich nur eine beratende Funktion.158 Politisch gesehen war UNTEAs
Aufgabe, eine bewaffnete Auseinandersetzung zwischen den Niederlanden und
Indonesien zu verhindern159 und als neutraler Dritter eine gesichtswahrende
Übertragung der Souveränität über das Gebiet ermöglichen.
III.
Bewertung
Vor diesem Hintergrund war UNTEA ein Erfolg.160 Die Verwaltungshoheit wurde
ohne größere Reibereien von den Niederlanden über die UN-Verwaltung auf
Indonesien übertragen.161 Anfängliche Schwierigkeiten bei der Rekrutierung
qualifizierten örtlichen Personals wurden insbesondere im Bereich der Justiz durch
Rückgriff auf indonesische Fachkräfte behoben.162 Gleiches geschah hinsichtlich der
Aufstellung von Sicherheitskräften, so dass die Verwaltung West-Neuguineas bereits
zur Zeiten der UNTEA indonesisch dominiert war.163
Allein der Wahrung des vielbeschworenen Selbstbestimmungsrechts war die UNVerwaltung
des
Gebietes
wenig
dienlich.164
Nach
der
Übernahme
der
Gebietsverwaltung im Mai 1963 unterdrückte Indonesien nationalistische oder antiindonesische Bestrebungen in der Bevölkerung West-Neuguineas.165 Der „Akt der
158
Siehe Art. XVI des West-Neuguinea-Abkommens.
159
Korhonen, Leiden JIL 14 (2001), 495 (512).
160
Korhonen, Leiden JIL 14 (2001), 495 (512).
161
Zur Tätigkeit der UNTEA ausführlicher UN, The Blue Helmets (1996), S. 645-648.
162
Siehe den Jahresbericht des Generalsekretärs 1962-63, abgedr. in G.A.O.R., 18th sess., suppl. 1
(UN-Doc. A/5501), 37; in Auszügen abgedruckt bei Higgins, UN Peacekeeping (II) – Asia (1970), S.
142 – 148 (142 f.)
163
Luard, History of the UN II (1989), S. 341 f.
164
Ramsbotham/Woodhouse, Peacekeeping Operations (1999), S. 117.
165
Higgins, UN Peacekeeping (II) – Asia (1970), S. 142; von Mangoldt, ZaöRV 31 (1971), 197 (202
f.).
35
Selbstbestimmung“ fand lediglich in Form einer Befragung der offiziell anerkannten
lokalen Vertreter der Bevölkerung statt.166 Diese insgesamt 1.026 Personen sprachen
sich im Sommer 1969 zu hundert Prozent für die Zugehörigkeit zu Indonesien aus.167
Dennoch erkannte der Generalsekretär das Ergebnis als nach indonesischen
Gepflogenheiten erfolgte freie Entscheidung an.168 Die geringe Beachtung des
Selbstbestimmungsrechts war aber bereits im West-Neuguinea-Abkommen angelegt
und war dessen wesentlichster Kritikpunkt.169
Als Verwaltung eines Krisengebietes durch die Generalversammlung war UNTEA
ein Erfolg und ein Beweis für die Leistungsfähigkeit der Vereinten Nationen. 170 Sie
zeigte, dass auch eine Gebietsverwaltung unter der Ägide der Generalversammlung
praktikabel war und ist. Dass UNTEA dennoch kein Ruhmesblatt in der Geschichte
der
Vereinten
Nationen
ist,
liegt
an
der
geringen
Achtung
des
Selbstbestimmungsrechts der Einwohner.171 Die Generalversammlung agierte hier
wenig prinzipientreu als ein Feigenblatt für eine sehr realpolitisch motivierte
Übergabe des Gebietes an Indonesien.172
166
UN, The Blue Helmets (1996), S. 648; Ramsbotham/Woodhouse, Peacekeeping Operations (1999),
S. 117. Ausführlicher zu diesem „Akt der Selbstbestimmung“ und der Rolle der UN dabei Morand,
AFDI 17 (1971), 513-540, und von Mangoldt, ZaöRV 31 (1971), 197-245.
167
UN, The Blue Helmets (1996), S. 648.
„[A]n act of free choice has taken place in West Irian in accordance with Indonesian practice
(…)”, UN-Doc. A/7723, Annex I (zitiert nach UN, The Blue Helmets (1996), S. 648). In der älteren
Literatur stieß diese Vorgehensweise teilweise noch auf Verständnis, da sich bei den Einwohnern um
„ein Volk auf dem Kulturniveau der Steinzeit“ handle (Dicke-Rengeling, Sicherung des Weltfriedens
(1975), S. 151 u. 157), dass teilweise sogar noch dem Kannibalismus nachginge (Morand, AFDI 17
(1971), 513 (513). Die offizielle indonesische Sicht der Dinge ist nachzulesen in Permanent Mission
of Indonesia to the UN, Questioning the Unquestionable (2003).
168
169
Siehe die Erklärung des Vertreters von Dahomey zu A/RES/1752 (XVII), abgedr. in G.A.O.R., 17th
sess., 1127. plen. mtg., 56 f.; und in Higgins, UN Peacekeeping (II) – Asia (1970), S. 114 f. Zu
kritischen Stimmen in der Generalversammlung siehe ferner von Mangoldt, ZaöRV 31 (1971), 197
(204); und Luard, History of the UN II (1989), S. 340.
170
Bowett, UN Forces (1964), S. 261; Stahn, ZaöRV 61 (2001), 107 (124).
171
Korhonen, Leiden JIL 14 (2001), 495 (513).
172
Luard, History of the UN II (1989), S. 346 f.
36
G.
Die United Nations Transition Group in Namibia (1989-1990)
Nach einer auch durch die Erfahrungen mit ONUC und UNTEA bedingten
25jährigen Pause war der Einsatz der United Nations Transition Group (UNTAG) in
Namibia die erste UN-Mission neuerer Zeit, welche über den klassischen Einsatz von
Blauhelmen wesentlich hinausging.173 Als solche war sie ein Meilenstein hin zur
Entwicklung der umfangreicheren Gebietsverwaltungen der Gegenwart und wird als
erstes Beispiel für eine Friedensoperation der sog. zweiten Generation bezeichnet.174
Wie die früheren Missionen konnte sie sich auf die Zustimmung der betroffenen
Staaten und Parteien stützen.175
I.
Historischer Hintergrund
Namibia war als ehemalige deutsche Kolonie nach dem ersten Weltkrieg
südafrikanisches Mandatsgebiet geworden. Nach dem Zweiten Weltkrieg weigerte
sich Südafrika, das Gebiet dem Treuhandsystem der Vereinten Nationen zu
unterstellen. Aufgrund der zunehmend zu Tage tretenden Annexionsbestrebungen
Südafrikas und der Ausdehnung seiner Apartheidspolitik auch auf Namibia entzog
ihm die Generalversammlung 1966 das Mandat zur Verwaltung des Gebietes.176
Südafrika verweigerte jedoch den Abzug, so dass sich der Konflikt mit den Vereinten
Nationen um Namibia fortsetzte. Auf Initiative der sog. Namibia-Kontaktgruppe177
verabschiedete der Sicherheitsrat 1978 die Resolution 435.178 Diese enthielt einen
nach Verhandlungen mit Südafrika und der Unabhängigkeitsbewegung SWAPO
173
Ratner, New UN Peacekeeping (1995), S. 123. Ausführlich zur Arbeit der UNTAG in Namibia
Kamto, Namibie, RGDIP 94 (1990), 577-634; Melber, Modell mit Schönheitsfehlern, VN 38 (1990),
89-94; Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 42-85; Harbour, UNTAG (1998).
174
Han, NYU-J.I.L.P. 26 (1994), 837 (843); Harbour, UNTAG (1998), S. 1. Ausführlich zu den
Merkmalen des sog. second generation peacekeeping Ratner, New UN Peacekeeping (1995), S. 21-24,
und Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 209-221.
175
Ausführlich zur rechtlichen Grundlage der UNTAG Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S.
48-56.
176
A/RES/2145 (XXI) vom 27.10.1966.
177
Brief vom 10.4.1978 der Vertreter der Bundesrepublik Deutschlands, Frankreichs,
Großbritanniens, Kanadas und der Vereinigten Staaten an den Präsidenten des Sicherheitsrates (UNDoc. 12636, abgedr. in S.C.O.R., 33rd year, suppl. f. April-June 1978, 17-21).
178
S/RES/435 (1978) vom 29.9.1978.
37
ausgearbeiten Plan für die Unabhängigkeit Namibias. Seine Umsetzung scheiterte
jedoch zunächst am Widerstand Südafrikas. Erst 1988 konnten sich die Parteien auf
eine Durchführung des Planes einigen.179 In seiner Resolution 632 (1989) bestätigte
der Sicherheitsrat Resolution 435 (1978) und ermächtigte den Generalsekretär, sie
entsprechend dem von ihm ausgearbeiteten Plan umzusetzen.180 Am 1. April 1989
nahm UNTAG seine Arbeit in Namibia auf.181
II.
Das Mandat der UNTAG
Gemäß der Resolution 435 (1978) besaß UNTAG drei Aufgaben: die Überwachung
des Waffenstillstandes zwischen südafrikanischen Truppen und Einheiten der
SWAPO, die Überwachung der südafrikanischen Polizei und die Sicherstellung eines
freien und fairen Verlaufs der Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung
Namibias.182 Zu keinem Zeitpunkt sollte UNTAG dabei Hoheitsgewalt ausüben.
Vielmehr blieb Südafrika, vertreten durch seinen Generalgouverneur, für die
Verwaltung
des
gesamten
Gebietes
und
die
Organisation
der
Wahlen
verantwortlich.183 UNTAG sollte lediglich die südafrikanischen Stellen bei ihrer
Arbeit beobachten, mithin sog. monitoring betreiben. Zu diesem Zweck bestand
UNTAG aus einer militärischen Komponente von maximal 4.650 Soldaten und einer
zivilen Komponente bestehend aus 1.500 Polizisten (CIVPOL) und etwa 900
weiteren
Mitarbeitern.184
Durch
enge
Begleitung
und
Beobachtung
der
südafrikanischen Polizei und Verwaltung erkannte UNTAG Missstände und konnte
zumeist erfolgreich beim Generalgouverneur auf Abhilfe dringen.185 Auf diese Weise
179
Zu den politischen Hintergründen siehe Fortna, in: Durch (Hrsg.), UN Peacekeeping (1993), S.
353-359.
180
Art. 2 S/RES/632 (1989) vom 16.2.1989. Zur Planung siehe den Bericht des Generalsekretärs vom
23.1.1989 (UN-Doc. S/20412).
181
UN, The Blue Helmets (1996), S. 216; Kamto, Namibie, RGDIP 94 (1990), 577 (617).
182
Zusammenfassung bei Fortna, in: Durch (Hrsg.), UN Peacekeeping (1993), S. 360; ausführlicher
Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 57-73.
183
Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 65 u. 73.
184
UN, The Blue Helmets (1996), S. 209-214; Fortna, in: Durch (Hrsg.), UN Peacekeeping (1993), S.
364 f.; Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 78-81 (m.w.N).
185
Fortna, in: Durch (Hrsg.), UN Peacekeeping (1993), 370; Ratner, New UN Peacekeeping (1995), S.
38
wurde nicht nur ein freier und weitgehend fairer Verlauf186 der Wahlen, sondern auch
die friedliche Rückführung von ca. 58.000 Flüchtlingen und die geordnete Übergabe
der Staatsgewalt an die neu geschaffenen namibischen Institutionen sichergestellt.
Nach Verabschiedung seiner unter Mitarbeit der UNTAG ausgearbeiteten
Verfassung erklärte Namibia am 21. März 1990 seine Unabhängigkeit und wurde als
160. Staat Mitglied der Vereinten Nationen.187
III.
Bewertung
Dass UNTAG ihrem Mandat voll und ganz gerecht wurde, liegt nicht nur an seinem
klar
begrenzten
Umfang,
sondern
auch
an
den
überaus
günstigen
Rahmenbedingungen.188 So wurde UNTAG von allen Mitgliedern der Vereinten
Nationen unterstützt, und auch die Parteien befürworteten ihre Arbeit im Grundsatz,
auch wenn sie sich in concreto nicht immer kooperativ verhielten.189 1989/90 war sie
die einzige größere Mission der UNO, so dass ihr die Aufmerksamkeit und
Ressourcen der Organisation und ihrer Mitgliedstaaten ungeschmälert zugute
kamen.190 Vor allem aber war die UN aufgrund ihres langjährigen Engagement in der
Namibia-Frage und der langen Vorlaufzeit der Mission mit den Verhältnissen und
Befindlichkeiten vor Ort bestens vertraut, was ihre politische Arbeit wesentlich
erleichterte.191
Als eine Mission mit einer großen zivilen Komponente und einem primär zivilen,
innerstaatlichen Aufgabenkreis erscheint UNTAG als ein frühes Beispiel für eine
120 f.
186
Zu Versuchen Südafrikas, auf das Wahlergebnis Einfluss zu nehmen, siehe Fortna, in: Durch
(Hrsg.), UN Peacekeeping (1993), S. 370 f. Einzelheiten des Wahlergebnisses bei Kamto, Namibie,
RGDIP 94 (1990), 577 (627).
187
Zur Verfassung Namibia siehe Tomuschat, VN 38 (1990), 95-100.
188
Han, NYU-J.I.L.P. 26 (1994), 837 (845); Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 81 f.
189
Ratner, New UN Peacekeeping (1995). S. 121 f.
190
Ratner, New UN Peacekeeping (1995). S. 123.
191
Fortna, in: Durch (Hrsg.), UN Peacekeeping (1993), S. 363 f.
39
UN-Verwaltungsmission.192 Von diesen unterscheidet sie sich jedoch insofern
wesentlich, dass sie selbst keinerlei exekutivische Befugnisse in Namibia besaß.
Aufgrund ihres Erfolges war UNTAG indes entscheidend für die Bereitschaft der
Vereinten Nationen, in späteren Fällen größere Verantwortung bei der Verwaltung
von Krisengebieten zu übernehmen. Auch ist anzunehmen, dass die im Falle der
UNTAG gesammelten Erfahrungen es dem Generalsekretariat zumindest wesentlich
erleichterten, zu einem späteren Zeitpunkt umfangreichere Verwaltungsmissionen zu
realisieren.
H.
Die United Nations Transitional Authority in Kambodscha
(1992-1993)
Kaum zwei Jahre später übernahmen die Vereinten Nationen eine bereits sehr viel
umfangreichere Rolle in dem zwischen Thailand und Vietnam gelegenen
Kambodscha.193 Im Gegensatz zu Namibia handelte es sich hierbei nicht um einen
Fall später Dekolonialisierung, sondern um ein vom Bürgerkrieg zerissenes Gebiet,
das einem failed state sehr nahe kam.194
I.
Historischer Hintergrund
1970 wurde Prinz Sihanouk, der die ehemalige französische Kolonie seit ihrer
Unabhängigkeit 1953 geführt hatte, in einem Militärputsch durch General Lon Nol
gestürzt.195 Den dadurch ausgelösten Bürgerkrieg konnten die roten Khmer 1975
zunächst für sich entscheiden. Unter Leitung ihres Vorsitzenden Pol Pot errichteten
sie ein marxistisches Terrorregime, dem wohl über eine Million Menschen zum
192
Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 72.
193
Han, NYU-J.I.L.P. 26 (1994), 837 (849). Ausführlich zur UNTAC u.a. Isoart, RGDIP 97 (1993),
645-688; Chopra, Cambodia (1994); Ratner, New UN Peacekeeping (1995), S. 135-206; und
Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 85-155. Die wesentlichen UN-Dokumente zum
Engagement der Vereinten Nationen in Kambodscha zwischen 1991 und 1995 sind in dem Band UN,
Cambodia (1995), zusammengefasst.
194
Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 95. Ausführlicher zur Vorgeschichte der UNTAC
auch Isoart, AFDI 36 (1990), 267-297. Zur sozialen und wirtschaftlichen Situation des Landes siehe
Chopra, Cambodia (1994), S. 55-58.
195
Isoart, AFDI 36 (1990), 267 (268).
40
Opfer fielen.196 Es wurde erst durch den von den Vereinten Nationen scharf
kritisierten Einmarsch vietnamesischer Truppen 1979 beendet.197 Vietnam installierte
seinerseits die ihm genehme Regierung unter Hun Sen. Obwohl vietnamesische
Truppen das Land bis 1989 besetzten, dauerte der Bürgerkrieg an. Die von der
UdSSR und der Volksrepublik Vietnam unterstütze Regierung Hun Sen konnte sich
militärisch nicht gegenüber der international anerkannten Exilregierung durchsetzen.
Diese bestand aus einer Koalition der Anhänger Prinz Sihanouks und der früheren
Anhänger Lon Nols sowie aus den roten Khmer und wurde insbesondere von China,
den ASEAN-Staaten und den Vereinigten Staaten unterstützt.198 Erst das Ende des
Kalten Krieges ermöglichte eine Lösung der festgefahrenen Situation.199
Nach
fast
zweijährigen
Verhandlungen
akzeptierten
die
vier
nationalen
Konfliktparteien unter starkem internationalen Druck einen von den fünf ständigen
Sicherheitsratsmitgliedern
ausgearbeiteten
Friedensplan.200
Das
von
den
Konfliktparteien und achtzehn Staaten in Gegenwart des UN-Generalsekrektärs
unterzeichnete Pariser Friedensabkommen vom 23. Oktober 1991 sah eine
achtzehnmonatige Übergangsverwaltung des Landes bis zur Konstituierung einer frei
gewählten Nationalversammlung vor.201 Zu diesem Zweck übertrug der aus den vier
Konfliktparteien bestehende Supreme National Council (SNC) als Träger der
kambodschanischen Souveränität202 den Vereinten Nationen alle zur Umsetzung des
196
Die Zahlen schwanken zwischen 0,5 und bis zu 3 Millionen, siehe die Nachweise bei Hufnagel,
UN-Friedensoperationen (1996), S. 87. Zum Terrorregime der roten Khmer auch Isoart, AFDI 36
(1990), 267 (269 f.).
197
Zur Kritik der UN siehe beispielsweise A/RES/34/22 vom 14.11.1979. Ausführlich Isoart, AFDI
36 (1990), 267 (270-273).
198
Ratner, New UN Peacekeeping (1995), S. 141 f.
199
Isoart, AFDI 36 (1990), 267 (276). Zu den wesentlichen Änderungen des internationalen Umfeldes
siehe Opitz/Seemüller, VN 40 (1992), 126 (127).
200
Zum Gang der Verhandlungen und dem Friedensplan der ständigen Sicherheitsratsmitglieder siehe
Isoart, AFDI 36 (1990), 267 (276-297); Opitz/Seemüller, VN 40 (1992), 126 (127-129); und Ratner,
AJIL 87 (1993), 1 (4-8).
201
Art. 1 des Agreement on a comprehensive political settlement of the Cambodian Conflict, UN-Doc.
A/46/608 – S/23177 vom 30.10.1991 (Annex), abgedr. in ILM 31 (1992), 174-204 (184). Eine
rechtliche Analyse des Abkommens unternimmt Ratner, AJIL 87 (1993), 1-41.
Siehe Art. 3 des Pariser Friedensabkommens: „The Supreme National Council (...) is the unique
legitimate body and source of authority in which, throughout the transitional period, the sovereignty,
202
41
Abkommens erforderlichen Befugnisse.203 Diese wurden ferner dazu aufgefordert,
entsprechend den Vorgaben des
Friedensabkommens die United Nations
Transitional Administration in Cambodia (UNTAC) einzurichten, um diese
Befugnisse wahrzunehmen.204 Bei UNTAC handelte es sich mithin um eine
konsensgestützte UN-Verwaltung, die auf der Zustimmung der Betroffenen beruhte.
II.
Das Mandat der UNTAC
Die wesentliche Aufgabe der UNTAC war es, freie und unabhängige Wahlen in
einem politisch neutralen Umfeld zu organisieren und durchzuführen. Zu diesem
Zweck sollte sie direkte Kontrolle über jene Teile der Landesverwaltung
übernehmen, welche den Ausgang der Wahlen unmittelbar beeinflussen konnten.205
Explizit genannt wurden die Bereiche Äußeres, Verteidigung, Finanzen, öffentliche
Sicherheit sowie Presse- und Öffentlichkeitsarbeit.206 Diesen sollte UNTAC
verbindliche Anweisungen („directives“) geben dürfen.207 Über die Sicherheitskräfte
und weitere, noch zu bestimmende sensible Bereiche der staatlichen Verwaltung
sollte UNTAC ebenfalls Kontrolle ausüben oder sie zumindest beaufsichtigen. 208 Zu
diesem Zweck sollte UNTAC berechtigt sein, bindende Richtlinien („guidelines“) zu
erlassen. In allen Bereichen sollte UNTAC berechtigt sein, eigenes Personal zu
installieren, die Entfernung kambodschanischer Mitarbeiter zu verlangen209 und
independence and unity of Cambodia are enshrined” – abgedr. ILM 31 (1992), 174 (184). Zu
Konzeption und Aufgabe des SNC siehe Ratner, AJIL 87 (1993), 1 (9-11).
203
Art. 6 des Pariser Friedensabkommen i.V.m. Annex 1 des Abkommens, abgedr. in ILM 31 (1992),
174 (184). Zur Legitimität und Berechtigung des SNC, diese Hoheitsrechte zu übertragen, siehe
Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 107 f.
204
Art. 2 des Pariser Friedensabkommens, abgedr. ILM 31 (1992), 174 (184).
205
Art. 6 Abs. 2 des Pariser Friedensabkommens, abgedr. ILM 31 (1992), 174 (184).
206
Annex 1, Section B, § 1 Abs. 2 des Pariser Friedensabkommens, abgedr. ILM 31 (1992), 174
(189).
207
Annex 1, Section B, § 1 Abs. 1 des Pariser Friedensabkommens, abgedr. ILM 31 (1992), 174
(189).
208
Annex 1, Section B, §§ 2 u. 3 des Pariser Friedensabkommens, abgedr. ILM 31 (1992), 174 (189).
Zur Arbeit der Polizeibeobachter siehe Chopra, Cambodia (1994), S. 44-47.
209
Annex 1, Section B, § 2 a.E. und § 4 des Pariser Friedensabkommens, abgedr. ILM 31 (1992), 174
(189).
42
Untersuchungen der Arbeit kambodschanischer Stellen einzuleiten.210 Ferner wurde
UNTAC die Überwachung des Waffenstillstandes und der Entwaffnung der
Bürgerkriegsparteien,211 die Flüchtlingsrückführung212 sowie die Förderung der
Menschenrechte
durch
entsprechende
Öffentlichkeitsarbeit,
Monitoring
und
Einzelfallermittlungen angetragen.213
Nachdem Sicherheitsrat und Generalversammlung den Abschluss des Pariser
Friedensabkommens ausdrücklich begrüßt hatten,214 ermächtigte der Sicherheitsrat
mit Resolution 745 (1992) vom 28.2.1992 den UN-Generalsekretär, die UNTACMission entsprechend seinem Bericht vom 19.2.1992 einzurichten215. Der Japaner
Akashi wurde zum Sondergesandten und Leiter der Mission ernannt, die am
15.3.1992 offiziell ihre Arbeit aufnahm.216 Sie bestand aus einer militärischen
Komponente von 15.900 Soldaten zur Überwachung des Waffenstillstandes, etwa
3.600 Polizeibeobachtern sowie einer zivilen Komponente von etwa 2.500 Personen.
Zu Hochzeiten beschäftigte UNTAC etwa 22.000 internationale Mitarbeiter aus 44
Ländern sowie 61.000 Kambodschaner.217 Zur militärischen Komponente gehörten
erstmals auch deutsche Sanitätssoldaten – der erste Blauhelmeinsatz der deutschen
210
Annex 1, Section B, § 6 des Pariser Friedensabkommens, abgedr. ILM 31 (1992), 174 (184).
211
Annex 1, Section C und Annex 2 des Pariser Friedensabkommens, abgedr. ILM 31 (1992), 174
(190-197).
212
Art. 20 Abs. 2 i.V.m. Annex 4 des Pariser Friedensabkommens, abgedr. ILM 31 (1992), 174 (187
u. 198-200). Diese Aufgabe wurde vom UNHCR wahrgenommen. Zu seiner Arbeit siehe Chopra,
Cambodia (1994), S. 61-67.
213
Art 16 i.V.m. Annex 1, Section E des Pariser Friedensabkommens, abgedr. ILM 31 (1992), 174
(186 u. 192). Zur Arbeit der Menschenrechtskomponente siehe Chopra, Cambodia (1994), S. 38-43.
214
Siehe S/RES/718 (1991) vom 31.10.1991 und A/RES/46/18 vom 20.11.1991, beide abgedr. in
UNYB 1991, 155 f.
215
Bericht des Generalsekretärs vom 19.2.1992, UN-Doc. S/23613. S/RES/745 (1992) abgedruckt in
UNYB 1992, 246; deutsche Fassung in VN 40 (1992), 78. Bereits vor Abschluss des Abkommens
hatte der Sicherheitsrat in S/RES/717 (1991) vom 16.10.1991 die Einrichtung der UN Advance
Mission in Cambodia (UNAMIC) zur Vorbereitung der UN-Verwaltung autorisiert. UNAMIC ging
dann in UNTAC auf. Zu Entstehung, Aufgabe und Arbeit der UNAMIC siehe UNYB 1991, 157-160,
und UNYB 1992, 241-243.
216
217
UNYB 1992, 250.
Ausführlich zur personellen Zusammensetzung
Friedensoperationen (1996), S. 144-153.
der
UNTAC-Mission Hufnagel,
UN-
43
Bundeswehr.218 Insgesamt kostete UNTAC die Vereinten Nationen über 1,5 Mrd.
US-Dollar und war damit etwa viermal so teuer wie UNTAG.219
Während die Überwachung des Waffenstillstandes und die Entwaffnung der
Bürgerkriegsparteien fehlschlugen, weil insbesondere die roten Khmer ihre Mitarbeit
verweigerten, war die Organisation der Wahlen trotz zahlreicher Schwierigkeiten
erfolgreich.220 Trotz Boykottaufrufen der roten Khmer gingen fast 90 % der Bürger
zur Wahl.221 Die so gewählte Versammlung erarbeitete eine Verfassung, die am
24.9.1993 verkündet wurde. Am selben Tag wurde Prinz Sihanouk zum König des
konstitutionellen Königreiches Kambodscha gewählt.222 Bis zum 15.11.1993
beendete die UNTAC ihren Abzug aus dem Gebiet.223 Da es UNTAC jedoch nicht
gelang, die staatliche Verwaltung politisch wirklich zu neutralisieren, behielt
insbesondere die Partei Hun Sens wesentlichen Einfluss auf den Staatsapparat und
ließ sich in der Folge nicht aus der Macht verdrängen. 224 Kambodscha ist daher bis
heute kein demokratisches Musterland geworden.
III.
Bewertung
Deshalb ein Scheitern der Vereinten Nationen festzustellen, erscheint jedoch zu
weitgehend. UNTAC besaß lediglich ein beschränktes Mandat, dessen Kernelement
die Organisation und Durchführung freier und gleicher Wahlen war. Nur zu diesem
Zweck war UNTAC befugt, Verwaltungsaufgaben zu übernehmen. Auch sollte die
UN in Kambodscha ihre Verwaltungsfunktion primär durch die Leitung und
Beaufsichtigung bestehender Strukturen wahrnehmen, nicht dagegen selbst solche
218
Schmidt/Wasum-Rainer, VN 40 (1992), 88 (91).
219
§§ 84 f. u. Annex IX des Berichts des Generalsekretärs vom 8.12.1993, UN-Doc. A/48/701.
Ausführlich zur schwierigen Finanzierung Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 139-144.
220
Han, NYU-J.I.L.P. 26 (1994), 837 (850); Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 93 f.; krit.
Chopra, Cambodia (1994), S. 47-52.
221
Chopra, Cambodia (1994), S. 50; Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 93.
222
§ 3 des Berichts S/26529 des Generalsekretärs vom 26.8.1993.
223
Entsprechend den Vorgaben der §§ 9-11 S/RES/880 (1993) vom 4.11.1993.
224
Ratner, New UN Peacekeeping (1995), S. 173 f.
44
Strukturen neu schaffen und besetzen.225 Mandat der UNTAC war nicht die
Fremdverwaltung Kambodschas durch die UN, sondern lediglich die Sicherstellung
ordnungsgemäßer Eigenverwaltung durch die Kambodschaner selbst.226 Nur diese
Aufgabe hatten die Konfliktparteien den Vereinten Nationen übertragen.
Diese beschränkte Rolle der UN wird auch dadurch deutlich, dass UNTAC
verpflichtet war, Ratschläge („advice“) des SNC zu befolgen, sofern diese nach
Ansicht des die Mission leitenden Sondergesandten des UN-Generalsekretärs mit
Zielen des Friedensabkommens vereinbar waren.227 Auch wenn diese Regelung dem
Sondergesandten in der Praxis viel Spielraum ließ, macht sie doch deutlich, dass
UNTAC nur einen Teil der Verwaltungshoheit in Kambodscha ausüben sollte und
auch diesen Teil nicht gänzlich selbständig. UNTAC stellt mithin einen Fall sachlich
begrenzter Teilverwaltung eines Krisengebietes dar, deren Mittel sich auf Kontrollund Weisungsrechte beschränkten.228 In Kambodscha war die UN damit noch weit
entfernt von jenen umfassenden Verwaltungsbefugnissen, die sie später im Kosovo
oder in Osttimor ausüben sollte. UNTAC war ein Experiment, welches den Vereinten
Nationen die Grenzen einer konsensgestützten Gebietsverwaltung aufzeigte.229
Mangels eigener Verwaltungsstrukturen war UNTAC nicht in der Lage, wesentliche
Elemente ihres Mandates unabhängig von den Konfliktparteien umzusetzen. Wo
diese die Zusammenarbeit verweigerten oder einstellten, blieben die Vereinten
Nationen weitgehend machtlos.230 Die Erfahrungen in Kambodscha machten
deutlich, dass eine erfolgreiche Gebietsverwaltung die rechtliche und tatsächliche
Möglichkeit
haben
musste,
Maßnahmen
unabhängig
vom
Willen
der
Konfliktparteien durchzusetzen. Diese Erkenntnis wurde bei den späteren
225
Ratner, New UN Peacekeeping (1995), S. 149; Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 118.
226
Zu weitgehend daher Han, NYU-J.I.L.P. 26 (1994), 837 (868 f.), und Chopra, Cambodia (1994), S.
12, die von einer Quasi-Treuhandverwaltung durch UNTAC ausgehen.
227
Annex 1, Section A, § 2 des Pariser Friedensabkommens, abgedr. ILM 31 (1992), 174 (189).
228
Wobei UNTAC von diesen Befugnissen nur eingeschränkt Gebrauch machte. Ausführliche Kritik
der operationellen Defizite der UNTAC bei Ratner, New UN Peacekeeping (1995), S. 194-204.
229
Chopra, Cambodia (1994), S. 11 f.
230
Zu den Schwierigkeiten der UNTAC siehe Chopra, Cambodia (1994), S. 27-37, zu den Motiven
der Konfliktparteien Ratner, New UN Peacekeeping (1995), S. 158 f.
45
Gebietsverwaltungen in zunehmendem Maße berücksichtigt.
I.
Die United Nations Operation in Somalia (1993-1995)
Die kurze und im Ergebnis gescheiterte erweiterte UN-Operation in Somalia
(UNOSOM II) hat nur in geringem Umfang tatsächlich Hoheitsgewalt über Teile
Somalias ausgeübt.231 Dennoch wies UNOSOM II bereits wesentliche Merkmale
späterer Verwaltungsmissionen auf – den Einsatz in einem failed state-Szenario, die
Ausübung der Verwaltungshoheit unmittelbar durch die Vereinten Nationen selbst
und ein vom Willen der betroffenen Parteien und Bevölkerungsgruppen
unabhängiges Mandat auf der Grundlage von Kapitel VII der Charta.
1992 hatte Somalia nach 21 Jahren Diktatur und einem fünfjährigen Bürgerkrieg
aufgehört, als funktionierendes Staatswesen zu existieren.232 In der Folge starben
über 300.000 Menschen an Hunger. Weitere 1 Million Somalier flüchteten in
Nachbarländer.233 Weil auch internationale Hilfsorganisationen in zunehmendem
Maße Opfer von Angriffen wurden, entschloss sich die UN zu einem militärischen
Eingreifen.234 Als sich der Einsatz traditioneller Blauhelme im Rahmen der UN
Operation in Somalia (UNOSOM I)235 als unzureichend erwies, wurde die Unified
Taskforce (UNITAF), ein multinationaler Streitkräfteverband von etwa 30.000
Soldaten, autorisiert, das Gebiet im Rahmen der Operation „Restore Hope“ mit
militärischer Gewalt zu befrieden.236 UNITAF konnte die Sicherheitslage soweit
231
Ausführlicher zum UN-Einsatz in Somalia (1991-1995) Matthies, VN 41 (1993), 45-51; Murphy,
Tulane JI&CL 3 (1994/95), 19-41; Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 156-208; Osinbajo,
ICLQ 45 (1996), 910-923; und Bartl, Humanitäre Intervention (1999), S. 15-58. Zur Vorgeschichte
siehe Sorel, AFDI 38 (1992), 61-88, und Clark, in: Damrosh (Hrsg.), Enforcing Restraint (1993), S.
205-239. Die wesentlichen Dokumente zum UN-Engagement in Somalia zwischen 1992 und 1996
sind abgedruckt in UN, Somalia (1996).
232
Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 173.
233
Clark, in: Damrosh (Hrsg.), Enforcing Restraint (1993), S. 212 f.; Matthies, in: von Schorlemer
(Hrsg.), Praxishandbuch UNO (2003), S. 45.
234
Kritisch zu diesem militärischen Ansatz Matthies, in: von Schorlemer (Hrsg.), Praxishandbuch
UNO (2003), S. 46 f. Zur Entwicklung des UN-Engagements in Somalia siehe Murphy, Tulane JI&CL
3 (1994/95), 19 (24-33).
235
Rechtsgrundlage waren die Sicherheitsratsresolution S/RES/751 (1992) vom 24.4.1992 und
S/RES/775 (1992) vom 28.8.1992.
236
S/RES/794 (1992) vom 3.12.1992. Eine ausführliche rechtliche Analyse dieser Resolution
46
wieder herstellen, dass die Hungersnot eingedämmt werden konnte.237
Hier sollte UNOSOM II übernehmen, unter anderem ausgestattet mit dem Mandat,
die Somalier bei der Wiederherstellung des Friedens und der öffentlichen Sicherheit
sowie dem Wiederaufbau des Staatswesen auf regionaler und nationaler Ebene zu
unterstützen.238 Zu diesem Zweck war UNOSOM II auch als erste UNFriedenstruppe von Anfang an berechtigt, Gewalt anzuwenden.239 UNOSOM II
besaß auf dem Papier eine rein unterstützende Funktion beim staatlichen
Wiederaufbau Somalias.240 De facto übten die Vereinten Nationen in Teilgebieten
die Hoheitsgewalt alleine aus, da es aufgrund des völligen staatlichen
Zusammenbruchs an nationalen Strukturen fehlte, denen UNOSOM II Unterstützung
hätte zukommen lassen können.241 So übte UNOSOM II zumindest rein faktisch für
eine Übergangszeit die zentralstaatliche Regierungsgewalt in Somalia aus.242
Beispielsweise setzte der missionsleitende Sondergesandte des Generalsekretärs das
somalische Strafgesetzbuch von 1962 mit leichten Änderungen wieder in Kraft.243
Auch wurden nationale Polizeieinheiten sowie ein lokaler Strafvollzug aufgebaut und
beaufsichtigt.244 Insgesamt nahmen die Aufgaben der Zivilverwaltung aber nur eine
unternimmt Bartl, Humanitäre Intervention (1999).
237
Murphy, Tulane JI&CL 3 (1994/95), 19 (27); Matthies, in: von Schorlemer (Hrsg.),
Praxishandbuch UNO (2003), S. 49.
238
§ 4 S/RES/814 (1992) vom 26.3.1993, deutsche Übersetzung in VN 41 (1993), 66-68.
239
§§ 5 f. S/RES/814 (1993) i.V.m. § 58 des Berichts des Generalsekretärs vom 3.3.1993 (UN-Doc.
S/25354, S. 13). Zu diesem Paradigmenwechsel im Bereich des Peacekeeping siehe Bothe, in: Voit
(Hrsg.), Völkerrecht und humanitäre Operationen (1997), S. 3-13.
240
So betonte eine vom Sicherheitsrat eingesetzte Untersuchungskommission, dass die Kapitel VIIBefugnisse der Mission sich nicht auf ihr politisches Mandat bezögen. Siehe § 52 ihres Berichts vom
24.2.1994 (abgedr. als S/1994/653 vom 1.6.1994).
241
Zum Fehlen nationaler Strukturen siehe Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 174 f.
242
Matthies, in: von Schorlemer (Hrsg.), Praxishandbuch UNO (2003), S. 51. Auf regionaler Ebene
entwickelten sich dagegen teilweise lokale staatliche Strukturen. Siehe dazu Hufnagel, UNFriedensoperationen (1996), S. 175 f.
243
Siehe §§ 29 u. 32 des Annex I des Berichts des Generalsekretärs vom 17.8.1993 (UN-Doc. 26317,
S. 24 f.). Die vom Sicherheitsrat eingesetzte Untersuchungskommission sah dies allerdings als durch
S/RES/814 (1993) nicht mehr gedeckt an. Siehe § 67 ihres Berichts S/1994/653 vom 1.6.1994; ferner
Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 62 f.
244
UN, Somalia (1996), S. 59 f. (§§ 168 f.); und ausf. Osinbajo, ICLQ 45 (1996), 910 (911-917).
Grundlage waren die in §§ 15-28 sowie §§ 42-52 des Annex I des Berichts des Generalsekretärs vom
47
Randposition innerhalb des Tätigkeitskreises der UNOSOM II ein, der Schwerpunkt
lag auf der militärischen Stabilisierung der Sicherheitslage.245 Ihre Kosten lagen mit
etwa 2 Mrd. US-Dollar noch deutlich über denen der UNTAC.246
Die Mission scheiterte letztlich an mangelnder Planung, geringen Landeskenntnissen
und zu kurzem Atem. Das Bestreben, möglichst schnell das Land wieder verlassen
zu können, ließ wenig Möglichkeiten, auf die sozialen Traditionen und die Kultur
Somalias Rücksicht zu nehmen.247 Statt mit den Somaliern zusammenzuarbeiten,
wurde oft die Konfrontation mit einzelnen „widerspenstigen“ Clanführern gesucht
und so die Sympathien großer Teile der Bevölkerung verspielt. Der Versuch, das
Land kurzfristig durch militärische Operationen zu stabilisieren, führte zumindest in
einigen Gebieten zu einer Art andauerndem Guerillakrieg zwischen UN-Truppen und
somalischen Clanführern.248 In der Folge sank die Bereitschaft der Mitgliedstaaten,
ihre Truppen in Somalia zu belassen. Im März 1994 wurde das Mandat der
UNOSOM II reduziert, die zwangsweise Entwaffnung der Bürgerkriegsparteien
gehörte nicht mehr zu ihren Aufgaben.249 Ende März 1994 verließen die meisten
westlichen Truppenkontingente das Land, im März 1995 wurde UNOSOM II formell
beendet.250 Das Scheitern in Somalia stellte das politische Konzept humanitärer
Intervention insgesamt in Frage und war wesentliche Ursache für die Zurückhaltung
der internationalen Staatengemeinschaft während des Völkermordes in Ruanda und
dem sich ausbreitenden Bürgerkrieg im Kongo.251
Für die Entwicklung der UN-Gebietsverwaltungen ist UNOSOM II insbesondere
17.8.1993 (UN-Doc. 26317) aufgestellten Planungen.
245
Ausführlicher zu den Aufgaben der Zivilverwaltung der Annex I des Berichts des Generalsekretärs
vom 17.8.1993 (UN-Doc. 26317, S. 20-29); ferner Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 180192.
246
Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 195, mit weiteren Ausführungen zur Finanzierung
der UNOSOM II.
247
Siehe die Kritik bei Matthies, in: von Schorlemer (Hrsg.), Praxishandbuch UNO (2003), S. 49-51.
248
Murphy, Tulane JI&CL 3 (1994/95), 19 (31).
249
S/RES/897 (1994) vom 4.2.1994.
250
Matthies, in: von Schorlemer (Hrsg.), Praxishandbuch UNO (2003), S 49.
251
Matthies, in: von Schorlemer (Hrsg.), Praxishandbuch UNO (2003), S. 52.
48
hinsichtlich der Wahl der Rechtsgrundlage bedeutend. Sie war eine auf Kapitel VII
der Charta gestützte Zwangsmaßnahme des Sicherheitsrates.252 Anders als UNTAG
und UNTAC leitete sie ihre Befugnisse mithin nicht von der Zustimmung der
betroffenen Staaten oder Bevölkerungsgruppen ab. Zugleich zeigte der Einsatz in
Somalia die Schwierigkeiten und Grenzen eines solchen Ansatzes auf und den
enormen personellen und materiellen Aufwand, den die Wahrnehmung von
Verwaltungsaufgaben in einem völlig zerstörten Staatswesen mit sich bringt. Hier
konnte nicht auf bestehende staatliche Strukturen zurückgegriffen werden, vielmehr
mussten diese völlig neu errichtet werden.253 Die Verwaltungstätigkeit durch
UNOSOM II war nicht geplant, vielmehr sollte sie nur unterstützend tätig werden.
Insoweit war UNOSOM II lediglich in tatsächlicher Hinsicht und nur in einem sehr
beschränkten Umfang eine UN-Gebietsverwaltung. In der Wahl der Rechtsgrundlage
sollte sie indes für alle späteren Missionen dieser Art richtungsweisend sein.
J.
Bosnien
Keine echte UN-Gebietsverwaltung ist auch die Republik Bosnien und Herzegowina
auf der Grundlage des Friedensvertrages von Dayton 254. Formal wurde durch den
Vertrag ein bestehender souveräner Staat neu konstituiert, dessen vertragskonforme
Entwicklung
die
internationale
Gemeinschaft
durch
ihren
sog.
„hohen
Repräsentanten“ lediglich beobachten und garantieren wollte. Widerstände auf Seiten
der verschiedenen bosnischen Vertragsparteien ließen den hohen Repräsentanten
jedoch eine zunehmend aktivere und intervenierende Rolle spielen, die es
rechtfertigen, Bosnien-Herzegowina als eine Art internationales Protektorat zu
bezeichnen.255
252
Ausführlich zur Rechtsgrundlage Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 162-169.
253
Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 177.
254
General Framework Agreement for Peace in Bosnia and Herzegovina, parafiert am 21.11.1995 in
Dayton/Ohio, unterzeichnet am 14. Dezember 1995 in Paris, abgedr. als Annex zu S/1995/999, und in
ILM 35 (1996), 75-183; im Internet abrufbar unter <www.ohr.int/dpa/default.asp?content_id=380>.
Eine Einführung in dieses Vertragswerk geben u.a. Sorel, AFDI 41 (1995), 65-99, Ramcharan, Leiden
J.I.L. 9 (1996), 131-140, und Dörr, AVR 35 (1997), 129-180.
255
Maziau, AFDI 45 (1999), 181 (186). Zur praktischen Umsetzung des Friedensvertrages siehe
ferner Cox, BYIL 69 (1998), 201-243; Graf Vitzthum, in: FS Eitel (2003) und ausführlich Ducasse-
49
I.
Historischer Hintergrund
Nach fast fünfjährigem, von ethnischen Säuberungen und Kriegsverbrechen
begleiteten Bürgerkrieg in der ehemaligen Teilrepublik der Volksrepublik
Jugoslawien schlossen die Konfliktparteien unter internationaler Vermittlung und
starkem
internationalen
Druck
einen
Friedensvertrag,
dessen
wesentliche
Regelungen in den zwölf Annexen enthalten waren.256 Annex 1a sah eine NATOgeführte, vom Sicherheitsrat ermächtigte multilaterale Friedenstruppe vor.257 In
Annex 3 wurde die OSCE gebeten, Wahlen in Bosnien-Herzegowina zu
organisieren. Annex 4 enthielt eine neue Verfassung für die aus zwei ethnisch
geprägten Teilstaaten („Entitäten“) bestehende Republik Bosnien-Herzegowina.
Annex 6 sah die Schaffung einer teilweise durch den Europarat zu besetzenden
Menschenrechtskommission vor, bestehend aus einem Ombudsmann und einer
Menschenrechtskammer als einer Art Sondergericht für Menschenrechte.258 In
Annex 7 wurde der UNHCR aufgefordert, einen Plan für die Rückführung von
Flüchtlingen auszuarbeiten und bei seiner Umsetzung mitzuwirken. Annex 11 sah die
Einrichtung einer internationalen Polizeitruppe (International Police Task Force –
IPTF) unter der Leitung eines vom UN-Generalsekretär zu benennenden Kommissars
vor, welche den Aufbau einer nationalen multiethnischen Polizei unterstützen
sollte.259
II.
Diese
Das Mandat der internationalen Gemeinschaft
vielfältige
Aufgabenwahrnehmung
durch
die
unterschiedlichsten
internationalen Akteure sollte gemäß Annex 11 ein hoher Repräsentant (High
Rogier, L’accord de paix de Dayton (2003). Speziell zur Arbeit der UN-Polizeimission in Bereich
Menschenrechte Cordone, Intl. PK (Cass) 6/4 (1999), 191-209, und Okuizumi, HRQ 24 (2002), 721735.
256
Zu den historischen Hintergründen, dem vorangegangenen Krieg und dem Verlauf der
Verhandlungen siehe Ducasse-Rogier, L’accord de paix de Dayton (2003), S. 9-128.
257
IFOR, autorisiert durch S/RES/1031 (1995) vom 15.12.1995.
258
Zur Arbeit der Menschenrechtskammer siehe Cornell/Salisbury, Cornell ILJ 35 (2002), 389-426.
259
Die IPTF wurde vom Sicherheitsrat auf der Grundlage von Kp. VII der Charta durch S/RES/1035
(1995) vom 21.12.1995 autorisiert. Ihre Aufgabe übernahm am 1.1.2003 eine Polizeimission der
Europäischen Union. Zu dieser siehe Nowak, L’Union en action (2003).
50
Representative) der internationalen Gemeinschaft koordinieren, ohne jedoch
Weisungsbefugnisse gegenüber anderen internationalen, nationalen und lokalen
Akteuren zu besitzen.260 Sein einziges Vorrecht war, selbst abschließend und für alle
Vertragsparteien verbindlich über die Auslegung des Annex 10 entscheiden zu
können.261 Als die Umsetzung des Friedensvertrages aufgrund des Widerstandes von
Teilen der Konfliktparteien ins Stocken geriet, wurde deutlich, dass diese
beschränkten Befugnisse nicht ausreichend waren.262 Die sog. Peace Implementation
Conference (PIC), bestehend aus etwa 50 interessierten Staaten, darunter die bei der
Aushandlung
des
Friedensvertrages
federführenden,
statteten
den
hohen
Repräsentanten auf ihrer Konferenz in Bonn im Dezember 1997 mit weitergehenden
Befugnissen gegenüber den bosnischen Akteuren aus.263 Die vom Sicherheitsrat
„anerkannten“264
sog.
Bonn-Powers
erlaubten
dem
hohen
Repräsentanten
insbesondere, anstatt der eigentlich zuständigen bosnischen Stellen verbindliche
Rechtsakte zu erlassen. Dabei konnte es sich sowohl um abstrakt-generelle
Legislativakte als auch um konkrete Verwaltungsentscheidungen handeln. Sie
konnten lediglich durch solche Gesetze oder Einzelfallentscheidungen der
zuständigen bosnischen Stellen abgeändert oder ersetzt werden, die der hohe
Repräsentant für mit dem Vertragswerk von Dayton insgesamt vereinbar hielt.265
Auch wurde er befugt, bosnische Funktionsträger aus ihren Ämtern zu entfernen, so
er dies für erforderlich hielt. Ausgestattet mit diesen Befugnissen, griff der hohe
Repräsentant, unterstützt durch sein etwa 700 Mitarbeiter starkes Büro, das sog.
Office of the High Representative, immer stärker in die bosnische Politik ein. Wo
Die entsprechenden Texte sprechen lediglich von „guidance“, nicht von directions, instructions
oder Ähnlichem.
260
Art. V des Annex 10 des Friedensvertrages von Dayton: „The High Representative is the final
authority in theater regarding interpretation of this Agreement on the civilian implementation of the
peace settlement.“
261
262
Cox, BYIL 69 (1998), 201 (211 f.).
263
Art. XI Nr. 2 der Schlussakte der PIC-Konferenz von Bonn vom 9.-10.12.1997 (Conclusion of the
Peace Implementation Conference on Bosnia and Herzegovina), abgedr. als Annex zu UN-Doc.
S/1997/979 vom 16.12.1997.
§ 2 S/RES/1144 (1997) vom 19.12.1997 lautet: „Expresses its support for the conclusions of the
Bonn Conference (…)” (abgedr. in UNYB 1997, 300 f., Hervorhebungen im Original).
264
265
Cox, BYIL 69 (1998), 201 (214).
51
immer bosnische Stellen sich nicht auf ein Vorgehen im Sinne des hohen
Repräsentanten einigen konnten oder wollten, erließ dieser die erforderlichen
Rechtsakte selbst.266 Dies hat ihm den Vorwurf eines wohlwollenden Despotismus
eingetragen.267
Die Rechtsgrundlage für diese erweiterten Befugnisse bleibt unklar. Sie gehen weit
über die in Annex 10 des Friedensvertrages vereinbarten Kompetenzen hinaus,
finden mithin keine Stütze im Vertrag selbst. Teilweise wird von einer
Vertragsänderung durch die PIC ohne Rücksprache mit den eigentlichen
Vertragsparteien ausgegangen.268 Möglicherweise kann angesichts der ständigen
Praxis des hohen Repräsentanten seit Ende 1997 und der Abhängigkeit BosnienHerzegowinas von ausländischer Unterstützung auch von einer stillschweigenden
Zustimmung der bosnischen Vertragsparteien ausgegangen werden. Im Ergebnis ist
in Bosnien-Herzegowina ungeplant eine Art Treuhandgebiet sui generis unter starker
Beteiligung der Vereinten Nationen entstanden.269 So sind neben der bis Ende 2002
für die IPTF verantwortliche UN-Mission in Bosnien-Herzegowina (UNMIBH)
zahlreiche UN-Unter- und Sonderorganisationen in Bosnien tätig und tätig gewesen.
Ferner wacht der Sicherheitsrat über die Umsetzung des Friedensabkommens
insgesamt.
III.
Bewertung
Da der hohe Repräsentant als Hauptfigur des internationalen Engagement kein UNMitarbeiter ist und seine Behörde ferner nicht Teil des UN-Systems ist, kann im
Falle Bosnien-Herzegowinas nicht von einer UN-Gebietsverwaltung gesprochen
266
Cox, BYIL 69 (1998), 201 (215 f.).
267
Knaus/Martin, FAZ vom 25.7.2003, 9. Kritisch auch Cox, BYIL 69 (1998), 201 (215 f.), und Maziau, AFDI 45 (1999), 181 (202), die eine steigende Verantwortungslosigkeit bosnischer Institutionen
aufgrund des ständigen Eingreifens des hohen Repräsentanten mit der Folge mangelnder
Selbständigkeit feststellen. Für eine Rücknahme internationaler Intervention auch Chandler, Int’l. PK
(Cass) 6/1 (1999), 109-125.
268
Cox, BYIL 69 (1998), 201 (214).
Cox, BYIL 69 (1998), 201 (214). Ähnlich Maziau, AFDI 45 (1999), 181 (195): „Les conditions de
[la] mise en œuvre [du traité de Dayton] et l’implication active du Haut représentant contribuent à
placer la Bosnie-Herzégovine sous le contrôle étroit de la communauté internationale.“
269
52
werden.270 Als unmittelbarer Vorläufer hat das internationale Engagement in
Bosnien-Herzegowina indes eine wesentliche Rolle bei der Planung der UN-Mission
im Kosovo gespielt. Insbesondere das parallele und nur unzureichend koordinierte
Tätigwerden zahlreicher internationaler Organisationen (UN, OSCE, EU, UNHCR
u.a.) sollte sich in dieser Form nicht wiederholen.271 Dabei konnten die Vereinten
Nationen auch auf die positiven Erfahrungen zurückgreifen, welche sie mit der
zeitgleich stattfindenden Verwaltungsmission in Ostslavonien machten.
K.
Die UN-Übergangsverwaltung in Ost-Slavonien (1996-1998)
Die United Nations Transitional Administration in Eastern Slavonia, Baranja and
Western Sirmium (UNTAES) war die erste Friedensmission seit UNTEA, in der die
Vereinten
Nationen
die
vollständige
Verwaltungshoheit
über
ein
Gebiet
übernahmen.272 Obwohl stets im Schatten des Friedensabkommens von Dayton
stehend, war sie damit unmittelbare Vorläuferin der UN-Verwaltungen des Kosovos
und Osttimors drei Jahre später. Ihre Tätigkeit begann am 15.1.1996 und endete am
15.1.1998.
I.
Historischer Hintergrund
Das etwa 2.300 km2 große Ostslawonien273 mit seiner Hauptstadt Vukovar liegt im
Osten Kroatiens und grenzt an die Donau. Es war eine der wirtschaftlich
bedeutendsten Regionen der früheren Volksrepublik Jugoslawien, bewohnt von etwa
270
Aufgrund der starken UN-Beteiligung spricht Stahn, ZaöRV 61 (2001), 107 (136), von einer
indirekten UN-Gebietsverwaltung.
271
Kritisch auch Maziau, AFDI 45 (1999), 181 (198), und Graf Vitzthum, in: FS Eitel (2003), S. 838
f.
272
Zur UNTAES siehe UN-DPKO, UNTAES - Lessons Learned (1999); Jones, MIP Bull. 1/1998, 1-7;
Šimunović, Int’l. PK (Cass) 6/1 (1999), 126-142; Reichel, Transitional Administrations (2000), S. 69, 17-21 u. 32-37; sowie Chesterman, You, The People (2004), S. 70-72. Siehe auch die offiziellen
Informationen der UN unter <www.un.org/Depts/dpko/dpko/co_mission/untaes.htm> und die
Berichte des Generalsekretärs vom 13.12.1995 (UN-Doc. S/1995/1028), vom 26.6.1996 (S/1996/472
+ Add.1), vom 5.8.1996 (UN-Doc. S/1996/622), vom 26.10.1996 (UN-Doc. S/1996/883), vom
24.2.1997 (UN-Doc. S/1997/148), vom 23.6.1997 (UN-Doc. S/1997/487), vom 2.10.1997 (UN-Doc.
S/1997/767), vom 4.12.1997 (UN-Doc. S/1997/953) und vom 22.1.1998 (UN-Doc. S/1998/59). Zu
UNTEA siehe oben 2.Kp. F.
273
Gemeint sind im Folgenden neben Ostslavonien auch Baranja und Westsirmium.
53
190.000 Kroaten, Serben, Ungarn und anderen Volksgruppen.274 Als Kroatien im
Oktober 1991 seine Unabhängigkeit erklärte, wurde das Gebiet ebenso wie die
Kraijna und Westslawonien in heftigen Kämpfen von der jugoslawischen
Volksarmee und serbischen paramilitärischen Verbänden besetzt.275 Die kroatischen
Bevölkerungsteile wurden vertrieben, sofern sie nicht ohnehin bereits geflohen
waren.276 Im Mai 1995 eroberten kroatische Truppen die Kraijna und Westslavonien
zurück und drohten, auch das inzwischen nur noch von serbischen Paramilitärs
besetzte Ostslavonien mit Waffengewalt anzugreifen.277 In dieser Situation schlossen
kroatische Regierungsvertreter und die örtlichen serbischen Machthaber am 12.
November 1995 unter Vermittlung des UN-Sondergesandten Stoltenberg und des
US-Botschafters in Kroatien Galbraith das sog. Grundabkommen („basic
agreement“).278
In diesem Grundabkommen wurde der Sicherheitsrat aufgefordert, für eine
Übergangszeit von zunächst zwölf Monaten eine Verwaltung für das Gebiet
einzurichten, welche das Gebiet im Interesse aller seiner Einwohner und der
zurückkehrenden Flüchtlinge regieren sollte, sowie eine Friedenstruppe zu
entsenden. Zu den Aufgaben der Übergangsverwaltung sollte neben der
Sicherstellung der Flüchtlingsrückkehr der Wiederaufbau der staatlichen Verwaltung
und der staatlichen Daseinsfürsorge gehören.279 Ferner sollte sie für die
Übergangszeit einen örtlichen Polizeidienst aufstellen und ausbilden. Spätestens 30
Tage vor dem Ende der Übergangszeit sollte sie Wahlen für alle kommunalen und
UN-DPKO, UNTAES - Lessons Learned (1999), § 1; Jones, MIP Bull. 1/1998, 1 (2); Šimunović,
Int’l. PK (Cass) 6/1 (1999), 126 f.
274
275
Reichel, Transitional Administrations (2000), S. 6.
276
§ 6 des Berichts des Generalsekretärs vom 13.12.1995 (UN-Doc. S/1995/1028) schätzt die Zahl der
geflohenen Kroaten auf 70.000, während bis 1995 etwa 75.000 Serben, insbesondere aus anderen
Teilen Kroatiens, zuzogen.
§ 5 des Berichts des Generalsekretärs vom 13.12.1995 (UN-Doc. S/1995/1028); Šimunović, Int’l.
PK (Cass) 6/1 (1999), 126 (132 f.).
277
278
Basic agreement on the region of Eastern Slavonia, Baranja and Western Sirmium vom 12. November 1995, UN-Doc. A/50/757-S/1995/951, Annex, vom 15.11.1995, abgedr. in ILM 35 (1996),
184-187. Das Abkommen wird teilweise auch nach dem Ort seines Abschlusses Erdut-Abkommen
genannt.
279
Art. 4 des Grundabkommens, abgedr. in ILM 35 (1996), 184 (186).
54
regionalen Volksvertretungen in Ostslawonien organisieren und unter internationaler
Beobachtung durchführen. Die militärische Komponente sollte die serbischen
Einheiten entwaffnen, die Entmilitarisierung des Gebiets überwachen und die
öffentliche Sicherheit und Ordnung wiederherstellen. Die Übergangszeit und damit
das Mandat der UN-Mission sollte einmal um weitere zwölf Monate verlängert
werden können.280 Ziel des Abkommens war es, Ostslawonien demilitarisiert und
befriedet in den Staat Kroatien zu reintegrieren.281
II.
Das Mandat der UNTAES
Mit der Resolution 1037 (1996) vom 15.1.1996 nahm der Sicherheitsrat die ihm
angetragene
Aufgabe
an
und
autorisierte
die
Einrichtung
der
UN-
Übergangsverwaltung für das Gebiet.282 Dabei stellte er ausdrücklich fest, dass er in
dem Konflikt um das Gebiet weiterhin eine Friedensbedrohung im Sinne des Art. 39
SVN sah, und behielt sich weitere Maßnahmen vor, sollten sich die Parteien nicht an
das von ihnen vereinbarte Grundabkommen halten283. Rechtsgrundlage der UNTAES
war damit nicht das Abkommen der Konfliktparteien, sondern Kapitel VII der UNCharta.284 UNTAES war somit rechtlich befugt, Entscheidungen ohne Zustimmung
der Konfliktparteien zu treffen und umzusetzen.285 Diese Feststellung einer
Friedensbedrohung wiederholte er in den Resolutionen 1079 (1996) und 1120
(1997), mit denen er das Mandat der UNTAES um jeweils sechs Monate
verlängerte.286
280
Art. 1 des Grundabkommens, abgedr. in ILM 35 (1996), 184 (186).
281
§ 6 des Berichts S/1995/1028 des Generalsekretärs vom 13.12.1995. Siehe auch Reichel,
Transitional Administrations (2000), S. 9, mit weiteren Ausführungen zum serbisch-kroatischen
Disput um dieses im Grundabkommen nicht explizit genannte Ziel.
282
Gemäß seines Art. 14 trat das Grundabkommen damit in Kraft (ILM 35 (1996), 184 [187]). Zur
Planung der UNTAES siehe den Bericht S/1995/1028 des Generalsekretärs vom 13.12.1995.
283
Siehe Präambel-§ 9 und § 8 S/RES/1037 (1996).
284
Zur Rechtsgrundlage der UNTAES siehe unten 3.Kp. C.IV.1.
285
Dies hatte der Generalsekretär in § 22 seines Berichts vom 13.12.1995 (UN-Doc. S/1995/1028)
ausdrücklich gefordert.
286
S/RES/1079 (1996) vom 15.11.1996 und S/RES/1120 (1997) vom 12.7.1997.
55
Bei der Planung der Mission wurde insbesondere auf einen einheitlichen, hierarisch
strukturierten
Aufbau
der
Mission
geachtet.287
Unter
der
Leitung eines
Sondergesandten des Generalsekretärs (Special Representative of the SecretaryGeneral – SRSG) sollten Spezialisten der einschlägigen UN-Unter- und
Sonderorganisationen sowie interessierter Mitgliedstaaten unmittelbar als Personal
der UNTAES einbezogen werden. So sollte eine flexible und effiziente Verwaltung
ermöglicht werden.288 Auch die militärische Komponente unterstand dem SRSG.289
Zeitweise umfasste UNTAES bis zu 450 zivile Mitarbeiter, 770 Ortskräfte, über 400
internationale Polizisten, 100 Militärbeobachter und etwa 5.000 Soldaten.290 Die
Zivilverwaltung war auf ein Hauptquartier und sechs Regionalbüros (field offices)
aufgeteilt und verfügte über Verbindungsbüros in Zagreb und Belgrad. 291 Ein aus
Vertretern der kroatischen Regierung, der örtlichen Serben und Kroaten,
verschiedener Minderheiten sowie der USA, Russlands und der Europäischen Union
bestehender Verwaltungsrat (Administration Council) beriet den SRSG bei der
Verwaltung.292
III.
Bewertung
Im Ergebnis war UNTAES ein Erfolg. Zunächst gelang es bis Ende Juni 1996, die
insgesamt etwa 11.000 Mann umfassenden serbischen Einheiten zu entwaffnen oder
zum Verlassen des Gebietes zu bewegen.293 Im Oktober 1996 begann UNTAES
zudem mit einem Waffenrückkaufprogramm aus Mitteln der kroatischen Regierung,
um die Zahl der im Umlauf befindlichen Waffen zu reduzieren.294 Auch organisierte
287
UN-DPKO, UNTAES - Lessons Learned (1999), § 20.
288
Reichel, Transitional Administrations (2000), S. 17 m.w.S.
289
§ 2 S/RES/1037 (1996).
290
Jones, MIP Bull. 1/1998, 5; Reichel, Transitional Administrations (2000), S. 18.
291
§ 21 des Berichts des Generalsekretärs vom 26.6.1996 (UN-Doc. S/1996/472).
292
Zur internen Organisation der UNTAES siehe §§ 14-16 des Berichts des Generalsekretärs vom
13.12.1995 (UN-Doc. S/1995/1028).
293
§§ 13-18 des Berichts des Generalsekretärs vom 26.6.1996 (UN-Doc. S/1996/472); Reichel,
Transitional Administrations (2000), 32 f.
294
§ 7 des Berichts des Generalsekretärs vom 26.10.1996 (UN-Doc. S/1996/883).
56
die UN-Verwaltung ein Minenräumprogramm, stellte über 90.000 Personen die für
die Teilnahme an den Wahlen erforderlichen Papiere aus und beobachtete die Lage
der Menschenrechte vor Ort. Eine ethnisch gemischte Übergangspolizei und ein
Grenzschutz wurden organisiert und ausgebildet.295 Nach und nach wurden
kroatisches Recht eingeführt und Flüchtlinge zurückgeführt. Im April 1997 wurden
die regionalen und lokalen Volksvertretungen gewählt.296 Die fehlende finanzielle
Ausstattung hinderte allerdings viele Kommunen daran, ihre Aufgaben effektiv
wahrzunehmen.297 Auch kam es weiterhin zu ethnischen Spannungen und
Auseinandersetzungen, meist zulasten der serbischen Bevölkerung.298
Obwohl nicht alle Probleme bis zum Abzug der UNTAES im Januar 1998 gelöst
werden konnten299, war die Arbeit der UN-Übergangsverwaltung im Großen und
Ganzen
erfolgreich.
ernstzunehmenden
Ausgestattet
militärischen
mit
einer
Komponente300
einheitlichen
und
starker
Führung,
einer
internationaler
Unterstützung gelang es ihr, Ostslawonien friedlich und weitgehend ohne ethnische
Säuberungen in die Republik Kroatien zu integrieren. Angesichts der Verhältnisse in
anderen Gebieten des früheren Jugoslawien ist dies eine nicht zu unterschätzende
Leistung. UNTAES bewies damit die Eignung einer UN-Verwaltung, Krisengebiete
zu stabilisieren und bewaffnete Konflikte zu verhindern.
Zu diesem Erfolg trugen die außerordentlich günstige Rahmenbedingungen
wesentlich bei. So hatte der Sicherheitsrat stets die territoriale Zugehörigkeit des
Gebietes zu Kroatien betont, so dass sein rechtlicher Status – anders als der des
295
§§ 19-22 des Berichts des Generalsekretärs vom 22.1.1998 (UN-Doc. S/1998/59); Reichel,
Transitional Administrations (2000), S. 34. Ausführlich zur Arbeit der Polizeikomponente CIVPOL
Holm, CIVPOL in Eastern Slavonia, Int’l. Peacekeeping (Cass) 6/4 (1999), 135 (143-149).
296
§§ 2-7 des Berichts S/1997/487 des Generalsekretärs vom 23.6.1997.
297
§§ 4 f. des Berichts S/1996/622 des Generalsekretärs vom 5.8.1996.
298
Siehe §§ 31-37 des Berichts S/1997/487 des Generalsekretärs vom 23.6.1997 und §§ 16 f. des
Berichts S/1998/59 vom 22.1.1998.
299
Siehe § 31 des Berichts S/1998/59 des Generalsekretärs vom 22.1.1998.
Ihre Bedeutung unterstrich der Generalsekretär bereits bei der Planung der Mission – siehe §§ 3 u.
22 seines Berichts S/1995/1028 vom 13.12.1995.
300
57
Kosovo – von Anfang an weitgehend unstrittig war.301 Auf Seiten der
Bundesrepublik Jugoslawien bestand nur geringe Neigung, zugunsten der
kroatischen Serben einzugreifen, so dass diese sich weitgehend mit ihrer Situation
abfanden. Ostslawonien ist ein vergleichsweise kleines und damit überschaubares
Gebiet, kleiner noch als das Saarland.302 Vor allem war aber das Mandat der
UNTAES inhaltlich klar und von vornherein mit einem realistischen Endziel
versehen.303 Geplant war nicht der staatliche Wiederaufbau in toto, sondern lediglich
eine kurze, übergangsweise Verwaltung mit ersten einleitenden Maßnahmen zur
Rekonstruktion und Anpassung bestehender Institutionen an das kroatische System.
Insofern bestehen zwischen den UN-Verwaltungen Ostslawoniens und des Kosovo
trotz geographisch Nähe erhebliche Unterschiede.
L.
Die UN-Übergangsverwaltung im Kosovo (seit 1999)
Die UN Interim Administration Mission in Kosovo (UNMIK) ist ebenfalls eine Folge
des Jugoslawienkonflikts der neunziger Jahre und das erste Beispiel für eine
Gebietsverwaltung gegen den Willen des Territorialherrn.304 Die heutige Provinz
Kosovo305 ist ein in etwa rhombenförmiges Gebiet von ca. 11.000 km2, welches im
Norden und Osten an Serbien, im Westen an Montenegro und Albanien und im
Süden an Mazedonien grenzt.306 Wirtschaftlich gehört das Gebiet zu den ärmsten
301
Siehe statt vieler die Präambel-§§ der Resolutionen S/RES/1023 (1995) vom 22.11.1995 und
S/RES/1120 (1997) vom 12.7.1997.
302
Seine Nord-Süd-Ausdehnung beträgt etwa 140 km, zwischen seiner östlichen und seiner westlichen
Grenze liegen etwa 30 km (Šimunović, Int’l. PK (Cass) 6/1 (1999), 126 (136).
UN-DPKO, UNTAES - Lessons Learned (1999), § 11; Šimunović, Int’l. PK (Cass) 6/1 (1999), 126
(128); Chesterman, You, The People (2004), S. 71.
303
304
Die Einwilligung Rest-Jugoslawiens erfolgte erst unter dem Eindruck wochenlanger NATOLuftangriffe. Die andauernde Ablehnung einer internationalen Verwaltung des Kosovo macht die
Stellungnahme des jugoslawischen Vertreters anlässlich der Verabschiedung der Resolution 1244
(1999) deutlich: „I must note with regret that the draft resolution proposed by the G-8 is yet another
attempt (...) at legalizing post festum the brutal aggression to which the Federal Republic of Yugoslavia has been exposed in the last two and a half months. (...) The solutions which are being tried to be
imposed on the Federal Republic of Yugoslavia set a dangerous precedent for the international community.“ (UN-Doc. S/PV.4011, teilw. abgedr. bei Milano, EJIL 14 (2003), 999 [1008 Fn. 45]).
305
Die albanische Bezeichnung lautet Kosova. Im Folgenden wird bei geographischen Bezeichnungen
die bekanntere, d.h. in der Regel die serbische Schreibweise, verwendet.
Eine Karte findet sich bei O’Neill, Kosovo (2002), S. 12, und auf der Internetseite der UNMIK
unter <www.unmikonline.org/maps.htm>.
306
58
Regionen Europas, verfügt aber in der Nähe der Stadt Mitrovica über Blei- und
Silbervorkommen.307 Schätzungen gehen in den Jahren 1998-99 von einer
Bevölkerung zwischen 1,8 und 2 Millionen aus, von den etwa 80-90% Albaner
waren.308
I.
Historischer Hintergrund
Das Gebiet ist seit Jahrhunderten Schauplatz von Auseinandersetzungen, da sowohl
Albaner wie Serben es im Rahmen ihrer jeweiligen Geschichtsschreibung als
nationales Kerngebiet beanspruchen.309 Die Niederlage gegen die Türken auf dem
Amselfeld (Kosovo Polje) im Jahre 1389 und einige bedeutende serbisch-orthodoxe
Klöster auf seinem Territorium ließen das Kosovo im serbischen Nationalmythos zur
„Wiege des Serbentums“ werden, obschon Serben seit Ende des 17. Jahrhunderts nur
den kleineren Teil der Bevölkerung bildeten.310 Wie Serbien lange Zeit Teil des
osmanischen Reiches, wurde das Kosovo nach dem ersten Balkan-Krieg 1913
Serbien zugeschlagen, welches alsbald mit einer aggressiven Serbifizierungspolitk
begann und so den serbischen Bevölkerungsanteil bis 1927 auf 38% anheben
konnte.311 Nach dem 2. Weltkrieg genoss das Kosovo nach einer weiteren Phase der
Repression eine zunehmende Autonomie als Provinz der jugoslawischen
Teilrepublik Serbien.312 Nicht zuletzt aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage
des Kosovo sank der serbische Bevölkerungsanteil im Kosovo bis 1981 wieder auf
307
Zum Minenkomplex von Trepca und seiner Rolle im Konflikt um die noch immer geteilte Stadt
Mitrovica siehe ICG, Trepca (1999).
308
ICG, Reality Demands (2000), S. 48. Wodarz, Kosovo-Konflikt (2002), S. 24, nennt als Ergebnis
der letzten Volkszählung von 1981 77,4% Albaner und 13,2% Serben.
309
Wodarz, Kosovo-Konflikt (2002), S. 24 f. Für eine historische Abhandlung der Geschichte des
Kosovo bis 1998 siehe Malcolm, Kosovo (1998).
310
Wodarz, Kosovo-Konflikt (2002), S. 26.
311
Malcolm, Kosovo (1998), S. 282; Wodarz, Kosovo-Konflikt (2002), S. 29. Ausführlich zur
Eroberung des Kosovo durch serbische Truppen 1912 und von ihnen begangenen Massakern an
Kosovo-Albanern, sowie zur nachfolgenden Serbifizierungspolitik im Kosovo Malcolm, Kosovo
(1998), S. 239-289.
312
Ausführlicher zu den Entwicklungen innerhalb der Volksrepublik Jugoslawien Malcolm, Kosovo
(1998), S. 315-356; Stahn, Leiden JIL 14 (2001), 531 (532-534); und Wodarz, Kosovo-Konflikt
(2002), S. 34-39.
59
13%.313
1989 hob Serbien unter seinem großserbisch-nationalistischen Präsidenten Slobodan
Milosevic die Autonomie des Kosovo auf und stellte es 1990 unter serbische
Zwangsverwaltung.314 Diese war verbunden mit einer weitgehenden Verdrängung
der albanischen Bewohner aus dem öffentlichen Leben. Diese reagierten zunächst
mit passivem Widerstand und der Einrichtung paralleler Strukturen.315 Nachdem die
Kosovo-Frage im Rahmen der Friedensverhandlungen von Dayton ausgeklammert
worden war, war der gewaltlose Widerstand in den Augen vieler Kosovo-Albaner
diskreditiert. Unter dem Dach der kosovarischen Befreiungsarmee (UÇK) kam es zu
bewaffneten Angriffen auf serbische Sicherheitskräfte, auf die diese mit großer
Brutalität auch gegenüber der Zivilbevölkerung reagierten.316 Trotz verschiedener
internationaler Vermittlungsbemühungen, der Verhängung eines Waffenembargos317,
einer Beobachtermission der OSZE318 und der Drohung mit NATO-Luftangriffen
verbesserte sich die Situation nicht.319 Es kam zu zahlreichen zivilen Opfern und
immer größeren Flüchtlingsbewegungen in die Nachbarländer Albanien, Bosnien
und Mazedonien.320 Sie waren Teil einer gezielten Kampagne der Vertreibung und
Wodarz, Kosovo-Konflikt (2002), S. 38 f.; Kokott, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the Int’l.
Community (2002), S. 4.
313
314
Lagrange, AFDI 45 (1999), 335 (335); Wodarz, Kosovo-Konflikt (2002), S. 43-45.
ICG, Reality Demands (2000), S. 49; Kokott, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the Int’l. Community (2002), S. 4-6.
315
316
Lagrange, AFDI 45 (1999), 335 (336); Seidel, AVR 41 (2003), 449 (451 f.).
317
§ 8 der S/RES/1160 (1998) vom 31.3.1998.
318
Vom Sicherheitsrat durch die Resolution 1203 (1998) vom 24.10.1998 ausdrücklich begrüßt. Der
Abschlussbericht der OSZE, As Seen, As Told – Bd. I (1999), ist im Internet über die Suchfunktion auf
der Seite <www.osce.org/kosovo/documents.html> abrufbar. Zur Tätigkeit der OSZE im Kosovo bis
zum Sommer 1999 siehe auch Czaplinski, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the Int’l. Community
(2002), S. 37-44.
319
Siehe den Bericht S/1998/834 des Generalsekretärs vom 4.9.1998. Zu den Entwicklungen von
Anfang 1998 bis Anfang 1999 ausführlicher ICG, Reality Demands (2000), S. 60-213, und
insbesondere der Bericht der OSZE, As Seen, As Told – Bd. I (1999).
320
Siehe Präambel-§ 7 S/RES/1199 (1998) vom 23.9.1998. Siehe auch die Aufstellung der
begangenen Taten und ihre rechtliche Bewertung bei ICG, Reality Demands (2000), S. 212-249.
60
des Terrors seitens der serbischen Sicherheitskräfte.321
Im Februar 1999 lud die Balkan-Kontaktgruppe322 Vertreter der Kosovo-Albaner und
Restjugoslawiens zu einer Konferenz nach Rambouillet, um über eine friedliche
Lösung zu verhandeln.323 Der von der Balkan-Kontaktgruppe vorgelegte Plan sah
den Abzug der meisten serbischen Sicherheitskräfte und eine sehr weitgehende
Autonomie des Kosovo innerhalb Jugoslawiens vor. Nach drei Jahren sollten die
Einwohner der Provinz in einer Volksabstimmung über ihre Unabhängigkeit
entscheiden. Die Umsetzung des Plans sollte eine internationale militärische Präsenz
vor Ort überwachen. Nachdem auch nach einer Folgekonferenz in Paris lediglich die
Kosovo-Albaner dem Plan zugestimmt hatten, begann die NATO am 24. März 1999
mit den angedrohten Luftangriffen, um die Belgrader Regierung zur Zustimmung zu
dem in Rambouillet ausgehandelten Abkommen zu zwingen.324 Während der elf
Wochen dauernden Luftschläge kam es zu schweren Kämpfen zwischen bewaffneten
UÇK-Anhängern und serbischen Sicherheitskräften, die erhebliche Flüchtlingsströme
auslösten. Die genauen Zahlen der insgesamt getöteten und vertriebenen Einwohner
sind weiterhin unklar. Es ist wohl von etwa 800.000 Vertriebenen und weiteren
600.000 Binnenflüchtlingen (internally displaced persons) und vermutlich weniger
als 10.000 Toten auszugehen.325
Am 3. Juni 1999 akzeptierten die jugoslawische Regierung und das serbische
Parlament schließlich einen ihnen vom EU-Sonderbeauftragten Ahtisaari und dem
321
OSZE, As Seen, As Told – Bd. I (1999), S. 11; Oeter, in: FS Fleck (2004), S. 444 f.
322
Bestehend aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Russland und den USA.
Ausführlich zu den Verhandlungen Decaux, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the Int’l. Community (2002), S. 45-64; und Wodarz, Kosovo-Konflikt (2002), S. 57-59. Einzelheiten des Friedensplans
auch bei Stahn, Leiden JIL 14 (2001), 531 (536-538). Eine Schilderung aus der Perspektive einer
Teilnehmerin findet sich bei Albright, Memoir (2003), S. 397-407.
323
324
Dieser insgesamt 11 Wochen dauernde NATO-Einsatz erfolgte ohne UN-Mandat. Ausführlich zur
Frage seiner Rechtmäßigkeit Cassese, EJIL 10 (1999), 23-30; Simma, EJIL 10 (1999), 1-22; Suy,
Leiden J.I.L. 13 (2000), 193-205; Wodarz, Kosovo-Konflikt (2002), S. 63-150; Seidel, AVR 41
(2003), 449 (452-458); Zygojannis, Die Staatengemeinschaft und das Kosovo (2003), S. 30-124;
sowie die Kurzbeiträge verschiedener namhafter Völkerrechtler in AJIL 93 (1999), 824-862, und
ICLQ 49 (2000), 878-943. Weitere Nachweise bei Oeter, in: FS Fleck (2004), S. 445.
325
O’Neill, Kosovo (2002), S. 15 u. 32 f.
61
russischen Sonderbeauftragten Tschernomyrdin vorgeschlagenen Friedensplan.326
Dieser sah die Einstellung der Kampfhandlungen, die Rückkehrmöglichkeit aller
Flüchtlinge, einen umgehenden Abzug aller jugoslawischen Sicherheitskräfte und
den Einsatz einer internationalen Friedenstruppe unter erheblicher Beteiligung der
NATO vor.327 Ferner sollte durch den Sicherheitsrat eine internationale
Zivilverwaltung eingesetzt werden, welche das Gebiet übergangsweise regieren und
provisorische Selbstverwaltungsorgane der Kosovaren einrichten sollte.328 Das
Gebiet sollte zunächst Teil der Bundesrepublik Jugoslawien bleiben, aber
substantielle Autonomie genießen und sich in bedeutendem Umfang selbst verwalten
dürfen.329 Dieser Plan wurde vom Sicherheitsrat mit Verabschiedung der Resolution
1244 am 10. Juni 1999 in die Tat umgesetzt.330
II.
Das Mandat der UNMIK
Resolution 1244 (1999) unterscheidet zwischen einer militärischen und einer zivilen
Komponente. Es besteht keine einheitliche Führung zwischen beiden. Sie werden
lediglich aufgefordert, eng miteinander zu kooperieren.331 Autorisiert durch den
Sicherheitsrat, begann die Kosovo Force (KFOR) unter NATO-Oberkommando am
326
Siehe den Brief des ständigen Vertreters Deutschlands bei den UN vom 7.6.1999 (S/1999/649) mit
Friedensplan im Annex.
327
Details der internationalen Militärpräsenz Kosovo Force (KFOR) und des jugoslawischen
Rückzugs aus dem Kosovo regelte ein zwischen NATO und den Regierungen der Bundesrepublik
Jugoslawien und der Republik Serbien am 9.6.1999 im mazedonischen Kumanovo vereinbartes
militärtechnisches Abkommen (Military-technical agreement, abgedr. in S/1999/682 Annex vom
15.6.1999).
328
Die zentrale Rolle des UN war nach Oeter, in: FS Fleck (2004), S. 447, der politische Preis für die
Zustimmung des Sicherheitsrates, insbesondere seiner ständigen Mitglieder China und Russland.
Die in Präambel-§ 11 S/RES/1244 (1999) übernommene Formulierung lautet: „substantial autonomy and meaningful self-administration for Kosovo“. Gleichzeitig wurde aber die Zugehörigkeit zur
Bundesrepublik Jugoslawien betont (vgl. auch Präambel-§ 10 S/RES/1244 (1999)). Durch diese von
O’Neill, Kosovo (2002), S. 30, scherzhaft als „mother of all compromises“ bezeichnete Formulierung
wurde die Kernfrage des Konflikts, der künftige völkerrechtliche Status des Kosovo, bewusst offen
gelassen.
329
330
Kritisch Lagrange, AFDI 45 (1999), 335 (339). Für eine rechtliche Analyse dieser Resolution siehe
unten 3.Kp. C.IV.2.
331
Siehe §§ 5 u. 6 S/RES/1244 (1999).
62
12.6.1999 mit der Verlegung ins Kosovo.332 Dagegen verblieb die Führung der
zivilen Komponente (UNMIK) bei den Vereinten Nationen. Unter Leitung eines vom
Generalsekretär zu benennenden Sondergesandten (SRSG) wurde sie mit der
übergangsweisen Verwaltung des Krisengebietes und dem Aufbau lokaler
Selbstverwaltungsorgane betraut.333 Mit der Befugnis zur Verwaltung des Gebietes
übertrug der Sicherheitsrat UNMIK alle legislativen, exekutiven und judikativen
Befugnisse auf dem Gebiet des Kosovo.334 Mit Ausnahme der militärischen
Verteidigung wurde die UN mithin Inhaberin aller staatlichen Gewalt in der Provinz
und musste diese zunächst weitgehend selbst ausüben, ohne wie etwa in
Kambodscha oder Ostslavonien auf bestehende nationale Institutionen zurückgreifen
zu können.335
Zur Verwaltung des Gebietes sollte der Generalsekretär auf die Hilfe anderer
internationaler Organisationen (gemeint waren OSZE und EU) zurückgreifen.336 Ziel
war es, alle relevanten internationalen Akteure – zumindest die zivilen – in eine
einheitliche Führungsstruktur einzubinden und so eine optimale Nutzung aller
vorhandenen Resourcen zu ermöglichen.337 Dies war eine der Lehren aus dem oft
unkoordinierten
und
teilweise
redundanten
Nebeneinander
internationaler
Institutionen in Bosnien.338 Zu diesem Zweck wurde UNMIK in vier Abteilungen
(„Säulen“) geteilt, die jeweils unter Leitung eines stellvertretenden Sondergesandten
332
Siehe § 7 S/RES/1244 (1999). Gemäß § 9 S/RES/1244 (1999) war KFOR insbesondere mit der
Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und dem Schutz der Bevölkerung und der
internationalen Helfer betraut. Zur Anfangszeit der KFOR im Kosovo siehe das Tagebuch ihres
zweiten Kommandeurs, General Reinhardt, KFOR (2002).
333
Siehe §§ 10 u. 11 S/RES/1244 (1999).
334
Brand, Nordic JIL 70 (2001), 461 (463). Explizit stellte dies Sec. 1.1 der UNMIK-Verordnung
1999/1 vom 25.7.1999 fest (UN Dokumentennr.: UNMIK/REG/1999/1). Alle Verordnungen sind von
der Internetseite der UNMIK unter <www.unmikonline.org/regulations/index.htm> abrufbar.
Oeter, in: FS Fleck (2004), S. 448, spricht von einer „Herkulesaufgabe“, auf welche die UN völlig
unvorbereitet war (ebenda, S. 447).
335
336
§ 10 S/RES/1244 (1999).
337
Siehe §§ 3 u. 5 des Berichts des Generalsekretärs zur Organisation der UNMIK vom 12.6.1999
(S/1999/672). Ausführlich zum Aufbau der UNMIK und ihrer Tätigkeitsfelder Zygojannis, Die
Staatengemeinschaft und das Kosovo (2003), S. 173-207.
338
Garcia, RGDIP 104 (2000), 61 (63); O’Neill, Kosovo (2002). S. 37.
63
standen.339
Die
erste
Säule,
humanitäre
Angelegenheiten
und
Flüchtlingsrückführung, wurde vom UNHCR gestellt und sollte u.a. die humanitäre
Hilfe koordinieren. Die zweite Säule umfasste die klassischen Aufgaben staatlicher
Verwaltung und wurde von der UN selbst übernommen.340 Der Aufbau von
Selbstverwaltungsinstitutionen und die Überwachung der Menschenrechtslage war in
der dritten Säule der OSZE anvertraut, während die EU in der vierten Säule den
wirtschaftlichen
Wiederaufbau
übernahm.
Nach
Abschluss
der
Flüchtlingsrückführung wurde die erste Säule im Jahre 2000 aufgelöst. Stattdessen
kam im Mai 2001 eine eigene Säule für Polizei und Justiz hinzu, deren Bestandteile
aus der zweiten Säule herausgelöst wurden.341
§ 11 lit. (e) der Resolution 1244 (1999) beauftragte UNMIK ferner mit dem Schutz
und der Förderung der Menschenrechte im Kosovo. Zu diesem Zweck wies die erste
von UNMIK erlassene Verordnung alle Inhaber öffentlicher Ämter und alle in
öffentlichem
Auftrag
tätigen
Personen
an,
die
international
anerkannten
Menschenrechte zu beachten, und verbot jegliche Diskriminierung.342 UNMIK
Verordnung 1999/24 vom 12.12.1999 ordnete konkret die Beachtung der in
verschiedenen internationalen Instrumenten343 genannten Menschenrechte, ohne
allerdings die Instrumente selbst für anwendbar zu erklären.344 Die als Verordnung
2001/9 erlassene provisorische Verfassung für das UN-verwaltete Kosovo
verpflichtete die kosovarischen Selbstverwaltungsinstitutionen (nicht die UNMIK),
339
Siehe § 5 und den Annex des Berichts S/1999/672.
340
Ihr Leiter war bis Sommer 2002 der frühere Stadtkämmerer von Frankfurt/M, Tom Koenigs.
341
Brand, Nordic JIL 70 (2001), 461 (464). Zu Organisation und Tätigkeit dieser Säule im Bereich der
Strafjustiz siehe den Bericht von Naarden/Locke, AJIL 98 (2004), 727-743.
342
Sec. 2 UNMIK/REG/1999/1 vom 25.7.1999.
343
Es handelt sich um die allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die europäische Konvention der
Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK), den internationalen Pakt über bürgerliche und
politische Rechte (IPbürgR), den internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle
Rechte (IPwirtR), die Anti-Folterkonvention von 1984, das Übereinkommen gegen
Rassendiskriminierung von 1965, das Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von
Diskriminierung von Frauen von 1979 und die Kinderrechtekonvention von 1989.
344
Brand, Nordic JIL 70 (2001), 461 (475 f.). Entsprechend ist auch Sec. 1.3 UNMIK/REG/2000/59
vom 27.10.2000 formuliert: „In exercising their functions, all persons undertaking public duties or
holding public office in Kosovo shall observe internationally recognized human rights standards, as
reflected in particular in (…)” (Hervorhebung durch den Verfasser).
64
die Europäische Charta für Regional- und Minderheitensprachen und die europäische
Rahmenkonvention für den Schutz nationaler Minderheiten zu beachten.345 Die
Beobachtung der Menschenrechtslage im Kosovo ist Aufgabe der OSZE-Säule, die
regelmäßig
entsprechende
Berichte
veröffentlicht.346
Zum
Schutz
der
Menschenrechte schuf UNMIK ferner 2000 unter der Verantwortung der OSZE eine
unabhängige Ombudsmann-Institution, die entsprechenden Beschwerden der
Einwohner des Kosovo nachgehen sollte.347
Mit dem Abzug der serbischen Sicherheitskräfte kam es zu einer massiven
Fluchtbewegung serbischer Einwohner aus dem Kosovo, die auch durch nunmehr
einsetzende anti-serbische Ausschreitungen der Kosovo-Albaner bedingt war.348
Aufgrund der weitgehenden Serbisierung des öffentlichen Lebens seit 1989 führte
dieser Exodus zum völligen Zusammenbruch der staatlichen Infrastruktur im
Kosovo. Sofern im Untergrund kosovo-albanische Parallelstrukturen bestanden
hatten, waren diese oft nicht hinreichend ausgebildet, um den Verlust zu ersetzen.
NATO-Luftangriffe, vor allem aber serbische Sicherheitskräfte hatten zudem die
wirtschaftliche Infrastruktur des ohnehin sehr armen Gebietes weitgehend zerstört.
Der staatliche Wiederaufbau der UNMIK musste daher vielfach „nahe Null“
beginnen. Hinzu kam, dass die UN oftmals nicht über das nötige Fachwissen
verfügte, um ein Gebiet dieser Größe selbst zu verwalten, und die Rekrutierung von
Fachpersonal schwierig und langwierig war.349 In diese Lücke stießen kosovo-
345
Siehe Art. 3.2 des sog. Constitutional Framework, UNMIK/REG/2001/9 vom 15.5.2001. (abrufbar
auf der Seite <www.unmikonline.org/regulations/index_reg_2001.htm>). Lediglich Art. 3.1
UNMIK/REG/2001/9, dem zufolge alle Einwohner ohne jegliche Diskriminierung Menschenrechte
und Grundfreiheiten genießen sollten, kann als auch die UNMIK selbst verpflichtend ausgelegt
werden. Ausführlicher zum Constitutional Framework Stahn, Leiden JIL 14 (2001), 531 (542-560).
346
Abrufbar unter <www.osce.org/kosovo/documents.html>.
347
UNMIK/REG/2000/38 vom 30.6.2000, ferner Kapitel 10 des Constitutional Framework
(UNMIK/REG/2001/9).
Siehe
auch
die
Internetpräsenz
der
Ombudsperson
unter
<www.ombudspersonkosovo.org>. Kritisch Brand, Nordic JIL 70 (2001), 461 (482-484), der die
Ombudsmann-Institution mangels Möglichkeit, Rechtsverletzungen abzuhelfen, als unzureichend
ansieht.
O’Neill, Kosovo (2002), S. 55 u. 60-63. Ausführlich zu den vornehmlich von Kosovo-Albanern
begangenen Menschenrechtsverletzungen zwischen Juni und Oktober 1999 OSCE, As Seen, As Told Bd. II (1999).
348
349
UN, Brahimi-Report (2000), § 127; Garcia, RGDIP 104 (2000), 61 (70); Caplan, New Trusteeship
(2002), S. 48 f.; O’Neill, Kosovo (2002), S. 38.
65
albanische Kräfte, die sich so weiter Teile der noch bestehenden staatlichen und
wirtschaftlichen Strukturen bemächtigten und später nur schwer von UNMIK wieder
verdrängt werden konnten.
Seit 1999 hat UNMIK sowohl auf kommunaler wie auf Ebene der Gesamtprovinz
Exekutiv- und Legislativorgane geschaffen und normale Verwaltungstätigkeit
entsprechend den Vorgaben der Resolution 1244 (1999) weitgehend diesen
übertragen.350 Erfolgreich wurden mehrere Wahlen auf lokaler wie auf Provinzebene
abgehalten. Ferner wurde ein Justizsystem aufgebaut, das indes teilweise immer noch
Mängel aufweist.351 Auch die wirtschaftliche Lage ist weiterhin schwierig. Zur
Privatisierung der ehemals kollektivistischen Wirtschaft wurde nach deutschem
Vorbild eine Kosovo-Treuhand-Agentur eingerichtet.352 Im Übrigen beschränkt sich
die Aufgabe der UNMIK zunehmend auf Überwachung und finanzielle
Unterstützung der kosovarischen Institutionen. Erhebliche Defizite bestehen
weiterhin in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit (rule of law) und Minderheitenrechte.
Beide bestehen zwar auf dem Papier, lassen sich aber in der Praxis nur schwer
durchsetzen.353
Eine Ursache sind die noch immer bestehenden ethnischen Spannungen. Diese
entluden sich seitens der Kosovo-Albaner im Frühjahr 2004 in mehrtägigen,
pogromartigen Unruhen, die von UNMIK und KFOR nur mühsam unter Kontrolle
gebracht werden konnten.354 Bei diesen wurden 19 Menschen, insbesondere Serben
350
Siehe § 11 lit. (d) S/RES/1244 (1999). Zur Beteiligung der Bevölkerung an der Regierung im
ersten Jahr siehe Brand, Nordic JIL 70 (2001), 461 (467-469). Ausführlich zur Arbeit der UNMIK in
den Anfangsjahren O’Neill, Kosovo (2002), S. 51-135. Siehe ferner die vierteljährlichen Berichte des
UN-Generalsekretärs (zuletzt S/2005/335 vom 23.5.2005).
351
Siehe die periodischen Berichte der OMIK über die Strafjustiz, insbesondere OMIK, 1. Criminal
Justice Review (2000) und zuletzt OMIK, 6. Criminal Justice Review (2004); ferner Brand, Nordic JIL
70 (2001), 461 (480).
352
Kosovo Trust Agency, eingerichtet durch UNMIK/REG/2002/12 vom 13.6.2002. Siehe auch ihre
Internetpräsenz unter <www.kta-kosovo.org>, ferner Rapp, VN 51 (2003), 167-171; und zur
völkerrechtlichen Zulässigkeit der Privatisierungsmaßnahmen Hobe/Griebel, in: FS Ress (2005), S.
141-150.
353
Siehe beispielsweise OMIK, 6. Criminal Justice Review (2004), 14 (zur Strafjustiz).
354
Ausführlich zu den Unruhen und ihren Ursachen der Bericht der ICG, Collapse in Kosovo (2004),
sowie Human Rights Watch, Failure to Protect (2004).
66
und Angehörige anderer Minderheiten, getötet und weitere knapp 900 verletzt. Über
700 Häuser und zahlreiche serbische Kirchen und Klöster wurden verwüstet oder
zerstört und etwa 4.500 Nicht-Albaner aus ihren Wohnorten vertrieben.355 Auch die
Stadt Mitrovica ist nach wie vor in einen albanischen und einen von Jugoslawien
unterstützten serbischen Teil geteilt.356 Ein wesentlicher Grund für die anhaltenden
ethnischen Konflikte ist die noch immer von der internationalen Gemeinschaft offen
gehaltene Statusfrage.357 Der zugrunde liegende Streit ist damit lediglich eingefroren,
nicht aber gelöst, und bestimmt damit weiter das politische Geschehen im Kosovo.
III.
Bewertung
In der Entwicklung der Gebietsverwaltung durch die Vereinten Nationen ist UNMIK
einerseits lediglich eine logische Fortsetzung der bisherigen Entwicklung,
andererseits aber auch ein qualitativer und quantitativer Meilenstein.358 Formal hatte
die UN zwar bereits in Ostslavonien die gesamte Verwaltungsmacht über ein Gebiet
übernommen.359
Tatsächlich
aber
diente
UNTAES
ähnlich
wie
die
Völkerbundsverwaltung von Laeticia360 und die UN-Verwaltung von WestNeuguinea361 in erster Linie dazu, einen geordneten Übergang der Verwaltungsmacht
von einer Partei auf die andere sicherzustellen. Im Kosovo liegt der tatsächliche
Schwerpunkt dagegen auf dem institutionellen und wirtschaftlichen Wiederaufbau
des Landes, wobei UNMIK nicht nur den Übergang von einem Kriegsgebiet zu
einem stabilen Staatswesen, sondern auch den vom Sozialismus zu Demokratie und
freier Markwirtschaft bewerkstelligen muss. Gemessen an diesen Herausforderungen
und der bis dato fehlenden Erfahrung der UN mit Gebietsverwaltungen dieser
355
ICG, Collapse in Kosovo (2004), S. 1.
356
Speziell zur Lage in der Stadt Mitrovica siehe ICG, Division in Mitrovica (2002).
357
Bugajski u.a., Final Status (2003), S. 2. Zur Statusfrage und seiner ethnischen Komponente siehe
auch ICG, Kosovo Roadmap I (2002) und ICG, Ethnic Dilemma (2003).
358
Garcia, RGDIP 104 (2000), 61 (62). Zustimmend in Bezug auf den Umfang der tatsächlichen
Aufgaben auch Wilde, ILSA J.I.&C.L. 9 (2003), 391 (396).
359
Siehe dazu oben 2.Kp. K.
360
Siehe oben 2.Kp. A.II.
361
Zur UNTEA siehe oben 2.Kp. F.
67
Größenordnung ist UNMIK bislang ein Erfolg. Verbunden mit dem weiterhin
unklaren Endstatus des Gebietes362 zeigt UNMIK den Vereinten Nationen zumindest
in ihrer jetzigen organisatorischen Verfassung die Grenzen ihrer Kapazitäten auf.
M. Die UN-Übergangsverwaltung in Osttimor (1999-2002)
Nur wenige Monate nach der Einrichtung der Übergangsverwaltung im Kosovo
richteten die Vereinten Nationen in Osttimor eine weitere UN-Gebietsverwaltung
ein.363 Gegenüber UNMIK stellt die United Nations Transitional Administration in
East Timor (UNTAET) eine weitere Steigerung der UN-Gebietsverwaltungstätigkeit
dar, da UNTAET nicht nur die zivile, sondern auch die militärische Komponente des
internationalen Engagements beinhaltet. Die Insel Timor liegt in Südostasien, etwa
500 km nordwestlich von Australien und ist die östlichste Insel der kleinen SundaInselgruppe.364 Osttimor ist der etwa 15.000 km2 große östliche Teil der Insel und
verfügt über einer Einwohnerzahl zwischen 850.000 und 1 Million.365 Osttimor zählt
nach wie vor zu den ärmsten Regionen der Welt.366
I.
Historischer Hintergrund
Seit 400 Jahren portugiesische Kolonie,367 erklärte Osttimor sich am 28.11.1975 für
362
Zur Frage des Endstatus siehe aus jüngerer Zeit Johanson, Nordic JIL 73 (2004), 535-549; ICG,
Kosovo: Final Status (2005); Muharremi, Treuhandverwaltung (2005), S. 142-150; ferner Carlucci,
The War We Haven’t Finished, Op-ed, NYT vom 22.2.2005.
363
S/RES/1272 (1999) vom 25.10.1999. Zu UNTAET und ihrer Vorgeschichte siehe die Internetseite
der UN unter <www.un.org/peace/etimor/etimor.htm>. Siehe ferner Goy, AFDI 45 (1999), 203-225;
Cahin, AFDI 46 (2000), 139-175; Chopra, Survival 42 (2000), 27-39; Clark, Temp. I.&C.L.J. 14
(2000), 75-88; de Coning, Int’l. PK (Kl.) 6 (2000), 83-90; Purnawanty, Temp. I.&C.L.J. 14 (2000),
61-74; Rothert, Columbia JTL 39 (2000), 257 -282; Beauvais, NYU JIL&P 33 (2000/01), 1101-1178;
Kondoch, JC&SL 6 (2001), 245-265; Morrow/White, Australian YBIL 22 (2002), 1-45; und Abline,
RGDIP 107 (2003), 349-375.
364
Abline, RGDIP 107 (2003), 349 (350).
365
Eine Karte des Gebietes ist abgedruck bei Guilhaudis, AFDI 23 (1977), 307 (308), ferner abrufbar
unter <www.un.org/Depts/Cartographic/map/dpko/unmiset.pdf>.
366
Beauvais, NYU JIL&P 33 (2000/01), 1101 (1102).
367
Diese portugiesische Kolonialvergangenheit ist eine der wesentlichen Gründe für die politische
Eigenständigkeit Osttimors gegenüber dem indonesischen Westteil der Insel und den ebenfalls
indonesischen Nachbarinseln, die alle Teil des niederländischen Kolonialreiches waren. Siehe dazu
Chesterman, You, The People (2004), S. 136 Fn. 34.
68
unabhängig. Wenige Tage später wurde das Gebiet von Indonesien militärisch
besetzt und 1976 formell als 27. Provinz der Republik Indonesien eingegliedert.368
Diese Annektion wurde von einigen Staaten anerkannt369, zumeist aber als Verstoß
gegen das Selbstbestimmungsrecht der Osttimoresen verurteilt. Auch der
Sicherheitsrat und die Generalversammlung verurteilten die Invasion scharf und
forderten den Rückzug Indonesiens.370 Die Vereinten Nationen verweigerten die
Anerkennung indonesischer Souveränität über Osttimor und führten das Gebiet bis
2002 weiter auf der Liste der nicht-selbstverwalteten Gebiete.371 Letztlich bestand
international aber keine Bereitschaft, Indonesien zu einem Rückzug zu zwingen,372
obwohl das Thema Osttimor weiter von den Vereinten Nationen behandelt wurde.373
Mitte der neunziger Jahre brachte Portugal mit einer Klage gegen Australien den Fall
vor den Internationalen Gerichtshof.374 Dieser lehnte eine Entscheidung in der Sache
aufgrund der fehlenden, rechtlich aber erforderlichen Beteiligung Indonesiens ab,
stellte aber fest, dass Osttimor für beide Parteien, Portugal und Australien, weiterhin
als nicht-selbstverwaltetes Gebiet zu behandeln sei,375 und untergrub so weiter die
Legitimität der indonesischen Herrschaft.376
368
Einzelheiten des geschichtlichen Ablaufs bei Guilhaudis, AFDI 23 (1977), 307-324, Clark, Temp.
I.&C.L.J. 14 (2000), 75-81; Schlicher/Flor, FW 78 (2003), 251-279; und Franz, Osttimor (2005), S. 456. Für eine pro-indonesische Sichtweise siehe Purnawanty, Temp. I.&C.L.J. 14 (2000), 61-66.
369
Stahn, MP-UNYB 5 (2001), 105 (111) nennt u.a. Australien, Indien, Iran, Irak, Malaysien, die
Philippinen, Saudi Arabien, Singapur und Thailand.
370
Siehe S/RES/384 (1975) vom 22.12.1975 und S/RES/389 (1976) vom 22.4.1976, ferner die
Generalversammlungsresolution A/RES/3485 (XXX) vom 12.12.1975.
371
Clark, Temp. I.&C.L.J. 14 (2000), 75 (82). Bis 1999 wurde Portugal, danach UNTAET als
Verwaltungsmacht genannt (siehe Nachweise bei Stahn, MP-UNYB 5 (2001), 105 (115)). Mit
Resolution A/RES/56/282 vom 1.5.2002 beschloss die Generalversammlung, Osttimor am Tag seiner
Unabhängigkeit von der Liste zu nehmen.
372
Clark, Temp. I.&C.L.J. 14 (2000), 75 (82); Abline, RGDIP 107 (2003), 349 (351).
373
Bis 1982 in der jährlichen Sitzung der Generalversammlung, danach durch den Sonderausschuss
für Dekolonialisierungsfragen (geschaffen zur Umsetzung der Resolution A/RES/1541 (XV) von
1961).
374
IGH, Case concerning East Timor (Portugal v. Australia), Urteil vom 30.6.1995, ICJ-Rep. 1995,
90-106 (insbes. §§ 33-35). Zu diesem Urteil siehe Thouvenin, AFDI 41 (1995), 328-353; Scobbie/Drew, Leiden J.I.L. 9 (1996), 185-211; Grant, Vanderbilt J.T.L. 33 (2000), 273 (298-310).
375
IGH, East Timor Case, ICJ-Rep. 1995, 90 (103 § 33).
376
Clark, Temp. I.&C.L.J. 14 (2000), 75 (83).
69
Auch das Ende der autoritären Regierung Suhartos in Indonesien brachte Bewegung
in die festgefahrene Situation, und so kam es schließlich am 5. Mai 1999 zu einer
Einigung zwischen Portugal, Indonesien und den als Vermittler agierenden Vereinten
Nationen.377 Nach dem sog. Tripartite Agreement sollten die Osttimoresen in einer
von der UN organisierten Volksabstimmung über einen erweiterten Autonomiestatus
Osttimors innerhalb Indonesiens entscheiden.378 Eine Ablehnung dieses Vorschlags
sollte als Votum für die Unabhängigkeit Osttimors gewertet werden.379 In diesem
Fall sollte die UN die Verwaltung des Gebietes übernehmen und es auf seine
Selbständigkeit vorbereiten.380 Zur Durchführung des Referendums rief der
Sicherheitsrat die UN-Mission UNAMET ins Leben,381 für die Sicherheit während
der Abstimmung blieb aber allein Indonesien zuständig.382 Nach einigen
Verschiebungen aufgrund der unsicheren Lage stimmten die Osttimoresen am 30.
August 1999 mit großer Mehrheit für die Unabhängigkeit ihres Landes.383
In der Folge kam es zu einer gezielten Terrorkampagne pro-indonesischer Milizen,
die mit erheblicher Unterstützung der indonesischen Streitkräfte systematisch die
377
Im Rahmen des Tripartite Agreement vom 5.5.1999 wurden insgesamt drei verschiedene
Abkommen geschlossen. Sie sind abgedruckt in den Anhängen I-III des Berichts A/53/951 –
S/1999/513 vom 5.5.1999. Der Sicherheitsrat begrüßte die Einigung in S/RES/1236 (1999) vom
7.5.1999. Zu Verhandlung und Abschluss der Abkommen siehe auch §§ 1-13 des Berichts A/54/654
des Generalsekretärs vom 13.12.1999.
378
Das vorgeschlagene Autonomiestatut (constitutional framework for a special autonomy for East
Timor) ist abgedr. als Appendix zu Anhang I des Bericht A/53/951 – S/1999/513. Die Einzelheiten der
Volksabstimmung sind in den beiden anderen, von allen drei Parteien unterzeichneten Teilen des
Tripartite Agreement geregelt (abgedruckt als Anhänge II und III des o.g. Berichts).
379
Art. 6 des Abkommens zwischen Portugal und Indonesien vom 5.5.1999 (abgedr. als Annex I des
Bericht A/53/951 – S/1999/513).
380
Ebenda.
381
United Nations Mission in East Timor, eingerichtet durch S/RES/1246 (1999) vom 12.6.1999. Zu
Planung und Aufbau der UNAMET siehe die Berichte des Generalsekretärs S/1999/595 vom
22.5.1999, S/1999/705 vom 22.6.1999 und §§ 14-20 A/54/654 vom 13.12.1999. Der Sache nach
handelte es sich um eine typische Wahlhilfe-Mission der UN. Ausführlich zu UNAMET und ihren
rechtlichen Grundlagen Toole, Am.Univ.I.L.R 16 (2000), 199-267.
382
Art. 3 des Abkommens zwischen Portugal und Indonesien vom 5.5.1999 (abgedr. als Annex I des
Bericht A/53/951 – S/1999/513).
383
Lt. §§ 30 f. des Berichts A/54/654 des Generalsekretärs vom 13.12.1999 nahmen 98,6% der
registrierten Wähler am Referendum teil. 21,5% stimmten für eine Autonomie innerhalb Indonesiens,
78,5% für die Unabhängigkeit Osttimors. Zum Ablauf des Referendums siehe auch de Hoogh, Leiden
J.I.L. 13 (2000), 997-1010.
70
Bevölkerung vertrieben und die Infrastruktur des Gebietes zerstörten.384 Etwa 75%
der Einwohner wurden vertrieben, ein Großteil von ihnen ins indonesische
Westtimor.385 Etwa 70% der physischen Infrastruktur wurde zerstört, es kam zu
Massenerschießungen und Massenvergewaltigungen, deren Opfer insbesondere
Anhänger der Unabhängigkeitsbewegung und Ortskräfte der UNAMET waren.386
Erst
nach
indonesischer
Zustimmung
autorisierte
der
Sicherheitsrat
eine
internationale Eingreiftruppe (INTERFET387), der es unter Führung Australiens in
kurzer Zeit gelang, das Gebiet zu befrieden.388 Am 25. Oktober 1999 teilte
Indonesien dem Generalsekretär mit, dass es das Gesetz über die Eingliederung
Osttimors von 1976 aufgehoben habe.389 Am selben Tag erließ der Sicherheitsrat
Resolution 1272 (1999), mit der er die UN-Übergangsverwaltung in Osttimor
(UNTAET) einrichtete.390
II.
Das Mandat der UNTAET
Aufgabe der UNTAET war zunächst, entsprechend des Tripartite Agreement die
Verwaltung
Osttimors
zu
übernehmen
und
es
auf
die
Unabhängigkeit
vorzubereiten.391 Entsprechend beauftragte der Sicherheitsrat UNTAET mit
384
Siehe §§ 3-5 des Bericht des Generalsekretärs S/1999/1024 vom 4.10.1999, ferner den Bericht
einer Sicherheitsratsdelegation vom 14.9.1999 (S/1999/976), der in § 19 ausdrücklich die Beteiligung
weiter Teile der indonesischen Polizei- und Militärkräfte bei den Ausschreitungen feststellte. Siehe
auch den umfassenden Bericht der Weltbank vom 8.12.1999, Report of the Joint Assessment Mission
to East Timor, abrufbar unter <http://pascal.iseg.utl.pt/~cesa/jamsummarytablefinal.pdf>, ferner den
gemeinsamen Bericht dreier Sonderberichterstatter der UN-Menschenrechtskommission (A/54/660
vom 10.12.1999).
385
§ 14 des Sicherheitsratsberichts S/1999/976.
Chopra, Survival 42 (2000), 27 (27); de Coning, Int’l. PK (Kl.) 6 (2000), 83 (83); Abline, RGDIP
107 (2003), 349 (359).
386
387
Intervention Force for East Timor, autorisiert durch S/RES/1264 (1999) vom 15.9.1999.
388
Siehe §§ 2 u. 14 des Berichts S/2000/53 des Generalsekretärs vom 26.1.2000, ferner de Coning,
Int’l. PK (Kl.) 6 (2000), 83 (84). Zur politischen Notwendigkeit der indonesischen Zustimmung siehe
Abline, RGDIP 107 (2003), 349 (360 f.); zum Rechtsrahmen, in dem INTERFET tätig wurde Kelly
(u.a.), IRRC 83 (2001), 101-139.
389
§ 39 des Berichts A/54/654 des Generalsekretärs vom 13.12.1999.
390
§ 1 S/RES/1272 (1999) vom 25.10.1999.
391
Siehe Art. 6 des Abkommens zwischen Portugal und Indonesien vom 5.5.1999 (abgedr. als Annex
I des Bericht A/53/951 – S/1999/513). Beauvais, NYU JIL&P 33 (2000/01), 1101 (1107 f., 1112-
71
Herstellung und Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, der physischen
Einrichtung einer effektiven Verwaltung, der Hilfe bei der Einrichtung von Organen
der öffentlichen Daseinsfürsorge und der Unterstützung Osttimors beim Aufbau von
Selbstverwaltungsstrukturen.392
Zu diesem Zweck stattete der Sicherheitsrat UNTAET explizit mit der geradezu
absolutistischen Befugnis aus, alle exekutiven, legislativen und judikativen
Befugnisse in Osttimor auszuüben und alle notwendigen Maßnahmen („all necessary
measures“) zu ergreifen, um ihr Mandat zu erfüllen.393 Resolution 1272 (1999) teilte
UNTAET in eine Zivilverwaltungskomponente, zu der bis zu 1.640 Polizeikräfte
gehörten, eine humanitäre und eine bis zu 8.950 Personen starke militärische
Komponente.394 Ferner wurde UNTAET angewiesen, die Einwohner Osttimors zu
konsultieren und eng mit ihnen zusammen zu arbeiten, um so die Verankerung
lokaler demokratischer Strukturen zu fördern.395 Auffallend ist, dass die
Menschenrechte der Osttimoresen in der Resolution 1272 (1999) keine ausdrückliche
Erwähnung finden. Anders als im Falle der UNMIK396 fehlt ein Passus, der
UNTAET zu Schutz und Förderung der Menschenrechte verpflichtet. Ähnlich wie
UNMIK legte aber UNTAET in seiner ersten Verordnung die zu beachtenden
Menschenrechte fest.397
Bei der Vorbereitung Osttimors auf die Selbständigkeit musste UNTAET nahezu bei
1114) spricht von einem „dual mandate“, dessen beide Teile – Verwaltung eines Krisengebietes
einerseits, Unterstützung der Selbstverwaltung dieses Gebietes andererseits – in einem
Spannungsverhältnis zueinander stünden.
392
§ 2 S/RES/1272 (1999). UNTAET sollte ferner bei der nachhaltigen Entwicklung („sustainable
development“) des Gebietes helfen.
393
§§ 1 u. 4 S/RES/1272 (1999). Der Umfang der Befugnisse lässt Abline, RGDIP 107 (2003), 349
(363), von „compétences régaliennes“ sprechen, während Chopra, Survival 42 (2000), 27 (29)
deswegen von „UN’s Kingdom of East Timor“ spricht und sie mit den Befugnissen eines vorkonstitutionellen Monarchen vergleicht.
394
§ 3 S/RES/1272 (1999). Der Aufbau basierte auf dem vom Generalsekretär im Berichts
S/1999/1024 vom 4.10.2004 vorgelegten Plan.
395
§ 8 S/RES/1272 (1999).
396
§ 11 lit. k) S/RES/1244 (1999) vom 10.6.1999, siehe oben 2.Kp. L.II.
397
UNTAET/REG/1999/1 vom 27.11.1999.
72
Null beginnen, da die vorangegangene Verwüstung des Gebietes und der Abzug
seiner indonesisch dominierten Verwaltung alle staatlichen Strukturen beseitigt
hatten.398 Es fehlte nicht nur an physischer Infrastruktur, sondern auch an
qualifiziertem Personal. Zivilverwaltung und die Organe der Rechtspflege hatten
aufgehört zu existieren.399 Dringender aber waren noch die Versorgung der
Bevölkerung mit Lebensmitteln und die Rückführung der Flüchtlinge.400 In ihren
ersten Monaten war UNTAET daher in erster Linie mit der Koordination
humanitärer Hilfe beschäftigt.401 Im Februar 2000 zog die multinationale
Friedenstruppe INTERFET ab, die bislang die wesentliche Verantwortung für die
innere und äußere Sicherheit Osttimors übernommen hatte. Nunmehr war UNTAET
bis Mai 2002 allein verantwortlich für das Gebiet. In dieser Zeit baute sie die
verschiedenen Ebenen staatlicher Verwaltung sowie das Gerichtswesen auf,
organisierte
Parlaments-
und
Präsidentschaftswahlen
und
half
bei
der
Verabschiedung einer Verfassung.402 Das zunächst bis 31. Januar 2001 beschränkte
Mandat der UNTAET wurde vom Sicherheitsrat zweimal verlängert.403 Am 20. Mai
2002 wurde Osttimor in einer feierlichen Zeremonie in die Selbständigkeit entlassen
und im September als 191. Staat in die Vereinten Nationen aufgenommen.404
UNTAET selbst wurde durch UNMISET405 abgelöst, welche den Staatsaufbau weiter
398
Beauvais, NYU JIL&P 33 (2000/01), 1101 (1104), und Abline, RGDIP 107 (2003), 349 (352)
sprechen vom Aufbau eines Staatswesens „ex nihilo“.
399
§ 37 des Berichts A/54/654 des Generalsekretärs vom 13.12.1999.
400
de Coning, Int’l. PK (Kl.) 6 (2000), 83 (85).
401
Ebenda. Auch dies gehörte gemäß § 2 lit. d) S/RES/1272 (1999) zu ihrem Mandat.
402
Zum Aufbau der staatlichen Verwaltung siehe Beauvais, NYU JIL&P 33 (2000/01), 1101 (11361148), zum Aufbau des Gerichtswesens siehe Beauvais, NYU JIL&P 33 (2000/01), 1101 (11531160); Linton, Melbourne ULR 25 (2001), 122-180; Strohmeyer, AJIL 95 (2001), 46-63, ferner Othman, Nordic JIL 72 (2003), 449 (457 f.). Zu den Wahlen siehe Chesterman, You, The People (2004),
231 f. Zur Arbeit der UNTAET insgesamt siehe auch die halbjährlichen Berichte des
Generalsekretärs, zuletzt S/2002/432 vom 17.4.2002.
403
S/RES/1338 (2001) vom 31.1.2001 und S/RES/1392 (2002) vom 31.1.2002.
404
Aufnahme durch die Generalversammlung (A/RES/57/3 vom 27.9.2002) auf einstimmige
Empfehlung des Sicherheitsrates (S/RES/1414 (2002) vom 23.5.2002). Siehe dazu auch UNYB 2002,
324 f.
405
United Nations Mission of Support in East Timor, eingerichtet durch S/RES/1410 (2002) vom
17.5.2002, letztmalig bis 20.5.2005 verlängert durch S/RES/1573 (2004) vom 16.11.2004. Siehe auch
die halbjährlichen Berichte des Generalsekretärs zu UNMISET, zuletzt S/2005/310 vom 12.5.2005.
73
unterstützte, ohne allerdings eigenständig exekutive Verantwortung zu übernehmen.
Ferner war UNMISET für die innere und äußere Sicherheit Osttimors verantwortlich,
bis die osttimoresische Polizei- und Militärorgane diese Aufgabe unternehmen
können.406
UNTAET basiert in vielerlei Hinsicht auf den Erfahrungen, welche die UN bei der
Einrichtung der UNMIK gemacht hatte.407 So ist das vom Sicherheitsrat in
Resolution 1272 (1999) erteilte Mandat wesentlich präziser. UNTAET wird bereits
in der Ermächtigungsresolution explizit die Ausübung aller drei Staatsgewalten
zugewiesen, während UNMIK sich dies erst im Verordnungswege quasi selbst
bescheinigen musste.408 Auch die Gesetzgebungsbefugnisse des Sondergesandten
sind im Falle der UNTAET bereits in der Resolution genannt.409 Die Kontinuität
wird auch in personeller Hinsicht deutlich: Der zum Sondergesandten und Leiter der
UNTAET berufene Sergio Vieira de Mello hatte zuvor den Aufbau der UNVerwaltung im Kosovo geleitet.410 Wie UNMIK hatte auch UNTAET große
Schwierigkeiten, ausreichend geschultes Personal zu rekrutieren.411
Gerade die starke Anlehnung an das Vorbild der UNMIK in der Anfangszeit gab
aber auch Anlass zur Kritik. So agierte UNTAET zunächst eher autoritär und
beteiligte die Bevölkerung trotz eines ausdrücklichen Auftrags dazu seitens des
Sicherheitsrates412 nur in geringem Umfang.413 Dabei war die Bevölkerung – anders
406
Siehe § 2 S/RES/1410 (2002). Zu diesem Zweck wurde UNMISET auf der Grundlage von Kp. VII
der Charta ermächtigt, alle erforderlichen Handlungen („all necessary actions“) auszuführen (siehe §
6 S/RES/1410 (2002)). Ausführlicher zu UNMISET Abline, RGDIP 107 (2003), 349 (370-372) und
der Abschlussbericht des Generalsekretärs S/2005/310 vom 12.5.2005. UNMISET endete am
20.5.2005 und wurde seinerseits durch das United Nations Office in Timor-Leste (UNOTIL) abgelöst.
Diese aus maximal 120 Beratern bestehende politische Mission wurde vom Sicherheitsrat durch
S/RES/1599 (2005) vom 28.4.2005 ohne Rückgriff auf Kapitel VII der Charta eingerichtet und soll
die osttimoresische Regierung für zunächst ein Jahr bis zum 20.5.2006 beratend zur Seite stehen.
407
Beauvais, NYU JIL&P 33 (2000/01), 1101 (1164 f.); Chesterman, You, The People (2004), S. 63
408
Siehe § 1 S/RES/1272 (1999) einerseits und Sec. 1.1 der UNMIK/REG/1999/1 vom 25.7.1999
andererseits.
409
§ 6 S/RES/1272 (1999).
410
Siehe den Brief des Generalsekretärs S/1999/1093 vom 26.10.1999.
411
UN, Brahimi-Report (2000), § 127.
412
§ 8 S/RES/1272 (1999).
74
als im Kosovo – politisch zunächst weitgehend homogen, es gab keine sich
befehdenden Ethnien und keine aggressiven Parallelstrukturen, gegen die es das
Machtmonopol der UNTAET durchzusetzen galt.414 Das dominante Auftreten der
UNTAET führte zunächst zu einem erheblichen Vertrauensverlust seitens der
Bevölkerung.415
Die
Vorgehensweise
entsprechend
Vereinten
Nationen
anzupassen.416
brauchten
In
der
geraume
Zeit,
Beteiligung
ihre
anderer
internationaler Akteure unterschied sich UNTAET ebenfalls von UNMIK. Anders
als im Kosovo, wo EU und OSZE wesentliche Aufgaben im Rahmen der
Zivilverwaltung übernommen hatten, war die UN in Osttimor weitgehend allein
tätig. Dafür wurden IWF und Weltbank früher und umfassender am Wiederaufbau
des Landes beteiligt.417
Wesentlicher Schwachpunkt des internationalen Engagements aber war der Umgang
mit den umfangreichen Menschenrechtsverletzungen während der indonesischen
Besatzungszeit418
sowie
im
Anschluss
an
die
Bekanntgabe
des
Referendumsergebnisses im September 1999.419 Indonesien bestand darauf, die
tatverdächtigen Indonesier vor ein eigenes Sondergericht zu stellen, und konnte die
Einrichtung eines internationalen Gremiums verhindern.420 In Osttimor richtete
413
Chopra, Survival 42 (2000), 27 (insbes. 30-32). Ausführlich zu dem inhärenten
Spannungsverhältnis zwischen effektiver internationaler Verwaltung und Beteiligung der Bevölkerung
zur Vorbereitung auf die Selbstverwaltung Beauvais, NYU JIL&P 33 (2000/01), 1101-1178 (insbes.
1114-1119).
414
Beauvais, NYU JIL&P 33 (2000/01), 1101 (1165). Zu den politischen Gruppierungen Osttimors in
den Jahren 1999 und 2000 a.a.O., 1121-1124.
415
Chopra, Survival 42 (2000), 27 (32). Beauvais, NYU JIL&P 33 (2000/01), 1101 (1124) spricht von
einer “Legitimitätskrise”, in der UNTAET sich im April 2000 befunden habe.
416
Chesterman, You, The People (2004), S. 64. Ausführlich zu der sich entwickelnden politischen
Einbindung der Osttimoresen in der Frühzeit der UNTAET Beauvais, NYU JIL&P 33 (2000/01),
1101 (1119-1136).
417
Siehe § 5 S/RES/1272 (1999), ferner Chopra, Survival 42 (2000), 27 (29)
418
Schätzungen gehen von etwa 200-250.000 Toten in den 24 Jahren indonesischer Besatzung aus
(Nachweise bei Abline, RGDIP 107 (2003), 349 (359)).
419
§ 16 S/RES/1272 (1999) verlangt explizit, dass die für die Gewalt nach dem Referendum
Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Ausführlich zur mangelhaften juristischen
Aufarbeitung dieser Ereignisse Othman, Nordic JIL 72 (2003), 449-482; ferner de Bertodano, JICJ 2
(2004), 910-926.
420
Abline, RGDIP 107 (2003), 349 (369). Die Zuständigkeit des indonesischen „Ad hoc-
75
UNTAET innerhalb des neuerrichteten Gerichtssystems spezielle Kammern für
schwere Menschenrechtsverletzungen ein, die zwischen Januar und Oktober 1999
begangen worden waren.421 Diese Kammern waren mit zwei internationalen und
einem timoresischen Richter besetzt. Aufgrund der Schwierigkeiten beim Aufbau des
Gerichtswesens in Osttimor kam es aber nur zu wenigen Verurteilungen. 422 Im
Übrigen setzte die UN-Verwaltung im Jahre 2001 eine Wahrheitskommission ein,
welche den gesamten Zeitraum seit 1974 bis zur Einrichtung der UNTAET
abdeckt.423
III.
Bewertung
Im Großen und Ganzen war die Übergangsverwaltung in Osttimor ein für die UN
wichtiger Erfolg.424 In etwas mehr als zweieinhalb Jahren gelang es UNTAET, in
einem Gebiet, das jahrhundertelang fremdregiert war, die Fundamente eines
demokratischen Staatswesens zu legen.425 Diese Leistung sollte angesichts der
praktischen Schwierigkeiten, denen UNTAET im Herbst 1999 gegenüber stand, nicht
gering geschätzt werden. Wie im Kosovo zeigte sich aber auch in Osttimor, dass
insbesondere der Aufbau einer effektiven und unabhängigen Justiz zu den größten
Herausforderungen des state-building gehört.426
Menschenrechtstribunal“ war sehr eingeschränkt. Seine Verurteilungen waren gering an der Zahl und
sehr milde. Siehe beispielsweise §§ 36 f. des Bericht des Generalsekretärs S/2002/432 vom 17.4.2002.
Zu Hintergrund und Arbeit des Ad Hoc-Tribunals siehe auch Othman, Nordic JIL 72 (2003), 449
(473-480), ferner de Bertodano, JICJ 2 (2004), 910 (922-925), und Linton, Leiden JIL 17 (2004), 303361. Mittlerweile haben sich Osttimor und Indonesien auf die Einrichtung einer gemeinsamen
Wahrheitskommission geeinigt, um diese Verbrechen aufzuarbeiten (FAZ vom 2.8.2005, S. 5).
421
Es handelt sich um die serious crimes units, eingerichtet durch UNTAET/REG/2000/15 vom
25.9.2000. Ausführlich Othman, Nordic JIL 72 (2003), 449 (457-473).
422
Siehe §§ 34 f. des Berichts des Generalsekretärs S/2002/432 vom 17.4.2002, ferner Othman, Nordic JIL 72 (2003), 449 (466 f.). Wesentlicher Grund war aber auch, das Indonesien sich beharrlich
weigerte, Tatverdächtige auszuliefern (a.a.O., 472 f.). Zur Arbeit der Special Panels for Serious
Crimes in jüngster Zeit siehe de Bertodano, JICJ 2 (2004), 910 (910-922).
423
Grundlage war UNTAET/REG/2001/10 vom 13.7.2001. Zur Warheitskommission für Osttimor
siehe Abline, RGDIP 107 (2003), 349 (370), ferner ausführlicher Stahn, AJIL 95 (2001), 952-966.
424
So auf der Grundlage der ersten 18 Monate der Mission Beauvais, NYU JIL&P 33 (2000/01), 1101
(1161 u. 1177).
425
Abline, RGDIP 107 (2003), 349 (365 f., 371).
426
Siehe die Berichte des Generalsekretärs, z.B. §§ 17-20 S/2002/432 vom 17.4.2002 und §§ 22-26
76
N.
Die UN-Unterstützungsmission in Afghanistan (seit 2002)
Auch in Afghanistan gilt es, ein von jahrzehntelangem Bürgerkrieg zerstörtes
Staatswesen
zu
rekonstruieren
und
Demokratie
und
die
Achtung
der
Menschenrechten im Land zu verankern. Anders als im Kosovo oder in Osttimor
beschränkt sich die Rolle der United Nations Assistance Mission in Afghanistan
(UNAMA) dabei aber weitgehend auf die eines Helfers und Ratgebers.427
Im Jahre 2001 übte die international nur von wenigen Staaten anerkannte radikalislamische Taliban-Regierung die faktische Hoheitsgewalt über weite Teile des
647.500 km2 großen Landes und seiner knapp 29 Millionen Einwohner aus. Knapp
einen Monat nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wurde sie im
Rahmen der Operation Enduring Freedom von einer Koalition unter Führung der
Vereinigten Staaten im Zusammenwirken mit afghanischen Widerstandsgruppen
militärisch gestürzt.428 Am 5. Dezember 2001 verständigten sich 25 Vertreterinnen
und Vertreter verschiedener afghanischer Gruppen in Bonn auf ein Abkommen über
die
vorläufige
Regierung
des
Landes
bis
zur
Einrichtung
permanenter
Staatsorgane.429 Dieses sah eine Interimsregierung (interim authority) vor, die das
Land für sechs Monate regieren sollte, um anschließend von von einer durch eine
außerordentliche Loya Jirga gewählte Übergangsregierung (transitional authority)
abgelöst zu werden.430 Innerhalb von achtzehn Monaten nach Amtsantritt der
Übergangsregierung sollte eine verfassungsgebende Loya Jirga mit Unterstützung
S/2004/888 vom 9.11.2004.
427
Ausführlicher zur UNAMA Marauhn, AVR 40 (2002), 480-511, und Chesterman, You, The People
(2004), S. 88-92.
428
Für eine völkerrechtliche Bewertung der Ereignisse vom 11.9.2001 und der Operation Enduring
Freedom siehe statt vieler Tomuschat, EuGRZ 28 (2001), 535-545; und Seidel, AVR 41 (2003), 449
(458-471). Zur deutschen Beteiligung an der Operation siehe Heintschel von Heinegg/Gries, AVR 40
(2002), 145-182.
429
Agreement on provisional arrangements in Afghanistan pending the re-establishment of permanent
government institutions, abgedr. als S/2001/1154 vom 5.12.2001 (im Folgenden: Bonner Abkommen).
Der Sicherheitsrat machte sich dieses Abkommen mit S/RES/1383 (2001) vom 6.12.2001 zu Eigen.
Für eine rechtliche Qualifizierung des Abkommens siehe Marauhn, AVR 40 (2002), 480 (491-493).
Siehe Art. I des Bonner Abkommens. Bei der Loya Jirga, zu deutsch „große Ratsversammlung“,
handelt es sich um die in Afghanistan traditionell zur Bestimmung der Regierung legitimierte
Versammlung der Vertreter der afghanischen Volksgruppen (Marauhn, AVR 40 (2002), 480 (494)).
430
77
der Vereinten Nationen dem Land eine neue Verfassung geben.431
Entsprechend dem Bonner Abkommen übernahm die Interimsregierung unter Hamid
Karsai am 22.12.2001 die Regierungsgewalt.432 Im Juni 1999 tagte die
außerordentliche Loya Jirga und wählte die Übergangsregierung, wiederum unter
Präsident Karsai.433 Im Dezember 2003 trat die verfassungsgebende Loya Jirga
zusammen und verabschiedete am 4. Januar 2004 feierlich die neue Verfassung der
islamischen Republik Afghanistan.434 Trotz weiterhin schwieriger Sicherheitslage
fanden im Oktober 2004 die ersten landesweiten Präsidentschaftswahlen in
Afghanistan statt, aus denen wiederum Hamid Karsai als Sieger hervorging und die
erste reguläre Regierung Afghanistans bildete.435 Die ursprünglich für das Frühjahr
2005 vorgesehen Regional- und Parlamentswahlen sind aufgrund der schwierigen
Sicherheitslage nunmehr auf den 18. September 2005 verschoben worden.436
Für die Vereinten Nationen sah das Bonner Abkommen primär die Rolle eines
Beobachters und Mediators vor.437 So sollten sie bei der Organisation der
außerordentlichen Loya Jirga mit Rat und Tat zur Seite stehen und bei Konflikten
vermitteln.438
Ferner
sollten
431
Art. I Abs. 6 des Bonner Abkommens.
432
§ 11 A/56/875 – S/2002/278.
sie
die
unabhängige
afghanische
Siehe S/RES/1419 (2002) vom 26.6.2002, ferner §§ 28-42 des Berichts A/56/1000 – S/2002/737
des Generalsekretärs vom 11.7.2002.
433
434
Dt. Übersetzung in ZaöRV 64 (2004), 943-978. Zu Entwurf und Verabschiedung der Verfassung
siehe §§ 34-27 des Berichts S/2003/1212 vom 30.12.2003, ferner §§ 2-5 des Berichts A/58/742 –
S/2004/230 vom 19.3.2004. Ausführlicher zur neuen afghanischen Verfassung Vergau, VRÜ 37
(2004), 465-488, ferner zu einzelnen Aspekten Mahmoudi, ZaöRV 64 (2004), 867-880 (Recht der
Sharî’a); Grote, ZaöRV 64 (2004), 897-915 (Gewaltenteilung); Lau, ZaöRV 64 (2004), 917-927; und
Tellenbach, ZaöRV 64 (2004), 929 (beide zu Justizgrundrechten).
435
Begrüßt durch A/RES/59/112 A-B vom 8.12.2004. Siehe auch §§ 5-11 u. 74-76 des Berichts
A/59/581 – S/2004/925 des Generalsekretärs vom 26.11.2004.
Siehe §§ 1-14 des Berichts A/59/744 – S/2005/183 vom 18.3.2005 und § 8 A/60/224 – S/2005/525
vom 12.8.2005. Zu den andauernden Schwierigkeiten siehe auch Ziener, In Afghanistan wird das Geld
für die Wahl knapp, Handelsblatt vom 16.8.2005, S. 6; ferner Gall, Fatal Bombing Mars Start of
Afghan Parliamentary Race, NYT vom 18.8.2005.
436
437
Marauhn, AVR 40 (2002), 480 (501). Chesterman, You, The People (2004), S. 90 f., warnt indes
davor, den tatsächlichen Einfluss der UNAMA und ihres Leiters, SRSG Brahimi, auf die politische
Entwicklung in Afghanistan zu unterschätzen.
438
§§ 3 u. 5 Annex II des Bonner Abkommens (Role of the United Nations during the interim period).
78
Menschenrechtskommission unterstützen, bei Menschrechtsverletzungen ermitteln
und ein Programm zur Förderung der Menschenrechte entwerfen und umsetzen.439
Die Vereinten Nationen besaßen aber keinerlei eigenständige exekutive Befugnisse.
Für die Sicherheit im Land waren neben den Afghanen selbst die International
Security Assistance Force (ISAF) zuständig, die vom Sicherheitsrat auf der
Grundlage von Kapitel VII der Charta eingerichtet worden war.440 Zur
Wahrnehmung der den Vereinten Nationen angetragenen Aufgaben richtete der
Sicherheitsrat im März 2002 UNAMA ein, in der alle Aktivitäten der UN in
Afghanistan zusammengefasst wurden.441 Sie stützte sich nicht auf Kapitel VII der
Charta, sondern auf die im Bonner Abkommen geäußerte Zustimmung der Vertreter
des afghanischen Volkes. Anfang 2003 wurde ihr Aufgabenbereich um die
Unterstützung der afghanischen Wahlkommission bei der Vorbereitung und
Durchführung der Präsidentschaftswahlen erweitert.442
Vom wahrgenommenen Aufgabenbereich entspricht UNAMA eher der UN-Mission
in Namibia443 als den Gebietsverwaltungs- und peace-building-Missionen jüngeren
Datums. Trotz ähnlicher Ausgangslage wie im Kosovo und in Osttimor444 entschloss
man sich hier, die Verwaltung von Anfang an den Afghanen zu überlassen und diese
lediglich – quasi aus dem Hintergrund – mit Fachwissen, Sach- und Geldmitteln zu
unterstützen.445 Ein Grund hierfür mag gewesen sein, dass Afghanistan anders als das
Kosovo und Osttimor und trotz aller Bürgerkriege ein etablierter Staat war, kein
Zur praktischen Umsetzung siehe §§ 34-40 des Berichts A/56/875 – S/2002/278 des Generalsekretärs
vom 18.3.2002.
439
§ 6 Annex II des Bonner Abkommens. Siehe auch §§ 41-44 A/56/875 – S/2002/278.
440
S/RES/1386 (2001) vom 20.12.2001.
441
S/RES/1401 (2002) vom 28.3.2002. Zu Planung und Aufgabe der UNAMA siehe §§ 94-115
A/56/875 – S/2002/278. UNAMA löste die seit 1993 bestehende UN Special Mission to Afghanistan
(UNSMA) ab, deren Personal im September 2001 abgezogen worden war.
442
§ 2 S/RES/1471 (2003) vom 28.3.2003.
443
Zur UNTAG siehe oben 2.Kp. G.
So mussten auch hier Ministerien und Verwaltung neu geschaffen werden. Siehe § 12 A/56/875 –
S/2002/278.
444
§ 98 (d) A/56/875 – S/2002/278 nennt als Ziel der UNAMA, nach Möglichkeit nur einen „light
expatriate footprint“ zu hinterlassen.
445
79
Gebiet, dessen Souveränität sich im Übergang befand.446 Ferner hatten Afghanen
Fremdherrschaft stets erbittert bekämpft, weshalb es sinnvoll erschien, das neue
Staatswesen ab initio als primär afghanisches Projekt anzugehen.447 Auch
Sicherheitsrat und Generalversammlung betonten stets die Hauptverantwortung der
Afghanen.448 Letztlich übersteigt aber vor allem die Größe des Landes, gekoppelt mit
der äußerst schwierigen Sicherheitslage449, alles, was die UN bisher im Kosovo oder
in Osttimor geleistet haben. Eine Übernahme der Verwaltung Afghanistans hätte die
Vereinten Nationen schlicht überfordert.450 In der vergleichsweise bescheidenen
Rolle der UNAMA kann daher noch keine prinzipielle Abkehr von der Idee der UNVerwaltung von Krisengebieten als Mittel zur Konfliktlösung gesehen werden.
O.
Multidimensionale Unterstützungsoperation der UN seit 1999
Neben UNAMA in Afghanistan haben die Vereinten Nationen seit 1999 mehrere
multidimensionale Peacekeeping-Missionen eingerichtet, die dem Wiederaufbau
staatlicher Strukturen dienen, ohne aber formal selbst und eigenständig Aufgaben der
Gebietsverwaltung wahrzunehmen.451 Ihre Mandate umfassen die Beobachtung,
Beratung und Unterstützung nationaler Stellen, insbesondere in den Bereichen
öffentliche Sicherheit, Polizei und Justiz und bei der Organisation von Wahlen.452
446
Marauhn, AVR 40 (2002), 480 (504); Chesterman, You, The People (2004), S. 89. Zur
Souveränität als Grenze der Befugnisse des Sicherheitsrates zur Gebietsverwaltung siehe auch unten
4.Kp. A.II.3 und E.III.
447
Chesterman, You, The People (2004), S. 90 f. Die Notwendigkeit, eine dem jeweiligen Kulturkreis
angepasste Lösung zu finden, betont auch Marauhn, AVR 40 (2002), 480 (510 f.).
448
Siehe beispielsweise Präambel-§ 4 S/RES/1386 (2001) und S/RES/1510 (2003) vom 13.10.2003:
„Recognizing that the responsibility for providing security and law and order (…) resides with the
Afghan themselves”, Präambel-§ 3 S/RES 1471 (2003): „Recognizing the Transitional Administration
as the sole legitimate government of Afghanistan (…)”. Ähnlich auch die entsprechenden Passagen in
A/RES/59/112 A-B vom 8.12.2004. Weitere Nachweise bei Marauhn, AVR 40 (2002), 480 (503).
Zur Sicherheitslage in Afghanistan siehe beispielsweise §§ 12-15 A/59/581 – S/2004/925 vom
26.11.2004.
449
450
In diese Richtung auch Chesterman, You, The People (2004), S. 90, unter Berufung auf den
Sondergesandten des Generalsekretärs für Afghanistan, Brahimi.
Als „multidimensional United Nations peacekeeping operation“ bezeichnet der Generalsekretär
die geplante UN Operation in Cote d’Ivoire (UNOCI) in § 87 seines Berichts S/2004/3 vom 6.1.2004.
451
452
Siehe beispielsweise das Mandat der UNOCI, S/RES/1528 (2004) vom 27.2.2004, sowie der UN
Stabilization Mission in Haiti (MINUSTAH), S/RES/1542 (2004) vom 30.4.2004.
80
Auch die Förderung der auf die Konfliktbewältigung gerichteten nationalen
politischen Prozesse gehört zu ihren Aufgaben.453 Ihr Einsatzbereich sind zumeist
Länder, deren Staatswesen infolge Bürgerkrieges zerüttet sind und die sich
zumindest nahe am failed state bewegen. Meist kam es – oft unter UN-Vermittlung –
zu einer Einigung der Konfliktparteien in der Art eines Friedensvertrages, in dem die
Vereinten Nationen um Beobachtung und Unterstützung bei seiner Umsetzung
gebeten wurden.454 Die Einrichtung dieser Unterstützungsmissionen kann sich somit
– selbst wenn der Sicherheitsrat sie auf Kapitel VII der Charta gründet455 – auf einen
bestehenden Konsens der Beteiligten stützen.
Wesentliches Merkmal dieser Missionen ist indes, dass sie zumindest formal keine
Hoheitsbefugnisse in ihrem Einsatzgebiet übernehmen. Vielmehr bleiben nationale
Stellen grundsätzlich verantwortlich für alle Bereiche der Zivilverwaltung456 und
werden dabei lediglich beraten, angeleitet und durch Ausbildung und Ausstattung
unterstützt. Es handelt sich damit gerade nicht um UN-Gebietsverwaltungen, mit
denen sie zwar Teile des Aufgabenfeldes teilen, nicht aber die umfangreichen
Befugnisse. Von Interesse sind die Unterstützungsmissionen daher nur unter zwei
Aspekten:
Erstens sind sie flexibel angelegt und können im Einzelfall mangels geeigneter
nationaler Kräfte durchaus selbst Verwaltungsaufgaben übernehmen.457 So war die
UN Mission in Sierra Leone (UNAMSIL) zunächst eine hauptsächlich militärische
Mission, zu deren primären Aufgaben die Überwachung des Waffenstillstands, die
Unterstützung der Regierung bei Entwaffnung der Kombattanten und die Sicherung
453
Siehe beispielsweise § 7 II S/RES/1542 (2004).
454
Beispielsweise das Abkommen von Lomé vom 7. Juli 1999 (abgedr. als S/1999/777 vom
12.7.1999) im Falle der UNAMSIL in Sierra Leone oder das Linas-Marcoussis-Abkommen vom
24.1.2003 (abgedr. als S/2003/99 vom 27.1.2003).
455
So beispielsweise UNOCI (S/RES/1528 (2004) vom 27.2.2004) und eingeschränkt auch
UNAMSIL (S/RES/1270 (1999) vom 22.10.1999).
Lediglich die militärische Komponente verfügt in der Regel über ein „robustes“ Mandat und einen
von nationalen Stellen unabhängigen Aufgabenbereich, beispielsweise im Rahmen der Überwachung
eines Waffenstillstands.
456
457
Kritisch zu dieser Flexibilität im Falle der UNAMSIL Chesterman, You, The People (2004), S. 87.
81
humanitärer
Hilfe
gehörte.458
Später
kam
die
Sicherung
wesentlicher
Verkehrswege459, logistische und organisatorische Unterstützung landesweiter
Wahlen460 und der nationalen Polizei hinzu.461 Mangels nationaler Kapazitäten in
Sierra Leone nahm UNAMSIL viele Aufgaben eigenständig wahr, obwohl sie formal
nur unterstützend tätig werden sollte.462 Eine solche Entwicklung ist auch bei
anderen Missionen denkbar.
Zweitens bilden diese Unterstützungsmissionen den momentan bevorzugten Typus
der peacebuilding-Mission. Solche sind seit 1999 außer in Afghanistan und Sierra
Leone auch in Liberia, Haiti und an der Elfenbeinküste eingerichtet worden.463 Sie
stellen
gegenüber
der
teilweisen
oder
vollständigen
Übernahme
der
Verwaltungsbefugnisse in einem Gebiet ein weniger in Souveränität und
Selbstbestimmungsrecht eingreifendes Mittel dar und beanspruchen meist weniger
Ressourcen der Vereinten Nationen. Ob sie lediglich Alternative zu einer
eigenständigen UN-Krisengebietsverwaltung sind oder diese völlig ersetzen, bleibt
abzuwarten.
P.
Die Verwaltung des Irak durch ein Staatenbündnis (2003-2004)
Kein Fall einer Gebietsverwaltung durch die Vereinten Nationen selbst, aber das
jüngste Beispiel einer vollständigen Übernahme der Regierungsmacht in einem
Krisengebiet durch internationale Akteure ist die Verwaltung des Iraks durch die
458
§ 8 S/RES/1270 (1999).
459
§ 10 S/RES/1289 (2000) vom 7.2.2000, § 3 S/RES/1313 (2000) vom 4.8.2000.
460
§§ 1 u. 4-6 S/RES/1389 (2002) vom 16.1.2002. Zu den Wahlen am 14.5.2002 siehe §§ 2-9 des
Berichts des Generalsekretärs S/2002/679 vom 19.6.2002.
461
§ 3 S/RES/1389 (2002) und § 17 S/2002/679.
§ 6 S/RES/1562 (2004) – „Urges the government of Sierra Leone to intensify its efforts (…) so that
the Government can take over from UNAMSIL as soon as possible full responsibility for maintaning
law and order throughout Sierra Leone (…)” – macht deutlich, dass die tatsächliche Wahrnehmung
staatlicher Befugnisse durch UNAMSIL auch dem Sicherheitsrat bewusst war.
462
463
UN Mission in Liberia (UNMIL), eingerichtet durch S/RES/1509 (2003) vom 19.9.2003; UN
Stabilization Mission in Haiti (MINUSTAH), eingerichtet durch S/RES/1542 vom 30.4.2004; UN
Operation in Cote d’Ivoire (UNOCI), eingerichtet durch S/RES/1528 (2004) vom 27.2.2004. Weitere
Informationen
zu
diesen
UN-Missionen
finden
sich
im
Internet
unter
<www.un.org/Depts/dpko/dpko/index.asp> unter „current missions“. Zu Haiti siehe auch Scott, Vanderbilt JTL 37 (2004), 555-586.
82
Coalition Provisional Authority (CPA) von Mai 2003 bis Juni 2004.464 Die CPA
wurde nach der militärischen Eroberung des Iraks durch eine Koalition von Staaten
unter der Führung der USA im Frühjahr 2003 von diesen eingerichtet, um das Gebiet
bis zur Einsetzung einer geeigneten irakischen Regierung zu verwalten.465
Nach dem eine Mehrheit der Mitglieder des Sicherheitsrates sich zuvor geweigert
hatte, den Einmarsch im Irak zu autorisieren, sah sie sich nun vor vollendete
Tatsachen gestellt.466 Nach langen Verhandlungen einigte man sich schließlich auf
den Wortlaut der Resolution 1483, die am 22. Mai 2003 mit 14 Ja-Stimmen bei einer
Enthaltung verabschiedet wurde.467 In dieser auf der Grundlage von Kapitel VII der
Charta verabschiedeten Resolution wurden Großbritannien und die Vereinigten
Staaten als aufgrund allgemeinen Völkerrechts für die Verwaltung des Iraks
zuständige Besatzungsmächte anerkannt.468 Als solche wurden sie dazu aufgefordert,
im Rahmen der UN-Charta und relevanten Völkerrechts das Wohlergehen der
464
Zu den Ereignissen im Irak seit 2002 siehe auch Cottey, SIPRI-YB 2004, 67-93 und Chronik, FAZ
vom 24.1.2005, S. 8. Einblicke in die praktische Arbeit der CPA geben Reinhart/Merrit, Vanderbilt
JTL 37 (2004), 765-790.
465
Nach ihrer ersten Verordnung, der Coalition Provisional Order Number 1 vom 16.5.2003, war sie
dazu „vested with all executive, legislative and judicial authority necessary to achieve its objectives“
(Sec. 1 (2) CPA/REG/16 May 2003/1, zitiert nach Zwanenburg, IRRC 86 (2004), 745 [747 f.]). Die
Parallelen zu den jeweils ersten Verordnungen der UNMIK sind unübersehbar. Zu ihrer
umfangreichen gesetzgeberischen Tätigkeit zur politischen und wirtschaftlichen Neuausrichtung des
Iraks siehe Starita, RGDIP 108 (2004), 883 (886 f.), m.w.N.
466
Zur Frage der Rechtmäßigkeit des Angriffs auf den Irak siehe beispielsweise Bothe, AVR 41
(2003), 255-271; Nguyen-Rouault, RGDIP 107 (2003), 835 (838-853);Seidel, AVR 41 (2003), 449
(475-480); Tomuschat, FW 78 (2003), 141-160; und Hmoud, Cornell ILJ 36 (2004), 435 (438-444).
Zahlreiche weitere Nachweise bei Hestermeyer, ZaöRV 64 (2004), 315-341, der die Debatte unter
dem Gesichtspunkt der unterschiedlichen Rechtskultur diesseits und jenseits des Atlantiks analysiert.
Siehe auch die zahlreichen Kurzbeiträge namhafter Autoren in der Rubrik „Agora“ des AJIL 97
(2003).
467
S/RES/1483 (2003) vom 22.5.2003, abgedr. in ILM 42 (2003), 1016-1022, dt. Übersetzung in VN
51 (2003), 137-140. Syrien erklärte, dass es für den Resolutionsentwurf gestimmt hätte, hätte man ihm
mehr Bedenkzeit gegeben (siehe S.C.O.R., 58th year, 4761st mtg. vom 22.5.2003, abgedr. als
S/PV.4761 (provisional)). Zu den Verhandlungen siehe Hmoud, Cornell ILJ 36 (2004), 435 (446 f.).
Für eine erste Analyse der Resolution siehe Kirgis, ASIL-Insights (Mai 2003). Diskussionsgrundlage
war ein Brief der Vertreter der Vereinigten Staaten und Großbritanniens an den Präsidenten des
Sicherheitsrates, in dem die Koalition ihre Pläne für eine Verwaltung des Iraks darlegte (S/2003/538
vom 8.5.2003), auszugsweise wiedergegeben bei Roberts, ICLQ 54 (2005), 27 (31).
468
So auch Bruha, AVR 41 (2003), 295 (309 f.). Der relevante Teil des Präambel-§ 13 S/RES/1483
(2003) lautet: „(...) and recognizing the specific authorities, responsibilities, and obligations under
applicable international law of these states as occupying powers under unified command”. Zur Frage
der Rechtsgrundlage dieser Übergangsverwaltung – humanitäres Völkerrecht oder Kapitel VII der
Charta – siehe unten 3.Kp. D.IV.4.
83
irakischen Bevölkerung durch eine effektive Verwaltung zu fördern.469 Ferner
„unterstützte“ der Sicherheitsrat die Bemühungen des irakischen Volkes, mit der
Hilfe der Besatzungsmacht und in Zusammenarbeit mit einem zu entsendenden UNSondergesandten
eine
irakische
Interimsverwaltung
einzurichten,
bis
eine
international anerkannte und repräsentative irakische Regierung die Befugnisse der
Besatzungsmacht übernehmen könne.470 Des Weiteren wies der Sicherheitsrat den
Generalsekretär an, das der Versorgung der irakischen Bevölkerung dienende Oil for
food-Programm binnen sechs Monaten abzuwickeln und die vorhandenen Gelder des
Programms dem von der Besatzungsmacht eingerichteten und verwalteten irakischen
Entwicklungsfond (Development Fund for Iraq) zu überweisen.471 Mit Resolution
1511 (2003) autorisierte der Sicherheitsrat den Einsatz einer multinationalen
Friedenstruppe (multinational force) unter Führung der Vereinigten Staaten.472
Die Rolle der UN selbst bei der Verwaltung des Iraks beschränkte sich nach Res.
1483 (2003) auf Förderung, Unterstützung und Mediation, jeweils in Abstimmung
mit der Besatzungsmacht.473 Neben der Koordination humanitärer Hilfe sollte ein
Sondergesandter des Generalsekretärs vor allem in intensiver Zusammenarbeit mit
der Besatzungsmacht und dem irakischen Volk Bemühungen zur Errichtung
repräsentativer Regierungsorgane auf lokaler und nationaler Ebene fördern.474 Um
§ 4 S/RES/1483 (2003) lautet: „Calls upon the Authority, consistent with the Charter and other
relevant international law, to promote the welfare of the Iraqi people through effective administration
of the territory (...)”.
469
§ 9 S/RES/1483 (2003) lautet: „Supports the formation, by the people of Iraq with the help of the
Authority and working with the Special Representative, of an Iraqi interim administration as a transitional administration run by Iraqis, until an internationally recognized, representative government is
established by the people of Iraq and assumes the responsibilities of the Authority”.
470
471
Siehe §§ 12, 13 u. 16 S/RES/1483 (2003).
472
§ 13 S/RES/1511 (2003) vom 16.10.2003.
Siehe § 8 S/RES/1483 (2003). Hmoud, Cornell ILJ 36 (2004), 435 (451) spricht von einer „vital,
yet peripheral (...) role that does not interfere with the overall authority of the Coalition.“, Seidel,
AVR 41 (2003), 449 (479 f.), von einer „nebengeordnete[n] Rolle, die wohl eher den Umstand
verschleiern soll[e], dass die beiden Staaten (...) nunmehr das Kommando übernommen [hätten]“.
Allerdings ist zweifelhaft, ob die UN bereit und in der Lage gewesen wäre, eine deutlich größere
Verantwortung im Irak zu übernehmen.
473
§ 8 (c) S/RES/1483 (2003) lautet: „working intensively with the Authority, the people of Iraq, and
others concerned to advance efforts to restore and establish national local institutions for representative governance, including working together to facilitate a process leading to an internationally recognized, representative government of Iraq“.
474
84
diese bewusst eher vage gehaltenen Aufgaben475 wahrzunehmen, richtete der
Sicherheitsrat im August 2003 die UN Assistance Mission in Iraq (UNAMI) ein.476
Obschon der Generalsekretär den früheren Leiter der UN-Verwaltung in Osttimor,
Sergio Vieira de Mello, zu ihrem Leiter ernannte, entsprach das Mandat der UNAMI
noch nicht einmal dem der UNAMA in Afghanistan.477 Die ohnehin eingeschränkte
Bedeutung der Vereinten Nationen im Irak wurde durch das Bombenattentat auf das
UNAMI-Hauptquartier in Bagdad weiter geschwächt, bei dem neben SRSG Vieira
de Mello vierzehn weitere UN Mitarbeiter ermordet wurden.478 In der Folge stellte
UNAMI ihre Tätigkeit weitgehend ein und hat sie aufgrund der äußerst schwierigen
Sicherheitslage bis heute nur eingeschränkt wieder aufgenommen.479 Dennoch wurde
die Mission jüngst erneut bis zum 11. August 2006 verlängert.480
Die auf die tatsächlichen Verhältnisse im Irak unzureichend vorbereiteten
Besatzungsmächte ernannten im Juli 2003 den sog. Regierungsrat („Governing
Council“).481 Er bestand aus 25 von der CPA halbwegs repräsentativ ausgewählten
Vertretern
der
irakischen
Bevölkerung
und
übernahm
bereits
Regierungsverantwortung.482 Zunächst hatte die CPA geplant, dem Land zügig durch
eine konstitutionelle Versammlung eine Verfassung geben zu lassen, auf deren
475
Grant, AJIL 97 (2003), 823 (830).
476
S/RES/1500 (2003) vom 14.8.2003, dt. Übersetzung in VN 51 (2003), 191-193.
477
Zur Ernennung Vieira de Mellos zu SRSG am 27.5.2003 siehe § 2 des Berichts S/2003/715 des
Generalsekretärs vom 17.7.2003. Zur UNTAET siehe oben 2.Kp. M., zur UNAMA 2.Kp. N. Kirgis,
ASIL-Insights (Mai 2003), 4, und ihm folgend Grant, AJIL 97 (2003), 823 (831), betonen indes zu
Recht, dass S/RES/1483 (2003) dem SRSG viel Spielraum bei der Wahrnehmung und Ausformung
seines Mandats ließ. Viel hing daher von der Persönlichkeit des SRSG und den weiteren Umständen
ab.
478
Siehe §§ 17-20 des Berichts S/2003/1149 des Generalsekretärs vom 5.12.2003.
479
Siehe §§ 24 u. 31 S/2004/1149, ferner §§ 19 f. des Berichts S/2004/959 des Generalsekretärs vom
8.12.2004.
480
Siehe § 1 S/RES/1619 (2005) vom 11.8.2005.
481
Siehe § 1 S/RES/1500 (2003) vom 14.8.2004, ferner Grant, AJIL 97 (2003), 823 (824). Zur
mangelhaften Planung der Besatzungsmächte siehe Scheffer, AJIL 97 (2003), 842 (853-856).
482
Siehe § 24 des Berichts S/2003/715 des Generalsekretärs vom 17.7.2003. In § 4 S/RES/1511
(2003) erkannte der Sicherheitsrat den Regierungsrat ausdrücklich als Interimsregierung (interim
administration) i.S.d. § 9 S/RES/1483 (2003) und Träger der irakischen Souveränität an. Zu Bildung
und Aufgaben des Regierungsrates siehe Nguyen-Rouault, RGDIP 107 (2003), 835 (859 f.), ferner
Cottey, SIPRI-YB 2004, 67 (82).
85
Grundlage sodann Wahlen abgehalten werden sollten.483 Mit der daraus
hervorgehenden irakischen Regierung sollte der Irak auch seine volle Souveränität
wiedererhalten. Die anhaltend schwierige Sicherheitslage machte aber landesweite
Wahlen unmöglich, so dass die Pläne geändert werden mussten.484
Unter Vermittlung des UN Sonderberaters Brahimi und nach ausführlichen
Konsultationen mit Vertretern der irakischen Bevölkerung ernannt die CPA im Juni
2004 eine Interimsregierung (Interim Government) bestehend aus einem Präsidenten,
zwei
Vizepräsidenten
und
einem
von
einem
Premierminister
geleiteten
Ministerkabinett.485 Mit Resolution 1546 bestätigte der Sicherheitsrat einen von der
CPA und dem irakischen Regierungsrat zuvor vorgelegten Zeitplan für die
Wiederherstellung der irakischen Souveränität.486 Zwei Tage vor dem im Zeitplan
vorgesehen Datum endete am 28. Juni 2004 formell die Besatzung, und der Irak
erhielt seine Souveränität zurück.487 Am gleichen Tag stellte die CPA ihre Arbeit ein,
und die Interimsregierung unter Präsident Scheich Ghazi und Premierminister Allawi
übernahm die volle Regierungsverantwortung.488 Ihr wurde ein beratendes
parlamentarisches Gremium, der Interimsnationalrat (Interim National Council), zur
Seite gestellt.489
483
§ 26 S/2003/715.
484
Siehe den Bericht des Sonderberaters des Generalsekretärs Brahimi vom 7.6.2004 (abgedr. als
S/2004/461 Annex), S. 3.
485
Ausführlich dazu der Bericht des Sonderberaters Brahimi, S/2004/461 Annex. Nach Roberts, ICLQ
54 (2005), 27 (37 f.), spielte Brahimi bei der Bildung der Interimsregierung keine wesentliche Rolle
(„was effectively sidelined“).
486
§ 4 S/RES/1546 (2004) vom 8.6.2004, dt. Übersetzung in VN 52 (2004), 110-113.
487
Zwanenburg, IRRC 86 (2004), 745 (752), und Roberts, ICLQ 54 (2005), 27 (37), der anschließend
kritisch beleuchtet, inwieweit der Irak vor dem Hintergrund der im Land verbliebenen
Koalitionstruppen, der anhaltenden Kämpfe und Terrorattentate sowie nur eingeschränkt
funktionierender Institutionen tatsächlich volle Souveränität genießt (ebenda, 39-44): „In short, 28
June 2004 marks an important stage on the road to full resumption of Iraqi sovereignty, not arrival at
that destination“ (ebenda, 46).
488
Aufgrund ihrer fehlenden demokratischen Legitimation war die Interimsregierung indes nicht zu
Entscheidungen berechtigt, welche die Zukunft des Iraks über den Zeitpunkt hinaus betrafen, an dem
die demokratisch gewählte Übergangsregierung die Regierungsgewalt übernahm (§ 1 S/RES/1546
(2004)). Wie Roberts, ICLQ 54 (2005), 27 (42), bemerkt, sind ihre Befugnisse damit ähnlich
eingeschränkt wie die einer Besatzungsmacht.
489
Dieses war im August 2004 von einer aus 1.100 ernannten Delegierten bestehenden nationalen
86
Beide wurden im Frühjahr 2005 durch das aus den ersten freien Wahlen am 30.
Januar 2005490 hervorgegangene Übergangsparlament (Transitional National
Assembly) und die von ihm gewählte Übergangsregierung (Transitional Government)
ersetzt.491 Weitere Aufgabe des Übergangsparlaments ist die Ausarbeitung einer
endgültigen Verfassung, die im Wege des Referendums bis Mitte Oktober 2005
angenommen werden soll. Nach ihrem Inkrafttreten sollen erneut Wahlen
ausgeschrieben werden, so dass der Irak noch 2005 über ein demokratisch
legitimiertes und verfassungsgemäß konstituiertes Parlament und eine ebensolche
Regierung verfügen soll.492 Ob dieser Zeitplan noch eingehalten werden kann, ist
angesichts
der
Probleme
des
Parlaments,
sich
auf
einen
gemeinsamen
Verfassungsentwurf zu einigen, gegenwärtig fraglich.493
In Resolution 1546 beschloss der Sicherheitsrat ferner eine gewisse Ausdehnung des
Mandates der UNAMI.494 Sie soll insbesondere bei der Organisation der Wahlen und
bei der Ausarbeitung einer Verfassung beratend und unterstützend tätig werden. Die
eigenständige Wahrnehmung exekutiver Aufgaben ist ihr nicht zugewiesen. Der neue
Aufgabenbereich der UNAMI entspricht damit in etwa dem der UNAMA. Das mag
wie im Falle Afghanistans an der Größe des Landes sowie daran liegen, dass es sich
Konferenz gewählt worden. Zu diesem Prozess siehe §§ 13-23 des Berichts S/2004/710 des
Generalsekretärs vom 3.9.2004.
490
Zur Rolle der UNAMI bei der Vorbereitung der Wahlen siehe §§ 9 f. des Berichts S/2004/959 des
Generalsekretärs vom 8.12.2004 und §§ 17-28 des Berichts S/2005/141 vom 7.3.2005; ferner FAZ
vom 24.1.2005, S. 8. Zum Ablauf der Wahlen allgemein §§ 3-6 S/2005/141, ferner SZ vom 31.1.2005,
S. 1.
491
Zum Ergebnis der Wahlen siehe Burns/Glanz, Iraqi Shiites Win, but Margin is Less than
Projection, NYT vom 14.2.2005; ferner Münch, Neuland im Zweistromland, SZ vom 15.2.2005, 8.
Zur Bildung der Übergangsregierung siehe §§ 3-13 des Berichts S/2005/323 des Generalsekretärs vom
7.6.2005.
492
§ 9 S/2004/959; Chronik, FAZ vom 24.1.2005, 8. Dies entspräche den Vorgaben von § 4 (c)
S/RES/1546 (2004).
493
Bislang konnten sich die Parlamentarier jedoch noch nicht einigen, so dass die Frist zur Vorlage
eines Verfassungsentwurfs am 15.8.2005 um zunächst eine Woche verlängert wurde. Besondere
Schwierigkeiten sind die künftige föderale Struktur des Iraks, die Rechte der Frau und die Beteiligung
der Sunniten am Verfassungsprozess, da diese aufgrund ihres Wahlboykotts im Übergangsparlament
nur unzureichend vertreten sind. Ob der Zeitplan noch eingehalten werden kann, ist offen. Siehe zum
Ganzen beispielsweise Filkins/Glanz, Leaders in Iraq Extend Deadline on Constitution, NYT vom
16.8.2005; und Dschaafari mahnt zu Geduld, FAZ vom 17.8.2005, S. 1; ferner ICG, Iraq: Don’t Rush
the Constitution (2005).
494
§ 7 S/RES/1546 (2004).
87
zumindest formal um einen unabhängigen und souveränen Staat handelt.
Tatsächlich werden weite Teile der irakischen Politik weiter von den USA bestimmt.
Insbesondere im Sicherheitsbereich sind die Mitgliedstaaten der Coalition of the
Willing weiter weitgehend alleinverantwortlich. Auf ausdrücklichen Wunsch der
irakischen Interimsregierung hatte der Sicherheitsrat das Mandat der multinationalen
Truppen (multinational force) verlängert.495 Diese sollte ihre Aufgaben bei der
Sicherstellung der öffentlichen Sicherheit im Lande progressiv auf die irakischen
Sicherheitskräfte übertragen. Insbesondere aufgrund der Schwierigkeiten bei der
Ausbildung irakischer Polizisten und Soldaten hat sich die angekündigte und vom
Sicherheitsrat angeordnete echte Partnerschaft in Sicherheitsfragen noch immer nicht
voll verwirklichen lassen.496
Obschon die UN bei der internationalen Verwaltung des Irak nur eine Nebenrolle
spielte, war zumindest der Sicherheitsrat durch den Erlass der Resolutionen 1483,
1511 und 1546 nicht unwesentlich beteiligt.497 Ob es sich bei der CPA um einen
einmaligen Sonderfall oder ein Modell mit Vorbildcharakter handelt, bleibt
abzuwarten. Maßgeblich wird sein, inwieweit es den Mitgliedern des Sicherheitsrates
gelingt, dessen Hauptrolle bei der Wahrung der internationalen Sicherheit und des
Weltfriedens wieder herzustellen.
495
§ 10 S/RES/1546 (2004). Der Sicherheitsrat hat dieses Mandat ausdrücklich von der fortdauernden
Zustimmung der irakischen Regierung abhängig gemacht (ebenda, § 12).
Eine „full partnership between Iraqi security forces and the multinational force“ ordnete der
Sicherheitsrat in § 11 a.E. S/RES/1546 (2004) an. Dieser Anordnung liegen die Briefe des irakischen
Premierministers Allawi und des US-amerikanischen Außenministers Powell vom Juni 2004 (abgedr.
als Annex zu S/RES/1546 (2004)) zugrunde.
496
497
Zur rechtlichen Bedeutung dieser Resolutionen siehe unten 3.Kp. D.IV.4.
88
3. Kapitel:
Die Rechtsgrundlagen für
UN-Gebietsverwaltungen
„My hon. Friend is now asking me to put the territory
under the United Nations. There is no provision in the
United Nations Charter for accepting the sovereignty of
this or any other part of the world.”498
Die Charta der Vereinten Nationen kennt nur eine explizite Ermächtigung zu einer
Gebietsverwaltung durch die Organisation selbst: Art. 81 Satz 2 erlaubt es, anstatt
einzelner Staaten auch die Vereinten Nationen als Verwaltungsmacht eines
Treuhandgebietes einzusetzen. Daraus wurde teilweise e contrario geschlossen, dass
ihnen eine Gebietsverwaltung in allen anderen Fällen verwehrt sei.499 Auch wenn
diese Auffassung nicht mehr vertreten wird, ist die Frage der Zulässigkeit einer UNGebietsverwaltung und ihrer rechtlichen Voraussetzungen bis heute nicht
abschließend geklärt. Im Folgenden soll deshalb untersucht werden, auf welche
rechtlichen
Grundlagen
die
Vereinten
Nationen
die
Einrichtung
von
Gebietsverwaltungen stützen können. Dabei wird aufgrund ihrer praktischen
Bedeutung mit den Verwaltungskompetenzen des Sicherheitsrates begonnen (B. und
C.), bevor auf entsprechende Befugnisse der Generalversammlung eingegangen wird
(D.). Auch auf die Frage, inwiefern der Treuhandrat de lege lata für die Verwaltung
von Krisengebieten reaktiviert werden könnte, wird kurz eingegangen (E.).
Abschließend
wird
untersucht,
Verwaltungskompetenzen
an
inwieweit
Nebenorgane
die
und
genannten
dritte
Organe
ihre
Völkerrechtssubjekte
delegieren dürfen (F.). Im Vorfeld bedarf es aber zunächst der Klärung einiger
allgemeinen Fragen zur Rechtsgrundlage (A.).
498
Erklärung des brit. Außenministers vom 25.4.1956 zur Zukunft der Antarktis, abgedr. bei E. Lauterpacht, ICLQ 5 (1956), 405 (410).
499
Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 651.
89
A.
Vorbereitende Überlegungen zur Rechtsgrundlage
Zunächst ist kurz zu erläutern, warum es überhaupt für die Verwaltung von
Krisengebieten einer Rechtsgrundlage bedarf (I.), welchen Umfang diese haben muss
(II.) und inwieweit ein Staat in die Verwaltung seines Staatsgebietes durch die
Vereinten Nationen einwilligen kann (III.).
I.
Erforderlichkeit einer Rechtsgrundlage
Die Übernahme der Verwaltung eines Krisengebiets durch die Vereinten Nationen
bedarf aus zwei Gesichtspunkten einer Rechtsgrundlage. Einerseits sind die
Vereinten Nationen als gekorenes Völkerrechtssubjekt nur zu jenen Maßnahmen
befugt, zu denen sie ihre Mitgliedstaaten ermächtigt haben. Andererseits stellt die
Ausübung
staatlicher
Befugnisse
durch
einen
externen
Akteur
einen
schwerwiegenden Eingriff in die territoriale Souveränität des betroffenen Staates dar.
Organisationsimmanent bedarf die UN einer Rechtsgrundlage, weil sie als
internationale Organisation grundsätzlich nicht mehr Aufgaben wahrnehmen und
Befugnisse ausüben kann, als ihr von ihren Mitgliedern übertragen wurden.500 Da ihr
die Fähigkeit, sich selbst Aufgaben und Zuständigkeiten zuzuweisen – die so
genannte Kompetenz-Kompetenz –, in der Charta nicht gegeben wurde501, muss eine
jede ihrer Tätigkeiten eine explizite oder implizite Grundlage in der Charta
vorweisen können.502 Dies gilt auch für den Sicherheitsrat als ihr wesentliches Organ
zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit.503 Auch
unabhängig von einem Eingriff in die territoriale Souveränität eines Staates bedarf es
mithin für die Einrichtung einer Gebietsverwaltung durch die Vereinten Nationen
500
Franck, in: Dupuy (Hrsg.), Rôle du Conseil de Sécurité (1993), S. 83 f. So für internationale Organisationen allgemein bereits StIGH, Commission of the Danube (Gutachten vom 8.12.1927), PCIJ
Ser. B, No. 14, 64; ihm folgend IGH, Use of Nuclear Weapons (Gutachten), ICJ-Rep. 1996, 66 (78 f.
§ 25); Seidl-Hohenveldern/Loibl, Internationale Organisationen (2000), Rn. 1507; Zuleeg, Implied
Powers, EPIL II (1995), 1312 (1312). Für den Sicherheitsrat Frowein/Krisch, Introduction to Chapter
VII (2002), Rn. 25; Franck, Fairness in International Law (1995), S. 219; Schermers/Blokker,
International Institutional Law (1995), § 209 m.w.N.
501
So für den Sicherheitsrat Frowein/Krisch, Introduction to Chapter VII (2002), Rn. 25.
502
Franck, in: Dupuy (Hrsg.), Rôle du Conseil de Sécurité (1993), S. 83 f.
90
einer wie auch immer gearteten Rechtsgrundlage in der Charta.504
Ferner bedarf aber auch der mit der Einrichtung einer UN-Verwaltung verbundene
Eingriff in die Souveränität des Territorialstaates einer Rechtfertigung. Die
Ausübung staatlicher Gewalt innerhalb seines Staatsgebietes – und um nichts anderes
handelt es sich bei der Wahrnehmung der Verwaltungshoheit – ist grundsätzlich
allein Aufgabe des Territorialstaats. Die Tatsache, dass die Art und Weise der
Hoheitsausübung inzwischen zahlreichen völkerrechtlichen Normen unterliegt,
ändert nichts daran, dass die tatsächliche Wahrnehmung dieser Aufgabe zum
Kernbereich staatlicher Tätigkeit und somit zu seinem domaine réservé gehört.505 So
unterliegt ein Staat zwar zahlreichen menschenrechtlichen Verpflichtungen. Diese
schreiben aber in der Regel nur ein Ziel vor – auf welche Art und Weise er dies
erreicht, gehört zu seinen inneren Angelegenheiten.506 Selbst wo internationale
Menschenrechtsinstrumente bestimmte Methoden vorgeben, beispielsweise den
Zugang zu Gerichten, bleibt die Umsetzung in der Verantwortung des Staates. Die
Vereinten Nationen sind jedenfalls durch Art. 2 Ziff. 7 der Charta dazu verpflichtet,
die territoriale Souveränität ihrer Mitgliedstaaten zu wahren. Ohne eine gesonderte
Ermächtigung sind die UN daher daran gehindert, das Staatsgebiet eines
Mitgliedstaates
zu
verwalten.
Eine
Ausnahme
ist
ausdrücklich
nur
für
Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII der Charta vorgesehen.
503
Akande, ICLQ 46 (1997), 309 (315).
504
Bowett, UN Forces (1964), S. 422. In diese Richtung auch Rothert, Columbia JTL 39 (2000), 257
(262), der auch bei Einwilligung des Territorialstaates verlangt, dass das Handeln der UN den Zielen
und Grundsätzen der Organisation dient.
505
Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 298. So erklärt die Friendly Relations Declaration
die Unverletzlichkeit der territorialen Integrität und der politischen Unabhängigkeit jedes Staates,
sowie ihr Recht „freely to choose and develop its political, social, economic and cultural systems”
(Prinzip VI (d) und (e), Annex A/RES/2625 (XXV) vom 24.10.1970. IGH, Nicaragua (merits), ICJRep. 1986, 14 (106 § 202 und 107 f. § 205). Diese Rechte werden einem Staat jedoch verwehrt, wenn
er unter UN-Verwaltung gestellt wird. Die vollständige Übernahme staatlicher Funktionen sieht auch
Gordon, Cornell I.L.J. 28 (1995), 301 (330) als Eingriff in den domaine réservé an. Allgemein zum
domaine réservé der UN-Mitgliedstaaten Seidl-Hohenveldern/Loibl, Internationale Organisationen
(2000), Rn. 1508 u. 1510.
So führt beispielsweise Georg Schwarzenberg aus: „[I]n the Charter, a clear distinction is drawn
between the promotion and encouragement of respect for human rights, and the actual protection of
these rights. The one is entrusted to the United Nations. The other remains the prerogative of each
Member State” (ders., Power Politics: A Study of World Society (1964), S. 462 (zitiert nach
Mégret/Hoffmann, HRQ 25 (2003), 314 [320]). Ähnlich auch Nolte, Art. 2 VII SVN (2002), Rn. 42.
506
91
II.
Einwilligung durch den Territorialstaat
Fraglich ist jedoch, inwieweit ein Mitgliedstaat auf den ihm in Art. 2 Ziff. 7 SVN
gewährten Schutz verzichten kann. Das setzt zum Einen voraus, dass der genannte
Artikel dispositiv ist, zum Anderen, dass ein derart weitreichender Hoheitsverzicht
eines Staates völkerrechtlich zulässig ist.
1.
Art. 2 Ziff. 7 SVN als dispositives Recht
Gegen die Ansicht, dass das Verbot der Einmischung in ihre inneren
Angelegenheiten zur Disposition der Mitgliedstaaten steht, sprechen in erster Linie
systematische Erwägungen. Art. 2 Ziff. 7 SVN ist als Grundprinzip der Vereinten
Nationen gefasst. Als solches könnte es den Charakter eines Strukturprinzips haben,
welches die Organisation unabhängig vom Willen des betroffenen Mitgliedstaates
zur Zurückhaltung verpflichtet.507 Dafür spräche, dass Art. 2 Ziff. 7 SVN anders als
die entsprechende Norm der Völkerbundsatzung nicht als vom betroffenen Staat
ausdrücklich zu erhebende Einrede formuliert ist, also quasi von Amts wegen zu
beachten ist.508
Im Übrigen spricht der Wortlaut aber eher dafür, dass die Norm einer UN-Mission,
die mit Zustimmung des betroffenen Staate erfolgt, nicht entgegenstünde. Art. 2 Ziff.
7 SVN lautet im englischen Original: „Nothing contained in the present Charter
shall authorize the United Nations to intervene (…)” (Hervorhebungen durch den
Verfasser). Dies besagt, dass eine solche Ermächtigung zur Einmischung in innere
Angelegenheiten nicht aus der Charta herausgelesen werden darf. Im Falle der
Einwilligung des betroffenen Staates liegt dieser Ermächtigung aber weniger in der
UN-Charta als vielmehr in der Einwilligung. Ferner ist der Tatbestand erst bei einem
507
So argumentierte US-Außenminister Dulles, Art. 2 Abs. 7 SVN behandle die inneren
Angelegenheiten (domestic jurisdiction) als „basic principle” (UNCIO Doc. 1019, I/i/42, 1 vom
16.6.1945, abgedr. in UNCIO VI, 507). Für ein prinzipielles Verbot auch Schaefer, Funktionsfähigkeit
(1981) S. 168, offenlassend Szasz, Georgia JI&CL 13 (1983), 345 (353 f.).
Art. 15 Abs. 8 der Satzung des Völkerbundes lautet: „If the dispute between the parties is claimed
by one of them, and is found by the Council, to arise out of a matter which by international law ist
solely within the domestic jurisdiction of that party, the Council shall so report and shall make no
recommendations as to its settlement.” Zu Art. 15 Abs. 8 SVB allgemein siehe Schücking/Wehberg,
SVB-Kommentar (1924), S. 588-592.
508
92
Eingreifen im Sinne einer Intervention eröffnet. Dies setzt ein Handeln gegen oder
zumindest ohne den Willen des Betroffenen voraus509. Im Nicaragua-Urteil hat der
IGH zum allgemeinen völkerrechtlichen Interventionsverbot ausgeführt, dass es
gerade ein Element von Zwang sei, das die verbotene Intervention charakterisiere510.
Selbst wenn man diesen Grundsatz nicht auf das organisationsbezogenen
Interventionsverbot des Art. 2 Ziff. 7 SVN übertrüge, ist der Schutzzweck der Norm
zu berücksichtigen. Art. 2 Ziff. 7 SVN enthält ein Abwehrrecht der Mitgliedstaaten
gegenüber den Vereinten Nationen511. Stimmen diese der „Einmischung“ zu oder
fordern die UN sogar zu einem Tätigwerden auf, bedürfen diese keines Schutzes. Es
ist daher davon auszugehen, dass jeder Mitgliedstaat grundsätzlich auf den ihm durch
Art. 2 Ziff. 7 der Charta gewährten Schutz verzichten kann.512
2.
Völkerrechtliche Vorgaben
Zu prüfen bleibt, ob der vollständige und umfassende Verzicht eines Staates auf die
Ausübung seiner Verwaltungshoheit völkerrechtlich zulässig ist. Generell scheint es
ratione materiae wenig zu geben, in das Staaten nicht einwilligen können. Der
Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1990 zeigt, dass Staaten
selbst in den völligen Verlust ihrer Eigenstaatlichkeit einwilligen können.513 Der
Ständige Internationale Gerichtshof (StIGH) hat dies 1931 in seinem Gutachten zur
deutsch-österreichischen Zollunion implizit bestätigt.514 Deutschland, Österreich-
509
Gordon, Michigan JIL 15 (1994), 519 (537); Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 301;
Rothert, Columbia JTL 39 (2000), 257 (262).
510
IGH, Nicaragua (merits), ICJ-Rep. 1986, 14 (107 §205).
511
Nolte, Art. 2 VII SVN (2002), Rn. 3. Auch US-Außenminister Dulles begründete die gegenüber
Art. 15 Abs. 8 SVB weitere Fassung des Art. 2 Abs. 7 SVN mit den umfangreicheren Befugnissen der
Vereinten Nationen, die einen erweiterten Schutz der Mitgliedstaaten vor unzulässigen Einwirkungen
erfordere (UNCIO Doc. 1019, I/i/42, S.1 f. vom 16.6.1945, abgedr. in UNCIO VI, 507 f.).
512
So im Ergebnis auch Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. S. 302; Nolte, Art. 2 VII SVN
(2002), Rn. 58 und – im Hinblick auf die UN-Mission im Kongo (ONUC) Richter Bustamente, Diss.
Op., Certain Expenses-Gutachten, ICJ-Reports 1962, 288 (297). Stahn, ZaöRV 61 (2001), 107 (130),
führt als weiteres Argument an, dass eine UN-Verwaltung einen Staat gerade dazu befähigen solle,
seine Souveränität effektiv wahrnehmen zu können. Daher sei schwach, dem die
souveränitätsschützende Vorschrift des Art. 2 Ziff. 7 SVN entgegenzuhalten.
513
So auch Anzelotti, Sep. Op., StIGH, Customs Régime, PCIJ Ser. A/B, No. 41, 35 55 (59).
514
StIGH, Customs Régime, PCIJ Ser. A/B, No. 41, 35 (49). Dort verhinderten lediglich gegenteilige
vertragliche Verpflichtungen eine Teilnahme Österreichs an besagter Zollunion.
93
Ungarn und das Osmanische Reich verzichteten nach dem ersten Weltkrieg auf
erhebliche Teile ihres Staatsgebietes. Im Friedensvertrag mit den Alliierten vom 10.
Februar 1947 verzichtete Italien auf alle seine territorialen Besitztümer in Afrika.515
Ähnlich ist die Erklärung Jordaniens vom 31. Juli 1988 zu deuten, derzufolge es
sämtliche administrativen und rechtlichen Beziehungen zum Westjordanland
beende.516 Ist es aber rechtlich möglich, dauerhaft sämtliche staatliche Rechte über
ein Gebiet abzutreten, muss es de maiore ad minus zulässig sein, einem Dritten wie
den Vereinten Nationen für einen begrenzten Zeitraum zu gestatten, das fragliche
Gebiet zu verwalten.
Grundsätzlich kann ein Staat daher der Verwaltung seines Staatsgebiets durch einen
Drittstaat oder eine internationale Organisation zustimmen.517 Er verzichtet dann auf
seine Rechte aus Art. 2 Ziff. 7 SVN.518 Wirksam ist diese Einwilligung allerdings
nur, wenn sie nicht durch Drohung, Täuschung oder Irrtum zustande kam.519 Der
betroffene Staat kann sie im konkreten Einzelfall geben – etwa in Form eines mit den
Vereinten
Nationen
geschlossenen
völkerrechtlichen
Vertrages.
Die
UN-
Mitgliedstaaten haben aber möglicherweise ihre Einwilligung zu einer Verwaltung
ihres Territoriums durch die Vereinten Nationen schon in genereller Form erteilt.
Gemäß Art. 2 Ziff. 7 SVN sind Maßnahmen des UN-Sicherheitsrats vom Verbot der
Einmischung in innere Angelegenheiten ausdrücklich ausgenommen. Geht man
davon aus, dass die Einrichtung von UN-Verwaltungen zulässigerweise auf Kapitel
VII der UN-Charta gestützt werden kann,520 so stellt Art. 2 Ziff. 7 a.E. der Charta
eine diesbezügliche abstrakte-generelle Einverständniserklärung der Mitgliedstaaten
dar, bedingt allein durch das gleichzeitige Vorliegen der Voraussetzungen des Art.
515
Art. 23 des Friedensvertrag mit Italien (10. Februar 1947), abgedruckt in UNYB 1948/49, 256.
516
Zu dieser Erklärung siehe Boyle, Palestine, EJIL I (1990), 301 (301).
517
Stahn, ZaöRV 61 (2001), 107 (130). Nolte, Art. 2 VII SVN (2002), Rn. 58, hält Art. 2 Ziff. 7 SVN
in diesen Fällen für unanwendbar („inoperable“).
518
Franke, UN Operation im Kongo (1978), S. 195; Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. S.
300.
519
Artikel 48-51 WVK (1969) geben insoweit ein allgemeines Rechtsprinzip wieder.
520
Siehe dazu unten 3.Kp. C.
94
39 der Charta.521 Mithin lässt sich feststellen, dass die Verwaltungen eines Gebietes
durch die Vereinten Nationen keinen unzulässigen Eingriff in die Souveränität des
betroffenen Staates darstellt, wenn dieser darin eingewilligt hat.
Die Unterscheidung zwischen solchen Rechtsgrundlagen für die Einrichtung von
UN-Verwaltungen, die im konkreten Einzelfall der Zustimmung des betroffenen
Souveräns bedürfen, und solchen, die den UN die Einrichtung einer solchen
Verwaltung auch ohne dessen Einwilligung erlauben, ist dabei eine ganz
wesentliche. Als Rechtsgrundlage für letzteres kommt allein ein Tätigwerden des
Sicherheitsrats auf der Grundlage des Kapitels VII der Charta in Frage. Dagegen
kommen für die einvernehmliche Einrichtung einer UN-Verwaltung sowohl andere
Rechtsgrundlagen als auch andere Organe in Betracht.
III.
Die Unterscheidung zwischen Verwaltung und Souveränität
Fraglich ist, in welchem Umfang die gesuchte Rechtsgrundlage die Vereinten
Nationen ermächtigen muss. Die früher geltend gemachten Einwände gegen eine
UN-Territorialregierung stützten sich wie das eingangs aufgeführte Zitat darauf, dass
die Charta die Vereinten Nationen nicht ermächtige, die Souveränität über ein Gebiet
zu übernehmen.522 Dieser Einwand geht vorliegend jedoch unabhängig davon fehl,
ob er in der Sache zutreffend ist. Vielmehr ist zwischen der Verwaltungskompetenz
über ein Gebiet einerseits und der auf das Gebiet bezogenen territorialen
Souveränität andererseits zu unterscheiden.
Die Befugnis, exklusiv Hoheitsgewalt innerhalb seines Staatsgebietes auszuüben, ist
zwar ein wesentlicher Teil der territorialen Souveränität eines Staates, aber eben nur
ein Teil. Ihr eigentliches Kernelement ist das Recht, über das Gebiet verfügen zu
521
Bustamente, Diss. Op., Certain Expenses-Gutachten, ICJ-Reports 1962, 288 (295). Winiarski,
Diss. Op., Certain Expenses-Gutachten, ICJ-Reports 1962, 227 (233) spricht davon, dass die
Mitgliedstaaten für den Fall einer bindenden Entscheidung des Sicherheitsrats nach Kapitel VII der
Charta in eine Beschränkung ihrer Souveränität eingewilligt hätten. Ähnlich Delbrück, Art. 24 SVN
(2002), Rn. 11, und Matheson, AJIL 95 (2001), 76 (84).
522
So der brit. Außenminister in seiner bei E. Lauterpacht, ICLQ 5 (1956), 405 (411), abgedruckten
Erklärung, und Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 651.
95
können, mithin seinen völkerrechtlichen Status frei verändern zu können.523 Beide
Befugnisse sind normalerweise in der Hand des selben Völkerrechtssubjekts – des
Territorialstaates – vereinigt. Es besteht aber kein rechtlicher Grund, der sie hindert,
auseinander zu fallen.524 Vielmehr besteht die Befugnis des Territorialstaates zur
Verfügung über sein Gebiet unabhängig davon fort, ob er die Verwaltungskompetenz
vorübergehend einem Dritten übertragen hat.525 So blieb China auch während der
Verpachtung Hongkongs an Großbritannien territorialer Souverän, und die
Übernahme der Verwaltungshoheit 1945 bewirkte nicht die Annexion des deutschen
Staatsgebietes durch die Alliierten.526 Auch die UN-Charta erkennt dieses Konzept
an, wenn sie die für die Treuhandgebiete zuständigen Staaten als Verwaltungsmächte
(„administering authority“) bezeichnet.527
Es ist daher vorliegend ohne Bedeutung, ob die Charta den Vereinten Nationen die
Übernahme territorialer Souveränität erlaubt oder nicht. Ausreichend ist vielmehr,
dass sie ihnen die Kompetenz zur Gebietsverwaltung gewährt.528 Art. 81 Satz 2 SVN
macht dabei deutlich, dass die Charta der UN diese Befugnis zumindest nicht
grundsätzlich verweigert. Die Frage, inwieweit sie zur Verfügung über ein
Krisengebiet berechtigt ist, kann daher einstweilen dahinstehen.529
523
Kohen, Possession contestée (1997), S. 77.
524
E. Lauterpacht, ICLQ 5 (1956), 405 (410).
525
Kohen, Possession contestée (1997), S. 77 f. Etwas anderes mag in jenen Fällen gelten, in denen
die Übertragung zeitlich unbegrenzt erfolgte und eine Rückgabe einzig vom Willen des verwaltenden
Dritten abhängt.
526
E. Lauterpacht, ICLQ 5 (1956), 405 (410). Kohen, Possession contestée (1997), S. 81, nennt als
weitere Beispiele Zypern, den Panama-Kanal und die Verwaltung des Saargebietes nach dem ersten
Weltkrieg.
527
Kohen, Possession contestée (1997), S. 80.
528
Auch Stahn, MP-UNYB 5 (2001), 105 (119) nimmt im Falle der UN-Verwaltungen des Kosovo
und Osttimors ein Auseinanderfallen von Souveränität und Verwaltungshoheit an.
529
Zu dieser Frage siehe unten 4.Kp. E.II und III.
96
B.
Krisengebietsverwaltung auf Grundlage der Peacekeeping-Befugnis
des Sicherheitsrates (Art. 24 Abs. 1 SVN)
Der Sicherheitsrat stellt im Bereich der internationalen Friedenssicherung das
wichtigste Organ der Vereinten Nationen dar. In der Tat sind fast alle UNGebietsverwaltungen
unter
seiner
Ägide
durchgeführt
worden.530
Zwei
Rechtsgrundlagen kommen für sein Tätigwerden in Frage: Seine Befugnis zu
Zwangsmaßnahmen (Kapitel VII SVN) und seine Befugnis, im Einvernehmen mit
dem betroffenen Staat als friedenserhaltende Maßnahme Truppen und ziviles
Personal zu entsenden. Die Letztgenannte wird im Folgenden unter Rückgriff auf die
gebräuchlichere englische Bezeichnung als Peacekeeping-Befugnis bezeichnet.531
Der
historischen
Entwicklung
folgend
bildet
sie
den
ersten
Untersuchungsgegenstand. Nach einer kurzen Herleitung dieser Befugnis aus dem
Recht der Charta (I.) wird untersucht, inwiefern sie dem Sicherheitsrat die
Einrichtung einer Gebietsverwaltung erlaubt (II.).Die so gewonnenen Erkenntnisse
werden anhand zweier Fallbeispiele überprüft (III.).Die Untersuchung der
Befugnisse des Sicherheitsrates unter Kapitel VII der Charta bildet einen
eigenständigen Abschnitt, der auf diesen folgt.532
I.
Die Grundlage in der Charta
Auf die Peacekeeping-Befugnis hat der Sicherheitsrat bis Mitte der neunziger Jahre
des vorigen Jahrhunderts den Großteil der sog. Blauhelmmissionen gestützt.533
Wesentliche Merkmale einer auf diese Kompetenz gestützten Maßnahme sind, dass
sie zur Friedenssicherung erfolgt und dass sie – im Gegensatz zu einer auf Kapitel
VII der Charta gestützten Zwangsmaßnahme – der Zustimmung des betroffenen
530
Ausnahmen sind lediglich UNTEA in West-Neuguinea und das nicht realisierte Jerusalem-Projekt.
Siehe dazu oben 2.Kp. F. und C.
531
Zur Peacekeeping-Befugnis als mögliche Rechtsgrundlage für eine UN-Verwaltung auch Muharremi, Treuhandverwaltung (2005), S. 63-70.
532
Siehe unten 3.Kp. C.
533
Zu den charakteristischen Merkmalen dieser oft als Peacekeeping der ersten Generation
bezeichneten Operationen siehe statt vieler Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 20-25.
97
Territorialstaates bedarf.534 Trotz einer langjährigen und gefestigten Praxis des
Sicherheitsrates, derartige konsensgestützte Friedensmissionen zu entsenden, ist die
genaue Verortung dieser Befugnis bis heute umstritten.535 Es fehlt an einer explizten
Ermächtigung in der Charta.536 So wurden und werden alternativ die Artikel 24, 29,
34, 36, 39, 40, 41, 42 und 48 SVN als Rechtsgrundlage genannt.537 Letztlich „passt“
aber keine dieser Normen wirklich, so dass davon ausgegangen werden muss, dass
das ursprüngliche Konzept der Charta derartige Maßnahmen nicht vorsah.538
Dies hat jedoch nicht die Rechtswidrigkeit der Peacekeeping-Missionen zur Folge.
Vielmehr ist die UN-Charta wie alle konstituierenden Verträge internationaler
Organisationen teleologisch auszulegen.539 Bei den Vereinten Nationen ist wie bei
anderen internationalen Organisationen davon auszugehen, dass ihr von ihren
Mitgliedern nicht nur bestimmte Aufgaben, sondern auch die zur Erfüllung dieser
Aufgaben erforderlichen Kompetenzen übertragen wurden. Wo es an entsprechenden
expliziten Befugnissen im Gründungsdokument fehlt, ist deshalb nach der sog.
implied
powers-Doktrin
von
einer
impliziten,
ungeschriebenen
534
UN Special Committee on Peace-keeping Operations (UN Spec.Com. on PKO), Art. 9 der Draft
formulae for agreed guidelines for United Nations Peace-keeping Operations, A/32/394, Annex II,
Appendix I vom 2.12.1977; Boutros-Ghali, Suppl. to an Agenda for Peace (1995), A/50/60 S/1995/1, § 33; §§ 9 u. 36 des Report of the Spec.Com. on PKO 2004, A/58/19 vom 26.4.2004; ferner
aus der Literatur Garvey, AJIL 64 (1970), 241 (241); Franke, UN Operation im Kongo (1978), S.
247;Ciobanu, in: Cassese (Hrsg.), UN Peace-keeping (1978), S. 38; Di Blase, in: Cassese (Hrsg.), UN
Peace-keeping (1978), 55 (55); Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht (1984), § 256; Hufnagel,
UN-Friedensoperationen (1996), S. 24; Suy, UN Peacekeeping, EPIL IV (2000), 1143 (1145); Bothe,
Peace-keeping (2002), Rn. 72. Die Anwendung von Zwang gegen einen Staat als wesentliches
Merkmal einer Zwangsmaßnahme nach Kapitel VII geht zurück auf IGH, Certain ExpensesGutachten, ICJ-Rep. 1962, 151 (170 f. u. 177); dem folgend Bowett, UN Forces (1964), S. 266.
535
Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 25.
536
Bothe, Peace-keeping (2002), Rn. 83; Orakhelashvili, Virginia JIL 43 (2003), 485 (489).
537
Siehe die Diskussion nebst Nachweisen bei Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 25-30.
Nach funktionalen Gesichtspunkten differenzierend Orakhelashvili, Virginia JIL 43 (2003), 485 (489498).
538
Tomuschat, in: Koch (Hrsg.), Blauhelme (1991), S. 47 f.
539
Sarooshi, BYIL 67 (1996), 413 (424). Dieser in Art. 31 Abs. 1 WVK (1969) a.E. niedergelegte
Grundsatz wurde beispielsweise angewendet von StIGH, Polish Postal Service (Gutachten vom
16.5.1925), PCIJ Ser. B, No. 11, 37; IGH, Reparations for Injuries, ICJ-Rep. 1949, 174 (182 f.); IGH,
Genocide Convention-Gutachten, ICJ-Rep. 1951, 15 (22); und IGH, Privileges and ImmunitiesGutachten, ICJ-Rep. 1989, 177 (196 § 53). Zur Entwicklung dieses Grundsatzes in der
Rechtsprechung von StIGH und IGH siehe Gordon, Constitutive Treaties, AJIL 59 (1965), 794-833
(815 f.).
98
Kompetenzübertragung auszugehen.540 So erklärte der UN-Generalsekretär bereits
1947 im Hinblick auf die dem Sicherheitsrat in Art. 24 Abs. 1 der Charta
übertragenen Aufgaben:
„[T]he responsibility to maintain peace and security carrie[s] with it a power
to discharge this responsibility. (…) [T]his (…) reflects a basic conception of
the Charter, namely, that the Members of the United Nations have conferred
upon the Security Council powers commensurate with its responsibility for the
maintenance of peace and security.”541
Der IGH bestätigte in seinem Namibia-Gutachten von 1971 ausdrücklich, dass der
Sicherheitsrat zu Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit neben
den in Art. 24 Abs. 2 Satz 2 SVN aufgeführten Befugnissen auch über allgemeine,
ungeschriebene Kompetenzen verfüge.542 Dies entspricht auch der Auffassung der
Gründungsmitglieder, welche die Befugnisse des Sicherheitsrates ausdrücklich nicht
auf die in Art. 24 Abs. 2 Satz 2 SVN genannten beschränkt wissen wollten.543
Dogmatisch
sind
diese
allgemeinen,
ungeschriebenen
Befugnisse
als
generalklauselartige Auffangkompetenz für jene Fälle einzustufen, denen der
Sicherheitsrat mit den in Art. 24 Abs. 2 Satz 2 SVN genannten Mitteln nicht adäquat
begegnen kann.544 Ohne eine solche Auffangkompetenz würde der Sicherheitsrat
seiner Hauptverantwortung, der Wahrung des Weltfriedens und der internationalen
Sicherheit, weit schwerer gerecht werden können.545 Denn die Gründungsmitglieder
konnten kaum alle möglichen Entwicklungen im Bereich der internationalen
Sicherheit voraussehen.
Mangels einschlägiger expliziter Normen der Charta sind diese implied powers als
540
IGH, Reparations for Injuries, ICJ-Rep. 1949, 174 (182); Seyersted, BYIL 37 (1961), 351 (447460); Zuleeg, Implied Powers, EPIL II (1995), 1312 (1312).
541
Vorgebracht in der 91. Sitzung des Sicherheitsrates am 10. Januar, S.C.O.R., S/P.V./91, 6 (11).
542
IGH, Namibia-Gutachten, ICJ-Rep. 1971, 16 (52 § 110).
543
Dies ergibt sich aus der Debatte im 1. Komitee des III. Ausschusses der Konferenz von San
Francisco. Siehe dazu Norwegen, Doc. 2, G/7 (n) (1) v. 4.5.1945, UNCIO III, 365 (371 f.), Committee
III/3, Doc. 539 (24.5.1945), UNCIO XII, 353 (354 f.) – Debatte Committee III/1, Doc. 597
(26.5.1945), UNCIO XI, 393-395.
544
Delbrück, Art. 24 SVN (2002), Rn. 10.
545
Degni-Segui, Article 24 (1991), 447(459).
99
rechtliche Grundlage für die Einrichtung konsensgestützter Peacekeeping-Missionen
durch den Sicherheitsrat anzusehen.546 Systematisch lässt sich diese Befugnis an der
Aufgabennorm des Art. 24 Abs. 1 SVN festmachen, von der sie sich ableitet.547
Wenn im Folgenden daher von Art. 24 Abs. 1 SVN als Rechtsgrundlage die Rede ist,
meint dies die dort implizierte, ungeschriebene Befugnis des Sicherheitsrates zu
konsensgestützten Peacekeeping-Maßnahmen.
Die Peacekeeping-Befugnis kann mittlerweile zudem als organisationsinternes
Gewohnheitsrecht betrachtet werden.548 Die Vielzahl der vom Sicherheitsrat mit
Zustimmung der betroffenen Territorialstaaten entsandten Friedensmissionen stellt
eine hinreichend gefestigte Praxis dar.549 Dass sie von einer entsprechenden opinio
iuris der Mitgliedstaaten getragen wird, machen die jährlichen Resolutionen der
Generalversammlung deutlich.550
Dass auf Grundlage der Peacekeeping-Befugnis ergriffene Maßnahmen grundsätzlich
546
So auch Bowett, UN Forces (1964), S. 307-311; Seyersted, BYIL 37 (1961), 351 (460 f.); Suy, UN
Peacekeeping, EPIL IV (2000), 1143 (1144). Kritisch Orakhelashvili, Virginia JIL 43 (2003), 485
(488); ablehnend Conforti, The Law and Practice of the United Nations (2000) 206, der die Annahme
ungeschriebener Kompetenzen als unzulässige Umgehung der geschriebenen Bestimmungen der
Charta ansieht. Er stützt Peacekeeping-Missionen auf Art. 42 SVN und macht sie damit zur
Zwangsmaßnahme (ebenda, S. 200 f.). Dass dies nicht der Meinung der Mitgliedstaaten entspricht,
zeigt Präambel-§ 3 A/RES/58/315 vom 16.7.2004, der Peacekeeping ausdrücklich zu den Maßnahmen
friedlicher Streitbeilegung zählt: „Affirming that the efforts of the United Nations in the peaceful
settlement of disputes, including through ist peacekeeping operations, are indispensable“
[Hervorhebungen durch den Verfasser].
547
Delbrück, Art. 24 SVN (2002), Rn. 10. Vgl. auch die Äußerungen der Vertreter der UdSSR und des
Vereinigten Königreiches in der 89. Sitzung des Sicherheitsrats am 7. Januar 1947, S.C.O.R.,
S/P.V./89, 41.
548
Franke, UN Operation im Kongo (1978), S. 247; Tomuschat, in: Koch (Hrsg.), Blauhelme (1991),
S. 49. Im Ergebnis auch Ciobanu, in: Cassese (Hrsg.), UN Peace-keeping (1978), S. 26-29, der auf die
Akzeptanz derartiger ungeschriebener Befugnisse durch die Mitgliedstaaten abstellt.
549
Siehe die Aufstellung der verschiedenen Missionen in UN, The Blue Helmets (1996), sowie die
zahlreichen Einträge bei Ramsbotham/Woodhouse, Peacekeeping Operations (1999), S. Einen
Überblick gibt auch Bothe, Peace-keeping (2002), Rn. 14-71.
550
Das Thema Peacekeeping wird seit 1965 jährlich von der Generalversammlung behandelt. Dabei
nimmt sie die jährlichen Berichte des zuständigen Ausschusses im Konsensverfahren an. Die
allgemeine Aktzeptanz des Peacekeeping zeigen beispielsweise Präambel-§ 3 der jüngsten Resolution
A/RES/58/351 vom 16.7.2004 (siehe oben Fn. 539), ferner § 8 u. § 30 des Report of the Spec.Com. on
PKO 2004, A/58/19 vom 26.4.2004. Zwar entfalten Resolutionen der Generalversammlung keine
bindende Wirkung. In dieser Regelmäßigkeit können sie jedoch als Nachweis der kollektiven
Rechtsauffassung der UN-Mitgliedstaaten angesehen werden (vgl. Tomuschat, in: FS Arangio-Ruiz
(2004), S. 1753).
100
der Zustimmung des betroffenen Staates bedürfen, ergibt sich aus dem
Nichteinmischungsgebot des Art. 2 Ziff. 7 SVN, das nur Zwangsmaßnahmen von
seiner Geltung ausnimmt und zu dessen Überwindung es in allen anderen Fällen der
Einwilligung des betroffenen Staates bedarf.551 Das die Peacekeeping-Kompetenz
den Sicherheitsrat nicht berechtigt, Zwangsmaßnahmen zu ergreifen, ergibt sich aus
dem Wesen der implied powers. Sie sind nur dort vorstellbar, wo es an
vergleichbaren expliziten Regelungen fehlt. Die Befugnisse des Sicherheitsrates zu
Zwangsmaßnahmen sind aber in Kapitel VII der Charta geregelt. Ließe man neben
diesen expliziten Kompetenzen weitere gleichartige ungeschriebene zu, könnten die
Voraussetzungen des Kapitels VII beliebig umgangen werden. Zu diesen
Voraussetzungen gehört insbesondere der Tatbestand des Art. 39 SVN, mithin das
Vorliegen einer unmittelbaren Friedensbedrohung oder gar eines Friedensbruches.552
Eine besondere Zurückhaltung ist auch deshalb geboten, weil Maßnahmen gegen den
Willen des betroffenen Staates einen erheblichen Eingriff in dessen Souveränität
bedeuten. Auch wenn man die restriktive Auslegungsmaxime des StIGH553 als durch
spätere Urteile des IGH überholt ansieht,554 so können doch weitreichende
Ermächtigungen der Mitgliedstaaten zur Einschränkung ihrer Souveränität nicht
leichtfertig unterstellt werden.555
Dass es sich bei Peacekeeping-Maßnahmen nicht um Zwangsmaßnahmen handelt,556
551
Siehe dazu bereits oben 3.Kp. A.II.1.
552
Zu den Voraussetzungen des Kapitels VII ausführlicher unten 3. Kp. C.II.
553
Siehe StIGH, Commission of the Danube (Gutachten vom 8.12.1927), PCIJ Ser. B, No. 14, 64.
554
So Ress, Interpretation (2002), Rn. 1, mit Verweis auf IGH, Reparations for Injuries, ICJ-Rep.
1949, 174 (182 f.), IGH, Awards of Admin. Tribunal, ICJ-Rep. 1954, 47 (57); und IGH, Certain Expenses-Gutachten, ICJ-Rep. 1962, 151 (167).
555
So sprach der französische Vertreter bei seiner Anhörung vor dem IGH im Rahmen des Verfahrens
zum Namibia-Gutachten von einem „principe fondamental selon lequel les restrictions à la
souveraineté des Etats ne se présument pas mais doivent être consenties par eux.“ (abgedr. in Bedjaoui, New World Order (1994), Document Section, S. 277). Für eine restriktive Auslegung wegen der
Beschränkung der Souveränität der Mitgliedstaaten auch Seyersted, BYIL 37 (1961), 351 (462), und
Ciobanu, in: Cassese (Hrsg.), UN Peace-keeping (1978), S. 39. Aus dem selben Grund plädieren
Frowein/Krisch, Introduction to Chapter VII (2002), Rn. 35, für eine restriktive Auslegung von
Resolutionen des Sicherheitsrates.
556
So stuft die Generalversammlung Peacekeeping-Operationen ausdrücklich als Maßnahmen der
friedlichen Streitbeilegung ein. Siehe den in Fn. 539 zitierten Präambel-§ 3 A/RES/58/315 vom
16.7.2004.
101
hat umgekehrt zur Folge, dass sie einen weiteren Anwendungsbereich als
Maßnahmen nach Kapitel VII der Charta haben. Es bedarf nicht der Existenz einer
Friedensbedrohung im Sinne des Art. 39 SVN, vielmehr reicht es aus, dass die
Maßnahme im Sinne des Art. 24 Abs. 1 SVN allgemein der Wahrung des
Weltfriedens und der internationalen Sicherheit dient.557 Die Peacekeeping-Befugnis
ist mithin eine ungeschriebene Kompetenz des Sicherheitsrates, die ihm erlaubt, eine
Maßnahme auch dann zu ergreifen, wenn sie von seinen in Art. 24 Abs. 2 Satz 2
SVN aufgeführten expliziten Kompetenzen nicht gedeckt ist. Voraussetzung ist, dass
sie erstens zu den in Art. 24 Abs. 1 SVN genannten Zwecken ergriffen wird und
zweitens, dass der betroffene Staat in diese Maßnahme eingewilligt hat.
II.
Art. 24 Abs. 1 SVN als Rechtsgrundlage einer UN-Gebietsverwaltung
Das Bestehen der Peacekeeping-Befugnis sagt indes noch nichts darüber aus, ob sie
dem Sicherheitsrat auch erlaubt, mit Zustimmung des betroffenen Staates eine UNGebietsverwaltung einzurichten. In der Tat war das Bestehen einer derartigen
ungeschriebenen Befugnis bereits in der Frühzeit der Organisation Gegenstand
kontroverser Diskussionen im Sicherheitsrat. Auslöser war Anfang 1947 die Frage,
inwieweit
die
Charta
dem
Sicherheitsrat
erlaubte,
die
ihm
angetragene
Verantwortung für das geplante Freie Territorium Triest zu übernehmen.558
Das Triester Projekt scheiterte jedoch, und auch in der Folgezeit kam es nur zu einer
konsensgestützten Friedensmission des Sicherheitsrates, die Elemente einer
Gebietsverwaltung enthielt.559 Da es mithin an einer gefestigten Praxis mangelt, kann
nicht von einer gewohnheitsrechtlichen Befugnis des Sicherheitsrates ausgegangen
werden. Es kann sich nur um eine implied power handeln. Die Annahme einer
solchen ungeschriebenen Befugnis setzt nach der Rechtsprechung des IGH voraus,
dass sie mit den Zielen und Grundsätzen der Organisation vereinbar (1.) und zur
Erfüllung der ihr übertragenen Aufgaben geeignet (2.) und unbedingt erforderlich ist
In diese Richtung – Peacekeeping auch in Kapitel VI-Situationen zulässig – auch Bothe, Peacekeeping (2002), Rn. 86.
557
558
Zu Triest siehe bereits oben 2.Kp. B.
559
Gemeint ist UNTAC in Kambodscha. Siehe dazu unten 3.Kp. B.III.
102
(3.).
1.
Vereinbarkeit mit den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen
In seinem Rechtsgutachten zur Zulässigkeit des freien Territoriums Triest stellte der
Generalsekretär im Hinblick auf die Annahme ungeschriebener Kompetenzen des
Sicherheitsrates fest: „The only limitations are the fundamental principles and
purposes found in Chapter I of the Charter.“560 Diese Aussage wurde vom IGH in
seinem Namibia-Gutachten ausdrücklich bestätigt.561
Tatsächlich ist der Übernahme der Verantwortung für das Freie Territorium Triest
seitens Australiens entgegengehalten worden, dass sie mit den in den Art. 1 und 2 der
Satzung niedergelegten Zielen und Grundsätzen unvereinbar sei562. Indes richtete
sich dieser Einwand allein gegen die Übernahme einer Garantie der territorialen
Integrität und der politischen Unabhängigkeit Triests, nicht gegen die Übernahme der
Verwaltungskompetenz über dasTerritorium Triests. Die Garantie territorialer
Integrität war neben der unbeschränkten Dauer aber eine der Besonderheiten des
Triester Projekts, die in dieser Form bei einer übergangsweisen Verwaltung eines
Krisengebietes nicht auftreten.563
Eine solche Gebietsverwaltung steht nicht prinzipiell im Widerspruch zu den Zielen
und Grundsätzen der Organisation. Das gilt insbesondere, wenn sie der
Friedenssicherung dienen soll.564 Wie bereits ausgeführt, stellt die einvernehmliche
560
Vorgetragen in der 91. Sitzung des Sicherheitsrates am 10. Januar, siehe S.C.O.R., S/P.V./91, 6
(11).
561
IGH, Namibia-Gutachten, ICJ-Rep. 1971, 16 (52 §110).
562
So der Vertreter Australiens in der 91. Sitzung des Sicherheitsrats, S.C.O.R., S/P.V./91, 62 (63).
563
Zwar wird die Beachtung der territorialen Integrität des betroffenen Staates bei fast jeder
Initiierung von Friedensmissionen durch den Sicherheitsrat betont. Diese Hervorhebung bezieht sich
aber auf den bereits zuvor bestehenden Status und erreicht nicht die Qualität einer (langfristigen)
Garantie. Siehe dazu statt vieler den Präambel-§ 10 S/RES/1244 (1999) vom 10.6.1999. Ohnehin
ernteten die australischen Bedenken Widerspruch seitens der übrigen Sicherheitsratsmitglieder. Siehe
die Äußerungen der Vertreter Frankreichs und Polens, S.C.O.R., 91. Sitzung vom 10.1.1947,
S/P.V./91, 71, bzw. 89. Sitzung vom 7.1.1947, S/P.V./89, 62 (66).
564
Etwas Anderes könnte nur gelten, wenn die Verwaltung zu dem Zweck eingerichtet würde, das
Selbstbestimmungsrecht eines Volkes zu unterdrücken oder um Menschenrechtsverletzungen zu
ermöglichen. Dies erscheint jedoch wenig wahrscheinlich.
103
Übernahme der Verwaltungshoheit insbesondere keine Souveränitätsverletzung
dar.565 Die grundsätzliche Vereinbarkeit einer UN-Verwaltung von Krisengebieten
mit den Grundsätzen und Zielen der Organisation lässt auch die Debatte um einen
norwegischen Änderungsvorschlag bei der Konferenz von San Francisco erkennen.
Der norwegische Delegierte schlug vor, den Sicherheitsrat explizit zur Übernahme
der Verwaltung über ein Gebiet zu ermächtigen, wenn dies der Friedenssicherung
diene566. Dieser Vorschlag ist nur deshalb abgelehnt worden, weil die
Ausschussmehrheit befürchtete, den Sicherheitsrat durch die detaillierte Aufzählung
einzelner Kompetenzen bei der Wahl seiner Mittel allzu sehr einzuschränken. Die
Unvereinbarkeit einer solchen Verwaltung mit der Charta wurde dagegen nicht
geltend gemacht567, was auf eine entsprechende gemeinsame Rechtsüberzeugung der
Gründerstaaten hinweist.
2.
Geeignetheit
In dem für die Anwendbarkeit der implied powers-Lehre auf die UN-Charta grundlegenden Reparations for injuries-Gutachten führte der IGH aus: „Under international law, the Organization must be deemed to have those powers which, though not
expressly provided in the Charter, are conferred upon it by necessary implication as
being essential to the performance of its duties.”568 Die fragliche ungeschriebene
Befugnis muss somit zur Erfüllung der dem Sicherheitsrat übertragenen Pflichten
erforderlich sein.569 Diese Aussage impliziert zwei weitere Voraussetzungen: Die
Befugnis muss der Erfüllung der Aufgaben des Sicherheitsrates dienen, mithin in
seinen Zuständigkeitsbereich fallen,570 und sie muss zur Erreichung dieses Zwecks
565
Siehe oben 3.Kp. A.II.
566
Norwegen, Doc. 2, G/7 (n) (1) v. 4.5.1945, UNCIO III, 365 (371 f.). Dieser Vorschlag bezog sich
zwar auf den jetzigen Art. 42 SVN, er macht aber wie Art. 81 Satz 2 SVN deutlich, dass eine
Gebietsverwaltung nicht prinzipiell unvereinbar mit den Zielen und Grundsätzen der Organisation ist.
567
Siehe den Bericht des Berichterstatters des Unterausschuss III/3 des Ausschusses III zu Kapitel
VIII, Sektion B, Paul-Boncour, Doc. 881 (10.6.1945), UNCIO XII, 502 (508).
568
IGH, Reparations for Injuries, ICJ-Rep. 1949, 174 (182).
569
Siehe dazu den folgenden 3.Kp. B.II.3.
570
Dieses Erfordernis ist auch damit zu begründen, dass die interne Kompetenzordnung der
Organisation auch bei der Annahme ungeschriebener Befugnisse eines ihrer Organe gewahrt bleiben
muss. Siehe Campbell, ICLQ 32 (1983), 523 (528), unter Berufung auf die Rechtsprechung des IGH,
104
geeignet sein.
Der Zuständigkeitsbereich des Sicherheitsrates wird in erster Linie durch Art. 24
Abs. 1 SVN festgelegt. Die Annahme einer implied power zur Einrichtung einer
Konsensverwaltung ist damit nur dann zulässig, wenn diese der Wahrung des
Weltfriedens und der internationalen Sicherheit dient. Dies bestritt der australische
Vertreter im Hinblick auf das Freie Territorium Triest. Mit der Übernahme der ihm
angetragenen Verantwortung für das Gebiet übernehme der Sicherheitsrat lediglich
allgemeine Verwaltungstätigkeiten ohne einen notwendigen Bezug zu Fragen des
Weltfriedens.571 Dem ist zunächst der finale Charakter einer friedenssichernden
Maßnahme entgegenzuhalten. Entscheidend ist nicht die Maßnahme als solche – sie
kann von der Beauftragung des Generalsekretärs, einen Bericht abzugeben572, bis zur
Autorisierung einer militärischen Intervention von Mitgliedstaaten573 reichen –
sondern ihre Zielsetzung und ihre Eignung, dieses Ziel zu erreichen. Dies gilt für alle
Maßnahmen der Friedenssicherung unabhängig davon, ob sie sich auf die Kapitel VI
oder VII oder auf eine ungeschriebene Kompetenz des Sicherheitsrates zur
Friedenssicherung stützen. Soweit die Einrichtung einer Konsensverwaltung der
Wahrung der internationalen Sicherheit dienen soll, bewegt sich eine solche
Maßnahme im Kompetenzbereich des Sicherheitsrates. Dies bestätigen die
Debattenbeiträge im Sicherheitsrat anlässlich des Triest-Projekts.574 Letztlich können
die Ziele einer UN-Verwaltung ohnehin nur anhand des konkreten Einzelfalls
beurteilt werden.
und Gill, NYIL 26 (1995), 33 (70). Für einen Vorrang der Effektivität der Satzung bei ähnlich
gelagerten expliziten Kompetenzen auch Blokker, EJIL 11 (2000), 541 (549).
571
91. Sitzung des Sicherheitsrats am 10.1.1947, SCOR, S/P.V./91, 63-66. Dieser Auffassung scheint
sich auch Kelsen anzuschließen, der die Übernahme der Führung („headship“) eines Staatswesens als
keinesfalls von Art. 24 SVN gedeckt ansieht (Kelsen, Law of the United Nations (1950), S.834).
572
Art. 6 der Resolution 598 (1987) des Sicherheitsrats vom 20.7.1987 ersuchte den Generalsekretär,
die Ursache des Krieges zwischen Irak und Iran zu klären. Siehe dazu den Bericht des
Generalsekretärs (S/23273) und UNYB 1991, 165.
573
So beispielsweise die Autorisierung der Befreiung Kuwaits durch S/RES/678 (1990) vom
29.11.1990 oder der Operation Artemis in der Demokratischen Republik Kongo durch S/RES/1484
vom 30.5.2003.
574
So betonte beispielsweise der Vertreter Frankreichs, dass das Freie Territorium Triest eine
Konfliktursache entschärfe und deshalb in den Aufgabenbereich des Sicherheitsrates falle. Siehe
S.C.O.R., 91. Sitzung vom 10.1.1947, S/P.V./91, 71.
105
Dagegen bestehen durchaus prinzipielle Bedenken gegen die Eignung einer
konsensgestützten Gebietsverwaltung, einen relevanten Beitrag zur Wahrung des
Weltfriedens zu leisten. Sie betreffen die Abhängigkeit von einer Zustimmung des
betroffenen Staates und die Notwendigkeit, Verwaltungsentscheidungen auch gegen
den Willen der betroffenen Personen durchsetzen zu können.
a. Rechtmäßige Vertretung des Gebietes
Da die Einrichtung einer UN-Verwaltung auf der Grundlage der PeacekeepingBefugnis die Zustimmung des betroffenen Staates erfordert, ist sie rechtlich nur
zulässig, wenn dieser noch über effektive, hinreichend legitimierte Organe verfügt.
Daran wird es gerade bei den für eine solche Verwaltung prädestinierten failed states
regelmäßig fehlen.575 Wegen der völkerrechtlichen Fiktion des Fortbestehens auch
kollabierter Staatswesen bestehen auch dessen Souveränitätsrechte fort.576 Art. 2
Abs. 7 SVN schützt damit grundsätzlich auch den failed state.
Indes mag es im Einzelfall durchaus Gruppierungen geben, die hinreichend gefestigt
sind, so dass sie in der Lage sind, übernommene Verpflichtungen auch umzusetzen.
Ist ihre Zahl begrenzt und vertreten sie in ihrer Gesamtheit die Bevölkerung eines
Gebietes
in
einigermaßen
Völkerrechtsfähigkeit
und
repräsentativer
können
in
Weise,
eine
so
haben
UN-Verwaltung
sie
partielle
des
Gebietes
rechtswirksam einwilligen.577 Bei der Beurteilung, ob es sich um derartige Gruppen
handelt, kann auf die Kriterien zur Bestimmung nationaler Befreiungsbewegungen
zurückgegriffen werden.578
Fehlen aber derartige quasi-staatliche de-facto Organe, weil sich das Staatswesen in
eine große Zahl rivalisierender Gruppierungen aufgelöst hat, so kann ein Eingreifen
des Sicherheitsrats nur aufgrund einer konsensunabhängigen Rechtsgrundlage
575
Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 295 f.
576
Ipsen, Völkerrecht (2004), § 5 Rn. 11.
577
Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 294 f. u. 327.
578
Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 327. Zu diesen Kriterien siehe beispielsweise
Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht I/2 (2002), S. 296 f.; Shaw, Int’l. Law (2003), S. 219-223; und
Ipsen, Völkerrecht (2004), § 8 Rn. 11-15.
106
erfolgen. Als solche kommt nur Tätigwerden auf der Basis von Kapitel VII der
Charta in Frage. Indes sind nicht alle Krisengebiete ohne legitime Organe, die
gegenüber der UNO als rechtmäßige Vertreter agieren können. Dort, wo es, wie im
Falle Triests, um die Entschärfung eines „Zankapfels“ zwischen zwei Staaten geht,
ist eine konsensgestützte Verwaltung durchaus möglich, ebenso, wo es nach einem
Bürgerkrieg zu einem Friedensabkommen der beteiligten Parteien gekommen ist.579
b. Dauer und Rücknahme der Einwilligung
Weiterer Einwand gegen eine konsensgestützte Gebietsverwaltung ist, dass sie von
der Aufrechterhaltung der staatlichen Einwilligung abhängig ist, mithin vom
Wohlwollen des Territorialstaates.580 In der Tat erzwang Ägypten den Rückzug der
ersten United Nations Emergency Force (UNEF I) im Jahre 1967, indem es seine
Einwilligung zur Stationierung der Blauhelm-Truppe im Grenzgebiet zu Israel
zurücknahm.581 Auch den Abzug der UN-Mission im Kongo (ONUC) begründete der
Generalsekretär unter anderem damit, dass die kongolesische Regierung keine
Verlängerung der Mission beantragt habe.582 Eine internationale Verwaltung ist aber
im
Verhältnis
zu
einer
reinen
Friedenstruppe
oder
gar
einer
bloßen
Beobachtermission ein längerfristiges Projekt. Allein ihr Aufbau bedarf in der Regel
einiger Zeit. Noch mehr Zeit aber bedarf sie, wenn ihre Aufgabe die
Wiedererrichtung eines funktionierenden Staatswesen mit leistungsfähigen lokalen
579
Beispiele hierfür sind Namibia und Kambodscha. Zu Kambodscha siehe unten 3.Kp. B.III.
580
Wegen der Unzuverlässigkeit der Parteien vor Ort befürwortete der Generalsekretär auch im Falle
der UN-Verwaltung in Ostslavonien (UNTAES), diese auf Kapitel VII und nicht auf die durchaus
vorhandene Einwilligung der kroatischen Regierung und der örtlichen serbischen Bevölkerung zu
stützen. Siehe dazu § 22 des Berichts S/1995/1028 vom 13.12.1995. Nach Rothert, Columbia JTL 39
(2000), 257 (274), war dies auch der Grund, weshalb der Sicherheitsrat in S/RES/1264 (1999) vom
15.9.1999 die Autorisierung der internationalen Friedenstruppe INTERFET in Osttimor auf Kapitel
VII SVN stützte, obwohl Indonesien zuvor sein Einverständnis gegeben hatte. UN, Threats, Challenges and Change (2004), § 213, betont „that even the most benign environment can turn sour – when
spoilers emerge to undermine a peace agreement (...)“.
581
Zwar war die UNEF I auf eine Resolution der Generalversammlung gestützt. Ein Tätigwerden der
Generalversammlung im Bereich der Friedenserhaltung erfordert aber ebenfalls die Zustimmung des
betroffenen Staates (siehe unten 3.Kp. E.). Zur UNEF I insgesamt siehe UN, The Blue Helmets
(1996), S. 35-55, und Tsur, in: Cassese (Hrsg.), UN Peace-keeping (1978), S. 183-221. Zu ihrem
Rückzug ausführlich Garvey, AJIL 64 (1970), 241-268.
582
Siehe den § 145 des Bericht S/5784 des Generalsekretärs vom 29.6.1964, sowie UN, The Blue
Helmets (1996), S. 199.
107
Institutionen ist. Ein erzwungener vorzeitiger Abzug würde eine solche UN-Mission
regelmäßig zum Fehlschlag werden lassen. Doch selbst wenn es nicht zu einer
vollständigen Rücknahme des territorialstaatlichen Einverständnis käme, könnte das
Erfordernis fortdauernden Einvernehmens mit dem betroffenen Territorialstaat die
Vereinten Nationen von diesem in einer Art und Weise politisch abhängig machen,
die weder ihrem Auftrag vor Ort, noch ihrer Eigenschaft als Organ der
Weltgemeinschaft gerecht würde.583
Diese Abhängigkeit ließe sich indes erheblich einschränken, wenn man mit einem
Teil der Literatur die Beziehungen zwischen den Vereinten Nationen, vertreten durch
den
Sicherheitsrat,
und
dem
betroffenen
Völkerrechtssubjekt
als
ein
völkerrechtliches Vertragsverhältnis, gerichtet auf die Durchführung der UNVerwaltung, begreift.584 Denn die territorialstaatliche Zustimmung erfolgt zu einer
bestimmten Absicht der Vereinten Nationen, wie sie in den entsprechenden
Resolutionen des Sicherheitsrats zur Errichtung der Verwaltung deutlich geworden
ist. Insofern liegen zwei korrespondierende Willenserklärungen vor585. Noch
deutlicher wird dies, wenn die Ermächtigungsresolution wie im Falle der Einrichtung
der UNTAC in Kambodscha der Willenserklärung des betroffenen Staates zeitlich
nachfolgt.586
Dort
einigten
sich
die
Konfliktparteien
in
den
Pariser
Friedensvereinbarungen auf die Einrichtung einer UN-Übergangsverwaltung mit
bestimmten Zuständigkeiten. Die ihm so angetragene Aufgabe übernahm der
Sicherheitsrat mit der Zustimmung zu diesen Verträgen durch die Resolution 718
(1991) vom 31. Oktober 1991.587
Das Vertragsverhältnis ist dabei eher ein informelles, welches sich weniger aus
einem
einheitlichen
Vertragsdokument
als
aus
dem
Vorhandensein
583
Die Notwendigkeit, unabhängig von einer andauernden Zustimmung der Betroffenen handeln zu
können, betont auch UN, Brahimi-Report (2000), § 49.
584
Orakhelashvili, Virginia JIL 43 (2003), 485 (520). Bothe, Peace-keeping (2002), Rn. 113 spricht
von einer Vereinbarung („agreement“) zwischen UN und Territorialstaat.
585
Vgl. Di Blase, in: Cassese (Hrsg.), UN Peace-keeping (1978), 55 (56).
586
Di Blase, in: Cassese (Hrsg.), UN Peace-keeping (1978), 55 (81).
587
Zu den UN-Missionen in Kambodscha siehe oben 2.Kp. H.
108
korrespondierender Willenserklärungen ergibt.588 Dennoch können die allgemeinen
Auslegungsgrundsätze des Völkerrechts angewendet werden.589 Im Rahmen einer
Vertragsbeziehung ist auch die Dauer des Einsatzes einer vertraglichen Regelung
zugänglich. Sie kann entweder konkret bestimmt werden, oder es kann ein Modus
vereinbart werden, wer nach welchen Kriterien über die Beendigung der Mission
entscheidet. Eine Regelung kann ferner entweder ausdrücklich erfolgen –
beispielsweise
durch
einen
entsprechenden
Passus
in
der
relevanten
Sicherheitsratsresolution590 - oder sich durch Auslegung ergeben.
Doch selbst wenn man ein wie auch immer geartetes Vertragsverhältnis über die
Errichtung und Durchführung einer UN-geleiteten Gebietsverwaltung ablehnt – etwa,
weil ein solches Verhältnis die Entscheidungsspielräume der UN zu sehr einengte
oder sie der Gefahr einer vertraglichen Haftung gegenüber dem Gaststaat aussetzte,
gilt nicht notwendig etwas anderes. Die Zustimmungserklärung des betroffenen
Staates ist dann als einseitiger völkerrechtlicher Akt zu bewerten, durch den dieser
sich selbst bindet.591 Sofern sich die Zustimmung auf die reine Billigung der UNMission beschränkt und keine weiteren Vorbehalte enthält, bestimmt sich ihr Inhalt
nach der Sicherheitsratsresolution, auf die sie sich bezieht. Im Übrigen sind auch
einseitige völkerrechtliche Akte grundsätzlich einer Auslegung zugänglich.592
588
Vgl. Art. 11 WVK (1969) und Art. 11 WVKIO (1986).
589
Di Blase, in: Cassese (Hrsg.), UN Peace-keeping (1978), 55 (57).
590
§ 19 S/RES/1244 (1999) vom 10.6.1999 lautet:
“[The Security Council] [d]ecides that the international civil and security presences are established
for an initial period of 12 months, to continue thereafter unless the Security Council decides otherwise”.
Wäre diese Resolution auf der Grundlage des Art. 24 Abs. 1 SVN verabschiedet worden und hätte der
betroffene Staate dem vorbehaltlos zugestimmt, so wäre der betroffene Staat daran gehindert, seine
Zustimmung zurückzuziehen, weil das durch die Zustimmung zustande gekommene
Vertragsverhältnis die Entscheidung über die Fortdauer nach dem Wortlaut des o.g. Artikels allein
dem Sicherheitsrat zuweist.
591
So Di Blase, in: Cassese (Hrsg.), UN Peace-keeping (1978), 55 (57), die allerdings selber der
vertraglichen Theorie zugeneigt ist. Zur bindenden Wirkung einseitiger Akte siehe IGH, Nuclear Tests
Case, ICJ-Rep. 1974, 253 (267 f. §§ 42-46) bzw. 457 (472 f. §§ 45-49), Hobe/Kimminich,
Völkerrecht (2004), S. 202-206; Ipsen, Völkerrecht (2004), § 18 Rn. 7-9.
592
Ipsen, Völkerrecht (2004), § 18 Rn. 11 f.
109
Die Abhängigkeit von der Einwilligung des betroffenen Völkerrechtssubjekt macht
eine auf Art. 24 Abs. 1 SVN gestützte Gebietsverwaltung mithin nicht unpraktikabel.
Voraussetzung ist allerdings, dass dieser Punkt bereits bei der Initiierung der Mission
in Gestalt einer konkreten und hinreichend langen Zeitvorgabe Berücksichtigung
findet. Auf diese Weise ist der betroffene Staat für diesen Zeitraum an sein einmal
gegebenes Einverständnis gebunden.
c. Durchsetzung von Verwaltungsentscheidungen
Weiter wird gegen eine Gebietsverwaltung auf Grundlage der PeacekeepingBefugnis eingewandt, dass eine effektive Gebietsverwaltung die Fähigkeit haben
müsse, Entscheidungen auch gegen den Willen der betroffenen Gruppen und
Individuen durchzusetzen. Zu Zwangsmaßnahmen berechtige den Sicherheitsrat aber
allein Kapitel VII der Charta, so dass Art. 24 Abs. 1 SVN keine taugliche
Rechtsgrundlage für die Errichtung einer Gebietsverwaltung sein könne.593
Dieser Einwand geht jedoch insoweit fehl, als Zwangsmaßnahmen im Sinne des
Kapitels VII der Charta nur Maßnahmen gegen den Willen des betroffenen Staates
sind.594 Sofern dieser jedoch in eine Gebietsverwaltung durch die Vereinten Nationen
eingewilligt hat, erfasst dies als notwendigen Teil der Verwaltungskompetenz auch
den Verwaltungszwang, d.h. die Durchsetzung von Entscheidungen gegenüber
Einzelnen oder Gruppen. Voraussetzung ist lediglich, dass die zustimmenden Organe
oder Parteien hinreichend legitimiert sind, um für die Bevölkerung zu sprechen.
Da es sich mithin nicht um Zwang gegen Staaten handelt, die Souveränität der
Mitgliedstaaten somit nicht berührt wird, gibt es keinen Grund, die PeacekeepingBefugnis diesbezüglich eng auszulegen. Wie bereits ausgeführt beinhaltet Art. 24
Abs. 1 SVN eine subsidiäre Ermächtigung des Sicherheitsrats zu Maßnahmen
verschiedenster Art im Rahmen seiner Hauptverantwortung für die Wahrung des
Weltfriedens. Sie erlaubt daher auch die Anwendung von Verwaltungszwang
gegenüber Individuen oder Gruppen, soweit dies zur Friedenswahrung erforderlich
593
Dies andeutend Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 296.
594
IGH, Certain Expenses-Gutachten, ICJ-Rep. 1962, 151 (172 u. 177).
110
ist und von der staatlichen Einwilligung gedeckt ist.595
Somit handelt es sich bei einer konsensgestützten Gebietsverwaltung sehr wohl um
ein grundsätzlich geeignetes Mittel zur Wahrung des Weltfriedens und der
internationalen Sicherheit, welches allerdings insbesondere das Bestehen einer
legitimen völkerrechtlichen Vertretung des Gebietes voraussetzt.
3.
Erforderlichkeit
Zu prüfen bleibt nurmehr, ob die Annahme einer ungeschriebenen Befugnis zur
Verwaltung von Krisengebieten mit Zustimmung des Territorialstaates auch
erforderlich ist, damit der Sicherheitsrat den ihm in Art. 24 Abs. 1 SVN übertragenen
Pflichten nachkommen kann. Eine solche Befugnis müsste „essential to the
performance of its duties“596 sein, ihr Fehlen müsste dem Sicherheitsrat die effektive
Wahrung des Weltfriedens zumindest wesentlich erschweren.
Das wäre schon dann nicht der Fall, wenn dieser über eine gleichwertige
Rechtsgrundlage im geschriebenen Recht verfügte.597 Als eine solche alternative
Rechtsgrundlage kämen Art. 81 Satz 2 SVN und insbesondere Art. 41 und 42 der
Charta in Betracht. Art. 81 Satz 2 SVN, der eine Treuhandverwaltung durch die
Vereinten Nationen erlaubt, ist aus verschiedenen Gründen, die an späterer Stelle
ausführlich behandelt werden, keine gleichwertige Rechtsgrundlage für die
übergangsweise Verwaltung von Krisengebieten.598 Gegen Art. 41 und 42 SVN
spricht – unabhängig von der Frage, ob sie dem Sicherheitsrat tatsächlich die
595
Anders ohne Angabe von Gründen der Generalsekretär in § 22 seines Berichts S/1995/1028, der
trotz Zustimmung der Betroffenen ein Kapitel VII-Mandat für erforderlich hält, damit die UN-Mission
in Ostslavonien (UNTAES) Regierungsgewalt ausüben könne.
596
IGH, Reparations for Injuries, ICJ-Rep. 1949, 174 (182).
597
Moreno Quintana, Diss. Op., Certain Expenses-Gutachen, ICJ-Reports 1962, 239 (245); Hackworth, Diss. Op., IGH, Effects of Awards-Gutachten, ICJ-Rep. 1954, 76 (80 f.). Ähnlich Campbell,
ICLQ 32 (1983), 523 (528) unter Berufung auf die Rechtsprechung des IGH und Gill, NYIL 26
(1995), 33 (70). Beide stellen darauf ab, dass eine explizite Kompetenz nicht durch die Annahme einer
implied power umgangen oder anderweitig entwertet werden darf. Für einen Vorrang der Effektivität
der Satzung auch bei ähnlich gelagerten expliziten Kompetenzen Blokker, EJIL 11 (2000), 541 (549).
598
Siehe dazu unten 3.Kp. F.
111
Einrichtung einer Gebietsverwaltung erlauben,599 dass sich eine auf sie gestützte UNVerwaltung in zweierlei Hinsicht von einer solchen auf Grundlage der PeacekeepingBefugnis unterscheidet.
So bedarf es zunächst für Maßnahmen auf der Grundlage der Art. 41 und 42 SVN
grundsätzlich nicht der Zustimmung des betroffenen Staates. Eine Kooperation des
betroffenen Staates mag im Hinblick auf den Erfolg der Unternehmung
wünschenswert sein, ist aber rechtlich nicht erforderlich.600 Das Verhältnis zwischen
Sicherheitsrat und betroffenem Staat ist mithin eines von Über- und Unterordnung.
So vorteilhaft sich dieses auf die rechtliche Handlungsfähigkeit des Rates auswirkt,
so schwierig mag es unter politischen Aspekten sein. Ein Tätigwerden des Rates mit
der Zustimmung des betroffenen Staates erlaubt es diesem, sein Gesicht zu wahren
und auf die Ausgestaltung des Mandates der Verwaltung bestimmenden Einfluss zu
nehmen. Dazu kommt, dass sich in der Vergangenheit oft keine Mehrheit im
Sicherheitsrat für den Beschluss von Zwangsmaßnahmen gefunden hat. Diese
Blockade, insbesondere während des Kalten Krieges, hat entscheidend zur
Herausbildung der weniger einschneidenden, weil konsensgestützten PeacekeepingKompetenz geführt. Sie hat damit auch gezeigt, dass eine solche Rechtsgrundlage
zumindest politisch erforderlich ist.
Rechtlich lässt sich dem zwar mit einem de maiore ad minus-Schluss begegnen: Wo
dem Sicherheitsrat Zwangsmaßnahmen erlaubt sind, muss ihm auch das weniger
einschneidende Mittel einer konsensgestützten Maßnahme gestattet sein.601 Dieses
Argument greift jedoch insoweit zu kurz, als sich auch die Anwendungsbereiche
beider Rechtsgrundlagen unterscheiden. Während der Rückgriff auf Art. 41 und 42
SVN wenigstens das Bestehen einer Friedensbedrohung im Sinne des Art. 39 SVN
voraussetzt, reicht für die Peacekeeping-Befugnis aus, dass eine auf sie gestützte
Maßnahme allgemein der Wahrung des Weltfriedens im Sinne des Art. 24 Abs. 1
SVN dient. Eine Gebietsverwaltung auf der Grundlage der Peacekeeping-Befugnis
599
Zu dieser Frage siehe unten 3.Kp. C.I.2.
600
Siehe dazu ausführlich unten 3.Kp. C.III.
601
Tomuschat, in: Koch (Hrsg.), Blauhelme (1991), S. 48 f.
112
wäre mithin bereits im Vorfeld einer Friedensbedrohung möglich.
Mithin stellt eine UN-Verwaltung auf der Grundlage des Art. 24 Abs. 1 SVN nicht
nur eine qualitativ-politisch andere Maßnahme dar als eine auf Kapitel VII gestützte
Administration. Sie erweitert den Handlungsspielraum des Rates in einer Weise, die
in Einzelfällen seine Tätigkeit überhaupt erst ermöglicht. Ohnehin hat der
Internationale Gerichtshof und ihm folgend die Praxis innerhalb der UN nie
besonders
hohe
Anforderungen
an
die
Erforderlichkeit
einer
impliziten
Ermächtigung gestellt.602 So ist es teilweise als ausreichend angesehen worden, dass
die Annahme einer impliziten Ermächtigung nicht ausdrücklich verboten ist und sich
im Rahmen der Grundsätze und Aufgaben der Organisation bewegt.603 Auch im
Hinblick darauf ist eine hinreichende Erforderlichkeit einer solchen ungeschriebenen
Kompetenz anzunehmen.
Da dies mit den Zielen und Grundsätzen der Organisation vereinbar und zur
Erfüllung der Aufgaben des Sicherheitsrates erforderlich ist, ist davon auszugehen,
dass die implizite Peacekeeping-Befugnis dem Sicherheitsrat auch die Einrichtung
einer Gebietsverwaltung erlaubt, soweit dies der Friedenswahrung dient und von der
Zustimmung des betroffenen Staates gedeckt ist.
III.
Fallbeispiele: Triest und Kambodscha
Dass er eine solche Befugnis besäße, war auch die Meinung des Sicherheitsrates, als
er am 10. Januar 1947 mit nur einer Enthaltung (Australien) beschloss, die ihm im
Friedensvertrag mit Italien angetragene Verantwortung für das Freies Territorium
Triest zu übernehmen.604 Das erscheint nach der hier vertretenen Ansicht nur
602
Seyersted, BYIL 37 (1961), 351 (455) mit Beispielen aus der Praxis der Vereinten Nationen.
603
Bowett, UN Forces (1964), S. 309. Diese Auffassung wurde auch von der britischen Regierung zur
Frage der Rechtsgrundlage für die Einrichtung der UNEF und der UNTAET vertreten. Siehe dazu E.
Lauterpacht, ICLQ 6 (1957), 301 (322). In seinem Gutachten zur Finanzierung der UNEF- und
ONUC-Missionen stellte der IGH fest, es gäbe eine (widerlegliche) Vermutung der Rechtmäßigkeit
des Handelns der Vereinten Nationen, sofern dieses der Erfüllung der Aufgaben der Organisation
diene (IGH, Certain Expenses-Gutachten, ICJ-Rep. 1962, 151 [168]).
604
Entscheidung („decision“) vom 10.1.1947, abgedruckt in RPSC 1946-51, S. 312 f., ebenso in den
S.C.O.R., 91. Sitzung, S/P.V./91, 61 f. Ausführlich zu Triest bereits oben 2.Kp. B.
113
insoweit bedenklich, als Triest zeitlich unbegrenzt, mithin auf Dauer durch den
Sicherheitsrat verwaltet werden sollte. Art. 24 Abs. 1 der Satzung erlaubt jedoch nur
solche Maßnahmen des Sicherheitsrats, die der Erhaltung oder Wiederherstellung des
Weltfriedens dienen. Seine Verantwortung für Triest hätte der Sicherheitsrat daher
nur solange ausüben dürfen, wie alle anderen Möglichkeiten, beispielsweise ein
unabhängiges, souveränes Triest oder eine Teilung des Gebietes zwischen Italien und
Jugoslawien605, ein Sicherheitsrisiko dargestellt hätten. Die Vereinbarungen zu Triest
hätten daher zumindest eine regelmäßige Überprüfung der Situation und eine
mögliche Beendigung des Engagement des Sicherheitsrats vorsehen müssen. Wie
bereits dargelegt, war das Triest-Projekt jedoch eines der ersten Opfer des Kalten
Krieges und kam nie zustande.
Aus der Praxis des Sicherheitsrates lässt sich so nur ein Beispiel aufführen, in dem
eine UN-Mission mit Zustimmung der betroffenen Parteien exekutivische Befugnisse
innerhalb eines Gebietes übernommen hat. Es handelt sich dabei um die United
Nations Transitional Authority in Kambodscha.606 Ihre Grundlage war das Pariser
Friedensabkommen vom 23. Oktober 1991, in welchem dem Sicherheitsrat
angetragen wurde, innerhalb von achtzehn Monaten freie Wahlen in Kambodscha zu
organisieren und zu diesem Zweck weitreichende Befugnisse zu übernehmen.607 Mit
Resolution 745 (1991) stimmte der Sicherheitsrat dem zu und richtete UNTAC ein.
Sie ist ein gutes Beispiel für die Stärken und Schwächen einer konsensgestützten
Gebietsverwaltung. So war die Situation in Kambodscha – nicht zuletzt aufgrund des
Friedensschlusses – hinreichend stabil und stellte keine Friedensbedrohung im Sinne
des Art. 39 SVN dar. So enthält die Resolution 745 (1992) auch keinerlei expliziten
oder impliziten Verweis auf Kapitel VII.608 Ferner enthielt das Pariser
605
Zu dieser Lösung kam es im Ergebnis. Siehe dazu oben 2.Kp. B.III.
606
Siehe dazu ausführlich oben 2.Kp. H. und die dortigen Nachweise. In der ebenfalls
konsensgestützten UN-Mission in Namibia (UNTAG) verblieb alle exekutivische Verantwortung bei
Südafrika, weshalb sie hier nicht behandelt wird. Siehe aber dazu oben 2.Kp. G.
607
Art. 2 des Agreement on a comprehensive political settlement of the Cambodian Conflict, abgedr.
als Annex zu UN-Doc. A/46/608 – S/23177 vom 30.10.1991, ferner in ILM 31 (1992), 174-204 (184).
Einzelheiten oben in 2. Kp. H.
Lediglich Präambel-§ 4 S/RES/745 (1992) stellt fest, dass man u.a. zu „restoration and
maintenance of peace in Cambodia“ beitragen wolle.
608
114
Friedensabkommen relativ detaillierte Vorgaben hinsichtlich der von UNTAC zu
übernehmenden Aufgaben und Befugnisse. Da dieses Abkommen auch unter
Vermittlung des UN-Generalsekretärs zustandegekommen war, kann von einem
maßgeschneiderten Aushandeln der UN-Befugnisse ausgegangen werden.
Andererseits wies das Mandat der UNTAC echte Schwächen auf, insbesondere weil
es ihr nicht ermöglichte, ihre Ziele auch gegen den Willen einzelner
kambodschanischer Parteien durchzusetzen.609 Das hätte durch die Aushandlung
entsprechender Befugnisse während der Friedensverhandlungen vermieden werden
können. Ohnehin beruht diese Schwäche wesentlich darauf, dass UNTAC primär
bestehende Verwaltungsstrukturen beaufsichtigen sollte, statt eigene aufzubauen
oder zumindest die bestehenden grundlegend reformieren zu können. Dies wäre bei
Missionen anders, welche, wie die hier besprochenen UN-Verwaltungen, die
gesamte Verwaltungskompetenz über ein Gebiet ausüben.
IV.
Bewertung und Ausblick
Im Hinblick auf die Errichtung einer UN-geleiteten Verwaltung lässt sich sagen, dass
Art. 24 Abs. 1 SVN eine zulässige Rechtsgrundlage darstellt. Sie setzt allerdings eine
legitime völkerrechtliche Vertretung des
betroffenen Gebietes und deren
Einwilligung voraus. Da die Kompetenz aus Art. 24 Abs. 1 der Charta nicht unter die
Ausnahmeregelung des Art. 2 Ziff. 7 SVN a.E. fällt, muss die staatliche Einwilligung
nicht nur das „Ob“ der Einrichtung einer UN-Verwaltung erfassen, sondern auch alle
Kompetenzen und Modalitäten der Verwaltung vor Ort abdecken. Eine UNVerwaltung auf dieser Grundlage erfordert daher zumindest bei ihrer Einrichtung
einen sehr kooperativen „Gaststaat“. Ein solcher wäre im Falle Triests wohl
vorhanden gewesen, da das gesamte Projekt auf dem Friedensvertrag mit Italien
basierte, Italien ihm also zugestimmt hatte.
Im Übrigen ist eine auf Art. 24 Abs. 1 SVN und den Konsens mit den Betroffenen
gestützte Verwaltung durchaus zulässig610 und mag im Einzelfall aus politischen
609
Siehe oben 2.Kp. H. und die dortigen Nachweise.
610
Klein, Statusverträge (1980), S. 110; Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security
115
Erwägungen von Vorteil sein611. So sind seit Anfang des neuen Jahrtausends alle
UN-Missionen, die den Wiederaufbau staatlicher Strukturen zum Gegenstand haben,
nur noch mit Zustimmung der betroffenen Staaten eingerichtet worden. 612 Das lässt
erkennen, dass dem konsensualen Ansatz zumindest aus politischen Erwägungen
heraus wieder stärkeres Gewicht zukommt. Ferner mag es auch in Zukunft wie in
Kambodscha Situationen geben, in denen eine internationale Verwaltung eines
Gebietes sinnvoll ist, ohne dass die für eine Zwangsmaßnahme nach Kapitel VII
erforderliche Bedrohung des Weltfriedens gegeben ist.613 Dies zeigt, dass Art. 24
Abs. 1 SVN keine praktisch völlig unbedeutende Rechtsgrundlage ist.
Indes fehlt es aber häufig an der Grundvoraussetzung für eine auf Art. 24 Abs. 1
SVN
gestützte
Verwaltung:
zusammengebrochenen
einem
Staatswesen
ist
kooperativen
regelmäßig
Territorialstaat.
schon
kein
Bei
legitimer
Ansprechpartner vorhanden, der die notwendige Zustimmung namens des
betroffenen Gebietes und seiner Bevölkerung erteilen könnte.614 In anderen
Krisengebieten mag die Zustimmung innerstaatlicher Akteure halbherzig oder nur
vorgetäuscht
sein,
und
zurückgezogen
werden,
sobald
einer
Partei
die
Wiederaufnahme der Kampfhandlungen günstiger erscheint.615 Der praktische
Anwendungsbereich einer auf Art. 24 Abs. 1 SVN gestützten UN-Verwaltung
erscheint daher in der Praxis momentan gering. Wo es an einem konsensbereiten
Partner fehlt, bleibt dem Sicherheitsrat nur ein „unilaterales“ Vorgehen auf der
(1999), S. 62; Stahn, MP-UNYB 5 (2001), 105 (138). Boutros-Ghali, Suppl. to an Agenda for Peace
(1995), A/50/60 - S/1995/1, §§ 33 ff., scheint ebenfalls in seiner Beschreibung einer „peacebuilding“-Mission, die in ihren Grundzügen einer UN-Gebietsverwaltung entspricht, davon
auszugehen, dass diese auf die allgmeine Kompetenz zu Peacekeeping-Maßnahmen gestützt werden
kann.
611
So merkt UN, Threats, Challenges and Change (2004), § 213, an, dass ein Kapitel-VII-Mandat
nicht immer im Interesse der truppenstellenden Staaten sei.
612
Siehe oben 2.Kp. N. und O. Sie sind allerdings nicht direkt vergleichbar, da die Vereinten Nationen
in den dort genannten Missionen zumindest formal lediglich beratende Funktionen übernommen
haben und der Sicherheitsrat zudem meist eine Friedensbedrohung im Sinne des Art. 39 SVN
festgestellt hatte.
613
Matheson, AJIL 95 (2001), 76 (83).
614
Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 295, nennt Somalia als Beispiel. Andererseits hat
sich die internationale Gemeinschaft in Afghanistan und im Irak als relativ geschickt darin gezeigt,
schnell allgemein als legitim anerkannte Ansprechpartner zu finden.
116
Grundlage des Kapitels VII der Charta. Ob und unter welchen Voraussetzung dieses
die Errichtung einer UN-Verwaltung über ein Krisengebiet zulässt, soll im nächsten
Teil untersucht werden.
615
UN, Brahimi-Report (2000), § 48; UN, Threats, Challenges and Change (2004), § 213.
117
C.
Krisengebietsverwaltung als friedenssichernde Zwangsmaßnahmen
(Kapitel VII der Charta)
Obwohl auch Art. 24 Abs. 1 der Charta als Rechtsgrundlage für eine UN-Verwaltung
in Frage kommt, hat der Sicherheitsrat in den jüngsten und bisher einzigen Fällen, in
denen er die gesamte Staatsgewalt über ein Krisengebiet übernommen hat, sein
Handeln ausdrücklich auf Kapitel VII der Charta gestützt.616 Dass das Fehlen einer
Einwilligung des Territorialstaats nicht ausschlaggebend war, zeigt die UNVerwaltung in Osttimor (UNTAET). Denn ihrer Einrichtung durch SicherheitsratsResolution 1272 (1999) gingen erfolgreiche Gespräche mit Portugal und Indonesien
voraus, in denen diese Staaten der Übertragung der Verwaltungshoheit auf die
Vereinten Nationen zugestimmt hatten.617 Dennoch ist die grundsätzliche
Unabhängigkeit vom Willen des betroffenen Staates das prägende Merkmal einer
Zwangsmaßnahme nach Kapitel VII der Charta.618
Im Folgenden wird untersucht, inwieweit die Befugnisse des Sicherheitsrates zu
Zwangsmaßnahmen ihm erlauben, ein Krisengebiet unter UN-Verwaltung zu stellen.
Zunächst wird dabei geprüft, ob Kapitel VII der Charta überhaupt – als Rechtsfolge –
die Einrichtung einer Gebietsverwaltung zulässt, mithin ob es sich bei dieser um ein
zulässiges Zwangsmittel handelt (I.). Im Anschluss soll kurz auf die tatbestandlichen
Voraussetzungen einer solchen Zwangsmaßnahme, insbesondere auf die Diskussion
des Friedensbegriffes des Art. 39 SVN, eingegangen werden (II.). Darauf folgend
wird untersucht, welche rechtliche Bedeutung eine Zustimmung des betroffenen
Staates zur Einrichtung einer auf Kapitel VII gestützten Gebietsverwaltung hat (III.),
bevor die so gewonnenen Erkenntnisse anhand der bisherigen Fallbeispiele in der
Praxis überprüft werden (IV.).
616
Siehe den jeweils letzten Präambel-§ der Resolutionen S/RES/1244 (1999) vom 10.6.2003
(UNMIK) und S/RES/1272 (1999) vom 25.10.1999 (UNTAET).
617
Siehe Präambel-§ 9 der S/RES/1272 (1999), § 25 des Berichts S/1999/1024 des Generalsekretärs
vom 4.10.1999 und § 39 des Berichts A/54/654 an die Generalversammlung vom 13.12.1999.
618
Bowett, UN Forces (1964), S. 267; Gill, NYIL 26 (1995), 33 (52); Frowein/Krisch, Art. 42 (2002),
Rn. 12. Zur rechtlichen Bedeutung einer Zustimmung des betroffenen Staates zu einer
Zwangsmaßnahme siehe unten 3. Kp. C.III.
118
I.
Errichtung einer UN-Verwaltung als Zwangsmaßnahme
Bevor auf die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Gebietsverwaltung auf der
Grundlage von Kapitel VII der Charta eingegangen wird, muss zunächst festgestellt
werden, ob Kapitel VII überhaupt taugliche Rechtsgrundlage für die Einrichtung
einer UN-Verwaltung sein kann. Schließlich handelt es sich bei dieser Maßnahme
um einen erheblichen Eingriff in die Souveränität des betroffenen Staates, zu dem
sich keine explizite Ermächtigung in den Normen des siebten Kapitels der Charta
findet.619 Trotz dieses Befundes begegnete die Einrichtung von UN-Verwaltungen im
Kosovo
und
in
Osttimor
keinem
Widerstand
von
Seiten
der
übrigen
Mitgliedstaaten.620 Im Gegenteil beteiligten sich viele der Mitgliedstaaten aktiv an
diesen Projekten.621 Auch in der neueren Literatur wird die grundsätzliche
Zulässigkeit einer solchen auf Kapitel VII gestützten Maßnahme nicht bezweifelt,
jedoch unterschiedlich begründet.
1.
Ungeschriebene Rechtsgrundlagen
Während von einer Mehrheit der Literatur Art. 41 SVN – ggf. in Verbindung mit Art.
42 SVN – als zulässige Rechtsgrundlage für die Errichtung einer UN-Verwaltung
gesehen wird,622 wird dies von einigen Autoren abgelehnt623. Der große Umfang der
von einer UN-Verwaltung ausgeübten Kompetenzen sprenge den Rahmen von
Sanktionsmaßnahmen, wie sie die Art. 41 und 42 SVN zuließen.624 Man könne Art.
619
Frowein, in: FS Rudolf (2001), S. 43; Ruffert, ICLQ 50 (2001), 613 (620). Siehe auch Stein,
Sicherheitsrat und Rule of Law (1999), S. 302, der das Instrumentarium des Kapitels VII als „nicht für
die Übernahme der Zentralfunktion eines Staates im inneren Bereich geschaffen“ ansieht. Zur
Gebietsverwaltung als Souveränitätseingriff siehe bereits oben 3.Kp. A.II.
620
S/RES/1244 (1999) wurde vom Sicherheitsrat ohne Gegenstimmen verabschiedet, lediglich China
enthielt sich (siehe UNYB 1999, 356). S/RES/1272 (1999) wurde ohne Gegenstimme verabschiedet
(siehe UNYB 1999, 293).
621
Einzelheiten oben im 2.Kp. L. und M.
622
Kondoch, JC&SL 6 (2001), 245 (256 f.); Matheson, AJIL 95 (2001), 76 (83 f.); Stahn, ZaöRV 61
(2001), 107 (131); Bothe/Marauhn, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the International Community
(2002), S. 232; Frowein/Krisch, Art. 41 (2002), Rn. 20; Wodarz, Kosovo-Konflikt (2002), S. 222 f.;
ähnlich de Wet, Chapter VII Powers (2004), S. 315 (implied power unter Art. 41 SVN). Siehe dazu
ausführliche den folgenden Teil (3.Kp. C.I.2.).
623
Ohne Begründung Wagner, VN 48 (2000), 132 (133), differenzierter Ruffert, ICLQ 50 (2001), 613
(620 f.) und Zygojannis, Die Staatengemeinschaft und das Kosovo (2003), S. 158 f.
624
Zygojannis, Die Staatengemeinschaft und das Kosovo (2003), S. 158.
119
41
SVN
nicht
als
prinzipiell
unbegrenzte
Ermächtigung
zu
beliebigen
friedenssichernden Maßnahmen auffassen.625 Alternativ wird deshalb vorgeschlagen,
die Berechtigung des Sicherheitsrat auf eine implied power626 oder auf instant
customary law627 zu stützen.
Es erscheint jedoch problematisch, allein aus den zwei Sicherheitsratsresolutionen
1244 (1999) und 1272 (1999) ein spontan entstandenes Völkergewohnheitsrecht
anzunehmen. Einerseits ist bereits die Rechtsfigur des instant customary law
umstritten.628 Andererseits birgt ihre Anwendung im Bereich der Kompetenzordnung
einer internationalen Organisation die Gefahr, diese einer gewissen Beliebigkeit
auszusetzen und den konstituierenden Vertragstext gänzlich obsolet werden zu
lassen. Kurz: Welche Maßnahmen eine Organisation ergreifen und welches Organ
dazu tätig werden dürfte, wäre allein von einem kurzfristig bestehenden Konsens der
Mitgliedstaaten abhängig.629 Für die Annahme einer gewohnheitsrechtlichen
Kompetenz wäre daher wenigstens eine Sicherheitsratspraxis zu fordern, die deutlich
über zwei einzelne Missionen hinausgeht, zumal die Genannten auch noch in einem
sehr kurzen zeitlichen Abstand voneinander autorisiert wurden. Die Annahme
spontan entstehenden Gewohnheitsrechts ist daher im Bereich des Kapitels VII der
Charta abzulehnen.630
Gegen die Annahme einer implied power zu Zwangsmaßnahmen wiederum spricht
der Wortlaut des Art. 39 SVN, der in seinem zweiten Halbsatz bestimmt, dass alle
Maßnahmen, die der Sicherheitsrat zur Wahrung oder Wiederherstellung des
625
Ruffert, ICLQ 50 (2001), 613 (620).
626
Ruffert, ICLQ 50 (2001), 613 (620 f.); Zygojannis, Die Staatengemeinschaft und das Kosovo
(2003), S. 158 f.
627
Wagner, VN 48 (2000), 132 (133). Das Konzept eines instant customary law geht zurück auf Ago,
RdC 90 (1956 II), 851 (932-935) und Cheng, Indian JIL 5 (1965), 23 (35-40).
628
Ipsen, Völkerrecht (2004), § 16 Rn. 5.
629
Dies ist etwas anderes als die Berücksichtigung der ständigen Praxis der Organe der Vereinten
Nationen bei der Auslegung der Charta, die zumindest eine längere Zeitdauer verlangt. Siehe dazu
Ress, Interpretation (2002), Rn. 27 ff.
630
Stein, Sicherheitsrat und Rule of Law (1999), S. 330 f. In diese Richtung auch Bernhardt, GYIL 42
(1999), 11 (21), der für die Annahme einer gewohnheitsrechtlichen Fortbildung des Kapitels VII der
Charta eine „continous practice“ verlangt.
120
Weltfriedens ergreifen möchte, auf der Grundlage der Art. 41 und 42 SVN zu
erfolgen haben.631 Dies lässt im Bereich des Kapitels VII wenig Raum für die
Annahme zusätzlicher implied powers.632 Zudem könnte anderenfalls das Verbot des
Art. 2 Abs. 7 SVN beliebig umgangen werden. Entscheidender ist aber der Umstand,
dass die Befugnis zu Zwangsmaßnahmen dem Sicherheitsrat weitreichende Eingriffe
in die Souveränität der UN-Mitgliedstaaten erlaubt, weshalb bei der Annahme
entsprechender ungeschriebener Ermächtigungen größte Zurückhaltung geboten
ist.633
2.
Art. 41 und 42 SVN
Ohnehin bedarf es der Annahme ungeschriebener oder gewohnheitsrechtlicher
Kompetenzen nur dann, wenn es an geschriebenen, den Sachverhalt erfassenden
Normen fehlt.634 Vorliegend wäre dies nur dann der Fall, wenn die Prämisse der
Vertreter alternativer Rechtsgrundlagen korrekt wäre und die Art. 41 und 42
tatsächlich keine Rechtsgrundlage für die zwangsweise Errichtung einer UNVerwaltung über ein Krisengebiet böten.
a. Die Auslegung der Art. 41 und 42 SVN – Zulässigkeit auch atypischer
Maßnahmen?
Art. 41 SVN regelt den Einsatz nicht-militärischer Zwangsmittel durch den
Sicherheitsrat, während Art. 42 der Charta ihn zum Einsatz von Streitkräften befugt.
Beide Artikel enthalten in ihrem jeweiligen zweiten Satz eine Aufzählung möglicher
Maßnahmen, wobei keine der genannten einen Bezug zur Errichtung einer
Gebietsverwaltung enthält. Sähe man diesen Maßnahmenkatalog als abschließend an,
stellten Art. 41 und 42 SVN somit keine taugliche Rechtsgrundlage für UNMIK und
Art. 39, 2. Halbsatz SVN lautet im Original: „(...) shall (...) decide what measures shall be taken in
accordance with Articles 41 and 42, to maintain or restore international peace and security.“
631
Dagegen sprach Art. 24 Abs. 2 Satz 2 SVN von den „specific powers granted to the Security
Council“, was die Annahme darüber hinausgehender general powers zulässt. Siehe dazu Delbrück,
Art. 24 SVN (2002), Rn. 10 und oben 3.Kp. B.I.
632
633
Siehe dazu bereits oben 3.Kp. B.I. am Ende.
634
Zu recht verweist Campbell, ICLQ 32 (1983), 523 (528), darauf, dass implied powers nicht zu
Lasten expliziter Kompetenzen angenommen werden dürfen. Ähnlich ICTY, Tadič-Fall
(Entscheidung v. 2.10.1995), abgedr. in: ILM 35 (1996), 32 (43 § 31).
121
UNTAET dar. Indes beginnen die Aufzählungen in beiden Artikeln mit der
Wendung „These“ (Art. 41 Satz 2 SVN) beziehungsweise „Such action [Art. 42 Satz
2] may include (...)“. Diese Formulierung, die mit „Sie können (...) einschließen“
übersetzt wurde,635 zeigt, dass die darauf folgenden Listen keinen numerus clausus
der zulässigen Maßnahmen darstellen, sondern lediglich beispielhafte Aufzählungen
sind.636
Es ließe sich aber argumentieren, die Art. 41 und 42 SVN erlaubten tiefe Eingriffe in
die Souveränität der Mitgliedstaaten und seien deshalb grundsätzlich eng auszulegen.
Aus dieser Prämisse ließe sich ableiten, dass die Liste der dort genannten
Handlungsmöglichkeiten zwar wegen des Wortlauts der Normen nicht abschließend
ist, sie aber als zwingende Typisierung aller nach diesen Normen gestatteten
Handlungsweisen aufzufassen ist. Mithin dürfte der Sicherheitsrat aufgrund der Art.
41 und 42 SVN nur solche Maßnahmen ergreifen, die den genannten in
Wirkungsweise und Ergebnis entsprechen. Dann ließe Art. 41 SVN nur verschiedene
Arten von Embargos zu, während Art. 42 SVN nur klassische Militäroperationen
erlaubte.
Denkbar wäre dann nur, die Errichtung einer internationalen Verwaltung quasi als
Nebenprodukt einer nach Art. 42 SVN zulässigen militärischen Besetzung eines
Krisengebietes durch UN-mandatierte Truppen zuzulassen.637 Die Befugnis zur
Errichtung einer UN-Verwaltung folgte dann allerdings eher aus humanitärem
Völkerrecht, d.h. der Verpflichtung des Besatzers aus Art. 43 der Haager
Landkriegsordnung (HLKO)638, die öffentliche Ordnung im besetzten Gebiet
aufrechtzuerhalten.639 Indes erklärt dies nicht die weiten Befugnisse, die der
635
Nach der amtl. Übersetzung im BGBl. 1980 II, 1252 ff.
636
ICTR, Kanyabashi-Fall (Entscheidung v. 18.6.1997), § 27; Frowein/Krisch, Art. 41 (2002), Rn. 14;
Conforti, The Law and Practice of the United Nations (2000),S. 193; Schachter, AJIL 85 (1991), 452
(454), jeweils zu Art. 41 Satz 2 SVN; Frowein/Krisch, Art. 42 (2002), Rn. 2, zu Art. 42 Satz 2 SVN
und Herdegen, Die Befugnisse des UN Sicherheitsrates (1998), S. 7 u. 25, zu beiden Artikeln.
637
So Conforti, The Law and Practice of the United Nations (2000), S. 205 ff. (insb. 208 f.).
638
Abkommen, betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs vom 18. Oktober 1907, RGBl.
1910, 107 ff.
639
Zur Frage der Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts auf Truppen unter UN-Mandat siehe
122
Sicherheitsrat den UN-Verwaltungen im Kosovo und in Osttimor gegeben hat,640 die
weit über Bestimmungen des humanitären Völkerrechts hinausgehen. Die Art. 42 ff.
HLKO bezwecken in erster Linie die Wahrung des status quo in den besetzten
Gebieten,641 während das Mandat von UNMIK und UNTAET maßgeblich die
Veränderung der vorgefundenen Verhältnisse bezweckt642. Ein Gebiet unter UNVerwaltung zu stellen bedarf daher einer über das humanitäre Völkerecht
hinausgehenden Ermächtigung. Zu berücksichtigen ist ferner, dass die kriegerische
Besetzung des Kosovo – wenn man sie denn so nennen will – gemäß § 7 der
Resolution 1244 (1999) durch Mitgliedstaaten und relevante internationale
Organisationen643 erfolgen sollte, während die Zivilverwaltung gemäß § 10 der
Resolution 1244 (1999) getrennt davon durch den UN-Generalsekretär organisiert
werden sollte. In Osttimor fand eine kriegerische Besetzung wenn überhaupt durch
die auf Resolution 1264 (1999) gestützten Truppen der INTERFET statt. Diese
wurde aber explizit durch die aufgrund durch Resolution 1272 (1999) eingerichtete
Zivilverwaltung UNTAET abgelöst.644 Auch dies deutet – wenn auch nicht zwingend
– darauf hin, dass der Sicherheitsrat die Einrichtung einer Gebietsverwaltung nicht
lediglich als Annexkompetenz zu erlaubten militärischen Zwangsmaßnahmen
ansieht.
Gegen die Ansicht, die in Art. 41 und 42 SVN genannten Maßnahmen als in ihrer
Typisierung zwingend anzusehen, sprechen ferner teleologische Erwägungen. Eine
Typisierung durch die genannten Beispiele würde das Handlungsarsenal des
das Bulletin des UN-Generalsekretärs vom 6.8.1999 (UN Doc. ST/SGB/1999/13), ferner Shraga, AJIL
94 (2000), 406 (406-409), und Benvenuti, RGDIP 105 (2001), 355-372. Zur Rechtsgrundlage der
Verwaltung des Irak durch die von den USA und Großbritannien geführte CPA siehe unten
3. Kp. D.IV.4.
640
Siehe § 9 u. § 11 S/RES/1244 (1999) sowie § 2 S/RES/1272 (1999).
641
Ipsen, Völkerrecht (2004), § 69 Rn. 22; Froissart, FS Fleck (2004), S. 107. Dieser Grundsatz ist
insbesondere in Art. 43 u. 55 HLKO sowie in Art. 54 und 64 GK IV niedergelegt. Siehe dazu
ausführlicher unten 4.Kp. E.I.
642
Siehe etwa § 12 (a) S/RES/1244 (1999), der UNMIK mit der Organisation und Betreuung
demokratischer Selbstverwaltungsstrukturen im Kosovo beauftragt – Strukturen, die das Kosovo unter
jugoslawischer Herrschaft gerade nicht besaß.
643
Gemeint war die NATO.
644
§. 9 S/RES/1272 (1999).
123
Sicherheitsrats auf dem Stand von 1945 einfrieren und ihm ein flexibles, der
aktuellen Situation angepasstes Vorgehen bei Friedensbrüchen und –bedrohungen
wesentlich erschweren. Dies widerspräche dem in Art. 24 Abs. 1 SVN zum
Ausdruck kommenden Motiv der Mitgliedstaaten, dass der Rat „prompt and
effective“ handeln möge.
Auch die ständige Praxis widerspricht einer engen Auslegung der Art. 41 und 42
SVN. So hat der Sicherheitsrat eine Vielzahl atypischer Maßnahmen auf seine
Kompetenzen aus Kapitel VII der Charta gestützt, darunter die Errichtung
internationaler Strafgerichte,645 die Verpflichtung von Staaten, Verdächtige
auszuliefern646 oder abzurüsten647. Obwohl diese Maßnahmen nicht immer
unumstritten waren, trafen sie bei den Mitgliedstaaten überwiegend auf
Zustimmung.648 Es ist daher davon auszugehen, dass Art. 41 und 42 SVN dem
Sicherheitsrat eine große Freiheit bei der Wahl militärischer beziehungsweise nichtmilitärischer Mittel zur Bekämpfung einer Friedensbedrohung lassen.649
Dass es auch der Intention der UN-Gründerstaaten entspricht, die Errichtung einer
UN-Territorialverwaltung in den Kreis der Kapitel VII-Befugnisse einzubeziehen,
zeigt der bereits erwähnte norwegische Vorschlag bei der Konferenz von San
Francisco im Jahre 1945. Er sah vor, dem Beispielskatalog des späteren Art. 42 Satz
2 der Charta die Ermächtigung hinzuzufügen, die Verwaltung über ein Gebiet zu
645
So errichtete der Sicherheitsrat mit der Resolution 827 (1993) vom 25.5.1993 den internationalen
Strafgerichtshof für das Gebiet des früheren Jugoslawiens (ICTY) und mit der Resolution 955 (1994)
vom 8.11.1994 den internationalen Strafgerichtshof für Ruanda (ICTR).
646
S/RES/748 (1992) vom 31.3.1992 i.V.m. S/RES/731 (1992) vom 21.1.1992 (Libyen), S/RES/1054
(1996) vom 26.4.1996 (Sudan) und S/RES/1267 (1999) vom 15.10.1999 (Afghanistan).
647
§§ 7-14 S/RES/687 vom 3.4.1991, abgedr. in UNYB 1991, 172-176 (Irak).
648
So für die Errichtung internationaler Strafgerichte Frowein/Krisch, Art. 41 (2002), Rn. 19, und
Tomuschat, in: FS Arangio-Ruiz (2004), S. 1755 f.
ICTY, Tadič-Fall (Entscheidung v. 2.10.1995), abgedr. in: ILM 35 (1996), 32 (43 para. 31 u. 44 f.
para. 35); Goodrich/Hambro/Simons, UN Charter (1969), S. 312, und Frowein/Krisch, Art. 41 (2002),
Rn. 14, zu Art. 41 SVN. Für Art. 42 SVN siehe Goodrich/Hambro/Simons, UN Charter (1969), S.
315; Gill, NYIL 26 (1995), 33 (51); und Frowein/Krisch, Art. 42 (2002), Rn. 16. So stellt auch der
Bericht der UN, Threats, Challenges and Change (2004), in § 193 fest: „[T]he language of Chapter
VII is inherently broad enough, and has been interpreted broadly enough, to allow the Security Council to approve any coercive action at all (...) when it deems this ‘necessary to maintain or restore
international peace and security’.”
649
124
übernehmen, wenn anderenfalls ein Bedrohung des Friedens vorläge650. Diesen
Vorschlag zog der norwegische Delegierte nur deshalb zurück, weil befürchtet
wurde, eine zu ausführliche und detaillierte Aufzählung möglicher Maßnahmen
könnte zu der oben besprochenen restriktiven Auslegung der Kompetenzen des
Sicherheitsrats führen, welche die Gründerstaaten gerade vermeiden wollten.651
Zusammenfassend ist daher festzustellen, dass die Errichtung einer UN-Verwaltung
ein zwar atypisches, aber zulässiges Zwangsmittel ist, auf das sich der Sicherheitsrat
zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens stützen kann.652
b. Verortung und Umfang der Verwaltungskompetenz
Zu klären bleibt, welcher der beiden Artikel die eigentliche Rechtsgrundlage bildet
oder ob sogar beide in Frage kommen. Einerseits ist eine Zivilverwaltung
grundsätzlich kein militärisches Mittel, so dass seine Grundlage eher in Art. 41 SVN
zu suchen wäre.653 Allein eventuelle militärische Komponenten wie die KFOR im
Kosovo oder der militärische Teil der UNTAET müssten auf Art. 42 SVN gestützt
werden654. Andererseits erlaubt Art. 41 Satz 1 SVN nicht den Einsatz von
Waffengewalt („armed force“). Eine effektive Gebietsverwaltung erfordert aber den
Einsatz von Polizeigewalt zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, zur
Strafverfolgung und zum Verwaltungsvollzug.655 Insofern verwendet auch die
650
Siehe Norwegen, Doc. 2, G/7 (n) (1) v. 4.5.1945, UNCIO III, 365 (371 f.). Das dieser Passus den
späteren Art. 42 SVN (und nicht Art. 41 SVN) ergänzen sollte, deutet allerdings daraufhin, dass die
norwegische Delegation die Befugnis zur Gebietsverwaltung als Erweiterung der militärischen
Kompetenzen des Sicherheitsrats sah.
651
Siehe die Zusammenfassung der Diskussion in Committee III/3, Doc. 539 (24.5.1945), UNCIO
XII, 353 (354 f.) und den Bericht des zuständigen Berichterstatters Paul-Boncour, Doc. 881
(10.6.1945), UNCIO XII, 502 (508).
652
So auch die oben in Fn. 615 Genannten. Ablehnend Hoffman, IRRC No. 837 (2000), 193 (197 f.),
der mit dem lapidaren Hinweis, die Charta enthalte keine Ermächtigung zur Gebietsverwaltung, das
Recht der kriegerischen Besetzung als Rechtsgrundlage annimmt.
653
Für Art. 41 SVN als Rechtsgrundlage einer UN-Verwaltung auch Lagrange, AFDI 45 (1999), 335
(344); Matheson, AJIL 95 (2001), 76 (83 f.); Stahn, ZaöRV 61 (2001), 107 (131); Bothe/Marauhn, in:
Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the International Community (2002) (232); Wodarz, Kosovo-Konflikt
(2002), S. 222 f.; Frowein/Krisch, Art. 41 (2002), Rn. 21; von Carlowitz, AVR 41 (2003), 336 (342);
und Muharremi, Treuhandverwaltung (2005), S. 61 f.
654
Kondoch, JC&SL 6 (2001), 245 (256); Bothe/Marauhn, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the
International Community (2002) (232); Stahn, ZaöRV 61 (2001), 107 (131)
655
Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 295.
125
Zivilverwaltung armed force.
Eine klare Trennung zwischen Art. 41 und 42 SVN erscheint schwierig. Im Ergebnis
ist daher von einer gemischten Rechtsgrundlage auszugehen: Die Zwangsverwaltung
eines Krisengebietes durch den Sicherheitsrat stützt sich als weitgehend friedliche
Maßnahme primär auf Art. 41,656 hinsichtlich der Befugnis zur Anwendung von
Waffengewalt (armed force) aber auf Art. 42 SVN.657 Eine derartige gemischte
Rechtsgrundlage erweckt keine Bedenken, da die Schranken und Voraussetzungen
der Art. 41 und 42 SVN – vom Einsatz bewaffneter Gewalt abgesehen – dieselben
sind. Aus dem gleichen Grund führte auch eine Fundierung der UNZwangsverwaltung allein auf Art. 41 SVN658 oder allein auf Art. 42 SVN659 zu
keinem anderen Ergebnis. Der Annahme einer gemischten Rechtsgrundlage
entspricht auch die Praxis des Sicherheitsrates. Er ließ diese Frage offen und berief
sich bei der Einrichtung von UNMIK und UNTAET schlicht auf Kapitel VII der
Charta insgesamt.660
Die Befugnis des Sicherheitrates aus Art. 41 und 42 SVN, ein Krisengebiet auch
gegen den Willen des betroffen Staates zu verwalten, ist dabei umfassend. Sie erfasst
die Ausübung aller Hoheitsbefugnisse innerhalb des Gebietes, die erforderlich sind,
um das Gebiet effektiv zu verwalten und die von ihm ausgehende Bedrohung für den
Weltfrieden im Sinne des Art. 39 SVN zu beenden. Das beinhaltet nicht nur die
militärische oder polizeiliche Befriedung des Gebietes, sondern auch den Aufbau
neuer
Verwaltungsstrukturen
und
die
damit
einhergehenden
staatlichen
Gesetzgebungsbefugnisse.661 Kapitel VII der Charta erlaubt dem Sicherheitsrat somit
656
So im Ergebnis auch Milano, EJIL 14 (2003), 999 (1005), zur UN-Verwaltung im Kosovo
(UNMIK).
657
So Frowein/Krisch, Art. 41 (2002), Rn. 21. Muharremi, Treuhandverwaltung (2005), 62 f., geht
von einer Art. 41 SVN-Maßnahme aus, die ggf. um militärische Maßnahmen nach Art. 42 SVN
ergänzt werden könne.
658
Zimmermann/Stahn, Nordic JIL 70 (2001), 423 (438).
659
Conforti, The Law and Practice of the United Nations (2000) 206.
Siehe den jeweils letzten Präambel-§ S/RES/1244 (1999) und S/RES/1272 (1999): „[A]cting (....)
under Chapter VII of the Charter of the United Nations“.
660
661
Anders von Carlowitz, AVR 41 (2003), 336 (342 f.), der insoweit auf der Grundlage der implied
126
in letzter Konsquenz auch, Steuern zu erheben oder die Erteilung von
Fahrerlaubnissen zu regeln.
II.
Tatbestandliche Voraussetzungen einer UN-Zwangsverwaltung
(Artikel 39 SVN)
Steht somit fest, dass der Sicherheitsrat aufgrund seiner Kompetenzen aus Art. 41 f.
SVN eine UN-Zwangsverwaltung einrichten darf, bleibt zu prüfen, welche
tatsächlichen Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um dem Rat derartige
Maßnahmen zu erlauben. Diese Voraussetzungen sind in Art. 39 SVN niedergelegt.
Er besagt, dass der Rat zunächst das Vorliegen einer Angriffshandlung, eines Bruchs
oder wenigstens einer Bedrohung des Friedens und der internationalen Sicherheit
feststellen muss. Bei der Subsumtion einer tatsächlichen Situation unter die drei
Tatbestandsvarianten des Art. 39 verfährt der Sicherheitsrat dabei bislang eher
uneinheitlich.662 In den weitaus überwiegenden Fällen stellte er lediglich eine
Friedensbedrohung fest.663 Dies geschah teilweise selbst dann, wenn ein
internationaler bewaffneter Konflikt bereits offen ausgebrochen war.664 Da sich aber
die Rechtsfolgen der drei Tatbestandsvarianten nicht unterscheiden, soll im
Folgenden einheitlich der Begriff der Friedensbedrohung verwendet werden.
Die Frage, wann eine tatsächliche Situation als Bedrohung des Friedens eingestuft
werden kann, ist insbesondere im Hinblick auf die verstärkte Tätigkeit des
Sicherheitsrats seit dem Ende des Kalten Krieges sehr umstritten.665 Da diese
powers-Lehre von einer ungeschriebenen Annexkompetenz ausgeht.
662
Cohen-Jonathan, Art. 39 (1991), 645 (651 ff.); Franck, Fairness in International Law (1995), S.
222.
663
Chesterman, Just War or Just Peace? (2001), S.126 f.; Zambelli, La constatation des situations de
l'article 39 de la Charte (2002), S. 267.
664
Siehe beispielsweise S/RES/1304 (2000) vom 16.6.2000, insb. Präambel-§§ 9 u. 18. Weitere
Beispiele bei Frowein/Krisch, Art. 39 (2002), Rn. 16. Nach Lailach, Die Wahrung des Weltfriedens
(1998), S. 147, lässt sich dies damit erklären, dass die Bezeichnung einer Situation als Friedensbruch
von einzelnen Mitgliedern aus politischen Gründen abgelehnt wurde und man sich im Übrigen in
zweifelhafteren Fällen auf den weiten Begriff der Friedensbedrohung zurück zog.
665
Etwas weniger umstritten ist inzwischen die Frage, wann eine Aggression oder Angriffshandlung
vorliegt. Siehe dazu die Aggressionsdefinition der UN-Generalversammlung im Annex der Resolution
A/RES/3314 (XXIX) vom 14.12.1974 und IGH, Nicaragua (merits), ICJ-Rep. 1986, 14 (103 § 195).
Zum Scheitern der Versuche, bei der Konferenz von San Francisco eine Aggressionsdefinition in der
127
Kontroverse bereits ausreichende Bearbeitung in der Literatur666 erfahren hat, soll an
dieser Stelle lediglich der Stand der Diskussion kurz wiedergegeben werden.
Eingangs werden dabei die für die Auslegung des Art. 39 SVN relevanten
Gesichtspunkte dargelegt (1.), bevor die Diskussion zur Anwendung der Norm auf
interne Konflikte (2.) und auf die massive Verletzung völkerrechtlicher
Grundnormen (3.) in ihren Grundzügen wiedergegeben wird. Beide Aspekte sind für
die Einrichtung von UN-Zwangsverwaltungen von besonderer Bedeutung. So führen
gerade interne Konflikte oft zu einem Zusammenbruch staatlicher Strukturen, ohne
dass die Konfliktparteien in der Lage wären, diese eigenständig zu ersetzen. Die
massive Verletzung grundlegender völkerrechtlicher Normen, insbesondere im
Bereich der Menschenrechte, durch einen rechtlichen oder faktischen Hoheitsträger
diskreditiert diesen und kann es erforderlich machen, ihn dauerhaft oder
vorübergehend durch einen anderen zu ersetzen. Letzteres ist beispielsweise im
Kosovo geschehen.667 Dort wurde die jugoslawisch-serbische Verwaltung des
Gebietes von der internationalen Gemeinschaft als nicht mehr hinnehmbar
angesehen. Bis zur Heranbildung gefestigter Selbstverwaltungsorgane hat daher die
UN in Gestalt von UNMIK die Verwaltung des Gebiets übernommen.
1.
Gesichtspunkte bei der Auslegung des Art. 39 SVN
Obwohl Art. 39 SVN das Einfallstor zu den umfassenden Kompetenzen des
Sicherheitsrats nach Kapitel VII bildet, ist keiner seiner drei Schlüsselbegriffe
(„threat to [or] breach of the peace“, „act of aggression“) in der Charta näher
definiert.668 Dies entspricht der überwiegenden Absicht der UN-Gründerstaaten, es
Charta festzulegen siehe Paul-Boncour, Doc. 881 (10.6.1945), UNCIO XII, 502 (505).
666
Siehe insbesondere Zambelli, La constatation des situations de l'article 39 de la Charte (2002);
ferner Bauer, Effektivität und Legitimität (1996), S. 189-207; Gading, Souveränität (1996); Hufnagel,
UN-Friedensoperationen (1996), S. 222-289; Martenczuk, Rechtsbindung und Rechtskontrolle (1996),
S. 164 ff.; Lailach, Die Wahrung des Weltfriedens (1998), ; Österdahl, Threat to the Peace (1998);
Herbst, Rechtskontrolle (1999), S. 321-364; Stein, Sicherheitsrat und Rule of Law (1999), insbes. S.
111 ff.; Leiß, Interventionen (2000); Chesterman, Just War or Just Peace? (2001), S. 112-162; de
Wet, Chapter VII Powers (2004), S. 133-177. Weitere Literaturhinweise bei Frowein/Krisch, Art. 39
(2002), S. 717 f.
667
So Wilde, EJIL 15 (2004), 71 (85).
668
Goodrich/Hambro/Simons, UN Charter (1969), S. 295. Zu dem Versuch einer Definition einer
Angriffshandlung siehe oben Fn. 658.
128
der Praxis des Sicherheitsrates zu überlassen, diese Begriffe mit Inhalt zu füllen669.
Im Wortlaut des Art. 39 SVN wird dies durch die Formulierung „The Security
Council shall determine (...)“ deutlich gemacht, die dem Sicherheitsrat eine
weitreichende Einschätzungsprärogative zuweist.670 Teilweise wird sogar vertreten,
die
Feststellung
einer
Ermessensentscheidung
Friedensbedrohung
des
sei
Sicherheitsrates.671
eine
Alle
nicht
justiziable
Vorschläge,
den
Tätigkeitsbereich des Sicherheitsrates genauer zu definieren, wurden von der
Mehrheit der Gründerstaaten mit dem Argument abgelehnt, der Rat würde
anderenfalls daran gehindert, flexibel und angemessen auf Krisensituationen zu
reagieren.672 Es ist das Konzept der Charta, die unilaterale Gewaltausübung durch die
Mitgliedstaaten auf ein Minimum zu beschränken (Art. 2 Abs. 4 und Art. 51 SVN)
und im Gegenzug dem Sicherheitsrat als Kollektivorgan die Hauptverantwortung für
die Friedenswahrung zu übertragen (Art. 24 Abs. 1 SVN) sowie ihn zu befähigen,
auf jegliche Art von Friedensbedrohung angemessen reagieren zu können.673 Der
Tatbestand
des
Art.
39
SVN
ist
daher
trotz
seiner
potentiell
souveränitätsbeschränkenden Folgen (Art. 41 und 42 SVN) grundsätzlich weit
auszulegen, wobei der Praxis des Sicherheitsrates besondere Bedeutung zukommt.674
Insbesondere seit den frühen neunziger Jahren hat der Sicherheitsrat seine Tätigkeit
auf der Grundlage des Kapitels VII der Charta erheblich ausgebaut und ist bei der
Feststellung einer Friedensbedrohung über Fälle zwischenstaatlicher bewaffneter
669
Siehe den Bericht des Berichterstatters Paul-Boncour, Doc. 881 (10.6.1945), UNCIO XII, 502
(505); ferner Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 727. Herdegen, Die Befugnisse des UN
Sicherheitsrates (1998), S. 14, spricht von einer „Kompetenz ... [zur] normativen Konkretisierung“.
670
Gill, NYIL 26 (1995), 33 (45). Ähnlich Ipsen, VN 40 (1992), 41 (42), der aus dieser
Feststellungsbefugnis auf ein Recht des Sicherheitsrates zur dynamischen Interpretation des Begriffs
der Friedensbedrohung schließt.
671
Weeramantry, Diss. Op., IGH, 1971 Montreal Convention (prov. measures ), ICJ-Rep. 1992, 169
(176); Schwebel, Diss. Op., IGH, 1971 Montreal Convention (prelim. obj.), ICJ-Rep. 1998, 64 (80).
A.A. beispielsweise Martenczuk, EJIL 10 (1999), 517 (541 f.) m.w.N.
672
Paul-Boncour, Doc. 881 (10.6.1945), UNCIO XII, 502 (504 f.); Gowlland-Debbas, Collective
Responses (1990), S. 452; Frowein/Krisch, Art. 39 (2002), Rn. 2.
673
Gill, NYIL 26 (1995), 33 (39); Gray, Use of Force (2000), S. 144.
674
Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 234.
129
Konflikte weit hinausgegangen.675 So stellten die Staats- und Regierungschefs der im
Sicherheitsrat vertretenen Staaten bei einem Gipfeltreffen im Jahre 1992 fest, dass
Friedensbedrohungen auch wirtschaftliche, soziale, humanitäre oder ökologische
Ursachen haben können.676 Einem derart weiten Anwendungsbereich des Art. 39
SVN
scheint
die
Auffassung
zu
entsprechen,
die
Feststellung
einer
Friedensbedrohung habe rein formalen Charakter, eine Friedensbedrohung könne
alles sein, was der Sicherheitsrat für eine Friedensbedrohung halte.677
Sie geht indes zu weit. Zwar ist es richtig, dass die Charta dem Sicherheitsrat in
Form des Art. 27 SVN eher prozedurale als inhaltliche Schranken setzt.678 Ferner ist
er gemäß Art. 24 Abs. 2 Satz 1 SVN verpflichtet, die Ziele und Grundsätze der
Vereinten
Nationen
zu
beachten.679
Auch
der
politische
Charakter
des
Sicherheitsrates680 enthebt ihn nicht der Verpflichtung zur Beachtung der Charta.681
Bei der Erklärung, dass eine Situation die Voraussetzungen des Art. 39 SVN erfüllt,
675
Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 266; Österdahl, Threat to the Peace (1998), S. 18 ff.
Siehe auch die ausführlichen Fallstudien bei Stein, Sicherheitsrat und Rule of Law (1999), S. 142-298.
„The absence of war and military conflicts among States does not in itself ensure international
peace and security. The non-military sources of instability in the economic, social, humanitarian and
ecological fields have become threats to peace and security.” (Abschlusserklärung des Gipfeltreffens
des Sicherheitsrats zur Verantwortung des Rates für die Erhaltung des Weltfriedens und der
internationalen Sicherheit, 3046. Sitzung am 31.1.1992, UN Doc. S/23500, abgedruckt in UNYB
1992, 33 [34]).
676
677
Combacau, Pouvoir de sanction (1974), S. 99 f.; Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 727;
Österdahl, Threat to the Peace (1998), S. 97 f. In diese Richtung – allerdings für den Begriff des
Friedensbruches – auch Gill, NYIL 26 (1995), 33 (43 f.). Weitere Nachweise zu dieser Auffassung bei
Martenczuk, Rechtsbindung und Rechtskontrolle (1996), S. 186 f. Chesterman, Just War or Just
Peace? (2001), S. 158, nennt sie unter Berufung auf Lewis Carolls literarisches Werk Through the
Looking Glass (1872) Humpty-Dumpty-Doktrin: „’When I use a word,’ Humpty Dumpty said in a
rather scornful tone, ‘it means just what I choose it to mean – neither more nor less.’”
678
Degni-Segui, Article 24 (1991), 447 (464 f.); Frowein/Krisch, Art. 39 (2002), Rn. 4; Tomuschat,
in: FS Arangio-Ruiz (2004), S. 1765 f.
ICTY, Tadič-Fall (Entscheidung v. 2.10.1995), abgedr. in: ILM 35 (1996), 32 (41 § 29); Chesterman, Just War or Just Peace? (2001), S. 158; de Wet, Chapter VII Powers (2004), S. 191. DegniSegui, Article 24 (1991), 447 (462-464), betont demgegenüber, dass die Verantwortung zur
Friedenswahrung sehr umfangreich und unbestimmt ist und daher die Befugnisse des Sicherheitsrats
nicht wirklich begrenzen könne. Ausführlich zur Bindung des Sicherheitsrates an die Ziele und
Grundsätze der UN unten 4.Kp. A.II.
679
680
Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 735; Gill, NYIL 26 (1995), 33 (46).
681
IGH, Conditions of Admission (Gutachten), ICJ-Rep. 1947/48, 57 (64).
130
hat der Sicherheitsrat mithin zwar einen weiten Beurteilungsspielraum 682, ist aber
nicht gänzlich frei von inhaltlichen Vorgaben.683
2.
Interne Konflikte als Friedensbedrohung
Die vollständige Übernahme der Staatsgewalt durch die Vereinten Nationen wird in
der Regel vor allem dann in Frage kommen, wenn vor Ort keine effektive
Verwaltung mehr vorhanden oder möglich ist. Das ist oft der Fall, wenn ein Staat
oder ein Gebiet in Folge eines Bürgerkrieges völlig zerrüttet ist.684 Indes war lange
Zeit umstritten, ob rein innerstaatliche Krisen wie Bürgerkriege oder humanitäre
Katastrophen den Sicherheitsrat zu Zwangsmaßnahmen befugen.
a. Die Praxis des Sicherheitsrates
Schon früh ist allerdings argumentiert worden, dass der Weltfriede im Sinne des Art.
39 SVN auch durch rein innerstaatliche Vorgänge bedroht werden könne.685 Diese
Position hat sich der Sicherheitsrat allerdings nicht sofort zu Eigen gemacht und bei
Interventionen in innerstaatliche Konflikte zunächst stets explizit auf deren
internationale Auswirkungen abgestellt.686 So nennt die Resolution 688 (1991) zum
Schutz der Kurden im Nordirak nicht die Unterdrückung dieser Volksgruppe durch
die irakische Regierung, sondern die dadurch ausgelösten Grenzverletzungen und
Fluchtbewegungen von Kurden in die Nachbarländer als Bedrohung des Friedens
und der Sicherheit in der Region.687 Im gleichen Jahr verhängte der Sicherheitsrat ein
682
Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 233. Zur Frage zur Bedeutung der Begriffe
Ermessen und Beurteilungspielraum im Völkerrecht siehe Martenczuk, Rechtsbindung und
Rechtskontrolle (1996), S. 189-192, der dem Sicherheitsrat letztlich einen Beurteilungsspielraum
zuspricht (siehe S. 196-253, insbes. S. 240 ff.)
683
Martenczuk, Rechtsbindung und Rechtskontrolle (1996), S. 253; Tesón, Humanitarian Intervention
(1997), S. 231; Frowein/Krisch, Art. 39 (2002), Rn. 5.
684
Boutros-Ghali, Suppl. to an Agenda for Peace (1995), A/50/60 - S/1995/1, § 13.
685
Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 19. Siehe ferner zur UN-internen Diskussion in der
Anfangszeit der Organisation Goodrich/Hambro/Simons, UN Charter (1969), S. 296, und Chesterman, Just War or Just Peace? (2001), S. 130.
686
Chesterman, Just War or Just Peace? (2001), S. 130 mit weiteren Nachweisen.
Präambel-§ 3 S/RES/688 (1991) vom 5.4.1991 lautet: „Gravely concerned by the repression of the
Iraqi civilian population in many parts of Iraq (...), which lead to a massive flow of refugees towards
and across international frontiers and to cross-border incursions, which threaten international peace
687
131
Waffenembargo über die auseinander brechende, völkerrechtlich aber noch
bestehende Volksrepublik Jugoslawien.688 Die Auswirkungen der Kämpfe innerhalb
Jugoslawiens „auf die Grenzregionen der Nachbarstaaten“ ist hier aber bereits nur
noch einer von zwei Faktoren (neben den Verlusten an Menschenleben), die den
Sicherheitsrat eine Bedrohung des Weltfriedens annehmen lassen.689
Ähnlich enthielt Resolution 733 (1992), die ein Waffenembargo über das vom
Bürgerkrieg zerstörte Somalia verhängte, zwar noch einen Verweis auf die
Auswirkungen der humanitären Katastrophe auf die Region insgesamt, der
Schwerpunkt der Begründung einer Friedensbedrohung lag aber bereits auf den
Vorgängen im Land selber.690 In der Resolution 794 (1992), mit der der
Sicherheitsrat die Mitgliedstaaten zu einem Eingreifen in Somalia autorisierte, stellte
der Rat dagegen nur noch auf die katastrophale Lage im Land selbst ab.691 Spätestens
mit der Anordnung von Zwangsmaßnahmen gegen die angolanische Rebellengruppe
UNITA durch Resolution 864 (1993) stellte der Sicherheitsrat klar, dass auch interne
Auseinandersetzungen eine Friedensbedrohung im Sinne des Art. 39 SVN darstellen
können.692
Diese Auslegungspraxis des Rats spiegelt sich in den UN-Friedensmissionen wieder.
Während 1988 nur eine von fünfen einen innerstaatlichen Konflikt betraf, drehte sich
and security in the region.” § 1 S/RES/688 (1991) lautet: „Condemns the repression of the Iraqi civilian population (...) the consequences of which threaten international peace and security in the region” (Hervorhebungen durch den Verfasser). Siehe dazu auch Chesterman, Just War or Just Peace?
(2001), S. 130-133 m.w.N.
688
S/RES/713 (1991) vom 25.9.1991.
689
Siehe Präambel-§§ 2 u. 3 S/RES/713 (1991). Siehe aber auch Gowlland-Debbas, ICLQ 43 (1994),
55 (65), die in den Versuchen eines gewaltsamen Gebietserwerbs und einer gewaltsamen Änderung
bestehender Grenzen den Auslöser für eine Friedensbedrohung sieht.
690
Siehe Präambel-§§ 3 u. 4 S/RES/733 (1992) vom 23.1.1992.
S/RES/794 (1992) vom 3.12.1992, deren Präambel-§ 3 lautet: „Determining that the magnitude of
the human tragedy caused by the conflict in Somalia, further exacerbated by the obstacles being created to the distribution of humanitarian assistance, constitutes a threat to international peace and
security”. Ähnlich auch die Feststellung in S/RES/929 (1994) vom 22.6.1994 zum Genozid in Ruanda: „Determining that the magnitude of the humanitarian crisis in Rwanda constitutes a threat to
peace and security in the region” (letzter Präambel-§).
691
Siehe Teil B S/RES/864 (1993) vom 15.9.1993: „Determining that, as a result of UNITA’s military
actions, the situation in Angola constitutes a threat to international peace and security”.
692
132
das Verhältnis in der Folgezeit um: Nur zwei der elf im Zeitraum von 1992 bis 1995
autorisierten UN-Missionen hatten eine zwischenstaatliche Auseinandersetzung zum
Anlass.693 Dieser Trend hat auch nach 1995 weiter angehalten.694 Beispielsweise
wurde die Lage in der Provinz Ituri im Nordosten der Demokratischen Republik
Kongo auch nach Abzug der ausländischen Truppen aus der Region als
Friedensbedrohung
eingestuft.695
Diese
ständige
Praxis
des
Rates,
auch
innerstaatliche Konflikte von einem gewissen Gewicht als Friedensbedrohung im
Sinne des Art. 39 SVN zu qualifizieren,696 hat weitgehende Zustimmung und
Unterstützung von Seiten der Mitgliedstaaten erhalten.697 Dies zeigt einen gefestigten
Konsens innerhalb der Vereinten Nationen698 und kann insoweit als authentische
Konkretisierung des Art. 39 der Charta gesehen werden.699
b. Dogmatische Begründungsversuche
Seinem Wortlaut nach lässt Art. 39, 2. Halbsatz SVN Maßnahmen aber nur zur
Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen, mithin
zwischenstaatlichen Sicherheit zu. Zwei Begründungsansätze werden in der Literatur
693
Boutros-Ghali, Suppl. to an Agenda for Peace (1995), A/50/60 - S/1995/1, § 11.
694
So liegen den UN-Missionen in Sierra-Leone, an der Elfenbeinküste und in Haiti primär
innerstaatliche Konflikte zugrunde. Siehe dazu oben 2.Kp. O.
695
Siehe S/RES/1484 (2003) vom 30.5.2003 und S/RES/1493 (2003) vom 28.7.2003.
696
Eine Analyse der Praxis des Sicherheitsrats findet sich u.a. bei Hufnagel, UN-Friedensoperationen
(1996), S. 248-269, und Stein, Sicherheitsrat und Rule of Law (1999), S. 142-298 und Chesterman,
Just War or Just Peace? (2001), S. 128-139.
697
Siehe beispielsweise A/RES/46/242 vom 25.8.1992, welche das Handeln des Sicherheitsrats in
Jugoslawien billigte (verabschiedet mit nur einer Gegenstimme und fünf Enthaltungen) und
A/RES/47/167 vom 18.12.1992 zu Somalia (angenommen im Konsensverfahren). Siehe ferner die
Debatte im Sicherheitsrat am 28.8.2003, in der der Vertreter Pakistans die Bedrohung des
Weltfriedens durch innerstaatliche Konflikte ausdrücklich betonte (siehe die Pressemitteilung
SC/7860 vom 28.8.2003). Keiner der 15 Ratsmitglieder äußerte sich kritisch zur Ausdehnung der
Tätigkeit der UN im Rahmen des Peacekeeping. Ausführlich dazu Hufnagel, UN-Friedensoperationen
(1996), S. 279; und Lailach, Die Wahrung des Weltfriedens (1998), S. 215 f. Zu kritischen Stimmen
seitens der UN-Mitgliedstaaten siehe Stein, Sicherheitsrat und Rule of Law (1999), S. 327-330.
Zustimmend auch ICTY, Tadič-Fall (Entscheidung v. 2.10.1995), abgedr. in: ILM 35 (1996), 32
(43 § 30); ihm folgend Chesterman, Just War or Just Peace? (2001), S. 139; Frowein/Krisch, Art. 39
(2002), Rn. 18; jeweils mit weiteren Nachweisen zur Sicherheitsratspraxis.
698
699
Kritisch Stein, Sicherheitsrat und Rule of Law (1999), S. 299-312 u. 390, Dem zufolge die Praxis
des Rats eine unzulässige Rechtsfortbildung darstellt. Dagegen nimmt Tesón, Humanitarian Intervention (1997), S. 232 f., ein Recht zur kollektiven humanitären Intervention in interne Konflikte neben,
133
vertreten, um auch rein interne Konflikte darunter subsumieren zu können.700
Einserseits
wird
eine
Ausdehnung
des
Friedensbegriffes
auch
auf
den
innerstaatlichen Frieden angenommen, andererseits den Begriff der Bedrohung weit
ausgelegt.
Setzt man am Friedensbegriff an, so ließe sich argumentieren, der Weltfriede als
Friede in der Welt umfasse nicht nur die Beziehungen der Staaten untereinander,
sondern auch die Zustände innerhalb der Staaten.701 Weltfrieden und innerstaatlicher
Frieden stünden nicht im Exklusivitätsverhältnis zueinander, vielmehr ist letzterer
Bestandteil und notwendige Voraussetzung des ersteren. Dies hätte zur Folge, dass
prinzipiell jeder innerstaatliche bewaffnete Konflikt eine Friedensbedrohung im
Sinne des Art. 39 SVN bedeutete702 und es allein im Ermessen des Sicherheitsrat
läge, Maßnahmen zu ergreifen oder den Dingen ihren Lauf zu lassen.703
Wesentliches Merkmal dieser Ansicht ist jedoch, dass sie von einer inhaltlichen
Modifikation der Charta ausgeht.704 Im Hinblick auf die Veränderung der sachlichen
Realitäten seit Unterzeichnung der Charta, die hinreichend gefestigte Praxis des
Rates und weitgehende Zustimmung der Mitgliedstaaten vertritt sie eine dynamische
d.h. außerhalb des Art. 39 SVN an.
700
Zambelli, La constatation des situations de l'article 39 de la Charte (2002), S. 270 f. Siehe auch
die Diskussion bei Stein, Sicherheitsrat und Rule of Law (1999), S. 301-312, der sich allerdings im
Ergebnis für die Anwendung des sog. positiven Friedensbegriffs, d.h. Frieden als Verwirklichung
bestimmter Grundwerte der internationalen Gemeinschaft, ausspricht (ebenda, S. 307 ff.).
701
In diese Richtung Delbrück, in: Kühne, Blauhelme (1993), S. 107; Tomuschat, RdC 241 (1993),
195 (341 f.); Conforti, Nazioni Unite (1994), S. 175; Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S.
289; Ruffert, ICLQ 50 (2001), 613 (617). Kritisch zur Erweiterung des Friedensbegriffes Stein,
Sicherheitsrat und Rule of Law (1999), S. 301 f., und de Wet, Chapter VII Powers (2004), S. 139-144.
702
Einschränkend Martenczuk, Rechtsbindung und Rechtskontrolle (1996), S. 232, der erst dann eine
innerstaatliche Auseinandersetzung als internationalen bewaffneten Konflikt ansehen will, wenn sie
der Kontrolle des betroffenen Staates entgleitet und diesem so das innerstaatliche Gewaltmonopol
genommen wird. Dies stuft er allerdings bereits als Bruch des Friedens im Sinne des Art. 39 SVN ein
(ebenda, S. 232), so dass eine Friedensbedrohung bereits im Vorfeld eines staatlichen
Kontrollverlustes anzunehmen wäre.
703
Ablehnend de Wet, Chapter VII Powers (2004), S. 144, die mit dem Argument, die Charta sähe
eine solches unbegrenztes, die Kompetenzordung beseitigendes Ermessen des Sicherheitsrates nicht
vor, am Kriterium des internationalen, staatsübergreifenden Frieden festhält.
704
Dies betont Zambelli, La constatation des situations de l'article 39 de la Charte (2002), S. 288.
Koskenniemi, EJIL 6 (1995), 325 (341 f.), spricht dem Sicherheitsrat indes die Befugnis ab, eine
derartige inhaltliche Änderung des Friedensbegriffes durchzusetzen. Dies sei allein Sache der
Generalversammlung als Vertretung aller Mitgliedstaaten.
134
Auslegung des Art. 39 SVN dahingehend, dass der Friedensbegriff nunmehr auch
den innerstaatlichen Frieden erfasst.705 Dogmatisch wird dies unter Anderem mit
dem Effektivitätsgrundsatz begründet – nur so werde den Vereinten Nationen trotz
sich wandelnder Verhältnisse die Erreichung ihrer Ziele und Aufgaben ermöglicht.706
Diese Ansicht wird auch der Tendenz des Sicherheitsrats gerecht, zunehmend allein
die humanitäre Lage und nicht mehr deren Auswirkungen auf die Nachbarstaaten
zum Anlass für die Feststellung einer Friedensbedrohung zu nehmen.707
Die andere Möglichkeit, die neuere Praxis des Sicherheitsrats mit der Charta zu
vereinbaren, ist, auf die internationalen Auswirkungen interne Konflikte zu
verweisen, mithin den Begriff der Friedensbedrohung weit auszulegen. In der Tat
zeigt die Erfahrung, dass jeder Bürgerkrieg und jede humanitäre Katastrophe
zumindest in der Form von Flüchtlingsströmen Auswirkungen auf Nachbarstaaten
haben wird.708 Interne Konflikte von einiger Dauer und Intensität haben zudem
regelmäßig eine destabilisierende Wirkung auf die Region.709 Aufgrund der eher
zunehmenden Interdependenz der internationalen Gemeinschaft wird kaum noch ein
interner Konflikt ohne internationale Auswirkungen bleiben.710 Es ließe sich daher
ohne Weiteres auf der Grundlage dieser allgemeinen Erfahrungen argumentieren,
dass ein Bürgerkrieg stets eine Bedrohung des Weltfriedens darstelle. 711 Dem wird
705
Ipsen, VN 40 (1992), 41 (42), und die oben in Fn. 694 Genannten. Noch weitergehend Zambelli,
La constatation des situations de l'article 39 de la Charte (2002), S.330, der sämtliche Verstöße gegen
Grundwerte der Völkergemeinschaft als Friedensbedrohung einstuft.
706
Zambelli, La constatation des situations de l'article 39 de la Charte (2002), S. 277.
707
Zambelli, La constatation des situations de l'article 39 de la Charte (2002), S. 272-274 mit weiteren Nachweisen.
708
Gordon, Michigan JIL 15 (1994), 519 (569 f.); UN, Brahimi-Report (2000), § 18; de Wet, Chapter
VII Powers (2004), S. 143. So auch zur Begründung einer Friedensbedrohung in Ruanda ICTR,
Kanyabashi-Fall (Entscheidung v. 18.6.1997), § 21. Zu den möglichen internationalen Folgen
innerstaatlicher Sitationen allgemein Lailach, Die Wahrung des Weltfriedens (1998), S. 196 f.
709
Gordon, Michigan JIL 15 (1994), 519 (579). Als Beispiel seien nur die sich wechselseitig
verstärkenden Bürgerkriege in Sierra-Leone, Liberia und der Elfenbeinküste einerseits sowie in
Ruanda, Burundi und der demokratischen Republik Kongo andererseits genannt.
710
So bereits van Well, EA 47 (1992), 703 (706).
711
Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 282. In diese Richtung auch van Well, EA 47
(1992), 703 (706). Kritisch Lailach, Die Wahrung des Weltfriedens (1998), S. 203 f., und Stein,
Sicherheitsrat und Rule of Law (1999), S. 303 f. (jeweils m.w.N.).
135
entgegengehalten, dass man so die Grenze zwischen dem für – auch potentielle –
Friedensgefährdungen
konzipierten
Kapitel
VI712
und
dem
für
akute
Friedensbedrohungen konzipierten Kapitel VII der Charta aufhebe713 und Kapitel VI
ohne eigenständigen Anwendungsbereich lasse.714
Jedenfalls handelt es sich bei der Einstufung auch primär interner Konflikte als
Friedensbedrohung im Sinne des Art. 39 SVN um eine seit längerem gefestigte
Praxis des Sicherheitsrates. Ihr wird mittlerweile seitens der Mitgliedstaaten kaum
noch Widerstand entgegengebracht wird. Ein Eingriffsrecht des Sicherheitsrates bei
internen Konflikten wird nicht mehr ernsthaft bestritten.715 Insofern kann letztlich
dahinstehen, ob diese ständige Praxis auf einer erweiterten Auslegung des
Friedensbegriffs beruht oder ob der Begriff der Bedrohung weiter gefasst wird. Auch
interne Konflikte sind somit potentieller Anwendungsbereich für eine UNVerwaltung unter Kapitel VII der Charta.
3.
Verletzung grundlegender Normen des Völkerrechts als Friedensbedrohung
Wesentlich zweifelhafter erscheint dagegen, ob der Sicherheitsrat auch für Gebiete
Zwangsverwaltungen einrichten darf, deren Machthaber grundlegende Normen des
Völkerrechts massiv verletzen, ohne dass es zu kriegerischen Auseinandersetzungen
kommt und ohne dass es Auswirkungen auf Nachbarstaaten gibt. Zu denken ist hier
in erster Linie an Diktaturen, die beispielsweise das Selbstbestimmungsrecht einer
Volksgruppe missachten oder systematische Menschenrechtsverletzungen wie
Folterungen und Verschleppung von Oppositionellen begehen. Hier fehlt es nicht nur
an der Internationalität des fraglichen Vorganges, es liegt auch kein kriegerischer
Konflikt vor. Unter den Friedensbegriff ließen sie sich daher nur dann fassen, wenn
dieser nicht gemäß seinem ursprünglichen Wortsinn nur – negativ – die Abwesenheit
Siehe den Wortlaut des Art. 33 Abs. 1 SVN: „(...) any dispute, the continuance of which is likely to
endanger the maintenance of international peace (...)“.
712
713
Zu dieser Unterscheidung siehe Zambelli, La constatation des situations de l'article 39 de la
Charte (2002), S.188-192.
714
Martenczuk, Rechtsbindung und Rechtskontrolle (1996), S. 234; Stein, Sicherheitsrat und Rule of
Law (1999), S. 304.
715
Chesterman, Just War or Just Peace? (2001), S. 139; Frowein/Krisch, Art. 39 (2002), Rn. 18.
136
von kriegerischen Auseinandersetzungen umfasste,716 sondern darüber hinaus –
positiv – auch die Wahrung gewisser völkerrechtlicher Grundwerte,717 oder des sog.
völkerrechtlichen ordre public718.
a. Menschenrechtsverletzungen und humanitäre Katastrophen
In diese Richtung scheint auch der Sicherheitsrat zu tendieren, da er Feststellungen
einer Friedensbedrohung in seinen Resolutionen zunehmend allein mit der jeweiligen
humanitären Lage begründet.719 Beispiele sind die Resolutionen zu Somalia (1992)
und Ruanda (1994).720 Auch im Falle des Kosovo hat er maßgeblich auf die
drohende humanitäre Katastrophe verwiesen.721 Diesen Fällen lag allerdings immer
eine bewaffnete Auseinandersetzung verfeindeter Gruppierungen zugrunde. Sie
belegen daher nicht, dass der Sicherheitsrat humanitären Katastrophen per se, d. h.
ohne dass ihnen ein bewaffenter Konflikt zugrunde liegt, für eine Friedensbedrohung
hält, auch wenn sie eine dahingehende Vermutung stützen.722
716
Diese Auslegung wird auch als negativer Friedensbegriff bezeichnet. Siehe dazu Stein,
Sicherheitsrat und Rule of Law (1999), S. 118; ferner Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S.
226 (jeweils m.w.N.).
717
Gaja, RGDIP 97 (1993), 297 (307); Zambelli, La constatation des situations de l'article 39 de la
Charte (2002), S. 331; Stein, Sicherheitsrat und Rule of Law (1999), S. 307-310, der darin eine
Rechtsfortbildung sieht (ebenda, S. 311). Martenczuk, Rechtsbindung und Rechtskontrolle (1996), S.
246, spricht von fundamentalen und essentiellen Werten der internationalen Gemeinschaft.
718
Brunner, NZWehrR 34 (1992), 1 (3); Dupuy, in: FS Bernhardt (1995), S. 51; Bauer, Effektivität
und Legitimität (1996), S.198 f. In diese Richtung auch Hobe, in: ders. (Hrsg.), Präambel der UNCharta (1997), S. 67 f.
719
Allgemein zum Engagement des Sicherheitsrates im Bereich der Menschenrechte Bailey, Security
Council and Human Rights (1994); Ramcharan, Protection of Human Rights (2002); und Weschler,
in: Malone (Hrsg.), Security Council (2004), S. 55-68.
720
Siehe oben Fn. 684. Zu den Beweggründen der Sicherheitsratsmitglieder siehe Lailach, Die
Wahrung des Weltfriedens (1998), S. 136 (Somalia) und 138 (Ruanda).
721
Siehe S/RES/1199 (1998) vom 23.9.1998, S/RES/1203 (1998) vom 24.10.1998 und S/RES/1244
(1999) vom 10.6.1999, ferner ihre Besprechung bei Zambelli, La constatation des situations de l'article 39 de la Charte (2002), S.259-263.
722
Zu Berücksichtigen ist aber auch, dass der Sicherheitsrat vor allem ein politisches Organ ist.
Schwere Menschenrechtsverletzungen und humanitäre Katastrophen mögen daher der politische
Auslöser für ein Tätigwerden des Rats sein und deshalb in den Erwägungsgründen der entsprechenden
Resolutionen genannt werden. Dies besagt aber nicht notwendigerweise, dass sie auch das rechtliche
Fundament der Resolution bilden oder bilden sollen. Ähnlich Lailach, Die Wahrung des Weltfriedens
(1998), S. 135.
137
Auch wenn er explizit schwere Menschrechtsverletzungen als Friedensbedrohung
kennzeichnete,723 galt dies nur für solche Taten, die im Rahmen von
Kampfhandlungen verübt wurden und werden.724 Auch in den oft als Beispiel
genannten Fällen Rhodesiens und Südafrikas stützten sich die entsprechenden
Resolutionen zumindest formal weniger auf die in diesen Ländern praktizierte
Apartheidspolitik als vielmehr auf die Bedrohung, die von diesen Staaten auf die
Nachbarstaaten ausging.725 Somit hat der Sicherheitsrat bisher die Grenzen des
negativen Friedensbegriff bei der Anwendung des Art. 39 SVN noch nicht
gesprengt.726 Vielmehr bewegt sich seine Praxis in dem bereits zu den internen
Konflikten skizzierten Rahmen. Damit sie eine Friedensbedrohung darstellen
können,
müssen
schwere
Menschenrechtsverletzungen
oder
humanitäre
Katatstrophen ihre Ursachen daher weiterhin in einem bewaffneten Konflikt
haben.727 Ohne einen solchen Konfliktbezug können sie nur dann eine
723
So unter anderem in Osttimor, siehe jeweils Präambel-§ 13 der Resolutionen 1264 (1999) vom
15.9.1999 und 1272 (1999) vom 25.10.1999.
724
Siehe beispielsweise § 5 S/RES/1296 (2000) vom 19.4.2000 über den Schutz von Zivilisten in
bewaffneten Konflikten: „Notes that (...) the committing of systematic, flagrant and widespread violations of (...) human rights law in situations of armed conflict may constitute a threat to international
peace and security (…)” (Hervorhebungen durch den Verfasser). Diese Aussage wiederholte er in § 9
S/RES/1314 (2000) vom 11.8.2000 über den Schutz von Kindern in bewaffneten Konflikten.
725
In S/RES/232 (1966) vom 16.12.1966 bezeichnete der Sicherheitsrat die Lage in Rhodesien
insgesamt und ohne nähere Ausführungen als Friedensbedrohung. Die Mehrheit der zeitgenössischen
und älteren Kommentatoren sah den drohenden Konflikt mit den Nachbarstaaten als Grundlage dieser
Feststellung (siehe Stein, Sicherheitsrat und Rule of Law (1999), S. 146-151 m.w.N.; Frowein/Krisch,
Art. 39 (2002), Rn. 19, ferner umfassend Gowlland-Debbas, Collective Responses (1990)). Im Falle
Südafrikas begründete der Sicherheitsrat seine Feststellung einer Friedensbedrohung in S/RES/418
(1977) vom 4.11.1977 ausdrücklich mit der militärischen Aufrüstung Südafrikas. Ausführlicher Stein,
Sicherheitsrat und Rule of Law (1999), S. 151-154. Die Bedeutung des Apartheidsregime bzw. des
Selbstbestimmungsrechtes bei der Feststellung der Friedensbedrohung betont dagegen beispielsweise
Tomuschat, RdC 241 (1993), 195 (337 f.).
726
So aber Stein, Sicherheitsrat und Rule of Law (1999), S. 307-310, der darin eine im Ergebnis
unzulässige Rechtsfortbildung sieht. Für die Auslegung des Art. 39 SVN im Sinne des negativen
Friedensbegriffes dagegen Zambelli, La constatation des situations de l'article 39 de la Charte
(2002), S. 185 und 193. Für einen dynamisch-objektive Auslegung des Art. 39 SVN, die zwar von
einem negativen Friedensbegriff ausgeht, diesen aber aus teleologischen Gesichtspunkten auf
innerstaatliche Zusammenbrüche erweitert, Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 234-289.
727
Martenczuk, EJIL 10 (1999), 517 (544); Frowein/Krisch, Art. 39 (2002), Rn. 21. Lailach, Die
Wahrung des Weltfriedens (1998), S. 182 u. 207, sieht zwar auch die Abwesenheit extremen
menschlichen Leids unabhängig von einem internationalen bewaffneten Konflikt als vom
Friedensbegriff des Art. 39 SVN erfasst an, fordert aber, dass das Leid durch menschliche
Gewaltanwendung hervorgerufen wurde. Weitergehend UN, Threats, Challenges and Change (2004),
§§ 200 f., die auf der Grundlage einer sich entwickelnden Schutzverpflichtung der Staaten
(„responsibility to protect“) Völkermord und umfangreiche ethnische Säuberungen wohl per se
138
Friedensbedrohung darstellen, wenn sie die konkrete Gefahr bergen, einen
internationalen bewaffneten Konflikt auszulösen.728
Diese Gefahr kann auch darin liegen, dass andere Staaten drohen, militärisch
einzugreifen. Das gilt nicht nur, wenn der Intervention eigennützige Motive
zugrunde liegen – beispielsweise, eine bevorzugte politische Gruppierung an die
Macht zu bringen –, sondern auch wenn sie allein aus altruistischen Erwägungen
erfolgen soll. Auch eine drohende humanitäre Intervention von Drittstaaten stellt eine
Friedensbedrohung im Sinne des Art. 39 SVN dar, die dem Sicherheitsrat erlaubt
tätig zu werden. Das gilt unabhängig davon, ob eine unilaterale humanitäre
Intervention für völkerrechtskonform hält oder nicht. Als zwischenstaatliche
Ausübung militärischer Gewalt stellt sie einen Bruch des Weltfriedens auch in seiner
engsten Auslegung dar. Ein völkerrechtswidriges Verhalten ist für Art. 39 SVN nicht
erforderlich.729 Per se aber erlauben schwere Menschenrechtsverletzungen aber noch
keine Zwangsmaßnahmen des Sicherheitsrats.
b. Beseitigung einer demokratisch gewählten Regierung
Ähnliche Zurückhaltung ist bei der Annahme einer Friedensbedrohung in Folge des
Umsturzes einer demokratische gewählten Regierung geboten. Die nichtdemokratische Regierungsform allein reicht für eine Friedensbedrohung nicht aus.730
Zum Einen wären dann ein nicht unerheblicher Teil der Staatengemeinschaft des
Schutzes des Art. 2 Ziff. 7 SVN beraubt,731 zum Anderen gibt es dafür in der Praxis
ausreichen lassen, um ein Interventionsrecht des Sicherheitsrates zu begründen.
728
Ähnlich Martenczuk, Rechtsbindung und Rechtskontrolle (1996), S. 239, der für eine
Friedensbedrohung fordert, dass das fragliche Verhalten „zu einer wesentlichen Ursache für einen
bewaffneten internationalen Konflikt werden kann.“ Die Einrichtung eines Apartheidsregimes und
andere ethnisch oder religiös motivierte Verfolgungen zählt er allerdings dazu (ebenda, S. 251 f.).
729
Gowlland-Debbas, Collective Responses (1990), S. 452; Morrison, in: Delbrück (Hrsg.), Allocation
of Authority (1995), S. 44; Lailach, Die Wahrung des Weltfriedens (1998), S. 192; Frowein/Krisch,
Art. 39 (2002), Rn.9.
730
Martenczuk, Rechtsbindung und Rechtskontrolle (1996), S. 252 f. Teilweise wird allerdings die
Regierungsform der Demokratie als eine Voraussetzung für die Erhaltung des Weltfriedens angesehen
(so u.a. Franck, AJIL 86 (1992), 46 (88), ferner Zambelli, La constatation des situations de l'article 39
de la Charte (2002), S. 319 f. m.w.N.). Dies entspricht aber wiederum eher dem Aufgabenkreis des
Kapitels VI der Charta.
731
Chesterman, Just War or Just Peace? (2001), S. 158.
139
des Sicherheitsrats keine Anhaltspunkte.
Resolution 940 (1994), mit der die Wiedereinsetzung des gewählten haitianischen
Präsidenten Aristide durch eine multinationale Streitmacht autorisiert wurde,
bezeichnet lapidar die gesamte Situation auf dem karibischen Inselteil unter
expliziter Erwähnung der Situation der Flüchtlinge als Friedensbedrohung.732 Die
Wiedereinsetzung der demokratischen Regierung wird lediglich als Ziel der
internationalen Gemeinschaft, nicht aber als Ursache ihres Tätigwerdens genannt.733
Eine Auslegung der Resolution 940 (1992) dahingehend, dass allein in der
Beseitigung der demokratischen Regierung eine Friedensbedrohung liegt, ist daher
nicht zwingend.734 Ferner bezeichnete der Sicherheitsrat die Situation in Haiti und
die zu ihrer Bereinigung ergriffenen Maßnahmen ausdrücklich als einzigartig und
außergewöhnlich.735 Sie kann daher nicht als Präzedenzfall für eine erweiterte
Auslegung des Art. 39 SVN gesehen werden,736 zumal der Sicherheitsrat eine
vergleichbare Feststellung bislang nicht wieder getroffen hat737. Nach dem
gegenwärtigen
Stand
erlauben
daher
weder
eine
nicht-demokratische
Regierungsform noch der Umsturz einer demokratisch gewählten Regierung per se
die Einrichtung einer UN-Zwangsverwaltung über das betroffene Gebiet.
732
Siehe den 3., 4. und letzten Erwägungsgrund S/RES/940 (1994) vom 31.7.1994.
733
Siehe den 8. Erwägungsgrund und Art. 4 S/RES/940 (1994).
734
Chesterman, Just War or Just Peace? (2001), S. 159. Tesón, Humanitarian Intervention (1997), S.
253, sieht sie aber als Beleg für ein Recht des Sicherheitsrats zur Intervention auch ohne das
Vorliegen einer Friedensbedrohung im Sinne des Art. 39 SVN.
§ 2 S/RES/940 (1992): „Recognizes the unique character of the present situation in Haiti (…)
requiring an exceptional response”.
735
736
Chesterman, Just War or Just Peace? (2001), S. 159, der darüber hinaus die Zustimmung des
gewählten und international anerkannten Präsidenten Aristide anführt, welche das Eingreifen der USgeführten Truppen auch ohne Rückgriff auf Kapitel VII der Charta hinreichend legitimiere. Dagegen
Tesón, Humanitarian Intervention (1997), S. 256. Ausführlicher zu dieser Frage Fulda, Demokratie
(2002), S. 43-51.
737
Zwar ordnete der Sicherheitsrat in S/RES/1132 (1997) vom 8.10.1997 die Wiedereinsetzung der
demokratisch gewählten Regierung in Sierra Leone an. Indes herrschten dort nach dem Militärcoup
bürgerkriegsähnliche Zustände und der Rat betonte bei seiner Feststellung einer Friedensbedrohung in
der Region die Auswirkungen des Konflikts auf die benachbarten Staaten.
140
c. Missachtung des Selbstbestimmungsrechts
Ähnliches gilt nach dem gegenwärtigen Stand der Praxis auch für das Recht der
Völker auf Selbstbestimmung.738 So hat der Sicherheitsrat im Falle des Kosovo zwar
betont, dass er eine politische Lösung des Konflikts dahingehend befürworte, dass
dem Kosovo größere Autonomie und echte Selbstverwaltung zugestanden werden.739
Die Einstufung der Situation im Kosovo als Bedrohung des Friedens in der Region
hat er allerdings mit den gewalttätigen Auseinandersetzungen in dem Gebiet,740 den
andauernden Menschenrechtsverletzungen, der drohenden humanitären Katastrophe
und den Flüchtlingsströmen in der Region begründet.741 Etwas anderes mag für Fälle
fortdauernder gewaltsamer Kolonialisierung gelten.742 Sieht man Osttimor als einen
durch die indonesische Besetzung aufgehaltenen Fall der Dekolonialisierung an,743
so ist zu berücksichtigen, dass der Sicherheitsrat nur zwei Mal im Zusammenhang
mit Osttimor eine Bedrohung des Friedens im Sinne des Art. 39 der Charta
feststellte.744 Auch hier wird dies indes nur mit der humanitären Situation, den
Vertreibungen und den verbreiteten Verletzungen von humanitärem Völkerrecht und
Menschenrechten begründet.745 Eine Verletzung des Selbstbestimmungsrechts
erscheint daher nur insofern relevant, als dass sie wegen des (oft ethnischen oder
738
Anders Zambelli, La constatation des situations de l'article 39 de la Charte (2002), S. 319, der das
Recht auf Selbstbestimmung als Grundwert des Völkergemeinschaft ansieht, zu dessen Schutz der
Sicherheitsrat Maßnahmen nach Kapitel VII ergreifen dürfe. Ausführlicher zum
Selbstbestimmungsrecht unten 4.Kp. B.III.
Siehe § 5 S/RES/1160 (1998) vom 31.3.1998: „(...) and expresses its support for an enhanced
status of Kosovo which would include a substantially greater degree of autonomy and meaningful
self-administration“. Diese Aussage wiederholte der Rat im Präambel-§ 8 S/RES/1203 (1998) vom
24.10.1998.
739
740
Präambel-§ 3 S/RES/1160 (1998) vom 31.3.1998. Allerdings trifft der Rat in dieser Resolution
keine ausdrückliche Feststellung gemäß Art. 39 SVN. Die implizite Feststellung einer
Friedensbedrohung ist aber darin zu sehen, dass der Sicherheitsrat sich auf Kapitel VII der Charta
beruft. Kritisch zu einer solchen Feststellung Zambelli, La constatation des situations de l'article 39
de la Charte (2002), S. 259 f.
741
S/RES/1199 (1998) vom 23.9.1998 und S/RES/1203 (1998) vom 24.10.1998.
742
Martenczuk, Rechtsbindung und Rechtskontrolle (1996), S. 251.
743
Stahn, MP-UNYB 5 (2001), 105 (110).
744
S/RES/1264 (1999) vom 15.9.1999 und S/RES/1272 (1999) vom 25.10.1999, jeweils im vorletzten
Präambel-§.
745
Ebenda. Auch Kondoch, JC&SL 6 (2001), 245 (255), hält das Selbstbestimmungsrecht für nicht
entscheidend für die Feststellung einer Friedensbedrohung im Sinne des Art. 39 SVN.
141
religiösen) Konfliktpotentials und der möglichen Auswirkungen auf Staatsgrenzen in
besonderem Maße geeignet ist, eine den Weltfrieden bedrohende Situation zu
schaffen.746 Das entspricht allerdings eher einer Situation, wie sie Kapitel VI der
Charta vorsieht.
Als Zwischenstand lässt sich daher festhalten, dass der Sicherheitsrat bei der
Feststellung einer Friedensbedrohung grundsätzlich einen großen Spielraum besitzt.
Der Begriff der Friedensbedrohung ist weit auszulegen und erfasst auch primär
innerstaatliche Konflikte. Dagegen umfasst er bislang die Verletzung grundlegender
völkerrechtlicher Normen nur insoweit, als diesen ein bewaffneter Konflikt zugrunde
liegt. Für sich genommen reicht die Verletzung von Völkerrecht oder
Menschenrechten für eine Friedensbedrohung im Sinne des Art. 39 SVN und mithin
für die Einrichtung einer UN-Zwangsverwaltung über ein Gebiet nicht aus.
III.
Die Bedeutung staatlicher Zustimmung zu einer Zwangsverwaltung
Wesentliches Charakteristikum einer Zwangsmaßnahme nach Kapitel VII der Charta
ist ihre Unabhängigkeit von einer Einwilligung seitens des betroffenen Staates.
Dennoch lag in den bisherigen Fällen, in denen der Sicherheitsrat auf der Grundlage
von Kapitel VII der Charta eine UN-Verwaltung über ein Gebiet einrichtete, stets
eine
wie
auch
immer
geartete
Einwilligung
des
oder
der
betroffenen
Territorialstaaten vor. Im Falle der UNMIK ging der Resolution 1244 (1999) die
Festlegung eines Friedensplans durch die G8-Staaten voraus,747 dem die
jugoslawische Regierung und das serbische Parlament zustimmten.748 Dieser
Friedensplan enthielt bereits die wesentlichen Grundzüge einer internationalen
Verwaltung des Kosovo, wie sie am 10. Juni 1999 durch den Sicherheitsrat
eingerichtet wurde. Auch in die Stationierung von NATO-Truppen hatten Serbien
746
Martenczuk, Rechtsbindung und Rechtskontrolle (1996), S. 251 f., nimmt daher zumindest dann
eine Friedensbedrohung im Sinne des Art. 39 SVN an, wenn die Unterdrückung bzw. Verfolgung
„Ausmaße annimmt, die denen des Völkermords zumindest nahe kommen.“
747
S/1999/516 vom 6.5.1999, abgedr. als Annex 1 u. 2 zu S/RES/1244 (1999).
748
Siehe den Brief des ständigen Vertreters Deutschlands bei den Vereinten Nationen an den
Präsidenten des Sicherheitsrats vom 7.6.1999 (S/1999/649). Ausführlich zur UNMIK und ihrer
Vorgeschichte oben 2.Kp. L.
142
und die Bundesrepublik Jugoslawien bereits zuvor eingewilligt.749
Während die Rechtswirksamkeit dieser Einwilligung in Hinblick auf das
vorangegangene Bombardement Jugoslawiens durch die NATO zweifelhaft
erscheinen mag,750 wurden die Vereinbarungen betreffend Osttimor ohne derartigen
militärischen Zwang getroffen.751 Art. 6 des Abkommens zwischen Indonesien und
Portugal vom 5. Mai 1999752 sah die Übernahme der Verwaltungshoheit über
Osttimor durch die Vereinten Nationen vor, sollten sich die Ostimoresen in dem
vereinbarten Referendum für die Unabhängigkeit entscheiden. Das Abkommen kam
unter Vermittlung der Vereinten Nationen zustande, die seinen Abschluss durch die
Unterschrift ihres Generalsekretärs bezeugten. Ein Folgeabkommen, bei dem die UN
selbst Vetragspartei waren, regelte die Ausführung der von den Vereinten Nationen
übernommenen
Aufgaben.753
Diesen
Vorgaben
entsprechend
und
unter
ausdrücklicher Berufung auf diese Vereinbarung übernahm die UN im Oktober die
Verantwortung für Osttimor.754 Man kann daher von einer vertragsrechtlichen
Grundlage der UNTAET ausgehen und Resolution 1272 (1999) lediglich als
Umsetzung der Verträge vom 5. Mai 1999 seitens der Vereinten Nationen sehen.755
Ein Rückgriff auf Kapitel VII der Charta erscheint deshalb im Falle Osttimors nicht
zwingend, wenn auch zulässig.756.
Ähnlich liegt der Fall der UN-Verwaltung Ostslavoniens (UNTAES). Auch ihr lag
749
Siehe das sog. Military-technical Agreement zwischen KFOR und den Regierungen der
Bundesrepublik Jugoslawiens und Serbiens vom 9.6.1999 (auch Kumanovo-Abkommen genannt),
abgedruckt in S/1999/682 vom 15.6.1999 sowie in ILM 38 (1999), 1217-1222.
750
Milano, EJIL 14 (2003), 999 (1007-1015), hält aus diesem Grund zumindest das militärtechnische
Abkommen für nichtig.
751
Ausführlich zu UNTAET und ihrer Vorgeschichte oben 2.Kp. M.
752
Abkommen vom 5. Mai 1999 zwischen der Republik Indonesien und der Portugiesischen Republik
zur Frage Osttimors, abgedruckt als Annex I des Berichts des Generalsekretärs vom 5.5.1999
(S/1999/513 bzw. A/53/951).
753
Diese Vereinbarungen wurden ebenfalls am 5. Mai 1999 geschlossen und sind abgedruckt als
Annex II und III des Berichts des Generalsekretärs vom 5.5.1999 (S/1999/513 bzw. A/53/951).
754
§ 39 des Berichts des Generalsekretärs A/54/654 vom 13.12.1999.
755
Stahn, MP-UNYB 5 (2001), 105 (114).
756
Siehe dazu ausführlicher unten 3.Kp. C.IV.3.
143
eine Vereinbarung der Parteien zugrunde, in der die Vereinten Nationen gebeten
wurden, für eine Übergangszeit die Verwaltung über dass zwischen Kroatien und
örtlichen Serben umstrittene Gebiet im Osten Kroatiens zu übernehmen.757 Dennoch
entschloss sich der Sicherheitsrat, UNTAES auf der Grundlage des Kapitels VII
einzurichten. Dies mag seinen Grund in den schlechten Erfahrungen haben, welche
die Vereinten Nationen mit der Einhaltung von Vereinbarungen durch die
Konfliktparteien auf dem Gebiet des früheren Jugoslawiens gemacht hatten.758
Fraglich ist, ob die Entscheidung des Sicherheitsrats, neben einer Berufung auf
Kapitel VII der Charta auch eine Zustimmung des oder der betroffenen Staaten
einzuhohlen, rechtliche Bedeutung hat. Drei Antworten sind denkbar. Einerseits
könnte diese Praxis des Rates Ausdruck einer entsprechenden Rechtsüberzeugung
dahingehend sein, dass die Einrichtung einer UN-Gebietsverwaltung ein derartig
tiefer Eingriff in die Befugnisse eines Staates ist, dass er ohne dessen Zustimmung
unzulässig wäre.759 Dagegen spricht, dass es gerade das Wesen des Kapitels VII der
Charta ist, dass es dem Rat Maßnahmen ohne oder auch gegen den Willen des
betroffenen Staates erlaubt. Wie bereits ausgeführt enthalten die Art. 41 und 42 SVN
keinen abschließenden Maßnahmenkatalog, sondern erlauben dem Sicherheitsrat bei
der Bekämpfung von Friedensbedrohungen, auch atypische Mittel wie die
zwangsweise Errichtung einer UN-Verwaltung über ein Krisengebiet zu wählen.760
Ist aber die Einrichtung einer UN-Verwaltung vom Mandat des Sicherheitsrat
gedeckt, bedarf es keiner weitergehenden Anforderungen an die Rechtmäßigkeit
einer solchen Maßnahme.761 Dass dies auch der Auffassung des Rats entspricht,
macht Resolution 1244 (1999) deutlich. § 1 dieser Resolution lautet:
757
Das sog. Basic Agreement vom 12. November 1995 zwischen der Republik Kroatien und der
örtlichen serbischen Bevölkerung, UN-Doc. A/50/757 – S/1995/951 vom 12.11.1995, abgedr. in ILM
35 (1996), 184-187.
758
So ausdrücklich der Generalsekretär in § 22 seines Berichts S/1995/1028 vom 13.12.1995 zur
Planung der UNTAES.
759
In diese Richtung Orakhelashvili, Virginia JIL 43 (2003), 485 (519).
760
Siehe oben 3.Kp. C.I.2.
761
So für die Verhängung eines Waffenembargos gegen Jugoslawien durch S/RES/713 (1991) Judge
Lauterpacht, Sep. Op., Application of Genocide Convention, ICJ-Rep. 1993, 407 (439 § 98).
144
„Decides that a political solution to the Kosovo crisis shall be based on the
general principles in annex 1 and as further elaborated in the principles and
other required elements in annex 2”.
Diese Wortwahl macht deutlich, dass die Zugrundelegung der dort genannten
allgemeinen Prinzipien zur politischen Lösung des Konflikts einseitig angeordnet
wird. Dem entspricht, dass erst in § 2 der Resolution 1244 (1999) die Zustimmung
Jugoslawiens zu diesen Prinzipien begrüßt wird. An keiner Stelle der Resolution ist
erkennbar, dass der Sicherheitsrat von einer konstitutiven Wirkung der serbischen
beziehungsweise
jugoslawischen
Zustimmung
ausgeht.
Im
letzten
Präambelparagraphen erklärt der Rat seine Berufung auf Kapitel VII der Charta
damit, so sicherstellen zu wollen, dass alle Beteiligten ihren Pflichten nach dieser
Resolution gerecht würden.762 Dies lässt sich nur so deuten, dass der Sicherheitsrat
die Entstehung rechtlicher Pflichten aus der Resolution gerade nicht von der
Zustimmung der betroffenen Völkerrechtssubjekte abhängig machen will. Die
Einwilligung des betroffenen Staates kann daher nicht als Voraussetzung der
Rechtmäßigkeit einer auf Kapitel VII der Charta gestützten UN-Gebietsverwaltung
angesehen werden.763 Dies entspräche weder dem Wortlaut der Charta, noch ist eine
entsprechende, seine eigenen Befugnisse beschränkende Rechtsauffassung des
Sicherheitsrats erkennbar.
Die zweite rechtliche Deutungsmöglichkeit ist, dass das vorherige Einholen der
Zustimmung der betroffenen Staaten zu der Errichtung einer UN-Verwaltung eine
völkerrechtliche Vetragsbeziehung zu dem betroffenen Territorialstaat begründet,
welche die Errichtung einer UN-Verwaltung durch die die Vereinten Nationen zum
Gegenstand hätte. Eine solche UN-Mission könnte sich dann auf zwei
Rechtsgrundlagen stützen, einerseits auf die einseitige Befugnis des Sicherheitsrats
nach
Kapitel
VII,
andererseits
auf
die
Zustimmung
des
betroffenen
Präambel-§ 13 S/RES/1244 (1999) lautet: „Determined to ensure the safety and security of international personel and the implementation by all concerned of their responsibilities under the present
resolution, and acting for these purposes under Chapter VII of the Charta of the United Nations”.
762
763
Für Kapitel VII der Charta als alleinige Rechtsgrundlage im Falle der UNMIK auch Lagrange,
AFDI 45 (1999), 335 (343).
145
Territorialstaats.764 Wie bereits ausgeführt erlaubt auch die allgemeine PeacekeepingKompetenz aus Art. 24 Abs. 1 SVN dem Rat die Einrichtung einer UNGebietsverwaltung, sofern dies im Einvernehmen mit dem oder den betroffenen
Staaten erfolgt.765 Eine solche vertragliche Deutung der Einwilligung ist daher
möglich, sofern zwischen dem Sicherheitsrat und dem betroffenen Staat ein solches
Einvernehmen tatsächlich besteht und die Akteure ihr Handeln erkennbar an diesem
ausrichten.766 Dies war der Fall bei der Übernahme der Verwaltungshoheit über
Osttimor durch die UN.767 In solchen Fällen besitzt die UN-Verwaltung eine
doppelte Rechtsgrundlage.
Zu klären bleibt, ob beide Rechtsgrundlagen unabhängig von einander bestehen, oder
ob eine bestehende Vereinbarung den Sicherheitsrat in der Ausübung seiner
Kompetenzen aus Kapitel VII beschränkt und ihn an eine bestimmte Vorgehensweise
bindet. Zu denken wäre beispielsweise an eine Beschränkung der Verwaltung auf
bestimmte Sachgebiete (Organisation von Wahlen, Koordination humanitärer Hilfe)
oder an eine Verpflichtung, überhaupt eine Verwaltung einzusetzen, obwohl er es
angesichts der Entwicklung der Lage sachlich nicht mehr für erforderlich hält.
Voraussetzung für eine solche Bindung wäre zunächst, dass eine solche vertragliche
Beschränkung der Kompetenzen des Sicherheitsrats überhaupt rechtlich möglich und
zulässig ist. Dagegen spricht die systematische Stellung des Rats im Gefüge der
Vereinten Nationen. Er soll schnell und flexibel auf Bedrohungen und Brüche des
Weltfriedens reagieren können und zu diesem Zwecke weitgehend frei von
764
Eine solche duale Rechtsgrundlage, basierend auf S/RES/1386 (2001) vom 20.12.2001 und einem
Brief des afghanischen Außenministers vom 19.12.2001 (abgedr. als S/2001/1223), nimmt Marauhn,
AVR 40 (2002), 480 (500), für die ISAF in Afghanistan an.
765
Zu dieser Kompetenz des Sicherheitsrats zur Errichtung einer UN-Verwaltung mit der Zustimmung
des betroffenen Staates siehe ausführlich oben 3.Kp. B.I u. II.
766
Ablehnend Tomuschat, in: FS Kooijmans (2002), S. 339, der einem im Vorfeld des
Sicherheitsratsbeschlusses erzielten Einvernehmen mit dem betroffenen Staat wohl keine rechtliche
Wirkung zubilligt.
767
Hier berief sich der Generalsekretär ausdrücklich auf das Abkommen zwischen Indonesien und
Portugal vom 5. Mai 1999, welches die Vereinten Nationen vermittelt und durch Unterschrift Kofi
Annans “bezeugt” hatten. Siehe § 39 des Berichts A/54/654 des Generalsekretärs vom 13.12.1999.
146
rechtlichen
Bindungen
Mitgliedstaaten
zur
handeln
Befolgung
dürfen.768
und
Art.
Ausführung
25 SVN verpflichtet die
der
Entscheidungen
des
Sicherheitsrats, während Art. 103 SVN dieser Verpflichtung Vorrang vor
anderweitig begründeten Rechten und Pflichten gewährt. Da Art. 103 SVN seinem
Wortlaut nach auch Übereinkommen mit der Organisation selbst erfasst,769 könnten
sich Mitgliedstaaten gegenteiligen Entscheidungen des Rats nicht unter Berufung auf
ein solches Abkommen widersetzen. Denkbar wäre allein, dass dem Rat nach der
Charta die Befugnis zu einer solchen Entscheidung fehlt, wenn er sich zuvor durch
eine Vereinbarung mit einem Mitgliedstaat zu einem andersartigen Vorgehen
entschlossen hat. Entsprechende Anhaltspunkte sind in der Charta nicht zu erkennen.
Art. 39 SVN macht das Ergreifen von Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII allein
vom Vorliegen einer Friedensbedrohung abhängig.
Eine Verpflichtung zur Errichtung einer Kapitel VII-Verwaltung ist daher nur
insofern denkbar, als dass eine Friedensbedrohung tatsächlich vorliegt und der
Sicherheitsrat sich lediglich bei der Auswahl eines geeigneten Mittels auf die
Errichtung einer internationalen Verwaltung beschränken lässt. Doch auch eine
solche Beschränkung seines Auswahlermessens widerspricht der Konzeption der
Charta, welche dem Rat gerade größtmögliche Freiheiten bei der Wahrung des
Weltfriedens lassen will. Dem kann auch nicht analog zur Staatensouveränität
entgegengehalten werden, dass gerade die freiwillige Bindung eine charakteristische
Gebrauchsform dieser Freiheit ist. Anders als Staaten besitzt der Sicherheitsrat als
Organ einer internationalen Organisation nur jene Kompetenzen, die ihm seine
Mitgliedstaaten in der Charta zugewiesen haben. Eine teleologische Auslegung der
Charta ergibt indes, dass ihm eine entsprechende Kompetenz zur Eingehung
vertraglicher Verpflichtungen, die ihn in der Ausübung seiner Kompetenzen aus
Kapitel VII beschränken, nicht übertragen wurde.
768
Art. 24 Abs. 2 Satz 1 SVN verpflichtet ihn lediglich zur Beachtung der Ziele und Grundsätze der
Vereinten Nationen. Art. 1 Abs. 1 SVN wiederum verpflichtet den Rat lediglich bei der Ausübung
seiner Kompetenzen zur friedlichen Streitbeilegung zur Beachtung der Grundsätze der Gerechtigkeit
und des Völkerrechts. Zu dieser Unterscheidung ausführlich unten 4.Kp. A.III.
769
Art. 103 SVN gibt den Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus der Charta Vorrang vor
Verpflichtungen aus allen anderen internationalen Übereinkommen („obligations under any other
international agreement“ – Hervorhebung durch den Verfasser).
147
Entsprechende Übereinkommen mit den betroffenen Territorialstaaten hindern den
Sicherheitsrat daher nicht, in Ausübung seiner Kompetenzen aus Kapitel VII von
diesen Abreden abzuweichen. Mithin ist davon auszugehen, dass die vorherige
Einholung der Zustimmung des betroffenen Staates zur Errichtung einer UNVerwaltung bedeuten kann, dass diese sich auch auf die konsensuale PeacekeepingKompetenz des Sicherheitsrats stützen kann, sofern die Parteien der Einwilligung
erkennbar eine rechtliche Bedeutung zumessen. Beruft sich der Sicherheitsrat
daneben aber auch auf Kapitel VII der Charta, so stehen beide Rechtsgrundlage
unabhängig nebeneinander.
Daher ist die dritte Deutungsmöglichkeit hinsichtlich der rechtlichen Bedeutung
einer Einwilligung des betroffenen Staates die zutreffende: Für eine auf Kapitel VII
der Charta gestützte UN-Territorialverwaltung ist die Einwilligung rechtlich ohne
Bedeutung, da sie die Kompetenzen des Rates nach Kapitel VII weder begrenzen
noch erweitern kann.770 Ungeachtet dessen ist sie aber politisch höchst
wünschenswert.771 Der Erfolg einer UN-Verwaltung steht und fällt mit der
Zustimmung zumindest der betroffenen Bevölkerung zu ihrer Tätigkeit.772 Die
Einwilligung des betroffenen Staates oder anderer Vertreter der Bevölkerung kann
wesentlich zur Legitimität und damit zu Akzeptanz einer vorübergehende
„Fremdverwaltung“ beitragen. Dies erklärt das ständige Bemühen des Sicherheitsrats
um Einvernehmlichkeit mit den betroffenen Staaten beziehungsweise den Vertretern
der betroffenen Bevölkerung. Die Bereitschaft des Rates, sich über Widerstände der
genannten hinwegzusetzen, zeigt aber auch, dass er diesem Einvernehmen zu Recht
keine rechtliche Bedeutung zumisst.773
770
So im Ergebnis auch Tomuschat, in: FS Kooijmans (2002), S. 339; und wohl auch Muharremi,
Treuhandverwaltung (2005), S. 76.
771
So auch Marauhn, AVR 40 (2002), 480 (500), für den Fall der ISAF in Afghanistan. Tomuschat,
in: FS Kooijmans (2002), S. 339, sieht in einer vorab vom betroffenen Staat erteilten Einwilligung
zudem ein wichtiges Indiz dafür, dass tatsächlich einer Friedensbedrohung i.S.d. Art. 39 SVN
vorliegt, deren Beseitigung die Kräfte des betroffenen Staates übersteigt.
772
So Orakhelashvili, Virginia JIL 43 (2003), 485 (518) zu Peacekeeping-Operationen allgemein.
773
So im Ergebnis auch Marauhn, AVR 40 (2002), 480 (500).
148
IV.
Fallbeispiele
Bislang hat der Sicherheitsrat in drei Fällen Krisengebiete unter Berufung auf Kapitel
VII der Charta unter UN-Verwaltung gestellt. Alle drei Gebietsverwaltungen wurden
vor relativ kurzer Zeit in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre eingerichtet. Es
waren beziehungsweise sind dies UNTAES in Ostslavonien (1996-1998), UNMIK
im Kosovo (seit 1999) und UNTAET in Osttimor (1999 – 2002).774 Anhand der
bislang gewonnenen Erkenntnisse soll kurz geprüft werden, inwiefern der
Sicherheitsrat sie zu Recht auf Kapitel VII der Charta gestützt hat.
1.
UNTAES
Eine deutliche internationale Dimension weist der Fall Ostslavoniens auf. Zwar
gehört und gehörte das Gebiet, wie der Sicherheitsrat wiederholt festgestellt hatte,775
zu Kroatien. Auch war es 1995 nicht mehr von regulären jugoslawischen Truppen,
sondern von ca. 10.000 Soldaten der „Armee der serbischen Republik Krajina“ und
einigen Hundert Mitgliedern paramilitärischer Brigaden besetzt.776 Insofern könnte
von einem nunmehr rein innerstaatlichen Konflikt gesprochen werden. Indes war die
Lage in Ostslavonien eine direkte Folge des Krieges zwischen der seit 1991
unabhängigen Republik Kroatien und der Volksrepublik Jugoslawien, in dem die
jugoslawische Volksarmee weite Teile Ostkroatiens erobert hatte.777 Ende 1995
konnten die Serben in Ostslavonien zwar nicht mehr mit militärischer Unterstützung
aus Belgrad rechnen.778 Dennoch bestanden nach wie vor enge Beziehungen
zwischen den serbischen Gruppierungen in Ostslavonien und dem aus Serbien und
Montenegro bestehenden Rest-Jugoslawien, dass sich bis heute als Schutzmacht auch
774
Zu den historischen Hintergründen und dem Verlauf dieser drei Missionen siehe oben 2.Kp. K.-M.
775
Siehe beispielsweise jeweils Präambel-§ 2 der Resolutionen S/RES/1023 (1995) vom 22.11.1995
und S/RES/1037 (1996) vom 15.1.1996.
776
Reichel, Transitional Administrations (2000), S.32 f.
777
Zur Vorgeschichte der UNTAES siehe Reichel, Transitional Administrations (2000), S. 6-9, und
oben 2.Kp. K.
778
Reichel, Transitional Administrations (2000), S. 8.
149
der im Ausland lebenden Serben begreift.779
Der Konflikt besaß daher eine deutliche internationale Dimension, zumal er nicht
isoliert von der Gesamtsituation auf dem Balkan gesehen werden kann.780 Die
Kämpfe griffen oft auf das benachbarte Bosnien über und umgekehrt. Bosnische
Kroaten waren ebenso wie bosnische Serben auch an den Auseinandersetzungen in
Ostslavonien beteiligt.781 Mit zwei Offensiven im Mai und August 1995 hatte die
kroatische Armee mit Ausnahme Ostslavoniens alle serbisch kontrollierten Gebiete
der früheren jugoslawischen Teilrepublik Kroatien wieder unter ihre Kontrolle
gebracht,782 und drohte unverhohlen damit, auch im Falle Ostslavoniens zu einer
gewaltsamen Lösung zu greifen.783 Damit bestand im November 1995 die konkrete
Gefahr
eines
militärischen
Konflikts
mit
erheblichen
transnationalen
Auswirkungen.784
Zwar schlossen die Parteien am 12. November 1995 unter der Vermittlung der
Vereinten Nationen und der Vereinigten Staaten ein sogenanntes basic agreement,785
in dem der UN die Verwaltung des Gebietes für zunächst zwölf Monate angetragen
wurde, bevor Kroatien seine Hoheitsgewalt über die Region wiederherstellen sollte.
Es ließe sich daher argumentieren, dass im Zeitpunkt der Sicherheitsratsresolution,
durch die die UN-Verwaltung Ostslavoniens eingesetzt wurde,786 die unmittelbare
779
Diese enge Beziehung wurde nicht zuletzt dadurch deutlich, dass die schweren Waffen der
serbischen Einheiten in Ostslavonien bei ihrer Demilitarisierung nicht etwa der kroatischen, sondern
der Armee Serbien-Montenegros übergeben wurden. Siehe Reichel, Transitional Administrations
(2000), 33.
780
So liefen die Bemühungen zu einer friedlichen Lösung des Ostslavonien-Problems parallel zu den
Bemühungen um eine Einigung in Bosnien-Herzegowina, die mit der Unterzeichnung des Vertrages
von Dayton am 14.12.1995 endeten.
781
Siehe Beschreibung der Lage im Juni 1995 in UN, The Blue Helmets (1996), S. 550 f.
782
UN, The Blue Helmets (1996), S. 549-553.
783
UN, The Blue Helmets (1996), S. 554; Reichel, Transitional Administrations (2000), 8.
784
UN-DPKO, UNTAES - Lessons Learned (1999), § 8. Zur internationalen Dimension des Konflikts
auch Šimunović, Int’l. PK (Cass) 6/1 (1999), 126 (133).
Abgedruckt als Annex zu A/50/757 – S/1995/951 und in ILM 35 (1996), 184-187. Außer von den
Parteien wurde das Abkommen auch vom US-Botschafter in Kroatien, Galbraith, und dem UNVermittler Stoltenberg unterzeichnet.
785
786
S/RES/1037 (1996) vom 15.1.1996.
150
Gefahr eines bewaffneten Konflikts entfallen war. Im Hinblick auf die früheren
Erfahrungen der Vereinten Nationen im ehemaligen Jugoslawien erscheint dies aber
fraglich. Der Wille der Konfliktparteien, sich an getroffene Vereinbarungen zu
halten, war oftmals sehr gering. Blauhelme und zivile UN-Mitarbeiter wurden häufig
an der Ausführung ihrer Tätigkeit gehindert oder sogar direkt angegriffen.787 Eine
effektive Umsetzung des basic agreements – und damit eine Beseitung der
Friedensbedrohung – war nur unabhängig vom Fortbestehen einer entsprechenden
Konsenses der Parteien möglich.788 Somit konnte der Sicherheitsrat zulässigerweise
das Mandat der UNTAES auf Kapitel VII der Charta stützen.789
2.
UNMIK
Die Lage im Kosovo war in den Jahren 1998 und 1999 durch ein zunehmend
aggressiveres
Vorgehen
serbischer
Sicherheitskräfte
gegen
die
albanische
Bevölkerungsmehrheit in der jugoslawischen Provinz und eine gleichfalls
zunehmende Zahl terroristischer Angriffe bewaffneter albanischer Gruppen,
insbesondere der UÇK, gekennzeichnet.790 Dies führte zu einer kritischen
humanitären Lage innerhalb des Kosovos791 und großen Flüchtlingsströmen, sowohl
innerhalb Restjugoslawiens als auch in die benachbarten Staaten BosnienHerzegowina, Albanien und Mazedonien.792 Gleichzeitig stellte der Konflikt die
noch sehr jungen Grenzziehungen zwischen den Staaten der Region in Frage. Dass
der Sicherheitsrat wiederholt die Souveränität und die territoriale Integrität der
787
Siehe die Beschreibung des Verlaufs der UN Confidence Restoration Mission in Croatia (UNCRO)
in UN, The Blue Helmets (1996), S. 548-554, insb. S. 550 f.
788
So die Auffassung des Generalsekretärs in § 22 seines Berichts S/1995/1028 vom 13.12.1995.
789
Siehe den vorletzten und letzten Präambel-§ S/RES/1037 (1995) vom 15.1.1995.
790
Siehe den Präambel-§ 3 S/RES/1160 (1998) vom 31.3.1998. Zur Situation im Kosovo siehe oben
Teil 1.2.12.
791
Der Sicherheitsrat sprach zunächst von einer drohenden (Präambel-§ 6 S/RES/1199 (1998) vom
23.9.1998, Präambel-§ 11 S/RES/1203 (1998) vom 24.10.1998), dann von einer eingetretenen
humanitären Katastrophe (Präambel-§ 3 S/RES/1239 (1999) vom 14.5.1999).
792
Schätzungen des UNHCR gingen von etwa 860.000 Kosovo-Albaner aus, die im Jahre 1999 in die
Nachbarstaaten geflohen waren (siehe <www.unhcr.ch/cgi-bin/texis/vtx/balkans-country?country=
Kosovo>). Siehe auch § 8 des Berichts S/1999/779 des Generalsekretärs vom 12.7.1999, ferner
Präambel-§ 7 S/RES/1199 (1998) vom 23.9.1998 und Präambel-§ 4 S/RES/1239 (1999) vom
14.5.1999. Die grenzüberschreitenden Flüchtlingsströme sehen auch Zimmermann/Stahn, Nordic JIL
151
Bundesrepublik Jugoslawien793 und der übrigen Staaten in der Region794 betonte,
weist daraufhin, dass er sich dieser destabilisierenden Wirkung bewusst war.795 Es
ließe sich aber argumentieren, dass mit dem Eingreifen der NATO und dem dadurch
erzwungenen Rückzug der serbischen Sicherheitskräfte aus dem Kosovo796 die
Ursache für die humanitäre Katastrophe beseitigt worden sei. In der Tat spricht die
Resolution 1244 (1999) vom 10.6.1999, mit der die UN-Verwaltung des Kosovo
eingerichtet wurde, nur mehr von einer schwierigen humanitären Lage,797 nicht mehr
wie frühere Resolutionen von einer humanitären Katastrophe.798
Indes war die humanitäre Situation nicht die einzige Ursache für die Feststellung
einer Friedensbedrohung im Sinne des Art. 39 SVN,799 zumal die Gewalt im Kosovo
weiter andauerte800. So galt es einerseits, die Flüchtlinge aus den Nachbarländern
zurückzuführen.801 Andererseits stellten die bewaffneten Gruppen im Kosovo
weiterhin ein Bedrohung des zwischenstaatlichen Friedens in der Region dar, wie die
aufflammenden Konflikte Anfang 2001 im südserbischen Presovo-Tal und in
Mazedonien beweisen sollten.802 Daher müssen auch jene eine Bedrohung des
70 (2001), 423 (437), als hinreichende Grundlage für die Annahme einer Friedensbedrohung an.
793
Präambel-§ 7 S/RES/1160 (1998) vom 31.3.1998, Präambel-§ 13 S/RES/1199 (1998) vom
23.9.1998 und Präambel-§ 14 S/RES/1203 (1998) vom 24.10.1998.
794
Präambel-§ 11 S/RES/1244 (1999) vom 10.6.1999.
795
Allerdings dehnte er diese Garantie nur ein Mal auf alle Staaten der Region aus, noch dazu in einer
Resolution, die nicht auf Kapitel VII gestützt ist und mithin keine Feststellung einer
Friedensbedrohung enthält. (Siehe Präambel-§ 7 S/RES/1239 (1999) vom 14.5.1999). Auf die
destabilisierende Wirkung auf die Nachbarstaaten verweisen auch Zimmermann/Stahn, Nordic JIL 70
(2001), 423 (437).
796
Zu den Einzelheiten siehe oben 2.Kp. L.
797
Präambel-§ 4 S/RES/1244 (1999) vom 10.6.1999.
798
Siehe die Nachweise oben in Fn. 781.
799
Zambelli, La constatation des situations de l'article 39 de la Charte (2002), S. 263, nimmt aber an,
dass der Sicherheitsrat die humanitäre Lage für die einzige Ursache der Friedensbedrohung hielt, hält
dies selbst aber nicht für zwingend.
800
Siehe Präambel-§ 5 S/RES/1244 (1999) vom 10.6.1999 und § 5 des Berichts S/1999/779 des
Generalsekretärs vom 12.7.1999.
801
Siehe Präambel-§§ 4 u. 7 S/RES/1244 (1999) vom 10.6.1999, sowie §§ 8 u. 9 des Berichts
S/1999/779 des Generalsekretärs vom 12.7.1999.
802
Zu diesen Ereignissen siehe §§ 11 f. des Berichts des Generalsekretärs S/2001/218 vom 13.3.2001,
ferner §§ 9 des Berichts S/2001/565 vom 7.6.2001.
152
Weltfriedens und der internationalen Sicherheit annehmen, die eine Erweiterung des
Art. 39 SVN auf rein innerstaatliche Konflikte ablehnen.803 Der Sicherheitsrat konnte
daher zu Recht UNMIK als atypische Maßnahme nach Art. 41 und 42 SVN ins
Leben rufen.804
Teilweise wird zudem vertreten, dass sich das Mandat der UNMIK auch auf die
Zustimmung Jugoslawiens stützen könne.805 Dies erscheint zweifelhaft, da es
voraussetzt, dass die jugoslawische Einwilligung rechtswirksam erfolgte, obwohl sie
auf der Drohung der NATO-Staaten beruhte, anderenfalls die Bombardements gegen
Serbien fortzusetzen.806 Dem lässt sich nicht entgegenhalten, der militärische Druck
sei nicht von der UN ausgeübt worden und sei deshalb für UNMIK unbeachtlich.807
Eher
schon
ließe
sich
in
Anwendung
des
in
Art.
52
der
Wiener
Vertragsrechtskonvention niedergelegten Grundsatzes808 vertreten, die Androhung
von Gewalt sei nach den Grundsätzen der humanitären Internvention gerechtfertigt
und verstoße deshalb nicht gegen die in der Charta niedergelegten Grundsätze des
803
Zum Streitstand siehe oben 3.Kp. C.II.2. und die dortigen Nachweise.
804
Stahn, ZaöRV 61 (2001), 107 (131); Bothe/Marauhn, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the International Community (2002), S. 232; Matheson, AJIL 95 (2001), 76 (83 f.); Frowein/Krisch, Art. 41
(2002), Rn. 20; Wodarz, Kosovo-Konflikt (2002), S. 222 f.; Kondoch, JC&SL 6 (2001), 245 (256 f.).
805
Zimmermann/Stahn, Nordic JIL 70 (2001), 423 (441); von Carlowitz, AVR 41 (2003), 336 (343),
in diese Richtung wohl auch Irmscher, GYIL 44 (2001), 353 (377 f.). Nach der hier vertretenen
Auffassung (siehe oben 3.Kp. C.III.) ist die Zustimmung des Territorialstaates jedoch ohne rechtliche
Bedeutung für die Verwaltungskompetenz des Sicherheitsrates. Wie hier ablehnend auch Tomuschat,
in: FS Kooijmans (2002), S. 339.
806
Bothe/Marauhn, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the International Community (2002), S. 233,
nehmen deshalb einen Fall des sog. „robust peace-keeping“ an. Dass Jugoslawien die Einrichtung
einer UN-Verwaltung im Kosovo tatsächlich als Zwangsmaßnahme empfand, macht die
Stellungnahme des jugoslawischen Vertreters anlässlich der Verabschiedung der Resolution 1244
(1999) deutlich: „I must note with regret that the draft resolution proposed by the G-8 is yet another
attempt (...) at legalizing post festum the brutal aggression to which the Federal Republic of
Yugoslavia has been exposed in the last two and a half months. (...) The solutions which are being
tried to be imposed on the Federal Republic of Yugoslavia set a dangerous precedent for the international community.“ (UN-Doc. S/PV.4011, teilw. abgedr. bei Milano, EJIL 14 (2003), 999 (1008 Fn.
45).
807
So aber Bothe/Marauhn, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the International Community (2002),
S. 233; ihnen folgend von Carlowitz, AVR 41 (2003), 336 (343).
808
Nach dem Urteil des IGH, Fisheries Jurisdiction Case, ICJ-Rep. 1973, 3 (14 § 24), reflektiert Art.
52 WVK (1969) geltendes Gewohnheitsrecht.
153
Völkerrechts.809
3.
UNTAET
Etwas schwieriger gestaltet sich die Annahme einer Friedensbedrohung in
Osttimor.810 In Anbetracht des Umstandes, dass es sich bei Osttimor um eine
ehemalige
portugiesische
Kolonie
handelt,
die
1976
von
Indonesien
in
völkerrechtswidriger Weise annektiert wurde, kann die Internationalität des Konflikts
nicht bestritten werden.811 Als nicht-selbstverwaltetes Gebiet im Sinnes des Kapitels
XI der Charta812 fiel Osttimor ohnehin in den generellen Aufgabenbereich der
Vereinten Nationen813. Eine fehlgeschlagene Dekolonialisierung allein begründet
indes noch keine Friedensbedrohung. Auch die Annexion Osttimors durch
Indonesien hatte der Sicherheitsrat zwar verurteilt, aber nicht als Friedensbedrohung
eingestuft.814 Erst als es nach dem Referendum über die Unabhängigkeit Osttimors
zu einer Verwüstung des gesamten Gebietes durch pro-indonesische Milizen unter
Beteiligung der indonsesischen Streitkräfte kam815, stellte der Sicherheitsrat eine
Bedrohung des Friedens und der Sicherheit fest und autorisierte ein militärisches
Eingreifen unter der Führung Australiens.816
809
Ablehnend Milano, EJIL 14 (2003), 999 (1009-1015).
810
Zweifelnd Zambelli, La constatation des situations de l'article 39 de la Charte (2002), S. 264.
811
Zu den historischen Vorgängen siehe oben 2.Kp. M.
812
Diese Einstufung Osttimors nahm die Generalversammlung in A/RES/1542 (XV) vom 15.12.1960
vor. Portugal lehnte diese Einstufung strikt ab und kam seinen Berichtspflichten nach Art. 73 (e) SVN
nicht nach. Siehe dazu das Sondervotum Oda, IGH, East Timor (Portugal v. Australia), ICJ-Rep.
1995, 90 107 (113-129, §§ 9-13) und de Quadros, Decolonization: Portuguese Territories, EPIL I
(1992), 990-993.
813
Zum Status der nicht-selbstverwalteten Gebiete innerhalb des Systems der Vereinten Nationen
siehe Fastenrath, Art. 73 (2002).
814
Siehe S/RES/384 (1975) vom 22.12.1975 und S/RES/389 (1976) vom 22.4.1976.
815
Siehe Kapitel II des Berichts des Generalsekretärs S/1999/1024 vom 4.10.1999, den Bericht einer
Delegation des Sicherheitsrats S/1999/976 vom 14.9.1999 und den Bericht der UNAMET im Annex
zu S/1999/976. Siehe ferner den Bericht A/54/726-S/2000/59 vom 31.1.2000 der vom UNMenschenrechtsausschuss eingesetzten internationalen Untersuchungskommission sowie den
gemeinsamen Bericht A/54/660 dreier Sonderberichterstatter der UN-Menschenrechtskommission
vom 10.12.1999.
816
S/RES/1264 (1999) vom 15.9.1999.
154
Aufgabe der International Force East Timor (INTERFET) war es in erster Linie,
unter
Einsatz
aller
erforderlichen
Mittel
die
öffentliche
Sicherheit
wiederherzustellen.817 Obwohl es INTERFET weitgehend gelang, das Gebiet zu
befrieden, und obwohl nach Ansicht des Sicherheitsrats alle beteiligten Parteien –
Indonesien, Portugal und die Osttimoresen selbst – einer Verwaltung durch die
Vereinten Nationen zugestimmt hatten818, stufte er die „andauernde Situation“ in
Osttimor weiterhin als Friedensbedrohung ein, um auf der Grundlage des Kapitels
VII der Charta UNTAET als Verwaltung des Gebietes einzurichten.819 Als
Begründung führt er wiederum die schwierige humanitäre Situation und die
Notwendigkeit an, eine Rückkehr der Flüchtlinge zu ermöglichen,820 von denen ein
nicht geringer Teil in Lagern im indonesischen Westtimor untergebracht war.821
Diese Begründung erscheint etwas schwach.822 Sie erstarkt etwas, wenn man vom
gewählten Mittel auf das damit zu lösende Problem schließt. Die Einbeziehung eines
knapp 9.000 Köpfe zählenden Militärkontingents in die UN-Mission823 und der
Verweis auf andauernde Gewalt in Osttimor824 deuten darauf hin, dass der Rat ein
Wiederaufflammen der Kämpfe für den Fall befürchtete, dass INTERFET ohne
Ersatz abzöge. Auch der Aufbau eines effektiven Staatswesens825 diente dazu, dies
817
§ 3 S/RES/1264 (1999).
818
Siehe Präambel-§§ 2 u. 3 S/RES/1272 (1999) vom 25.10.1999.
819
Präambel-§§ 15 u. 16 S/RES/1272 (1999).
820
Präambel-§§ 9 u. 10 S/RES/1272 (1999). Kondoch, JC&SL 6 (2001), 245 (255), hält daneben die
schweren Menschenrechtsverletzungen für entscheidend zur Feststellung einer Friedensbedrohung.
Allerdings dauerten diese zum Zeitpunkt der Resolution 1272 (1999) nicht mehr an, was der Rat selbst
andeutete: „Expressing its concerns at reports indicating that systematic, widespread and flagrant
violations of international humanitarian and human rights law have been committed (...)“ (Präambel§ 13 S/RES/1272 (1999)).
821
Siehe §§ 12 f. S/RES/1272 (1999). § 19 des Berichts S/1999/1024 des Generalsekretärs vom
4.10.1999 spricht von ca. 500.000 vertriebenen Osttimoresen, von denen etwa 150.000 in Westtimor
seien (bei einer Gesamtbevölkerung von 890.000).
Dem entspricht, dass der Sicherheitsrat hier die eher schwache Formulierung eines „threat to peace
and security“ wählte, während er im Kosovo ausdrücklich einen „threat to international peace and
security“ feststellte [Präambel-§ 12 S/RES/1244 (1999)].
822
823
§ 3 (c) S/RES/1272 (1999).
824
§ 16 S/RES/1272 (1999).
825
§ 2 (c) und (e) S/RES/1272 (1999).
155
langfristig zu verhindern. Die Betonung der Notwendigkeit, die Grenzen Osttimors
zu sichern826, lässt eine weitere Ursache der Friedensbedrohung erkennen. Neben
dem unsicheren Grenzverlauf827 ist hier auch das Eindringen bewaffneter Milizen zu
nennen, zu dem es auch nach Beginn der UNTAET und sogar nach der
Staatswerdung Osttimors noch kam.828 In Anbetracht der unsicheren Lage in
Indonesien – dort war es nach der Absetzung des Diktators Suharto 1999 zu den
ersten freien Wahlen seit 40 Jahren gekommen – und der unrühmlichen Rolle, die
indonesische Sicherheitskräfte bei der Verwüstung Osttimors nach dem Referendum
gespielt hatten,829 konnte auch die weitere Kooperation Indonesiens nicht als sicher
vorausgesetzt werden.830 Daher lag auch in Osttimor eine Bedrohung des
Weltfriedens und der internationalen Sicherheit vor,831 der der Sicherheitsrat in
zulässiger Weise mit der Einrichtung einer UN-Verwaltung über das Gebiet auf der
Grundlage der Art. 41 und 42 SVN begegnete.832
826
Präambel-§ 12 S/RES/1272 (1999).
827
In Präambel-§ 13 S/RES/1272 (1999) wird ausdrücklich auf die Notwendigkeit gesicherter
Grenzen für Osttimor verwiesen. Über den genauen Verlauf der Grenze wurde bis zum Abzug der
UNTAET nur eine vorläufige Einigung mit indonesischen Stellen erzielt. Siehe §§ 3 u. 26 des
Berichts S/2002/432 vom 17.4.2002.
828
Siehe §§ 7-11 des Sonderberichts S/2003/243 des Generalsekretärs vom 3.3.2003; ferner Chopra,
Survival 42 (2000), 27 (34).
829
Die Sicherheitsratsdelegation, die im September 1999 Indonesien und Osttimor besuchte, stellte
fest, dass indonesische Sicherheitskräfte in erheblichem Maße an den Gewalttaten und Unruhen
beteiligt war. Siehe dazu oben 2.Kp. M.I. und die dortigen Nachweise.
830
So drückten Mitglieder auswärtiger Vertretungen in Jakarta gegenüber der sie befragenden
Sicherheitsratsdelegation Zweifel darüber aus, ob die indonesische Regierung mit einer
Friedenstruppe kooperieren würde (siehe § 5 des Bericht S/1999/976 vom 14.9.1999). In der Tat war
Indonesien anfangs nicht bereit, einer militärischen Intervention seitens des Sicherheitsrats
zuzustimmen (siehe §§ 4 u. 8 S/1999/976). Bezogen auf ihr gesamtes Verhalten im Zusammenhang
mit dem Referendum vom 30.8.1999 sprach die Sicherheitsratsdelegation von einem Mangel an
Glaubwürdigkeit seitens der indonesischen Regierung (ebenda, § 18).
831
So im Ergebnis auch Kondoch, JC&SL 6 (2001), 245 (255), der allerdings rein interne Ursachen
der Friedensbedrohung ohne grenzüberschreitende Auswirkungen annimmt.
832
Dagegen nimmt Stahn, MP-UNYB 5 (2001), 105 (114), eine vertragliche Grundlage für die
Errichtung der UN-Verwaltung an. S/RES/1272 (1999) sei nur die Umsetzung der im trilateralen
Abkommen zwischen Indonesien, Portugal und den Vereinten Nationen vom 5.5.1999 vereinbarten
Übergangsverwaltung Osttimors durch die UN.
156
D.
Die tatsächliche Ausübung der Verwaltungskompetenz des
Sicherheitsrates
Wie dargelegt berechtigen sowohl Art. 41 und 42 SVN wie auch Art. 24 Abs. 1 SVN
– letzterer lediglich bei Zustimmung des betroffenen Staates – den Sicherheitsrat, die
Verwaltungshoheit über ein Gebiet zu übernehmen. Die tatsächliche Ausübung
dieser Verwaltungshoheit erfordert indes tagtäglich eine Vielzahl kleiner und großer
Einzelentscheidungen in unterschiedlichsten Sachbereichen, mithin einen mit
kompetenten Personen besetzten Apparat vor Ort. Diesen sachlichen und personellen
Anforderungen kann der Sicherheitsrat nicht gerecht werden, da er nach dem
Konzept der Charta über keinen administrativen Unterbau verfügt, sondern sich
vielmehr gemäß Art. 98 Satz 1 SVN der Dienste des Generalsekretärs bedient.833
Für die Wahrnehmung der Verwaltungshoheit des Sicherheitsrates über ein
Krisengebiet wurde daher bislang immer eine eigene UN-Mission ins Leben gerufen,
welche die eigentlichen administrativen Aufgaben vor Ort wahrnahm.834 Diese
Organsationsform
wurde
unabhängig
davon
gewählt,
ob
sich
um
eine
einvernehmliche (Art. 24 Abs. 1 SVN) oder um eine Zwangsverwaltung handelte. 835
Mit der Planung, dem Aufbau und der Führung dieser Missionen hat der Rat stets
den
Generalsekretär
beauftragt,836
da
er
in
Gestalt
der
Abteilung
für
Friedensoperationen837 und anderer Teile des Sekretariats als einziger im System der
833
Zu den einzelnen Aufgaben des Generalsekretärs im Rahmen dieser Tätigkeit siehe Fiedler, Art. 98
(2002), Rn. 26-37.
834
UNTAC in Kambodscha (1992-1993), UNOSOM II in Somalia (1993-1995), UNTAES in
Ostslavonien (1996-1998), UNMIK in Kroatien (seit 1999) und UNTAET in Osttimor (1999-2002).
835
Beispiel für erstere Variante ist die UNTAC in Kambodscha, in die zweite Kategorie fallen
beispielsweise UNTAES in Ostslavonien und die UNMIK im Kosovo.
836
Zur Planung der Missionen siehe beispielsweise § 2 S/RES/1025 (1995) vom 30.11.1995 (Planung
UNTAES), § 10 S/RES/1244 (1999) vom 10.6.1999 (Planung und Einrichtung UNMIK), sowie § 1
S/RES/1272 (1999) vom 25.10.1999 (Planung UNTAES). Die entsprechenden Entwürfe des
Generalsekretärs finden sich in den Berichten S/1995/1028 vom 13.12.1995 (UNTAES), S/1999/672
vom 12.6.1999 (UNMIK) und S/1999/1024 vom 4.10.1999. Zu der Organisation von PeacekeepingMission durch das Sekretariat der Vereinten Nationen im Allgemeinen siehe Shimura, in:
Thakur/Schnabel (Hrsg.), UN Peacekeeping Operations (2001), S. 48 ff.
837
Department
of
Peacekeeping
Operations,
im
<www.un.org/Depts/dpko/dpko/home.shtml> [Stand: 2.10.2003].
Internet
zu
finden
unter
157
Vereinten Nationen über entsprechende Ressourcen verfügt.838 Es ist daher damit zu
rechnen, das die Beauftragung des Generalsekretärs weiterhin das primäre Modell
einer Territorialverwaltung nach Kapitel VII darstellen wird.839
Da der Sicherheitsrat so auf Personal und Ressourcen eines anderen Hauptorgans der
UN zurückgriff, können die in Frage stehenden Verwaltungsmissionen nicht als
unselbständige organisatorische Untergliederungen des Rates selbst eingestuft
werden.840 Dafür spricht auch die Berichtspflicht, die er dem Generalsekretär in den
Ermächtigungsresolutionen der jeweiligen Verwaltungsmissionen auferlegte.841
Auch der Umstand, dass die Missionen vor Ort durch einen Vertreter des
Generalsekretärs und nicht einen Sonderbeauftragten des Sicherheitsrates geleitet
werden, spricht dafür, die Verwaltungsmissionen als gegenüber dem Sicherheitsrat
rechtlich selbständige Einheiten aufzufassen. Bisher hat der Sicherheitsrat mithin
stets eine von ihm rechtlich unterscheidbare Stelle mit der tatsächlichen
Verwaltungstätigkeit beauftragt.
Rechtlich stellt sich diese Beauftragung eines im Verhältnis zum Sicherheitsrat
rechtlich selbständigen Organs als eine Delegation der Verwaltungskompetenz des
Sicherheitsrates dar. Im Folgenden sollen zunächst die Voraussetzungen, der Umfang
und die Grenzen dieser Kompetenzdelegation untersucht werden (I.), bevor auf den
rechtlichen Status der Verwaltungssysteme innerhalb der UN und im Verhältnis zu
Dritten eingegangen wird (II.). Daran anschließend werden die rechtliche Vorgaben
für die Beteiligung dritter Völkerrechtssubjekte an einer UN-Gebietsverwaltung
dargelegt (III.). Abschließend wird als Alternative zur gegenwärtigen Praxis
untersucht, inwiefern der Sicherheitsrat seine Verwaltungskompetenz an den
Generalsekretär, einzelne Mitgliedstaaten oder Regionalorganisationen delegieren
838
Ausführlich zur Tätigkeit des Sekretariats der Vereinten Nationen bei der Planung einer
Peacekeeping-Mission Shimura, in: Thakur/Schnabel (Hrsg.), UN Peacekeeping Operations (2001), S.
46 ff.
839
Ähnlich Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 63.
840
Um eine solche handelt es sich beispielsweise bei ad hoc-Arbeitsgruppen des Rates. Siehe dazu
Paulus, Art. 29 (2002), Rn. 9.
841
Siehe § 10 S/RES/745 (1992), § 9 S/RES/1037 (1996), § 20 S/RES/1244 (1999), und § 18
S/RES/1272 (1999).
158
könnte (IV.).
I.
Die Delegation der Verwaltungskompetenz des Sicherheitsrates
Wesentliches Charakteristikum der hier untersuchten Beauftragung durch den
Sicherheitsrat ist, dass der beauftragten Stelle nicht nur gewisse Aufgaben, sondern
auch bestimmte Befugnisse übertragen werden. Das ergibt sich daraus, dass die
betrauten Stellen anderenfalls nicht über die zur Erfüllung ihrer Aufgabe
erforderlichen Kompetenzen verfügten. Selbstverständlich ist dies bei Nebenorganen
im Sinne des Art. 7 Abs. 2 SVN und Art. 29 SVN. Denn ihre rechtliche Existenz
beruht allein auf einem Kreationsakt eines UN-Hauptorgans, so dass sich auch
etwaige Befugnisse allein aus denen des sie schaffenden UN-Organs ableiten lassen.
Doch auch der Generalsekretär, der als Hauptorgan über eine eigenständige
Rechtsgrundlage in der Charta verfügt,842 ist nach dieser nicht berechtigt, selbständig
die Verwaltung über ein Krisengebiet zu übernehmen.843 Art. 24 Abs. 1 SVN und
Kapitel VII der Charta ermächtigen allein den Sicherheitsrat zur Verwaltung eines
Gebietes. Sollen andere diese Aufgaben für ihn wahrnehmen, müssen sie daher
zunächst mit entsprechenden Befugnissen ausgestattet werden.844 Im Kern handelt es
sich daher bei der hier untersuchten Beauftragung um eine Delegation von
Kompetenzen des Sicherheitsrats an andere UN-Organe oder Dritte zur
eigenständigen Wahrnehmung.845
842
Art. 7 Abs. 1 und Art. 97-101 SVN.
843
Higgins, in: Cassese (Hrsg.), UN Peace-keeping (1978), S. 7, verneint eine Befugnis des
Generalsekretärs, eigenständig Peacekeeping-Missionen ins Leben zu rufen, selbst dann, wenn diese
auf ausdrücklichen Wunsch aller Betroffenen eingerichtet werden sollen.
844
Dies gilt zumindest für die Wahrnehmung der hier in Frage stehenden Befugnisse des
Sicherheitsrats aus Art. 24 Abs. 1 SVN und Kapitel VII der Charta. Die Frage, ob die
Generalversammlung oder der Treuhandrat darüberhinaus auch über eigene Kompetenzen zur
Verwaltung eines Krisengebietes verfügen, siehe unten 3.Kp. E. und F.
845
Ausführlicher zum Begriff der Kompetenzdelegation Sarooshi, The UN and the Development of
Collective Security (1999), S. 4 f; ferner Böhmer, Ermächtigung zu militärischer Gewaltanwendung
(1997), S. 70-72.
159
1.
Umfang der Delegation
Eigenständige Wahrnehmung bedeutet nicht, dass nunmehr allein der so
Bevollmächtigte die ihm übertragene Kompetenz ausüben kann. Vielmehr bleibt der
Rat weiter zur Gebietsverwaltung befugt und kann dem Beauftragten diese Befugnis
grundsätzlich jederzeit wieder entziehen.846 Auch behalten die Entscheidungen des
Rates grundsätzlich Vorrang vor denen der beauftragten Stelle, ebenso wie er
grundsätzlich die Kontrolle über die Ausübung der von ihm übertragenen
Kompetenzen behält.847 Dies geschieht jedoch eher in Form einer allgemeinen
Beaufsichtigung der Tätigkeit des Bevollmächtigten, sowie in Gestalt einer
politischen Kontrolle. Innerhalb dieses Rahmens – den der Sicherheitsrat in
Einzelfall enger oder weiter gestalten kann – handelt die beauftragte Stelle indes mit
eigenem Entscheidungsspielraum.
Kompetenzdelegationen sind daher von solchen Fällen abzugrenzen, in denen sich
der Rat oder das von ihm beauftragte Organ lediglich des Personals anderer Organe,
Organisationen
oder
der
UN-Mitgliedstaaten
bedient,
ohne
diesen
selbst
Verantwortung zuzuweisen. Eine Kompetenzdelegation liegt ebenfalls nicht vor,
wenn Dritten lediglich die Ausführung eines in seinen Einzelheiten feststehenden
Ratsbeschlusses
zugewiesen
wird.848
Andererseits
reicht
die
bloße
Weisungsgebundenheit nicht aus, da ein Eingriffsrecht des Sicherheitsrates auch bei
delegierten Kompetenzen besteht.
Entscheidend ist, ob die internationale Organisation oder der Mitgliedstaat selbst,
d.h. in ihrer beziehungsweise seiner Eigenschaft als juristische Person, tätig wird und
dabei ein gewisses Maß an Entscheidungsfreiheit genießt, oder ob diese lediglich ihr
Personal zur Verfügung stellen. Vergleichbar ist diese Differenzierung mit der
846
Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 7.
847
Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 7 f., mit Hinweisen zu den
beiden möglichen Ausnahmen, die insbesondere bei der Einrichtung internationaler Gerichte von
Bedeutung sind. Ausführlicher zu diesen Beschränkungen unten 3.Kp. D.I.4.
848
Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 10 f., unterscheidet hier
zwischen der Übertragung einer Kompetenz („delegation of a power“) und der Zuweisung einer
Aufgabe („delegation of a function“). Entscheidend kommt es dabei auf den Entscheidungsspielraum
an, den der Sicherheitsrat dem Beauftragten bei der Ausführung gewährt.
160
Unterscheidung von UN-Blauhelmsoldaten und autorisierten Einheiten des Militärs
der Mitgliedstaaten. Beide bestehen aus nationalen Truppenkontingenten. Doch
während erstere unter direktem UN-Kommando stehen, führen letzte zwar den
kollektiven Willen des Sicherheitsrats aus, die operativen Entscheidungen treffen
indes allein die Mitgliedstaaten.
2.
Die Zulässigkeit von Delegationen bei konsensgestützten UN-Verwaltungen
Die Frage des „Ob“, also der Zulässigkeit einer derartigen Beauftragung, gestaltet
sich relativ einfach bei UN-Verwaltungen, die auf der Grundlage des Art. 24 Abs. 1
SVN mit Zustimmung des betroffenen Staates eingerichtet wurden. Hier ist eine
Beauftragung anderer UN-Organe oder –Unterorganisationen zulässig, soweit sie
von der Einwilligung des betroffenen Territorialstaates umfasst ist. So sah das
Pariser Friedensabkommen, das der UN-Verwaltung in Kambodscha zugrunde lag,
ausdrücklich die Einrichtung der UNTAC als eigenständiger UN-Mission vor.849
Angesichts des Umfangs der erforderlichen Verwaltungstätigkeit und der gängigen
Praxis des Rates bei Blauhelmmissionen kann eine Einwilligung in eine
Beauftragung des Generalsekretärs angenommen werden, sofern sie der betroffene
Staat
nicht
ausdrücklich
ausschließt.
Im
Hinblick
auf
die
arbeitsteilige
Vorgehensweise der UN und ihrer Sonder- und Unterorganisationen gilt gleiches für
die Einbeziehung dieser in die Gebietsverwaltung. Nur so können die Ressourcen der
Vereinten Nationen optimal eingebracht werden. Bei einem Fehlen gegenteiliger
Hinweise ist zu vermuten, dass dies auch dem Interesse des betroffenen Staates
entspricht.
Etwas anderes gilt für die Einbeziehung einzelner Staaten oder anderer
internationaler
Organisationen.
Sofern
sie
mit
eigenständigem
Verantwortungsbereich und eigenständiger Organisation tätig werden, also nicht
lediglich der UN Personal und Ressourcen zur Verfügung stellen, sind sie sind im
Verhältnis zwischen Sicherheitsrat und betroffenem Staat als Dritte anzusehen, deren
Einbeziehung zustimmungsbedürftig ist.850 Doch kann sich aus der staatlichen
849
850
Art. 2 des Pariser Friedensabkommens, abgedr. in ILM 31 (1992), 174 (184).
Dies entspricht der Praxis bei Blauhelm-Missionen, bei denen dem Territorialstaat das Recht
161
Zustimmung und ihren äußeren Umständen ergeben, dass auch der bloße Rückgriff
auf Personal bestimmter oder aller anderen Staaten oder Organisationen
ausgschlossen
wurde.851
Im
Übrigen
findet
die
Delegation
von
Sicherheitsratskompetenzen bei konsensualen Friedensoperationen nur insoweit eine
quasi-inhärente Grenze, als die Operation ihren Charakter als Maßnahme der
kollektiven Sicherheit und Friedenswahrung verliert, wenn sich der Sicherheitsrat der
tatsächlichen Kontrolle und Überwachung der Operation begibt. Insbesondere bei der
Delegation an einzelne Mitgliedstaaten oder Regionalorganisationen kann es dann
fraglich sein, ob überhaupt noch von einer UN-Operation gesprochen werden
kann.852
3.
Die Zulässigkeit einer Delegation von Befugnissen im Rahmen einer
Zwangsverwaltung
Komplizierter gestaltet sich die Rechtslage bei der Delegation von Befugnissen des
Sicherheitsrats aus Kapitel VII. Zwar sieht die Charta ausdrücklich vor, dass sich der
Sicherheitsrat bei der Erfüllung seiner Aufgaben auch Regionalorganisationen (Art.
53 Abs. 1 SVN) oder des Generalsekretärs (Art. 98 Satz 1 SVN) bedienen darf oder
zu diesem Zwecke Nebenorgane schaffen kann (Art. 29 SVN). Auch die eingangs
beschriebene praktische Notwendigkeit, bei der Wahrung von Frieden und Sicherheit
in der Welt auf die Ressourcen anderer internationaler Akteure zurückgreifen zu
können, lassen eine implied power des Rates zur Delegation seiner Befugnisse aus
Kapitel VII vermuten. Dass eine Delegation der Befugnisse des Rates nach Kapitel
VII nicht im Widerspruch zur Chartakonzeption eines Systems kollektiver Sicherheit
gegeben wurde, bestimmte, ihm nicht genehme Staaten als Truppensteller auszuschließen. Siehe UN
Special Committee on Peace-keeping Operations (UN Spec.Com. on PKO), Art. 10 der Draft formulae for agreed guidelines for United Nations Peace-keeping Operations, A/32/394, Annex II, Appendix I vom 2.12.1977, und Higgins, in: Cassese (Hrsg.), UN Peace-keeping (1978), S. 5.
851
So wurde bei Blauhelmmissionen während des Kalten Krieges darauf geachtet, keine Truppen der
fünf ständigen Sicherheitsratsmitglieder einzubeziehen, um die Mission vor einer Einbeziehung in die
Konfrontation der Großmächte zu bewahren. Siehe dazu Shimura, in: Thakur/Schnabel (Hrsg.), UN
Peacekeeping Operations (2001), S. 51.
852
White, Keeping the Peace (1997), S. 118. Gaja, in: Tomuschat (Hrsg.) UN at Age Fifty (1995), S.
41 f., nennt die amerikanisch geführte Operation Restore Hope 1992 in Somalia als Beispiel für eine
solche nur lose mit der UN verbundene Operation.
162
steht,853 wird zudem durch Art. 42 Satz 2, Art. 48 Abs. 2 und Art. 53 Abs. 1 Satz 1
SVN angedeutet, welche explizit die Ausführung der Zwangsmaßnahmen durch
Dritte vorsehen. Art. 53 Abs. 1 Satz 2 SVN spricht sogar ausdrücklich von der
Ermächtigung
(„authorization“)854
regionaler
Einrichtungen
durch
den
Sicherheitsrat. Zu Recht wird dem Sicherheitsrat daher die Befugnis zugesprochen,
im Rahmen des Kapitels VII der Charta Kompetenzen auf andere völkerrechtliche
Akteure zu übertragen.855
Strittig ist allein, ob es sich dabei um eine allgemeine implied power handelt, die
allen internationalen Organisationen zusteht,856 oder ob die Artikel der Charta eine
hinreichende ausdrückliche Ermächtigung enthalten.857 Die fraglichen Artikel sind
für eine Delegation an Nebenorgane Art. 29 SVN, für eine an den Generalsekretär
Art. 98 Satz 1 SVN, für die Übertragung von Befugnissen an Regionalorganisationen
Art. 53 Abs. 1 SVN und für solche an einzelne Mitgliedstaaten Art. 42 Satz 2 und
Art. 48 Abs. 2 SVN. Da sie jeweils nur einen konkreten Fall betreffen, soll die Frage,
ob sie den Sicherheitsrat auch zur Delegation von Kompetenzen berechtigen, oder ob
auf eine entsprechende implied power zurückgegriffen werden muss, zu einem
späteren Zeitpunkt jeweils individuell geklärt werden. An dieser Stelle reicht die
Feststellung aus, dass der Sicherheitsrat prinzipiell zur Delegation seiner Befugnisse
aus Kapitel VII der Charta berechtigt ist und dass nicht ersichtlich ist, dass für die
Befugnis zur zwangsweisen Verwaltung eines Krisengebietes etwas Anderes gelten
sollte.
853
So aber Quigley, Michigan JIL 17 (1996), 249 (250).
Eine ausführliche Erläuterung des vom Sicherheitsrat zumeist verwendeten Begriffs „autorisieren“
(to authorize) findet sich Böhmer, Ermächtigung zu militärischer Gewaltanwendung (1997), S. 52 f.
854
855
Für die Zulässigkeit einer solchen freiwilligen Beteiligung von Mitgliedstaaten an
Zwangsmaßnahmen des Sicherheitsrates auch Schachter, AJIL 85 (1991), 452 (464).
856
Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 16-18. Zu einer
entsprechenden allgemeinen Befugnis internationaler Organisationen siehe Schermers/Blokker,
International Institutional Law (1995), § 224, und Seidl-Hohenveldern/Loibl, Internationale
Organisationen (2000), Rn. 1404.
857
Fassbender, UN Security Council Reform and the Right of Veto (1998), S. 231; Frowein/Krisch,
Introduction to Chapter VII (2002), Rn. 32.
163
4.
Grenzen der Delegation von Kapitel VII-Befugnissen
Jedoch kann eine solche Übertragung von Kompetenzen unabhängig von ihrer
Rechtsgrundlage nicht grenzenlos erfolgen. Aus dem allgemeinen Rechtsgrundsatz
nemo dat quot non habet folgt zunächst, dass der Sicherheitsrat nur solche
Kompetenzen übertragen kann, die er nach der Charta selbst besitzt.858 Das bedeutet
insbesondere, dass der Beauftragte bei der Ausübung der ihm übertragenen
Kompetenzen denselben Beschränkungen unterliegt wie der Sicherheitsrat selbst.859
Aber auch die Befugnisse, die der Sicherheitsrat tatsächlich besitzt, kann er nicht
vollumfänglich
übertragen.
Art.
24
Abs.
1
SVN
überträgt
ihm
die
Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen
Sicherheit. Diese zentrale Rolle860 wird wesentlich durch Kapitel VII geprägt,
welches dem Sicherheitsrat allein weitreichende Befugnisse zu Zwangsmaßnahmen
erteilt. Im Gegenzug stellt Art. 27 Abs. 3 SVN in Gestalt des Veto-Rechts eine
prozedurale Hürde auf, die wesentliche Voraussetzung dafür war, dass sich die
Mitgliedstaaten diesem System unterworfen haben. Gleiches gilt für die in Art. 23
Abs. 1 SVN niedergelegte, halbwegs repräsentative Zusammensetzung des
Sicherheitsrats.861 Diese Grundfesten des Regimes kollektiver Sicherheit im Rahmen
der Charta dürfen durch die grundsätzlich zulässige Delegation von Kompetenzen
nicht unterlaufen werden.
Daraus folgt nicht nur, dass die Kompetenz zur Feststellung einer Friedensbedrohung
im Sinne des Art. 39 SVN beim Sicherheitsrat verbleiben muss.862 Er muss auch die
858
Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 142; Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 20; Reinhart, Die Nebenorganpraxis des Sicherheitsrates (2000), S. 29. Für
die allgemeine Geltung dieses Grundsatzes im Recht der internationalen Organisationen siehe SeidlHohenveldern/Loibl, Internationale Organisationen (2000), Rn. 1405; Schermers/Blokker,
International Institutional Law (1995), § 225.
859
Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 19; Blokker, EJIL 11
(2000), 541 (552).
860
Blokker, EJIL 11 (2000), 541 (551).
861
Zu Kritik an der Zusammensetzung des Sicherheitsrates und den Reformvorschlägen ausführlich
Fleurence, Réforme du Conseil de sécurité (2000), sowie jüngst UN, Threats, Challenges and Change
(2004), §§ 244-260.
862
Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 33 f.; Frowein/Krisch,
164
Entscheidung über die Art der zu ergreifenden Zwangsmaßnahmen863 – vorliegend
über Art und Umfang der UN-Verwaltung – haben und die Letztkontrolle über ihre
Ausführung behalten.864 Dies beinhaltet auch die Fähigkeit, ein einmal erteiltes
Mandat wieder zu entziehen.865 Dieses Kontrollrecht des Sicherheitsrates
unterscheidet sich von der Frage, ob es einer individuellen Überprüfbarkeit einzelner
Rechtsakte der UN-Verwaltung bedarf, die von einzelnen Betroffenen veranlasst
werden kann. Während ersteres das Verhältnis zwischen Auftraggeber und
Auftragnehmer,
mithin
das
Innenverhältnis
betrifft,
betrifft
letzteres
das
Außenverhältnis zwischen Vereinten Nationen und dem betroffenen Individuum.
Nur die Kontrolle und das Selbsteintrittsrecht des Sicherheitsrats rechtfertigen die
Umgehung des Art. 27 Abs. 3 SVN, die darin liegt, dass bei einer Delegation die
Sicherheitsratskompetenzen von UN-Organen oder Völkerrechtssubjekten ausgeübt
werden, die kein Vetorecht und keine Art. 23 Abs. 1 SVN entsprechende
Zusammensetzung kennen.866 Auch die Art. 46 und 47 Abs. 3 Satz 1 SVN deuten an,
dass die Charta eine Kontrolle der Zwangsmaßnahmen durch den Sicherheitsrat
befürwortet.867 Art. 54 SVN legt ferner Regionalorganisationen auf, dem
Sicherheitsrat über die von ihnen getroffenen Maßnahmen vollständig Bericht zu
erstatten. Da es dem Rat nur so möglich ist, seine Kontrollfunktion wahrzunehmen,
ist diese Pflicht zur Berichterstattung auf alle mit der Ausführung von Kapitel VII-
Introduction to Chapter VII (2002), Rn. 33.
863
Frowein/Krisch, Introduction to Chapter VII (2002), Rn. 33.
864
Siehe die krit. Stellungnahme Indiens zu S/RES/770 (1992), S.C.O.R. , 47 th sess., 3106th mtg.,
S/PV.3106 (1992), S. 12. Ähnlich der Vertreter Simbabwes in der gleichen Sitzung, ebenda, S. 16;
beide Stellungnahmen abgedr. bei Quigley, Michigan JIL 17 (1996), 249 (265 f.). Aus der Literatur
siehe Böhmer, Ermächtigung zu militärischer Gewaltanwendung (1997), S. 110; Sarooshi, The UN
and the Development of Collective Security (1999), S. 41; Paulus, Art. 29 (2002), Rn. 15.
865
So für internationale Organisationen allgemein Seidl-Hohenveldern/Loibl, Internationale
Organisationen (2000), Rn. 1404.
866
Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 40 f. im Hinblick auf das
Vetorecht und die Rolle der fünf ständigen Sicherheitsratsmitglieder. Zu Beispielen für den
Selbsteintritt der Sicherheitsrates in Gestalt konkreter Anweisungen an den Generalsekretär im
Rahmen der UNTAC-Mission in Kambodscha siehe Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S.
105 m.w.N.
867
White, Keeping the Peace (1997), S. 117; White/Ülgen, NILR 44 (1997), 378 (386 f.).
165
Maßnahmen Betraute auszudehnen.868 Bei den UN-Verwaltungsmissionen ist dies
inzwischen gängige Praxis.869
Formal ist zu beachten, dass eine Bevollmächtigung nicht einfach unterstellt werden
darf, da es sich bei der Befugnis zur Ausführung von Zwangsmaßnahmen um die
weitreichendste und wesentlichste Kompetenz handelt, die der Sicherheitsrat besitzt.
Insbesondere die Übertragung der Befugnisse zur zwangsweisen Verwaltung eines
Gebietes bedarf daher einer expliziten Übertragung im Wege einer Resolution.870
Gleiches ist aber auch für eine konsensgestützte Territorialverwaltung auf der
Grundlage von Art. 24 Abs. 1 SVN zu fordern. Denn auch hier geht es um die
Wahrnehmung der Kernaufgabe des Sicherheitsrates, die Wahrung des Weltfriedens
und der internationalen Sicherheit. Der Mangel einer expliziten Ermächtigung spielte
bei der zweiten UN-Mission in Somalia (UNOSOM II) eine Rolle. Dort setzte der
zuständige Sondergesandte des Generalsekretärs das somalische Strafgesetzbuch von
1962 wieder in Kraft. Da aber Resolution 814 (1993) vom 26.3.1993, welche die
rechtliche Grundlage seiner Tätigkeit bildete, keine explizite Befugnis zu
Legislativakten
enthielt,
wurde
dieser
Akt
später
von
einer
UN-
Untersuchungskommission als eine möglicherweise unzulässige ultra viresHandlung bewertet.871 In der Folge hat der Sicherheitsrat daher die einzelnen
Kompetenzen des Generalsekretärs bei der Ausübung der Verwaltung wesentlich
präziser ausgestaltet.872 Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine zu detaillierte
868
Für den Fall der Delegation von Kompetenzen an Mitgliedstaaten Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 161 f.; Frowein/Krisch, Art. 42 (2002), Rn. 25. Auch
White/Ülgen, NILR 44 (1997), 378 (387) fordern eine Verpflichtung der ermächtigten Mitgliedstaaten
zur regelmäßigen Berichterstattung.
869
§ 10 S/RES/745 (1992) zu UNTAC (3 monatlich); § 9 S/RES/1037 (1996) zu UNTAES (erster
Bericht nach 11 Monaten); § 20 S/RES/1244 (1999) zur Verwaltung des Kosovo (erster Bericht
innerhalb von 30 Tagen, dann in „regular intervals“) und § 18 S/RES/1272 (1999) zur Verwaltung
Osttimors (erster Bericht nach drei Monaten, dann halbjährliche Berichte).
870
So für die Delegation von Zwangsbefugnissen allgemein Sarooshi, The UN and the Development
of Collective Security (1999), S. 8 f. u. 63.
871
Siehe § 67 des Berichts einer vom Sicherheitsrat eingesetzten Untersuchungskommission, abgedr.
als S/1994/653 vom 1.6.1994; ferner Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security
(1999), S. 62 f.
872
Während § 14 S/RES/814 (1993) den Generalsekretär lediglich das Ziel, eine sicheres Umfeld zu
schaffen, als Aufgabe gesetzt hat, enthalten § 11 S/RES/1244 (1999) zum Kosovo und § 2
S/RES/1272 (1999) zu Osttimor einen detaillierten Aufgabenkatalog und werden damit den
166
Umschreibung der übertragenen Kompetenzen die UN-Verwaltung daran hindern
würde, flexibel auf die vor Ort angetroffenen Verhältnisse und ihre Entwicklung zu
reagieren.
Da die Feststellung einer Friedensbedrohung aus den oben genannten Gründen nicht
delegiert werden kann, muss der delegierenden Resolution eine solche Feststellung
entweder vorausgehen, oder sie muss diese selbst enthalten.873 Da es sich bei der
Delegation von Kompetenzen um eine nicht-prozedurale Frage im Sinne des Art. 27
Abs. 3 SVN handelt, unterliegt sie dem Vetorecht der fünf ständigen
Ratsmitglieder.874
Inhaltlich sind die übertragenen Aufgaben und Befugnisse sowie die angestrebten
Ziele möglichst präzise zu benennen.875 So dies nicht erfolgt ist, sind entsprechende
Resolutionen grundsätzlich restriktiv auszulegen.876 Eine klare Benennung der
angestrebten Ziele führt auch zu einem bestimmbaren zeitlichen Ende der
Befugnisübertragung. Denn mit der Erreichung der in der Resolution genannten Ziele
erlischt auch die Delegation der entsprechenden Kompetenz. Anderenfalls bedürfte
die
Rücknahme
der
übertragenen
Befugnisse
einer
weiteren
Sicherheitsratsresolution, was die Gefahr eines sogenannten reverse veto mit sich
brächte. Sie lässt sich auch dadurch vermeiden, dass der Sicherheitsrat die
Delegation von vornherein nur für einen bestimmten Zeitraum ausspricht.877 So hat
der Sicherheitsrat die UNTAET-Mission zunächst nur für gut fünfzehn Monate
autorisiert878 und in der Folge zweimal verlängert.879 Aber auch hier gilt, dass eine zu
Anforderungen an eine Präzisierung der übertragenen Kompetenzen gerecht.
873
White/Ülgen, NILR 44 (1997), 378 (387); Sarooshi, The UN and the Development of Collective
Security (1999), S. 9 f.
874
Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 9.
875
Frowein/Krisch, Introduction to Chapter VII (2002), Rn. 33. Für den Fall der Autorisierung von
Mitgliedstaaten zu militärischen Zwangsmaßnahmen siehe White/Ülgen, NILR 44 (1997), 378 (387).
876
Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 44.
877
Blokker, EJIL 11 (2000), 541 (563).
878
§ 17 S/RES/1272 (1999) vom 25.10.1999.
879
Durch S/RES/1338 (2001) vom 31.1.2001 um ein Jahr und S/RES/1389 (2002) vom 31.1.2002 um
weitere vier Monate bis zur Selbständigkeit Osttimors am 20.5.2002.
167
kurze Leine im Einzelfall das Erreichen der mit der Delegation angestrebten Ziele
behindern kann.880 Auch angesichts des weiten Ermessens, dass Kapitel VII der
Charta dem Sicherheitsrat bei der Wahl der Mittel einräumt,881 muss man ihm
allerdings auch in Hinblick auf den Umfang der von ihm ausgeübten Kontrolle eine
gewisse Flexibilität gestatten.882 Die fehlende zeitliche Begrenzung des Mandats des
Generalsekretärs zur Verwaltung des Kosovo stellt daher die Rechtmäßigkeit der
UNMIK nicht in Frage.883
II.
Der rechtliche Status der UN-Verwaltungsmissionen
Da es sich bei den bisherigen UN-Verwaltungsmissionen nicht um unselbständige
Untergliederungen des Sicherheitsrates handelt, teilen sie nicht vollumfänglich
dessen rechtlichen Status. Im Folgenden wird daher untersucht, in welchem
rechtlichen Verhältnis sie zu den übrigen Organen der UN stehen (1.) und welcher
rechtliche Status ihnen im Außenverhältnis zukommt (2.).
1.
Der rechtliche Status der UN-Verwaltungsmissionen im Gefüge der
Vereinten Nationen
Hinsichtlich des internen rechtlichen Status einer UN-Verwaltungsmission ist
zunächst festzustellen, dass es sich bei diesen bisher stets um rechtlich selbständige
Nebenorgane, nicht um unselbständige Untergliederungen des UN Sekretariates
880
Das konzediert auch Korhonen, Leiden JIL 14 (2001), 495 (500), die sich im Übrigen kritisch zur
geringen Kontrolle der UNMIK und der UNTAET durch den Sicherheitsrat äußert. Eine
ausführlichere Darstellung dieses Spannungsverhältnisses bei der Autorisierung mitgliedstaatlicher
Militäreinsätze durch den Sicherheitsrat und in Frage kommende Abwägungskriterien zu seiner
Auflösung finden sich bei Böhmer, Ermächtigung zu militärischer Gewaltanwendung (1997), S. 98110.
881
Siehe dazu oben 3.Kp. C.II.1.
882
Vgl. Blokker, EJIL 11 (2000), 541 (551 f.), der lediglich eine Präferenz der Charta für eine engere
Kontrolle des Sicherheitsrates feststellt und auf die Probleme zu umfangreicher
Mandatsbeschränkungen aufmerksam macht (ebenda, S. 565).
883
Gemäß § 19 S/RES/1244 (1999) ist UNMIK zwar zunächst nur für ein Jahr eingerichtet worden,
um dann jedoch bis auf Widerruf durch eine weitere Sicherheitsratsresolution fortzubestehen. Diese
Regelung mag im Hinblick darauf gewählt worden sein, dass die Kosovofrage im Sicherheitsrat im
Gegensatz zur Osttimorfrage erhebliche Kontroversen ausgelöst hatte. Durch ein zeitlich unbegrenztes
Mandat steht die UNMIK auf einem solideren Fundament.
168
handelte.884 Entscheidend ist dabei der Grad an Unabhängigkeit, den die betreffende
Organisationseinheit geniesst.885 Die bisherigen UN-Verwaltungsmissionen wurde
dabei stets von einem Sondergesandten des Generalsekretärs (SRSG) im Range eines
Under-Secretary-General geleitet,886 der durch den Generalsekretär ernannt
wurde.887 Sie sind damit nicht Untergliederungen des ebenfalls von einem UnderSecretary-General geleiteten Department for Peacekeeping Operations (DPKO).
Ferner verfügen sie über ein gegenüber dem allgemeinen Haushalt der Vereinten
Nationen gesondert ausgewiesenes Budget.888 Dass die bisherigen Missionen in
vielfacher Weise auf die Ressourcen des DPKO und des Generalsekretariates
zurückgriffen, bedeutet noch keine Integration in die Hierarchie des Sekretariates,
sondern ist eher mit dem Bestreben, Synergieeffekte zu nutzen, zu erklären.889
Zu prüfen bleibt lediglich, ob es sich um Nebenorgane des Sicherheitsrates oder um
solche des Generalsekretärs handelt. Im ersteren Falle böte Art. 29, im letzteren Art.
7 Abs. 2 der Charta die notwendige Rechtsgrundlage. Diese Unterscheidungen sind
insofern von Interesse, als sie über die Rolle des Generalsekretärs bei der Verwaltung
eines Krisengebietes entscheiden. Handelt es sich bei den Verwaltungsmissionen um
Teile des Sekretariats oder zumindest um Nebenorgane des Generalsekretärs, so kann
884
Für die Einstufung als Nebenorgan auch Ruffert, ICLQ 50 (2001), 613 (622), Irmscher, GYIL 44
(2001), 353 (355); Bothe/Marauhn, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the International Community
(2002) (228); Jaenicke, Art. 7 (2002), Rn. 18. Für eine Definition des Begriffs “Nebenorgan” („subsidiary organ“) siehe Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S.87-91;
ferner Jaenicke, Art. 7 (2002), Rn. 4; jeweils m.w.N.
885
Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 89.
886
Siehe beispielsweise § 4 S/1999/672 vom 12.6.1999 zur Umsetzung des § 10 S/RES/1244 (1999).
Im Rahmen der UNTAES wurde diese Position des Missionsleiters lediglich als „transitional
administrator“ bezeichnet (§ 2 S/RES/1037 (1996)).
887
§ 2 S/RES/1037 (1996) verpflichtet ihn dabei zur Rücksprache mit dem Sicherheitsrat und den
betroffenen Parteien in Ostslavonien, in § 3 S/1999/672 (UNMIK) verpflichtet sich der
Generalsekretär selbst zu Rücksprache mit dem Rat – § 10 S/RES/1244 (1999) ließ dies offen –,
während ihm § 6 S/RES/1272 (1999) in Osttimor formal freie Hand lässt.
888
Siehe beispielsweise A/RES/54/245 A vom 23.12.1999, abgedr. in UNYB 1999, 365 f., oder
A/RES/54/246 A vom gleichen Tag, abgedr. ebenda, 297 f. Zur Finanzierung von PeacekeepingOperationen allgemein siehe Bothe, Peace-keeping (2002), Rn. 103-107.
So werden alle Legislativakte der UN-Verwaltungen (die sog. „regulations“) vor ihrer
Verkündung durch die Rechtsabteilung des Sekretariates geprüft. Siehe dazu Corell, Role of the UN in
Peacekeeping (2000), S. 5 f. Ausführlich zur Planung einer Peacekeeping-Mission durch den
Generalsekretär und das Department of Peacekeeping Operations Shimura, in: Thakur/Schnabel
(Hrsg.), UN Peacekeeping Operations (2001), S. 46-56.
889
169
der Sicherheitsrat nicht unmittelbar auf die Mission Einfluss nehmen, sondern ist auf
den Umweg über den Generalsekretär angewiesen. Im ersten Fall folgt dies aus der
Stellung des Generalsekretärs als höchstem Verwaltungsbeamtender UN (Art. 97
Satz 3 SVN), im zweiten daraus, dass grundsätzlich allein das aufstellende
Hauptorgan befugt ist, Zusammensetzung, Aufgaben und Befugnisse eines
Nebenorgans zu ändern.890 Handelt es sich dagegen um ein Nebenorgan des
Sicherheitsrates, so kann dieser unabhängig vom Generalsekretär über die Mission
befinden. Bei einem Nebenorgan des Generalsekretärs bliebe ferner zu prüfen,
inwieweit dieser zur Subdelegation der ihm vom Sicherheitsrat übertragenen
Kompetenzen befugt ist.
Entscheidend ist, welches der beiden UN-Hauptorgane das fragliche Nebenorgan
aufstellt. Betrachtet man zunächst den Fall der UN-Verwaltung im Kosovo, so
spricht einiges für eine Aufstellung durch den Generalsekretär.891 So wurde er vom
Sicherheitsrat autorisiert, eine Zivilverwaltung im Kosovo einzurichten892, und er
wurde beauftragt, einen Sondergesandten für diese Aufgabe zu benennen.893 Bei
allen drei auf der Grundlage von Kapitel VII eingerichteten Missionen ist ihm – und
nicht dem Leiter der Mission vor Ort – auferlegt worden, dem Sicherheitsrat
regelmäßig Bericht zu erstatten.894
Die Mission im Kosovo ist aber insofern ein Sonderfall, als sie zum Zeitpunkt der
Verabschiedung ihrer Ermächtigungsresolution 1244 (1999) am 10.6.1999 noch
nicht abschließend geplant worden war.895 Der Sicherheitsrat konnte sie daher noch
nicht in ihren Einzelheiten darlegen und bevollmächtigte den Generalsekretär
890
Jaenicke, Art. 7 (2002), Rn. 5; ähnlich Szasz, Role of the UN Secretary General, NYU.J.I.L&P 24
(1991), 161 (172).
891
Irmscher, GYIL 44 (2001), 353 (355), stuft die UNMIK deshalb als Nebenorgan des
Generalsekretärs ein.
§ 10 S/RES/1244 (1999) lautet: „Authorizes the Secretary-General (...) to establish an international civil presence in Kosovo in order to provide an interim administration for Kosvo (…)”.
892
§ 6 S/RES/1244 (1999) lautet: „Requests the Secretary General (…) to appoint a Special Representative (…)”.
893
894
§ 9 S/RES/1037 (1996), § 20 S/RES/1244 (1999) und § 18 S/RES/1272 (1999).
895
Dies erfolgte erste mit dem Bericht S/1999/672 des Generalsekretärs vom 12.6.1999.
170
entsprechend
umfassender.
In
den
beiden
anderen
Fällen
einer
UN-
Verwaltungsmission auf der Grundlage von Kapitel VII waren die Planungen bereits
im Vorfeld abgeschlossen.896 In § 1 der Resolution 1037 (1996) beauftragte der
Sicherheitsrat daher nicht den Generalsekretär, sondern rief UNTAES unmittelbar
selbst ins Leben.897 In gleicher Weise verfuhr er bei der Einrichtung der UNTAETMission in Osttimor.898 Die Urheberschaft des Rates wird besonders deutlich im
Falle der UNTEAS. Hier behielt sich der Sicherheitsrat in § 8 der Resolution 1037
(1996) ausdrücklich vor, das Mandat der Mission zu ändern, sollte dies erforderlich
werden. Hätte es sich um ein Nebenorgan des Generalsekretärs gehandelt, hätte diese
Befugnis bei diesem gelegen.
Für ein Nebenorgan im Sinne des Art. 29 SVN spricht ferner, dass der Sicherheitsrat
nicht dem Generalsekretär, sondern den Missionen selbst bestimmte Aufgaben und
Kompetenzen zu weist.899 Die Delegation findet mithin im Verhältnis zwischen
Sicherheitsrat und dem von ihm geschaffenen Nebenorgan statt. Dass er in gleicher
Weise mit der UN-Verwaltung im Kosovo verfährt,900 deutet daraufhin, dass auch im
Falle der UNMIK nicht der Generalsekretär, sonder die von ihm so genannte
„international civil presence“ der Empfänger der vom Rat übertragenen Befugnisse
ist.
Bei allen bisherigen Verwaltungsmissionen handelt es sich mithin um Nebenorgane
des Sicherheitsrates,901 nicht solche des Generalsekretärs.902 Zu Recht haben die UN
896
Im Falle der UNTAES mit dem Bericht S/1995/1028 des Generalsekretärs vom 13.12.1995, im
Falle der UNTAET mit dem Bericht S/1999/1024 vom 4.10.1999.
§ 1 S/RES/1037 (1996) lautet: „Decides to establish (...) a United Nations peace-keeping operation for the region (…) under the name ‘United Nations Transitional Administration for Eastern Slavonia, Baranja and Western Sirmium’ (UNTAES)”.
897
§ 1 S/RES/1272 (1999) lautet entsprechend: „Decides to establish (...) a United Nations Transitional Administration in East Timor (UNTEAT) (...)“.
898
899
§§ 10 u. 11. S/RES/1037 (1996) bzw. §§ 1, 2 u. 4 S/RES/1272 (1999).
§ 11 S/RES/1244 (1999) lautet: „Decides that the main responsibilities of the international civil
presence will include (…)”.
900
901
Paulus, Art. 29 (2002), Rn. 48; von Carlowitz, AVR 41 (2003), 336 (342). Zu der Annahme eines
Nebenorgans des Sicherheitsrates tendieren auch Ruffert, ICLQ 50 (2001), 613 (622), und Bothe/Marauhn, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the International Community (2002) (228).
171
die Peacekeeping- und Verwaltungsmissionen in ihrem Organigramm der Vereinten
Nationen dem Sicherheitsrat zugeordnet.903 Die rechtliche Grundlage für die
Delegation von Kompetenzen an Nebenorgane ist auch hier nicht in einer generellen
implied power zu suchen,904 sondern in Art. 29 SVN selbst. Dieser legt fest, dass der
Sicherheitsrat solche Nebenorgane einrichten kann, die er „zur Wahrnehmung seiner
Aufgaben für erforderlich hält.“905 Der Wortlaut des Art. 29 SVN906 erfasst damit
auch die Schaffung solcher Nebenorgane, die Befugnisse des Sicherheitsrates
ausüben, wenn dieser ein solches Organ für erforderlich hält. Damit erlaubt Art. 29
SVN auch die Übertragung von Kompetenzen auf ein Nebenorgan, so dass für die
Annahme einer entsprechenden ungeschriebenen Delegationsbefugnis kein Raum ist.
Der Einstufung der Verwaltungsmissionen als Nebenorgane des Sicherheitsrates lässt
sich auch nicht entgegenhalten, dass die Mission jeweils von ein Sondergesandten
und Vertreter des Generalsekretärs und nicht einem Beauftragten des Sicherheitsrats
geleitet wird. Dieser Umstand lässt sich vielmehr damit erklären, dass der Rat den
Generalsekretär mit der Führung des von ihm nach Art. 29 SVN geschaffenen
Nebenorgans betraut. Da der Sicherheitsrat, wie bereits ausgeführt, über kein eigenes
Personal verfügt, bedient er sich hierzu unter Rückgriff auf Art. 98 SVN des
Generalsekretärs, der seinerseits zur Wahrnehmung dieser Aufgabe einen
Sondergesandten als Vertreter benennt.907 Dass dem Generalsekretär diese
Vorgehensweise durch die jeweilige Resolution des Sicherheitsrates vorgeschrieben
oder doch zumindest empfohlen ist,908 ist dabei als rechtliche Ausgestaltung seiner
902
So aber Irmscher, GYIL 44 (2001), 353 (355). In dieser Richtung wohl auch Frowein/Krisch,
Introduction to Chapter VII (2002), Rn. 32, die von einer Autorisierung des Generalsekretärs zur
Übernahme der Verwaltungshoheit sprechen.
903
The United Nations System, Organigramm, abrufbar unter <www.un.org/aboutun/chart.html>.
904
So aber Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 16-18.
905
Zum Verfahren der Einrichtung von Nebenorganen siehe Reinhart, Die Nebenorganpraxis des
Sicherheitsrates (2000), S. 56 f.; Paulus, Art. 29 (2002), Rn. 16-18.
Art. 29 SVN lautet im englischen Original: „The Security Council may establish such subsidiary
organs as it deems necessary for the performance of its functions.”
906
907
Paulus, Art. 29 (2002), Rn. 48.
908
Siehe § 2 S/RES/1307 (1999) [„Requests“] oder § 6 S/RES/1272 (1999) [„Welcomes“].
Hinsichtlich der Person des Sondergesandten sieht sich der Generalsekretär zudem zunehmenden
Drucks seitens der Mitgliedstaaten ausgesetzt (Shimura, in: Thakur/Schnabel (Hrsg.), UN Peacekeep-
172
Beauftragung mit der Leitung des Nebenorgans zu verstehen. Der Generalsekretär
wird mit der Leitung der Mission betraut, verbunden mit der Auflage, dieses Amt
einem von ihm zu ernennenden Vertreter, seinem Sondergesandten, zu übertragen.
Die eigentliche Kompetenzdelegation findet indes im Verhältnis zwischen
Sicherheitsrat und dem von ihm geschaffenen Nebenorgan statt. Allein diesem wird
die Befugnis zur Verwaltung des Gebietes übertragen. Der Generalsekretär,
beziehungsweise dessen Sondergesandter, sofern seine Ernennung bereits in der
Ermächtigungsresolution vorgesehen ist, wird lediglich zum Leiter der mit diesen
Befugnissen ausgestatteten Mission bestellt und übt als solcher diese Befugnisse aus.
Im Verhältnis zwischen Generalsekretär und Sicherheitsrat liegt somit keine
Kompetenzdelegation, sondern lediglich ein Auftragsverhältnis vor. Am deutlichsten
wird dieses Verhältnis – Ermächtigung der Mission beziehungsweise dessen Leiter
bei gleichzeitiger Beauftragung des Generalsekretärs, diesen Posten zu besetzen – in
§ 6 S/RES/1272 (1999):
“Welcomes the intention of the Secretary-General to appoint a Special
Representative who, as the Transitional Administrator, will be responsible
for all aspects of the United Nations work in East Timor and will have
the power to enact new laws and regulations and to amend, suspend or repeal
existing ones”. 909
Es ist der Übergangsverwalter, der als Leiter der Übergangsverwaltung deren
Kompetenzen ausübt und bestimmte Befugnisse besitzt. Dass dieser Posten vom
Generalsekretär mit einem Vertreter besetzt wird, entspricht Art. 101 Abs. 1 SVN,
Dem zufolge die Personalhoheit, d.h. die Befugnis, Personal einzustellen,
grundsätzlich beim Generalsekretär liegt. Art. 101 Abs. 2 SVN legt darüber hinaus
den Grundsatz der Einheitlichkeit des Sekretariats fest und bezieht prinzipiell auch
das Personal der Nebenorgane der UN in das Sekretariat ein.910 So lief die
ing Operations (2001), S. 51 f.).
Eine ähnliche Formulierung findet sich in § 2 S/RES/1037 (1996): „Requests the SecretaryGeneral to appoint (...) a Transitional Administrator, who will have overall authority over (…) UNTAES, and who will exercise the authority given to the Transitional Administration in the Basic
Agreement”. (Im Falle der UNTAES war das Amt des Missionsleiters noch nicht als
Sondergesandtschaft des Generalsekretärs ausgestaltet.)
909
910
Zu diesem Grundsatz siehe Göttelmann/Münch, Art. 101 (2002), Rn. 44-46.
173
Rekrutierung von Personal für die Verwaltungsmissionen weitgehend über die
Abteilung für Friedensoperationen des Sekretariats, auch wenn einzelne Stellen auch
durch die Missionen selbst ausgeschrieben wurden911. Im übrigen bindet diese
Verfahrensweise die Verwaltungsmission an das Sekretariat in New York an und
ermöglicht es, auf dessen personelle und sachliche Ressourcen zurückzugreifen. Dem
Respekt vor dem Grundsatz der Einheit des Sekretariats entspricht es auch, dass der
Generalsekretär, nicht der Missionsleiter, vom Sicherheitsrat zur regelmäßigen
Berichterstattung verpflichtet wird, da der Generalsekretär als oberster Beamter der
UN-Verwaltung912 Dienstvorgesetzter des vom Nebenorgan Verwaltungsmission
eingesetzten Personals bleibt und als solcher dem Rat über die Tätigkeit seiner
Untergebenen Rechenschaft ablegt.913
Zusammenfassend lässt sich daher feststellen, dass es sich bei den in Frage stehenden
Verwaltungsmissionen um Nebenorgane des Sicherheitsrats im Sinne des Art. 29
SVN handelt, denen dieser seine Befugnisse zur Territorialverwaltung aus Kapitel
VII übertragen hat. Mit deren Planung, Aufstellung und Leitung hat er gemäß Art. 98
SVN den Generalsekretär beauftragt, der den in Art. 101 Abs. 1 und 2 SVN
niedergelegten Grundsätzen entsprechend auch für die personelle Austattung,
insbesondere für die Benennung eines seiner Sondergesandten als Missionsleiter
zuständig ist. Dass diese Struktur auch bei den komplexeren Verwaltungsmissionen
gewählt wurde, lässt darauf schließen, dass sie sich in den Augen des
Sicherheitsrates bewährt hat. Es ist somit davon auszugehen, dass er auch bei
zukünftigen Missionen auf diese Struktur zurückgreifen wird, sofern sachliche oder
politische Umstände des Einzelfalls nicht eine andere Vorgehensweise sinnvoller
erscheinen lassen.
911
Siehe
die
Stellenauschreibungen
<http://www.unmikonline.org/jobopps/index.htm>.
912
der
UNMIK
unter
Art. 97 Satz 3 SVN.
913
Unklar Reinhart, Die Nebenorganpraxis des Sicherheitsrates (2000), S. 62 f., die bezogen auf
Blauhelm-Missionen von eine Mandatierung des Generalsekretärs zur Berichterstattung spricht, die
dieser aufgrund der zahlreichen Missionen nur durch Vertreter wahrnehmen könne.
174
2.
Der rechtliche Status der UN-Verwaltungsmissionen gegenüber Staaten und
dritten internationalen Organisationen
Die bisherigen Ausführungen betrafen allein das Innenverhältnis der verschiedenen
Akteure im Rahmen der Vereinten Nationen. Nur im Innenverhältnis sind die
Verwaltungsmissionen Nebenorgane des Sicherheitsrates. Im Außenverhältnis sind
sie dagegen Nebenorgane der Vereinten Nationen insgesamt914 und haben als solche
Teil am völkerrechtlichen Status der Mutterorganisation. Dies bedeutet einerseits,
dass die Art. 104 und 105 SVN auf sie ebenso Anwendung finden wie die
Konvention über die Vorrechte und Immunitäten der Vereinten Nationen.915
Andererseits besitzen sie keine von den Vereinten Nationen unabhängige
Völkerrechtssubjektivität.916
Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die Befugnisse der Verwaltungsmission auf
dem und für das von ihr verwalteten Territorium anzuerkennen, ergibt sich zunächst
aus der Verbindlichkeit der Beschlüsse des Rates, die der Einrichtung und
Mandatierung der Mission zugrunde liegen. Jedenfalls im Falle von Missionen, die
auf der Grundlage von Kapitel VII der Satzung eingerichtet wurden, verpflichten Art.
25 und Art. 48 Abs. 2 SVN die mittlerweile 191 UN-Mitglieder zur Anerkennung.917
Diese Pflicht erfasst auch die Beachtung und gegebenenfalls die Ausführung oder
Unterstützung der von der Mission im Rahmen ihres Mandats getroffenen
Entscheidungen und Maßnahmen.918 Doch auch Verwaltungsmissionen, die ihre
Grundlage in Art. 24 Abs. 1 SVN und der Einwilligung der betroffenen
Völkerrechtssubjekte finden, können die Mitgliedstaaten ihre Anerkennung nicht
verweigern.919 Denn Art. 2 Ziff. 5 SVN verpflichtet die Staaten, der UN bei der
914
Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 87.
915
Jaenicke, Art. 7 (2002), Rn. 26.
916
Jaenicke, Art. 7 (2002), Rn. 26.
917
So für Nebenorgane des Sicherheitsrates allgemein Paulus, Art. 29 (2002), Rn. 20.
918
Paulus, Art. 29 (2002), Rn. 20. Entsprechend für die Entscheidungen des Jugoslawientribunals
ICTY, Prosecutor v. Blaškić (Subpoenae), Entscheidung vom 18.7.1997, § 33, abgedr. in ILR 110
(1998), 607 (628).
919
Anders Rothert, Columbia JTL 39 (2000), 257 (280), der eine Anerkennungspflicht seitens der
Mitgliedstaaten nur für Missionen annimmt, die sich auf Kapitel VII SVN stützen.
175
Erfüllung ihrer Aufgaben jeglichen Beistand zu leisten. Da auch die konsensgestützte
Verwaltung von Krisengebieten in den Aufgabenbereich des Sicherheitrates nach
Art. 24 Abs. 1 SVN fällt,920 sind die Mitgliedstaaten auch in diesen Fällen
verpflichtet, die Verwaltungsmission zu unterstützen. Die Anerkennung der
Zuständigkeit der Mission für das Krisengebiet kann dabei gleichsam als
Minimalforderung an die Mitgliedstaaten gesehen werden.
Die Pflicht, die rechtlich Existenz921 der Verwaltungsmission als Teil der Vereinten
Nationen anzuerkennen, sowie ihr und ihrem Personal gewisse Vorrechte und
Privilegien zuzubilligen, folgt dagegen bereits aus der Anwendbarkeit der Art. 104
und Art. 105 SVN. Inwiefern die einzelnen Missionen berechtigt sind, eigenständig
rechtliche Beziehungen gegenüber Dritten einzugehen, hängt davon ab, ob ihnen eine
entsprechende Kompetenz übertragen wurde.922 So wurde UNTAET in § 5 der
Resolution 1272 (1999) ausdrücklich ermächtigt, auf das Wissen und die Ressourcen
anderer internationaler Organisationen zurückzugreifen.923 In der Regel setzt dies
aber eine wie auch immer geartete rechtliche Vereinbarung zwischen den Parteien
voraus. Auf dieser Grundlage hat UNTAET beispielsweise auch in eigenem Namen
einen Darlehensvertrag mit der internationalen Entwicklungsagentur (International
Develepment Agency) der Weltbank geschlossen.924 Im Falle der UNMIK fehlt eine
solche ausdrückliche Ermächtigung, § 10 der Resolution 1244 (1999) autorisiert
lediglich den Generalsekretär, die Mission mit der Hilfe anderer relevanter
internationaler Organisationen einzurichten.925 Es ist jedoch an eine entsprechende
920
Siehe dazu oben 3.Kp. B.II.
921
Gemeint ist die Teilhabe an der Rechtsfähigkeit der UN als Ganzes. Wie bereits ausgeführt ist die
Verwaltungsmission selbst kein eigenständiges Rechtssubjekt.
922
Jaenicke, Art. 7 (2002), Rn. 26.
§ 5 S/RES/1272 (1999) lautet: „Recognizes that, in developing and performing its functions under
its mandate, UNTAET will need to draw on the expertise and capacity of Member States, United Nations agencies and other international organizations, including international financial institutions“.
923
924
Siehe dazu Chopra, Survival 42 (2000), 27 (30), und American Society for International Law
(ASIL), IDA-UNTAET: Trust Fund for East Timor Grant Agreement of 21 February 2000, International Law in Brief (ILIB), April 2000, abrufbar unter <www.asil.org/ilib/ilib0309.htm>.
Der relevante Teil des § 10 S/RES/1244 (1999) lautet: „Authorizes the Secretary-General, with the
assistance of relevant international organizations, to establish an international civil presence in Kosovo (…)”.
925
176
implied power zu denken, sofern und soweit das eigenständige Knüpfen rechtlicher
Außenbeziehungen für die Erfüllung der Aufgaben unbedingt erforderlich ist, die §
11 der Resolution 1244 (1999) der Mission überträgt.
III.
Die Einbeziehung von UN-Unterorganisationen und dritter
internationaler Organisationen in eine UN-Zwangsverwaltung
Sachliche und politische Erwägungen können es ferner im Einzelfall sinnvoll
erscheinen lassen, andere Akteure in die Verwaltung eines Krisengebietes
einzubeziehen, ohne dabei die rechtliche Struktur der Mission zu ändern. In Frage
kommen
dabei
nicht
nur
Sonderorganisationen
der
UN,
sondern
auch
Regionalorganisationen und einzelne Mitgliedstaaten.926 So ist im Rahmen der sog.
4-Säulen-Konstruktion der UNMIK die OSZE für den Aufbau demokratischer
Institutionen und die Überwachung der Wahrung der Menschenrechte zuständig,
während die Europäische Union mit dem wirtschaftlichen Wiederaufbau des Kosovo
betraut wurde.927 In Afghanistan hat Deutschland die Rolle als Führungsnation
(„lead nation“) für den Aufbau einer afghanische Polizei übernommen, während
Italien in gleicher Weise für den Justizsektor verantwortlich ist.928
Sofern diese externen Akteure einen Aufgabenbereich zur eigenständigen
Wahrnehmung zugewiesen bekommen haben, handelt es sich dabei um eine
Subdelegation von Kompetenzen durch die vom Sicherheitsrat bevollmächtigte UNVerwaltungsmission. Eine solche ist nur dann zulässig, wenn der Sicherheitsrat sie
seinem
Nebenorgan
gestattet
hat.
Je
nach
Umfang
des
zugewiesenen
Aufgabenbereichs kann eine solche Subdelegation den Unterbevollmächtigten
erheblichen Einfluss bei der Gebietsverwaltung geben und so den Charakter der
Mission als quasi überparteiliche Maßnahme der Völkergemeinschaft insgesamt
926
Zur Frage der grundsätzlichen Zulässigkeit der Delegation von Kompetenzen an regionale
Organisationen und einzelne Mitgliedstaaten siehe unten 3.Kp. D.IV.2. u. 3.
927
Siehe § 5 und den Annex des Berichts S/1999/672, ferner oben 2.Kp. L.
928
Dies wurde vom Untergeneralsekretär für Peacekeeping, Jean-Marie Guéhenno, ausdrücklich als
mögliches Modell für zukünftige Operationen bewertet. Siehe seine Rede vor dem Sicherheitsrat am
30.9.2003, UN-Doc. S/PV.4835, 3 (6). Zur Tätigkeit Deutschlands im Bereich des Polizeiaufbaus
siehe ferner Vergau, VRÜ 37 (2004), 371-379.
177
beeinträchtigen.929 Daher ist bei der Annahme einer implied power zur Subdelegation
Zurückhaltung geboten.
Grundsätzlich ist dabei zwischen der Beauftragung anderer Nebenorgane, Unter- und
Sonderorganisationen der UN einerseits und der Bevollmächtigung externer Akteure
wie Mitgliedstaaten und andere internationale Organisationen andererseits zu
unterscheiden. Denn während Erstere institutionell zum alleinigen Handeln im
Interesse der Vereinten Nationen verpflichtet sind, unterliegen Letztere lediglich
einer Treuepflicht (Art. 2 Ziff. 5 SVN) beziehungsweise einer Pflicht zur Ausführung
der konkreter Beschlüsse des Sicherheitsrates (Art. 25 SVN).
Sicherheitsrat
regelmäßig
Entscheidungsfindungsprozesse
keinen
unmittelbaren
regionaler
930
Ferner wird der
Einfluss
Organisationen
oder
auf
die
einzelner
Mitgliedstaaten ausüben können, was ihm die Kontrolle der Mission erschwert.
Während daher eine implied power zur Aufgabenübertragung an Akteure innerhalb
des UN-Systems anzunehmen ist, wenn dies für eine effektive Erfüllung des Mandats
der Mission erforderlich erscheint, ist für eine Unterbevollmächtigung externe Dritter
eine explizite Ermächtigung durch den Sicherheitsrat erforderlich.931 Im Sinne einer
je-desto-Formel muss diese umso genauer sein, je bedeutender der übertragene
Aufgabenbereich und je größer die Unabhängigkeit ist, welche jene Dritte bei der
Ausübung der ihnen übertragenen Kompetenzen genießen.
Einen gewissen Maßstab hierfür bietet die Resolution 1244 (1999), die in ihrem § 10
die Ermächtigung des Generalsekretärs enthält, „mit Hilfe der zuständigen
internationalen Organisationen eine internationale zivile Präsenz im Kosovo
einzurichten“.932 Sie beschränkt den Kreis der beteiligungsfähigen Akteure auf
929
Internationale Legitimität und die grundsätzliche Neutralität des Personals werden in UN, Threats,
Challenges and Change (2004), § 262, als wesentliche Merkmale eines UN-Engagements im Bereich
Peacebuilding betont.
930
Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 19.
931
Anders Frowein, in: FS Bernhardt (1995), S. 64, der zumindest für den weitergehenden Fall einer
Anwendung militärischer Gewalt allein durch Mitgliedstaaten oder Regionalorganisationen unter
bestimmten Bedingungen einen stillschweigende Ermächtigung für möglich hält.
932
Entnommen der deutschen Übersetzung der Resolution in VN 1999, 116. Im englischen Original
lautet der Passus: „Authorizes the Secretary-General, with the assistance of relevant international
organizations, to establish an international civil presence in Kosovo (…)“.
178
internationale Organisationen, schließt mithin eine Subdelegation an Einzelstaaten
aus. Zuständig („relevant“) kann im Kontext der Verabschiedung der Resolution
1244 (1999) nur so verstanden werden, dass damit auf jene Organisationen Bezug
genommen wird, die bereits zuvor an der Konfliktlösung auf dem Balkan beteiligt
waren oder zumindest eine besondere Beziehung zu diesem Konflikt haben. Dass
diese Formulierung eingrenzende Bedeutung hat, wird auch daran deutlich, dass der
Sicherheitsrat sich an anderer Stelle an Mitgliedstaaten und internationale
Organisationen in ihrer Gesamtheit wendet.933 Die Wendung „mit Hilfe“ legt
gleichzeitig fest, dass den zuständigen Organisationen nur eine unterstützende Rolle
übertragen werden darf, die Organisationen mithin bei ihrer Tätigkeit der UNMIK
und ihrem Sondergesandten unterstellt sein müssen. Im Hinblick darauf begegnet es
weniger Bedenken, dass Resolution 1244 (1999) weder die zu bevollmächtigenden
Organisationen, noch die ihnen zu übertragenen Aufgaben näher benennt, da der
Sicherheitsrat so jederzeit auf ihre Tätigkeit Einfluss nehmen kann.
Aufgrund des allgemeinen Rechtsgrundsatzes, dass ein Rechtssubjekt nicht mehr
Rechte übertragen kann, als es selbst innehat (nemo dat quod non habet), finden im
Übrigen die Voraussetzungen und Bedingungen einer Kompetenzdelegation durch
den Sicherheitsrat selbst auf eine Subdelegation entsprechend Anwendung.934 Dies
bedeutet insbesondere, dass sich die UN-Verwaltungsmission nicht vollständig der
Kontrolle über den delegierten Aufgabenbereich begeben darf und dass der
Unterbevollmächtigte wie die Verwaltungsmission selbst auf die Ziele und Grenzen
des Sicherheitsratsmandats verpflichtet werden muss.
Inwiefern eine Verwaltungsmission zur Erfüllung ihrer Aufgaben ihrerseits
Nebenorgane einrichten darf, ist ebenfalls durch Auslegung des durch den
Sicherheitsrat erteilten Mandates zu ermitteln. Die Einrichtung von Unterorganen ist
jedenfalls dann zulässig, wenn eine entsprechende ausdrückliche Ermächtigung
§ 13 S/RES/1244 (1999): „Encourages all Member States and international organizations to contribute to economic and social reconstruction as well as to the safe return of refugees and displaced
persons (…)”. Siehe ferner auch § 17 der Resolution.
933
934
Zu diesen allgemeinen Anforderungen siehe bereits oben 3.Kp. D.I.4.
179
durch den Sicherheitsrat gegeben ist.935 Da solche Unterorgane selbst Teil des UNSystems sind, ist aber auch die Annahme einer entsprechenden implied power
zulässig, wenn eine entsprechende Notwendigkeit besteht.936 Da die Einrichtung
weitere Organe aber in der Regel zu zusätzlichen Kosten führt, ist auch hier
Zurückhaltung geboten.937 Im Übrigen gelten die genannten Grundsätze auch für
diese Form der Unterbevollmächtigung durch die Verwaltungsmission.
IV.
Alternative Formen der Wahrnehmung der Verwaltungsbefugnisse des
Sicherheitsrates
Dass der Sicherheitsrat bisher stets ein eigenständiges Nebenorgan ins Leben gerufen
hat, welches er mit der Wahrnehmung seiner Verwaltungshoheit beauftragt hat,
bedeutet nicht, dass er sich auch künftig stets dieser Form bedienen muss. Vielmehr
besitzt er auch hinsichtlich der Ausführung seiner Beschlüsse eine weites Ermessen.
Die bisherigen Missionen besitzen daher keine bindende Präzedenzwirkung, sondern
lassen lediglich eine Präferenz des Rates erkennen. Im Folgenden sollen daher
weitere Formen der Gebietsverwaltung unter der Ägide des Sicherheitsrates
untersucht werden. In Frage kommen eine Bevollmächtigung des Generalsekretärs
(1.), regionaler Organisationen (2.) und einzelner Mitgliedstaaten (3.). Dabei ist zu
berücksichtigen, dass nur im erstgenannten Fall die Verwaltungskompetenz
innerhalb der Vereinten Nationen verbleibt, während sie in den letztgenannten Fällen
an
externe
Völkerrechtssubjekte
delegiert
wird.
Ein
nicht
unerheblicher
Kontrollverlust seitens des Sicherheitsrates wird dabei kaum zu vermeiden sein.
Eine weitere Unterscheidung ist die zwischen einer Zwangsverwaltung auf der
Grundlage von Kapitel VII und einer konsensgestützten Gebietsverwaltungen (Art.
935
Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 144. Ein Beispiel einer solchen ausdrücklichen
Ermächtigung eines Nebenorgans zur Einrichtung von Unterorganen, allerdings durch die UNGeneralversammlung, findet sich in § 4 A/RES/377 (V) – Uniting for Peace der UNGeneralversammlung vom 3.11.1950: „Decides that the Commission shall have authority in its
discretion to appoint sub-commissions (...)“.
936
Paulus, Art. 29 (2002), Rn. 22. Reinhart, Die Nebenorganpraxis des Sicherheitsrates (2000), S. 68,
begründet sie mit einer auch „dem Nebenorgan selbst innewohnenden, natürlichen
Organisationskompetenz“.
937
Jaenicke, Art. 7 (2002), Rn. 25.
180
24 Abs. 1 SVN). Bei Letzterer ist hinsichtlich der Zulässigkeit einer solchen
Delegation allein maßgeblich, ob eine Bevollmächtigung anderer Akteure von der
Einwilligung des betroffenen Staates gedeckt ist. Wie bereits ausgeführt, ist das im
Falle einer Beauftragung des Generalsekretärs anzunehmen.938 Dagegen wird
zumindest eine vollständige Übertragung der Verwaltungshoheit auf externe
Völkerrechtssubjekte regelmäßig unzulässig sein. Wäre das die Intention des
betroffenen Staates, hätte dieser sein Anliegen direkt dem Dritten gegenüber
vorbringen können. Die folgenden Ausführungen betreffen daher – soweit es um die
Zulässigkeit einer Kompetenzdelegation geht – allein eine auf Kapitel VII der Charta
gestützte Zwangsverwaltung.
1.
Die Beauftragung des UN-Generalsekretärs mit der Verwaltung eines
Krisengebietes
Die wesentliche Rolle, die der Generalsekretär bei Planung, Aufbau und Tätigkeit
der bisherigen UN-Verwaltungen gespielt hat,939 lässt es naheliegend erscheinen, ihn
vollständig mit dieser Aufgabe zu betrauen, mithin ihm die Kompetenzen zur
Verwaltung eines Krisengebietes zu übertragen.940 So weist der Sicherheitsrat dem
Generalsekretär und nicht der zweiten United Nations Operation in Somalia
(UNOSOM II) in § 4 der Resolution 814 (1993)941 umfangreiche Aufgaben in
Somalia zu, die dieser durch seinen Sondergesandten wahrnehmen soll.942 Allerdings
beschränken sich diese auf die Koordination von Hilfsmaßnahmen und die
Unterstützung der Bevölkerung beim Wiederaufbau, enthalten somit nicht die
Befugnis zur Übernahme der Verwaltung über das Gebiet und insbesondere auch
938
Siehe oben 3.Kp. D.I.2.
939
Siehe dazu ausführlicher Shimura, in: Thakur/Schnabel (Hrsg.), UN Peacekeeping Operations
(2001), S. 46-56.
940
Ausführlich zur Delegation von Kompetenzen an den Generalsekretär im Rahmen von
Peacekeeping-Operationen Sarooshi, Australian YBIL 20 (1999), 279-297.
941
S/RES/814 (1993) vom 26.3.1993, deutsche Übersetzung in VN 41 (1993), 66-68.
942
Ein ähnlicher Aufgabenkatalog für das Gebiet des Iraks nach der Besetzung durch englische und
amerikanische Truppen findet sich in Art. 8 S/RES/1483 (2003) vom 22.5.2003. Allerdings wird hier
bereits direkt ein vom Generalsekretär zu benennender Sondergesandter und nicht der Generalsekretär
selbst beauftragt.
181
nicht die Befugnis zu Zwangsmaßnahmen.943 Dennoch erscheint es nicht
ausgeschlossen, dem Generalsekretär derartige Vollmachten zu erteilen.944
Art. 98 Satz 1 SVN erlaubt den anderen Hauptorganen der Vereinten Nationen – mit
Ausnahme des Internationalen Gerichtshofes –, den Generalsekretär945 mit weiteren
Aufgaben zu betrauen, und könnte so Rechtsgrundlage für eine Delegation von
Kompetenzen sein. Teilweise wird indes der Begriff „Aufgaben“ („functions“) so
ausgelegt, dass er nur administrative Tätigkeiten, nicht aber Kompetenzen erfasst.946
Im Hinblick auf die allgemein aktzeptierte und gefestigte Praxis des Sicherheitsrates,
dem Generalsekretär mehr als nur Verwaltungsaufgaben zu übertragen,947 erscheint
es jedoch wenig sinnvoll, zunächst Art. 98 Satz 1 SVN eng auszulegen, um sodann
die
entstandene
Lücke
mit
der
Annahme
einer
implied
power
zur
Kompetenzdelegation zu füllen.948 Dies gilt umso mehr, als die enge Auslegung nicht
zwingend ist. Art. 99 SVN zeigt, dass auch das ursprüngliche Konzept der Charta das
Amt des Generalsekretärs nicht als reines ausführendes Verwaltungsorgan
ausgestaltet hat, sondern ihm auch politisches Ermessen zuweist.949 Art. 98 Satz 1
SVN ist daher als hinreichende Rechtsgrundlage für die Delegation von
Kompetenzen an den Generalsekretär anzusehen, ohne dass es eines Rückgriffs auf
943
Auch § 14 S/RES/814 (1993), der die Übernahme der Verantwortung für ein sicheres Umfeld in
Somalia betrifft, beinhaltet keine Ermächtigung zur Verwaltung Somalias, wie Sarooshi, The UN and
the Development of Collective Security (1999), S. 63, zu recht bemerkt. Zudem soll die Verantwortung
nicht beim Generalsekretär, sondern beim Kommandeur der UNOSOM II - Truppen liegen.
944
Für die Zulässigkeit einer Ermächtigung des Generalsekretärs zu Peacekeeping-Operationen
allgemein Orakhelashvili, Virginia JIL 43 (2003), 485 (507). Konkret von einer Bevollmächtigung des
Generalsekretärs als Modell für zukünftige Territorialverwaltungen durch die Vereinten Nationen
scheint Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 62 f., auszugehen.
Der Begriff „Generalsekretär“ umfasst im Folgenden auch das ihm unterstellte Sekretariat der
Vereinten Nationen, obwohl beide Begriffe von der Charta nicht völlig kongruent verwendet werden.
Siehe dazu Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 136, und Fiedler, Art. 97 (2002), Rn. 3 f.
945
946
Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 52.
947
Beispielhaft wiederum S/RES/814 (1993) vom 26.3.1993.
948
So aber Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 52.
949
Szasz, Role of the UN Secretary General, NYU.J.I.L&P 24 (1991), 161 (187); Ben Dhia, Secrétaire Général et maintien de la paix, FS Boutros-Ghali I (1998), 227 (228 f.); Sarooshi, The UN and
the Development of Collective Security (1999), S. 54 m.w.N.
182
die implied powers-Lehre bedarf.950 Sofern daher die oben genannten allgemeinen
Grenzen und Voraussetzungen einer Delegation von Sicherheitsratskompetenzen
beachtet werden, wäre daher auch eine Delegation der Verwaltungsbefugnisse des
Sicherheitsrates an den Generalsekretär zulässig.951 Ihm obläge es dann auch –
vorbehaltlich präzisierender Äußerungen des Rates – die ihn mandatierende
Resolution auszulegen.952 Ob er andere unterbevollmächtigen oder Nebenorgane
einrichten darf, ist nach den gleichen Grundsätzen zu ermitteln, die für die
Subdelegation durch die bisherigen Verwaltungsmissionen (als Nebenorgane des
Sicherheitsrates) gelten.953
Dass der Rat den Weg einer unmittelbaren Bevollmächtigung des Generalsekretärs
bisher nicht gewählt hat, mag daran liegen, dass eine erhebliche eigenständige
exekutivische Tätigkeit des Sekretariats nicht dem Konzept der Charta entspricht.
Diese hat, wie Art. 97 Satz 2 SVN deutlich macht, den Generalsekretär primär als
administratives und unterstützendes Organ ausgestaltet.954 Andererseits würde er,
wenn er die Verwaltungshoheit über ein Krisengebiet übernähme, keine eigenen
Kompetenzen ausüben, sondern solche des Sicherheitsrates, und zudem unter dessen
Kontrolle stehen. Die ursprüngliche Konzeption der Charta stellt daher kein
rechtliches Hindernis dar. Aufgrund seiner Stellung als Organ der Vereinten
Nationen ist er ferner in gleicher Weise zur Wahrung der Ziele und Grundsätze der
Organisation verpflichtet wie der Sicherheitsrat selbst. Als von Art. 100 SVN zur
Unabhängigkeit verpflichtetes Organ würde eine unmittelbare Bevollmächtigung des
Generalsekretärs ferner die grundsätzliche Neutralität der UN-Verwaltung und somit
950
So Fassbender, UN Security Council Reform and the Right of Veto (1998), S. 231, Frowein/Krisch,
Introduction to Chapter VII (2002), Rn. 32. In diese Richtung scheint auch IGH, Certain ExpensesGutachten, ICJ-Rep. 1962, 151 (177) zu tendieren.
951
So für die Delegation von Sicherheitsratsbefugnissen allgemein Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 64; und Orakhelashvili, Virginia JIL 43 (2003), 485 (507).
952
Da ein diesbezügliches Eingreifen des Sicherheitsrates in der Praxis selten ist, kommt der
Auslegung des Generalsekretärs entscheidende Bedeutung zu. Auch er ist aber daran gehalten, ihn
ermächtigende Resolutionen restriktiv auszulegen. Ausführlich dazu Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 57 f.
953
Siehe dazu oben 3.Kp. D.III.
Es gilt insoweit das Madeleine Albright zugeschriebene Diktum „The stress is on secretary, not
general.“
954
183
auch ihre politische Legitimität wahren oder sogar verstärken.
2.
Die Ermächtigung regionaler Organisationen
Etwas anders liegen die Dinge bei der Ermächtigung regionaler Organisationen,
einzelner Staaten oder ad hoc-Koalitionen von Mitgliedstaaten. Sie würde die
grundsätzliche Neutralität der Krisengebietsverwaltung in Frage stellen und so ihre
Legitimität als Maßnahme der internationalen Gemeinschaft beeinträchtigen.955
Während in der UN alle geopolitischen Kräfte in irgendeiner Form repräsentiert sind,
sind regionale Organisationen politisch homogener und oft von regionalen Mächten
dominiert.956 Rechtlich ist zu bedenken, dass die Ermächtigung Dritter die
Möglichkeiten des Sicherheitsrates, auf das Tagesgeschäft Einfluss zu nehmen,
erheblich einschränkt.957 Andererseit verfügen Mitgliedstaaten und regionale
Organisationen oft über finanzielle und personelle Ressourcen, die denen der
Vereinten Nationen weit überlegen sind.958 Auch ihre politische Bedeutung oder ihr
Ansehen in der Region kann es im Einzelfall sinnvoll erscheinen lassen, regionale
internationale Organisationen oder einzelne Staaten mit der Verwaltung eines
Krisengebietes zu betrauen.959
955
Besonders deutlich wird dies bei der Verwaltung des Irak durch eine Staatenkoalition unter der
Leitung der Vereinigten Staaten. Siehe dazu oben 2.Kp. P. Andererseits machen White/Ülgen, NILR
44 (1997), 378 (383), zu Recht darauf aufmerksam, dass fehlende Legitimität allein eine
Autorisierung noch nicht unzulässig werden lässt.
956
Orakhelashvili, Virginia JIL 43 (2003), 485 (515).
957
Orakhelashvili, Virginia JIL 43 (2003), 485 (515).
958
Boutros-Ghali, Suppl. to an Agenda for Peace (1995), A/50/60 - S/1995/1, § 80; Wolfrum, ZaöRV
53 (1993), 576 (598). Morrison, in: Delbrück (Hrsg.), Allocation of Authority (1995), S. 55, verweist
in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung etablierter (militärischer) Strukturen auf seiten der
Mitgliedstaaten und regionaler Organisationen, die der UN fehlen. Bei der Planung von UNMIK und
UNTAET wurde zeitweise erwogen, Aufgabenbereiche (sectors) der Verwaltung geschlossen in die
Verantwortung einzelner Mitgliedstaaten zu geben. Dies wurde lediglich deshalb verworfen, weil die
Planungen bereits zu weit fortgeschritten waren (siehe UN, Brahimi-Report (2000), § 129). Ansätze
dieses Konzepts finden sich in Afghanistan, wo einzelne Staaten als lead nations die afghanische
Regierung in bestimmten Sektoren unterstützt (Deutschland beispielsweise beim Wiederaufbau der
Polizei).
959
§ 70 des Report of the Spec.Com. on Peacekeeping Operations 2004, A/58/19 vom 26.4.2004,
spricht insoweit von den „unique capacities“ regionaler Organisationen. Ausführlicher zu den
möglichen Vorteilen insbesondere regionaler Organisationen gegenüber der UN Orakhelashvili,
Virginia JIL 43 (2003), 485 (514 f.). Die stärkere Einbindung regionaler Organisationen bei der
Friedenswahrung befürwortet auch jüngst UN, Threats, Challenges and Change (2004), § 270.
184
Die zunehmende Bedeutung regionaler Organisationen bei der Konfliktlösung und
beim Wiederaufbau kriegszerstörter Gebiete zeigt sich insbesondere auf dem Gebiet
der früheren Volksrepublik Jugoslawien.960 Schon jetzt sind die Organisation für
Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und die Europäischen Union
(EU) in erheblichem Maße an der UN-Verwaltung im Kosovo beteiligt.961 Mit der
Übernahme der internationalen Polizeimission in Bosnien-Herzegowina von den
Vereinten Nationen962 und der Operation Concordia in Mazedonien963 hat die
Europäische
Union
erstmals
eigenständige
Aufgaben
in
Krisengebieten
übernommen, auch wenn beide Missionen ihre Rechtsgrundlage nicht in einer
Sicherheitsratsresolution, sondern in völkerrechtlichen Verträgen finden.964 Auf einer
Sicherheitsratsresolution basiert dagegen das Mandat der Friedenstruppe SFOR in
Bosnien, dass die EU seit dem 1. Januar 2005 von der NATO übernommen hat.965
960
Informationen zum Engagement der EU auf dem westlichen Balkan finden sich unter
<www.europa.eu.int/comm/external_relations/see/index.htm>. Zur Tätigkeit der OSZE ebendort siehe
<www.osce.org/regions/13006.html>. Weiteres Beispiel für die zunehmende Rolle regionaler
Organisationen bei der Friedenssicherung ist das Engagement der AU im Sudan. Siehe dazu § 2
S/RES/1556 (2004) vom 30.7.2004 und § 13 S/RES/1574 (2004) vom 19.11.2004 sowie aus den
Berichten des Generalsekretärs beispielsweise §§ 49-53 S/2005/10 vom 7.1.2005 und §§ 37-42
S/2005/68 vom 4.2.2005.
961
Korhonen, Leiden JIL 14 (2001), 495 (495) zählt das Engagement in Krisengebieten sogar zu den
wesentlichen Aufgaben von EU und OSCE.
962
Die EU Polizeimission (EUPM) trat an die Stelle der von den Vereinten Nationen gestellten
International Police Task Force. Siehe dazu § 19 S/RES/1491 (2003) vom 11.7.2003, ferner ausf.
Nowak, L’Union en action (2003). Weitere Informationen auf der Internetseite des Europäischen
Rates unter <http://ue.eu.int/cms3_fo/showPage.asp?lang=de&id=585&mode=g&name=> sowie der
Mission selbst unter <www.eupm.org>.
963
Siehe die Gemeinsame Aktion 2003/92/GASP vom 27.1.2003 über die militärische Operation der
Europäischen Union in der früheren jugoslawischen Republik Mazedonien, EU ABl. L 34 vom
11.2.2003, S. 26-29. Operation Concordia löste am 31.3.2002 die NATO Operation Amber Fox ab
und dauerte bis zum 15.12.2003. Weitere Informationen zu dieser militärischen Operation der EU
finden
sich
auf
der
Internetseite
des
Europäischen
Rates
unter
<http://ue.eu.int/cms3_fo/showPage.asp?lang=de&id=594&mode=g&name=> sowie auf der Seite der
Mission selbst unter <www.delmkd.cec.eu.int/en/Concordia/main.htm>.
964
Der EUPM liegt Annex 11 des Vertrages von Dayton zugrunde, der Sicherheitsrat hat die
Übernahme der Verantwortung durch die EU in § 20 S/RES/1423 (2002) vom 12.7.2002 lediglich
wohlwollend zur Kenntnis genommen. Operation Concordia liegt das sog. Ohrid-Abkommen vom
13.8.2001, bestätigt durch den Sicherheitsrat mit S/RES/1371 (2001) vom 29.9.2001, und ein
Briefwechsel mit der Regierung in Skopje zugrunde (siehe Präambel-§ 5 der Gemeinsamen Aktion
2003/92/GASP vom 27.1.2003, EU-ABl. L 34 vom 11.2.2003, S. 26).
965
Rechtliche Grundlage der EUFOR ist S/RES/1575 (2004) vom 22.11.2004. Weitere Hintergründe
und Dokumente zu der von der EU „Operation Althea“ getauften Mission auf der Internetseite des
Europäischen Rates unter <http://ue.eu.int/cms3_fo/showPage.asp?id=745&lang=EN> sowie der
EUFOR selbst unter <www.euforbih.org>.
185
Mit der Verwaltung der bosnischen Stadt Mostar in den Jahren 1994 bis 1995 hat die
EU zudem bereits Verantwortung für die Administration eines Krisengebietes
übernommen.966 Darüber hinaus wird teilweise wird gefordert, dass die EU in einer
dritten und letzten Phase des Engagements der internationalen Gemeinschaft im
Kosovo den Stab von der UNMIK übernehme solle.967 Sollten sich die bisherigen
EU-Missionen als Erfolg erweisen, scheint ein weitergehende Beauftragung der EU
durch
den
Sicherheitsrat
zumindest
nicht
ausgeschlossen.968
Auch
die
Generalversammlung hat die erhebliche Rolle betont, die regionale Abmachungen
und Einrichtungen beim Wiederaufbau kriegszerstörter Staaten und Gebiete spielen
können.969
Dass eine Delegation von Zwangsbefugnissen an regionale Organisationen
grundsätzlich zulässig ist, ergibt sich unmittelbar aus der Charta. Zumindest soweit
es sich bei ihnen um regionale Abmachungen und Einrichtungen im Sinne des
Kapitels VIII der Charta handelt, sieht Art. 53 Abs. 1 Satz 1 SVN ausdrücklich vor,
dass der Sicherheitsrat sie zur Ausführung von Zwangsmaßnahmen autorisieren
kann. Art. 52 Abs. 1 und Art. 53 Abs. 1 SVN sind bewusst weit gefasst und erfassen
966
Siehe dazu Pagani, AFDI 42 (1996), 234-254; Reichel, Transitional Administrations (2000); sowie
Korhonen, Leiden JIL 14 (2001), 495 (519-522). Allerdings basierte diese Verwaltung nicht auf einem
UN-Mandat, sonder auf einer Vereinbarung mit den Parteien.
967
So der Sondergesandte und damalige Leiter der UNMIK, Michael Steiner, in einer Rede im
November 2002 an der Humboldt-Universität zu Berlin, abrufbar unter <www.rewi.huberlin.de/jura/inst/int/vw_vortragsreihe.html>. Allerdings sollten die Institutionen des Kosovos dann
bereits selbständig und und eigenverantwortlich arbeiten, so dass es sich nicht mehr um die
Verwaltung eines Krisengebietes handeln würde.
968
Auch wenn die EU angesichts der Kosten der European Administration Mission for Mostar
(EUAM) feststellte, dass eine direkte Verwaltung von Gebieten durch die EU nicht zum Regelfall
werden sollte (EU-Doc. 95/021 vom 17.1.1995, ferner Korhonen, Leiden JIL 14 (2001), 495 (522)).
Ausführlich zum Peacekeeping durch die EU Herbst, in: Bodnar, Emerging EU Constitutional Law
(2003).
969
Siehe § 2 der Declaration on the Enhancement of Cooperation between the United Nations and
Regional Arrangements or Agencies in the Maintenance of Peace, Annex zu A/RES/49/57 vom
9.12.1994 (abgedr. in UNYB 1994, 125 f.). Allgemein für einen Ausbau der Zusammenarbeit mit
regionalen Organisationen auch § 9 Abs. 3 der sog. Milleniums-Erklärung (A/RES/55/2 vom
8.9.2000) und § 2 A/RES/ 58/315 vom 16.7.2004 i.V.m. §§ 67 ff. des Report of the Spec.Com. on
Peacekeeping Operations 2004, A/58/19 vom 26.4.2004. Ähnlich zuvor schon Boutros-Ghali, Agenda
for Peace (1992), §§ 64 f. und jüngst UN, Threats, Challenges and Change (2004), § 272. Auch in der
Literatur hat die Beteiligung von Regionalorganisationen an Friedensoperationen ausführliche
Beachtung gefunden. Siehe beispielsweise Körbs, Friedenssicherung und Regionalorganisationen
(1997); Kühne, Friedenssicherung (1998) und zur Rolle regionaler Organisationen bei der
Friedenssicherung allgemein Abass, Regional Organisations (2004).
186
deshalb auch regionale Zusammenschlüsse, die keine eigene Rechtsfähigkeit
besitzen.970 Voraussetzung ist nach Art. 52 Abs. 1 SVN lediglich, dass die Wahrung
von Frieden und Sicherheit in der Region zumindest auch zu ihren Aufgaben
gehört.971 Beispiel hierfür ist die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in
Europa (OSZE), die sich 1992 – noch in Gestalt ihrer Vorgängerin KSZE – selbst zu
einer regionalen Abmachung im Sinne des Kapitels VIII der Charta erklärt hat972 und
als solche von den Vereinten Nationen anerkannt wurde.973 Auch OAS, OAU, die
GUS und ECOWAS haben sich zu regionalen Organisationen erklärt.974 Auch die
Europäische Union (EU) wird man als regionale Abmachung im Sinne des Art. 53
Abs. 1 Satz 1 SVN einstufen können, seit sie im Jahre 1999 die Kompetenzen zur
Konfliktprävention und zum Krisenmanagement975 von der Westeuropäischen Union
(WEU) übernommen hat.976
Nicht unter Kapitel VIII fallen nach herrschender Ansicht Organisationen, die allein
der kollektiven Selbstverteidigung dienen.977 Solche finden ihre Handlungsgrundlage
vielmehr in Art. 51 SVN. Ihre Beauftragung durch den Sicherheitsrat kann nicht auf
Art. 53 Abs. 1 Satz 1 SVN gestützt werden, sondern richtet sich nach den
970
Wolfrum, ZaöRV 53 (1993), 576 (577); Gioia, in: Bothe (Hrsg.), OSCE in the Mainenance of
Peace (1997), S. 198 f. Für eine weite Auslegung der genannten Charta-Artikel auch Boutros-Ghali,
Agenda for Peace (1992), § 61.
971
Ausf. Hummer/Schweitzer, Art. 52 (2002), Rn. 32-45.
972
Siehe § 25 der sog. Helsinki-Deklaration 10.7.1992, abgedruckt in ILM 31 (1992), 1390 (1392).
Zur Rolle der OSZE bei Peacekeeping-Operationen und ihrer Durchführung innerhalb der OSZE
ausführlich Ronzitti, in: Bothe (Hrsg.), OSCE in the Maintenance of Peace (1997), S. 237-265.
973
Ausführlich zum Status der OSZE als regionale Einrichtung im Sinne des Kapitels VIII der Charta
Kühne, Friedenssicherung (1998), S. 115-153 (119 f.), und Hummer/Schweitzer, Art. 52 (2002),
Rn.78-88. Für ihre Einstufung als Einrichtung im o.g. Sinne auch Gioia, in: Bothe (Hrsg.), OSCE in
the Mainenance of Peace (1997) 198 f. Zum Verhältnis zwischen UN und OSCE im Bereich
Peacekeeping siehe Burci, in: Bothe (Hrsg.), OSCE in the Maintenance of Peace (1997), S. 289-313.
974
Siehe die Nachweise bei Abass, Regional Organisations (2004), S. 35. Zur Tätigkeit der GUS in
diesem Rahmen siehe auch Nasyrova, ZaöRV 64 (2004), 1077 (1099-1103).
975
Art. 17 Abs. 2 EUV i.d.F. des Vertrages von Nizza vom 26. Februar 2001. Zur Entwicklung der
EU in diesem Bereich siehe Herbst, in: Bodnar, Emerging EU Constitutional Law (2003), S. 416-429.
976
Siehe dazu Hummer/Schweitzer, Art. 52 (2002), Rn. 90. Dort finden sich auch Angaben zu
weiteren Regionalorganisationen (Rn. 91-96). Zur Rolle von EU und WEU vor 1999 siehe Kühne,
Friedenssicherung (1998), S. 154-175 (EU) bzw. S. 208-220 (WEU).
977
Körbs, Friedenssicherung und Regionalorganisationen (1997), S. 189 f.; Hummer/Schweitzer, Art.
52 (2002), Rn. 42; a. A. Gioia, in: Bothe (Hrsg.), OSCE in the Mainenance of Peace (1997), S. 201 f.
187
Grundsätzen über die Beauftragung von Einzelstaaten und ad hoc-Koalitionen.978
Letztlich
ist
eine
genaue
Unterscheidung
zwischen
Regional-
und
Verteidigungsorganisationen schwierig, da die Übergänge fließend sind.979 Ein
Beispiel dafür ist die NATO. Zunächst reines Verteidigungsbündnis im Sinne des
Art. 51 SVN, wird sie heute aufgrund ihrer zunehmenden Bereitschaft zu „out-ofarea“-Einsätzen unter UN-Mandat auch als Regionalorganisation nach Kapitel VIII
der Charta eingestuft.980
Strittig sind die geographischen Einsatzmöglichkeiten regionaler Organisationen.
Teilweise wird unter Verweis auf Art. 52 SVN vertreten, dass sie nur zu Maßnahmen
gegenüber ihren eigenen Mitgliedstaaten und nur zu solchen innerhalb des Gebietes
ihrer Mitgliedstaaten ermächtigt werden können.981 Dieser spreche lediglich von
Maßnahmen regionaler Art („regional action“) beziehungsweise örtlich begrenzten
Streitigkeiten („local disputes“), und auch nur bei diesen besäßen regionale
Organisationen besondere Legitimität und Sachnähe.982 Dieser enge Begriff der
Regionalorganisation gelte auch für Art. 53 Abs. 1 SVN. Dessen Wortlaut,
insbesondere die Formulierung „where appropriate“ deutet indes eher einen
erheblichen Beurteilungsspielraum seitens des Sicherheitsrates an.983 Auch sind die
besonderen Fähigkeiten und Ressourcen regionaler Abmachungen und Einrichtungen
nicht notwendig regional beschränkt. Unter Effektivitätsgesichtspunkten erscheint es
daher
sinnvoller,
Regionalorganisationen
dem
zu
Sicherheitsrat
ermöglichen,
stets
wenn
einen
er
dies
Rückgriff
für
auf
angebracht
(„appropriate“) hält.984 Die Rechtmäßigkeit eines solchen out-of-area-Einsatz einer
978
Siehe dazu unten 3.Kp. D.IV.3 im Anschluss.
979
In diese Richtung auch Körbs, Friedenssicherung und Regionalorganisationen (1997), S. 192, und
Kühne, Friedenssicherung (1998), S. 39.
980
Wolfrum, ZaöRV 53 (1993), 576 (578 f. u. 592 f.); Kühne, Friedenssicherung (1998), S. 39 f. u.
176-207; Ress/Bröhmer, Art. 53 (2002), Rn. 9. In diese Richtung auch UN, Threats, Challenges and
Change (2004), § 273; dagegen Higgins, in: FS Boutros-Ghali (1998), S. 512.
981
Wolfrum, ZaöRV 53 (1993), 576 (580); Gaja, in: Tomuschat (Hrsg.) UN at Age Fifty (1995), S. 44;
Hummer/Schweitzer, Art. 52 (2002), Rn. 33 f.
982
Wolfrum, ZaöRV 53 (1993), 576 (577).
983
Böhmer, Ermächtigung zu militärischer Gewaltanwendung (1997), S. 64.
984
So auch Morrison, in: Delbrück (Hrsg.), Allocation of Authority (1995), S. 52. Gegen die
188
Regionalorganisation ist daher im Einzelfall allein an der Satzung der betroffenen
Regionalorganisation zu messen.985
Indes würde auch ein Festhalten an der restriktiven Auslegung des Art. 53 Abs. 1
SVN ein Tätigwerden regionaler Organisationen bei der Verwaltung von
Krisengebieten nicht verhindern. Der Sicherheitsrat könnte sie zwar nicht
unmittelbar zur Gebietsverwaltung ermächtigen, sondern müsste den Umweg über
die Autorisierung der Mitgliedstaaten wählen. Denn Letztere können sich gemäß Art.
48 Abs. 2 SVN der Regionalorganisationen bedienen, deren Mitglied sie sind, um die
ihnen delegierten Befugnisse auszuüben. Art. 48 Abs. 2 SVN stellt den UNMitgliedstaaten ein solches multilaterales Tätigwerden grundsätzlich frei und stellt so
eine explizite Befugnis der Mitgliedstaaten zur Subdelegation der ihnen vom
Sicherheitsrat übertragenen Kompetenzen dar.
Indes kann der Sicherheitsrat eine regionale Organisation nicht zur Teilnahme an
militärischen Zwangsmaßnahmen in einem Krisengebiet verpflichten.986 Ohne ein
Abkommen nach Art. 43 SVN ist kein Mitgliedstaat verpflichtet, dem Sicherheitsrat
Personal für die Ausführung von Zwangsmaßnahmen zur Verfügung zu stellen.
Diese Voraussetzung kann nicht dadurch umgangen werden, dass der Sicherheitsrat
auf eine regionale Organisation zugreift.987 Denn letztlich verfügt diese auch nur
über Personal, dass ihr ihre Mitgliedstaaten gestellt haben.
Art. 53 Abs. 1 Satz 1 SVN enthält keine ausdrücklichen Hinweise darauf, in welcher
Beschränkung des Einsatzes regionaler Abmachungen und Einrichtungen auf Friedensbedrohungen
innerhalb ihres Territoriums Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 327.
985
Frowein, in: FS Bernhardt (1995), S. 61; Gioia, in: Bothe (Hrsg.), OSCE in the Mainenance of
Peace (1997) 209 f. Siehe Morrison, in: Delbrück (Hrsg.), Allocation of Authority (1995), S. 53, zur
Frage, inwiefern der Sicherheitsrat eine regionaler Organisation mit einer Aufgabe beauftragen kann,
welche die Grenzen ihrer Satzung übersteigt, und Wolfrum, ZaöRV 53 (1993), 576 (593 f.), zur Frage
der Zulässigkeit von out-of area-Einsätzen nach dem NATO-Vertrag.
986
Frowein, in: FS Bernhardt (1995), S. 59 f; Gioia, in: Bothe (Hrsg.), OSCE in the Mainenance of
Peace (1997) 211 f.
987
Ähnlich Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 327, der eine Verwendung regionaler
Organisationen als indirekten Rückgriff auf ihre Mitgliedstaaten ansieht und daher verlangt, dass diese
bereits aus anderen Gründen (Art. 25, 48 oder 49 SVN) zu einer Ausführung der Beschlüsse des
Sicherheitsrates verpflichtet sein müssen. Einer Verpflichtung zu militärischen Maßnahmen steht aber
dann Art. 43 SVN entgegen.
189
Form eine Autorisierung erfolgen muss und welchen Umfang die delegierten
Kompetenzen haben dürfen. Aus Art. 53 Abs. 1 Satz 2 SVN folgt indes, dass die
Autorisierung der Zwangsmaßnahme zeitlich vorgehen muss.988 Wegen der Umfangs
der Befugnisse, welche die Kompetenz zur Verwaltung eines Gebietes mit sich
bringt, und ihrer Bedeutung für die Entwicklung des betroffenen Gebietes ist ferner
eine explizite Autorisierung erforderlich, wie dies auch bei der Ermächtigung zur
militärischen Gewaltanwendung gängige Praxis des Sicherheitsrates ist. Dabei sollte
die ermächtigte Regionalorganisation konkret benannt werden. Im Übrigen gelten die
oben genannten allgemeinen Bedingungen und Grenzen einer Kompetenzdelegation
des Sicherheitsrates989 auch für die Autorisierung von regionalen Abmachungen und
Einrichtungen. Eine Besonderheit ist lediglich Art. 54 SVN, der explizit eine Pflicht
zur Berichterstattung an den Sicherheitsrat festlegt, so dass es insoweit keines
Rückgriffs auf das allgemeine Erfordernis eine effektiven Kontrolle durch den
Sicherheitsrat bedarf.
Im Ergebnis bestehen somit rechtlich keine Bedenken gegen die Ermächtigung
regionaler Organisationen zur Verwaltung von Krisengebieten. Letztlich handelt es
sich somit primär um eine Frage der politischen Opportunität.
3.
Autorisierung einzelner Staaten und Koalitionen von Staaten
Etwas schwieriger gestaltet sich die Beurteilung der Frage, inwieweit der
Sicherheitsrat seine Kompetenz zur zwangsweisen Verwaltung eines Krisengebietes
an einzelne Staaten oder ad hoc gebildete Koalitonen von Staaten delegieren darf. So
war lange Zeit umstritten, ob er überhaupt die Ausübung seiner Befugnisse aus
Kapitel VII der Satzung auf Mitgliedstaaten übertragen darf.990 Entzündet hatte sich
der Streit an der Praxis des Sicherheitsrates, Mitgliedstaaten zu militärischen
Zwangsmaßnahmen zu ermächtigen.991 Seine wesentlichen Argumente lassen sich
988
Frowein, in: FS Bernhardt (1995), S. 65.
989
Siehe oben 3.Kp. D.I.4.
990
Ausführlich dazu Böhmer, Ermächtigung zu militärischer Gewaltanwendung (1997); ferner
White/Ülgen, NILR 44 (1997), 378-413; und Blokker, EJIL 11 (2000), 541-568, jeweils mit weiteren
Nachweisen.
991
Eine Übersicht über die wichtigsten Ermächtigungsresolutionen bis 1999 findet sich bei Blokker,
190
jedoch auch auf die Delegation der Verwaltungskompetenz unter Kapitel VII der
Charta anwenden. Auch in ihrem Falle handelt es sich um eine Zwangsmaßnahme,
die zudem regelmäßig mit der Verdrängung der bisherigen Hoheitsgewalt aus dem
betroffenen Gebiet einhergeht.
Das ursprüngliche Konzept der Charta sah eine zentralisierte Ausführung
militärischer Zwangsmaßnahmen vor. Die von den Mitgliedstaaten gemäß Art. 43
SVN zu stellenden Truppen sollten unter der unmittelbaren Leitung des
Sicherheitsrates – unterstützt von einem Generalstabsausschuss – eingesetzt
werden.992 Dieses Modell scheiterte jedoch daran, dass es nie zum Abschluss der von
Art. 43 SVN vorgesehenen Truppenabkommen kam.993 In der Folge bildete sich ein
Modell dezentralisierter Ausübung militärischer Zwangsmaßnahmen heraus. Der
Sicherheitsrat autorisierte nurmehr einzelne Mitgliedstaaten oder Gruppen von
Mitgliedstaaten, militärische Gewalt zur Beseitigung einer Friedensbedrohung
anzuwenden.994
Dagegen bestehen keine grundsätzlichen Bedenken.995 So sehen Art. 42 Satz 2 und
Art.
48
SVN
eine
Beteiligung
von
Mitgliedstaaten
bei
militärischen
Zwangsmaßnahmen auch außerhalb des zentralisierten Modells der Art. 43 bis 47
SVN vor.996 Auch Art. 53 Abs. 1 Satz 1 SVN lässt erkennen, dass eine Autorisierung
EJIL 11 (2000), 541 (543 f.). Jüngere Beispiele sind § 3 S/RES/1264 (1999) – INTERFET in
Osttimor, § 7 S/RES/1244 (1999) – KFOR im Kosovo, § 3 S/RES/1386 (2001) vom 20.12.2001 –
ISAF in Afghanistan, § 1 S/RES/1484 vom 30.5.2003 – Operation Artemis in der Demokratischen
Republik Kongo; § 13 S/RES/1511 (2003) – multinational force im Irak.
992
Siehe Art. 42 Satz 1, 46 und 47 Abs. 1 SVN. Da der Generalstabsausschuss nie realisiert wurde,
schlägt UN, Threats, Challenges and Change (2004), § 300, vor, Art. 47 SVN und die Verweise auf
den Ausschuss in den Art. 26, 45 u. 46 SVN zu streichen.
993
Zu den Hintergründen White, Keeping the Peace (1997), S. 115 f.
994
Den Anfang bildete S/RES/678 (1990) vom 29.11.1990, in dem der Sicherheitsrat die
Mitgliedstaaten autorisierte, mit allen erforderlichen Mitteln („by all necessary means“) Kuwait von
der irakischen Besetzung zu befreien. Kritisch dazu insbesondere Quigley, Michigan JIL 17 (1996),
249 (250).
995
Wie Frowein/Krisch, Art. 42 (2002), Rn. 24, zu Recht anmerken, richtete sich die Kritik weniger
gegen die Zulässigkeit der Autorisierung als solcher, als vielmehr gegen die mangelnden Kontrolle der
Autorisierten durch den Sicherheitsrat.
996
Frowein/Krisch, Art. 42 (2002), Rn. 20.
191
Dritter der Charta nicht fremd ist.997 Da dem Sicherheitsrat ohne die Möglichkeit zur
Autorisierung Dritte ein militärisches Eingreifen unmöglich wäre und er so seiner
Verantwortung für Frieden und Sicherheit in der Welt nicht gerecht werden kann, ist
eine in Art. 42 SVN enthaltene, ungeschriebene Befugnis zur Delegation
anzunehmen.998 So hat der IGH festgestellt, dass das Fehlen von Sonderabkommen
im Sinne des Art. 43 SVN den Sicherheitsrat nicht schlechthin zur Untätigkeit
verdammt.999 Diese für das klassische Peacekeeping getroffene Entscheidung gilt
sinngemäß auch für Autorisierungen unter Art. 42 SVN.1000
Jedoch verlangt die Charta eine adäquate Beaufsichtigung der Bevollmächtigten
seitens des Sicherheitsrates. Zunächst lassen Art. 46 und 47 Abs. 3 SVN eine
entsprechende Präferenz erkennen.1001 Die Forderung nach einem Mindestmaß
effektiver Kontrolle ergibt sich ferner aus der Rolle des Sicherheitsrates als
Hauptverantwortlicher für die Sicherung des Weltfriedens (Art. 24 Abs. 1 SVN).1002
Art. 54 SVN legt ermächtigten Regionalorganisationen eine Berichtspflicht auf. Es
ist nicht ersichtlich, warum an die Ermächtigung von Einzelstaaten geringere
Anforderungen zu stellen wären. Auch die zeitliche Begrenzung einer Ermächtigung
trägt entscheidend zu ihrer Rechtmäßigkeit bei. In dem Maße, wie der Rat diesen
Anforderungen gerecht wurde1003 und von Blankettermächtigungen absah, ist auch
die Kritik verstummt, so dass die Autorisierung von Mitgliedstaaten zur Anwendung
997
Blokker, EJIL 11 (2000), 541 (551).
998
Blokker, EJIL 11 (2000), 541 (552 u. 554). Ähnlich auch Gill, NYIL 26 (1995), 33 (57).
999
IGH, Certain Expenses-Gutachten, ICJ-Rep. 1962, 151 (167).
1000
Frowein/Krisch, Art. 42 (2002), Rn. 20.
1001
White/Ülgen, NILR 44 (1997), 378 (387).
1002
Blokker, EJIL 11 (2000), 541 (551 f.).
1003
Ein gutes Beispiel hierfür bietet § 1 S/RES/1484 (2002), mit der im Mai 2003 ein Eingreifen einer
von Frankreich geleiteten EU-Truppe im Osten der DR Kongo autorisiert wurde: „Authorizes the
deployment until 1 September 2003 of an Interim Emergency Multinational Force in Bunia in close
coordination with MONUC (...) to contribute to the stabilization of the security conditions and the
improvement of the humanitarian situation in Bunia, to ensure protection of the airport, the internally
displaced persons in the camps in Bunia and, if the situation requires it, to contribute toe the safety of
the civilian population, United Nations personnel and the humanitarian presence in town”. Dagegen
fehlt bei der Autorisierung einer multinationalen Schutztruppe für das Gebiet des Iraks durch § 13
S/RES/1510 (2003) vom 16.10.2003 eine solche zeitliche Begrenzung.
192
militärischer Gewalt inzwischen als allgemein anerkannte und rechtlich unstrittige
Praxis einzustufen ist.1004
Ist es dem Sicherheitsrat somit gestattet, Mitgliedstaaten zu einem militärischen
Angriff auf einen Staat zu autorisieren, muss es ihm grundsätzlich auch erlaubt sein,
sie mit dem Wiederaufbau zu betrauen. Allerdings ist hier die Parallele zum
Treuhandsystem des Kapitels XII der Charta zu beachten. Zwar steht dieses aufgrund
der
unterschiedlichen
internationalen
Ziele
Sicherheit
der
einerseits
beiden
und
Kapitel
(Wiederherstellung
Heranführung
an
die
der
staatliche
Unabhängigkeit andererseits) einer Zwangsverwaltung auf der Grundlage von Art.
41 und Art. 42 SVN nicht entgegen.1005 Der Grad an Kontrolle, den die UN über den
Treuhandrat über ein Treuhandgebiet ausübt (Art. 87 und Art. 88 SVN), sollte jedoch
gleichsam als Mindeststandard auch auf die hier in Frage stehende mitgliedstaatliche
Gebietsverwaltung auf der Grundlage von Kapitel VII Anwendung finden. Im
Übrigen gelten die allgemeinen Bedingungen und Grenzen einer Delegation von
Kapitel VII-Befugnissen1006 auch für die Übertragung der Verwaltungsbefugnis auf
einzelne Mitgliedstaaten. Insbesondere ist wegen des Umfangs der Befugnisse,
welche die Kompetenz zur Verwaltung eines Gebietes mit sich bringt, und ihrer
Bedeutung für die Entwicklung des betroffenen Gebietes eine explizite Autorisierung
erforderlich,
wie
dies
auch
bei
der
Ermächtigung
zur
militärischen
Gewaltanwendung gängige Praxis des Sicherheitsrates ist.
Der Sicherheitsrat kann somit einzelne Staaten oder Gruppen von Staaten zur
Verwaltung eines Gebietes ermächtigen. Indes hat das Fehlen von Sonderabkommen
im Sinne des Art. 43 SVN zur Folge, dass er sie nicht dazu verpflichten kann. Dies
gilt zunächst für militärische Zwangsmaßnahmen im klassischen Sinne,1007 da erst
die Sonderabkommen nach Art. 43 SVN die genauen Modalitäten eines
Truppeneinsatzes durch den Sicherheitsrat klären sollen. Durch Art. 43 Abs. 1 SVN
1004
Frowein/Krisch, Art. 42 (2002), Rn. 24.
1005
Siehe dazu auch unten 4.Kp. A.IV.
1006
Siehe dazu oben 3.Kp. D.I.4.
1007
Schachter, AJIL 85 (1991), 452 (464 f.); Higgins, in: FS Boutros-Ghali (1998), S. 515;
Frowein/Krisch, Art. 43 (2002), Rn. 6 und 9.
193
sollte somit eine wesentliche Beteiligung der Mitgliedstaaten bei der Verwendung
der von ihnen gestellten Truppen sichergestellt werden.1008 Es kann nicht davon
ausgegangen werden, dass die Unterzeichner der Charta an den Einsatz ihrer
Polizeikräfte
und
Verwaltungsbeamten
in
einem
Krisengebiet
geringere
Bedingungen stellen wollten.1009 Mitgliedstaaten können daher nicht gezwungen
werden, an einer Krisengebietsverwaltung teilzunehmen oder sie gar ganz zu
übernehmen. Dem entspricht die ständige Praxis des Sicherheitsrates, die
Mitgliedstaaten in seinen Resolutionen lediglich dazu auffordern, sich an
Friedensmissionen zu beteiligen.1010
Werden die genannten Bedingungen gewahrt, begegnet die Ermächtigung von
Mitgliedstaaten zur Gebietsverwaltung keinen rechtlichen Bedenken. Als vorteilhaft
erweist sich zudem, dass die Kosten der delegierten Militäroperationen bisher stets
von den dazu autorisierten Staaten getragen wurden und nicht von den Vereinten
Nationen.1011 Umgekehrt führt dies jedoch auch dazu, dass nur eine geringe Anzahl
von Staaten in der Lage ist, aufgrund einer solchen Ermächtigung tätig zu
werden.1012 Bedenken ergeben sich ferner aus politischen Gesichtspunkten. So
würden die bevollmächtigten Staaten über einen wohl zu großen Einfluss auf das
verwaltete Gebiet verfügen und so die gesamte Praxis in die Nähe des
Kolonialsystems rücken.1013
1008
Das zeigt auch Art. 44 SVN, der den Sicherheitsrat selbst bei Abschluss von Abkommen nach Art.
43 SVN verpflichtet, den truppenstellenden Staat zu konsultieren, bevor er über einen Einsatz
entscheidet.
1009
Etwas anderes gilt für die gleichsam passive Beteiligung an einer UN-Verwaltung, dass heißt
insbesondere die Anerkennung ihrer Befugnisse und die Beachtung bzw. Ausführung ihrer
Beschlüsse, soweit dies keine Bereitstellung von Personal erfordert. Hierzu bleiben die
Mitgliedstaaten gemäß Art. 2 Abs. 5, Art. 25 und Art. 48 Abs. 2 SVN verpflichtet. Siehe dazu oben
3.Kp. D.2.2.
So beispielsweise § 7 S/RES/1244 (1999) – KFOR, § 6 S/RES/1264 (1999) – INTERFET, § 2
S/RES/1386 (2001) – ISAF – und § 14 S/RES/1511 (2003) – Multinational Force (Irak).
1010
1011
Gaja, in: Tomuschat (Hrsg.) UN at Age Fifty (1995), S. 42 f. Dies stellt beispielsweise § 8
S/RES/1386 (2001) zur ISAF in Afghanistan ausdrücklich fest.
1012
Gaja, in: Tomuschat (Hrsg.) UN at Age Fifty (1995), S. 43.
1013
Tatsächlich zieht Grant, AJIL 97 (2003), 823 (841 f.), Parallelen zwischen dem UNTreuhandsystem und der Verwaltung des Irak durch Großbritannien und die USA.
194
4.
Die Rechtsgrundlage der Verwaltung des Irak durch die CPA – Beispiel einer
Delegation der Verwaltungsbefugnis an einzelne Mitgliedstaaten?
Alle diese Vor- und Nachteile zeigten sich bei der gut einjährigen Verwaltung des
Iraks durch die Coalition Provisional Authority (CPA).1014 Unklar ist, ob ihre
Rechtsgrundlage allein im humanitären Völkerrecht zu suchen ist, oder ob sich die
CPA zumindest auch auf die nachfolgend ergangenen Sicherheitsratsresolutionen
stützen konnte. Letzterenfalls hätte es sich um ein Beispiel für die Delegation von
Verwaltungsbefugnissen durch den Sicherheitsrat gehandelt.
In seiner ersten Resolution nach der militärischen Eroberung des Iraks bezeichnete er
Großbritannien und die USA als Besatzungsmächte mit spezifischen Rechten und
Pflichten nach anwendbarem Völkerrecht.1015 Das spricht dafür, dass nach Ansicht
des Sicherheitsrates die Rechtsgrundlage für die CPA allein das Recht der
kriegerischen
Besetzung
ist
und
er
den
Besatzungsmächten
keine
darüberhinausgehende Befugnisse übertragen wollte. Dafür sprechen auch §§ 4 und 5
der Resolution 1483 (2003):
„4. Calls upon the Authority, consistent with the Charter of the United
Nations and other relevant international law, to promote the welfare of the
Iraqi people through effective administration of the territory, including in particular working towards the restoration of conditions of security and stability
and the creation of conditions in which the Iraqi people can freely detemine
their own political future;
5. Calls upon all concerned to comply fully with their obligations under
international law including in particular the Geneva Conventions of 1949 and
the Hague Regulations of 1907“.
Obschon der Sicherheitsrat explizit auf der Grundlage von Kapitel VII der Charta
tätig wurde,1016 hat er die Besatzungsmacht – vom Sicherheitsrat Authority genannt –
1014
Zum tatsächlichen Ablauf der CPA-Verwaltung des Irak siehe bereits oben 2.Kp. P.
S/RES/1483 (2003) vom 22.5.2003. Ihr Präambel-§ 13 lautet in seinem relevanten Teil: „(...) and
recognizing the specific authorities, responsibilities, and obligations under applicable international
law of these states [Großbritannien und die USA – der Verf.] as occupying powers under unified
command (‚the Authority’)“. Für die grundsätzliche Anwendbarkeit des Besatzungsrechs auf die CPA
auch Grant, ASIL insights (Juni 2003), 2, Scheffer, AJIL 97 (2003), 842 (842), Froissart, FS Fleck
(2004), S. 105-107; Zwanenburg, IRRC 86 (2004), 745 (748); und Roberts, ICLQ 54 (2005), 27 (32).
1015
1016
Siehe Präambel-§ 18 S/RES/1483 (2003).
195
lediglich dazu aufgerufen, nicht dazu ermächtigt oder verpflichtet, für das
Wohlergehen der irakischen Bevölkerung zu sorgen. Als völkerrechtliche
Handlungsmaßstäbe werden explizit die Genfer Konventionen von 1949 und die
Haager Landkriegsordnung genannt, und damit implizit auf das darin enthaltene
Recht der kriegerischen Besetzung verwiesen.1017
Grundlegendes Prinzip des Rechts der kriegerischen Besetzung ist indes die
weitestmögliche Aufrechterhaltung des status quo ante, mithin des (Rechts)Zustandes, wie er vor der Eroberung bestand.1018 Demzufolge darf eine
Besatzungsmacht nicht das Regierungssystem eines besetzten Landes ändern oder
sein Polizei- und Justizsystem umfassend reformieren.1019 Derartige grundlegenden
Änderungen im Staatswesen des Irak unterstützt der Sicherheitsrat jedoch in der
Resolution ausdrücklich.1020 So beauftragt er in § 8 (c) der Resolution 1483 (2003)
den Sondergesandten des Generalsekretärs (SRSG), in intensiver Zusammenarbeit
mit der Besatzungsmacht an der Bildung repräsentativer Regierungsstrukturen
mitzuwirken:
„working intensively with the Authority, the people of Iraq, and others concerned to advance efforts to restore and establish national and local institutions for representative governance, including by working together to facilitate
a process leading to an internationally recognized, representative government
of Iraq”.
Eine repräsentative Regierung entsprach im Irak gerade nicht dem status quo ante.
1017
Das Recht der kriegerischen Besetzung ist niedergelegt in der Haager Landkriegsordnung von
1907 (HLKO), in der vierten Genfer Konvention von 1949 (GK IV) und in ihrem ersten
Zusatzprotokoll von 1977 (GK-ZP I). Eine Übersicht der relevanten Normen findet sich bei
Heintschel von Heinegg, AVR 41 (2003), 272 (290). Zu den wesentlichen Pflichten der
Besatzungsmacht siehe Nguyen-Rouault, RGDIP 107 (2003), 835 (855-861), und Froissart, FS Fleck
(2004), S. 104-109. Zu verschiedenen Schwierigkeiten, die sich im Irak aus der Anwendung des
Besatzungsrechts ergaben, siehe Roberts, ICLQ 54 (2005), 27 (32-36). Zur Frage der Anwendbarkeit
des Rechts der kriegerischen Besetzung auf UN-Übergangsverwaltungen siehe ausf. unten 4.Kp. E.I.
1018
Froissart, FS Fleck (2004), S. 107. Dieser Grundsatz ist insbesondere in Art. 43 u. 55 HLKO
sowie in Art. 54 und 64 GK IV niedergelegt. Siehe dazu ausführlicher unten 4.Kp. E.I.1 m.w.N.
1019
Ausführlich zur Ungeeignetheit des Rechts der kriegerischen Besetzung zur demokratischen
Umgestaltung eines Staates siehe unten 4.Kp. E.I.1 sowie – speziell im Kontext der CPA-Verwaltung
des Iraks – Scheffer, AJIL 97 (2003), 842 (847-850), und Roberts, ICLQ 54 (2005), 27 (36).
1020
So auch Grant, ASIL insights (Juni 2003), 1. Zur Unvereinbarkeit der Maßnahmen der CPA mit
dem Recht der kriegerischen Besetzung ausf. Starita, RGDIP 108 (2004), 883 (886-889).
196
Dass der SRSG dabei intensiv mit der Besatzungsmacht zusammenarbeiten sollte,
impliziert, dass diese ebenfalls bei der Entwicklung repräsentativer Strukturen
mitwirken sollte. Noch deutlicher wurde dies in der Folgeresolution 1511 (2003), die
ausdrücklich begrüßte, dass der unter der Verantwortung der Besatzungsmacht
eingerichtete und arbeitende irakische Regierungsrat Vorbereitungen für den Entwurf
einer neuen Verfassung traf und diesen weiter aufforderte, mit der Besatzungsmacht
einen Zeitplan und ein Programm für den Verfassungsentwurf und die Abhaltung
demokratischer Wahlen vorzulegen.1021 Dem kann nicht entgegengehalten werden,
dass der Sicherheitsrat dabei stets die maßgebliche Rolle des irakischen Volkes oder
des irakischen Regierungsrates betonte. Denn solange die Besatzung besteht, ist die
Besatzungsmacht, nicht das betroffene Volk oder seine Vertreter, für das Gebiet
letztverantwortlich. Die irakische Regierung, an welche die souveränen Rechte des
Iraks baldmöglichst zurückgegeben werden sollten, sollte nicht auf derselben
Rechtsgrundlage wie das frühere irakische Regime gebildet werden und schon gar
nicht mit diesem identisch sein.1022
Die genannten Beispiele machen deutlich, dass der Sicherheitsrat tiefgreifende
Änderungen des irakischen Staatswesens während der Besatzungszeit erwartete und
diese guthieß. Es handelte sich dabei um Veränderungen, die nicht mit den engen
Ausnahmen des Besatzungsrechts vereinbar waren.1023 Da er die Besatzungsmacht
ausdrücklich und wiederholt zur Einhaltung humanitären Völkerrechts aufforderte,
kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Sicherheitsrat hier einen Bruch des
Präambel-§ 4 lautet: „Welcoming the decision of the Governing Council of Iraq to form a preparatory constitutional committee to prepare for a constitutional conference that will draft a constitution
to ambody the aspirations of the Iraqi people, and urging it to complete this programme quickly”.
§ 7 S/RES/1511 (2003) lautet: „Invites the Governing Council to provide the Security Council, for its
review, no later than 15 December 2003, in cooperation with the Authority (…) a timetable and a
programme for the drafting of an new constitution for Iraq and for the holding of democratic elections”.
1021
Siehe nur Präambel-§ 1 S/RES/1546 (2004) vom 8.6.2004: „Welcoming the beginning of a new
phase in Iraq’s transition to a democratically elected government, and looking forward to the end of
the occupation and the assumption of full responsibility and authority by a fully sovereign and independent Interim Government of Iraq by 30 June 2004”. Wie hier auch Benvenisti, AJIL 97 (2003),
860 (862).
1022
1023
Grant, ASIL insights (Juni 2003), 2; Starita, RGDIP 108 (2004), 883 (884); Roberts, ICLQ 54
(2005), 27 (36). Hmoud, Cornell ILJ 36 (2004), 435 (448), spricht etwas unklar von einem „special
occupation regime [that] goes beyond the rights and obligations of the occupying power as provided
for in the 1907 Hague Resolutions and the 1949 Geneva Conventions.“
197
Besatzungsrechts in Kauf nehmen wollte.1024 Vielmehr ist von einer in den
Resolutionen 1483, 1500 und 1511 (2003) enthaltenen impliziten Befugnis
auszugehen, in dieser Hinsicht – und nur in dieser Hinsicht – von den Vorgaben des
humanitären Völkerrechts abzuweichen.1025
Darin ist indes keine Delegation der Befugnis des Sicherheitsrates zu sehen, ein
Krisengebiet auf der Grundlage von Kapitel VII der Charta zu verwalten.1026 So sind
einerseits die formalen Voraussetzungen nicht gegeben, da es an einem expliziten
Delegationsakt fehlt. Auch hätte sich der Sicherheitsrat seiner Kontrollmöglichkeiten
weitgehend begeben, da er Großbritannien und den USA zunächst weder
Berichtspflichten auferlegt hatte, noch das Mandat – so es sich den um ein solches
gehandelt hätte – zeitlich begrenzte.1027 Aber auch inhaltlich machen die fraglichen
Resolutionen keinen dahingehenden Willen des Sicherheitsrates deutlich, dass die
Besatzungsmacht bestimmte Befugnisse an seiner Statt ausüben sollte. Dies hätte
auch nicht dem Willen vieler Sicherheitsratsmitglieder entsprochen, die entweder
grundsätzlich jede Befugnis der UN bei der Verwaltung des Iraks ablehnten, oder
aber jeden Eindruck einer nachträglichen Billigung des Angriffs auf den Irak und
seiner Folgen durch die UN vermeiden wollten. Rechtsgrundlage für die
Übergangsverwaltung des Iraks ist daher tatsächlich das humanitäre Völkerrecht,
dessen Geltung der Sicherheitsrat lediglich in engen Teilbereichen implizit
1024
Starita, RGDIP 108 (2004), 883 (896), folgend ist vielmehr davon auszugehen, dass der
Sicherheitsrat damit deutlich machen wollte, dass die Besatzungsmächte im Übrigen vollumfänglich
an das humanitäre Völkerrecht gebunden blieben.
1025
Grant, ASIL insights (Juni 2003), 3; ähnlich auch Starita, RGDIP 108 (2004), 883 (896);
ablehnend Scheffer, AJIL 97 (2003), 842 (850); dies offenlassend Zwanenburg, IRRC 86 (2004), 745
(767). Zu einem solchen Dispens ist der Sicherheitsrat auf der Grundlage von Kapitel VII der Charta
berechtigt. Siehe dazu ausf. unten 4.Kp. E.I.3.
1026
Anders de Wet, Chapter VII Powers (2004), S. 313 (Autorisierung zur Gebietsverwaltung durch
den Sicherheitsrat), und der pakistanische Vertreter Munir Akram, der als einziger Ländervertreter bei
Verabschiedung der S/RES/1483 (2003) von einer „delegation of certain powers by the Security
Council to the (...) Authority“ spricht. (Siehe S.C.O.R., 58th year, 4761st mtg. vom 22.5.2003, abgedr.
als S/PV.4761). Auch Benvenisti, AJIL 97 (2003), 860 (862), spricht von einem „mandate to the
occupants“, ohne aber auf die Frage einer Delegation von Kompetenzen einzugehen.
1027
Ähnlich Hmoud, Cornell ILJ 36 (2004), 435 (448). Eine Berichtspflicht wurde der
Besatzungsmacht erst mit § 6 S/RES/1511 (2003) auferlegt („requests“), in § 24 S/RES/1483 (2003)
wurde sie lediglich dazu ermutigt („encourages“). Eine kritische Analyse der geringen
Einwirkungsmöglichkeiten des Sicherheitsrates findet sich bei Starita, RGDIP 108 (2004), 883 (899902), der infolgedessen sogar die Rechtmäßigkeit der Resolutionen in Frage stellt (ebenda, 912-915).
198
eingeschränkt hat.
199
E.
Krisengebietsverwaltung durch die Generalversammlung
Eine Verwaltung von Krisengebieten durch die UN-Generalversammlung sieht sich
zwei grundsätzlichen Bedenken ausgesetzt: Einerseits ist die Generalversammlung
nach der Charta lediglich zu rechtlich unverbindlichen Empfehlungen berechtigt,1028
andererseits hat sie den grundsätzlichen Vorrang des Sicherheitsrates bei der
Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu wahren. Die Charta
lässt der Generalversammlung mithin wenig Raum zur Verwaltung von
Krisengebieten. Dies mag erklären, warum es seit über vierzig Jahren nicht mehr zu
einer Gebietsverwaltung durch die Generalversammlung gekommen ist. Da sie
jedoch tatsächlich einmal ein Territorium verwaltet hat,1029 erscheint eine
Untersuchung ihrer Verwaltungskompetenz gerechtfertigt. Dabei wird zunächst die
in Frage kommende Rechtsgrundlage untersucht (I.), bevor auf die organisatorische
Durchführung einer solchen Verwaltung (II.) und den bisher einzigen Beispielsfall
(III.) eingegangen wird.
I.
Rechtsgrundlage für eine Verwaltungskompetenz der
Generalversammlung
Bei der Untersuchung der Verwaltungskompetenz der Generalversammlung ist
zunächst im Innenverhältnis der Kompetenzbereich der Generalversammlung von
dem des Sicherheitrates abzugrenzen (1.). Aufgrund des Prinzips der begrenzten
Einzelermächtigung ist ferner erforderlich, dass die Charta ihr die Durchführung
einer solchen Maßnahme gestattet (2.).1030 Drittens bedarf der mit der Einrichtung
einer Gebietsverwaltung verbundene Eingriff in die territoriale Souveränität des
betroffenen Mitgliedstaates im Hinblick auf Art. 2 Ziff. 7 SVN einer Rechtfertigung
im Außenverhältnis (3.).1031
1028
Tomuschat, in: Wolfrum (Hrsg.), United Nations (1995), § 54 Rn. 17
1029
Es handelt sich um die Verwaltung West-Neuguineas durch die United Nations Temporary
Executive Authority (UNTEA) in den Jahren 1962 bis 1963. Siehe dazu bereits oben 2.Kp. F. sowie
unten 3.Kp. E.III.
1030
Dazu allgemein bereits oben 3.Kp. A.I.
1031
Dazu allgemein bereits oben 3.Kp. A.II.
200
1.
Zuständigkeit der Generalversammlung in Abgrenzung zum Sicherheitsrat
Art. 10 SVN gibt der Generalversammlung das Recht, alle Themen, Vorgänge und
Sachlagen zu diskutieren, die in die Zuständigkeit der Vereinten Nationen fallen.1032
Ebenso darf sie grundsätzlich auch in allen diesen Angelegenheiten Empfehlungen
an die Mitgliedstaaten richten. Begrenzt wird diese Allzuständigkeit ratione
personae nur durch die in Art. 24 Abs. 1 SVN niedergelegte vorrangige
Verantwortung des Sicherheitsrates für die Wahrung des Weltfriedens und der
internationalen Sicherheit. Art. 12 Abs. 1 SVN beschränkt sie für den Fall, dass „der
Sicherheitsrat in einer Streitigkeit oder Situation die ihm in dieser Charta
zugewiesenen Aufgaben wahrnimmt“,1033 auf ein reines Erörterungsrecht. In einer
solchen Angelegenheit darf sie die friedensgefährdende Situation zwar diskutieren,
aber keine Empfehlungen verabschieden.
Diese Beschränkung auf ein reines Erörterungsrecht schließt indes aus, dass die
Generalversammlung in einer solchen Situation berechtigt sein könnte, eine
Gebietsverwaltung
einzurichten.
Denn
diese
Beschränkung
soll
die
Generalversammlung gerade daran hindern, mit rechtlicher Außenwirkung tätig zu
werden. Vielmehr soll ein solches Tätigwerden in dieser Situation allein dem
Sicherheitsrat vorbehalten bleiben. Die Einrichtung einer UN-Gebietsverwaltung
entfaltet aber ohne Zweifel eine rechtliche Außenwirkung. Zumindest sofern sie
friedenswahrenden Charakter besitzt, ist sie daher unzulässig, wenn und soweit der
Sicherheitsrat „seine ihm (...) zugewiesenen Aufgaben wahrnimmt“ (Art. 12 Abs. 1
SVN). Eine Befugnis zur Einrichtung einer Verwaltungskompetenz kann die
Generalversammlung daher nur besitzen, wenn sie wenigstens zur Abgabe von
Empfehlungen befugt ist.
Ob die ein Empfehlungsrecht ausschließende Sperrwirkung des Art. 12 Abs. 1 SVN
bereits dann einsetzt, wenn die Situation, die der geplanten Verwaltung zugrunde
1032
Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 198; Tomuschat, in: Wolfrum (Hrsg.), United
Nations (1995), § 54 Rn. 12.
Art. 12 Abs. 1 SVN, im englischen Original: „While the Security Council is exercising in respect
of any dispute or situation the functions assigned to it in the present Charta, the General Assembly
shall not make any recommendation with regard to that dispute or situation unless the Security Council so requests.”
1033
201
liegt, auf der Tagesordnung des Sicherheitsrates steht,1034 oder ob dieser daraufhin
auch aktiv Resolutionen erlassen muss, ist seit der Frühzeit der Organisation
umstritten.1035 Mit Verabschiedung der Resolution 377 A (V) Uniting for Peace am
3. November 19501036 hat sich die Generalversammlung für die zweite Alternative
entschieden.1037 Diese Auslegung ist mit dem Wortlaut des Art. 12 Abs. 1 SVN
vereinbar, dem zufolge der Sicherheitsrat die ihm übertragenen Funktionen ausüben
muss, um das Empfehlungsrecht der Generalversammlung zu sperren,1038 und lässt
sich auch mit der effet-utile-Regel begründen.1039 Zumindest wenn der Sicherheitsrat
erkennbar jegliches Bemühen um eine Einigung aufgegeben hat, wird man der
Generalversammlung daher zugestehen können, im Sinne des § 1 der Resolution 377
A (V) tätig zu werden.1040
Ohnehin hat sich die Generalversammlung in der Praxis zunehmend über die Sperre
des
Art.
12
Abs.
1
SVN
hinweggesetzt
und
trotz
Behandlung
einer
Friedensbedrohung durch den Sicherheitsrat Empfehlungen erlassen.1041 Da diese
1034
Darauf deutet Art. 12 Abs. 2 SVN hin, der den Generalsekretär damit betraut, der
Generalversammlung mitzuteilen, welche Situationen und Streitigkeiten der Sicherheitsrat behandelt
(„being dealt with“).
1035
Ausführlich dazu White, Keeping the Peace (1997), S. 150-155 u. 161-178.
1036
Abgedr. in UNYB 1950, 193-195.
§ 1 der Resolution 377 A (V) lautet: „Resolves that if the Security Council, because of lack of
unanimity of the permanent members, fails to exercise its primary responsibility for the maintenance
of international peace and security in any case where there appears to be a threat to the peace,
breach of the peace, or act of aggression, the General Assembly shall consider the matter immediately
with a view to making appropriate recommendations to Members for collective measures (…) to maintain or restore international peace and security.” Ausführlich zur dieser Resolution White, Keeping
the Peace (1997), S. 173-178.
1037
Der relevante Teil des Art. 12 Abs. 1 SVN lautet „While the Security Council is exercising (...) the
functions assigned to it…“
1038
1039
Die effet utile-Regel besagt, dass die konstituierenden Normen einer Organisation so auszulegen
sind, dass der von den Vertragsparteien angestrebte Zweck – hier die Wahrung des Weltfriedens –
bestmöglich erreicht wird (Seidl-Hohenveldern/Loibl, Internationale Organisationen (2000), Rn.
1602).
1040
Schaefer, Funktionsfähigkeit (1981), S. 52 f.; Suy, General Assembly (1997), S. 67; Hailbronner/Klein, Art. 12 (2002), Rn. 15. An diesen Voraussetzungen formal festhaltend, wenn auch im
Ergebnis deutlich darüber hinausgehend IGH, Legal consequences of the wall (Gutachten 2004), §§
30 f.; mit ablehnender Besprechung Khan, FW 79 (2004), 345 (354 f.).
1041
So aus jüngerer Zeit beispielsweise A/RES/54/183 vom 29.2.2000 zum Kosovo oder
A/RES/57/135 vom 25.2.2003 zur West-Sahara-Frage. Weitere Beispiele bei Hailbronner/Klein, Art.
202
vielfach mit Zustimmung der Sicherheitsratsmitglieder oder sogar einstimmig
ergingen,1042 kann insoweit von einer gefestigten und von der Rechtsüberzeugung
ihrer Mitglieder getragenen Praxis der Generalversammlung ausgegangen werden,
die zu einer Erosion des Art. 12 Abs. 1 SVN geführt hat. 1043 Diese Praxis hat auch
der IGH jüngst als mit der Charta vereinbar eingestuft. 1044 Dabei ist jedoch zu
bedenken, dass sich die Generalversammlung bisher nocht nicht in einen offenen
Widerspruch zu einem Beschluss des Sicherheitsrates gesetzt hat, ihre parallel
verabschiedeten Resolutionen vielmehr flankierenden Charakter haben. Soweit sich
die Generalversammlung aber in diesem Rahmen bewegt, ist Art. 12 Abs. 1 SVN als
Grenze ihrer Befugnisse praktisch bedeutungslos geworden.1045
Hinsichtlich der Zuständigkeit der Generalversammlung bleibt somit festzuhalten,
dass eine Befugnis zur Einrichtung einer Gebietsverwaltung jedenfalls dann
ausgeschlossen ist, wenn die Charta ihr lediglich erlaubt, ein Thema zu erörtern. Ein
Recht, zu konkreten Streitigkeiten und Krisensituationen Empfehlungen abzugeben,
besteht indes nur, sofern der Sicherheitsrat noch nicht mit der Angelegenheit befasst
ist, seine Bemühungen am Veto eines seiner Mitglieder gescheitert sind oder er die
Generalversammlung zu einer Empfehlung auffordert (Art. 12 Abs. 1 SVN a.E.).
Befasst sich der Sicherheitsrat aktiv mit einer friedensgefährdenden Situation, ist die
Generalversammlung darüber hinaus gewohnheitsrechtlich zur Abgabe flankierender
Empfehlungen berechtigt. Diese dürfen die Bemühungen des Sicherheitsrates jedoch
nicht behindern oder konterkarieren.1046
12 (2002), Rn. 8-11. Ausführlich zur diesbezüglichen Praxis der Generalversammlung auch White,
Keeping the Peace (1997), S. 161-169.
1042
Beispielhaft seien hier nur die folgenden Resolutionen der Generalversammlung zu Afghanistan
genannt, die alle im Konsenverfahren verabschiedet wurden und in ihrem Teil A explizit Fragen der
Friedenssicherung behandeln: A/RES/56/220 A vom 21.12.2001, A/RES/57/113 A-B vom 6.12.2002,
A/RES/58/27 A-B vom 5.12.2003 und A/RES/59/161 A-B vom 20.12.2004.
1043
White, Keeping the Peace (1997), S. 160.
1044
IGH, Legal consequences of the wall (Gutachten 2004), §§ 27 f.
1045
Tomuschat, in: Wolfrum (Hrsg.), United Nations (1995), § 54 Rn. 19.
1046
I.E. wohl weitergehend IGH, Legal consequences of the wall (Gutachten 2004), § 28, der die
Gutachtenanfrage der Generalversammlung hinsichtlich der Völkerrechtskonformität der von Israel in
den besetzten palästinensischen Gebieten gebauten Sperranlage im Hinblick auf Art. 12 SVN für
zulässig erachtete, obwohl durchaus umstritten war, inwieweit dieses mit den aktiven Bemühungen
203
Ein Empfehlungsrecht besteht nach Art. 10 SVN weiterhin, sofern die Angelegenheit
sonstige Aufgabenbereiche der Vereinten Nationen betrifft, insbesondere die
Wahrung der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts der Völker im Sinne
des Art. 1 Abs. 2 und 3 SVN.1047 Sofern eine konkrete, geographisch verortete
Situation, bei der es um das Selbstbestimmungsrecht oder um die Einhaltung der
Menschenrechte geht, zugleich eine Friedensbedrohung darstellt, greift wiederum der
Vorrang des Sicherheitsrates. Wann eine solche Situation eine Friedensbedrohung
darstellt, liegt wiederum allein im Ermessen des Sicherheitsrates.1048 Zu prüfen bleibt
indes, ob dass in den übrigen Fällen bestehende Empfehlungsrecht der
Generalversammlung Rechtsgrundlage für die Einrichtung einer UN-Verwaltung
über ein Krisengebiet sein kann.
2.
Befugnis zur Gebietsverwaltung
Rechtsgrundlage
für
die
Einrichtung
einer
Gebietsverwaltung
durch
die
Generalversammlung kann entweder ihr in den Art. 10, Art. 11 Abs. 2 Satz 1 und
Art. 14 SVN niedergelegtes Recht sein, Empfehlungen an die Mitgliedstaaten zu
richten, oder aber eine ungeschriebene implied power. Darüber hinaus sind
Gebietsverwaltungen, die primär der Wahrung des Weltfriedens dienen, von solchen
zu unterscheiden, die in erster Linie andere Zwecke verfolgen. Nur im Falle des
ersteren greift Art. 11 Abs. 2 Satz 2 SVN, der die Generalversammlung verpflichtet,
die Angelegenheit an den Sicherheitsrat zu verweisen, falls Maßnahmen („actions“)
erforderlich erscheinen.
Da die Einrichtung einer UN-Übergangsverwaltung indes außer zu Zwecken der
Friedenssicherung wenig wahrscheinlich erscheint, soll zunächst mit dieser
Alternative begonnen werden. Sie stellt sich wie im Falle des Sicherheitsrates als
eine erweiterte Peacekeeping-Operation dar.1049 Teilweise wird vertreten, die
des Sicherheitsrates vereinbar war, eine politische Lösung des Konflikts auf der Grundlage der sog.
Roadmap (siehe S/RES/1515 (2003) vom 19.11.2003) vereinbar war. Zum Ganzen auch Khan, FW 79
(2004), 345 (354 f.).
1047
White, Keeping the Peace (1997), S. 150.
1048
Siehe dazu oben 3.Kp. C.II.1.
1049
Bowett, UN Forces (1964), S. 256, über die UNTEA-Mission in West-Neuguinea.
204
Einrichtung einer Friedensmission durch die Generalversammlung sei entweder als
Empfehlung einer geeigneten Maßnahme zur friedlichen Streitbeilegung im Sinne
des Art. 14 SVN1050 oder aber allgemein als Empfehlung im Sinne des Art. 11 Abs. 2
SVN einzustufen.1051 Die Befugnis zur Aufstellung der Verwaltungsmission als
organisatorische Einheit ergibt sich dann aus der Befugnis, Nebenorgane einzusetzen
(Art. 22 SVN).
Eine Empfehlung („recommendation“) ist ihrem Wortsinn nach aber ein Vorschlag,
ein zunächst theoretischer Lösungsansatz, der von seinem Adressaten umzusetzen ist.
Bei der Einrichtung einer Peacekeeping-Mission wird die Generalversammlung
dagegen selbst tätig, setzt ihre Empfehlung quasi selbst um. Dies gilt in besonderem
Maße für Verwaltungsmissionen, die für eine Übergangszeit Hoheitsgewalt über ein
Gebiet ausüben. Eine solche lässt sich schwerlich als bloße Empfehlung begreifen.
Es spricht daher einiges dafür, wenn überhaupt eine ungeschriebene Befugnis der
Generalversammlung zur Gebietsverwaltung nach den Grundsätzen der implied
powers-Lehre anzunehmen.
Dies setzt voraus, dass eine derartige Befugnis zur effektiven Ausführung der
Aufgaben
der
Vereinten
Nationen
erforderlich
ist
und
sie
nicht
der
Kompetenzordnung der Charta widerspricht.1052 Zumindest in Zeiten einer
dauerhaften Blockade des Sicherheitsrates ist eine entsprechende Notwendigkeit zu
bejahen, da ein Tätigwerden der Vereinten Nationen sonst nur sehr eingeschränkt
möglich wäre.1053 Die Befugnis der Generalversammlung, Empfehlungen an die
Streitparteien zu richten (Art. 11 Abs. 2 Satz 1, Art. 14 SVN), kann nicht als
ausreichend oder gar gleichwertig angesehen werden. Die Entsendung neutralen UN-
Higgins, UN Peacekeeping (II) – Asia (1970), S. 120, im Hinblick auf die UNVerwaltungsmission in West-Neuguinea UNTEA.
1050
1051
IGH, Certain Expenses-Gutachten, ICJ-Rep. 1962, 151 (164); White, Keeping the Peace (1997),
S. 225 f.; Orakhelashvili, Virginia JIL 43 (2003), 485 (506).
1052
IGH, Reparations for Injuries, ICJ-Rep. 1949, 174 (182); ferner Campbell, ICLQ 32 (1983), 523
(529 u. 32 f.); Blokker, EJIL 11 (2000), 541 (548), ferner oben 3.Kp. B.II.
1053
Dies ist mit der Auffassung von Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 23, vereinbar, der
eine Zuständigkeit der Generalversammlung zumindest für die seit dem Ende des Kalten Krieges
andauernde Zeit politischer Handlungsfähigkeit des Sicherheitsrates ausschließt.
205
Personals zur Wahrnehmung der Verwaltungshoheit über ein Krisengebiet stellt ein
wesentlich weitreichenderes und unter Umständen effektiveres Mittel der
Streitschlichtung dar. Auch wird die Bereitschaft anderer Staaten, sich an einer
solchen Mission zu beteiligen, regelmäßig deutlich größer sein, wenn diese von den
Vereinten Nationen geleitet wird.1054 Ist der Sicherheitsrat aber handlungsbereit, fehlt
es
bereits
an
der
Erforderlichkeit
einer
solchen
implied
power
der
Generalversammlung. Nicht nur aus diesem Grund ist Art. 12 Abs. 1 SVN zu
beachten. Seine entsprechende Anwendung auf die ungeschriebene Befugnis der
Generalversammlung ist ferner Voraussetzung dafür, dass die Kompetenzordnung
der Charta, genauer das Primat des Sicherheitsrates, gewahrt bleibt.
Aus dem selben Grund ist auch Art. 11 Abs. 2 Satz 2 SVN zu beachten. Die
Annahme der hier in Frage stehenden implied power ist daher nur zulässig, wenn die
Einrichtung einer Gebietsverwaltung nicht als Maßnahme im Sinne des genannten
Artikels einzustufen wäre. In seinem Certain expenses-Gutachten vom 20. Juli 1962
legte der IGH den Begriff Maßnahmen („actions“) in Art. 11 Abs. 2 Satz 2 SVN
dahingehend eng aus, dass er nur Zwangsmaßnahmen („coercive or enforcement
action“) erfasse.1055 Nur diese fielen in den exklusiven Kompetenzbereich des
Sicherheitsrates. Dagegen verfüge auch die Generalversammlung über das Recht,
konkrete Empfehlungen zu konkreten Situationen abzugeben. Anders sei Art. 12
Abs. 1 SVN a.E. nicht zu erklären, welcher derartige Empfehlungen der
Generalversammlung erlaube, wenn der Sicherheitsrat sie anfordere.1056 Wendet man
diese Rechtsprechung auf die hier diskutierte ungeschriebene Befugnis zur
Gebietsverwaltung an, so wird sie durch Art. 11 Abs. 2 Satz 2 SVN nur insoweit
ausgeschlossen, als sie auch eine UN-Verwaltung gegen den Willen des betroffenen
Staates, mithin als Zwangsmaßnahme erlaubt. Der Einrichtung einer UNVerwaltung, die sich auf die Zustimmung der Betroffenen stützen kann, steht Art. 11
Abs. 2 Satz 2 SVN aber nicht entgegen. Die Kompetenzverteilung zwischen
1054
Besonders deutlich wurde dies im Umfeld der Diskussion um die Resolution 1511 (2003), die aus
der Sicht vieler Mitgliedsstaaten der UN eine zu geringe Rolle zugedachte, um sie (die Staaten) zu
einer personellen Beteiligung an der Besatzung und dem Wiederaufbau des Irak zu bewegen.
1055
IGH, Certain Expenses-Gutachten, ICJ-Rep. 1962, 151 (164-5).
1056
IGH, Certain Expenses-Gutachten, ICJ-Rep. 1962, 151 (165).
206
Sicherheitsrat und Generalversammlung bleibt so gewahrt. Als Zwischenergebnis
kann daher festgestellt werden, dass die Generalversammlung zum Zwecke der
Friedenssicherung über eine ungeschriebene, implizite Befugnis zur Verwaltung
eines Gebietes besitzt, sofern und soweit diese von der Einwilligung des betroffenen
Völkerrechtssubjekts gedeckt ist.
Fraglich bleibt, auf welche Rechtsgrundlage sich die Generalversammlung stützen
kann, wenn sie eine Gebietsverwaltung einrichten möchte, die nicht primär der
Friedenserhaltung dient. In diesen Fällen besteht kein Kompetenzkonflikt mit dem
Sicherheitsrat. Auch hier ist eine implied power anzunehmen, sofern die Einrichtung
einer UN-Verwaltung tatsächlich ein im Einzelfall geeignetes und erforderliches
Mittel
darstellt.
Als
Übergangsmaßnahme
bis
zur
Erreichung
staatlicher
Unabhängigkeit als Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts (Art. 1 Abs. 2
SVN) mag dies der Fall sein. Andererseits ist zu beachten, dass die UN in Gestalt des
Treuhandsystems des Kapitels XII der Charta bereits über ein System zur
Gebietsverwaltung verfügt, dessen Zweck unter anderem die Vorbereitung eines
Territoriums auf seine eigene Staatlichkeit ist1057 und das auch eine Verwaltung
durch die Organisation selbst erlaubt.1058 Sofern im Einzelfall eine Unterstellung
unter das Treuhandsystem möglich ist,1059 fehlt es damit an der für die Annahme
einer ungeschriebenen Kompetenz gebotenen Erforderlichkeit. Im Übrigen ist eine
Befugnis der Generalversammlung zur Gebietsverwaltung denkbar, auch wenn es
höchst fraglich erscheint, ob ihre tatsächlichen Voraussetzungen jemals vorliegen
werden.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Generalversammlung der Vereinten
Nationen eine ungeschriebene Befugnis zur Einrichtung einer Gebietsverwaltung
besitzt, wenn dies zur Erreichung eines der Ziele der Charta erforderlich ist. Dabei ist
der Vorrang des Sicherheitsrates gemäß Art. 12 Abs. 1 SVN zu wahren.
1057
Siehe Art. 76 lit. b) SVN.
1058
Siehe Art. 81 Satz 2 SVN.
1059
Siehe dazu ausführlich unten 3.Kp. F.
207
3.
Die Bedeutung staatlicher Zustimmung für die Verwaltungskompetenz der
Generalversammlung
Wie bereits ausgeführt hindert Art. 11 Abs. 2 Satz 2 SVN die Annahme einer implied
power der Generalversammlung zu Zwangsmaßnahmen auf dem Gebiet der
Friedenssicherung. Diese obliegen allein dem Sicherheitsrat.1060 Aus diesem Grund
benötigt die Generalversammlung die Zustimmung des betroffenen Staates, um eine
Gebietsverwaltung einzurichten, die maßgeblich der Friedenswahrung dient.
Doch auch für die Einrichtung von Gebietsverwaltungen, die primär anderen
Zwecken dienen, benötigt die Generalsversammlung aus drei Gesichtspunkten die
Einwilligung des Territorialstaates. Sie ergeben sich aus dem Charakter von
Zwangsbefugnissen
als
Eingriffsnorm
und
aus
einer
Gesamtschau
der
Chartabestimmungen, welche die Rolle der Generalversammlung betreffen. Die
Einrichtung einer UN-Verwaltung greift in erheblichem Maße in die inneren
Angelegenheiten eines Staates ein.1061 Sie ist den Vereinten Nationen daher durch
Art. 2 Ziff. 7 SVN grundsätzlich verwehrt. Da die Ausnahmeregelung für Kapitel
VII-Maßnahmen vorliegend nicht einschlägig ist, muss der betroffene Staat zunächst
auf sein
Schutzrecht
aus
Art.
2
Ziff.
7 SVN verzichten,
bevor die
Generalversammlung eine Gebietsverwaltung einrichten kann. Weiter kann nicht
davon ausgegangen werden, dass die Mitgliedstaaten der Generalversammlung
weitreichende, aber ungeschriebene Befugnisse zu übertragen, die ihre staatliche
Souveränität in erheblichem Maße einschränken. Es sind dies dieselben Erwägungen,
die eine Zustimmungsbedürftigkeit jener Maßnahmen begründen, die der
Sicherheitsrat aufgrund seiner ungeschriebenen Peacekeeping-Befugnis ergreift.1062
Vorliegend ergibt sich die Zustimmungsbedürftigkeit aber auch daraus, dass die
1060
IGH, Certain Expenses-Gutachten, ICJ-Rep. 1962, 151 (165). Zwar kann die
Generalversammlung Zwangsmaßnahmen empfehlen. Anders als der Sicherheitsrat kann sie diese
aber nicht autorisieren, weil ihr selbst eine Befugnis zu Zwangsmaßnahmen fehlt. Da es sich bei einer
Autorisierung rechtlich um eine Delegation von Kompetenzen handelt, verstieße die entsprechende
Autorisierung der Generalversammlung gegen den Grundsatz nemo dat quod non habet. Eine bloße
Empfehlung an die Mitgliedstaaten, Zwangsmaßnahmen zu ergreifen, entfaltet aber keine
rechtfertigende Wirkung. Dies übersieht White, Keeping the Peace (1997), S. 174 f.
1061
Siehe oben 3.Kp. A.II.
1062
Siehe dazu bereits oben 3.Kp. B.I.
208
Generalversammlung nach der Charta nicht als exekutives Organ konzipiert worden
ist.1063 So ist sie zumeist nur befugt, rechtlich unverbindliche Empfehlungen
abzugeben.1064 Sofern ihr rechtserhebliche Entscheidungen zugestanden werden,
betreffen diese organisationsinterne Angelegenheiten1065 wie die Genehmigung des
Haushalts (Art. 17 Abs.1 SVN) oder die Wahl der Mitglieder diverser UNGremien1066. Die Charta kennt kein Recht der Generalversammlung, Mitgliedstaaten
einseitig zu einem Tun, Dulden oder Unterlassen zu verpflichten oder auf andere
Weise auf deren Rechtsposition nach allgemeinem Völkerrecht einzuwirken. Auch
deshalb
ist
für
die
Einrichtung
einer
Gebietsverwaltung
durch
die
Generalversammlung die Zustimmung des betroffenen Staates, mithin die
Einschränkung
des
eigenen
Rechtskreises
zugunsten
desjenigen
der
Generalversammlung, erforderlich.
Wie im Falle einer Konsensverwaltung des Sicherheitsrates umfasst auch die
Verwaltungskompetenz der Generalversammlung die Befugnis, alle jene im Rahmen
einer effektiven Gebietsverwaltung erforderlichen Entscheidungen zu treffen und
auszuführen.1067 Voraussetzung ist aber auch hier, dass die Zustimmung des
betroffenen Territorialstaats das gesamte Mandat der UN-Verwaltung deckt. Es
gelten die gleichen Grundsätze wie bei einer konsensgestützten Gebietsverwaltung
durch den Sicherheitsrat.1068 Jegliche Tätigkeit der UN-Verwaltung auf dem Gebiet
muss grundsätzlich in sachlicher, personeller und zeitlicher Hinsicht von der
Zustimmung des Territorialstaates gedeckt sein. Ob dies der Fall ist, muss im
Einzelfall durch Auslegung der Rechtsakte ermittelt werden, die der Mission
1063
Aus diesem Grund lehnt Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 23, PeacekeepingOperationen durch die Generalversammlung generell ab.
1064
Art. 10, Art. 11 Abs. 1 und 2, Art. 13 und Art. 14 SVN.
1065
Tomuschat, in: Wolfrum (Hrsg.), United Nations (1995), § 54 Rn. 13.
1066
Siehe Art. 23 Abs. 1 Satz 2 SVN (Sicherheitsrat), Art. 61 Abs. 1 SVN (ECOSOC) und Art. 86
Abs. 1 lit. c) SVN (Treuhandrat). Auch der zeitweilige Entzug von Mitgliedsrechten nach Art. 5 SVN
oder der Auschluss von der Mitgliedschaft nach Art. 6 SVN ist ein rein binnenrechtlicher Vorgang,
eine organisationsinterne Sanktion, weil lediglich die Rechte des betroffenen Staates eingeschränkt
werden, die aus dessen Mitgliedschaft fließen.
1067
Siehe dazu bereits oben 3.Kp. B.II.2.c.
1068
Siehe dazu oben 3.Kp. B.II.2.
209
zugrunde liegen. In aller Regel wird es sich dabei um Verträge der oder mit den
betroffenen Staaten handeln,1069 aber auch ein Notenwechsel1070 oder einseitige
Rechtsakte sind denkbar.
II.
Durchführung einer Gebietsverwaltung der Generalversammlung
(Art. 22 SVN)
Da die Generalversammlung in noch stärkerem Maße als der Sicherheitsrat ein
Kollektivorgan ist, ist es ihr kaum möglich, die Verwaltungshoheit über ein Gebiet
unmittelbar selbst auszuüben. Es bietet sich daher auch in ihrem Fall an, auf der
Grundlage von Art. 22 SVN ein Nebenorgan ins Leben zu rufen, welches mit der
eigentlichen Verwaltungstätigkeit betraut wird.1071 Zu diesem Zweck kann die
Generalversammlung in gleicher Weise auf den Generalsekretär zurückgreifen wie
der Sicherheitsrat. Insofern wird auf die obigen Ausführungen verwiesen.1072
Da es sich bei einer Gebietsverwaltung durch die Generalversammlung immer um
eine konsensgestützte Operation handeln muss, hängt es wesentlich von der
Zustimmung des betroffenen Staates ab, inwieweit die Generalversammlung ihre
Kompetenzen auf andere UN-Organe übertragen oder Dritte in die Verwaltung
einbeziehen darf. Regelmäßig werden der oder die betroffenen Staaten derartige
Aspekte explizit mit der Generalversammlung regeln. So legte der Vertrag zwischen
den Niederlanden und Indonesien vom 15. August 19621073 die umfangreiche Rolle
fest, die der Generalsekretär bei der Verwaltung des Gebiets von West-Neuguinea
spielen sollte. Bei der Delegation der Befugnis der Generalversammlung zur
einvernehmlichen Verwaltung eines Krisengebietes gilt zunächst der allgemeine
1069
So lag der UN-Verwaltung West-Neuguinea (UNTEA) ein Vertrag zwischen den Niederlanden
und Indonesien zugrunde. Siehe dazu oben 2.Kp. F. und unten 3.Kp. E.III.
1070
Orakhelashvili, Virginia JIL 43 (2003), 485 (520).
1071
So für Peacekeeping-Missionen allgemein Orakhelashvili, Virginia JIL 43 (2003), 485 (507).
1072
Siehe 3.Kp. D.
1073
Übereinkommen zwischen dem Königreich der Niederlande und der Republik Indonesien
betreffend West-Neuguinea vom 15. August 1962 (im Folgenden: West-Neuguinea-Abkommen),
U.N.T.S. 437, S. 273-291, abgedruckt in Higgins, UN Peacekeeping (II) – Asia (1970), S. 101-106,
und AVR 10 (1962/63), 350-355. Eine deutsche Übersetzung findet sich in EA 17 (1962), D445 –
D450.
210
Grundsatz des nemo dat quod non habet. Auch sollte eine derartige Delegation
grundsätzlich explizit erfolgen.
Im Übrigen sind die Voraussetzung und Grenzen einer Übertragung weniger streng
als im Falle der Kapitel VII-Befugnisse des Sicherheitsrates. So trägt die
Generalversammlung weder die „Hauptverantwortung“ (Art. 24 Abs. 1 SVN), noch
gibt es den Art. 43-47 SVN vergleichbare Normen, die eine deutliche Präferenz der
Charta für ein zentralisiertes Vorgehen der Generalversammlung erkennen lassen. Es
ist daher zulässig, dem beauftragten Organ oder Völkerrechtssubjekt einen größeren
Freiraum bei der Wahrnehmung seines Mandates zu gewähren. Eine Pflicht zur
regelmäßigen Berichterstattung ist jedoch analog Art. 73 lit. e) SVN zu fordern, da
sie Mindestvoraussetzung für eine Aufsichtstätigkeit der Generalversammlung ist.
Auch sollte eine Gebietsverwaltung unmittelbar durch die Generalversammlung
selbst nicht hinter die Voraussetzungen zurückfallen, welche die Charta für die
Gebietsverwaltung durch Dritte aufstellt.1074
III.
Fallbeispiel: West-Neuguinea
Der wichtigste Beispielfall für die Verwaltung eines Krisengebietes unter der
Schirmherrschaft der Generalversammlung ist die United Nations Temporary
Executive Authority (UNTEA), die vom 1. Oktober 1962 bis zum 1. Mai 1963 das
Gebiet der holländischen Kolonie West-Neuguinea1075 verwaltete, bevor dieses an
die Republik Indonesien übertragen wurde.1076 Grundlage war die Resolution 1752
(XVII) vom 21. September 1962,1077 mit der die Generalversammlung ein
niederländisch-indonesisches Abkommen bestätigte, in dem den Vereinten Nationen
die übergangsweise Verwaltung des Gebietes angetragen wurde.1078 Die besondere
1074
Für eine derartige Vorbildwirkung zumindest des Art. 76 SVN auch Stahn, ZaöRV 61 (2001), 107
(138), und von Carlowitz, AVR 41 (2003), 336 (365).
1075
Von indonesischer Seite wurde das Gebiet West Irian oder Irian Barat genannt. Hier wird wie im
niederländisch-indonesischen Abkommen der Begriff West-Neuguinea verwendet.
1076
Zum historischen Hintergrund der UNTEA siehe oben 2.Kp. F.
1077
Abgedruckt bei Higgins, UN Peacekeeping (II) – Asia (1970), S. 110.
1078
Siehe oben Fußnote 1060.
211
Bedeutung der UNTEA liegt in ihrer allgemeinen Akzeptanz durch die
Mitgliedstaaten. Während im Falle der Diskussion um die Errichtung des Freien
Territorium Triest die Befugnis des Sicherheitsrates zur Verwaltung eines Gebiets
ernsthaft in Frage gestellt wurde,1079 wurden entsprechende Bedenken im Hinblick
auf die Generalversammlung von keinem Mitgliedstaat erhoben1080. Resolution 1752
(XVII) wurde von der Generalversammlung ohne Gegenstimmen gebilligt.1081 Von
den vierzehn Staaten, die sich ihrer Stimme enthielten, deutete keiner an, dass seinem
Abstimmungsverhalten derartige Bedenken zugrunde lagen.1082 Insofern ist die
UNTEA ein wichtiger Präzedenzfall.1083
Im Übrigen erfüllt die UNTEA-Mission die oben dargelegten Voraussetzungen einer
Gebietsverwaltung
durch
die
Generalversammlung.
So
lag
zwar
eine
friedensbedrohende Situation vor1084 – Indonesien hatte Truppen per Fallschirm in
West-Neuguinea abgesetzt, und es war zu mehrern bewaffneten Zwischenfällen mit
niederländischen Einheiten gekommen.1085 Trotz mehrfacher Hinweise der
Niederlande1086 war der Sicherheitsrat jedoch nicht eingeschritten und hatte keine
einzige Resolution zur Lage in Neuguinea erlassen. Die Voraussetzungen für ein
Tätigwerden der Generalversammlung waren somit gegeben.1087 Mit dem WestNeuguinea-Abkommen vom 15. August 1962 lag auch die Zustimmung der
1079
Siehe dazu oben 3.Kp. B.
1080
Higgins, UN Peacekeeping (II) – Asia (1970), S.120 f.
Higgins, UN Peacekeeping (II) – Asia (1970), S. 111. Senegal bat aber drei Tage später darum,
dass seine Stimme nunmehr als Ablehnung verzeichnet werden sollte (ebenda, S. 114.).
1081
1082
Higgins, UN Peacekeeping (II) – Asia (1970), S. 113 f. u. 120 f.
1083
Bowett, UN Forces (1964), S. 261.
1084
Bowett, UN Forces (1964), S. 257; Dicke-Rengeling, Sicherung des Weltfriedens (1975), S. 157.
1085
Leyser, AVR 10 (1962/63), 257 (257 f.); Higgins, UN Peacekeeping (II) – Asia (1970), S. 98-100.
1086
Siehe beispielsweise die niederländischen Schreiben aus dem Jahre 1962, abgedr. als UN-Doc.
S/5123 vom 21.5.; S/5126 vom 24.5., S/5155 vom 10.8. und S/5157 vom 14.8.
1087
Von Interesse ist, dass vier von fünf ständigen Sicherheitsratsmitgliedern der Resolution 1752
(XVII) in der Generalversammlung zustimmten, Frankreich enthielt sich der Stimme. Da dies aber
nach der ständigen Praxis des Sicherheitsrates nicht im Sinne des Art. 27 Abs. 3 SVN als Veto
ausgelegt worden wäre, hätte die Resolution wohl auch im Sicherheitsrat eine Mehrheit gefunden.
Warum dennoch der Weg über die Generalversammlung gewählt wurde, ist nicht klar. Kritisch zur
Rolle des Sicherheitsrates Dicke-Rengeling, Sicherung des Weltfriedens (1975), S. 158 f.
212
betroffenen Staaten vor.1088
Lediglich bei der Ausführung der Mission weicht UNTEA vom oben beschriebenen
Idealbild ab, da die Generalversammlung dabei eine nur sehr geringe Rolle spielte.
Sie beschränkte sich im Wesentlichen darauf, das niederländisch-indonesische
Abkommen wohlwollend zur Kenntnis zu nehmen und den Generalsekretärs zu
autorisieren, die ihm in diesem Übereinkommen angetragenen Aufgaben
auszuführen. Der Sache nach wird der Generalsekretär von den Parteien beauftragt.
Die Generalversammlung gibt lediglich ihr Einverständnis dazu, dass das Sekretariat
der Vereinten Nationen in dieser Art und Weise tätig werden darf. So soll UNTEA
nach Art. II des West-Neuguinea-Abkommens durch den Generalsekretär und unter
dessen
Zuständigkeit
eingerichtet
werden.1089
Nach
Art.
V
soll
der
Übergangsverwalter gegenüber dem Generalsekretär weisungsgebunden sein.1090
Von einem Weisungsrecht der Generalversammlung ist nicht die Rede. Der
Generalsekretär wird in Art. VIII des Abkommens nicht einmal verpflichtet, der
Generalversammlung Bericht zu erstatten.1091 Es ist der Generalsekretär, der im
Einvernehmen mit den Parteien den Übergangsverwalter benennt1092 und der
UNTEA die nötigen Sicherheitskräfte zur Seite stellt1093. Ein Tätigwerden der
Generalversammlung ist nicht vorgesehen.
Diese Vorgaben hat die Generalversammlung durch die Verabschiedung der
Resolution 1752 (XVII) am 21.9.1962 unverändert übernommen. Sie ließen der
Generalversammlung keine Möglichkeit, die Arbeit des Generalsekretärs im Rahmen
1088
Die Zustimmung beider Staaten war erforderlich, da der völkerrechtliche Status West-Neuguineas
unklar war. Siehe dazu ausführlich Leyser, AVR 10 (1962/63), 257 (258-264).
Der entsprechende Passus in Art. II des West-Neuguinea-Abkommens lautet: „(...) established by
and under the jurisdiction of the Secretary-General (...)“.
1089
Art. V West-Neuguinea-Abkommen: „The United Nations Administrator (...) will have full authority under the direction of the Secretary-General to administer the territory (…).”
1090
Art. VIII Satz 2 West-Neuguinea-Abkommen: „The Secretary-General will submit full reports to
the Netherlands and Indonesia and may submit, at his discretion, reports to the General Assembly or
to all United Nations Members” (Hervorhebung durch den Verfasser).
1091
1092
Art. IV des West-Neuguinea-Abkommens.
1093
Art. VII des West-Neuguinea-Abkommens.
213
der UNTEA zu kontrollieren. Nach den oben dargelegten Grundsätzen einer
Delegation von Kapitel VII-Kompetenzen durch den Sicherheitsrat1094 wäre dies
nicht zulässig. Vorliegend begegnen sie jedoch aus den oben genannten Gründen
geringeren Bedenken.1095 Hier ist die Notwendigkeit einer Kontrolle durch die
Generalversammlung auch insofern geringer, als die Verwaltung von vornherein nur
für eine kurzen Zeitraum eingerichtet werden sollte.1096 Zudem hatten die
Niederlande und Indonesien die Kosten der Mission vollständig übernommen,1097 so
dass auch das Budgetrecht der Generalversammlung (Art. 17 SVN) durch UNTEA
nicht berührt wurde. Eine derartig große Ermessensfreiheit des Generalsekretärs
entsprach
ferner
dem
Willen
der
Vertragsparteien,
in
deren
inneren
Kompetenzbereich UNTEA tätig wurde. Dennoch ist zumindest eine Berichtspflicht
des Generalsekretärs gegenüber dem autorisierenden Organ geboten. In dieser
Hinsicht taugt UNTEA nur bedingt als Modellfall für die Verwaltung eines
Krisengebietes durch die Generalversammlung.
IV.
Ausblick
Das Beispiel der UNTEA zeigt, dass es sich bei der Verwaltung von Krisengebieten
durch die Generalversammlung nicht um eine rein theoretische Befugnis der
Generalversammlung handelt.1098 Ihre Verwaltungskompetenz hat sie nicht dadurch
verloren, dass sie seit 1962 keine derartige Mission mehr ins Leben gerufen hat.1099
In der Tat hat die Generalversammlung die sich selbst in der Uniting for PeaceResolution zugebilligten Befugnisse nie genutzt und schon seit langem keine eigenen
Peacekeeping-Missionen mehr initiiert. Der Grund hierfür ist weniger in rechtlichen
1094
Siehe oben 3.Kp. D.I.4.
1095
Siehe oben 3.Kp. E.II.
1096
Art. IX West-Neuguinea-Abkommen nennt den 1.5.1963 als Zeitpunkt der Übergabe der
Verwaltungshoheit an Indonesien. UNTEA nahm 1.10.1962, zehn Tage nach Verabschiedung der
Resolution 1752 (XVII), ihre Arbeit auf, so dass sie insgesamt sechs Monate tätig war.
1097
Art. XXIV Abs. 3 Satz 1 West-Neuguinea-Abkommen.
1098
Lagrange, AFDI 45 (1999), 335 (338).
1099
So aber Bothe, Peace-keeping (2002), Rn. 91. In diese Richtung auch Hufnagel, UNFriedensoperationen (1996), S. 23.
214
Bedenken der UN-Mitglieder zu sehen als vielmehr in den historischen Umständen,
insbesondere der weitgehenden Handlungsfähigkeit des Sicherheitsrates seit 1990.
Das Beispiel der UNTEA zeigt aber auch, dass es besonderer tatsächlicher Umstände
bedarf, damit zu diesem Zweck auf die Generalversammlung zurückgegriffen wird.
In Zeiten, in denen Staaten zu unilateralem Vorgehen tendieren, wenn es ihnen nicht
gelingt, im Sicherheitsrat das gewünschte Ergebnis zu erzielen, sind solche
Umstände nicht wahrscheinlicher geworden. Es ist daher nicht anzunehmen, dass es
in
absehbarer
Zeit
zu
einer
Gebietsverwaltung
unter
der
Ägide
der
Generalversammlung kommen wird.
215
F.
Krisengebietsverwaltung unter dem Regime des Treuhandrates
(Kapitel XII und XIII der Charta)
Ähnlich unwahrscheinlich erscheint eine UN-Gebietsverwaltung unter der Ägide des
Treuhandrates. Dass diese hier dennoch kurz angesprochen werden soll, ist dem
Umstand geschuldet, dass Art. 81 SVN als einzige Norm der Charta die Vereinten
Nationen explizit zur Verwaltung eines Territoriums befugt. Art. 81 Satz 2, 3. Var.
SVN erlaubt es, nicht nur Staaten, sondern auch die UN selbst als Verwaltungsmacht
eines Treuhandgebietes einzusetzen.1100 Warum die Vereinten Nationen bei ihren
verschiedenen Gebietsverwaltungen nie auf dieser Rechtsgrundlage zurückgriffen,
soll im Folgenden geklärt werden.1101
Das in den Kapiteln XII und XIII der Charta niedergelegte UN-Treuhandsystem war
zur Verwaltung sich noch nicht selbst regierender Gebiete unter der Aufsicht der
Vereinten Nationen entworfen worden und hatte primär zum Ziel, diese auf ihre
Unabhängigkeit vorzubereiten.1102 Nach dem
weitgehenden Abschluss des
Dekolonialisierungsprozesses wird das Treuhandsystem deshalb vielfach als nur
noch von historischem Interesse angesehen.1103 In der Tat hat der Treuhandrat seine
Sitzungen eingestellt, seit 1994 die Insel Palau als letztes Treuhandgebiet unabhängig
wurde.1104 Vorschläge, ihn beispielsweise zur Verwaltung von Krisengebieten zu
1100
Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 651, bemerkt indes, dass diese Norm innerhalb des
Treuhandsystems der Charta insofern einen Fremdkörper darstellt, als dessen übrige Regelungen auf
Staaten als Verwaltungsmächte zugeschnitten sind.
1101
1949 hatte Indien vorgschlagen, die ehemaligen italienischen Kolonien Libyen und Somalia für
einen Zeitraum von 20 Jahren als Treuhandgebiet durch die UN verwalten zu lassen, konnte sich
damit aber nicht durchsetzen (siehe UNYB 1948/49, S. 258 f.). Zur Treuhandverwaltung des früher
italienischen Somaliland siehe auch Murray, UN Trusteeship System (1957), S. 79-116. Der
Vorschlag, die Stadt Jerusalem zu internationalisieren und unter der Aufsicht des Treuhandrates
verwalten zu lassen, konnte ebenfalls nicht verwirklicht werden. Siehe dazu oben 2.Kp. C (Jerusalem)
und D. (Libyen).
1102
Zum Treuhandsystem und seiner Geschichte allgemein siehe Rauschning, Article 75 (2002), oder
Pambou Tchivounda, Article 75 (1991), 1101-1111, sowie ausführlich Murray, UN Trusteeship System (1957).
1103
Rauschning, Article 75 (2002), Rn. 1.
1104
Siehe S/RES 956 (1994) vom 10.11.1994, abgedr. in UNYB 1994, 215; ferner Rauschning, Artikel
83 (2002), Rn. 9.
216
reaktivieren, sind bisher nicht aufgegriffen worden.1105 Andereseits ist der
Treuhandrat nicht aufgelöst worden, sondern ruht lediglich, so dass seine
Reaktivierung nicht gänzlich ausgeschlossen erscheint.1106
Die Verwaltung von failed states und anderen Krisengebieten ließe sich auch
grundsätzlich mit den in Art. 76 der Charta niedergelegten Zielen des
Treuhandsystems vereinbaren.1107 Als Mittel zur Stabilisierung von Krisengebieten
trüge sie zur internationalen Sicherheit bei (Art. 76 (a) SVN). Sofern die Verwaltung
mit dem Aufbau staatlicher und rechtsstaatlicher Institutionen betraut ist, förderte sie
die Entwicklung der Bevölkerung des Territoriums (Art. 76 (b) SVN) und die
Wahrung der Menschenrechte (Art. 76 (c) SVN). Die Wahl der UN statt eines
Einzelstaates als Verwaltungsmacht trüge auch dazu bei, Ängste vor einer
Rekolonialisierung zu reduzieren.1108
I.
Die Rolle des Sicherheitsrates
Ein Grund dafür, dass zur Verwaltung von Krisengebieten bisher nicht auf Art. 81
SVN zurückgegriffen wurde, mag darin liegen, dass Art. 85 Abs. 1 SVN das
Treuhandsystem in den Verantwortungsbereich der Generalversammlung verweist.
Unter ihrer Aufsicht, nicht unter der des Sicherheitsrat, wird der Treuhandrat
tätig.1109
Entscheidungen
können
so
mit
Zwei-Drittel-Mehrheit
in
der
Generalversammlung und mit einfacher Mehrheit im Treuhandrat selbst gefällt
1105
Zu diesen Vorschlägen siehe Helman/Ratner, Foreign Policy 89 (1992/93), 3 (12-18); Thürer,
BdDGVR 34 (1996), 9 (38); Delbrück, in: FS Rauschning (2001), S. 427-439; Ruffert, ICLQ 50
(2001), 613 (631).
1106
Kurz vor der Unabhängigkeit Palaus beschloss der Treuhandrat im Mai 1994, seine jährlichen
Treffen einzustellen und nur noch im Bedarfsfall zu tagen (siehe T/RES/2200 (LXI) vom 24.5.1994,
abgedr. in UNYB 1994, p. 216). Siehe auch Nachweise bei Geiger, Article 86 (2002), Rn. 1 f.
Mittlerweile schlägt UN, Threats, Challenges and Change (2004), § 299, allerdings vor, den
Treuhandrat zusammen mit dem gesamten Kapitel XIII aus der Charta zu entfernen.
1107
So auch Delbrück, in: FS Rauschning (2001), S. 438.
So sieht Gordon, Am.Univ.J.I.L.&P. 12 (1997), 903 (926), den Treuhandgedanken als „rooted in
colonialism and always rationalized by notions of cultural superiority, if not pure and simple racism”
an.
1108
1109
Art. 85 Abs. 2 SVN.
217
werden, es gibt kein Vetorecht der fünf ständigen Sicherheitsratsmitglieder.1110
Sofern die Krisengebietsverwaltung der Wahrung oder Wiederherstellung der
internationalen Sicherheit dienen soll, könnte ihre Ausführung auf der Grundlage von
Art. 81 SVN zudem den Vorrang des Sicherheitsrates nach Art. 24 Abs. 1 SVN in
Frage stellen.
Der Vorrang des Sicherheitsrates ließe sich jedoch wieder herstellen, wenn man das
Gebiet als strategisches Gebiet (strategic area) im Sinne des Art. 82 einstufte.1111 Für
diese ist gemäß Art. 83 Abs. 1 SVN der Sicherheitsrat anstelle der
Generalversammlung zuständig. Zwar sind die strategischen Gebiete im Sinne der
Art. 82 ff. SVN nicht für größere Teile von Staaten oder ganze Staaten konzipiert
worden.1112 Andererseits war das Phänomen der failed states zur Zeit der Gründung
der Vereinten Nationen noch unbekannt. Bei der gebotenen dynamischen Auslegung
der Charta ließe sich ihre Verwaltung als strategisches Gebiet ohne weiteres mit Art.
82 SVN vereinbaren, zumal sie sich zudem im Rahmen der materiellen Ziele des
Treuhandsystems bewegte.
II.
Die formalen Voraussetzungen einer Treuhandverwaltung
Es sind jedoch die formalen Voraussetzungen der Kapitel XII und XIII der Charta,
die eine Krisengebietsverwaltung durch den Treuhandrat rechtlich schwierig
erscheinen lassen. So sieht Art. 77 SVN drei Kategorien von Gebieten vor, die unter
Treuhandverwaltung gestellt werden können. Nicht alle bisher von den Vereinten
Nationen verwalteten Gebiete lassen sich ohne Weiteres unter eine dieser Kategorien
subsumieren.1113 Ferner untersagt es Art. 78 SVN ausdrücklich, Mitgliedstaaten der
Art. 18 Abs. 2 („questions relating to the operation of the trusteeship system“) und Art. 89 Abs. 2
SVN.
1110
1111
Tatsächlich nannte der syrische Delegierte Kapitel XII und die dort geregelten strategischen
Gebiete als seiner Ansicht nach einzig denkbare Rechtsgrundlage für eine Gebietsverwaltung durch
den Sicherheitsrat. Siehe seine Bemerkungen in der Debatte zum Freien Territorium Triest, abgedr. in:
United Nations, Répertoire de la pratique du Conseil de sécurité (RPCS) 1946-1951, 514.
1112
Zur Entstehungsgeschichte siehe Gautron, Article 82 (1991), 1169 . (1170). Zum Verhältnis
zwischen Sicherheitsrat und Treuhandrat bei der Verwaltung strategischer Gebiete siehe Murray, UN
Trusteeship System (1957), S. 203 f.
1113
Da das Kosovo in keine der in Art. 77 SVN genannten Kategorien fällt, lehnen Zimmer-
218
Vereinten Nationen dem Treuhandsystem zu unterstellen. Das Kosovo, so wird
vielfach vertreten, könne als Teil des UN-Mitglieds Jugoslawien deshalb nicht als
Treuhandgebiet verwaltet werden.1114 Art. 78 SVN stünde bei strikter Anwendung
auch einer Treuhandverwaltung Afghanistans und des Iraks entgegen.1115
Indes erscheint eine solche enge Auslegung nicht zwingend. Art. 78 SVN ist speziell
aufgrund der Befürchtungen des Libanons und Syriens in die UN-Charta
aufgenommen worden.1116 Beide Gründungsmitglieder der Vereinten Nationen
waren bis 1939 Völkerbundsmandatsgebiete Frankreichs, deren Unabhängigkeit
infolge des Ausbruchs des zweiten Weltkriegs aber nicht mehr von Frankreich und
vom Völkerbund förmlich bestätigt worden waren.1117 Art. 78 SVN sollte klarstellen,
dass das französische Mandat nicht wiederhergestellt werden konnte.1118 Art. 78
SVN soll somit die Souveränität der Mitgliedstaaten schützen. Wie bereits ausgeführt
kann ein Staat aber auch auf seine Verwaltungsmacht ganz oder teilweise
verzichten.1119 In einem solche Fall wäre der Schutzzweck nicht erfüllt, so dass Art.
78 SVN einer Treuhandverwaltung nicht entgegenstünde.1120
Ferner betrifft Art. 78 SVN ohnehin eher den Fall einer Treuhandverwaltung durch
einen Einzelstaat als eine durch die Vereinten Nationen. Denn das von Art. 78
zweiter Halbsatz SVN genannte Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten kann
mann/Stahn, Nordic JIL 70 (2001), 423 (436), bereits aus diesem Grund eine Treuhandverwaltung des
Gebietes nach Kapitel XII der Charta ab. Ähnlich für Staaten als Treuhandgebiete allgemein Gordon,
Cornell I.L.J. 28 (1995), 301 (311 f.).
1114
Ruffert, ICLQ 50 (2001), 613 (630); Zimmermann/Stahn, Nordic JIL 70 (2001), 423 (436).
1115
So für UN-Mitgliedstaaten allgemein auch Yannis, EJIL 13 (2002), 1037 (1041). Gordon, Cornell
I.L.J. 28 (1995), 301 (345) schlägt daher vor, failed states zunächst aus der UN auszuschließen, bevor
man sie dem Treuhandsystem unterstellt.
1116
Zur Entstehungsgeschichte siehe Lamouri, Article 78 (1991), 1139 ..
1117
Lamouri, Article 78 (1991), 1139 .-1142.
1118
Rauschning, Article 78 (2002), Rn. 1. Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 574, weist
daraufhin, dass Art. 78 SVN insofern überflüssig ist, als dass ein Gebiet nur mit Zustimmung des
verfügungsberechtigten Staates in das Treuhandsystem eingebracht werden kann. Da Libanon und
Syrien – als UN Gründungsmitglieder – selbständige Staaten waren, wäre eine solche Unterstellung
ohnehin nur mit ihrer Zustimmung möglich gewesen.
1119
Siehe oben 3.Kp. A.II.
1120
Stahn, ZaöRV 61 (2001), 107 (119).
219
nur im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten untereinander, nicht in ihrem
Verhältnis zur Organisation gelten. Sofern die Verwaltung eines Krisengebietes im
Übrigen der Wahrung des Weltfriedens dient, erfüllen die Vereinten Nationen damit
eine ihrer wichtigsten satzungsmäßigen Aufgaben (vgl. Art. 1 I, 11 und 24 I der
Charta). Im Hinblick darauf sollte Art. 78 nicht so ausgelegt werden, dass die UN an
der effektiven Wahrnehmung ihrer Aufgaben gehindert würde1121.
Eine weitere Hürde stellte Art. 75 SVN auf, der die Unterstellung eines Gebietes
unter das Treuhandsystem vom Abschluss eines Treuhandvertrages abhängig
macht.1122 Da ein Staat auf die Ausübung ihm zustehender Rechte verzichten kann,
wäre es völkerrechtlich grundsätzlich möglich, dass ein Staat sich selbst ganz oder
teilweise dem Treuhandregime unterstellt.1123 Schwieriger würde es jedoch, wenn die
Vertreter des betroffenen Gebietes den Abschluss eines solchen Abkommens
verweigerten oder es im Falle eines failed state ganz an hinreichend legitimierten
Vertretern fehlte. Möglicherweise könnte der Sicherheitsrat deren Zustimmung durch
eine Resolution auf der Grundlage von Kapitel VII der Charta ersetzen.1124
Rechtsgrundlage einer solchen Verwaltung wäre dann aber in erster Linie Kapitel
VII der Charta, Kapitel XII und XIII regelten lediglich die Art und Weise der UNGebietsverwaltung.
III.
Ergebnis
Im Ergebnis bietet das Treuhandsystem der Charta nur für eine UNGebietsverwaltung mit Zustimmung des betroffenen Staates eine hinreichende
Rechtsgrundlage,
und
auch
diese
nur
mit
einem
nicht
unerheblichen
Auslegungsaufwand. Letztlich sind die Kapitel XII und XIII der Charta auf ein
1121
Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 304 f.
1122
Seinen notwendigen Inhalt legt Art. 81 SVN fest.
1123
Gordon, Cornell I.L.J. 28 (1995), 301 (324). Staaten können grundsätzlich vollständig auf ihre
Souveränität verzichten und ihren Beitritt zu einem anderen Staat erklären. Siehe dazu Anzelotti (Sep.
Op.), StIGH, Customs Régime between Germany and Austria (Protocol of March 19th, 1931), Gutachten vom 5.9.1931, PCIJ Series A/B, Bd. I, Fall Nr. 41, 55 (59).
1124
Ablehnend aufgrund der von ihr vertretenen engen Auslegung der Art. 77 und 78 SVN Gordon,
Cornell I.L.J. 28 (1995), 301 (326).
220
bestimmtes historisches Phänomen zugeschnitten. Mit dem Abschluss der
Dekolonialisierung haben sie ihren Anwendungsbereich verloren. Da sie nicht
flexibel genug gefasst sind, erscheint es schwierig, ihnen de lege lata neue
Anwendungsbereiche zu erschließen.1125 Mit Verweis auf seinen kolonialen Kontext
hat sich daher jüngst der von UN-Generalsekretär Kofi Annan eingesetzte High Level
Panel on Threats, Challenges and Change für eine Abschaffung des Treuhandrates
ausgesprochen.1126 Rechtlich wäre es allerdings aufgrund ihrer kolonialen
Vergangenheit ohne weiteres möglich gewesen, Libyen, Namibia und Osttimor einer
UN-Treuhandverwaltung zu unterstellen. Das die UN diesen Weg nicht gewählt hat,
mag aber eher tatsächliche denn rechtliche Gründe haben: Das Treuhandsystem mit
seinen jährlichen Berichtspflichten und Sitzungen ist auf einen längeren
Verwaltungszeitraum angelegt.1127 Die genannten Gebiete sollten aber möglichst
zügig in die Unabhängigkeit geführt werden. Umgekehrt sollte die freie Stadt
Jerusalem als corpus separatum und nicht als Treuhandgebiet durch den Treuhandrat
verwaltet werden, weil ihr Regime auf Dauer angelegt war, Jerusalem mithin
entgegen Art. 76 (b) SVN nicht auf Selbstverwaltung oder gar Unabhängigkeit
vorbereitet werden sollte.1128
1125
Zweifelnd auch Gordon, Cornell I.L.J. 28 (1995), 301 (346).
UN, Threats, Challenges and Change (2004), § 299: „Chapter 13 [of the Charter] (The Trusteeship Council) should be deleted. (…) The United Nations should turn its back on any attempt to return
to the mentalities and forms of colonialism.” Zur Diskussion um eine Wiederbelebung des
Treuhandrates mit neuen Aufgaben aus dem Umweltvölkerrecht siehe Schroeder, Schutz der Umwelt
(2005), S. 264-273.
1126
1127
Zu den Berichtspflichten siehe Art. 88 SVN.
1128
Zum Projekt einer freien Stadt Jerusalem siehe bereits oben 2.Kp. C.
221
4. Kapitel:
D i e G r e n z e n d e r Ve r w a l t u n g s kompetenz unter Kapitel VII der Charta
Wurden im vorangegangenen Teil die in Frage kommenden Rechtsgrundlagen einer
Gebietsverwaltung durch die Vereinten Nationen behandelt, sollen im Folgenden die
Grenzen ihrer Verwaltungskompetenz näher untersucht werden. Ging es zunächst um
das „Ob“ einer solchen Verwaltung, wird es nun um das „Wie“ ihrer Ausführung
gehen. Mit der Übernahme der Verwaltungshoheit über ein Krisengebiet setzen sich
die Vereinten Nationen gleichsam an die Stelle des für das Gebiet zuständigen
Staates und üben selbst die territoriale Staatsgewalt aus. Neben personellen und
logistischen Problemen, welche die Übernahme der Verantwortung für ein
Krisengebiet den Vereinten Nationen bereitet, betreten sie mit der Ausübung
territorialer Hoheitsgewalt auch rechtlich Neuland. Anders als sonst handelt die UN
nicht mehr auf interstaatlicher Ebene, sondern trägt unmittelbar und allein die
Verantwortung für Wohl und Wehe der Menschen in den verwalteten Gebieten. Ihr
Gegenüber sind nicht mehr Staaten, sondern Individuen und Gruppen.
Dass ihnen dieser Schritt rechtlich gestattet ist, wurde im vorangegangenen Kapitel
dargelegt. Es bleibt zu klären, welche materiellen Grenzen den Vereinten Nationen
bei der Verwaltung eines Krisengebietes gesetzt sind. Solche können sich aus
Völkervertragsrecht ergeben, beispielsweise aus den unter dem Dach der UN
geschlossenen
Menschenrechtspakten.
Sie
können
sich
aber
auch
aus
Völkergewohnheitsrecht und den Grundprinzipien des allgemeinen Völkerrechts
ergeben. Dazu gehören die Menschenrechte, soweit sie gewohnheitsrechtlich
verbürgt
sind,
der
Grundsatz
der
Staatensouveränität
und
das
Selbstbestimmungsrecht der Völker. Grenzen und begrenzende Rechte können sich
aber auch unmittelbar aus der Charta selbst ergeben.
Ferner ist zwischen den einzelnen in Frage kommenden Rechtsgrundlagen zu
unterscheiden. So ist bei konsensgestützten Operationen des Sicherheitsrates (Art. 24
Abs. 1 SVN) oder der Generalversammlung die Zustimmung des betroffenen Staates
von großer Bedeutung und entscheidet mit über Umfang und Grenzen des
222
Verwaltungsmandats der Vereinten Nationen.1129 Dagegen handelt es sich bei der
Gebietsverwaltung auf der Grundlage von Kapitel VII der Charta um eine gleichsam
unilaterale Befugnis des Sicherheitsrates, deren Grenzen mithin autonom, d.h.
unabhängig vom Willen der betroffenen Staaten, zu bestimmen sind.
Es bietet sich daher an, bei der Bestimmung der inhaltlichen Grenzen der UNVerwaltungsmacht
zwischen
konsensgestützten
Missionen
und
Kapitel-VII-
Operationen zu unterscheiden. Da zumindest gegenwärtig allein letztere von
praktischer Bedeutung sind, soll hier mit der Bestimmung ihrer Grenzen begonnen
werden. Die rechtlichen Grenzen konsensgestützter Verwaltungsmissionen werden
im anschließenden fünften Kapitel dargelegt, wenn und soweit sie sich von denen
einer Zwangsverwaltung unterscheiden.
Während der Sicherheitsrat zumindest im Rahmen von Kapitel VII der Charta von
einigen seiner „Väter“ als ein über Recht und Gesetz stehendes Organ der
internationalen Gemeinschaft gesehen wurde,1130 hat sich heute allgemein die
Auffassung durchgesetzt, dass auch er in der Wahrnehmung seiner Befugnisse aus
Kapitel VII rechtlichen Bindungen unterliegt.1131 Weitgehend unklar und nach wie
vor strittig sind dagegen Umfang und Reichweite dieser Bindungen. Die
Schwierigkeiten bestehen darin, dass die Charta selbst keine genaueren Regelungen
enthält1132 und detailliertere multilaterale Verträge nicht unmittelbar anwendbar sind,
da die Vereinten Nationen diese nicht unterzeichnet haben. Auch ist noch immer
1129
Siehe dazu oben 3.Kp. B.II.2 (Sicherheitsrat) und E.I.3 (Generalversammlung).
1130
Verwiesen sei hier nur auf das berühmte Zitat des damaligen amerikanischen Außenministers John
Foster Dulles: „The Security Council is not a body that merely enforces agreed law. It is a law unto
itself. (…) No principles of law are laid down to guide it; it can decide in accordance with what it
thinks is expedient” (Dulles, War or Peace (1950), S. 194 f.). In diese Richtung auch Kelsen, Law of
the United Nations (1950), S. 294, ferner Schwebel, Diss. Op., IGH, Nicaragua (merits), ICJ-Rep.
1986, 259 (290 § 60), und Pellet, in: Stern (Hrsg.), La crise du Golfe (1991), S. 490.
1131
Siehe beispielsweise Jennings, Diss. Op., IGH, 1971 Montreal Convention (prelim. obj.), ICJ-Rep.
1998, 99 (110): „The first principle of the applicable law is this: that all discretionary powers of lawful decision-making are necessarily derived from the law, and are therefore governed and qualified by
the law. This must be so if only because the sole authority of such decisions flows itself from the law.
It is not logically possible to claim to represent the power of authority of the law, and at the same
time, claim to be above the law.” Ablehnend nur der bewusst als provozierende Polemik gefasste
Aufsatz Oosthuizen, Leiden JIL 12 (1999), 549-563 und die in der vorangegangenen Fußnote
Genannten.
223
umstritten, inwieweit der Sicherheitsrat an Völkergewohnheitsrecht gebunden ist.
Entzündet hat sich die jüngste Debatte an dem hier behandelten Phänomen der vom
Sicherheitsrat angeordneten UN-Verwaltung von Krisengebieten.1133 Bereits zuvor
ausführlich behandelt wurde die Frage der Bindung des Sicherheitsrates an das
allgemeine
Völkerrecht
aus
Anlass
der
Verhängung
weitreichender
Wirtschaftssanktionen gegen den Irak und andere Staaten in der ersten Hälfte der
neunziger Jahre.1134
Grundsätzlich kann eine Rechtsbindung des Sicherheitsrates auf drei verschiedene
Arten begründet werden: intern (A.), extern (B) und mittelbar (C).1135 Eine interne
Bindung besteht insoweit, als das Binnenrecht der Vereinten Nationen selbst dem
Sicherheitsrat gewisse Beschränkungen auferlegt. In Betracht kommt dabei neben
Primärrecht der Charta auch eine Selbstbindung der UN durch eigenes Handeln.
Extern ist eine Rechtsbindung, die auf der Völkerrechtssubjektivität der Vereinten
Nationen beruht. Als Völkerrechtssubjekt können die UN und der Sicherheitsrat als
ihr Organ grundsätzlich auch Adressaten völkerrechtlicher Pflichten sein. Mittelbar
ließe sich eine Beschränkung der Rechte und Pflichten des Sicherheitsrates damit
begründen, dass er keine originären Kompetenzen besitzt. Seine Befugnisse leiten
sich vielmehr von den Mitgliedstaaten ab.1136 Nach dem bereits erörterten nemo
transferre-Grundsatz1137 könnten diese ihm jedoch nicht mehr Rechte zuweisen, als
sie selbst besitzen. Die den Mitgliedstaaten durch das Völkerrecht auferlegten
1132
Schweigman, Authority (2001), S. 166.
1133
Siehe die ansatzweise Diskussion bei Irmscher, GYIL 44 (2001), 353-395; Kondoch, JC&SL 6
(2001), 245 (257-265); Stahn, MP-UNYB 5 (2001), 105 (148-170); Stahn, ZaöRV 61 (2001), 107
(137-165); Zimmermann/Stahn, Nordic JIL 70 (2001), 423 (444-448); Mégret/Hoffmann, HRQ 25
(2003), 314 (316); von Carlowitz, AVR 41 (2003), 336 (362-374); Zygojannis, Die
Staatengemeinschaft und das Kosovo (2003), S. 239-246; de Wet, MP-UNYB 8 (2004), 291 (318329).
1134
Siehe dazu beispielsweise Reisman/Stevick, EJIL 9 (1998), 86-141; Reinisch, AJIL 95 (2001),
851-872, und Lysen, Nordic JIL 72 (2003), 291-304. Ausführlicher Starck, Wirtschaftssanktionen
(2000), Gowlland-Debbas, in: dies. (Hrsg.), UN Sanctions (2001), und Oette, Wirtschaftssanktionen
(2003), jeweils mit weiteren Nachweisen zur Literatur.
1135
Diese Unterscheidung geht zurück auf Mégret/Hoffmann, HRQ 25 (2003), 314 (317 f.).
1136
Besonders deutlich macht dies Art. 24 Abs. 1 SVN.
1137
Sie oben 3.Kp. D.I.4.
224
Beschränkungen entfalteten so ihre Wirkung mittelbar auch gegenüber dem
Sicherheitsrat.1138
Im Folgenden werden diese drei möglichen Quellen einer Rechtsbindung des
Sicherheitsrates jeweils getrennt untersucht (A.-C.). Anhand der so gewonnenen
Erkentnisse wird sodann abstrakt dargelegt, welchen rechtlichen Beschränkungen der
Sicherheitsrat bei der Verwaltung von Krisengebieten auf der Grundlage von Kapitel
VII der Charta unterliegt (D.). Auf der Grundlage dieser Überlegungen werden
sodann eine Reihe exemplarischer Rechtsfragen untersucht, die sich in der Praxis
einer UN-Gebietsverwaltung als problematisch erwiesen haben (E.)
A.
Organisationsinterne Grenzen der Verwaltungskompetenz des
Sicherheitsrates
Grenzen der Befugnisse des Sicherheitsrates können sich zunächst aus dem Recht der
Organisation selbst ergeben. Erster Ansatzpunkt für eine rechtliche Analyse ist die
Charta, die den Sicherheitsrat ins Leben gerufen und ihm seine Aufgaben und
Befugnisse zugewiesen hat (I.-IV.). Dass der Sicherheitsrat grundsätzlich an die
Charta gebunden ist, darf heute als gesicherte Erkenntnis gelten.1139 Neben dieser
primärrechtlichen Bindungen ist aber auch zu untersuchen, inwiefern er durch
Sekundärrechtsakte der Vereinten Nationen in seinen Befugnissen eingeschränkt
wird (V.). Zu diesen gehören sowohl eigene Rechtsakte des Sicherheitsrates und
anderer UN-Organe, als auch Erklärungen und tatsächliche Handlungen der
1138
Schermers/Blokker, International Institutional Law (1995), § 1574. Dagegen geht es nicht um
jene Beschränkungen, welche die jeweiligen nationalen Verfassungen den einzelnen Mitgliedstaaten
etwa in Gestalt nationaler Grundrechte auferlegen. Für eine internationale Organisation mit
universeller Mitgliedschaft können nur die allen Mitgliedstaaten gemeinsamen völkerrechtlichen
Beschränkungen von Bedeutung sein, nicht aber individuelle nationale Sonderregeln. Zur
vergleichbaren Diskussion einer Bindung der EG an nationale Grundrechte siehe die Nachweise unten
in Fn. 1404.
IGH, Conditions of Admission (Gutachten), ICJ-Rep. 1947/48, 57 (64); ICTY, Tadič-Fall
(Entscheidung v. 2.10.1995), abgedr. in: ILM 35 (1996), 32 (42 § 28); ICTR, Kanyabashi-Fall
(Entscheidung v. 18.6.1997), § 20; Fitzmaurice, Diss. Op., IGH, Namibia-Gutachten, ICJ-Rep. 1971,
220 (280 §90); Skubiszewski, in: FS Jennings (1996), S. 627; Martenczuk, Rechtsbindung und
Rechtskontrolle (1996), S. 163; Bauer, Effektivität und Legitimität (1996), S. 209-213; Herbst,
Rechtskontrolle (1999), S. 292-304; Martenczuk, EJIL 10 (1999), 517 (534-539); Starck,
Wirtschaftssanktionen (2000), S. 139 f., Schweigman, Authority (2001), S. 165; Delbrück, Art. 24
SVN (2002), Rn. 3; Oette, Wirtschaftssanktionen (2003), S. 216-220; Shaw, Int’l. Law (2003), S.
1148; jeweils m.w.N.
1139
225
Organisation,
Selbstbindung
die
unter
der
Umständen
Organisation
nach
führen
estoppel-Grundsätzen
können.
Diesen
zu
einer
primär-
und
sekundärrechtlichen Bindungen soll im Folgenden nachgegangen werden.
I.
Funktionale Grenze aus Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen
Die
naheliegendsten
internen
Beschränkungen
der
Verwaltungsmacht
des
Sicherheitsrates sind jene, die sich unmittelbar aus der gewählten Rechtsgrundlage
ergeben. Kapitel VII der Charta setzt dem Sicherheitsrat bei der zwangsweisen
Verwaltung von Krisengebieten funktionale Grenzen. Aus Art. 39, 2. Halbsatz und
Art. 42 Satz 1 SVN folgt, dass nur solche Maßnahmen auf Grundlage von Art. 41
und 42 SVN ergriffen werden dürfen, die der Wiederherstellung oder Wahrung des
Weltfriedens dienen.1140 Nur zu diesem Zweck ist der Eingriff in die Souveränität des
betroffenen Staates gerechtfertigt.1141 Nicht nur die Einrichtung, sondern auch die
Aufrechterhaltung einer auf Kapitel VII gestützten Gebietsverwaltung setzt daher
voraus, dass sie zur Friedenserhaltung in irgendeiner Weise beiträgt. Ist das Gebiet
so stabilisiert, dass von ihm keine Bedrohung des Weltfriedens mehr ausgeht, kann
eine UN-Verwaltung nicht mehr auf die Art. 41 und 42 der Charta gestützt
werden.1142
Dies bedeutet jedoch nicht, dass Kapitel VII der Charta nur solche Maßnahmen
zuließe, die der kurzfristigen Befriedung des Gebietes dienten, während die
eigentliche Verwaltung und der staatliche Wiederaufbau allein auf die PeacekeepingBefugnis und die Zustimmung des betroffenen Territorialstaates gestützt werden
könnte. Wie bereits ausgeführt, umfasst die Befugnis aus Art. 41 und 42 SVN
grundsätzlich alle Maßnahmen territorialer Verwaltung, sofern diese für die effektive
und nachhaltige Beseitigung der Friedensbedrohung erforderlich sind. 1143 Eine wie
1140
Angelet, in: Gowlland-Debbas (Hrsg.), United Nations Sanctions (2001), 72; Tomuschat, in: FS
Kooijmans (2002), S. 340.
1141
Herdegen, Autoritative Konkretisierung (1995), S. 103 u. 107.
1142
Kondoch, JC&SL 6 (2001), 245 (261); Bothe/Marauhn, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the
International Community (2002), S. 236; Marauhn, AVR 40 (2002), 480 (506).
1143
Siehe dazu oben 3.Kp. C.I.2.b.
226
auch immer geartete Zustimmung des Territorialstaats ist nicht erforderlich.1144
Als actus contrarius zur Feststellung einer Friedensbedrohung obliegt auch die
Feststellung ihres Wegfalls in erster Linie dem Sicherheitsrat, der auch in diesem
Fall über ein weites Ermessen verfügt. Nichtsdestotrotz ist er nicht berechtigt, eine
UN-Verwaltung aufrechtzuerhalten, wenn von dem verwalteten Gebiet objektiv
keine Bedrohung für den Weltfrieden mehr ausgeht. Daraus folgt, dass eine auf Art.
41 und 42 SVN gestützte internationale Verwaltung kein Selbstzweck sein kann,
sondern darauf abzielen muss, sich selbst überflüssig zu machen. Sie muss prinzipiell
einen transitorischen Charakter haben und darf nicht als dauerhafte Einrichtung
konzipiert sein.1145 Sie kann aber von einiger Dauer sein. Kapitel VII setzt ihr keine
unmittelbaren zeitlichen Grenzen, sondern schreibt lediglich ihren Zweck vor. Kann
dieser nur durch eine dauerhafte internationale Verwaltung erreicht werden, steht
zumindest Kapitel VII dem nicht im Weg.1146 Dessen ungeachtet kann sich eine
absolute zeitliche Grenze unter Umständen aus anderen völkerrechtlichen Normen
ergeben. In Betracht kommen insbesondere der auch von den Vereinten Nationen zu
beachtende Grundsatz der Staatensouveränität (Art. 2 Ziff. 7 SVN) oder das
Selbstbestimmungsrecht der Völker (Art. 1 Ziff. 2 SVN).1147
II.
Die Bindung des Sicherheitsrates an die Ziele und Grundsätze der
Vereinten Nationen (Art. 24 Abs. 2 Satz 1 SVN)
Art. 24 Abs. 2 Satz 1 der Charta verpflichtet den Sicherheitsrat zur Beachtung der
Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen.1148 Aus dem Wortlaut, insbesondere
1144
Siehe dazu bereits oben 3.Kp. C.III.
1145
Bothe/Marauhn, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the International Community (2002), S. 236.
1146
So allgemein für Maßnahmen auf der Grundlage von Art. 41 SVN Tomuschat, in: FS ArangioRuiz (2004), S. 1759. Allerdings handelt es sich um eine eher theoretische Frage, da kaum denkbar
erscheint, dass die Verwaltung eines Krisengebietes durch die UN dauerhaft die einzige Möglichkeit
bleibt, die von dem Gebiet ausgehende Friedensbedrohung zu beseitigen. Dies zeigt nicht zuletzt der
Umstand, dass es einen solchen Fall dauerhafter internationaler Verwaltung bisher nicht gegeben hat
und sich auch im Falle des auf Dauer angelegten Freien Territoriums Triest im Ergebnis nicht als
erforderlich erwiesen hat.
1147
Siehe dazu unten 4.Kp. E.II und III.
1148
Zur Frage, ob diese Norm lediglich deklaratorischen Charakters ist, weil sich eine entsprechende
Bindung bereits aus der Eigenschaft des Sicherheitsrates als Organ der Organisation ergibt, siehe
227
der Großschreibung von „Ziele und Grundsätze“ im englischen, französischen und
spanischen Original, ergibt sich, dass es sich hierbei um einen direkten Verweis auf
die ersten beiden Artikel der Charta handelt.1149 Auch die Präambel wird man zur
näheren Bestimmung der Ziele und Grundsätze heranziehen dürfen.1150
Dass Art. 1 und 2 SVN sehr offen und unpräzise formuliert sind,1151 hindert sie nicht
daran, einen rechtlichen Maßstab und eine Grenze für die Handlungen des
Sicherheitsrates zu bilden.1152 So geht auch der IGH davon aus, dass die Ziele und
Grundsätze der Organisation justiziable Normen enthalten. Er stellte beispielsweise
fest, dass der durch die Errichtung eines Apartheidssystems in Namibia bedingte
Entzug fundamentaler Menschenrechte einen schwerwiegenden Verstoß Südafrikas
gegen die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen bedeutete.1153 Gleiches
stellte der IGH hinsichtlich der Geiselnahme amerikanischer Diplomaten im
befürwortend Martenczuk, Rechtsbindung und Rechtskontrolle (1996), S. 157 f., sowie ablehnend
Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 142 f., und Schweigman, Authority (2001), S. 168 (jeweils
m.w.N.).
1149
Goodrich/Hambro, UN Charter (1949), S. 207; Dicke-Rengeling, Sicherung des Weltfriedens
(1975), S. 58; diesen folgend Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 144; Tomuschat, in: FS
Kooijmans (2002), S. 340. Im Ergebnis auch Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 287 f.;
Degni-Segui, Article 24 (1991), 447 (462); Herbst, Rechtskontrolle (1999), S. 298;Schweigman, Authority (2001), S. 167.
1150
Fassbender, UN Security Council Reform and the Right of Veto (1998), S. 316; Schweigman,
Authority (2001), S. 169.
Gill, NYIL 26 (1995), 33 (73). Allgemein zur Charta Watson, Harvard ILJ 34 (1993), 1 (34): „The
Bill of Rights may seem hopelessly vague to students of the U.S. Constitution, but it is a model of clarity and detail compared with the corresponding provisions of the U.N. Charter.”
1151
1152
So aber Randelzhofer, in: Wolfrum (Hrsg.), United Nations (1995), S. 996 Rn. 7; Martenczuk,
Rechtsbindung und Rechtskontrolle (1996), S. 208-213, Martenczuk, EJIL 10 (1999), 517 (537).
Zweifelnd auch Koskenniemi, EJIL 6 (1995), 325 (327): „Textual constraint is practically nonexistent”, und Frowein/Krisch, Introduction to Chapter VII (2002), Rn. 26: „guidelines rather than
concrete limits”. Für eine rechtlich begrenzende Wirkung dagegen Gowlland-Debbas, AJIL 88
(1994), 643 (663); Akande, ICLQ 46 (1997), 309 (317); Fassbender, UN Security Council Reform and
the Right of Veto (1998), S. 316; Schweigman, Authority (2001), S. 168; Doehring, SelfDetermination (2002), Rn. 1; Shaw, Int’l. Law (2003), S. 1148; de Wet, Chapter VII Powers (2004),
S. 191. Richter Weeramantry führt dazu in seinem Sondervotum im Lockerbie-Fall aus: „The duty is
imperative and the limits are categorically stated.“ (Weeramantry, Diss. Op., IGH, 1971 Montreal
Convention (prov. measures ), ICJ-Rep. 1992, 169 [171]).
IGH, Namibia-Gutachten, ICJ-Rep. 1971, 16 (57, § 131): „To establish (...), and to enforce, distinctions, exclusions, restrictions and limitations exclusively based on grounds of race, color, descent
or national or ethnic origin which constitute a denial of fundamental human rights is a flagrant violation of the purposes and principles of the Charter.“
1153
228
Teheraner-Geisel-Fall fest.1154 Art. 1 Ziff. 3 SVN enthält somit trotz seines vagen
Wortlauts menschenrechtliche Verpflichtungen,1155 die nicht nur die Mitgliedstaaten,
sondern gemäß Art. 24 Abs. 2 Satz 1 SVN auch den Sicherheitsrat treffen. Gleiches
muss auch für Art. 1 Ziff. 2 SVN im Hinblick auf das dort angesprochene
Selbstbestimmungsrecht gelten.1156
Auch der Sicherheitsrat selbst hat sich regelmäßig zu der Verpflichtung auf die Ziele
und Grundsätze der Vereinten Nationen bekannt.1157 Innerhalb des ihm von der
Charta gegebenen weiten Ermessens- oder Beurteilungsspielraumes sollte die
Bindung an die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen nach dem Willen der
Gründungsstaaten die einzige Grenze der Sicherheitsratsbefugnisse unter Kapitel VII
der Charta sein.1158 Damit ist noch nichts zum genauen Umfang dieser
Verpflichtungen gesagt.1159 Zunächst reicht aber die Feststellung aus, dass sich
grundsätzlich solche Verpflichtungen aus den Zielen und Grundsätzen der
Organisation ergeben können.
1.
Die relevanten Ziele und Grundsätze
Während sich die Ziele des Art. 1 SVN allein auf die Vereinten Nationen beziehen,
richten sich die in Art. 2 SVN niedergelegten Grundsätze in erster Linie an die
IGH, Diplomatic and Consular Staff (Judgment), ICJ-Rep. 1980, 3 (42, § 91): „Wrongfully to
deprive human beings of their freedom and to subject them to physical constraint in conditions of
hardship is in itself manifestly incompatible with the principles of the Charter of the United Nations
(…).”
1154
1155
Schwelb, Human Rights Clauses, AJIL 66 (1972), 337 (348 f.), ihm folgend Schwebel, Human
Rights (1996), S. 336.
1156
Doehring, Self-Determination (2002), Rn. 1.
1157
Siehe beispielsweise Annex I, S/RES/1318 (2000) vom 7.9.2000 oder Präambel-§ 6 S/RES/1296
(2000) vom 19.4.2000. Weitere Nachweise bei Herbst, Rechtskontrolle (1999), S. 303; und Oette,
Wirtschaftssanktionen (2003), S. 219.
1158
Akande, ICLQ 46 (1997), 309 (316). Siehe auch Degni-Segui, Article 24 (1991), 447 (467); und
Ratner, in: Malone (Hrsg.), Security Council (2004), S. 592 f. Dass Art. 24 Abs. 2 Satz 1 SVN dem
Sicherheitsrat nicht erlaubt, die in anderen als Art. 1 und 2 SVN niedergelegten Voraussetzungen
seines Tätigwerdens zu ignorieren, hat der IGH bereits in seinem Gutachten betreffend der Zulassung
von Staaten zu den Vereinten Nationen festgestellt (IGH, Conditions of Admission (Gutachten), ICJRep. 1947/48, 57 [64]).
1159
Konkret zu den Grenzen, die sich aus einzelnen Menschenrechten, dem Selbstbestimmungsrecht
und dem Recht der Staaten auf Achtung ihrer territorialen Integrität ergeben können, siehe unten
4.Kp. E.
229
Mitgliedstaaten. Aus Art. 2 SVN lassen sich daher materielle Grenzen für die
Befugnisse des Sicherheitsrates nur aus seiner Ziffer 1 (souveräne Gleichheit der
Staaten) und seiner Ziffer 7 (innere Angelegenheiten der Mitgliedstaaten)
herleiten.1160
Im
Kontext
einer
durch
den
Sicherheitsrat
eingerichteten
Zwangsverwaltung eines Krisengebietes sind dabei vor allem jene Ziele und
Grundsätze von Bedeutung, die Rechte der Staaten gegenüber der UN (Art. 1 Ziff. 1
sowie Art. 2 Ziff. 1 und Ziff. 7 SVN), das Selbstbestimmungsrecht (Art. 1 Ziff. 2
SVN) und die Wahrung der Menschenrechte (Art. 1 Ziff. 3 SVN) betreffen.
a. Friedenssicherung
Als erstes Ziel nennt Art. 1 Ziff. 1 SVN die Wahrung des Weltfriedens und der
internationalen Sicherheit, dessen Erreichen gemäß Art. 24 Abs. 1 SVN die
Hauptaufgabe des Sicherheitsrates ist und der sich zu diesem Zweck unter Anderem
der ihm in Kapitel VII der Charta eingeräumten Befugnisse bedienen darf. Die
Verwaltungskompetenz des Sicherheitsrates begrenzt das in Art. 1 Ziff. 1 SVN
genannte Ziel jedoch zunächst nur insoweit, als eine Gebietsverwaltung die Wahrung
des Weltfriedens nicht beeinträchtigen darf. Eine entsprechende Beschränkung der
Verwaltungskompetenz ergibt sich aber bereits aus Art. 24 Abs. 1 und Art. 39 SVN,
sodass Art. 1 Ziff. 1 SVN insofern als Befugnisschranke unergiebig ist.1161
b. Selbstbestimmungsrecht der Völker und Menschenrechte
Eine Begrenzung der Verwaltungskompetenz könnten jedoch das in Art. 1 Ziff. 2
SVN genannte Selbstbestimmungsrecht und die in Art. 1 Ziff. 3 SVN aufgeführten
Menschenrechte und Grundfreiheiten darstellen.1162 Indes lässt sich dem Wortlaut
der Normen noch keine unmittelbare Bindung des Sicherheitsrates an diese
Rechtssätze entnehmen. Denn Art. 1 Ziff. 2 SVN ist lediglich als Zielbestimmung
1160
Art. 2 Ziff. 6 SVN richtet sich zwar an die Organisation, enthält aber eine Aufgabenzuweisung,
keine Kompetenzbegrenzung. Siehe hierzu Vitzthum, Art. 2 Ziff. 6 SVN (2002), Rn. 23.
1161
Siehe aber nachfolgend (4.Kp. A.III und B.III) die Diskussion der Frage, welche Auswirkungen
die in Art. 1 Ziff. 1 SVN getroffene Unterscheidung zwischen kollektiven Maßnahmen und friedlicher
Streitbeilegung für die Bindung des Sicherheitsrates an allgemeines Völkerrecht hat.
1162
Zu Recht weist jedoch Tomuschat, Human Rights (2003), S. 128, darauf hin, dass der
Sicherheitsrat ursprünglich nicht als Organ zum Schutz der Menschenrechte konzipiert wurde.
230
formuliert:1163
„2. To develop friendly relations among nations based on the respect for the
principal of equal rights and self-determination of peoples (...).“
Die eigentliche Pflicht zur Beachtung des Selbstbestimmungsrechts obliegt dem
Wortlaut nach nicht den Vereinten Nationen, sondern Mitgliedstaaten, die es in ihren
Beziehungen untereinander beachten sollen. Dagegen ist die Organisation nur damit
beauftragt, für die Entwicklung derartiger zwischenstaatlicher Beziehungen zu
sorgen. Ähnliches gilt gemäß Art. 1 Ziff. 3 SVN für die Förderung der
Menschenrechte:
„3. To achieve international co-operation in (…) promoting and encouraging
respect for human rights and for fundamental freedoms for all without distinction as to race, sex, language, or religion (…).”
Auch
hier
sollen
die
Vereinten
Nationen
lediglich
eine
internationale
Zusammenarbeit bei der weltweiten Förderung der Einhaltung der Menschenrechte
sicherstellen.1164
Dennoch erstarken diese Zielbestimmungen im Kontext einer unmittelbaren
Gebietsverwaltung durch die UN zu einer Rechtspflicht zur Beachtung und zum
Schutz
der
Menschenrechte
und
des
Selbstbestimmungsrechts.
Für
die
Menschenrechte ergibt sich dies bereits aus Art. 55 lit.c) SVN, der den Vereinten
Nationen die Förderung der universellen Beachtung der Menschenrechte und
Grundfreiheiten auferlegt. Universell kann in diesem Zusammenhang letztlich aber
nur eine Beachtung dieser Normen durch alle relevanten Akteure sein, mithin auch
1163
Cassese, Political Self-Determination (1979), S. 138.
1164
Kritisch daher zur Gleichstellung der Pflicht zur Förderung mit einer Pflicht zur Gewährleistung
von Menschenrechten Mégret/Hoffmann, HRQ 25 (2003), 314 (324). Wie hier auch
Goodrich/Hambro/Simons, UN Charter (1969), S. 35. Partsch, in: Wolfrum (Hrsg.), United Nations
(1995), S. 606 Rn. 14, beschreibt die Verankerung der Menschenrechte in der Charta als „a programme for further action [which] leaves wide discretion to UN organs to determine which human
rights shall be protected and how this protection shall be organized.“ Die vom ECOSOC eingesetzte
UN Menschenrechtskommission vertrat bis in die späten 1960er Jahre eine sehr zurückhaltende „no
power to take action“-Doktrin, weil den UN eben nur die Förderung (promotion), nicht aber der
Schutz (protection) der Menschenrechte aufgetragen sei (Nowak, Human Rights Regime (2003), S.
106).
231
durch die Organisation selbst und ihre Organe.1165
Ferner agieren die Vereinten Nationen als Verwaltungsmacht nicht mehr rein
zwischenstaatlich
auf
internationaler
Ebene,
sondern
üben
unmittelbare
Hoheitsbefugnisse gegenüber der Bevölkerung eines Gebietes aus. Somit hat die UN
selbst
die
Möglichkeit,
unmittelbar
auf
die
völkerrechtlich
geschützten
Rechtspositionen der Bewohner einzuwirken. Es fehlt insoweit an einem
zwischengeschalteten Staat, den die UN durch die Entwicklung und Förderung
entsprechender
internationaler
Zusammenarbeit
zu
einer
Achtung
der
Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts veranlassen könnte.1166 Ihrem
Auftrag aus Art. 1 Ziff. 2 und 3 SVN werden die Vereinten Nationen im Falle einer
UN-Verwaltung eines Krisengebietes daher nur gerecht, wenn sie selbst die
Menschenrechte und das Selbstbestimmungsrecht der Gebietsbewohner schützen und
achten.1167
Zwar ließe sich streng am Wortlaut argumentieren, dass Art. 1 Ziff. 2 und Ziff. 3
SVN den Vereinten Nationen nicht auferlegt, unmittelbar die Beachtung der
Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts zu fördern, sondern sie lediglich
dazu verpflichtet, die Entwicklung dahingehender internationaler Beziehungen zu
unterstützen. Doch kann die UN die Entwicklung solcher Beziehungen nur dann
wirksam fördern, wenn sie das Selbstbestimmungsrecht und die Menschenrechte
selbst in jenen Situationen wahrt, in denen sie dazu in der Lage ist, weil sie selbst
unmittelbar Hoheitsbefugnisse gegenüber Einzelnen und Gruppen ausübt.1168 Ihrer
Förderpflicht aus Art. 1 Ziff. 2 und 3 SVN kommt die UN nur dann nach, wenn sie
ihrer Vorbildfunktion in der internationalen Gemeinschaft gerecht wird, da sie nur
dann auch von anderen wirksam und glaubhaft die Einhaltung menschenrechtlicher
1165
So für den Sicherheitsrat Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 155.
1166
Auf das Fehlen eines zwischengeschalteten Staates verweist auch Tomuschat, Human Rights
(2003), S. 87.
1167
Für die Tätigkeit des Sicherheitsrates allgemein Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 155, und
konkret für das humanitäre Völkerrecht Gasser, SZIER 4 (1994), 443 (463).
1168
Reinisch, AJIL 95 (2001), 851 (875). Ähnlich Akande, ICLQ 46 (1997), 309 (323), und Schreuer,
in: FS Zemanek (1994), S. 243.
232
Standards verlangen kann.1169
Art. 24 Abs. 2 Satz 1 SVN in Verbindung mit Art. 1 Ziff. 2 und 3 SVN verpflichtet
den
Sicherheitsrat
daher
grundsätzlich,
bei
der
Ausübung
seiner
Verwaltungskompetenz das Selbsbestimmungsrecht und die Menschenrechte der
Bewohner des Gebiets zu beachten. Art. 1 Ziff. 2 und 3 SVN lassen offen, welchen
Gehalts die vom Sicherheitsrat zu beachtenden Rechte der Gebietsbewohner sind.
Lediglich das in Art. 1 Ziff. 3 SVN a.E. niedergelegte Diskriminierungsverbot wird
man als hinreichend bestimmt ansehen können, um unmittelbar anwendbar zu sein.
c. Souveränität der Mitgliedstaaten
Deutlich schwächer ist in der Charta der Schutz der staatlichen Souveränität der
Mitgliedstaaten gegenüber Zwangsmaßnahmen des Sicherheitsrates ausgestaltet. So
ist der Schutz der mitgliedstaatlichen Souveränität keines der in Art. 1 SVN explizit
genannten Ziele der Organisation. Die in Art. 1 Ziff. 2 und Ziff. 4 enthaltenen
Verweise auf „friendly relations among nations“ und „actions of nations in the
attainment of the common ends“ zeigen lediglich, dass die Charta grundsätzlich von
einem Fortbestehen organisatorischer Einheiten unterhalb der Ebene der Vereinten
Nationen ausgeht. Dabei spricht die Charta nur von „nations“, nicht von „states“, so
dass die Erhaltung der Mitgliedstaaten und ihrer Souveränität1170 jedenfalls nicht zu
den Primärzielen der Organisation gehört.1171 Explizite Verweise auf die
Souveränität der Mitgliedstaaten finden sich dagegen in den Grundsätzen
1169
Ähnlich Gardam, Michigan JIL 17 (1996), 285 (322), für militärische Zwangsmaßnahmen des
Sicherheitsrates. Eine vergleichbare Argumentation findet sich bei IGH, Awards of Admin. Tribunal,
ICJ-Rep. 1954, 47 (57) hinsichtlich der Einrichtung eines UN-Verwaltungsgerichts für Streitigkeiten
zwischen der Organisation und ihren Mitarbeitern: „It would, in the opinion of the Court, hardly be
cosistent with the expressed aim of the Charter to promote freedom and justice for individuals and
with the constant preoccupation of the United Nations Organization to promote this aim that it should
afford no judicial or arbitral remedy to its own staff for the settlement of any disputes that may arise
between it and them.“
1170
Kelsen, Principles (1952), S. 156 f., und Fassbender/Bleckmann, Art. 2 Ziff. 1 SVN (2002), Rn. 48,
folgend wird Souveränität vorliegend als Sammelbegriff für alle Rechte und Pflichten verwendet, die
das gegenwärtige Völkerrecht den Staaten zugesteht. Dazu gehört insbesondere ihr Recht auf
politische Unabhängigkeit und territoriale Integrität.
So wandte Australien gegen das Projekt „Freies Territorium Triest“ ein, dass die Charta dem
Sicherheitsrat keine Befugnis gäbe, das Fortbestehen eines Staatswesens zu garantieren (S.C.O.R., 91st
mtg., 10.1.1047, S/P.V./91, 62 [63]). Zum Triest siehe bereits oben 2.Kp.B.
1171
233
(„Principles“) der Vereinten Nationen. So erklärt Art. 2 Ziff. 1 SVN, dass die
Organisation auf der souveränen Gleichheit ihrer Mitglieder beruht, während Art. 2
Ziff. 7 SVN der UN einen Zugriff auf den sog. domaine réservé ihrer Mitgliedstaaten
untersagt. Von diesem Verbot nimmt Art. 2 Ziff. 7 SVN indes Zwangsmaßnahmen
des Sicherheitsrates explizit aus.1172
Dennoch ist die Souveränität der Staaten gegenüber Zwangsmaßnahmen nicht
gänzlich ungeschützt. Art. 2 Ziff. 7 SVN a.E. schneidet den Mitgliedstaaten lediglich
den Einwand ab, eine Zwangsmaßnahme des Sicherheitsrates sei eine unzulässige
Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten.1173 Gerade die Ausnahme des Art. 2
Ziff. 7 SVN macht aber deutlich, dass auch der Sicherheitsrat grundsätzlich zur
Beachtung der Souveränität der UN-Mitglieder verpflichtet ist.1174 Die eigentliche
Verpflichtung folgt jedoch aus Art. 2 Ziff. 1 SVN, der die souveräne Gleichheit der
Staaten insgesamt zum Grundprinzip der Vereinten Nationen erhebt. 1175 Wie sich aus
dem Wortlaut des Art. 2 SVN ergibt, bindet dieses nicht nur die Mitglieder in ihrem
Verhältnis untereinander, sondern auch die Organisation selbst im Verhältnis zu
ihren Mitgliedstaaten.1176 Zu Recht hat sich der Sicherheitsrat daher regelmäßig zum
Schutz der staatlichen Souveränität bekannt.1177
1172
Zu Recht stellt Gill, NYIL 26 (1995), 33 (73), daher fest, dass das Interventionsverbot die
Mitgliedstaaten untereinander sehr viel stärker bindet als die Organisation.
1173
In diesem Sinne auch Schweigman, Authority (2001), S. 178.
Schachter, Int’l. Law (1991), S. 399; beschränkt auf den Kernbereich auch Schweigman, Authority
(2001), S. 173, und de Wet, Chapter VII Powers (2004), S. 194 f.
1174
1175
Gill, NYIL 26 (1995), 33 (85).
1176
Fassbender/Bleckmann, Art. 2 Ziff. 1 SVN (2002), Rn. 47. Auch die in der Generalversammlung
vereinigten UN-Mitliedstaaten bekannten sich in der Milleniums-Erklärung zur Staatensouveränität:
„(...) We rededicate ourselves to support all efforts to uphold the sovereign equality of all States,
respect for their territorial integrity and political independence (...)” (§ 5 A/RES/55/2 vom 8.9.2000,
abgedr. in UNYB 2000, 49-54). Ähnlich auch Boutros-Ghali, Agenda for Peace (1992), § 17 u. § 30:
„In these situations of internal crisis the United Nations will need to respect the sovereignty of the
State; to do otherwise would not be in accordance with the understanding of Member States in accepting the principles of the Charter.”
1177
Siehe beispielsweise die Erklärung des Sicherheitsratspräsidenten S/PRST/1999/34 vom
30.11.1999; Art. I § 1 der Millenium Summit Declaration des Sicherheitsrates, S/RES/1318 (2000)
Annex vom 7.9.2000 (abgedr. in UNYB 2000, 64 f.); Präambel-§ 4 S/RES/1353 (2001) vom
13.6.2001; Präambel-§ 4 S/RES/1366 (2001) vom 30.8.2001. Für die Organisation insgesamt siehe §
4 der Milleniums Declaration der Generalversammlung, einstimmig verabschiedet als A/RES/55/2 am
8.9.2000 (abgedr. in UNYB 2000, 49-54).
234
Auch wenn der Schutz der mitgliedstaatlichen Souveränitätsrechte somit nicht zu den
vorgegebenen Zielen des Sicherheitsrates gehört, so ist dieser dennoch nach Art. 24
Abs. 2 Satz 1 SVN in Verbindung mit Art. 2 Ziff. 1 SVN verpflichtet, sie bei der
Ausübung von Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII zu berücksichtigen,1178 wenn
auch nicht zu wahren. Denn die Ausnahmeregelung des Art. 2 Ziff. 7 SVN a.E.
ordnet den Schutz der mitgliedstaatlichen Souveränität klar dem Ziel der
Friedenswahrung unter. Aus Art. 24 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 2 Ziff. 1
und Ziff. 7 SVN folgt daher nur, dass der Sicherheitsrat bei und durch die
Einrichtung einer Zwangsverwaltung nicht weiter in die Souveränität des betroffenen
Staates eingreifen darf, als dies zur Wahrung des Weltfriedens und der
internationalen Sicherheit erforderlich ist. Diese Grenze wird dem Sicherheitsrat
letztlich aber bereits durch Art. 39 SVN gezogen.1179 Der Grundsatz der
Staatensouveränität bewirkt daher für sich genommen keine weiter gehende
Beschränkungen der Befugnis des Sicherheitsrates, ein Krisengebiet auf der
Grundlage von Kapitel VII der Charta auch gegen den Willen des betroffenen Staates
zu verwalten.1180
2.
Einschränkung der Bindung durch eine Hierarchie der Ziele?
Fraglich ist, ob der Sicherheitsrat an alle Ziele und Grundsätze mit gleicher Intensität
gebunden ist oder ob einem oder einigen von ihnen Vorrang gebührt. Nicht immer
wird dem Sicherheitsrat eine gleichmäßige Beachtung aller Ziele und Grundsätze
möglich sein. Gerade die den UN-Verwaltungen in Ostslavonien und im Kosovo
zugrunde
liegenden
Krisen
zeigen,
dass
Staatensouveränität
und
Selbstbestimmungsrecht in Konflikt geraten können. Umgekehrt mag es dem
Sicherheitsrat mangels Ressourcen schwerfallen, die zu einer Krisenbeseitigung
gebotene Einrichtung einer UN-Verwaltung kurzfristig so zustande zu bringen, dass
die Menschenrechte der Betroffenen uneingeschränkt gewahrt bleiben. In diesen
1178
Gading, Souveränität (1996), S. 220 f., und die oben in Fn. 1174 Genannten.
1179
Siehe oben 4.Kp. A.I.
1180
Weitergehend Schweigman, Authority (2001), S. 173, der den Sicherheitsrat durch Art. 2 Ziff. 1
SVN daran gehindert sieht, dauerhafte Souveränitätseinschränkungen eines Staates anzuordnen.
Ausführlicher zu den Auswirkungen des Anspruchs der Staaten auf Achtung ihrer territorialen
Souveränität auf die Verwaltungskompetenz des Sicherheitsrates unten 4.Kp. E.VI.
235
Fällen muss die Verfolgung eines Zieles oder Grundsatzes zugunsten eines anderen
zurückgestellt werden. Art. 24 Abs. 2 Satz 1 der Charta sieht keine abgestufte oder
unterschiedlich starke Bindung des Rates an die verschiedenen Ziele und Grundsätze
der Organisation vor. Eine unterschiedliche Bedeutung der Ziele und Grundsätze in
Form einer Hierarchie könnte sich jedoch aus dem Wortlaut der Art. 1 und 2 SVN
und der Aufgabenteilung innerhalb der Vereinten Nationen ergeben.
a. Die Grundentscheidung der Charta für den Vorrang der Friedenssicherung
Für eine solche Hierarchie spricht zunächst einmal die Reihenfolge der Ziele und
Grundsätze in der Charta, welche die Wahrung des Weltfriedens und der
internationalen Sicherheit an die erste Stelle setzt.1181 Das entspricht der zentralen
Bedeutung, welche die Gründerstaaten – erkennbar am Wortlaut der Präambel1182 –
der Friedenswahrung durch die Vereinten Nationen zumaßen.1183 Auch der Umstand,
dass die Charta allein für das Ziel der Friedenswahrung einen zentralen
Durchsetzungsmechanismus
geschaffen
hat,
unterstreicht
ihren
besonderen
Stellenwert innerhalb des UN-Systems.1184
Für einen Vorrang der Friedenswahrung spricht ferner, dass allein diese nach der
Charta die spezifische Aufgabe des Sicherheitsrates ist, der anders als die
Generalversammlung nicht als allzuständiges Organ konzipiert ist.1185 Die Förderung
der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts weist die Charta dagegen in
den Art. 60, Art. 62 Abs. 2 und Art. 68 SVN explizit der Generalversammlung und
dem ihr unterstellten ECOSOC zu. Ebenso betraut sie in Art. 87 f. i.V.m. Art. 76
1181
Gowlland-Debbas, AJIL 88 (1994), 643 (677); Randelzhofer, in: Wolfrum (Hrsg.), United Nations
(1995), S. 996 Rn. 8; Oette, Wirtschaftssanktionen (2003), S. 241 f. Für den Vorrang der
Friedenswahrung auch Dahm, Völkerrecht II (1961), S. 151.
Sie beginnt mit: „We the people of the United Nations determined to save succeeding generations
from the scourge of war, which twice in our lifetime has brought untold sorrow to mankind, (...).”
1182
1183
Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 14; Koskenniemi, EJIL 6 (1995), 325 (334 f.);
Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 169; jeweils m.w.N.
1184
Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 170.
1185
Zur Dichotomie in der Aufgabenverteilung innerhalb der Vereinten Nationen zwischen
Sicherheitsrat (Sicherheitspolitik) und den übrigen Organen, insbes. der Generalversammlung
(wirtschaftliche, soziale und humanitäre Entwicklung) siehe Koskenniemi, EJIL 6 (1995), 325 (335
f.).
236
SVN den Treuhandrat mit der Förderung und Sicherung der Menschenrechte und des
Selbstbestimmungsrechts in den Treuhandgebieten.1186
Doch auch der Wortlaut der Art. 1 Ziff. 1, Ziff. 2 und Ziff. 3 SVN lässt einen
Vorrang der Friedenssicherung erkennen:
„The Purposes of the United Nations are: 1. To maintain international peace
and security, and to that end: to take effective measures for the prevention and
removal of threats to the peace (…).”
Art. 1 Ziff. 1 SVN enthält geradezu eine Erfolgsverpflichtung der Vereinten
Nationen. Insbesondere sind sie angehalten, konkrete und effektive Maßnahmen zu
diesem
Zweck
zu
ergreifen.
Demgegenüber
ist
die
Bindung
an
das
Selbstbestimmungsrecht und die Menschenrechte dem Wortlaut nach nur eine
indirekte. Wie bereits ausgeführt1187 sind Art. 1 Ziff. 2 und 3 SVN lediglich als
Förderziele formuliert, wobei nicht einmal unmittelbar die Menschenrechte und das
Selbsbestimmungsrecht,
sondern
lediglich
eine
diese
Rechte
beachtende
internationale Zusammenarbeit gefördert werden soll.
Zwar wird man zu Recht sagen können, dass eine klare Missachtung der
Menschenrechte oder des Selbstbestimmungsrechts seitens der Vereinten Nationen
der Förderung entsprechender zwischenstaatlicher Beziehungen beziehungsweise
Kooperationen kaum dienlich sein dürfte. Dennoch besteht dem Wortlaut nach ein
klarer Unterschied zwischen den in Art. 1 Ziff. 2 und 3 SVN postulierten indirekten
Förderpflichten und der in Art. 1 Ziff. 1 SVN niedergelegten Verpflichtung, effektive
Maßnahmen zur Erreichung beziehungsweise Erhaltung des Rechtsgutes selbst zu
ergreifen. Es spricht daher einiges dafür, dem Ziel der Friedenswahrung im Falle
einer
Kollision
Vorrang
zu
gewähren
vor
der
Beachtung
des
1186
Eine Rückausnahme muss insofern für die sog. strategischen Gebiete i.S.d. Art. 82 SVN gemacht
werden, für die der Sicherheitsrat gemäß Art. 83 Abs. 1 SVN die Aufgaben des Treuhandrates
übernimmt. Für diese gelten gemäß Art. 83 Abs. 2 SVN auch die Ziele des Art. 76 SVN, so dass der
Sicherheitsrat in diesen Gebieten ebenfalls mit der Überwachung der Einhaltung der Menschenrechte
und des Selbstbestimmungsrechts betraut ist. Andererseits unterstreicht gerade die Herausnahme
dieser Gebiete aus dem allgemeinen Treuhandsystem die grundsätzliche Vorrangstellung der
Friedenssicherung innerhalb der Vereinten Nationen. Zum Treuhandsystem insgesamt und den
strategischen Gebieten siehe oben 3.Kp. F.
1187
Siehe oben 4.Kp. A.II.1.b.
237
Selbstbestimmungsrechts und der Menschenrechte.1188
Einem grundsätzlichen Vorrang des Ziels der Friedenssicherung wird nicht zu
Unrecht entgegengehalten, Menschenrechte und Selbstbestimmungsrecht hätten seit
dem Inkrafttreten der Charta erheblich an Bedeutung gewonnen und gehörten
nunmehr zu den Kernaufgaben der Organisation.1189 Auch wird diesen Rechten
teilweise ius cogens-Status zugebilligt,1190 so dass sie für die Mitgliedstaaten in
gleicher Weise verpflichtend sind wie das Aggressionsverbot des Art. 2 Ziff. 4 SVN,
das Grundlage des Friedenssicherungssystems der UN ist.1191 Daher, so wird
vertreten, gebe Art. 1 SVN nicht mehr den wirklichen Rang dieser Rechtsgüter
innerhalb der Vereinten Nationen wieder. Auch dürfe der ursprüngliche Wille der
Gründerstaaten nicht überbewertet werden.1192 Die Charta sei ein lebendes
Rechtsinstrument
und
müsse
vor
dem
Hintergrund
der
gegenwärtigen
Rechtsauffassungen der zu ihrer Anwendung berufenen Organe und ihrer
Unterzeichnerstaaten ausgelegt werden.1193 Dann komme man aber zu dem Ergebnis,
dass Friedenswahrung, Selbstbestimmungsrecht und Menschenrechte gleichrangige
1188
Wolfrum, Article 1 (2002), Rn. 5; Starita, RGDIP 108 (2004), 883 (908). Degni-Segui, Article 24
(1991), 447 (463), spricht von der Friedenswahrung als dem „but principal auquel le Conseil tend à
subordonner tous les autres buts et principes (...). Dès lors tous se ramène à ce but et ce but justifie
tout.“ Für eine solche Hierarchie der Ziele auch Goodrich/Hambro/Simons, UN Charter (1969), S. 26.
Noch weitergehend Zwanenburg, Accountability (2004), S. 154 f. u. 218, der jegliche Bindung des
Sicherheitsrates aus Art. 1 Ziff. 3 SVN für den Fall verneint, dass der Rat auf der Grundlage von
Kapitel VII der Charta tätig wird.
1189
Koskenniemi, EJIL 6 (1995), 325 (337); Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 171, ähnlich
Gardam, Michigan JIL 17 (1996), 285 (304). Für den Schutz der Menschenrechte als Aufgabe des
Sicherheitsrates auch ICTR, Kanyabashi-Fall (Entscheidung v. 18.6.1997), § 29. Für das
Selbstbestimmungsrecht als einen von der Friedenswahrung unabhängigen und absoluten Wert auch
Cassese, Political Self-Determination (1979), S. 147. Einen Überblick über die zunehmende
Bedeutung der Menschenrechte für die Tätigkeit des Sicherheitsrates geben Bailey, Security Council
and Human Rights (1994) und Ramcharan, Protection of Human Rights (2002).
ILC, Commentary on Art. 33 DASR, ILCYB 1980 II 2, 34 (46) – zu humanitärem Völkerrecht;
American Law Inst., Restatement III (1987), § 702 (n) – zu einzelnen Menschenrechten; Hannikainen,
Peremptory Norms (1988), S. 421 u. 519; Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht (1992), S. 273 u. 314;
Frowein, Jus Cogens, EPIL III (1997), 65 (67); Schweigman, Authority (2001), S. 200; Reinisch,
AJIL 95 (2001), 851 (860), jeweils m.w.N. Zur Bindung des Sicherheitsrates an ius cogens siehe
unten 4.Kp. B.III. und C.II.
1190
1191
Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 171.
1192
Doehring, Self-Determination (2002), Rn. 1; Tomuschat, in: FS Arangio-Ruiz (2004), S. 1754.
1193
Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 172; Gowlland-Debbas, in: dies. (Hrsg.), UN Sanctions
(2001), S. 15; Tomuschat, in: FS Arangio-Ruiz (2004), S. 1752 f.
238
Ziele der Vereinten Nationen seien und der Sicherheitsrat sie deshalb gleichwertig
berücksichtigen müsse.1194
Dieser Ansatz berücksichtigt indes die unterschiedlichen zeitlichen Dimensionen der
in Art. 1 SVN aufgeführten Ziele nicht ausreichend. Art. 1 Ziff. 2 und 3 SVN sind
langfristige Ziele. Sie setzen es der Organisation zur Aufgabe, die genannten Werte
dauerhaft in der Staatengemeinschaft zu verankern und so zur langfristigen Erhaltung
des Weltfriedens beizutragen.1195 Dagegen zielt Art. 1 Ziff. 1 SVN darauf ab,
konkrete Bedrohungen des Weltfriedens durch Ergreifen effektiver Maßnahmen
einzudämmen und zu beseitigen. Dies ist die originäre Polizeifunktion des
Sicherheitsrates.1196 Daneben hat die Friedenswahrung selbstverständlich auch eine
langfristige Komponente. Diese wird aber weitgehend von Art. 1 Ziff. 2 SVN
abgedeckt, dessen Ziel, die Entwicklung guter zwischenstaatlicher Beziehungen,
eben der (langfristigen) Stärkung des Weltfriedens dienen soll.1197 Handelt es sich
bei der Förderung des Selbstbestimmungsrechts und der Menschenrechte aber um
langfristige Ziele, so kann es nach dem ursprünglichen Konzept der Charta nur in
zwei Fällen zu einem echten Zielkonflikt kommen: erstens durch eine konkrete
Intervention des Sicherheitsrates mit derart desaströsen Folgen, dass die langfristige
Verankerung der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts in der
Staatengemeinschaft durch sie gefährdet wird, zweitens durch eine Intervention des
1194
Gowlland-Debbas, ICLQ 43 (1994), 55 (91). Keine Unterschiede in der Bindung an die genannten
Ziele macht auch Gill, NYIL 26 (1995), 33 (72-79). Für eine Gleichrangigkeit aller Ziele und
Grundsätze auch Schweigman, Authority (2001), S. 167-182. In diese Richtung auch Tomuschat, in:
FS Arangio-Ruiz (2004), S. 1764. Zurückhaltender de Wet, Chapter VII Powers (2004), S. 193, die
nur den Kernbereich des Selbstbestimmungsrechts und der grundlegenden Menschenrechte als
gegenüber Kapitel-VII-Maßnahmen geschützt ansieht.
1195
Randelzhofer, in: Wolfrum (Hrsg.), United Nations (1995), S. 997 Rn. 11. Dass dies auch der
Intention der Gründungsstaaten entspricht, belegt Koskenniemi, EJIL 6 (1995), 325 (336 f.).
„It is our view that the people of the world wish to establish a Security Council, that is, a policeman who will say, when anyone starts to fight, ‚Stop fightin’ Period. (…) That is the function of a
policeman, and it must be just that short and that abrupt (…)” – Ausführungen des US-Delegierten
Stassen bei der Konferenz von San Francisco 1945, UNCIO-Doc. 1006/I/6 vom 15.6.1945, abgedr. in
UNCIO VI, 12 (29). Zu dieser Polizeifunktion auch Frowein/Krisch, Introduction to Chapter VII
(2002), Rn. 12 f.
1196
„(...) to strengthen universal peace“, Art. 1 Ziff. 2 SVN a.E. Diesen langfristigen Zusammenhang
betont auch Art. 55 SVN: „With a view to the creation of conditions of stability and well-being which
are necessary for peaceful and friendly relations among nations (...).“
1197
239
Sicherheitsrates zur Friedenssicherung von großer zeitlicher Dauer.1198
Die
Charta
trifft
somit
eine
Grundentscheidung
dahingehend,
dass
der
Friedenssicherung im Falle eines konkreten Zielkonflikts der Vorrang gegenüber den
übrigen Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen einzuräumen ist. Die
Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit war vor dem
Hintergrund beider Weltkriege wesentliches Motiv der Gründung der Organisation
und ist bis heute ihre bestimmende Aufgabe geblieben. Daran ändert auch der
Umstand nichts, dass Förderung und Schutz des Selbstbestimmungsrechts und der
Menschenrechte mittlerweile eine wesentlich bedeutendere Rolle in der Arbeit der
UN spielen, als dies das ursprüngliche Konzept der Charta vorgesehen hatte.1199
Nach wie vor darf der Sicherheitsrat zum Zwecke der Friedenssicherung kollektive
Maßnahmen ergreifen, die wie die Verhängung von Wirtschaftssanktionen oder die
Autorisierung militärischer Bombardements in menschenrechtlich geschützte
Positionen Einzelner eingreifen.
b. Einschränkungen des Vorrangs in der Praxis
Dieser grundsätzliche Vorrang der Friedenssicherung sieht sich jedoch einer Reihe
von Einschränkungen ausgesetzt, die seine Bedeutung in der praktischen Arbeit des
Sicherheitsrates erheblich mindern.
So besteht er nur im Falle eines konkreten Zielkonflikts, d.h. nur insoweit, als es dem
Sicherheitsrat im Einzelfall nicht möglich ist, alle von Art. 1 SVN genannten Ziele
der Organisation mit gleicher Effektivität zu verfolgen. Soweit er dadurch nicht im
Einzelfall die Friedenssicherung gefährdet, bleibt der Sicherheitsrat uneingeschränkt
zur Förderung der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts verpflichtet.1200
Im Umkehrschluss ergibt sich daraus die Pflicht des Rates, seine Maßnahmen so zu
1198
A.A. Oette, Wirtschaftssanktionen (2003), S. 240 f., der einen Zielkonflikt schon dann für gegeben
hält, wenn bei der Verhängung von Zwangsmaßnahmen auch nur die Möglichkeit besteht, dass diese
Menschenrechte verletzen könnten. Dies entspricht aber nicht der Konzeption des Art. 1 SVN.
1199
Siehe dazu auch unten 4.Kp. A.V.
1200
Ähnlich i.E. Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 174 f., die allerdings den Vorrang der
Friedenssicherung durch ius cogens-Normen begrenzt sieht. Zur Bindung des Sicherheitsrates an ius
cogens siehe unten 4.Kp. B.III. und C.II.
240
wählen, dass Menschenrechte und Selbstbestimmungsrecht soweit gewahrt bleiben,
wie dies ohne Beeinträchtung ihrer friedenswahrenden Effektivität möglich ist.1201
Wo
mehrere
Maßnahmen
gleicher
Wirksamkeit
zur
Beseitigung
einer
Friedensbedrohung in Frage kommen, hat der Sicherheitsrat mithin jene zu wählen,
die den übrigen Zielen der Organisation am weitesten gerecht wird.1202
Die Bedeutung des grundsätzlichen Vorrangs der Friedenssicherung wird weiter
eingeschränkt durch die faktische und normative Interdependenz des Ziels der
Friedenswahrung einerseits und der Achtung der Menschenrechte und des
Selbsbestimmungsrechts
andererseits.
Rein
tatsächlich
besteht
ein
engerer
Zusammenhang zwischen dem in Art. 1 Ziff. 1 SVN und den in Art. 1 Ziff. 2 und 3
SVN genanten Zielen, als dies die Gründer der Vereinten Nationen vielleicht
gesehen haben. So haben zahlreiche friedensbedrohende Konflikte ihre Ursache auch
in einer Missachtung des Selbstbestimmungsrechts oder fortgesetzten schweren
Menschenrechtsverletzungen. Ein dauerhafter Friede ist ohne eine Beachtung der
Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts kaum denkbar.1203 Auch die
Vereinten Nationen haben diese Interdependenz seit langem anerkannt.1204 Normativ
findet dieser tatsächliche Zusammenhang seinen Niederschlag in der jüngeren Praxis
des Sicherheitsrates, bei der Feststellung einer Friedensbedrohung nach Art. 39 SVN
1201
Weitergehend Oette, Wirtschaftssanktionen (2003), S. 242, der aus dem Gebot der harmonischen
Auslegung folgert, dass keines der genannten Ziele zum Zwecke der Friedenswahrung gänzlich
missachtet werden dürfe. In diese Richtung auch de Wet, Chapter VII Powers (2004), S. 193. Der
Charta lässt sich ein solches Abwägungsgebot jedoch nicht entnehmen. Siehe dazu auch unten 4.Kp.
D.
1202
Daher ist beispielsweise bei gleicher Effektivität gezielten Sanktionen der Vorrang vor einem
allgemeinen Handelsembargo zu geben bzw. ein Handelsembargo so auszugestalten, dass von der
Bevölkerung dringend benötigte humanitäre Güter nicht erfasst werden. Ausführlich zu den Kriterien
für die Annahme eines Vorrangs der Friedenssicherung im konkreten Einzelfall unten 4.Kp. D.III.3.
Schachter, Int’l. Law (1991), S. 331; Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 173; Irmscher,
GYIL 44 (2001), 353 (369); Weschler, in: Malone (Hrsg.), Security Council (2004), S. 55. Wilde,
Yale HR&DLJ 1 (1998), 107 (118), begründet u.a. mit diesem Argument die Verpflichtung des
UNHCR, bei der Verwaltung von Flüchtlingslagern Menschenrechte zu beachten.
1203
Siehe beispielsweise § 6 S/RES/1031 (1995) vom 15.12.1995: „Welcomes also the parties’ commitment, as specified in the [Dayton] Peace Agreement, to securing to all persons within their jurisdiction the highest level of internationally recognized human rights and fundamental freedoms, stresses that compliance with this commitment is of vital importance in achieving a lasting peace (…).”
Genereller Boutros-Ghali, Agenda for Peace (1992), § 5, und UN, Brahimi-Report (2000), §§ 6 (e), 13
u. § 30. Neuhold, Peace, Threat to, EPIL III (1997), 935 (937) führt ferner Art. 55 SVN selbst als
Anerkenntnis dieser Interdependenz an.
1204
241
das Vorliegen schwerer Menschenrechtsverletzungen als wesentliches Kriterium
heranzuziehen.1205 Es sind daher immer weniger Situationen denkbar, in denen eine
Maßnahme,
die
gegen
fundamentale
Menschenrechte
oder
das
Selbstbestimmungsrecht verstößt, geeignet erschiene, einen effektiven Beitrag zur
Beseitigung einer Friedensbedrohung zu leisten.
3.
Zwischenergebnis
Im Ergebnis ist der Charta nichtsdestoweniger ein noch heute im Grundsatz gültiger
Vorrang der Friedenssicherung vor den übrigen Zielen des Art. 1 SVN zu
entnehmen. Die Friedenswahrung und die Förderung von Selbstbestimmungsrecht
und Menschenrechten stehen nach der Konzeption des Art. 1 SVN in einem
Stufenverhältnis zueinander: Die Sekundärziele sind zu beachten, soweit und solange
dies die effektive Erreichung des Primärziels nicht ausschließt. Die Nachrangigkeit
dieser Rechte gegenüber dem Ziel der Friedenssicherung beruht auf dem Wortlaut
der Art. 1 und 2 SVN und entspricht im Grundsatz auch der bisherigen Praxis des
Sicherheitsrates. Zwischen Selbstbestimmungsrecht (Art. 1 Ziff. 2 SVN) und
Menschenrechten (Art. 1 Ziff. 3 SVN) ist ein solches Stufenverhältnis dagegen nicht
erkennbar. Beide sind vom Sicherheitsrat gemäß Art. 24 Abs. 2 Satz 1 SVN
gleichwertig zu fördern. Etwas schwächer ist auf Grund der expliziten Ausnahme des
Art. 2 Ziff. 7 SVN der Schutz der mitgliedstaatlichen Souveränitätsrechte
ausgestaltet.
Als Zwischenbilanz lässt sich daher festhalten, dass die Verwaltungsbefugnisse des
Sicherheitsrates intern durch seine Bindung an die Ziele und Grundsätze der
Vereinten Nationen begrenzt wird. Zu den Grenzen gehören in einem noch genauer
zu bestimmenden Umfang die Menschenrechte, das Selbstbestimmungsrecht der
Völker und die Souveränität der Staaten (Art. 2 Ziff. 1 SVN).1206 Aufgrund des
grundsätzlichen Vorrangs der Friedenswahrung können diese im Einzelfall
beeinträchtigt werden, sofern dies zur Erreichung des Primärzieles erforderlich ist.
1205
Siehe dazu oben 3.Kp. C.II. und aus jüngerer Zeit die Resolutionen zur Lage in der sudanesischen
Provinz Darfur (z.B. Präambel-§§ 13 f. S/RES/1564 (2004) vom 18.9.2004).
1206
Siehe dazu unten 4.Kp. E.
242
III.
Interne Bindung an allgemeines Völkerrecht durch Art. 1 Ziff. 1 SVN?
Art. 1 Ziff. 1 SVN enthält indes nicht nur das vorrangige Ziel der Friedenssicherung,
sondern trifft auch eine nicht unbedeutende Unterscheidung zwischen der
Verhinderung und Beseitigung akuter Friedensbedrohungen einerseits und der
friedlichen Beilegung zwischenstaatlicher Streitigkeiten und bloß potentieller
Friedensbedrohungen andererseits.1207 Aus dem Umstand, dass Art. 1 Ziff. 1 SVN
nur in seinem zweiten Halbsatz, betreffend die friedliche Streitbeilegung, eine
Verpflichtung zur Beachtung des Völkerrechts enthält, wird vielfach geschlossen,
dass der Sicherheitsrat bei der Bekämpfung von Friedensbedrohungen ohne
Rücksicht auf das allgemeine Völkerrecht handeln darf.1208
Dieser Schluss ist insoweit richtig, als Art. 1 Ziff. 1 SVN nicht nur zwischen zwei
verschiedenen Handlungsweisen des Sicherheitsrates unterscheidet, sondern auch
zwischen den ihnen zugrunde liegenden Rechtsgrundlagen, genauer: zwischen
Kapitel VI und Kapitel VII der Charta.1209 Die von Art. 1 Ziff. 1, 1. Halbsatz SVN
verwendete Formulierung „measures for the prevention and removal of threats to the
peace, and for the supression of acts of aggression or other breaches of the peace“
bezieht sich auf Kapitel VII, das mit „Action with Respect to Threats to the Peace,
Breaches of the Peace, and Acts of Aggression” überschrieben ist. Auch Art. 39
SVN nimmt die Terminologie des Art. 1 Ziff. 1, 1. Halbsatz SVN wieder auf. Unter
„collective measures“ im Sinne des ersten Halbsatzes sind daher Maßnahmen auf
der Grundlage der Art. 41 bis 50 SVN zu verstehen. 1210 Umgekehrt verweist die von
Art. 1 Ziff. 1, 2. Halbsatz SVN verwendete Formulierung „settlement of disputes“
Art. 1 Ziff. 1 SVN lautet: „The Purposes of the United Nations are: 1. To maintain international
peace and security, and to that end: to take effective collective measures for the prevention and removal of threats to the peace, and for the suppression of acts of aggression or other breaches of the
peace, and to bring about by peaceful means, and in conformity with the principles of justice and
international law, adjustment or settlement of international disputes or situations which might lead to
a breach of the peace” (Hervorhebung durch den Verfasser).
1207
1208
Gill, NYIL 26 (1995), 33 (65); Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 146; Frowein/Krisch,
Introduction to Chapter VII (2002), Rn. 27; Zwanenburg, IRRC 86 (2004), 745 (760); einschränkend
Gardam, Michigan JIL 17 (1996), 285 (297 ff.).
1209
Auf diese Unterscheidung zwischen den Rechtsgrundlagen verweisen auch Gading, Souveränität
(1996), S. 46, und Bauer, Effektivität und Legitimität (1996), S. 217.
1210
Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 14; ihm folgend Gading, Souveränität (1996), S. 46.
243
„by peaceful means“ auf das mit „Pacific Settlement of Disputes“ überschriebene
Kapitel VI der Charta.
Angewendet auf die Verwaltung von Krisengebieten durch den Sicherheitsrat ergibt
sich Folgendes: Soweit sie in zulässiger Weise auf der Grundlage der Art. 41 und 42
SVN eingerichtet wurde, handelt es sich bei ihr um eine kollektive Maßnahme im
Sinne des Art. 1 Ziff. 1, 1. Halbsatz SVN, und eben nicht um eine Maßnahme der
friedlichen Streitbeilegung nach Kapitel VI. Nach der von Art. 1 Ziff. 1 SVN
getroffenen Unterscheidung ist der Sicherheitsrat daher bei ihrer Einrichtung und
Durchführung seitens der Charta nicht zur Beachtung allgemeinen Völkerrechts1211
verpflichtet.1212 Eine solche Pflicht kann sich jedoch aus anderen Rechtsgründen
ergeben, was zu einem späteren Zeitpunkt untersucht werden soll.1213
Umgekehrt lässt sich aus Art. 1 Ziff. 1 SVN mit gewissen Einschränkungen der
Umkehrschluss
ziehen,
dass
alle
nicht
auf
Kapitel
VII
gestützten
Territorialverwaltungen der Vereinten Nationen bereits intern durch die Charta zur
Beachtung allgemeinen Völkerrechts verpflichtet sind. Zwar trifft Art. 1 Ziff. 1 SVN
diese Entscheidung nur für Gebietsverwaltungen, die der friedlichen Bereinigung
eines Streitfalls dienen.1214 Allerdings dürfte dies außerhalb der Fälle der
Zwangsverwaltung der Regelfall sein. UN-Verwaltungen, die aufgrund der
Peacekeeping-Kompetenz des Sicherheitsrates eingerichet wurden, sind daher
grundsätzlich an die Prinzipien des Völkerrechts gebunden, wobei fraglich ist, ob
1211
Als allgemeines Völkerrecht werden vorliegend all jene völkerrechtlichen Normen bezeichnet,
deren Geltungsgrund nicht in der UN-Charta liegt, die also nicht als Primär- oder Sekundärrecht der
Vereinten Nationen einzustufen sind.
1212
So für die Anwendung militärischer Gewalt unter Kapitel VII SVN allgemein Gardam, Michigan
JIL 17 (1996), 285 (297).
1213
Siehe dazu unten 4.Kp. B. (externe Bindungen) und C. (mittelbare Bindungen). Zur Frage,
inwieweit die von Art. 1 Ziff. 1 SVN getroffene Unterscheidung zwischen „rechtsfreier“ akuter
Friedensbedrohung und „rechtskonformer“ dauerhafter Streitschlichtung die Befugnisse des
Sicherheitsrates unter Kapitel VII der Charta beschränkt, siehe unten 4.Kp. E.VI.
1214
Teilweise wird aus Art. 1 Ziff. 1 SVN allerdings auch eine generelle Bindung der Vereinten
Nationen an die Prinzipien des Völkerrechts abgeleitet. So beispielsweise Bedjaoui, New World Order
(1994), S. 31; Weeramantry, Diss. Op., IGH, 1971 Montreal Convention (prov. measures ), ICJ-Rep.
1992, 169 (175); Watson, Harvard ILJ 34 (1993), 1 (4 f.); und Gading, Souveränität (1996), S. 48, die
sogar den Sicherheitsrat unter Kapitel VII als gebunden ansieht, soweit er dadurch „nicht zu sehr
eingeschränkt“ werde. Ablehnend Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 16 u. 294 f.
244
damit das gesamte Völkerrecht gemeint ist.1215 Für die Einrichtung einer
Zwangsverwaltung zur Bekämpfung akuter Friedensbedrohungen lässt Art. 1 Ziff. 1
SVN dagegen dem Sicherheitsrat freie Hand.
IV.
Interne Bindung an das Treuhandprinzip der Kapitel XI bis XIII
der Charta
Grenzen der sicherheitsratlichen Gebietsverwaltung könnten sich ferner aus den
Kapiteln XI bis XIII der Charta, insbesondere aus dem dort niedergelegten
Treuhandgedanken ergeben.1216 Diese behandeln die Verwaltung nicht-selbstregierter
Territorien, sei es allein durch Mitgliedstaaten, sei es im Rahmen des
Treuhandsystems der Charta. Mit der Verwaltung von Krisengebieten auf der
Grundlage von Kapitel VII hat das Treuhandsystem gemeinsam, dass es sich in
beiden Fällen regelmäßig um Gebiete handeln wird, in denen ein effektives
Staatswesen erst aufgebaut werden muss, die mithin nicht zur Selbstregierung in der
Lage sind.1217 Insofern könnte man die Kapitel XI bis XII SVN gleichsam als Chartainterne lex specialis für die Ausführung einer Gebietsverwaltung betrachten.1218
Neben einer ähnlichen Sachlage spricht auch Art. 81 SVN für eine Bindung des
Sicherheitsrates an die Grundsätze des Treuhandsystems. Denn nach dieser Norm
kann auch die Organisation selbst Verwaltungsmacht eines Treuhandgebietes werden
und unterläge dann ebenfalls den Voraussetzungen und Zielen des Kapitels XII.1219
1215
Für eine umfassendere Bindung Akande, ICLQ 46 (1997), 309 (317-320) mit umfangreichen
Nachweisen aus der Entstehungsgeschichte der Charta; ablehnend Starck, Wirtschaftssanktionen
(2000), S. 145.
1216
Ausführlich zu gebietsverwaltenden UN-Missionen als neue Form der Treuhandverwaltung
Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 212-216; Stahn, ZaöRV 61 (2001), 107 (132 f.); Bothe/Marauhn, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the International Community (2002), S. 222-230;
und Muharremi, Treuhandverwaltung (2005), S. 128-150.
1217
Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 213; Ruffert, ICLQ 50 (2001), 613 (629); Stahn,
ZaöRV 61 (2001), 107 (133).
1218
Dass sie als solches nicht die Übernahme der Verwaltungshoheit durch den Sicherheitsrat als
Maßnahme zur Bekämpfung einer Friedensbedrohung ausschließen, liegt an ihrer fehlenden Eignung
zur Verwaltung von Krisengebieten. Siehe dazu bereits oben 3.Kp. F., ferner Bothe/Marauhn, in:
Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the International Community (2002), S. 233-235.
1219
Ähnlich Stahn, ZaöRV 61 (2001), 107 (133 Fn. 126), der die Minimalstandards des Art. 76 SVN a
fortiori für auf den Sicherheitsrat anwendbar hält, wenn dieser treuhandähnhliche Aufgaben
übernimmt.
245
Inhaltlich schreiben die Art. 73 und 76 SVN den Verwaltungsmächten vor, dass sie
das Gebiet nur treuhänderisch verwalten dürfen, mithin allein im Interesse der
Bewohner und zum Zwecke ihrer Förderung und Entwicklung. Art. 73 SVN spricht
diesbezüglich von einem „sacred trust“, den die Verwaltungsmacht übernimmt.
Dieser Grundsatz ließe sich ohne Weiteres auf die Verwaltung sog. failed states unter
Kapitel VII übertragen.1220 Auch die aus Art. 88 SVN hervorgehenden detaillierten
Berichts- und Auskunftspflichten der Verwaltungsmacht ließen sich entsprechend
auf eine Verwaltung durch ein vom Sicherheitsrat beauftragtes Nebenorgan
übertragen.
Die
deutlichen
inhaltlichen
Parallelen
zwischen
Treuhandsystem
und
Gebietsverwaltung nach Kapitel VII dürfen indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass
beide Rechtsregime unterschiedliche Ausgangspunkte haben. So dient das
Treuhandsystem in erster Linie dem Schutz der Bevölkerung der betroffenen
Gebiete. Ihr politischer, wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt soll gefördert und
ihre schließliche Selbstverwaltung gesichert werden.1221 Die Kapitel XI bis XIII der
Charta dienen mithin primär den Interessen der betroffenen Bevölkerung eines nicht
selbstverwalteten Gebietes.
Demgegenüber dient Kapitel VII der Charta primär dem Interesse aller
Mitgliedstaaten an der Verhinderung oder Beseitigung von Friedensbrüchen.1222 Die
dazu ergriffenen Maßnahmen – exemplarisch sei hier das Handelsembargo des Art.
41 Satz 2 SVN genannt – dürfen dabei grundsätzlich durchaus zu Lasten der
betroffenen Bevölkerungen gehen. Seine Verwaltungsbefugnisse aus Kapitel VII übt
der Sicherheitsrat daher zunächst gerade nicht treuhänderisch für die betroffene
Bevölkerung aus, sondern als Mittel zur Friedenssicherung im kollektiven Interesse
1220
Stahn, ZaöRV 61 (2001), 107 (138). Für eine analoge Anwendung der Art. 76 und Art. 83 Abs. 1
und 2 SVN plädieren ferner Frowein/Krisch, Art. 41 (2002), Rn. 21. Für den Treuhandgedanken als
Grundprinzip
einer
gebietsverwaltenden
UN-Friedensmission
auch
Hufnagel,
UNFriedensoperationen (1996), S. 216.
1221
Art. 73 u. 76 SVN.
1222
Bothe/Marauhn, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the International Community (2002), S. 230
f., sprechen deshalb von einer neuen Form der Treuhandverwaltung, deren Ziele und Grenzen in Art.
24 und 39 SVN zu suchen seien – und damit nicht in den Treuhandkapiteln der Charta. Siehe aber
auch S. 236 (Vorrang der Interessen der Bewohner des verwalteten Gebietes).
246
der Mitgliedstaaten.1223
Ein weiterer Unterschied besteht im Regelfall in der Dauer der jeweiligen
Maßnahme. Nach dem Konzept der Kapitel XI bis XIII der Charta ist eine
Treuhandverwaltung längerfristig angelegt mit einer Dauer von zumindest etlichen
Jahren, wenn nicht Jahrzehnten.1224 Dagegen bezwecken Maßnahmen nach Kapitel
VII der Charta nach der in Art. 1 Ziff. 1 SVN niedergelegten Konzeption der Charta
lediglich die eher kurzfristige Beseitigung akuter Friedensbedrohungen.1225
Diese unterschiedlichen Ansätze des Treuhandregimes einerseits und des Kapitels
VII der Charta andererseits bedeuten nicht, dass der Treuhandgedanke bei einer UNZwangsverwaltung keine Rolle spielen kann. So ist die Friedenssicherung kein
Selbstzweck, sondert dient dem Schutz und dem Wohl der in den Mitgliedstaaten
verfassten Weltbevölkerung.1226 Gerade wenn – wie im Kosovo oder in Osttimor –
die Friedensbedrohung ihre Ursache in der groben Missachtung der völkerrechtlich
geschützten Rechte der Bewohner durch die bisherigen Machthaber hatte, dient eine
UN-Verwaltung rein faktisch primär dem Schutz der Gebietsbevölkerung.
Ferner ist kaum vorstellbar, dass eine Zwangsverwaltung, die sich eigennützig über
die wohlverstandenen Interessen der Gebietsbewohner hinwegsetzt, in der Lage
wäre, ein Krisengebiet langfristig zu befrieden, und so friedenssichernd wirken
könnte. Gerade die Erfahrungen in Osttimor einerseits und Somalia andererseits
1223
Dies übersehen Stahn, ZaöRV 61 (2001), 107 (138), und ihm folgend Bothe/Marauhn, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the International Community (2002), S. 236. Zu Recht weist Oeter, in: FS
Fleck (2004), S. 448, darauf hin, dass die politischen Interessen der Staatengemeinschaft und der
mehrheitlich albanischen Bevölkerung im Kosovo „alles andere als deckungsgleich (...) waren und
sind.“ Auf die unterschiedlichen Interessenlagen unter Kapitel VII und Kapitel XII der Charta
verweist auch Muharremi, Treuhandverwaltung (2005), S. 134.
1224
So wurde das Gebiet des späteren Libyens von der Generalversammlung 1949 bewusst nicht dem
Treuhandsystem unterstellt, weil es nach Ansicht der Mehrheit der Mitgliedstaaten innerhalb von zwei
Jahren zur Unabhängigkeit geführt werden sollte. Siehe dazu bereits oben 2.Kp. D.
1225
Mit Tomuschat, in: FS Arangio-Ruiz (2004), S. 1759, ist aber darauf hinzuweisen, dass sich aus
der Charta keine feste zeitliche Grenze für Maßnahmen nach Kapitel VII herauslesen lässt. Siehe dazu
bereits oben 4.Kp. A.I.
1226
Tomuschat, in: FS Arangio-Ruiz (2004), S. 1767. Dies macht die Präambel der Charta deutlich,
wenn sie mit „We the Peoples of the United Nations determined to save succeeding generations from
the scourge of war (...)“ anhebt.
247
zeigen, dass eine internationale Verwaltung nur dann zur Beseitigung der von einem
Krisengebiet ausgehenden Friedensbedrohung beitragen kann, wenn sie die
politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Bewohner fördert und
effektive Selbstverwaltungsstrukturen aufbaut.1227 Treuhänderische Beschützung und
Förderung des Krisengebietes und seiner Bewohner werden somit regelmäßig
notwendige Mittel einer effektiven und langfristig erfolgreichen Friedenssicherung
sein.
Dennoch ist dies eher eine faktische Reflexwirkung. Normativer Zweck einer auf
Kapitel
VII
gestützten
Zwangsverwaltung
bleibt
die
Beseitigung
einer
Friedensbedrohung im Interesse der internationalen Gemeinschaft. Die für eine
Treuhand charakteristische Verwaltung im Interesse der Bewohner ist dagegen nur
insoweit Normzweck, als sie die Erreichung des Primärziels bedingt. Dies dürfte
zwar der Regelfall sein. Dennoch ist – rein rechtlich gesehen – das Treuhandprinzip
im Falle einer Kapitel VII-Zwangsverwaltung dem Ziel der Friedenssicherung
untergeordnet.
Letztlich ergibt sich aber auch aus einer analogen Anwendung der Kapitel XI bis
XIII nichts Anderes. Sowohl Art. 73 wie Art. 76 SVN nennen die Förderung des
Weltfriedens als wesentliche Aufgabe einer treuhänderischen Verwaltung. Beide
Artikel stellen ferner ihre Aufgabenkataloge unter den Vorbehalt ihrer Vereinbarkeit
im Einzelfall mit den in Art. 1 SVN niedergelegten Zielen der Organisation1228 bzw.
dem von der Charta eingerichteten System der Friedenssicherung.1229 Auch eine
echte Treuhandverwaltung nach Kapitel XII und XIII der Charta hätte somit den
grundsätzlichen Vorrang der Friedenssicherung zu beachten.
Aus den Kapiteln XI bis XIII ergeben sich daher keine unmittelbaren Charta-internen
1227
Zu Osttimor siehe oben 2.Kp. M, zu Somalia 2.Kp. I.
Art. 76 SVN: „The basic objectives of the trusteeship system, in accordance with the Purposes of
the United Nations laid down in Article 1 of the present Charter, shall be (...)“ (Hervorhebung durch
den Verfasser).
1228
Art. 73 SVN: „Members of the United Nations (...) accept as a sacred trust the obligation to promote to the utmost, within the system of peace and security established by the present Charter, the
well-being of the inhabitants of these territories (…)” (Hervorhebung durch den Verfasser).
1229
248
Grenzen für die Befugnis des Sicherheitsrates, ein Krisengebiet auf der Grundlage
von Kapitel VII der Charta zu verwalten. Soweit eine treuhänderische Verwaltung
jedoch nicht bereits zur Friedenssicherung geboten erscheint und es die
friedenssichernde Effektivität der Zwangsverwaltung nicht beeinträchtigt, können die
Kapitel XI bis XIII SVN als Richtlinien herangezogen werden, wo konkretere
Vorgaben fehlen. Eine Verpflichtung des Sicherheitsrates, zum Wohle der
Bevölkerung zu handeln, kann sich ferner auch noch aus anderen rechtlichen
Gesichtspunkten ergeben, beispielsweise aus Völkergewohnheitsrecht.
V.
Bindung durch Handeln der Vereinten Nationen
Die bisherige, im Wesentlichen auf der Analyse der Charta fußende Untersuchung
hat ergeben, dass der Sicherheitsrat zuvörderst verpflichtet ist, den Weltfrieden zu
wahren. Aus der Rangordnung der Ziele und Grundsätze in Art. 1 und Art. 2 SVN
folgt, dass Staatensouveränität, Selbstbestimmungs- und Menschenrechte sowie das
Treuhandprinzip im Kollisionsfall nur soweit zu beachten sind, als dadurch eine
effektive Friedenswahrung nicht in Frage gestellt wird. Dieser Befund entspricht dem
ursprünglichen Konzept der Gründerstaaten, berücksichtigt aber noch nicht
hinreichend die nachfolgende Praxis der Vereinten Nationen.
So spielte die UN bei der Entwicklung und Förderung des Selbstbestimmungsrechts
und der Menschenrechte eine weit umfangreichere und bedeutendere Rolle, als dies
1945 vorausgesehen wurde. Bei der Entstehung, Ausformulierung und Festigung
dieser Rechte wirkten die Vereinten Nationen entscheidend mit und entfalteten hier
einen weiteren Schwerpunkt ihrer Tätigkeit.1230 Zu nennen sind insbesondere der
Abschluss der internationalen Pakte unter dem Dach der UN und die Verabschiedung
der Declaration on the Granting of Independence to Colonial Countries and Peoples
durch die Generalversammlung im Jahre 1960.1231 Daher ist zu prüfen, ob durch
diese und andere Handlungen der Vereinten Nationen Bindungen eingetreten sind,
1230
Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 171 f. Allgemein zur Arbeit der UN im Bereich der
Menschenrechte beispielsweise Tomuschat, Human Rights (2003), S. 112-131.
1231
A/RES/1514 (XV) vom 14.12.1960, konkretisiert durch A/RES/1541 (XV) vom 15.12.1960. Auch
die Friendly Relations Declaration (A/RES/2625 (XXV) vom 24.10.1970) wird man zu diesen
grundlegenden Arbeiten der Generalversammlung zählen können.
249
die auch den Sicherheitsrat bei der Gebietsverwaltung auf der Grundlage von Kapitel
VII der Charta treffen.
1.
Konkretisierung der in Art. 1 Ziff. 2 und 3 SVN niedergelegten Ziele
Dabei ist von dem Grundsatz auszugehen, dass die Organe der Vereinten Nationen
über jeweils eigenständige Kompetenzbereiche verfügen und verbindliche Vorgaben
für andere Organe nur insoweit verabschieden können, als dies in der Charta
niedergelegt ist.1232 Insbesondere für den Sicherheitsrat fehlt eine solche Vorgabe. Er
ist nach Art. 24 Abs. 3 SVN lediglich verpflichtet, der Generalversammlung einen
jährlichen Bericht zu erstatten, den diese erörtern kann. Daraus folgt zunächst, dass
der Sicherheitsrat nach dem Recht der Charta nicht durch die Handlungen anderer
Organe gebunden werden kann, diese mithin für den Sicherheitsrat keine rechtliche
Bedeutung haben.1233 Im Hinblick auf die nahezu universelle Mitgliedschaft in der
UN ist diese interne Kompetenzverteilung auch für Staaten und andere internationale
Organisationen beachtlich.
Diese prinzipielle wechselseitige Autonomie der UN-Organe könnte jedoch dort
eingeschränkt sein, wo die Charta bestimmte Organe explizit mit der Entwicklung
und Ausformung einzelner Ziele und Grundsätze betraut hat. Deren Tätigkeit wäre
dann als autoritative Konkretisierung der Art. 1 und 2 SVN zu verstehen, die auch
für den Sicherheitsrat verbindlich wäre. Von besonderer Bedeutung ist dabei Art. 60
SVN, der die Umsetzung der in Art. 55 SVN genannten Aufgaben, insbesondere die
Förderung der Menschenrechte nach Art. 55 lit. c) SVN, zur alleinigen Aufgabe der
Generalversammlung und des ihr unterstellten ECOSOC macht. Dies entspricht der
Intention der Gründerstaaten, die Vorschläge zurückwiesen, bereits in die Charta
einen Katalog von Grundrechten aufzunehmen. Vielmehr sollte die Ausformulierung
1232
So legt beispielsweise Art. 66 Abs. 3 SVN fest, dass die Generalversammlung dem ECOSOC
neue Aufgaben und Funktionen zuweisen darf. Deutlicher ist Art. 87 SVN, der den Treuhandrat
ausdrücklich der Generalversammlung unterordnet.
1233
In diese Richtung auch Oette, Wirtschaftssanktionen (2003), S. 247, der eine Befugnis der übrigen
UN-Organe verneint, bindende Auslegungen derjenigen Normen der Charta zu treffen, welche die
Befugnisse des Sicherheitsrates regeln. Wie sogleich dargelegt wird, kann dies indes nicht für die
Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen (Art. 1 u. 2 SVN) gelten, die für alle Organe gleicher
Maßen verbindlich sind.
250
eines solchen Menschenrechtskatalogs Aufgabe der Generalversammlung sein.1234
Die Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrecht im Jahre 1948
könnte deshalb als Konkretisierung des in Art. 1 Ziff. 3 SVN niedergelegten Zieles
der Organisation zu verstehen sein, die – da sie durch das dazu bevollmächtigte
Organ vorgenommen wurde – für die gesamte Organisation verbindlich ist.1235 In
gleicher Weise ließe sich auch eine Bindung des Sicherheitsrates an die unter der
Ägide der Generalversammlung ausgearbeiteten Internationalen Pakte und
Konventionen
begründen.1236
Diese
Erklärungen
und
Rechtsakte
der
Generalversammlung wären dann als – nicht notwendig abschließender – Katalog
der von der gesamten Organisation nach Art. 1 Ziff. 3 SVN zu fördernden
Menschenrechte zu verstehen.1237
Dem steht nicht entgegen, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte in
einer für die Mitgliedstaaten unverbindlichen Form verabschiedet wurde und auch
die genannten Konventionen der Ratifikation bedurften, um für die UN-Mitglieder
1234
Doc. 343, I/1/16 vom 16.5.1945, abgedr. in UNCIO VI, 296 (296); ferner Wolfrum, Preamble
(2002), Rn. 6 m.w.N.
1235
Bossuyt (UNCHR), Economic sanctions (2000), §§ 29 f.; Marie/Questiaux, Article 55: alinea c
(1991), S. 873; Riedel, Article 55 (c) (2002), Rn. 30; Nowak, Human Rights Regime (2003), S. 76.
Zurückhaltender Carrillo Salcedo, Universal Declaration, EPIL II (1995), S. 925: „(...) [I]t constitutes
evidence of the interpretation and application of the UN Charter.“ Weitergehend Bleicher, AJIL 63
(1969), 444 (464 f.), und Sohn, Georgia JI&CL 8 (1978), 1 (19), die die AEMR als auch für die
Mitgliedstaaten verbindliche Konkretisierung der Charta ansehen.
1236
Pape, Humanitäre Intervention (1997), S. 140; Bossuyt (UNCHR), Economic sanctions (2000), §
31; Gowlland-Debbas, in: dies. (Hrsg.), UN Sanctions (2001), S. 16; Reinisch, AJIL 95 (2001), 851
(862); Doehring, Self-Determination (2002), Rn. 19; Oette, Wirtschaftssanktionen (2003), S. 238. Für
die Einstufung der beiden Pakte als autoritative Konkretisierung der menschenrechtlichen Normen der
Charta auch Sohn, Texas ILJ 12 (1977), 129 (135); ferner de Wet, Chapter VII Powers (2004), S. 199
f., die als weiteres Argument das aus dem in Art. 2 Ziff. 2 SVN niedergelegten good faith-Grundsatz
abgeleitete estoppel-Prinzip nennt: Durch ihr menschenrechtliches Engagement habe die UN bei ihren
Mitgliedstaaten die schutzwürdige Erwartungshaltung begründet, auch die Organisation selbst werde
die unter ihrem Dach vereinbarten Menschenrechtsinstrumente einhalten. Zurückhaltender Tomuschat, Human Rights (2003), S. 89, der eine entsprechende Verpflichtungserklärung des
Sicherheitsrates für erforderlich hält. Zur Entstehungsgeschichte der beiden Pakte siehe Cohen Jonathan, Covenants, EPIL II (1995), S. 915 f.
1237
I.E. auch Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), 155, die allerdings den gesamten gewohnheitswie vertragsrechtlichen Standard der Menschenrechte zur Definition des Art. 1 Ziff. 3 SVN
heranzieht. Ähnlich auch Gardam, Michigan JIL 17 (1996), 285 (300), und Gasser, ZaöRV 56 (1996),
871 (880). Anklänge finden sich auch in Präambel-§ 8 der Abschlusserklärung der Wiener
Menschenrechtskonferenz von 1993, der die AEMR als „basis for the United Nations“ bezeichnet.
(Siehe UN World Conference on Human Rights, Vienna Declaration and Programme of Action
(25.6.1993), abgedr. als A/Conf.157/24 (Part I) vom 13.10.1993, 20-46; ferner in ILM 32 (1993),
1661-1687.)
251
rechtsverbindlich zu werden1238. Denn Mitgliedstaaten und UN-Organe werden nicht
in gleicher Weise von den Zielen und Grundsätzen der Organisation in die Pflicht
genommen. Während der Sicherheitsrat gemäß Art. 24 Abs. 2 Satz 1 SVN
unmittelbar gebunden ist, verpflichtet Art. 56 SVN, der die Pflichten der UNMitglieder aus Art. 2 Ziff. 2 SVN hinsichtlich der Förderung der Menschenrechte
konkretisiert, die Mitgliedstaaten lediglich dazu, auf diesem Gebiet mit den
Vereinten Nationen zu kooperieren, ohne ihnen bestimmte Mittel und Wege
vorzugeben.1239 Auch erlaubt Art. 56 SVN den Vereinten Nationen nicht, den
Mitgliedern die innerstaatliche Umsetzung der Maßnahmen zu verordnen, die von
der Generalversammlung gemäß Art. 55 lit. c) in Verbindung mit Art. 60 SVN
beschlossen wurden.1240 Letztlich folgt aus Art. 56 SVN vor allem ein Verbot der
Obstruktion, d.h. die Mitgliedstaaten dürfen die Arbeit der UN zur Förderung der in
Art. 55 SVN genannten Ziele nicht behindern.1241 Eine Auslegung des Art. 56 SVN
dahingehend, dass auch die Mitgliedstaaten zur Einhaltung der nach Art. 1 Ziff. 3
und Art. 55 lit. c) SVN zu fördernden Menschenrechte verpflichtet sind, ließe sich
zwar mit dem Wortlaut vereinbaren und unter Effektivitätsgesichtspunkten vertreten.
Indes entspräche sie weder der Rechtsauffassung noch der Praxis der zur Auslegung
dieser Normen berufenen UN-Organe, noch der der Mitgliedstaaten.
Dagegen gibt es für den Sicherheitsrat keine Norm, die – wie Art. 56 SVN für die
Mitgliedstaaten – die Pflicht zur Förderung der Menschenrechte und Grundfreiheiten
abschwächt. Vielmehr ist er aus Art. 24 Abs. 2 Satz 1 SVN unmittelbar zu ihrer
Förderung verpflichtet. Es erschiene auch widersprüchlich, wenn gerade ein UNOrgan dazu befugt sein sollte, die von den Vereinten Nationen erreichten
menschenrechtlichen Standards zu ignorieren.1242 Dies ändert indes nichts an der
oben beschriebenen grundsätzlichen Nachrangigkeit des Zieles des Art. 1 Ziff. 3
1238
Nowak, CCPR Commentary (1993), Introduction Rn. 2.
1239
Wolfrum, Article 56 (2002), Rn. 2.
1240
Wolfrum, Article 56 (2002), Rn. 3.
1241
Goodrich/Hambro/Simons, UN Charter (1969), S. 381; Bouony, Article 56 (1991), S. 888;
Wolfrum, Article 56 (2002), Rn. 3.
1242
Akande, ICLQ 46 (1997), 309 (323); Oette, Wirtschaftssanktionen (2003), S. 238.
252
SVN, da diese sich unmittelbar aus Art. 1 SVN ergibt.
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die unter der Ägide der
Generalversammlung ausgearbeiteten und verabschiedeten menschenrechtlichen
Vertragswerke ergeben einen detaillierten Normenkatalog, den der Sicherheitsrat bei
der Verwaltung eines Krisengebietes zu beachten hat, wenn und soweit dem nicht im
Einzelfall die Pflicht zur Friedenswahrung entgegensteht. Diesen Vorrang der
Friedenssicherung reflektiert auch Art. 29 Ziff. 3 AEMR, demzufolge die in der
AEMR enthaltenen Rechte und Freiheiten nicht im Widerspruch zu den Zielen und
Grundsätzen der Vereinten Nationen ausgeübt werden dürfen. Ferner sind die
einzelnen menschenrechtlichen Vorschriften auch nur dann auf den Sicherheitsrat
anwendbar, wenn sie ihrem Tatbestand und ihrem Schutzzweck nach einschlägig
sind. Beispielhaft soll dies unten in Abschnitt E untersucht werden. Zunächst reicht
die Feststellung aus, dass die unter dem Dach der Vereinten Nationen verabschiedete
Allgemeine
Erklärung
der
Menschenrechte
und
die
menschenrechtlichen
Konventionen und Verträge als autoritative Konkretisierung des in Art. 1 Ziff. 3
SVN niedergelegten Zieles auch für den Sicherheitsrat verbindlich sind, soweit
dadurch die Friedenssicherung nicht beeinträchtigt wird.
Die hier zu den Menschenrechten getroffenen Aussagen gelten entsprechend für das
in Art. 1 Ziff. 2 und in Art. 55 SVN genannte Ziel der Förderung zwischenstaatlicher
Beziehungen,
die
auf
dem
Respekt
vor
der
Gleichheit
und
dem
Selbstbestimmungsrecht der Völker basieren. Auch für diesen Bereich sind
Generalversammlung und ECOSOC nach Art. 60 SVN zuständig, so dass ihre
diesbezüglichen Handlungen als autoritative Konkretisierung zu verstehen sind,
soweit sie eine entsprechende Absicht erkennen lassen. Zu Recht hat der IGH daher
beispielsweise sowohl im Namibia-Gutachten1243 als auch in jenem zur West
Sahara1244 die Generalversammlungsresolutionen 1514 (XV)1245, 1541 (XV)1246 und
1243
IGH, Namibia-Gutachten, ICJ-Rep. 1971, 16 (31 § 52) – nur hinsichtlich A/RES/1514 (XV).
1244
IGH, West Sahara-Gutachten, ICJ-Rep. 1975, 12 (31-33, §§ 54-59).
1245
Declaration on the Granting of Independence to Colonial Countries and People vom 14.12.1960.
1246
A/RES/1541 (XV) vom 15.12.1960.
253
2625 (XXV)1247 zur näheren Bestimmung des Gehalts des Selbstbestimmungsrechts
aus Art. 1 Ziff. 2 SVN herangezogen. Ohnehin bedarf das Selbstbestimmungsrecht in
geringerem Umfang als die vielgestaltigen Menschenrechte einer Konkretisierung.
Zwar mag es in seinen Einzelheiten und hinsichtlich der aus ihm abzuleitenden
Rechte unklar sein. Das Grundprinzip, dem zufolge alle Völker das Recht haben, frei
über ihren politischen Status zu entscheiden und sich frei von äußeren Einflüssen zu
entwickeln, dürfte jedoch weitgehend unstrittig sein.1248
2.
Selbstbindung durch eigene Handlungen des Sicherheitsrates
Jedoch waren nicht nur Generalversammlung und ECOSOC auf den Gebieten des
Selbstbestimmungsrechts und der Menschenrechte aktiv. Auch der Sicherheitsrat hat
sich zur Bedeutung dieser Normen bekannt.1249 Fraglich ist, ob diese Handlungen zu
einer Selbstbindung des Sicherheitsrates geführt haben.1250 Wenn und soweit dies der
Fall ist, bliebe zu untersuchen, inwieweit dadurch die von Art. 1 SVN vorgegebene
Hierarchie der Ziele irrelevant geworden ist, weil der Sicherheitsrat sich selbst zu
einer absoluten Beachtung von Staaten-, Gruppen- oder Menschenrechten
1247
Declaration on Principles of International Law Concerning Friendly Relations and Co-operation
Among States in Accordance with the Charter of the United Nations vom 24.10.1970, abgedr. in UNYB 1970, 788-792 (im Folgenden: Friendly Relations Declaration).
1248
Siehe das 5. Prinzip der Friendly Relations Declaration, von der Generalversammlung im
Konsensverfahren angenommen als A/RES/2625 (XXV) vom 24.10.1970. Ausführlicher zum
Selbstbestimmungsrecht unten 4.Kp. E.II.
1249
Siehe beispielsweise Präambel-§ 6 S/RES/1325 (2000) vom 31.10.2000 (Rechte zum Schutze von
Frauen und Mädchen), Präambel-§ 4 S/RES/1483 (2003) vom 22.5.2003 und Präambel-§ 4
S/RES/1546 (2004) vom 8.6.2004 (Selbstbestimmungsrecht der Iraker); sowie Art. I § 1 der
Millenium Summit Declaration des Sicherheitsrates, S/RES/1318 (2000) Annex vom 7.9.2000
(Bekenntnisse zur Staatensouveränität). Siehe ferner das generelle Bekenntnis zum Völkerrecht in der
Erklärung des Sicherheitsratspräsidenten vom 31.1.1992: „The members of the Council pledge their
commitment to international law“ (UN-Doc. S/23500, S. 3). Allerdings finden sich häufigere und
generelle Bekenntnisse des Sicherheitsrates nur zur Staatensouveränität, auffallend wenige dagegen zu
den Menschenrechten und dem Selbstbestimmungsrecht. So enthält die Zusammenstellung
menschenrechtsrelevanter Äußerungen des Sicherheitsrates bei Ramcharan, Protection of Human
Rights (2002), S. 217-369, kein einziges Dokument, in dem sich der Sicherheitsrat selbst zur
Einhaltung der Menschenrechte bekennt. In § 15 S/RES/1325 (2000) „on women, peace, and
security“ vom 31.10.2000 äußert er beispielsweise lediglich seine Bereitschaft, künftig
sicherzustellen, dass vom ihm autorisierte Missionen die Rechte der Frau berücksichtigen („take into
account“).
1250
In diese Richtung Gowlland-Debbas, in: dies. (Hrsg.), UN Sanctions (2001), S. 28, hinsichtlich der
Versuche des Sicherheitsrates, beim Erlass von Wirtschaftssanktionen humanitäre
Ausnahmeregelungen vorzusehen.
254
verpflichtet hat. Neben allgemeinen Erklärungen betreffend eines oder mehrerer
dieser Rechte sind auch solche Äußerungen des Rates relevant, die nur einen
bestimmte Fall oder eine bestimmte Tätigkeit des Sicherheitsrates erfassen. Zu
diesen sind insbesondere die Resolutionen 1244 (1999) und 1272 (1999) zu
rechnen.1251 Auch die Dekrete („regulations“) der UN-Sondergesandten vor Ort, die
bestimmte menschenrechtliche Verträge ihrem Inhalt nach für anwendbar
erklären,1252 gehören zu diesen fallspezifischen Selbstverpflichtungsakten.
Bei den weitaus überwiegenden Handlungen des Sicherheitsrates, die für eine
Selbstbindung in Frage kommen, wird es sich um einseitige Akte handeln.1253 Dass
auch internationale Organisationen durch einseitige Akte Rechtsfolgen zeitigen
können, ist allgemein anerkannt.1254 Maßgeblich für die rechtliche Verbindlichkeit
einer
einseitigen
Handlung
oder
Erklärung
ist,
dass
das
handelnde
Völkerrechtssubjekt mit ihr erkennbar bestimmte Rechtsfolgen herbeiführen
wollte.1255 Dabei kommte es nicht nur auf die Intention des Handelnden oder den
objektiven Gehalt der Erklärung an, sondern auch auf die tatsächlichen Umstände, in
denen die Handlung vorgenommen beziehungsweise die Erklärung abgeben
wurde.1256
Entscheidend
ist,
dass
schutzwürdiges
Vertrauen
in
die
Rechtserheblichkeit, genauer: in die Verbindlichkeit der Erklärung, begründet
wurde.1257 Insoweit finden einseitige Rechtsakte ihren Geltungsgrund im Grundsatz
1251
So verpflichtet beispielsweise Art. 11 lit. j) S/RES/1244 (1999) die Zivilverwaltung dazu, die
Menschenrechte zu schützen und zu fördern, während Art. 8 S/RES/1272 (1999) UNTAET zu
Konsultationen und enger Zusammenarbeit mit der Bevölkerung anhält.
1252
Siehe beispielsweise UNTAET/REG/1999/1 vom 27.11.1999 und UNMIK/REG/1999/24 vom
12.12.1999.
1253
Selbst wenn der Sicherheitsrat Verträge schließen sollte, in denen er sich zur Einhaltung
bestimmter Standards verpflichtete, so ließe sich aus diesen eine generelle, über die inter partesWirkung von Verträgen hinausgehende Bindung nur dann ableiten, wenn die Verträge einen nahezu
universellen Charakter hätten.
1254
Schreuer, in: FS Zemanek (1994), S. 248; Ipsen, Völkerrecht (1999), § 18 Rn. 18, Fiedler, Unilateral Acts, in EPIL IV (2000), S. 1018, und Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht I/3 (2002), S. 764.
1255
IGH, Nuclear Tests Case, ICJ-Rep. 1974, 253 (267 § 43) bzw. 457 (472 § 46); Dupuy, Droit international public (2000), S. 328 (§ 349).
1256
IGH, Frontier Dispute, ICJ-Rep. 1986, 554 (574 § 40); Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht I/3
(2002), S. 766; Brownlie, Principles (2003), S. 613.
1257
IGH, Nuclear Tests Case, ICJ-Rep. 1974, 253 (268 § 46) und 457 (473 § 49).
255
von Treu und Glauben (good faith).1258 Dieser Grundsatz ist zumindest mittelbar
auch für die UN verbindlich, da ihre Mitglieder ihn gemäß Art. 2 Ziff. 2 SVN bei der
Wahrnehmung ihrer Aufgaben und Pflichten aus der Charta zu beachten haben –
mithin auch bei der Beschlussfassung als Teil eines UN-Organs.1259
Dieser Umstand führt zu einer Besonderheit bei einseitigen Rechtsakten des
Sicherheitsrates. Als Organ einer internationalen Organisation besitzt er nur die
Handlungsmöglichkeiten, die ihm die Charta als sein konstituierendes Dokument
gewährt. Sie beschränkt sein rechtliches Dürfen nach innen. Die Charta ist aber auch
für die Mitglieder verbindlich. Sie regelt abschließend das Verhältnis zwischen ihnen
und der Organisation. Aufgrund der faktisch universellen Mitgliedschaft in den
Vereinten Nationen fehlt es insofern an einem „Außenverhältnis“ der Vereinten
Nationen. Die Staaten müssen sich in ihren rechtlichen Beziehungen zu den UN im
Allgemeinen und zum Sicherheitsrat im Besonderen die Charta entgegenhalten
lassen. Ein schutzwürdiges Vertrauen in den (selbst-) verpflichtenden Charakter
eines einseitigen Aktes des Sicherheitsrates kann daher nur entstehen, wenn sich die
fragliche Handlung oder Erklärung im Rahmen der Kompetenzen dieses Organs
bewegt. Staaten1260 können nicht darauf vertrauen, dass sich der Sicherheitsrat zu
einem chartawidrigen Verhalten verpflichten will.1261
Angewandt auf die hier in Frage stehenden Handlungen und Erklärungen des
Sicherheitsrates zu Menschen-, Gruppen- und Staatenrechten folgt daraus, dass
1258
Fiedler, Unilateral Acts, in EPIL IV (2000), S. 1020. Ausführlicher Ipsen, Völkerrecht (1999), §
18 Rn. 5-7. Dupuy, Droit international public (2000), S. 328 (§ 349), stellt insoweit auf das Gebot der
Rechtssicherheit in den internationalen Beziehungen ab.
1259
So de Wet, Chapter VII Powers (2004), S. 195 m.w.N.
1260
Dieser Grundsatz gilt mittelbar auch für dritte internationale Organisationen, da auch ihre
Mitglieder zugleich Mitglieder der UN sind und als solche durch Art. 103 SVN zur vorrangigen
Beachtung der Charta verpflichtet sind. Die UN-Mitgliedstaaten sind daher zumindest verpflichtet, in
den Gremien anderer Organisationen, deren Mitglieder sie ebenfalls sind, entsprechend Einfluss zu
nehmen.
1261
Zugegestandenermaßen handelt es sich dabei eher um eine theoretische Frage. Eine chartawidrige
Selbstverpflichtung wäre etwa die Erklärung des Sicherheitsrates, künftig nur noch dann bei
Friedensbedrohungen einzugreifen, wenn sichergestellt sei, dass die geplanten Maßnahmen die
territoriale Souveränität der betroffenen Staaten unangetastet lasse. Aus Art. 1 Ziff. 1 und Art. 2 Ziff.
7 SVN folgt aber gerade, dass der Sicherheitsrat unter Kapitel VII der Charta diese Rechte im
Interesse der Effektivität nicht beachten muss.
256
jedenfalls diejenigen von ihnen, die im Widerspruch zu den Regelungen der Charta
stehen, mangels schutzwürdigen Vertrauens der Empfänger keine Rechtsfolgen
zeitigen. Einseitige Rechtsakte können mithin nicht weiter gehen, als es die Charta
zulässt. Dies gilt insbesondere für solche allgemeinen oder abstrakten Erklärungen,
die generelle Leitlinien zukünftigen sicherheitsratlichen Handelns festlegen. Sie sind
als abstrakte ex ante-Konkretisierungen der dem Sicherheitsrat von der Charta
gewährten Handlungs- und Entscheidungsspielräume zu verstehen. Als solche
müssen sie sich aber innerhalb der von der Charta vorgegebenen Leitlinien bewegen
und insbesondere den Vorrang der Friedenssicherung beachten. Soweit dies nicht der
Fall ist, kann seitens der (Mitglied-) Staaten kein schutzwürdiges Vertrauen
bestehen, so dass derartige einseitige Akte keine selbstverpflichtende Wirkung haben
können.1262
Etwas Anderes mag für einzelfallbezogene Erklärungen gelten. Sie können
zulässiger Weise als autoritative Konkretisierung der von Art. 1 SVN vorgegebenen
Zielhierarchie verstanden werden. Wie bereits ausgeführt, verpflichtet Art. 1 SVN
den Sicherheitsrat auch zur Beachtung der Souveränität der Mitgliedstaaten, des
Selbstbestimmungsrechts und der Menschenrechte, soweit dadurch die Erhaltung
oder Wiederherstellung der internationalen Sicherheit nicht beeinträchtigt wird.
Erklärt der Sicherheitsrat nun wie im Falle des § 11 lit. j) der Resolution 1244
(1999), dass die Menschenrechte durch ihn oder das von ihm geschaffene
Nebenorgan zu schützen und zu fördern seien, so kann dies als dahingehende
Feststellung verstanden werden, dass in diesem konkreten Einzelfall dadurch die
Effektivität
der
Friedenssicherung
nicht
beeinträchtigt
wird.
Auf
die
Rechtsverbindlichkeit einer solchen einzelfallbezogenen Erklärung dürfen Staaten
daher grundsätzlich vertrauen. Aber auch hier entfällt ein schutzwürdiges Vertrauen
bei einer erheblichen Änderung der Umstände, da mit ihr die einzelfallbezogene
Konkretisierung der Zielvorgaben des Art. 1 SVN hinfällig wird. Auch diese
konkreten einseitigen Rechtsakte sind mithin grundsätzlich reversibel.
1262
Weitergehend Herbst, Rechtskontrolle (1999), S. 363, der unter Berufung auf Tomuschat, ZaöRV
36 (1976), 444 (479), ein schutzwürdiges Vertrauen in abstrakte, auf die Zukunf bezogene
Verpflichtungserklärungen des Sicherheitsrates generell ausschließt.
257
Eine stärkere Selbstbindung verursachen grundsätzlich Verordnungen einer UNVerwaltung, mit denen die Beachtung bestimmter Menschenrechte angeordnet
wird.1263 Sie beinhalten eine noch konkretere und sachnähere Einschätzung der
Situation. Auch erfolgen sie unmittelbar gegenüber der Bevölkerung eines Gebietes,
welche sich die Regelungen der Charta weit weniger entgegenhalten lassen muss als
die Mitgliedstaaten. Ihr Vertrauen in die Verbindlichkeit der Verordnung ist daher
grundsätzlich besonders schutzwürdig, so dass an eine Rücknahme oder
Einschränkung der Selbstbindung hohe Anforderungen zu stellen sind.
VI.
Zwischenergebnis: Die internen Bindungen des Sicherheitsrates
Die Charta begrenzt die Befugnisse des Sicherheitsrates zur zwangsweisen
Verwaltung eines Krisengebiets in erster Linie durch seine Bindung an die Ziele und
Grundsätze der Vereinten Nationen. Art. 24 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1
SVN verpflichtet den Sicherheitsrat dazu, bei der Wahrnehmung seiner
Kernkompetenz,
der
kollektiven
Friedenssicherung,
auch
das
Selbstbestimmungsrecht der Völker und die Menschenrechte zu fördern und mithin
zu beachten. Dies gilt – wegen Art. 2 Ziff. 7 SVN in geringerem Maße – auch für die
Beachtung der Souveränität der Staaten.
Allerdings ergibt sich aus dem Wortlaut des Art. 1 SVN ein klarer Vorrang der
Friedenssicherung vor den übrigen Zielen der UN. Der Sicherheitsrat ist daher nur
insoweit
zur
Förderung
und
Beachtung
von
Staaten-,
Gruppen-
und
Menschenrechten verpflichtet, als er dadurch die Sicherung des Weltfriedens nicht
gefährdet. Zwar sind nur wenige Situationen vorstellbar, in denen die Wahrung der
internationalen Sicherheit mehr als nur kurzfristige Beeinträchtigungen der Rechte
der Betroffenen erforderlich werden lässt. Eine solche Beeinträchtigung ist aber nach
dem Recht der Charta zur Wahrung des Weltfriedens zulässig und im Kollisionsfall
sogar geboten.
Unter
Berücksichtigung
dieses
Vorranges
der
Friedenssicherung
ist
der
Sicherheitsrat ferner an die von der Generalversammlung verabschiedete Allgemeine
1263
Siehe oben Fn. 1252.
258
Erklärung der Menschenrechte und an die unter dem Dach der Generalversammlung
ausgearbeiteten Menschenrechtsverträge gebunden. Auch die Resolutionen der
Generalversammlung zum Selbstbestimmungsrecht sind für den Sicherheitsrat
beachtlich, da sie ebenso wie die genannten Menschenrechtsinstrumente autoritative
Konkretisierungen der in Art. 1 SVN genannten Ziele der Vereinten Nationen sind.
Des
Weiteren
kann
der
Sicherheitsrat
seine
Befugnisse
auch
durch
selbstverpflichtendes Handeln begrenzen. Als einseitige Akte sind entsprechende
Handlungen und Erklärungen jedoch nur dann rechtsverbindlich, wenn sie sich in
dem von der Charta gesetzten Rahmen bewegen. Dies bedeutet insbesondere, dass
auch sie dem Vorrang der Friedenssicherung gerecht werden müssen. Die
Handlungen der UN-Organe stellen lediglich Konkretisierungen des Rechts der
Charta dar, können von diesem aber nicht abweichen.
259
B.
Externe Grenzen der Verwaltungsmacht des Sicherheitsrates
Bereits in seinem Grundsatzurteil zur Völkerrechtssubjektivität der Organisation hat
der IGH festgestellt, dass die Vereinten Nationen neben Inhabern von Rechten auch
Träger von Pflichten sein können.1264 Dass mit völkerrechtlichen Rechten auch
völkerrechtliche Pflichten in Form der grundsätzlichen Bindung an das Völkerrecht
einhergehen, scheint zumindest im Grundsatz unstrittig zu sein und wird selten
weiter begründet.1265 So stellt der IGH in seinem Gutachten zum Abkommen der
WTO mit Ägypten lediglich fest:
„[T]here is nothing in the character of international organizations that justify
their being considered as some form of ‚super state’ (...). International organizations are subjects of international law and, as such, are bound by any obligation incumbent upon them under general rules of international law (…).”1266
Zwar werden auch hier die Verpflichtungen, denen internationale Organisationen
und, als eine solche, auch die Vereinten Nationen unterliegen, nicht weiter präzisiert.
Vielmehr sind diese nach den allgemeinen Regeln des Völkerrechts zu bestimmen.
Allein aus der Völkerrechtssubjektivität der UN lässt sich damit noch keine
abschließende Aussage über die Bindung des Sicherheitsrates an das allgemeine
Völkerrecht treffen.1267 Doch belegt dieser Richterspruch einen bestehenden Konsens
dahingehend, dass aufgrund ihrer Völkerrechtssubjektivität eben jene allgemeinen
Regeln des Völkerrechts auch auf die Vereinten Nationen anzuwenden sind.1268 Zu
diesen Regeln gehört, gleichsam als Ur-Norm, die grundsätzliche Bindung an das
„What is does mean is that it [the UN] is a subject of international law and capable of possessing
international rights and duties (…).” – IGH, Reparations for Injuries, ICJ-Rep. 1949, 174 (179).
1264
1265
Morgenstern, International Organizations (1986), S. 32; Gowlland-Debbas, AJIL 88 (1994), 643
(662); Ipsen, Völkerrecht (2004), § 6 Rn. 5; Clapham, in: Gowlland-Debbas (Hrsg.), United Nations
Sanctions (2001), S. 133; Reinisch, GYIL 44 (2001), 270 (281 f.); Bruha, AVR 41 (2003), 295 (301).
1266
IGH, Interpretation of Agreement, ICJ-Reports 1980, 73 (89 f. § 37).
1267
Insoweit zu Recht Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 191.
1268
Fitzmaurice, Diss. Op., IGH, Namibia-Gutachten, ICJ-Rep. 1971, 220 (294 § 115). Jeweils auf
den Sicherheitsrat bezogen Skubiszewski, in: FS Jennings (1996), S. 627; Doehring, MP-UNYB 1
(1997), 91 (92); Akande, ICLQ 46 (1997), 309 (320); Tomuschat, RdC 281 (1999), 1 (134); Gowlland-Debbas, in: dies. (Hrsg.), UN Sanctions (2001), S. 14; Reinisch, AJIL 95 (2001), 851 (858).
Ausführlich zur Völkerrechtssubjektivität internationaler Organisationen allgemein Fassbender,
ÖZöRV 37 (1986), 17-47.
260
Völkerrecht, wie es aus den drei in Art. 38 Abs. 1 des IGH-Statuts genannten
Quellen fließt. Diese Verpflichtung zur Beachtung des Völkerrechts ist dabei
lediglich der Grundsatz. Er besagt noch nicht, dass jede einzelne Norm des
Völkerrechts auf den Sicherheitsrat anwendbar ist. Die Völkerrechtssubjektivität und
das Prinzip der Korrelation von Rechten und Pflichten begründen aber eine
widerlegliche Vermutung der Rechtsbindung, die im Einzelfall unter Anwendung der
völkerrechtlichen Auslegungsgrundsätze entkräftet werden kann.
Der weitaus umfassendste der in Frage stehenden Rechtsbereiche ist das
Völkergewohnheitsrecht. Vorbehaltlich des Gegenbeweises ist es auf die Vereinten
Nationen und den Sicherheitsrat als ihr Organ in gleicher Weise anzuwenden wie auf
Staaten.1269 Sofern nicht im Folgenden noch näher zu untersuchende rechtliche
Erwägungen dagegen sprächen, müsste der Sicherheitsrat mithin grundsätzlich all
jene Individual-, Gruppen- und Staatenrechte beachten, die zum gegenwärtigen
Zeitpunkt gewohnheitsrechtlich verbürgt sind.1270 Dagegen kann allein aus ihrer
Völkerrechtssubjektivität noch keine Bindung der Vereinten Nationen an vertraglich
garantierte Rechte begründet werden. Denn die UN ist den Internationalen Pakten,
der
Kinderrechtekonvention
oder
anderen
relevanten
völkerrechtlichen
Vertragswerken nicht selbst als Partei beigetreten, ist also nicht vertragsrechtlich an
sie gebunden. Wie bereits ausgeführt folgt allerdings aus Art. 24 Abs. 2 Satz 1 i.V.m.
Art. 1 Ziff. 3 SVN eine (interne) Verpflichtung zur Beachtung der in ihrer
Gesamtheit oft als international bill of rights1271 bezeichneten Konventionen.1272 Als
Völkerrechtssubjekt
sind
die Vereinten Nationen und ihre Organe aber
1269
Schermers/Blokker, International Institutional Law (1995), § 1579; Seidl-Hohenveldern/Loibl,
Internationale Organisationen (2000), Rn. 1512; i.E. auch Bleckmann, ZaöRV 37 (1977), 107 (112
f.), der allerdings eine direkte Anwendbarkeit ablehnt und stattdessen für eine analoge Anwendung
plädiert; einschränkend Oette, Wirtschaftssanktionen (2003), S. 226 u. 230. Ablehnend Starck,
Wirtschaftssanktionen (2000), S. 191. Zu den Einwänden siehe ausführlich 4.Kp. B.I.1.
1270
So für Menschenrechte allgemein Clapham, in: Gowlland-Debbas (Hrsg.), United Nations Sanctions (2001), S. 134. In diese Richtung bereits Fitzmaurice, Diss. Op., IGH, Namibia-Gutachten, ICJRep. 1971, 220 (294 § 115).
1271
Nowak, CCPR Commentary (1993), Introduction Rn. 1; Partsch, in: Wolfrum (Hrsg.), United
Nations (1995), S. 606 Rn. 18; Oette, Wirtschaftssanktionen (2003), S. 238. Zur Entwicklung dieses
Begriffs siehe das Vorwort zu Henkin (Hrsg.), Int’l. Bill of Rights (1981).
1272
Siehe dazu oben 4.Kp. A.V.1.
261
vertragsrechtlich nur an jene Verträge gebunden, die sie selbst abgeschlossen
haben.1273 Die Völkerrechtssubjektivität der Vereinten Nationen kann daher nur zur
Begründung
einer
Bindung
an
allgemeine
Rechtsgrundsätze
und
an
Völkergewohnheitsrecht herangezogen werden. Da unter diesen beiden das
Gewohnheitsrecht den inhaltlich umfangreicheren Teil bildet, wird es den
wesentlichen Gegenstand der folgenden Ausführungen bilden.
Der Grundsatz der externen Bindung des Sicherheitsrates an das allgemeine
Völkerrecht ist in der Literatur nicht unumstritten. Bedenken betreffen nicht nur die
Bindung an einzelne Rechtssätze, sondern richten sich auch gegen das Prinzip als
solches. So wird eine unmittelbare Bindung des Sicherheitsrates mit Verweis auf
einen
prinzipiellen
Vorrang
der
Charta
verneint
(I).
Andere
halten
Völkergewohnheitsrecht aus dogmatischen Gründen für unanwendbar (II). Diesen
grundsätzlichen Einwänden gegen eine externe Bindung des Sicherheitsrates wird im
Folgenden nachgegangen.
I.
Prinzipieller Vorrang der Charta vor allgemeinem Völkerrecht
Gegen den Grundsatz der externen Bindung des Sicherheitsrates insgesamt wenden
sich Auffassungen, die einen prinzipiellen Vorrang der Charta vor allgemeinem
Völkerrecht vertreten. Zur Begründung werden entweder der konstitutionelle
Charakter der Satzung der Vereinten Nationen (1.) oder die lex specialisbeziehungsweise lex posterior-Regeln aufgeführt (2.). Beide Auffassungen hätten zur
Folge, dass der Sicherheitsrat als ein durch die Charta ins Leben gerufenes Organ
deren Vorrangposition teilte. Er wäre mithin allein an die Charta gebunden,1274 an
allgemeines Völkerrecht und Völkergewohnheitsrecht dagegen nur insoweit, als er
durch die Satzung der Vereinten Nationen dazu verpflichtet würde. Grenzen der
Verwaltungsmacht des Sicherheitsrates ließen sich dann nur organisationsintern
1273
Lysen, Nordic JIL 72 (2003), 291 (293); Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 187. Auf die
unbefriedigenden Folgen dieses Umstands verweist Schreuer, in: FS Zemanek (1994), S. 226 f.
1274
So explizit Fassbender, EJIL 11 (2000), 219 (227), der die konstitutionelle Theorie vertritt.
262
begründen.1275
1.
UN-Charta als Weltverfassung mit Geltungsvorrang
Die Vertreter der hier als konstitutionelle Theorie bezeichneten Auffassung gehen
davon aus, dass die Gründer der Vereinten Nationen mehr als nur eine internationale
Organisation schaffen wollten. Vielmehr sei vor dem Hintergrund der Erfahrungen
des zweiten Weltkriegs eine grundlegende Wandlung der internationalen
Beziehungen angestrebt worden, was auch die Präambel der Charta deutlich
mache.1276 Die Charta sei daher als Grundordnung der internationalen Gemeinschaft
konzipiert worden, die dieser neben handlungsfähigen Organen mit Ansätzen aller
drei Gewalten1277 auch einen gemeinsamen Wertekatalog gebe. Die Charta habe
damit das zu diesem Zeitpunkt bestehende allgemeine Völkerrecht – soweit es
fortgelten sollte – bestätigt und inkorporiert.1278 Neben der Charta verbleibe kein
Raum mehr für ein unabhängiges Völkerrecht, vielmehr nehme diese die höchste
Stufe in der völkerrechtlichen Normenhierarchie ein und setze den Rahmen für das
übrige Völkerrecht.1279 Auch das nach Gründung der Vereinten Nationen entstandene
Völkerrecht finde seinen Geltungsgrund in den in der Charta niedergelegten
Prinzipien,1280 insbesondere in ihrem ersten und zweiten Artikel. Durch die nunmehr
nahezu universelle Mitgliedschaft der Staaten in den Vereinten Nationen habe diese
1275
Zum Umfang der internen Bindung des Sicherheitsrates an allgemeines Völkerrecht siehe bereits
oben 4.Kp. A.
1276
Fassbender, UN Security Council Reform and the Right of Veto (1998), S. 98.
1277
Zu den drei Gewalten in der internationalen Gemeinschaft siehe Tomuschat, AVR 33 (1995), 1 (818).
1278
Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht (1984), § 91 u. § 374; Fassbender, UN Security Council Reform and the Right of Veto (1998), S. 99 u. 118 f.
1279
Fassbender, UN Security Council Reform and the Right of Veto (1998), S. 117 f. Insofern
unterscheidet sich diese Auffassung von gemäßigten Konstitutionalisten, welche die Charta zwar auch
als Verfassung der internationalen Gemeinschaft begreifen, aber keine vollständige Verdrängung des
übrigen Völkerrechts annehmen. In diese Richtung beispielsweise Tomuschat, in: ders. (Hrsg.), UN at
Age Fifty (1995), S. ix, und Dupuy, MP-UNYB 1 (1997), 1 (30). Für einen Geltungsvorrang der UNCharta als formeller Verfassungsurkunde der internationalen Gemeinschaft dagegen auch Köck, in: FS
Zemanek (1994), S. 88 f. u. 91.
1280
Fassbender, UN Security Council Reform and the Right of Veto (1998), S. 119 f., zurückhaltender
Dupuy, MP-UNYB 1 (1997), 1 (11), der lediglich von einem „substantial link“ zwischen Charta und
ius cogens-Normen spricht, aber von einer unabhängigen Existenz beider Rechtsformen ausgeht.
263
so angestrebte grundlegende Umgestaltung der Weltordnung ihren Abschluss
gefunden.1281
Für die Vertreter der konstitutionellen Theorie machen insbesondere Art. 2 Ziff. 6
und Art. 103 SVN den Verfassungscharakter der Charta deutlich. Während ersterer
auch Nichtmitgliedstaaten in den Adressatenkreis der Ziele und Grundsätze der
Organisation einbeziehe,1282 begründe letzterer eine Normenhierarchie, indem er der
Charta Geltungsvorrang vor allen anderen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten
gewähre.1283 Der konstitutionellen Theorie ist zuzubilligen, dass die Charta
tatsächlich Ansätze eines universalen Geltungsanspruchs aufweist. So ist der
Sicherheitsrat nach Art. 39 SVN befugt, jede („any“) Bedrohung des Weltfriedens zu
bekämpfen, mithin auch solche, die sich außerhalb der Mitgliedstaaten der
Organisation ereignen.1284 Auch Art. 52 SVN, der die Zulässigkeit regionaler
Abmachungen und Einrichtungen regelt, beschränkt sich nicht auf solche, denen UNMitglieder angehören.1285
Indes scheinen die Prämissen dieser These fraglich.1286 Zwar mögen die
Gründerstaaten der Vereinten Nationen eine universelle Organisation angestrebt
haben, welche die Beziehungen der Staaten untereinander auf eine neue oder doch
zumindest modifizierte rechtliche Grundlage stellen sollte.1287 Doch waren auch sie
1281
Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht (1984), § 91.
1282
Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 85 f.
1283
Fassbender, UN Security Council Reform and the Right of Veto (1998), S. 104 u. 120; ferner
Köck, in: FS Zemanek (1994), S. 86. In diese Richtung auch Rolin, RdC 77 (1950), 309 (434).
1284
Verdross, AJIL 60 (1966), 55 (62); ähnlich auch Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 106
f.
1285
Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht (1992), S. 70, der sich aber gegen die Theorie vom
materiellen Verfassungscharakter der Charta wendet (ebenda, S. 29 f.).
1286
Kritisch auch Crawford, Constitution (1997), S. 10-16, der auf die fehlende Gewaltenteilung und
die immer noch im Verhältnis zu staatlichen Verfassungen vergleichsweise schwach ausgebildeten
Individualrechte verweist.
1287
Zu Recht weist allerdings Abi-Saab, in: Fox (Hrsg.), Constitution (1997), S. 20 f., darauf hin, dass
die Charta zunächst nur eine qualifizierte Universalität der Mitgliedschaft anstrebte, die insbesondere
die ehemaligen Feindstaaten ausschloss.
264
insbesondere im Hinblick auf ihre vergleichsweise geringe Anzahl1288 nicht in der
Lage, das allgemeine Rechtsprinzip pacta tertiis nec nocent nec prosunt1289 außer
Kraft zu setzen und für unbeteiligte Staaten neue Verpflichtungen zu schaffen.1290
Auch lässt die Charta selbst in wesentlichen Normen nicht erkennen, dass sie einen
derartigen universellen Vorrang beansprucht. Art. 2 Ziff. 6 SVN verpflichtet weniger
Nichtmitgliedstaaten als vielmehr die Organisation selbst.1291 Art. 103 SVN enthält
lediglich einen grundsätzlichen Vorrang der Charta vor anderen vertraglichen
Verpflichtungen
der
Mitgliedstaaten,
betrifft
mithin
nicht
ihre
gewohnheitsrechtlichen Pflichten.1292 Er legt ferner nur fest, wie sich die
Mitgliedstaaten im Falle einer Kollision von Pflichten aus der Charta mit solchen aus
anderen völkerrechtlichen Verträgen zu verhalten haben: Sie haben die aus der
Charta fließenden Pflichten zu befolgen.1293 Dagegen trifft Art. 103 SVN keine
Aussage über Gültigkeit der entgegenstehenden Verträge oder über die mögliche
1288
Nur 51 Staaten waren ursprüngliche Mitglieder i.S.d. Art. 3 SVN. 21 Staaten wurde in den ersten
zehn Jahren der Organisation der Beitritt verwehrt. Siehe dazu Vitzthum, Art. 2 Ziff. 6 SVN (2002),
Rn. 2, m.w.N.
1289
Allgemein zu diesem in Art. 34 WVK (1969) wiedergegebenen allgemeinen Grundsatz des
Völkerrechts siehe Shaw, Int’l. Law (2003), S. 834 f.; Dupuy, Droit int’l. public (2004), Rn. 286;
Ipsen, Völkerrecht (2004), § 12 Rn. 23.
1290
Dahm, Völkerrecht II (1961), S. 182 f.; Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht (1992), S. 30; Herbst,
Rechtskontrolle (1999), S. 372; Schweigman, Authority (2001), S. 195; Randelzhofer, Art. 2 SVN
(2002), Rn. 20 (die letzten beiden zu Art. 2 Ziff. 6 SVN). Anders Tomuschat, in: FS Kooijmans
(2002), S. 335 f., der in Art. 2 Ziff. 6 SVN eine mittlerweile gewohnheitsrechtlich anerkannten
Ausnahme vom pacta tertiis-Grundsatz sieht.
1291
Zu Recht sieht Vitzthum, Art. 2 Ziff. 6 SVN (2002), Rn. 23, daher die Norm als eine Verpflichtung
der Organisation und ihrer Mitgliedstaaten an, bei der Wahrung des Weltfriedens auch relevantes
Verhalten von Nichtmitgliedstaaten zu beachten, ohne dass so unmittelbar in deren Rechtsposition
eingegriffen würde.
1292
Watson, Harvard ILJ 34 (1993), 1 (25); Oette, Wirtschaftssanktionen (2003), S. 222; ferner
Dupuy, MP-UNYB 1 (1997), 1 (13), der darauf verweist, dass ein entsprechender
Ergänzungsvorschlag, der den Anwendungsbereich des Art. 103 SVN auch auf gewohnheitsrechtliche
Verpflichtungen der Mitgliedstaaten ausgedehnt hätte, bei der Gründungskonferenz in San Francisco
keine Mehrheit fand. Für eine solche erweiternde Auslegung des Art. 103 SVN auf der Grundlage des
materiellen Verfassungscharakters der Charta plädieren dagegen Köck, in: FS Zemanek (1994), S. 86,
und Bernhardt, Art. 103 SVN (2002), Rn. 21. Ebenso Schweigman, Authority (2001), S. 196, der
allerdings das gewohnheitsrechtliche Recht der Verträge und ius cogens vom Vorrang der Charta nach
Art. 103 SVN ausnimmt.
1293
Dafür, dass Art. 103 SVN lediglich einen Anwendungsvorrang der Charta gegenüber
entgegenstehendem Vertragsrecht begründet, auch Gowlland-Debbas, ICLQ 43 (1994), 55 (88).
265
Haftung der Mitgliedstaaten aufgrund der Mißachtung dieser Verträge.1294 Auch
lassen die Materialien zur Konferenz von San Francisco nicht erkennen, dass ein
solcher verfassungsrechtlicher Geltungsvorrang von den Gründerstaaten gewollt
war.1295 Zu Recht hat der IGH daher im Nicaragua-Urteil festgestellt, dass die Charta
das Bestehen parallelen Völkergewohnheitsrechts nicht ausschließt.1296 Umso mehr
gilt dies für Völkergewohnheitsrecht, das wie die Menschenrechte keine konkrete
Ausprägung in der Charta gefunden hat. Die Charta und das auf ihr basierende
Sekundärrecht der Vereinten Nationen sind Teil des Völkerrechts und nach
völkerrechtlichen Maßstäben zu beurteilen, nicht umgekehrt.1297
2.
Vorrang der Charta nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen
Das schließt indes nicht aus, dass man bei der Anwendung herkömmlicher
völkerrechtlicher Auslegungsmethoden zu ähnlichen Ergebnissen kommt wie bei
Anwendung der Lehre vom Verfassungscharakter der Charta. Aufgrund der nahezu
universellen Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen1298 ist die UN-Charta in der
Tat ein für alle relevanten Staaten verbindliches Vertragswerk geworden.1299 Als
solche könnte sie nach den Grundsätzen lex specialis derogat legi generali und lex
posterior
derogat
legi
priori
Geltungsvorrang
gegenüber
allgemeinem
1294
Bernhardt, Art. 103 SVN (2002), Rn. 6. Bernhardt nimmt allerdings an, dass auch
Nichtmitgliedstaaten aufgrund des Verfassungscharakters der Charta verpflichtet seien, die aus Art.
103 SVN folgende Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur vorrangigen Befolgung der Charta-Pflichten
gegen sich gelten zu lassen (ebenda, Rn. 18). Noch weitergehend Schreuer, in: FS Zemanek (1994), S.
237, der aufgrund ihres materiellen Verfassungscharakters eine Bindung „aller internationalen
Akteure an die Charta einschließlich internationaler Organisationen“ annimmt.
1295
Bernhardt, Art. 103 SVN (2002), Rn. 2, m.w.N.
1296
IGH, Nicaragua (merits), ICJ-Rep. 1986, 14 (95 § 178), ihm folgend Dupuy, MP-UNYB 1
(1997), 1 (15). Kritisch Fassbender, UN Security Council Reform and the Right of Veto (1998), S. 120
f.
1297
Ranjeva, Diss. Op., IGH, 1971 Montreal Convention (prov. measures), ICJ-Rep. 1992, 72 (73 §
6); Oette, Wirtschaftssanktionen (2003), S. 221. Zum rechtsphilosophischen Hintergrund der Idee
einer Weltverfassung siehe Fischer-Lescano, ZaöRV 63 (2003), 717-760.
1298
Derzeit sind der Vatikan und Taiwan als einzige Staaten nicht UN-Mitglieder (Vitzthum, Art. 2
Ziff. 6 SVN (2002), Rn. 2).
1299
Tomuschat, in: ders. (Hrsg.), UN at Age Fifty (1995), S. ix.
266
Völkergewohnheitsrecht beanspruchen.1300
Dies wäre jedoch nur unter zwei Voraussetzungen der Fall: Die Charta müsste den
fraglichen Sachverhalt tatsächlich regeln, um spezieller sein zu können, und das
entgegenstehende Gewohnheitsrecht müsste vor Inkrafttreten der Charta entstanden
sein.1301 Das unter Beteiligung der Mitgliedstaaten nach Gründung der Organisation
entstandene Gewohnheitsrecht kann dagegen seinerseits nach der lex posterior-Regel
Vorrang gegenüber der Charta beanspruchen. Insoweit handelt es sich dann um
satzungsänderndes
Gewohnheitsrecht,
dessen
grundsätzliche
Zulässigkeit
weitgehend unbestritten ist.1302 Dieses Wechselspiel zwischen Charta und
Staatenpraxis wird zusätzlich durch das Handeln der Organisation selbst beeinflusst.
Einerseits sind die Vereinten Nationen dabei Medium der durch sie handelnden
Staaten, so dass ihre Tätigkeit auch Ausfluss von Staatenpraxis ist. Andererseits kann
die UN als völkerrechtlicher Akteur selbst zur Ausbildung neuen Gewohnheitsrechts
beitragen.1303 Es kann an dieser Stelle nicht ausführlich auf die Rolle der Vereinten
Nationen bei der Herausbildung neuer völkerrechtlicher Normen eingegangen
werden.
Vielmehr
reicht
die
Feststellung,
dass
die
Entwicklung
von
Gewohnheitsrecht auch nach Gründung der UN angehalten hat, so dass die Charta
heute nur noch eingeschränkt Vorrang nach der lex posterior-Regel besitzt. Ob dies
der Fall ist, kann nur anhand der konkreten gewohnheitsrechtlichen Norm und ihres
Entstehungszeitpunkts bestimmt werden.
Im Falle der vorliegend als Grenzen der Verwaltungsmacht des Sicherheitsrates in
Frage kommenden Grundsätze der Staatensouveränität, des Selbstbestimmungsrechts
der Völker und der Menschenrechte kann ein lex posterior-Vorrang der Charta nur
1300
Köck, in: FS Zemanek (1994), S. 90; ihm folgend Oette, Wirtschaftssanktionen (2003), S. 221.
Ähnlich Brownlie, Principles (2003), S. 659.
1301
Zu Letzterem Köck, in: FS Zemanek (1994), S. 90.
1302
Köck, in: FS Zemanek (1994), S. 90; Seidl-Hohenveldern/Loibl, Internationale Organisationen
(2000), Rn. 1513. Ein Beispiel ist die Regel, die Enthaltung eines ständigen Sicherheitsratsmitgliedes
entgegen dem Wortlaut des Art. 27 Abs. 3 SVN nicht als Veto zu bewerten.
1303
§ 78 des Berichts A/1316 der ILC an die Generalversammlung vom 29.7.1950, abgedr. in ILCYB
1950 II, 364 (372). Für internationale Organisationen allgemein bereits Virally, in: Sørensen (Hrsg.),
Manual of Public Int’l. Law (1968), S. 139 f; ferner Shaw, Int’l. Law (2003), S. 78 f.
267
gegenüber dem Prinzip der Souveränität der Staaten angenommen werden. Dagegen
haben sich das Selbstbestimmungsrecht und die Menschenrechte in ihrer
gegenwärtigen Form im Wesentlichen nach der Gründung der Vereinten Nationen
entwickelt. In den allgemeinen Teilen der Charta sind beide zudem nur sehr
grundsätzlich geregelt.1304 Nur für den Sonderfall der nicht-selbstregierten
Territorien und der Treuhandgebiete hat zumindest das Selbstbestimmungsrecht eine
etwas genauere Ausprägung gefunden.1305 Die Menschenrechte und Grundfreiheiten
sind in der Charta zunächst nur als Diskriminierungsverbote ausgestaltet, verbunden
mit einem Appell zur Wahrung der Menschenwürde in der Präambel. Insofern
erscheint auch die lex specialis-Regel im Falle des Selbstbestimmungsrechts nur
bedingt, im Falle einzelner Menschenrechte kaum geeignet, einen Geltungsvorrang
der Charta zu begründen.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Charta aufgrund der lex specialisRegel nur im Falle der Souveränitätsrechte der Mitgliedstaaten eine Vorrangstellung
gegenüber allgemeinem Völkergewohnheitsrecht zukommt. Dagegen ist aufgrund
ihrer vergleichsweise schemenhaften Ausbildung in der Charta zu vermuten, dass im
Falle der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts dem in dieser Hinsicht
mittlerweile detaillierteren Völkergewohnheitsrecht der Vorrang gebührt. Ähnliche
Ergebnisse sind aufgrund des vergleichsweise niedrigen Alters der genannten Rechte
auch bei einer Anwendung des lex posterior-Grundsatzes auf die Charta
anzunehmen. Ein grundsätzlicher Vorrang vor Völkergewohnheitsrecht kommt der
Charta nach den hier angewendeten Rechtsgrundsätzen damit nicht zu. Allein im
Falle der gewohnheitsrechtlich verbürgten Rechte der Staatensouveränität ist ein
weitreichender Vorrang der in der Charta getroffenen Regelungen zu vermuten.
II.
Gegen
Dogmatische Bedenken gegen eine Bindung des Sicherheitsrates an
Völkergewohnheitsrecht
eine
vollumfänglich
externe
Bindung
des
Sicherheitsrates
an
1304
Siehe Art. 1 Ziff. 2 und Art. 55 SVN für das Selbstbestimmungsrecht sowie die Präambel, Art. 1
Ziff. 3 und Art. 55 lit. c) SVN für die Menschenrechte.
1305
Siehe Art. 73 lit. b) und Art. 76 lit. b) SVN. Allerdings sind diese auch einige der wichtigsten
Anwendungsbereiche des Selbstbestimmungsrechts.
268
Völkergewohnheitsrecht werden des Weiteren dogmatische Bedenken vorgebracht.
Die hier diskutierte externe Bindung setzt voraus, dass allein der Umfang der
Völkerrechtssubjektivität über den Umfang der Rechtsbindung entscheidet. Dagegen
muss das Gewohnheitsrecht selbst adressatenunabhängig gelten, mithin lediglich
verbindlich einen bestimmten Tatbestand regeln, unabhängig davon, durch wen er in
der Praxis verwirklicht wird. Den Bedenken gegen diese Prämisse1306 soll im
Folgenden nachgegangen werden.
1.
Die Adressatenbezogenheit des Völkergewohnheitsrechts und die daraus
folgende Notwendigkeit einer Einwilligung der Vereinten Nationen
Der Adressatenunabhängigkeit des Völkergewohnheitsrechtes wird in der Literatur
teilweise widersprochen. Aus der Völkerrechtssubjektivität folge lediglich, dass eine
bestimmte völkerrechtliche Einheit Trägerin von Rechten und Pflichten sein
könne.1307 Trägerin welcher Rechte und Pflichten sie tatsächlich sei, richte sich
danach, ob sie zum Adressatenkreis der fraglichen Rechtsnorm gehöre.1308 Der
Sicherheitsrat wäre mithin an Gewohnheitsrecht nur dann gebunden, wenn er
beziehungsweise die Vereinten Nationen zu dessen Adressatenkreis gehörten.
Den Kritikern einer externen Bindung zufolge hat das Völkergewohnheitsrecht aber
gerade
keinen
offenen
Adressatenkreis.
Vielmehr
folge
aus
den
Entstehungsvoraussetzungen des Gewohnheitsrechts, dass der Adressat des
Rechtssatzes notwendiger Bestandteil der Norm sei und diese sich eben nicht
unterschiedslos an alle Völkerrechtssubjekte wende.1309 Gewohnheitsrecht entsteht
durch eine im Verhältnis der Rechtssubjekte untereinander praktizierte Übung, die
von diesen als rechtsverbindlich angesehen werde. Daraus folge, dass nur jene
Rechtssubjekte an eine gewohnheitsrechtliche Norm gebunden seien, die an der ihr
zugrunde liegenden Übung teilgenommen und so an der Entstehung dieses
1306
Ausführlich dazu Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 188-217.
1307
Bleckmann, ZaöRV 37 (1977), 107 (112); Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 191.
1308
Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 191.
1309
Bleckmann, ZaöRV 37 (1977), 107 (110).
269
Rechtssatzes mitgewirkt hätten.1310 Unbeteiligte Rechtssubjekte seien nur insoweit
gebunden, als sie der enstandenen Norm entweder explizit oder stillschweigend
(aquiescene) zugestimmt hätten.1311 Die Vereinten Nationen wären in der Folge nur
an jene gewohnheitsrechtlichen Normen gebunden, zu deren Entstehung sie als
autonomes Völkerrechtssubjekt innerhalb ihres Kompetenzbereiches teilgenommen
hätten,1312 oder dem sie zugestimmt hätten.
Dabei seien an die Annahme einer stillschweigenden Zustimmung hohe
Anforderungen zu stellen. So setze das allgemeine Rechtsprinzip der aquiescence
voraus, dass die übrigen Teilnehmer des Völkerrechtsverkehrs darauf vertrauen
durften, dass die Vereinten Nationen gegebenenfalls dem Bestehen der fraglichen
Norm explizit widersprochen hätten.1313 Nur dann könne ihr Schweigen als
Zustimmung gewertet werden. Im Gegensatz zu den völkerrechtlich prinzipiell
omnipotenten Staaten sei aber der Tätigkeitsbereich der Vereinten Nationen deutlich
beschränkter. Schutzwürdiges Vertrauen könne daher nur dort entstehen, wo die
Organisation nach der herrschenden Auffassung im Moment der Entstehung der
Norm Befugnisse besitze und diese auch aktiv wahrnehme.1314 Erweitere die
Organisation dagegen ihren Tätigkeitsbereich, etwa weil sich tatsächliche Umstände
oder die herrschende Auslegung ihrer Satzung geändert haben, seien die Vereinten
Nationen nicht an das diesen Bereich regelnde Völkergewohnheitsrecht gebunden.
Denn die übrigen Völkerrechtssubjekte könnten nicht darauf vertrauen, dass die UN
sich gleichsam präventiv gegen gewohnheitsrechtliche Normen ausspräche, die in
1310
Bleckmann, ZaöRV 37 (1977), 107 (111); Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 190, unter
Berufung auf Virally, in: Sørensen (Hrsg.), Manual of Public Int’l. Law (1968), S. 130. Ablehnend
dagegen Ipsen, Völkerrecht (2004), § 16 Rn. 25.
1311
Ablehnend Tomuschat, RdC 241 (1993), 195 (277 u. 290).
1312
Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 192. Bleckmann, ZaöRV 37 (1977), 107 (113), hält den
auf diese Weise anwendbaren Kreis von Normen für sehr gering. Das kann allerdings angesichts der
wesentlichen Rolle, welche die Organisation bei der Entwicklung und Förderung der Menschenrechte
gespielt hat, für die Vereinten Nationen nicht gelten.
1313
Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 194 f. Dagegen fordert beispielsweise Ipsen, Völkerrecht
(2004), § 16 Rn. 27, einen ausdrücklichen und wiederholten („beharrlichen“) Widerspruch, um eine
Bindung des betreffenden Völkerrechtssubjekts an neu entstandenes Gewohnheitsrecht zu verhindern.
In diese Richtung auch Shaw, Int’l. Law (2003), S. 86.
1314
Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 198 f.
270
Bereichen entstünden, in denen sie selbst bislang nicht tätig geworden sei, die sie
mithin zum Zeitpunkt der Normentstehung noch nicht betroffen hätten.1315 Dies gelte
umso mehr für Normen, die bereits vor dem Inkrafttreten der UN-Charta entstanden
seien. Auch diese seien auf die Vereinten Nationen und damit auf den Sicherheitsrat
nur insoweit anwendbar, als diese ihnen nach den hier dargelegten Grundsätzen
zugestimmt hätten.1316
Diese Auffassung beschränkt eine externe Bindung des Sicherheitsrates auf
Gewohnheitsrecht, in dessen Geltung die Vereinten Nationen entweder eingewilligt
haben oder an dessen Entstehung sie im Rahmen ihrer autonomen Zuständigkeiten
selbst mitgewirkt haben. Im Ergebnis hat dies zur Folge, dass der Sicherheitsrat nur
insoweit durch Normen des Gewohnheitsrechts begrenzt ist, als er oder die Vereinten
Nationen dies zugelassen haben. Die externe Bindung wäre somit grundsätzlich auf
eine freiwillige Selbstbindung beschränkt, die allerdings, einmal gegeben, nicht
wieder rückgängig zu machen wäre. Angewendet auf die Übernahme der
Verwaltungshoheit über ein Krisengebiet hieße dies zunächst, dass die Ausübung
staatsgleicher territorialer Hoheitsbefugnisse allein den Sicherheitsrat keinen
gewohnheitsrechtlichen Verpflichtungen aussetzt. Da zumindest die eigenbestimmte
Verwaltung ein relativ junges Phänomen ist, wären auch der Annahme von
Bindungen im Wege der aquiescence Grenzen gesetzt.1317 Anders als Staaten wäre
der Sicherheitsrat bei der Ausübung von Territorialgewalt zunächst nicht an
gewohnheitsrechtliche Menschenrechte und Ähnliches gebunden. Allerdings könnte
man in den Anordnungen des Sicherheitsrates, bestimmte menschenrechtliche
Verträge
in
den
verwalteten
Gebieten
anzuwenden,1318
eine
konstitutive
Anerkennung gleichlautenden Gewohnheitsrechtes erkennen.
1315
Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 199.
1316
Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 200-205, insbes. S. 202. Anders Bleckmann, ZaöRV 37
(1977), 107 (113-116), der aus dem jeder Rechtsordnung inhärenten Gebot der konsequenten und
gleichen Rechtsanwendung heraus eine analoge Anwendung des Gewohnheitsrechts befürwortet.
Ablehnend Starck, a.a.O., S. 205-207, die zumindest auf die Vereinten Nationen bezogen das
Bestehen einer Regelungslücke verneint.
1317
Bei den UN-Missionen in West-Neuguinea, Namibia und Kambodscha waren den Vereinten
Nationen durch die ihrer dortigen Tätigkeit zugrunde liegenden Verträge Grenzen gesetzt. Siehe oben
2.Kp. F.-H.
271
2.
Stellungnahme
Der These von der Adressatenbeschränktheit des Völkergewohnheitsrechtes kann
nicht uneingeschränkt zugestimmt werden. Völkergewohnheitsrecht bindet auch
Staaten, die an seiner Entwicklung nicht beteiligt waren und die ihm nicht in
irgendeiner Form zugestimmt haben.1319 So sind nach herrschender Auffassung auch
neu entstandene Staaten an bestehendes Völkergewohnheitsrecht gebunden.1320 Denn
Völkergewohnheitsrecht enthält Ordnungsnormen, welche den maßgeblichen
Rahmen für die Beziehungen der Staaten untereinander setzen.1321 So kann ein neuer
Staat beispielsweise nicht mit dem Argument innerhalb der zwölf-Seemeilen-Zone
eines anderen Staates nach Öl bohren, er habe dieser Regel nicht zugestimmt, und sie
könne ihm deshalb nicht entgegengehalten werden.1322 Das Völkergewohnheitsrecht
schafft
eine
objektive
Rechtsordnung,
die
von
allen
Teilnehmern
im
völkerrechtlichen Verkehr zu beachten ist.1323
Die Objektivität der Rechtsordnung beruht indes nicht nur darauf, dass sie einen
Ordnungsrahmen für die Beziehungen der Staaten untereinander schafft. Sie beruht
auch darauf, dass Völkergewohnheitsrecht nicht mehr allein zwischenstaatliches
Recht
ist.
Vielmehr
fallen
gerade
bei
den
Menschenrechten
und
dem
Selbstbestimmungsrecht Verpflichtete und Berechtigte auseinander. Ein auf
1318
Siehe UNTAET/REG/1999/1 vom 27.11.1999 und UNMIK/REG/1999/24 vom 12.12.1999.
1319
Ipsen, Völkerrecht (2004), § 16 Rn. 25. Tomuschat, RdC 281 (1999), 1, S. 329, verweist zu Recht
darauf, dass Südafrikas Apartheidspolitik konsequent von der gesamten Staatengemeinschaft als
Völkerrechtsverstoß verurteilt wurde, obwohl Südafrika einem gewohnheitsrechtlichen
Apartheidsverbot stets widersprochen hatte.
Tomuschat, RdC 241 (1993), 195 (305 f.); Shaw, Int’l. Law (2003), S. 86; Ipsen, Völkerrecht
(2004), § 16 Rn. 29 (jeweils m.w.N.). Der UN-Menschenrechtsausschuss hat dieses Prinzip in seinem
General Comment No. 26 vom 29.10.1997 (abgedr. als A/53/40, Annex VII, 102) sogar auf
menschenrechtliche Verträge ausgeweitet. Träger dieser Rechte seien die Bewohner eines Gebietes,
nicht der Territorialstaat. Die Verpflichtung zur Garantie dieser Rechte treffe auch nachfolgende
Inhaber territorialer Hoheitsbefugnisse, unabhängig von ihrer Zustimmung. Nach der hier vertretenen
Ansicht kann dies zumindest für den Sicherheitsrat unter Kapitel VII der Charta nicht gelten.
1320
Vgl. StIGH, Lotus-Fall (1927), PCIJ Ser. A, No. 10, 1 (18): „(...) as expressed in (…) usages generally accepted as expressing principles of law and established in order to regulate the relations between these co-existing independent communities or with a view to the achievement of common aims.”
1321
1322
Zu den Kompetenzabgrenzungen im Seerecht als objektive, allgemeingültige Normen des
Völkergewohnheitsrechts Tomuschat, RdC 281 (1999), 1, (135 f.).
1323
Doehring, MP-UNYB 1 (1997), 91 (93); Tomuschat, RdC 281 (1999), 1 (134 f.).
272
reziprokem Staatenverhalten und stillschweigender Zustimmung basierendes
Verständnis des Gewohnheitrechts vermag diese Phänomene nicht mehr zu erfassen.
Dies gilt erst recht für internationale Organisationen, die anders als Staaten keine
originären, sondern derivative Völkerrechtssubjekte sind und ihre rechtliche Existenz
und ihre Befugnisse allein von ihren Mitgliedstaaten ableiten. Von diesen wurden sie
gegründet, um bestimmte Ziele besser verfolgen und bestimmte Aufgaben effektiver
wahrnehmen zu können. Der Sache nach sind internationale Organisationen somit
nichts Anderes als eine Zusammenlegung bestehender Staatenrechte auf der
Grundlage der bestehenden Völkerrechtsordnung.1324 Das schließt nicht aus, dass die
in der UN zusammengefasste Staatengesamtheit als solche den bestehenden
gewohnheitsrechtlichen Rahmen verändern kann.1325 Dass aber allein die Gründung
einer internationalen Organisation, unabhängig von ihrer Mitgliederzahl, dazu
ausreichen soll, dass sich Staaten, sofern sie nur gemeinsam handeln, ihrer
Verpflichtungen
aus
Völkergewohnheitsrecht
entziehen
können,
erscheint
merkwürdig.1326 In der Tat hat bisher keine internationale Organisation eine derartige
rechtliche Freiheit für sich beansprucht.1327 So hat im Gegenteil der UNGeneralsekretär bei der Errichtung des Jugoslawientribunals der Vereinten Nationen
ausdrücklich betont, dass dieses die allgemein anerkannten Rechte des Beschuldigten
unter allen Umstände beachten müsse.1328 Es ist daher davon auszugehen, dass auch
internationale Organisationen an die zwischen Staaten anwendbaren allgemeinen
Regeln des Gewohnheitsrechts gebunden sind, sofern diese nicht aus faktischen
1324
Zur Frage einer durch diesen Übertragungsakt bedingten mittelbaren Bindung des Sicherheitsrates
an allgemeines Völkerrecht siehe unten 4.Kp. C.
1325
Crawford, Constitution (1997), S. 15.
1326
Crawford, Constitution (1997), S. 15. Ablehnend auch Tomuschat, RdC 281 (1999), 1 (135).
1327
Morgenstern, International Organizations (1986), S. 34. Umgekehrt bekannten sich die
Sicherheitsratsmitglieder ausdrücklich in der Erklärung des Sicherheitsratspräsidenten vom 31.1.1992
zur Verpflichtung auf das Völkerrecht: „The members of the Council pledge their commitment to
international law“ (UN-Doc. S/23500, S. 3).
„It is axiomatic that the International Tribunal must fully respect internationally recognized
standards regarding the rights of the accused at all stages of its proceedings.” Siehe § 106 des
Berichts S/25704 vom 3.5.1993, abgedr. in ILM 32 (1993), 1159 (1185).
1328
273
Gründen auf Organisationen unanwendbar sind.1329
Doch selbst wenn man die These von der adressatenunabhängigen, weil objektiven
Gewohnheitsrechtsordnung im Völkerrecht ablehnt und eine wie auch immer
geartete Zustimmung der internationalen Organisation zu ihrer Bindung an eine
Norm des Gewohnheitsrechts verlangt, wären an diese keine allzu strengen
Anforderungen zu stellen. Wird eine Organisation ihrer Bestimmung gemäß
innerhalb eines bestimmten Rechtsgebietes tätig, so kann zulässigerweise darauf
vertraut
werden,
dass
sie
den
dafür
bestehenden
gewohnheitsrechtlichen
Rechtsrahmen anerkennt, sofern nichts Gegenteiliges deutlich erkennbar wird.
Insofern gelten innerhalb dieses Rechtsbereiches zumindest dieselben Grundsätze
wie bei der stillschweigenden Bindung durch Staaten.1330 Schließen die Vereinten
Nationen Verträge mit Staaten, so dürfen die übrigen Staaten mangels gegenteiliger
Anzeichen davon ausgehen, dass die UN in das bestehende gewohnheitsrechtliche
Vertragsregime einwilligt. Fordern sie die Einhaltung gewohnheitsrechtlicher
Menschenrechte oder des Selbstbestimmungsrechts der Völker, so fällt es schwer, sie
diesbezüglich als einen persistent objector einzustufen.
Ohnehin sind internationale Organisationen zumindest an jene Normen des
Gewohnheitsrechts gebunden, zu deren Entwicklung sie selbst durch entsprechende
rechtserhebliche Akte ihrer Organe beigetragen haben.1331 Der Umfang der so
erzeugten Rechtsbindungen darf angesichts der Bedeutung der Vereinten Nationen
bei der Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts und der Menschenrechte nicht
unterschätzt werden. Aus ihrer Eigenschaft als gekorenes Rechtssubjekt folgt im
Übrigen, dass ihre Kompetenzen grundsätzlich nicht umfangreicher oder
weitreichender
sein
können
als
die
Summe
der
Kompetenzen
ihrer
1329
Morgenstern, International Organizations (1986), S. 32; Tomuschat, RdC 281 (1999), 1, S. 135.
So wird beispielsweise ohne Weiteres von einer Bindung der EG/EU an Völkergewohnheitsrecht
ausgegangen: EuGH, Racke/Hauptzollamt Mainz, Slg. 1998, I-3655 (I-3704 § 44); ferner aus der
Literatur: Bothe, ZaöRV 37 (1977), 122 (137); Jacobs, EC Law and Intl. Law (1983), S. 24 f.; Oppermann, Europarecht (1999), S. 223 f. (Rn. 595 f.); Gautron/Grard, in: S.F.D.I. (Hrsg.), Droit international et droit communautaire (2000), S. 117; Tomuschat, Artikel 281 EGV (2004), Rn. 39 f.
1330
Zu diesen siehe Ipsen, Völkerrecht (2004), § 16 Rn. 25-27; sowie ausführlich Tomuschat, RdC
241 (1993), 195 (275-291).
1331
So auch Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 192.
274
Mitgliedstaaten.1332 Insofern gelten die Beschränkungen, denen die Mitglieder
unterliegen, zumindest mittelbar auch für die Vereinten Nationen. Auf diese
mittelbare oder übertragene Rechtsbindung des Sicherheitsrates soll allerdings zu
einem späteren Zeitpunkt zurückgekommen werden.1333
III.
Eingeschränkte Rechtsbindung durch Art. 1 Ziff. 1 SVN?
Wie bereits ausgeführt, trifft Art. 1 Ziff. 1 SVN eine Unterscheidung zwischen
Maßnahmen der friedlichen Streitbeilegung (Kapitel VI der Charta) und solchen zur
Beseitigung von Friedensbedrohungen (Kapitel VII der Charta).1334 Nur hinsichtlich
der friedlichen Lösung internationaler Streitigkeiten hält Art. 1 Ziff. 1 SVN die
Vereinten Nationen dazu an, die Grundsätze der Gerechtigkeit und des Völkerrechts
zu beachten. Daraus lässt sich der Umkehrschluss ziehen, bei Maßnahmen auf der
Grundlage von Kapitel VII der Charta sei der Sicherheitsrat von der Beachtung
allgemeinen Völkerrechts freigestellt.1335 Aus allgemeinem Völkergewohnheitsrecht
könnten sich dem zufolge keine Grenzen für die Befugnisse des Sicherheitsrates
ergeben, ein Krisengebiet zu verwalten.
Während den Gründungsstaaten eine derartige Intention angesichts der angestrebten
Polizeifunktion des Sicherheitsrates durchaus unterstellt werden kann, bleibt zu
klären, ob und in welchem Umfang die UN-Charta rechtstechnisch eine solche
Freistellung von der Geltung des allgemeinen Völkerrechts bewirken kann. Das gilt
insbesondere dann, wenn ihr – wie hier geschehen1336 – der materielle (Vor-) Rang
einer Verfassung der internationalen Gemeinschaft abgesprochen wird.
1.
Art. 1 Ziff. 1 SVN als Verzicht der Mitgliedstaaten auf Rechtspositionen aus
allgemeinem Völkerrecht
Am sinnvollsten erscheint es, in Art. 1 Ziff. 1 SVN eine Art Verzichtserklärung der
1332
Tomuschat, RdC 281 (1999), 1 (135).
1333
Siehe unten 4.Kp. C.
1334
Siehe oben 4.Kp. A.III.
1335
Siehe die Nachweise oben in Fußnote 1208.
1336
Siehe dazu oben 4.Kp. B.I.1.
275
Mitgliedstaaten zu sehen: Mit der Ratifikation der Charta verzichteten diese abstrakt
und ex ante gegenüber dem Sicherheitsrat auf ihre Rechtspositionen aus allgemeinem
Völkerrecht. Dabei ist der Verzicht beschränkt auf die Fälle einer Bekämpfung von
Friedensbedrohungen unter Kapitel VII der Charta und hat den Zweck, dem
Sicherheitsrat hierbei größtmögliche Handlungsfreiheit zu geben1337. Aufgrund der
mittlerweile nahezu universellen Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen kommt
ein derartiger Verzicht einer echten Freistellung von der Pflicht zur Beachtung des
Völkerrechts im Allgemeinen und des Völkergewohnheitsrechts im Besonderen
gleich.
Keinen Bedenken begegnet diese Auslegung des Art. 1 Ziff. 1 SVN, soweit es sich
um den Verzicht auf staatsbezogene Rechtspositionen aus allgemeinem Völkerrecht
handelt. Bei diesen wird es sich regelmäßig um Rechte handeln, die aus dem
Grundsatz der Staatensouveränität fließen, insbesondere um den Anspruch eines
Staates auf Achtung seiner territorialen Souveränität und Integrität. Wie bereits zu
Beginn dieser Arbeit festgestellt, können Staaten in toto auf ihre Souveränität
verzichten, indem sie sich beispielsweise dazu entschließen, sich einem anderen
Staat anzuschließen und in diesem aufzugehen.1338 De maiore ad minus ist auch ein
Verzicht auf Teilaspekte der Souveränität, wie beispielsweise das Recht auf
territoriale Unversehrtheit oder die exklusive Hoheitsausübung über oder innerhalb
eines bestimmten Gebietes, völkerrechtlich unbedenklich. Bestätigt wird dieser
Befund durch Art. 2 Ziff. 7 SVN, der den an sich geschützten domaine réservé der
Mitgliedstaaten ausdrücklich für Zwangmaßnahmen nach Kapitel VII der Charta
öffnet.
Während also die Annahme eines Verzichts auf Souveränitätsrechte auch nach dem
heutigen Stand des Völkerrechts keinen Bedenken begegnet, erscheint die Annahme
einer völligen Freistellung des Sicherheitsrates von der Pflicht zur Beachtung
gewohnheitsrechtlicher
Menschenrechte
und
des
Selbstbestimmungsrechts
1337
Goodrich/Hambro/Simons, UN Charter (1969), S. 28; Martenczuk, Rechtsbindung und
Rechtskontrolle (1996), S. 222; Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 146; Krisch,
Selbstverteidigung (2001), S. 47. In diese Richtung auch Shaw, Int’l. Law (2003), S. 1150 f.
1338
Siehe oben 3.Kp. A.II.2.
276
problematisch. So stellt sich einerseits die Frage, inwieweit Staaten rechtlich in der
Lage waren und sind, gegenüber Dritten auf die Beachtung der Menschenrechte und
des Selbstbestimmungsrechts ihrer Bürger zu verzichten, und ob dies von der Charta
gewollt ist (2). Andererseits ist zu prüfen, ob eine solche Freistellung angesichts der
stark gestiegenen Bedeutung der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts
im gegenwärtigen Völkerrecht noch wirksam ist (3).
2.
Beschränkung der Freistellung nach Art. 1 Ziff. 1 SVN auf staatsbezogene
Rechtspositionen?
Aus systematischen und normhistorischen Gründen ist zunächst denkbar, Art. 1 Ziff.
1 SVN dahingehend restriktiv auszulegen, dass er den Sicherheitsrat nur von der
Pflicht
zur
Beachtung
staatsbezogener
Rechtspositionen
des
allgemeinen
Völkerrechts freistellen soll.
Normgeschichtlich stellt die in Art. 1 Ziff. 1 SVN getroffene Unterscheidung
zwischen
Beseitigung
einer
Friedensbedrohung
einerseits
und
friedlicher
Streitbeilegung unter Beachtung der Prinzipien des Völkerrechts andererseits einen
Kompromiss zwischen zwei sich widersprechenden Zielen der Gründungsmitglieder
dar. Einerseits sollte dem Sicherheitsrat bei der Wahrung des Weltfriedens
größtmögliche
Handlungsfreiheit
gewährt
werden,
andererseits
befürchteten
insbesondere kleinere Staaten ein „zweites München“, d.h. die Bereinigung eines
internationalen Konfliktes auf Kosten ihrer territorialen Integrität.1339 Zwar konnten
sich diese Staaten mit ihrer Forderung, die Tätigkeit des Sicherheitsrates insgesamt
unter die Kuratel des allgemeinen Völkerrechts zu stellen, nicht durchsetzen, doch
willigten die Großmächte in eine entsprechende Verpflichtung im Falle der
friedlichen Streitbeilegung ein.1340 Gegenstand der Kontroverse um Art. 1 Ziff. 1
1339
Bei der Münchner Konferenz von 1938 hatten Frankreich und Großbritannien dem Drängen und
Drohen Adolf Hitlers nachgegeben und dem Deutschen Reich die Einverleibung der
Tschecheslowakei gestattet, mithin einen souveränen Staat gleichsam von der Landkarte getilgt.
Ausführlicher zum historischen Hintergrund des Art. 1 Ziff. 1 SVN Russel/Muther, History of the UN
Charter (1958), S. 655-657; Gill, NYIL 26 (1995), 33 (66 Fn. 90) und Martenczuk, Rechtsbindung
und Rechtskontrolle (1996), S. 221 f. Siehe auch die Erklärung des Vorsitzenden der Kommission I
der Konferenz von San Francisco vom 14.6.1945, Doc. 1006 I/6 vom 15.6.1945, abgedr. in UNCIO
VI, 12-34 (13 f.) (auszugsweise wiedergegeben bei Krisch, Selbstverteidigung (2001), S. 256).
1340
Siehe Report of the Rapporteur of Committee 1 to Commission I, Doc. 944 I/1/34 (1) vom
13.6.1945, abgedr. in UNCIO VI, 446-460 (453), in Auszügen auch bei Gill, NYIL 26 (1995), 33 (66
277
SVN waren somit nicht individualschützende Menschenrechte, sondern in erster
Linie der Umfang, in dem territoriale Souveränität und Integrität der Mitgliedstaaten
vor einem Eingreifen des Sicherheitsrates geschützt sein sollten.
Es ließe sich daher vertreten, dass Art. 1 Ziff. 1 SVN insoweit – ähnlich Art. 2 Ziff. 7
SVN – nur die Beachtung staatlicher Souveränitätsrechte regelt, nicht aber dem
Sicherheitsrat Zugriff auf völkerrechtlich geschützte Rechtsgüter des individuellen
Staatsbürgers geben will. Dies hätte zur Folge, dass der Sicherheitsrat auch bei
Maßnahmen nach Kapitel VII der Charta aufgrund seiner Eigenschaft als Organ
eines Völkerrechtssubjekts vollumfänglich an individualschützendes allgemeines
Völkerrecht
gebunden
wäre.
Für
eine
solche
externe
Bindung
an
gewohnheitsrechtliche Menschenrechte spricht auch der in der Präambel der Charta
betonte Glaube der Mitgliedstaaten an die insoweit als bestehend vorausgesetzten
grundlegenden Menschenrechte.1341 Dieser Glaube lässt es unwahrscheinlich
erscheinen, dass die Unterzeichnerstaaten ausgerechnet dem Exekutivorgan der von
ihnen unter dieser Prämisse ins Leben gerufenen Organisation erlauben wollten,
diese Rechte zu missachten.
Jedoch sprechen auch gewichtige Gründe gegen eine einschränkende Auslegung des
Art. 1 Ziff. 1 SVN. So gibt der Wortlaut der Norm keinerlei Anhaltspunkte für eine
derartige Beschränkung. Wichtiger aber ist, dass Art. 1 Ziff. 1 SVN eine
Grundentscheidung der Charta reflektiert – die für eine weitestmögliche
Handlungsfreiheit
des
Sicherheitsrates
bei
der
Bekämpfung
von
Friedensbedrohungen.1342 Auch eine Pflicht, die gewohnheitsrechtlich verbürgten
Menschenrechte und das Selbstbestimmungsrecht vollumfänglich zu wahren,
schränkte diese Handlungsfreiheit nicht unerheblich ein. Um diesen Anforderungen
gerecht zu werden, müsste der Sicherheitsrat vor einem Eingreifen zunächst prüfen,
welche
Auswirkungen
die
geplante
Maßnahme
auf
diese
geschützten
f.); ferner Goodrich/Hambro/Simons, UN Charter (1969), S. 28. Eine Zusammenfassung der Debatte
während der Konferenz von San Francisco findet sich bei Kelsen, Law of the United Nations (1950),
S. 16 f., Fn. 3; und bei Gill, NYIL 26 (1995), 33 (66 Fn. 90).
Der relevante Passus der Präambel lautet: „We the Peoples of the United Nations determined (…)
to reaffirm faith in fundamental human rights (…)”.
1341
1342
Siehe oben Fn. 1337.
278
Rechtspositionen haben könnte. Gerade das aber soll durch die von Art. 1 Ziff. 1
SVN getroffene Unterscheidung im Interesse eines schnellen und effektiven
Eingreifens vermieden werden.1343
Auch der bereits festgestellte grundsätzliche Vorrang des Ziels der Friedenssicherung
vor den übrigen Zielen der Organisation1344 spricht dafür, eine Freistellung des
Sicherheitsrates
unter
Kapitel
völkergewohnheitsrechtlich
VII
verbürgte
auch
von
der
Pflicht
Rechtspositionen
im
anzunehmen,
Bereich
der
Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts zu beachten.
Dem lässt sich auch nicht entgegenhalten, dass Staaten nicht über die
völkerrechtlichen Rechtspositionen ihrer Bürger verfügen könnten.1345 Zwar ist
richtig, dass Selbstbestimmungsrecht und Menschenrechte nicht die Staaten
begünstigen, sondern im Gegenteil deren Rechte beschränken. Begünstigt werden
vielmehr die Bürger eines Staates, in dem ihnen – zumindest mittelbar1346 – Abwehrbzw. Leistungsrechte eingeräumt werden. Dadurch werden Individuen aber noch
nicht zu handlungsfähigen Völkerrechtssubjekten. Vielmehr werden sie auf der
Ebene des Völkerrechts grundsätzlich durch ihre Staaten mediatisiert.1347 Selbst
wenn man nicht der Ansicht folgt, dass völkerrechtliche Menschenrechte lediglich
drittbegünstigendes zwischenstaatliches Recht sind, muss man daher davon
ausgehen, dass Staaten jedenfalls in aller Regel hinreichend legitimiert sind, um auf
1343
Siehe z.B. die Ausführungen des englischen Delegierten Lord Halifax bei der Konferenz von San
Francisco, Doc. 81/I/2 vom 4.5.1945, abgedr. in UNCIO VI, 5 (25), sowie die des amerikanischen
Delegierten Stassen, ebenda S. 29 f. Siehe auch Gill, NYIL 26 (1995), 33 (67 f. u. Fn. 90), und
Wolfrum, Article 1 (2002), Rn. 19 (jeweils m.w.N.).
1344
Siehe dazu oben 4.Kp. A.II.2.
1345
In diese Richtung HRC, General Comment No. 26 (1997), § 4, das von einem Fortbestand
menschenrechtlicher Verpflichtungen auch bei einem Wechsel des Hoheitsträgers ausgeht, da die
Rechte des IPbürgR nicht den Staaten, sondern ihren Bewohnern zustünden. Im Umkehrschluss
könnte ein Hoheitsträger die seinen Bürgern einmal durch Ratifikation des IPbürgR gewährten Rechte
nicht mehr entziehen.
1346
Formal berechtigen völkergewohnheitsrechtlich verbürgte Menschenrechte nicht unmittelbar das
Individuum oder die Gruppe selbst, sondern verpflichten lediglich den jeweiligen Staat, einen
entsprechenden Schutz zu gewährleisten. Etwas Anderes gilt nur für jene menschenrechtlichen
Verträge wie die EMRK, die dem Einzelnen die Möglichkeit einräumen, eine erlittene
Rechtsverletzung unabhängig vom Willen eines Staates in einem geordneten Verfahren geltend zu
machen (Tomuschat, RdC 281 (1999), 1 (149 f.).
279
der völkerrechtlichen Ebene für ihre Bevölkerung zu handeln. Dann waren und sind
sie aber auch grundsätzlich in der Lage, über nicht-staatsbezogene Rechtspositionen
ihrer Bevölkerung zu verfügen.
Dass auch die UN-Charta von einer Mediatisierung der Bevölkerungen durch „ihre“
jeweiligen Staaten ausgeht, zeigt bereits die Präambel:
„We the Peoples of the United Nations (...) have resolved to combine our efforts to accomplish these aims. Accordingly, our respective Governments (…)
have agreed to the present Charter of the United Nations and do hereby establish an international organization to be known as the United Nations.”
(Hervorhebungen durch den Verfasser)
Ihr lässt sich auch entnehmen, dass die Unterzeichner der Charta die Vereinten
Nationen nicht nur als ein Projekt der Staaten, sondern wesentlich auch als eines der
in ihnen verfassten Völker und Individuen sehen.1348 Dann erscheint es aber nicht
falsch, im Einzelfall auch eine Einschränkung ihrer Rechte zum Zwecke der
Friedenssicherung zuzulassen.
Art. 1 Ziff. 1 SVN ist daher nicht einschränkend dahingehend auszulegen, dass er
den Sicherheitsrat bei der Bekämpfung von Friedensbedrohungen nur von der
Beachtung staatsbezogenen Völkergewohnheitsrechts freistellt, er im Übrigen aber
als Organ eines Völkerrechtssubjekts vollumfänglich an gewohnheitsrechtlich
verbürgte Menschenrechte und das Selbstbestimmungrecht gebunden bliebe.
3.
Beschränkung der Freistellung auf abdingbare Normen des allgemeinen
Völkerrechts?
Fraglich ist jedoch, ob eine derart umfassende Freistellung von der Geltung
allgemeinen Völkerrechts heute noch rechtlich zulässig ist oder ob nicht vielmehr
von einer mittlerweile eingetretenen gewohnheitsrechtlichen Einschränkung des Art.
1 Ziff. 1 SVN auszugehen ist.
1347
Dupuy, Droit int’l. public (2004), Rn. 191; Ipsen, Völkerrecht (2004), § 7 Rn. 1-3.
1348
Zum historischen Hintergrund dieser die amerikanische Verfassung von 1776 zitierenden
Bezugnahme auf die Völker siehe die Ausführungen der amerikanischen Delegierten Gildersleeve in
San Francisco, Doc. 1006, I/6, abgedr. in UNCIO VI, 12 (19 f.); ferner Russel/Muther, History of the
280
a. Das Konzept zwingender Grundwerte (ius cogens)
So war zwar das Völkerrecht jedenfalls bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts allein ein
Recht der Staaten, das auf Basis von Reziprozität ihr Verhalten untereinander
regelte.1349
Auch
Verträge
zum
Schutze
Einzelner
wie
die
Haager
Landkriegsordnung von 1907 waren rein zwischenstaatliche Übereinkommen, deren
Geltung im Einzelfall von der Gegenseitigkeit ihrer Anwendung abhing.1350 Heute ist
dagegen weitgehend unstrittig, dass es einen begrenzten Kreis völkerrechtlicher
Normen gibt, die als Ausdruck der grundlegenden Werte der internationalen
Gemeinschaft nicht zur Disposition einzelner Staaten stehen und nicht dem
Reziprozitätsprinzip unterliegen.1351 Sie zu beachten, ist, wie der IGH im Barcelona
Traction-Urteil 1970 ausgeführt hat, Pflicht eines jeden Staates gegenüber der
internationalen Gemeinschaft insgesamt, da aufgrund ihrer Bedeutung alle Staaten
ein Interesse an der Einhaltung dieser Normen haben.1352
Das Konzept zwingender Grundwerte fußt im Naturrecht1353 und gewann vor allem
durch die furchtbaren Erfahrungen des zweiten Weltkriegs neue Aktualität und
Legitimation.1354 Im internationalen Vertragsrecht ist dieses Konzept in den
UN Charter (1958), S. 910-918. Kritisch zu diesem Konzept Kelsen, Law of the United Nations
(1950), S. 6 f. („political fiction“).
1349
Fassbender, EuGRZ 30 (2003), 1 (2); Cassese, Int’l. Law (2005), S. 14 (jeweils m.w.N.).
1350
Zur Entwicklung der Menschenrechte bis zur Gründung der Vereinten Nationen siehe Tomuschat,
Human Rights (2003), S. 6-22.
1351
Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht (1984), § 524; Tomuschat, RdC 281 (1999), 1 (81);
Fassbender, EuGRZ 30 (2003), 1 (6); Meron, RdC 301 (2003), 9 (206 u. 421 f.); Ipsen, Völkerrecht
(2004), § 15 Rn. 36; zurückhaltender Dupuy, Droit int’l. public (2004), Rn. 404-406.
1352
IGH, Barcelona Traction, ICJ-Rep. 1970, 3 (33 § 33). Als Beispiel für solche Normen nannte der
IGH „the outlawing of acts of aggression, and of genocide“ sowie die „basic rights of the human
person, including protection from slavery and racial discrimination“ (ebenda, 33 § 34). Die Konzepte
eines Rechts erga omnes und einer Norm iuris cogentis sind zwar nicht deckungsgleich, beruhen aber
auf derselben Prämisse, nämlich der Existenz von allseits verpflichtenden Grundwerten der
internationalen Gemeinschaft. Siehe dazu ausführlicher Hannikainen, Peremptory Norms (1988), S. 46; Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht (1992), S. 32 f.; Tomuschat, RdC 281 (1999), 1 (81-85);
Fassbender, EuGRZ 30 (2003), 1 (5-10); Meron, RdC 301 (2003), 9 (415-423).
So ausdrücklich Fassbender, EuGRZ 30 (2003), 1 (12); ähnlich auch Shaw, Int’l. Law (2003), S.
117. Zum Ursprung des Naturrechts und seiner fortdauernden Bedeutung im heutigen Völkerrecht
siehe auch Hall, EJIL 12 (2001), 269-307.
1353
1354
Zur Entstehungsgeschichte des ius cogens siehe ausführlich Hannikainen, Peremptory Norms
(1988), S. 23-184. Zum Konzept des ius cogens und seinen dogmatischen Begründungen siehe ferner
ausführlich Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht (1992), S. 26-209; Ragazzi, Erga Omnes (1997), S.
281
gleichlautenden Art. 53 der Wiener Vertragsrechtskonvention von 1969 (WVK) und
der Wiener Konvention über das Recht der Verträge mit internationalen
Organisationen (WVKIO)1355 umgesetzt worden. Er besagt, dass Verträge, die gegen
eine zwingende Norm des allgemeinen Völkerrechts (sog. ius cogens) verstoßen,
nichtig sind. Gleiches gilt nach wohl überwiegender Ansicht auch für einseitige
völkerrechtliche Akte.1356 Auch wenn Art und Umfang der Normen, die das corpus
iuris des ius cogens ausmachen, im Einzelnen noch höchst umstritten sind, ist doch
das Konzept eines für alle Völkerrechtssubjekte zwingenden Rechts weitgehend
anerkannt.1357 Art. 53 WVK und Art. 53 WVKIO geben insoweit bestehendes
Völkergewohnheitsrecht wieder.1358
Unabhängig von seinen verschiedenen Ausprägungen im Völkerrecht1359 und den
damit verbundenen Kontroversen ist vorliegend entscheidend, dass es in der
Staatengemeinschaft einen Konsens dahingehend gibt, dass die Missachtung
bestimmter Kernnormen, insbesondere – aber nicht ausschließlich – im Bereich der
Menschenrechte, generell unzulässig ist und ihr Schutz und ihre Beachtung im
Interesse aller Staaten sind. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Verstoß auf einem
Völkerrechtsakt oder auf einer sonstigen einem Staat zurechenbaren Handlung
43-73; und mit einem neuen Ansatz Kolb, Théorie du ius cogens (2001). Insbesondere zu den Quellen
des zwingenden Rechts Byers, Nordic JIL 66 (1997), 211-239.
1355
Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge zwischen Staaten und internationalen
Organisationen oder zwischen internationalen Organisationen vom 21. März 1986, abgedr. als UNDoc. A/Conf.129/15 vom 20.3.1986 und in ILM 25 (1986), 543-592.
1356
Meron, AJIL 80 (1986), 1 (19); Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht (1992); S. 335-339 (m.w.N.);
Tomuschat, RdC 281 (1999), 1 (82); Fassbender, EuGRZ 30 (2003), 1 (6).
1357
Frowein, Jus Cogens, EPIL III (1997), 65 (66), Byers, Nordic JIL 66 (1997), 211 (213 u. 239);
Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 222; Reinisch, AJIL 95 (2001), 851 (859); Shaw, Int’l. Law
(2003), S. 849; Klein, in: FS Ress (2005), S. 151.
1358
Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht (1992), S. 127 f.; Scott (u.a.), Michigan JIL 16 (1994), 1
(118); Ragazzi, Erga Omnes (1997), S. 47; Tomuschat, RdC 281 (1999), 1 (81); Brownlie, Principles
(2003), S. 488-90; Oette, Wirtschaftssanktionen (2003), S. 231; Shaw, Int’l. Law (2003), S. 117 Ipsen,
Völkerrecht (2004) § 15 Rn. 36 (jeweils m.w.N.).
1359
Zu nennen sind neben den Konzepten der Verpflichtungen erga omnes und des ius cogens auch
zeitweise diskutierte Abstufungen im Recht der Staatenverantwortlichkeit sowie das Völkerstrafrecht.
Siehe dazu Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht (1992), S. 26-34; Fassbender, EuGRZ 30 (2003), 1
(5-10); zum Verhältnis der beiden erstgenannten Konzepte im Bereich der Menschenrechte: Meron,
AJIL 80 (1986), 1-23 (inbes. 10 ff.); Teraya, EJIL 12 (2001), 917-941 (insbes. 927-936), jeweils
m.w.N.
282
basiert.1360 An diese Grundnormen sind ferner nicht nur Staaten, sondern
grundsätzlich auch internationale Organisationen gebunden, soweit die fraglichen
Normen der Sache nach auf sie anwendbar sind.1361 Über das Völkerstrafrecht sind in
entsprechender Weise auch Individuen an diese Grundnormen gebunden.1362
Ferner wird vielfach die tatsächliche Einwirkungsmöglichkeit auf die geschützten
Rechtspositionen für ausreichend angesehen, um etwa Aufständigenbewegungen und
transnationale Unternehmen als verpflichtet anzusehen, bestimmte Menschenrechte
zu beachten.1363 Im Falle einer von jeder staatlichen Zustimmung unabhängigen
Gebietsverwaltung unter Kapitel VII der Charta übt der Sicherheitsrat sogar
exklusive Kontrolle über ein Gebiet und seiner Bewohner aus. Zumindest aber
können fehlende tatsächliche Einwirkungsmöglichkeiten auf Menschenrechte und
Selbstbestimmungsrecht nicht mehr als Argumente gegen eine Bindung des
Sicherheitsrates angeführt werden.1364
b. Bedenken gegen eine starre Bindung des Sicherheitsrates an ius cogens
Dennoch erscheint fraglich, ob sich dieser Befund einer universellen Bindung aller
völkerrechtlich relevanten Akteure an zwingende Grundwerte der internationalen
Gemeinschaft ohne Weiteres auch auf den Sicherheitsrat übertragen lässt. So ist die
internationale Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit in den Vereinten Nationen
versammelt und kann auf diesem Wege bestehendes ius cogens abändern oder neues
erzeugen.1365 Die Arbeit der Vereinten Nationen, genauer: die Tätigkeit der
Mosler, Int’l. Society (1980), S. 18; Hannikainen, Peremptory Norms (1988), S. 6 f. (m.w.N.). In
diese Richtung auch Gaja, RdC 172 (1981 II), 271 (295); zurückhaltender Meron, AJIL 80 (1986), 1
(21): Bei rein nationalen Rechtsakten nur Wirkungslosigkeit auf der Ebene des Völkerrechts.
1360
1361
So beispielsweise ohne Weiteres für eine unmittelbare Bindung der EG/EU an ius cogens Oppermann, Europarecht (1999), S. 224 f. (Rn. 598 u. 600); Tomuschat, Artikel 281 EGV (2004), Rn. 40 u.
43.
1362
Vgl. Tomuschat, in: FS Arangio-Ruiz (2004), S. 1767 f.
1363
Mégret/Hoffmann, HRQ 25 (2003), 314 (322 f.) m.w.N.
1364
Mit diesem Argument lehnten die Vereinten Nationen lange eine Bindung an die Genfer
Konventionen ab. Siehe dazu die § 3 der Legal Opinion of the Secretariat of the United Nations vom
15.6.1972, abgedr. im UNJYB 1972, 153 (153).
1365
Vgl. Art. 53 S.2 WVK (1969)/WVKIO (1986) a.E. Siehe dazu auch Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht (1992), S. 188.
283
Mitgliedstaaten innerhalb der Vereinten Nationen hat so unmittelbaren Einfluss auf
den gegenwärtigen Stand des ius cogens.
Dann muss aber bei der Bestimmung des Umfangs und der Reichweite des
gegenwärtigen
ius
cogens
grundsätzlich
berücksichtigt
werden,
dass
die
internationale Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit den Sicherheitsrat mit der
Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens betraut hat (Art. 24 Abs. 1
SVN). Dieser besitzt damit eine völlig andere Stellung im Gefüge der internationalen
Gemeinschaft als etwa Einzelstaaten oder Regionalorganisationen. Im Interesse einer
effektiven und schnellen Bekämpfung von Friedensbedrohungen soll der
Sicherheitsrat gemäß Art. 1 Ziff. 1 SVN ohne Rücksicht auf die Grundsätze der
Gerechtigkeit und des Völkerrechts handeln dürfen. Bewusst wurde daher auch der
Schutz vor einem Missbrauch dieser Befugnisse auf Anforderungen an die
Zusammensetzung des Rates (Art. 23 Abs. 1 SVN), das Mehrheitserfordernis und
das Vetorecht der ständigen Mitglieder beschränkt (Art. 27 Abs. 3 SVN). Diese
Grundentscheidung, die mittlerweile fast alle Staaten der Welt durch ihren Beitritt
zur UN mittragen,1366 unterscheidet den Sicherheitsrat von allen anderen
völkerrechtlichen Akteuren.
Daraus folgt, dass das, was einzelnen Staaten nach der Auffassung der
internationalen Gemeinschaft verboten sein sollte, noch nicht notwendig auch für den
Sicherheitsrat verboten sein muss. Diesen Umstand illustriert insbesondere das
völkerrechtliche Gewaltverbot: Staaten sind nicht nur aus Art. 2 Ziff. 4 SVN,
sondern
auch
gewohnheitsrechtlich
verpflichtet,
in
ihren
internationalen
Beziehungen auf jegliche Form von Gewaltanwendung zu verzichten, die weder der
individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung dient (Art. 51 SVN) noch in
sonstiger Weise mit den Zielen der UN in Einklang zu bringen ist. Den Staaten fehlt
– mit Ausnahme des umstrittenen Rechts der humanitären Intervention – jegliches
eigenständiges ius ad bellum. Zumindest dieses eng verstandene Gewaltverbot ist als
1366
Einzige wesentliche Ausnahmen sind aus religiösen und kirchenpolitischen Gründen der
Vatikanstaat, sowie aufgrund der „Ein-China-Doktrin“ die Republik China (Taiwan). Siehe hierzu
Fassbender, in: Volger, Lexikon der VN (2000), 572-574.
284
Aggressionsverbot unstrittig zwingenden Charakters, mithin ius cogens.1367 Auch
internationale Organisationen sind daran gebunden. NATO und EU sind in gleicher
Weise zu seiner Beachtung verpflichtet wie Deutschland oder Frankreich.1368
Dagegen ist es geradezu rechtliches Charakteristikum des Sicherheitsrates, dass er
zur Bekämpfung von Friedensbedrohungen militärische Gewalt anwenden darf,
lange bevor Staaten ihrerseits auf der Grundlage des Selbstverteidigungsrechts tätig
werden dürften. Anders als andere Völkerrechtssubjekte ist der Sicherheitsrat somit
nicht auf rein defensive Gewaltausübung beschränkt, sondern kann und soll auch
präventiv tätig werden.1369 Das heißt noch nicht, dass der Sicherheitsrat nicht an das
zwingende völkergewohnheitsrechtliche Aggressionsverbot gebunden wäre. Es
schränkt ihn jedoch weit weniger ein, da es nur chartawidrige militärische Angriffe
erfasst1370.
Anders
als
Staaten
kann
der
Sicherheitsrat
als
Träger
der
Hauptverantwortung für den Weltfrieden auf der Grundlage von Kapitel VII der
Charta aber auch chartakonform präventiv militärische Zwangsmaßnahmen
anordnen.
Aus der nahezu universellen Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen und der
besonderen Rolle, welche die so verfasste internationale Gemeinschaft dem
Sicherheitsrat zugedacht hat, folgt somit, dass der Grundsatz der zwingenden
Verpflichtung einzelner Staaten an die Grundwerte der internationalen Gemeinschaft
nicht unterschiedslos und gleichsam schematisch auf den Sicherheitsrat übertragen
werden kann.1371 Andererseits ist der bisherigen Staatenpraxis innerhalb und
außerhalb der Vereinten Nationen nicht zu entnehmen, dass der Sicherheitsrat
grundsätzlich von einer Bindung an die zwingenden Grundwerte ausgenommen sein
1367
Hannikainen, Peremptory Norms (1988), S. 356; Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht (1992), S.
234 f., jeweils m.w.N.; Ipsen, Völkerrecht (2004), § 15 Rn. 59.
1368
Tomuschat, RdC 281 (1999), 1 (135). Siehe auch Art. 53 Abs. 1 Satz 2 SVN, der
Zwangsmaßnahmen seitens regionaler Organisation ausdrücklich von einer Ermächtigung durch den
Sicherheitsrat abhängig macht.
1369
So auch Tomuschat, in: FS Arangio-Ruiz (2004), S. 1767.
1370
So Hannikainen, Peremptory Norms (1988), S. 356, und Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht
(1992), S. 236, mit jeweils ausführlicher Begründung anhand der Staatenpraxis.
1371
Tomuschat, in: FS Arangio-Ruiz (2004), S. 1767.
285
soll.1372 Dies widerspräche auch der Idee zwingender Grundwerte als einem für alle
Völkerrechtssubjekte
verbindlichen
Mindeststandard.1373
Eine
entsprechende
Abänderung geltenden ius cogens zugunsten einer umfassenden Ausnahme des
Sicherheitsrates ist mithin nicht anzunehmen.1374
Somit kann weder von einer grundsätzlichen Unanwendbarkeit des corpus iuris
cogentis
auf
den
Sicherheitsrat,1375
noch
von
seiner
flächendeckenden
Anwendbarkeit ausgegangen werden1376. Vielmehr ist grundsätzlich bei jeder
zwingenden Norm des Völkerrechts individuell zu prüfen, inwieweit diese auf den
Sicherheitsrat unter Kapitel VII der Charta anwendbar ist. Vor diesem Hintergrund
sollen im Folgenden einige erste Überlegungen zur Bindung des Sicherheitsrates an
staats-, gruppen- und individualschützende Normen des zwingenden Rechts
angestellt werden. Der noch immer höchst umstrittene genaue Gehalt dieser
zwingenden Grundwerte macht es dabei schwierig, diesbezüglich generelle Aussagen
zu treffen, weshalb die folgenden Ausführungen eher skizzenhaft gehalten sind. Sie
sollen zu einem späteren Zeitpunkt anhand spezifischer Beispiele konkretisiert
werden.1377
c. Bindung an zwingende Staatenrechte
Aus
der
Grundentscheidung
der
Mitgliedstaaten
für
eine
weitgehende
1372
Aufgrund der Bedeutung des zwingenden Völkerrechts in der Rechtsordnung der
Staatengemeinschaft müsste ein solcher Wille der internationalen Gemeinschaft jedenfalls klar
hervortreten (so zu Recht Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 225 (Fn. 289)). Ein solcher Wille
ist indes weder bei der Ausarbeitung und Ratifikation der WVK (1969) und der WVKIO (1986) noch
danach deutlich geworden.
1373
Zu diesem Begründungsstrang des ius cogens siehe beispielsweise Kolb, Théorie du ius cogens
(2001), S. 156-163 m.w.N. und krit. Anmerkungen.
1374
Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 225 (Fn. 289).
1375
So aber Martenczuk, Rechtsbindung und Rechtskontrolle (1996), S.273 f., und Oosthuizen, Leiden
JIL 12 (1999), 549 (559).
1376
So aber Judge Lauterpacht, Sep. Op., Application of Genocide Convention, ICJ-Rep. 1993, 407
(440 § 100); Klein, in: FS Mosler (1983), S. 488; Gowlland-Debbas, AJIL 88 (1994), 643 (667);
Herdegen, Vanderbilt JTL 27 (1994), 135 (156); Scott (u.a.), Michigan JIL 16 (1994), 1 (118);
Watson, Harvard ILJ 34 (1993), 1 (37); Gill, NYIL 26 (1995), 33 (79); Gasser, ZaöRV 56 (1996), 871
(881); Akande, ICLQ 46 (1997), 309 (322); Reinisch, AJIL 95 (2001), 851 (859); Oette,
Wirtschaftssanktionen (2003), S. 232. Dies offenlassend Byers, Nordic JIL 66 (1997), 211 (217).
1377
Siehe dazu unten 4.Kp. E.
286
Handlungsfreiheit des Sicherheitsrates folgt zunächst, dass dieser bei einem
Tätigwerden unter Kapitel VII der Charta keine Rücksicht auf jene völkerrechtlichen
Grundnormen nehmen muss, die primär Staaten schützen. Sofern es überhaupt
zwingende Staatenrechte gibt,1378 ist jedenfalls von einer grundsätzlichen
Unterordnung aller einzelstaatlicher Interessen unter das gemeinsame Ziel der
Friedenssicherung auszugehen. Ein entsprechender Wille der Staatengemeinschaft
ergibt sich aus Art. 2 Ziff. 7 SVN a.E. und aus dem Umstand, dass der Schutz
staatlicher Souveränität nicht explizit als Ziel und Aufgabe der Organisation genannt
wird. Der Unterscheidung zwischen wirksamen Kollektivmaßnahmen gegen
Friedensbedrohungen einerseits und Maßnahmen zur friedlichen Streitbeilegung
andererseits (Art. 1 Ziff. 1 SVN) wird man lediglich eine zeitliche Grenze
dahingehend entnehmen können, dass nur dauerhafte Beeinträchtigungen staatlicher
Rechte unzulässig sind.1379
d. Bindung an den zwingenden Kerngehalt des Selbstbestimmungsrechts
Schwieriger erscheint die Beurteilung der Frage, inwieweit der Sicherheitsrat bei der
Bekämpfung von Friedensbedrohungen an einen möglichen zwingenden Kerngehalt
des Selbstbestimmungsrechts gebunden ist. Zwar ist seine Beachtung vom IGH im
Osttimor-Fall zu einer völkerrichtlichen Verpflichtung erga omnes erklärt worden1380
und es wird zumindest in Teilbereichen als zwingendes Recht angesehen.1381 Es ließe
sich jedoch argumentieren, dass das Selbstbestimmungsrecht, zumindest soweit es
auf Verwirklichung in einem eigenen Staat gerichtet ist,1382 nicht weiter gehen könne
1378
Zur Frage, inwiefern Rechte der Staaten zum Bestand des zwingenden Rechts gehört, siehe Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht (1992), S. 210-255 (nur „Rechtspositionen, welche die
Selbstbestimmtheit des Staatsvolkes nach außen absichern“).
1379
Siehe im Einzelnen dazu unten 4.Kp. E.VI und VIII.
1380
IGH, East Timor (Portugal v. Australia), ICJ-Rep. 1995, 90 (102 § 29).
1381
Hannikainen, Peremptory Norms (1988), S. 421, Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht (1992), S.
264, und Ipsen, Völkerrecht (2004), § 27 Rn. 9, messen nur dem Selbstbestimmungsrecht der
Kolonialvölker zwingenden Charakter bei. Weitergehend Frowein, Jus Cogens, EPIL III (1997), 65,
S. 67; Wodarz, Kosovo-Konflikt (2002), S.166 f.; Doehring, Völkerrecht (2004), Rn. 800; Mett,
Selbstbestimmungsrecht (2004), S. 194 f. Ablehnend noch Cristescu, Self-Determination (UN Studie
1981), § 154.
1382
Siehe die Nachweise zum Selbstbestimmungsrecht unten im 4.Kp. E.V.
287
als die Rechte eines bereits bestehenden Staates. Mithin wäre es der
Friedenssicherung unterzuordnen, der Sicherheitsrat wäre auf externem Wege nicht
zu seiner Beachtung verpflichtet.1383 Auch der Umstand, dass gerade bei ethnischen
Konflikten oft Fragen der Selbstbestimmung eng mit den Ursachen der
Friedensbedrohung verknüpft sind, gebietet Zurückhaltung bei der Annahme einer
uneingeschränkten
externen
Bindung
des
Sicherheitsrates
an
das
Selbstbestimmungsrecht.
Indes ist die Förderung des Selbstbestimmungsrechts in Art. 1 Ziff. 2 SVN als Ziel
der Vereinten Nationen genannt. Auch fehlt es an einer dem Art. 2 Ziff. 7 SVN a.E.
vergleichbaren expliziten Unterordnung des Selbstbestimmungsrechts unter das Ziel
der Friedenssicherung. Es spricht daher einiges dafür, eine Bindung des
Sicherheitsrates an den zwingenden Kernbestand des Selbstbestimmungsrechts
anzunehmen.1384 Jedoch erscheint fraglich, ob eine zeitlich begrenzte Missachtung
des Selbstbestimmungsrechts im Kontext einer Übergangsverwaltung bereits als
Verstoß gegen grundlegende Werte der internationalen Gemeinschaft angesehen
werden kann.1385 Einer dauerhaften Missachtung steht aber ohnehin die in Art. 1 Ziff.
1 SVN a.E. niedergelegte Verpflichtung entgegen, bei der auf Dauer angelegten
Lösung eines Streitfalles die Grundsätze der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu
beachten.
e. Bindung an individualschützende zwingende Menschenrechte
Dagegen fällt es leichter, eine Bindung des Sicherheitsrates an den zwingenden
Kernbestand
der
Menschenrechte
auch
bei
der
Bekämpfung
von
Friedensbedrohungen unter Kapitel VII der Charta zu bejahen. 1386 Zu diesem eng
1383
Zur Frage einer durch die Charta bewirkten internen Bindung des Sicherheitsrates siehe bereits
oben 4.Kp. A.II.1.b.
1384
So auch Schweigman, Authority (2001), S. 169; de Wet, Chapter VII Powers (2004), S. 326; i.E.
auch Gill, NYIL 26 (1995), 33 (74 f.). Dem Grunde nach für eine Bindung auch Oette,
Wirtschaftssanktionen (2003), S. 324 f., der dem Selbstbestimmungsrecht im Kontext der von ihm
behandelten UN-Wirtschaftssanktionen jedoch keine Bedeutung zumisst (ebenda, S. 327).
1385
Ausführlicher dazu unten 4.Kp. E.V.
1386
Für eine uneingeschränkte Bindung an individualschützende Menschenrechte Tomuschat, in: FS
Kooijmans (2002), S. 340.
288
begrenzten Kreis unabdingbarer Menschenrechte wird man wenigstens das Verbot
willkürlicher Tötung, der Folter, der Sklaverei und des Genozids zählen können,
ferner den im gemeinsamen Artikel 3 der Genfer Konventionen niedergelegten
humanitären Mindeststandard.1387 Anders als das Selbstbestimmungsrecht und die
Staatensouveränität schützen die genannten Normen nicht rechtliche Konstrukte1388,
sondern unmittelbar das real existierende, quasi vorrechtliche Individuum.1389 Sie
bilden gleichsam einen völkerrechtlich gebotenen Minimalverhaltensstandard dem
einzelnen Menschen gegenüber, der unter keinen Umständen unterschritten werden
darf.
Für ihre Verbindlichkeit ist nicht der formale völkerrechtliche Status des potentiell
Verpflichteten, sondern vielmehr allein dessen tatsächliche Einwirkungsmöglichkeit
auf die geschützte Rechtsposition entscheidend. Das zeigt sich insbesondere daran,
dass
diese
Normen
vielfach
im
Rahmen
des
gewohnheitsrechtlichen
Völkerstrafrechts auch für das unmittelbar handelnde Individuum strafbewehrt sind,
obwohl der einzelne Mensch im Übrigen nur sehr eingeschränkt – wenn überhaupt –
Völkerrechtssubjektivität besitzt.1390 Dieser Umstand macht deutlich, dass das
gegenwärtige Völkerrecht einen möglichst umfassenden Schutz dieser Rechte
unabhängig von der formalen Rechtsposition des Verpflichteten anstrebt.
Wie die Förderung des Selbstbestimmungsrechts gehört auch die Förderung der
Menschenrechte zu den Zielen der Vereinten Nationen.1391 Aber stärker noch als im
Falle
des
Selbstbestimmungsrechts
entspricht
der
Schutz
grundlegender
Menschenrechte auch dem ursprünglichen Sinn und Zweck der Vereinten Nationen.
1387
Siehe z.B. Fassbender, EuGRZ 30 (2003), 1 (6). Siehe auch die Aufzählung in HRC, General
Comment No. 29 (2001), §§ 11-13; und bei Meron, RdC 301 (2003), 9 (204 f.).
1388
Auch der Begriff des Volkes als Träger des Selbstbestimmungsrechts ist, wenn man ihn nicht nur
auf rein ethnisch definierte Gruppen bezieht, ein auslegungsbedürftiger Rechtsbegriff. Siehe dazu
etwa Doehring, Self-Determination (2002), Rn. 27-31.
1389
Für den Individualschutz als wesentliches Merkmal zwingender Grundwerte der internationalen
Gemeinschaft Fassbender, EuGRZ 30 (2003), 1 (11).
1390
Siehe dazu beispielsweise Arnold, YBIHL 5 (2002), 344-359, und Tomuschat, Human Rights
(2003), S. 267-292. Eine ähnliche Argumentation findet sich auch bei HRC, General Comment No. 29
(2001), § 12.
1391
Art. 1 Ziff. 3 SVN. Siehe dazu bereits oben 4.Kp. A.II.1.b.
289
Die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit als Hauptaufgabe
der Vereinten Nationen ist kein Selbstzweck, sondern dient dazu, wie es die
Präambel der Charta ausdrückt, künftige Geschlechter vor unsäglichem Leid zu
bewahren.1392 Damit ist letztlich der Schutz der in den Mitgliedstaaten verfassten
Menschheit Leitmotiv der Organisation und raison d’être der mit ihr geschaffenen
Weltfriedensordnung, wie unvollständig sie auch sein mag.1393 Gerade der Umstand,
dass die Mitgliedstaaten den Sicherheitsrat mit Art. 24 Abs. 1 SVN als Garanten für
diese Friedensordnung eingesetzt haben, spricht dafür, ihn selbst unter allen
Umständen
zur
Wahrung
dieser
individualschützenden
Grundwerte
zu
verpflichten.1394
Umgekehrt wird der Sicherheitsrat durch die Annahme einer solchen unbedingten
Beachtungspflicht nur geringfügig eingeschränkt. Es ist kaum denkbar, dass etwa ein
Verzicht auf die Misshandlung von Zivilpersonen (Art. 3 Ziff. 1 der Genfer
Konventionen) oder auf die Versklavung eines Teils der Bevölkerung die Fähigkeit
des Sicherheitsrates zur Bekämpfung von Friedensbedrohungen unter Kapitel VII der
Charta in irgendeiner Weise beeinträchtigen würde. Wo es aber im Einzelfall doch zu
einem Konflikt kommt, ist aufgrund der hohen Bedeutung, welche die Mehrzahl der
Staaten diesen Rechten beimisst, davon auszugehen, dass es dem Willen der Staaten
entspricht, eine geringere Effizienz der Friedenserhaltung in Kauf zu nehmen.
IV.
Zwischenergebnis: Die externe Bindung des Sicherheitsrates
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Vereinten Nationen als
Völkerrechtssubjekt grundsätzlich an Völkergewohnheitsrecht gebunden sind. Dies
schließt den Sicherheitsrat als eines ihrer Organe ein. Dabei kann weder aus ihrem
Verfassungscharakter noch aus der universellen Mitgliedschaft in den Vereinten
Nationen auf einen generellen Vorrang der Charta vor gewohnheitsrechtlichen
Der relevante Passus der Präambel lautet: „(…) to save succeeding generations from the scourge
of war, which twice in our lifetime has brought untold sorrow to mankind (…)”.
1392
1393
In diese Richtung bereits Tomuschat, in: FS Arangio-Ruiz (2004), S. 1767.
1394
Für eine externe Bindung des Sicherheitsrates an zwingende Menschenrechte auch Klein, in: FS
Ress (2005), S. 160.
290
Normen geschlossen werden. Als Teil einer objektiven Rechtsordnung entfaltet das
Gewohnheitsrecht auch für die Vereinten Nationen Geltung, ohne dass diese ihm
stillschweigend oder explizit zustimmen müssten.
Indes trifft Art. 1 Ziff. 1 SVN eine Unterscheidung zwischen Maßnahmen zur
Bekämpfung von Friedensbedrohungen einerseits und solchen zur friedlichen
Beilegung
internationaler
Streitigkeiten
andererseits,
und
verpflichtet
den
Sicherheitsrat nur in dem letztgenannten Fall, die Grundsätze des Völkerrechts zu
beachten. Daraus folgt im Umkehrschluss, dass der Sicherheitsrat bei der
Bekämpfung von Friedensbedrohungen auf der Grundlage von Kapitel VII der
Charta allgemeines Völkerrecht nicht beachten muss. Art. 1 Ziff. 1 SVN stellt sich so
als Verzicht der Mitgliedstaaten auf ihre aus allgemeinem Völkerrecht fließenden
Rechtspositionen dar. Aufgrund der universellen Mitgliedschaft in den Vereinten
Nationen kommt dieser Verzicht einer echten, umfassenden Freistellung von
allgemeinem Völkerrecht gleich.
Jedoch erfährt diese Freistellung eine Einschränkung durch die Entstehung eines
begrenzten Kreises zwingender Normen des Völkerrechts, die dem Schutz der
wesentlichen Werte der internationalen Gemeinschaft dienen. Von der Beachtung
dieser Normen ist der Sicherheitsrat nur insoweit freigestellt, als sie allein Rechte der
Staaten schützen. Dagegen ist er auch bei Maßnahmen der Friedenssicherung nach
Kapitel VII der Charta gehalten, den im Einzelnen noch zu bestimmenden
zwingenden
Kernbestand
des
Selbstbestimmungsrechts
und
der
individualschützenden Menschenrechte zu beachten. Insoweit ist von einer
Reduktion des Art. 1 Ziff. 1 SVN durch späteres Völkergewohnheitsrecht
auszugehen.
Im Ergebnis beschränkt sich daher die externe Bindung des Sicherheitsrates auf die
Verpflichtung, die wesentlichen, grundlegenden Normen der Völkergemeinschaft zu
beachten. Insofern ist die UN-Verwaltung eines Krisengebietes nur in sehr
beschränktem
Umfang
gehalten,
allgemeines
Völkerrecht,
insbesondere
Völkergewohnheitsrecht, zu beachten.
291
C.
Mittelbare Bindung des Sicherheitsrates
Als weiterer Bindungsmechanismus kommt eine übertragene oder mittelbare
Bindung des Sicherheitsrates in der Form in Betracht, dass der Sicherheitsrat an jene
rechtlichen Standards gebunden ist, denen die Mitglieder der Vereinten Nationen
selbst unterliegen.1395 Der Annahme einer solchen Bindung liegt der Gedanke der
Funktionsnachfolge zugrunde: Übernimmt der Sicherheitsrat Aufgaben, die
normalerweise von Staaten zu erfüllen sind, muss er auch die Standards und Normen
beachten, die staatliches Handeln in diesem Bereich regulieren.1396 Dieser Ansatz ist
gerade im Falle einer Gebietsverwaltung durch den Sicherheitsrat attraktiv. Die
Ausübung territorialer und personaler Hoheitsgewalt ist eine ureigene Funktion der
Staaten, die bei ihrer Ausübung gegenwärtig einer Vielzahl völkerrechtlicher Regeln
unterworfen sind. Es erscheint kaum vertretbar, dass sich Staaten dieser
Verpflichtungen sollen entledigen können, indem sie eine internationale Organisation
gründen, die statt ihrer dieselbe Funktion wahrnimmt.1397
Indes handelt es sich dabei in erster Linie um ein rechtspolitisches Argument.1398
Dass ein solches Ergebnis höchst unbefriedigend wäre, reicht allein nicht aus, um
den Sicherheitsrat rechtlich zu binden. Eine Bindung kraft Funktionsnachfolge kann
jedoch auch auf rechtliche Argumente gestützt werden. Ansatzpunkt dabei ist, dass
es sich bei den Vereinten Nationen nicht um ein originäres, sondern um ein von ihren
1395
So etwa de Hoogh, Obligations erga omnes (1996), S. 263; Mégret/Hoffmann, HRQ 25 (2003),
314 (318).
1396
Ähnlich für die Tätigkeit internationaler Organisationen allgemein Bleckmann, ZaöRV 37 (1977),
107 (119), und Tomuschat, RdC 281 (1999), 1 (135). In diese Richtung auch Klein, in: FS Mosler
(1983), S. 487, der im Hinblick auf Maßnahmen der friedlichen Streitbeilegung vertritt, diese dürften
„nichts beinhalten, was die Parteien nicht selbst vereinbaren könn[t]en.“ Gasser, ZaöRV 56 (1996),
871 (881) folgert aus Art. 103 SVN, dass die Charta dem Sicherheitsrat nur erlaube, vertragliche,
nicht aber auch gewohnheitsrechtliche Verpflichtungen der Mitgliedstaaten zu ignorieren.
1397
So für völkerrechtliche Verpflichtungen der Staaten im Allgemeinen Bleckmann, ZaöRV 37
(1977), 107 (118); Gowlland-Debbas, ICLQ 43 (1994), 55 (91); Schreuer, in: FS Zemanek (1994), S.
227 (im Hinblick auf vertragliche Bindungen der Staaten); Bauer, Effektivität und Legitimität (1996),
S. 223; Reinisch, AJIL 95 (2001), 851 (858). Für „weniger bedrohlich“ hält diese Situation Oette,
Wirtschaftssanktionen (2003), S. 245.
1398
Bleckmann, ZaöRV 37 (1977), 107 (119), zufolge begründet die Nachfolge internationaler
Organisationen in staatliche Funktionen lediglich einen Anpassungsdruck auf die
Völkerrechtsordnung, ohne diese Anpassung rechtlich zu bewirken.
292
Mitgliedern geschaffenes Völkerrechtssubjekt handelt. Ihre Befugnisse leiten sich
daher sämtlich von dem völkerrechtlichen Vertragswerk ab, durch das die
Organisation seitens der Mitgliedstaaten ins Leben gerufen wurde. Art und Umfang
dieser Befugnisse sind damit zumindest mittelbar auch von Art und Umfang der
Befugnisse abhängig, die das Völkerrecht den einzelnen Staaten zugesteht.1399
I.
Beschränkungen des Sicherheitsrates nach dem nemo transferreGrundsatz
Eine Möglichkeit, zur Annahme einer mittelbaren Bindung des Sicherheitsrates zu
kommen, besteht darin, die Schaffung der Vereinten Nationen als einen Akt der
Delegation mitgliedstaatlicher Kompetenzen an ein von ihnen geschaffenes
Völkerrechtssubjekt zu verstehen. Versinnbildlicht wird ein solches Verständnis der
Charta durch Art. 24 Abs. 1 SVN, dem zufolge die Mitgliedstaaten dem
Sicherheitsrat die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens übertragen
und dieser insoweit in ihrem Namen handeln soll.1400 In der Ratifikation der Charta
wäre somit eine Ermächtigung der Vereinten Nationen zu sehen, sich durch
Beschluss des Sicherheitsrates unter den Voraussetzungen des Art. 39 SVN in die
inneren Angelegenheiten der Mitgliedstaaten zu mischen und deren rechtliche
Beziehungen untereinander zumindest vorübergehend zu regeln. Letztlich erlaubten
die Mitgliedstaaten dem Sicherheitsrat so, in ihrem Namen durch die Anordung von
Zwangsmaßnahmen in ihre Rechte als souveräne Staaten und in die Rechte ihrer
Bürger einzugreifen.
Diesen Befugnissen des Sicherheitsrates läge ein Delegationsakt zugrunde: Durch die
Ratifikation hätten die Mitgliedstaaten ihre Befugnis, im Einzelfall über eigene
Rechte und die ihrer Bürger zu verfügen, abstrakt und ex ante auf den Sicherheitsrat
übertragen.1401 Auf diesen Delegationsakt wiederum fände der allgemeine
1399
Ausführlich dazu auch Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 218-226.
Art. 24 Abs. 1 SVN lautet: „In order to ensure prompt and effective action by the United Nations,
its Members confer on the Security Council the primary responsibility for the maintenance of international peace and security, and agree that in carrying out its duties under this responsibility the Security Council acts on their behalf” [Hervorhebungen durch den Verfasser].
1400
1401
Ein solches Verständnis des Beitrittsakts als Kompetenzübertragung liegt den Ausführungen
293
Rechtsgrundsatz Anwendung, dass niemand mehr Rechte übertragen kann, als er
selbst besitzt.1402 Staaten könnten den Vereinten Nationen nur jene Rechte
einräumen, über die sie selbst verfügen. Soweit Normen des Völkerrechts ihre
Befugnisse gegenüber ihren Bürgern oder anderen Individuen und Gruppen
begrenzten, könnten sie der UN eben nur jene begrenzten Kompetenzen übertragen.
Im Grundsatz gingen daher die Beschränkungen, denen die Mitgliedstaaten
unterlägen, bei der Übertragung der entsprechenden Befugnis mit über.1403 Die
übertragenen Kompetenzen wären gleichsam dauerhaft mit diesen Einschränkungen
behaftet.1404
Auch nach dem nemo transferre-Grundsatz könnte dies jedoch nicht für sämtliche
völkerrechtliche Grenzen einzelstaatlicher Befugnisse gelten. So kann die
Anwendung dieses Grundsatzes nicht zu einer Bindung des Sicherheitsrates an
völkervertragliche Verpflichtungen der Mitgliedstaaten führen. Beim Beitritt zu den
Vereinten Nationen handelt es sich um einen völkerrechtlichen Vertrag,1405 auf den
die Grundsätze des Völkervertragsrechts Anwendung finden.1406 Ob die mit dem
Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 218-226 zugrunde.
1402
Reinisch, AJIL 95 (2001), 851 (858). Zu diesem sog. nemo transferre-Grundsatz siehe bereits
oben 3.Kp. D.I.4.
1403
Schreuer, in: FS Zemanek (1994), S. 237.
1404
Diese Argumentation ähnelt der im Rahmen des Europarechts früher teilweise vertretenen
„Hypothekentheorie“, mit deren Hilfe eine Bindung der supranationalen Europäischen
Gemeinschaften an die Grundrechte des deutschen Grundgesetzes begründet werden sollte. So
beispielsweise K.H. Klein, Übertragung von Hoheitsrechten (1952), S. 22; Küchenhoff, DÖV 16
(1963), 161 (165 f.); und Gramlich, Europäische Zentralbank (1979), S. 148 f.; ablehnend u.A. Pernice, Grundrechtsgehalte (1979), S. 219-221; und Tomuschat, Artikel 24 GG (1981), Rn. 62. Weitere
Nachweise hierzu bei Ruppert, Integrationsgewalt (1969), S. 84 ff., und König, Übertragung von
Hoheitsrechten (2000), S. 59-61. Vorliegend geht es aber nicht um die Frage, inwieweit die Vereinten
Nationen an dem Völkerrecht untergeordnete und von Staat zu Staat variierende nationale
Befugnisschranken gebunden sein könnten, sondern darum, inwiefern für alle einheitliche
völkerrechtliche Schranken staatlicher Befugnisse auch für die UN beachtlich sind. Die auf Art. 24
Abs. 1 GG gestützte Diskussion der Hypothekentheorie ist daher auf den vorliegenden Sachverhalt
nur eingeschränkt übertragbar. Siehe dazu auch den nachfolgenden Abschnitt 4.Kp. C.I.2.
1405
Bestehend aus einem entsprechenden Aufnahmeantrag des Staates und dessen Annahme durch die
Generalversammlung auf Empfehlung des Sicherheitsrates (Art. 4 Abs. 2 SVN). Lediglich bei den
Gründungsmitgliedern bildet die Charta zugleich auch den Beitrittsvertrag. Zum Verfahren siehe
Ginther, Article 4 (2002), insbes. Rn. 31-34.
Vorsichtiger Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 224: „rechtlich relevante[r] Akt, [der] bei
einem Verstoß gegen zwingende Normen des allgemeinen Völkergewohnheitsrechtes als nichtig
behandelt werden [muss].“
1406
294
Abschluss dieses Vertrages verbundene Kompetenzübertragung gegen andere
völkerrechtliche Verträge verstößt, deren Partei der Beitrittsstaat ist, ist für die
Wirksamkeit des Beitrittsvertrages unbeachtlich. Ein Staat kann sich zu mehr
verpflichten, als er rechtlich zu halten in der Lage ist. Art. 103 SVN ordnet für diesen
Fall ausdrücklich einen Vorrang der Verpflichtungen aus der Charta an, mit der
Folge, dass sich der beitretende Staat gegebenenfalls seinen ursprünglichen
Vertragspartnern gegenüber haftbar macht, ohne dass dadurch die Wirksamkeit der
Kompetenzübertragung an die Vereinten Nationen tangiert wäre.1407
Nichts anderes gilt für abdingbare1408 gewohnheitsrechtliche Beschränkungen, denen
ein Staat in Ausübung der Befugnisse unterliegt, die er mit dem Beitritt an die UN
delegiert. In entsprechender Anwendung der in der Wiener Vertragsrechtskonvention
niedergelegten Rechtsgrundsätze bliebe ein solcher Vertrag auch dann wirksam,
wenn eine Vertragspartei durch ihre Zustimmung Gewohnheitsrecht verletzte, ihre
Zustimmung also ein völkerrechtliches Delikt darstellte.1409 Ein solcher Staat
überschritte lediglich sein „rechtliches Dürfen“, den Kreis der ihm erlaubten
Handlungen, ohne den Kreis der ihm rechtlich möglichen Handlungen zu verlassen.
Letzteres geschähe nach Art. 53 WVK erst dann, wenn der fragliche Staat durch den
Vertragsschluss gegen ius cogens verstieße.1410 Nur ein solcher Verstoß hätte die
Nichtigkeit des Vertrages zur Folge, stünde mithin außerhalb der rechtlichen
Fähigkeiten eines Völkerrechtssubjekts.
Sähe man also in der Charta eine Delegation staatlicher Befugnisse an den
Sicherheitsrat, so führte die Anwendung des nemo transferre-Grundsatzes jedenfalls
1407
Obwohl es in der Tat etwas merkwürdig anmutet, Art. 103 SVN auf einen der Verträge des
internationalen bill of rights anzuwenden, wiewohl diese allesamt von der UN selbst ausgearbeitet
wurden. In dem eher akademischen Fall eines Konflikts zwischen einer Verpflichtung aus einem
menschenrechtlichen Vertrag und der Pflicht der Vereinten Nationen zur Sicherung des Weltfriedens
erscheint die Anwendung des Art. 103 SVN aber durchaus vertretbar.
1408
Gemeint sind solche Normen des Völkergewohnheitsrechts, auf deren Beachtung Staaten
untereinander verzichten können, sowie solche, von denen in besonderen Umständen, insbesondere in
Notstandssituationen, abgewichen werden darf.
1409
Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 221.
1410
Zum gewohnheitsrechtlichen Status des Art. 53 WVK/WVKIO und der Anwendbarkeit dieser
Regel auf den Beitritt zu den Vereinten Nationen siehe oben 4.Kp. B.III.3.a.
295
nur zu einer Bindung des Sicherheitsrates an das im Einzelnen noch zu bestimmende
ius cogens. Denn nur soweit ein Staat den Sicherheitsrat durch seinen Beitritt zur UN
zu einem ius cogens-widrigen Verhalten ermächtigen würde, wäre der Beitrittsakt als
nichtig anzusehen. Ergebnis dieser „Delegationstheorie“ wäre somit, dass der
Sicherheitsrat keinerlei Kompetenz zu ius cogens-widrigem Handeln besitzt.1411
II.
Mittelbare Bindungen bei der Annahme originärer
Sicherheitsratsbefugnisse
Doch stößt die Grundthese der „Delegationstheorie“, dass der Sicherheitsrat lediglich
Befugnisse ausübe, die ihm von den Mitgliedstaaten übertragen wurden, auch auf
Ablehnung: Dieser Ansicht zufolge gingen die Kompetenzen des Sicherheitsrates
weit über das hinaus, wozu sich einzelne Staaten untereinander bevollmächtigen
könnten.1412 Seine Befugnisse unter Kapitel VII der Charta seien daher mehr als eine
bloße Summierung ihm übertragener einzelstaatlicher Kompetenzen.
In analoger Anwendung der hinsichtlich der Frage der Rechtsnatur der
Hoheitsbefugnisse
der
Europäischen
Gemeinschaft
herrschenden
„Gesamtaktstheorie“1413 ließe sich vertreten, der Sicherheitsrat übe nicht abgeleitete
Kompetenzen der Mitgliedstaaten, sondern originäre eigene Hoheitsgewalt aus. Die
Staaten hätten ihren übereinstimmenden Willen, nebeneinander stehend, zu einem
Gesamtwillen verschmolzen und damit Rechtswirkungen außer sich selbst
erzeugt.1414 Dieser in der UN-Charta ausgedrückte zusammengefasste Wille der
Mitgliedstaaten wäre dann als Quelle der autonomen Befugnisse des Sicherheitsrates
1411
ILC, Kommentar zum WVKIO-Entwurf, ILC-YB 1982 II 2, 9 (56); Hannikainen, Peremptory
Norms (1988), S. 22; Watson, Harvard ILJ 34 (1993), 1 (37); Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S.
225; sowie die oben in Fn. 1376 Genannten. Im Ergebnis auch Angelet, in: Gowlland-Debbas (Hrsg.),
United Nations Sanctions (2001), S. 75 f.
1412
Tomuschat, in: FS Arangio-Ruiz (2004), S. 1767.
1413
Diese Bezeichnung geht zurück auf Ipsen, GemeinschaftsR (1972), S. 60 f. Vertreter dieser
Auffassung sind beispielsweise Friauf, DVBl. 1964, 781 (785); Tomuschat, Artikel 24 GG (1981), Rn.
17, und König, Übertragung von Hoheitsrechten (2000), S. 61-64 u. 76-80, jeweils mit zahlr. Nachw.
Ausführlich zur Entwicklung dieser hinsichtlich der EG/EU in Deutschland ganz herrschenden
Meinung Flint, Übertragung von Hoheitsrechten (1998), S. 15-83.
1414
So wörtlich Ipsen, GemeinschaftsR (1972), S. 60 f., zum Gründungsakt der EWG. Dahingehend
auch Tomuschat, Artikel 24 GG (1981), Rn. 15 m.w.N.
296
anzusehen. Seitens des einzelnen Mitgliedstaates wäre die Ratifikation der Charta
nicht als zivil- oder öffentlich-rechtlicher gedeuteter Übertragungsakt zu verstehen,
sondern
als
„Ausschließlichkeitsaufgabe
und
Einräumung
nicht-staatlicher
Hoheitsentfaltung“.1415 Diese gäben ihren Anspruch auf, allein und exklusiv
Hoheitsbefugnisse auf ihrem Territorium auszuüben, und räumten der von ihnen
geschaffenen internationalen Organisation das Recht der Hoheitsentfaltung ein.1416
Doch selbst wenn man aufgrund dessen jegliche Form eines wie auch immer
gearteten Rechtsüberganges und somit auch ein Mitübergehen der Beschränkungen
einzelstaatlicher Befugnisse ablehnt,1417 änderte dies nichts an einer ius cogensBindung des Sicherheitsrates. Denn auch dieser Ausschließlichkeitsaufgabe mit
Einräumung nicht-staatlicher Hoheitsentfaltung läge ein völkerrechtlicher Vertrag
zugrunde, auf den der gewohnheitsrechtliche geltende Art. 53 WVK/WVKIO
grundsätzlich Anwendung fände. Soweit er der „nicht-staatlichen Hoheitsgewalt“, in
diesem Fall dem Sicherheitsrat, erlaubte, auf dem Gebiet des Mitgliedstaates bei der
Entfaltung seiner Hoheit gegen ius cogens zu verstoßen, wäre er nichtig. Sieht man
beispielsweise
den
in
Art.
3
der
Genfer
Konventionen
niedergelegten
kriegsrechtlichen Mindeststandard als eine zwingende Norm des allgemeinen
Völkerrechts an, wäre ein völkerrechtlicher Vertrag, der einem Völkerrechtssubjekt
in wie auch immer gearteter Weise erlaubte, diesen Mindeststandard zu
unterschreiten, gemäß Art. 53 WVK/WVKIO nichtig. Auch bei Annahme originärer
Befugnisse des Sicherheitsrates wäre dieser daher grundsätzlich nicht berechtigt,
gegen Normen des völkerrechtlichen ius cogens zu verstoßen.
III.
Einschränkungen einer so so begründete Bindung an ius cogens
Keinen Bedenken begegnet die Annahme einer auf die eine oder auf die andere
Weise begründeten mittelbaren Bindung des Sicherheitsrates aus dem Gesichtspunkt
der unterschiedlichen Beitrittszeitpunkte. Zwar liegen zwischen der Gründung der
1415
Einzelheiten bei Ipsen, GemeinschaftsR (1972), S. 56 f.; Tomuschat, Artikel 24 GG (1981), Rn.
19; König, Übertragung von Hoheitsrechten (2000), S. 76-80 (jeweils m.w.N.).
1416
So für die EG die oben in Fn. 1415 Genannten.
1417
So für die EG Ipsen, GemeinschaftsR (1972), S. 56 f.
297
Organisation und dem Beitritt ihrer jüngsten Mitglieder fast sechzig Jahre.1418 Für die
Beurteilung der Frage, inwiefern die von den Mitgliedstaaten abgeleiteten
Befugnisse des Sicherheitsrates durch ius cogens beschränkt werden, ist indes der
gegenwärtige Umfang des corpus iuris cogentis maßgeblich. Denn auch ein älterer
Rechtsakt wird nichtig, wenn und soweit er im Widerspruch zu später entstandenem
zwingenden Recht steht.1419
Jedoch steht auch die über die Nichtigkeitsfolge des Art. 53 WVK/WVKIO
begründete mittelbare Bindung des Sicherheitsrates an ius cogens unter dem
Vorbehalt, dass die fragliche zwingende Norm der Sache nach auf den Sicherheitsrat
anwendbar ist. Wie bei der Prüfung einer externen Bindung des Sicherheitsrates an
zwingende Grundwerte der internationalen Gemeinschaft1420 bedarf es dazu einer
individuellen Prüfung der Norm unter Berücksichtigung der besonderen Rolle,
welche die in der UN verfasste Staatengemeinschaft dem Sicherheitsrat zugedacht
hat. Eine rein schematische Übertragung der ius cogens-Verpflichtungen, der die
Staaten unterliegen, auf den Sicherheitsrat, ist auch im Falle der mittelbaren Bindung
nicht möglich.
IV.
Zwischenergebnis: Mittelbare Bindung an zwingende Verpflichtungen
der Mitgliedstaaten
Zusammenfassend ist festzustellen, dass sich aus dem Umstand, dass sich die
Befugnisse des Sicherheitsrates aus einem von seinen Mitgliedern geschlossenen
Vertrag – der Charta – ableiten, mittelbare Grenzen seiner Befugnisse ergeben
können. Von Bedeutung sind jedoch nur praktisch kaum relevante Verstöße gegen
ius cogens. Nur soweit die Mitgliedstaaten mit ihrem Beitrittsakt den Vereinten
1418
Die 57. Generalversammlung nahm am 10.9.2002 die Schweiz als 190. Mitgliedstaat und am
27.9.2002 Osttimor als 191. Mitgliedstaat in die Vereinten Nationen auf. Siehe die Liste der UNMitgliedstaaten, abrufbar unter <www.un.org/Overview/unmember.html>.
1419
Vgl. Art. 64 WVK und ausführlicher Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht (1992), S. 328 f. Vor
der Annahme einer (Teil-)Nichtigkeit des gesamten Beitrittsakts gemäß Art. 44 Abs. 5, 53 WVK wäre
aber zunächst der Versuch einer völkerrechtskonformen Auslegung zu unternehmen. So zu Recht
Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 225 Fn. 288, und allgemein Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht (1992), S. 326 f.
1420
Siehe dazu die Ausführungen oben 4.Kp. B.III.3.b.
298
Nationen gestatteten, zwingendes Recht zu missachten, wäre dieser Beitrittsakt
grundsätzlich gemäß dem in Art. 53 WVK/WVKIO kodifizierten Grundsatz des
Gewohnheitsrechts (teil-) nichtig. Daraus folgt im Umkehrschluss, dass der
Sicherheitsrat keinerlei Befugnis zu einem Verstoß gegen ius cogens besitzen kann.
Aufgrund des Umstandes, dass die in den Vereinten Nationen verfasste internationale
Gemeinschaft dem Sicherheitsrat eine Sonderrolle zugewiesen hat, ist aber auch jede
in Frage kommende Norm zunächst dahingehend zu untersuchen, ob sie auf den
Sicherheitsrat
in
gleicher
Weise
Anwendung
findet,
wie
auf
sonstige
Völkerrechtssubjekte. Die mittelbare Bindung des Sicherheitsrates entspricht somit
im Umfang seiner im vorangegangenen Abschnitt B dargestellten externen Bindung
an allgemeines Völkerrecht, so dass ihr im Folgenden keine eigenständige Bedeutung
zukommt.
299
D.
Auswertung: Relative und absolute Grenzen der Verwaltungskompetenz des Sicherheitsrates unter Kapitel VII der Charta
Die Untersuchung der verschiedenen denkbaren Bindungsmechanismen ergab, dass
der Sicherheitsrat auch bei der Wahrnehmung seiner Befugnisse aus Kapitel VII der
Charta keineswegs frei von rechtlichen Vorgaben handeln darf (I). Zu klären bleibt,
in welchem Verhältnis die festgestellten Grenzen zueinander stehen (II) und wie sie
sich auf auf seine Befugnis auswirken, ein Krisengebiet auch gegen den Willen des
betroffenen Territorialstaates zu verwalten (III).
I.
Zusammenfassung der bisherigen Erkenntnisse
Das interne Recht der Vereinten Nationen verpflichtet den Sicherheitsrat in Gestalt
des Art. 24 Abs. 2 Satz 1 SVN zur Beachtung der Ziele und Grundsätze der
Organisation, welche in Art. 1 und 2 SVN niedergelegt sind. Zu diesen gehören die
Sicherung des Weltfriedens sowie die Förderung des Selbstbestimmungsrechts und
der Menschenrechte. Aus dieser Förderpflicht ergibt sich eine Pflicht, sie zu schützen
und zu beachten, soweit die Vereinten Nationen selbst unmittelbaren Einfluss auf die
Gewährleistung dieser Rechte haben. Des Weiteren gehört – in engen Grenzen –
auch die Souveränität der Mitgliedstaaten zu den Schutzgütern der Art. 1 und 2 SVN.
Aus dem Wortlaut des Art. 1 SVN ergibt sich ein grundsätzlicher Vorrang der
Verpflichtung zur Sicherung des Weltfriedens. Sofern die Ziele der Organisation
somit im Einzelfall nicht miteinander in Einklang gebracht werden können, treten die
Verpflichtung zur Achtung von Souveränität, Selbstbestimmungsrecht und
Menschenrechten zurück, soweit dies zur Friedenssicherung erforderlich ist.
In diesem Rahmen sind die von der Generalversammlung verabschiedeten
Resolutionen und die unter ihrem Dach ausgearbeiteten Konventionen auch für den
Sicherheitsrat verbindlich. Art. 60 SVN stellt die Entwicklung der Menschenrechte
und des Selbstbestimmungsrechts in die Verantwortung der Generalversammlung
und des ECOSOC. Ihre Tätigkeiten und Rechtsakte auf diesen Gebieten stellen daher
eine autoritative Konkretisierung der in Art. 1 Ziff. 2 und Ziff. 3 SVN genannten
300
Ziele der Organisation dar, sofern sie im Einzelfall dazu geeignet erscheinen1421 und
eine dahingehende Absicht zu konkretisieren erkennbar ist. Soweit nicht anderenfalls
die Friedenssicherung vereitelt würde, ist der Sicherheitsrat daher gehalten, die
materiellrechtlichen Normen der oben genannten Resolutionen und Konventionen zu
wahren.
Als Organ eines Völkerrechtssubjektes ist der Sicherheitsrat ferner grundsätzlich an
allgemeines
Völkerrecht,
insbesondere
bestehendes
Völkergewohnheitsrecht
gebunden. Indes reduziert Art. 1 Ziff. 1 SVN diese externe Rechtsbindung des
Sicherheitsrates auf eine Verpflichtung zur Einhaltung nur der zwingenden
gewohnheitsrechtlichen Normen, soweit diese im konkreten Einzelfall sachlich auf
ihn anwendbar sind. Diese Bindung an ius cogens lässt sich ferner mit der
mittelbaren Bindung des Sicherheitsrates an diejenigen völkerrechtlichen Grenzen
begründen, denen die Mitgliedstaaten bei einer entsprechenden Hoheitsausübung
unterlägen.
II.
Das Verhältnis der Grenzen zueinander
Die Befugnisse des Sicherheitsrates unterliegen somit relativen und absoluten
rechtlichen Beschränkungen. Relative Grenzen ergeben sich aus dem internen Recht
der Vereinten Nationen. Sie sind durch die Arbeit der Generalversammlung und des
ECOSOC vergleichsweise detailliert und umfassend ausgearbeitet worden. Eine
Bindung an diese relativen Grenzen ist der Regelfall. Nur soweit sich der
Sicherheitsrat durch eine Beachtung dieser Vorgaben in Widerspruch zum Ziel der
Friedenssicherung setzen würde, darf er im Einzelfall von ihnen abweichen.
Keinesfalls darf er dagegen von jenen gewohnheitsrechtlichen Normen abweichen,
die den Kernbestand der internationalen Werteordnung wiedergeben. Dieses ius
cogens muss er selbst dann beachten, wenn ihm dadurch im Einzelfall die Sicherung
1421
Dies setzt voraus, dass die fragliche Norm im Einzelfall sachlich auf den Sicherheitsrat anwendbar
ist, mithin keine Anforderungen an den Adressaten stellen, die der Sicherheitsrat als Organ einer
internationalen Organisation (anders als z.B. Staaten) im konkreten Einzelfall nicht erfüllt.
301
des Weltfriedens wesentlich erschwert wird.1422
Etwas vereinfachend1423 lassen sich die Normen des Völkerrechts, welche das
Handeln des Sicherheitsrates unter Kapitel VII der Charta begrenzen, als eine
dreistufige Normpyramide darstellen: Ihre Spitze bildet das ius cogens als Ausdruck
der zwingenden Grundwerte der internationalen Gemeinschaft, die der Sicherheitsrat
in jedem Fall zu beachten hat. In der Mitte steht die Pflicht zur Friedenswahrung,1424
welche im Falle eines Zielkonflikts Vorrang vor den die breite Basis bildenden
übrigen Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen besitzt. Welche
Schlussfolgerungen aus diesem Verhältnis von relativen zu absoluten Grenzen für
die zwangsweise Verwaltung eines Krisengebietes zu ziehen sind, ist Gegenstand des
folgenden Abschnitts.
III.
Anwendung auf die Befugnis des Sicherheitsrates zur zwangsweisen
Verwaltung eines Krisengebietes
Die übergangsweise Verwaltung eines Krisengebietes weist gegenüber den sonstigen
Zwangsmaßnahmen des Sicherheitsrates nach Kapitel VII einige Besonderheiten auf,
die hauptsächlich mit der Ausübung staatsähnlicher territorialer Hoheitsbefugnisse
verbunden sind. Zu ihnen zählt neben dem tiefgreifenden Eingriff in staatliche
Souveränität vor allem der unmittelbare Durchgriff auf die innerhalb des Gebiets
lebenden Menschen. Die zumindest zeitweise Verdrängung des Territorialstaates aus
dem Hoheitsverhältnis zu seinen Bürgern macht den Sicherheitsrat und dessen
ausführende Nebenorgane zumindest faktisch allein verantwortlich für Wohl und
Wehe der betroffenen Bevölkerung. Der Sicherheitsrat agiert hier nicht mehr allein
auf der zwischenstaatlichen Ebene, sondern primär als innerstaatlicher Akteur, der
1422
So i.E. auch Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 174 f., und Oette, Wirtschaftssanktionen
(2003), S. 237. Dass diese Bindung an ius cogens nicht notwendig mit der Bindung der Staaten an
zwingendes Recht identisch ist, wurde bereits oben im 4.Kp. B.III.3 festgestellt.
1423
Klein, in: FS Ress (2005), S. 152, weist darauf hin, dass die Idee von ius cogens nicht notwendig
die Annahme einer Normhierarchie im Völkerrecht bedingt.
1424
In gewisser Weise ist auch die Pflicht zur Friedenssicherung eine absolute Grenze der Kapitel VIIKompetenzen des Sicherheitsrates, da eine entsprechende Finalität der Maßnahmen nach Art. 39 SVN
a.E. Voraussetzung dafür ist, dass er überhaupt von seinen Befugnissen zu Zwangsmaßnahmen
Gebrauch machen darf.
302
mit Hoheitsbefugnissen ausgestattet dem Einzelnen unmittelbar gegenübertritt.
Dieser Wechsel auf die „innerstaatliche Bühne“ lässt es naheliegend erscheinen, ihm
bei der Ausübung staatlicher Vorrechte auch die Einhaltung staatlicher Pflichten,
insbesondere die Wahrung der Rechte der Bevölkerung, aufzutragen. Jedoch darf
dabei nicht übersehen werden, dass sich die Verwaltung eines Krisengebietes durch
den Sicherheitsrat in wesentlichen Punkten von einer regulären Gebietsverwaltung
durch den zuständigen Territorialstaat unterscheidet.
1.
Die Besonderheiten internationaler Verwaltung
Im
Gegensatz
zur
regulären
staatlichen
Gebietsverwaltung
betrifft
eine
Zwangsverwaltung durch den Sicherheitsrat ein Krisengebiet, von dem eine
Bedrohung für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit ausgeht.1425
Regelmäßig wird eine Notsituation
vorliegen,
gekennzeichnet
durch den
Zusammenbruch oder die Auflösung bestehender staatlicher Strukturen. Damit
einher geht ein Verlust des staatlichen Gewaltmonopols und das Bestehen zumeist
bürgerkriegsähnlicher Zustände. Auf diese Weise wird zudem oft jegliche personelle
und materielle Grundlage für die Organisation eines auch nur halbwegs effektiven
Staatswesens zerstört. Vorangegangene schwere Menschenrechtsverletzung und die
Verwendung staatlicher Institutionen als Instrumente der Unterdrückung werden
zudem oft zu einer weitgehenden Delegitimation staatlicher Gewalt in den Augen der
Bevölkerung geführt haben.1426
Die Menschenrechte, aber auch das übrige Völkerrecht, setzen indes implizit das
Bestehen eines zumindest halbwegs effektiven Staatswesens voraus. Die
Völkerrechtsordnung benötigt es nicht nur als Adressat ihrer Rechtsnormen, sondern
ist zu ihrer Umsetzung auch auf staatliche Verwaltungsapparate angewiesen. Das
zeigt ein – später noch zu vertiefender1427 – Blick auf die Justizgrundrechte, deren
Verwirklichung das Bestehen eines entwickelten Justizapparates voraussetzt. An
1425
Dies ist nach Art. 39 SVN Voraussetzung für eine Zwangsmaßnahme des Sicherheitsrates auf der
Grundlage von Kapitel VII der Charta. Siehe dazu bereits oben 3.Kp. C.II.
1426
Siehe UN-GS, Transitional Justice (2004), § 27.
1427
Siehe dazu ausführlicher unten 4.Kp. E.II u. III.
303
solchen staatlichen Strukturen wird es indes in Krisengebieten regelmäßig fehlen. Sie
müssen erst durch die UN wiederhergestellt oder gar neu geschaffen werden.
Zu berücksichtigen sind ferner die historischen und kulturellen Hintergründe des
verwalteten Gebietes und seiner Bevölkerung. So haben die Vereinten Nationen beim
Wiederaufbau rechtsstaatlicher Strukturen (rule of law) in Krisengebieten die
Erfahrung gemacht, dass die Übernahme externer Strukturen und Modelle nicht zu
einer nachhaltigen Lösung bestehender Konflikte geführt hat.1428 Vielmehr hat es
sich als sinnvoller erwiesen, die Analyse bestehender Defizite und die Entwicklung
von Lösungsansätzen seitens der UN lediglich zu unterstützen, die Leitung dieser
Prozesse aber wesentlich den Vertretern der Gebietsbevölkerung zu überlassen.1429
Dies kann aber im Einzelfall dazu führen, dass Aufbauprozesse länger dauern und
der von den internationalen Pakten geforderte Menschenrechtsschutz erst später voll
verwirklicht werden kann. Denn nicht in allen Kulturen ist die Achtung jedes
einzelnen Menschenrechts gleich stark ausgeprägt oder sozial verankert. Dies gilt
insbesondere
für
die
Rechte
von
Frauen
und
Mädchen,
deren
volle
Gleichberechtigung beispielsweise in streng islamisch geprägten Gesellschaften wie
in Afghanistan schwieriger durchzusetzen ist. Will man aus Gründen der
Legitimation
und
der
Nachhaltigkeit
eine
entscheidende
Beteiligung
der
Bevölkerung an der Verwaltung und dem staatlichen Wiederaufbau,1430 kann dies
somit
zu
einer
zumindest
vorübergehenden
Beeinträchtigung
des
Menschenrechtsschutzes führen, einer Beeinträchtigung, die bei einer Dekretierung
bestimmter Gesetze unmittelbar durch die internationale Verwaltung so vielleicht
nicht bestünde. Inwieweit die Hinnahme einer solchen Beeinträchtigung sinnvoll
oder gar erforderlich ist, ist indes im Kern eine Abwägungsentscheidung, basierend
auf Prognosen künftiger politischer Entwicklungen in einem Krisengebiet. Für solche
politisch geprägten Prognoseentscheidungen im Bereich der Friedenssicherung ist
dem Sicherheitsrat – anders als Einzelstaaten – von der Charta bewusst ein weiter
Entscheidungsspielraum gegeben worden.
1428
UN-GS, Transitional Justice (2004), § 17.
1429
UN-GS, Transitional Justice (2004), § 15.
1430
Das Stichwort hierzu lautet ownership of process.
304
Weiter ist zu berücksichtigen, dass die Vereinten Nationen gegenüber Staaten in
vielerlei Hinsicht über weniger Ressourcen verfügen. Das betrifft insbesondere den
Zugriff auf Personal, das über die zur Verwaltung eines Gebietes erforderlichen
Fähigkeiten verfügt.1431 Zwar werden mittlerweile seitens der UN entsprechende
Kapazitäten aufgebaut. Dennoch wird ihre Aktivierung und Versetzung in das
Krisengebiet ebenso wie die Rekrutierung geeigneter Ortskräfte auch in Zukunft
einige Zeit in Anspruch nehmen. Hinzu kommt, dass die Mitgliedstaaten die UN
auch finanziell nicht mit den Mitteln ausstatten, die sie benötigte, um ihrem Mandat
vollumfänglich gerecht werden zu können.1432 So stehen gegenwärtig allein im
Bereich des Peacekeeping Beiträge der Mitgliedstaaten in Höhe von etwa US$ 1,73
Milliarden aus.1433
Den Sicherheitsrat bei der Verwaltung eines Gebietes zur Beachtung aller
völkerrechtlichen Vorgaben zu verpflichten, hieße vor diesem Hintergrund, ihn in
der Regel zu überfordern. Gehäufte Verstöße gegen völkerrechtliche Vorgaben
würfen die Frage nach der Haftung der Organisation und ihrer Mitgliedstaaten auf.
Darunter litte notwendigerweise deren Bereitschaft, in Zukunft wieder zur
Friedenssicherung in failed states einzugreifen. Es besteht somit ein gewisses
Spannungsverhältnis zwischen den Anforderungen, welche das Völkerrecht an die
Ausübung staatlicher Gewalt stellt, und der Aufgabe des Sicherheitsrates, mit den
ihm gegebenen begrenzten Ressourcen und Fähigkeiten den Weltfrieden möglichst
effektiv zu sichern. Dieses Spannungsverhältnis muss auch bei der Untersuchung der
rechtlichen Grenzen der Befugnisse des Sicherheitsrates berücksichtigt werden.
Auch in zeitlicher Hinsicht weist eine UN-Verwaltung Besonderheiten auf. Anders
als
ein
grundsätzlich
auf
Dauer
angelegtes
Staatswesen
ist
eine
UN-
Zwangsverwaltung prinzipiell transitorischen Charakters. Zwar sind ihr keine festen
1431
Zu den Schwierigkeiten, welche die UN bei der Rekrutierung qualifizierten Personals hat, siehe
beispielsweise UN, Brahimi-Report (2000), §§ 127-145; Caplan, New Trusteeship (2002), S. 48 f.;
und Vieira de Mello, in: Azimi/Chang (Hrsg.), UNTAET (2003), S. 17 f.
1432
UN, Brahimi-Report (2000), §§ 266, 275 u. 277; UN-GS, Transitional Justice (2004), § 13. So
führt Kapila, in: Azimi/Chang (Hrsg.), UNTAET (2003), S. 60, den Erfolg UNTAETs auch auf die
gute finanzielle Ausstattung der Mission zurück.
1433
UN-DPKO, Zahlen vom 30.6.2005 abrufbar unter <www.un.org/Depts/dpko/dpko/bnote.htm>.
305
zeitlichen Grenzen gesetzt,1434 als Mittel zur Beseitigung einer von dem Krisengebiet
ausgehenden Friedensbedrohung ist sie aber in der Regel darauf angelegt, sich durch
die Stabilisierung des Gebietes und seiner öffentlichen Institutionen selbst
überflüssig
zu
machen.
Wie
die
bisherigen
Beispiele
internationaler
Gebietsverwaltung zeigen, ist ihre Dauer eher in Jahren als in Jahrzehnten zu
messen.1435 Für eine solche Übergangszeit erscheint es prima facie eher vertretbar,
gewisse
Beeinträchtigungen
Beteiligungsrechte
und
hinzunehmen,
Leistungsansprüche
insbesondere,
des
Einzelnen
soweit
es
um
gegenüber
dem
territorialen Hoheitsträger geht.
Diese Besonderheiten eine UN-Gebietsverwaltung – Zusammenbruch staatlicher
Institutionen, Ressourcenknappheit der Organisation und geringe zeitlicher Dauer der
Verwaltung – müssen bei der Untersuchung der rechtlichen Grenzen der
Verwaltungskompetenz des Sicherheitsrates berücksichtigt werden. Sie zeigen auch,
dass es wenig sinnvoll ist, den Sicherheitsrat starr den gleichen völkerrechtlichen
Vorgaben zu unterstellen, die Staaten bei der Ausübung ihrer Territorialhoheit zu
beachten haben.
2.
Auswirkungen auf die Befugnisse des Sicherheitsrates unter Kapitel VII SVN
Zu prüfen bleibt, ob das oben festgestellte Modell einer abgestuften Rechtsbindung
des Sicherheitsrates unter Kapitel VII der Charta diesen praktischen Anforderungen
einer zwangsweisen Krisengebietsverwaltung durch die Vereinten Nationen gerecht
wird. Da ist zunächst die grundsätzliche Bindung an das Selbstbestimmungsrecht und
an die Menschenrechte, wie sie von der Generalversammlung, dem ECOSOC und
seinen Unterorganen seit Gründung der Vereinten Nationen ausgearbeitet wurden.
Sie stellen eine relativ weitgehende und detaillierte Beschränkung der Befugnisse des
Sicherheitsrates zur Gebietsverwaltung dar und gewähren den Bewohnern des
Krisengebietes neben den klassischen Freiheitsrechten auch wirtschaftliche und
1434
Siehe dazu oben 4.Kp. A.I.
1435
Ausnahmen sind die Saarverwaltung sowie die nicht verwirklichten Projekte bzgl. Triests und
Jerusalems, die jedoch nicht auf ein Kapitel VII-Mandat des Sicherheitsrates gestützt wurden bzw.
werden sollten. Siehe dazu oben das 2. Kp.
306
soziale
Rechte.
Zumindest
auf
den
materiellrechtlichen
Gehalt1436
dieser
Vertragswerke ist der Sicherheitsrat aus Art. 24 Abs. 2 Satz 1, Art. 1 Ziff. 2 und 3
SVN zunächst in gleicher Weise verpflichtet wie die Vertragsstaaten.
Aufgrund des in der Charta angelegten Vorrangs des Ziels der Friedenssicherung gilt
dies jedenfalls insoweit, als eine vollumfängliche Beachtung mit der Hauptaufgabe
des Sicherheitsrates – dem Ergreifen effektiver kollektiver Maßnahmen zur
Bekämpfung von Friedensbedrohungen – vereinbar ist. Nur soweit die Beachtung
eines der in den internationalen Pakten niedergelegten Rechts im Einzelfall eine
effektive Bekämpfung der von dem Gebiet ausgehenden Friedensbedrohung
verhindert, darf der Sicherheitsrat von ihm abweichen. Gleiches gilt für das von der
Generalversammlung
in
den
einschlägigen
Resolutionen
ausgearbeitete
Selbstbestimmungsrecht.
Ein solcher Konflikt zwischen den Zielen des Art. 1 Ziff. 1 SVN kann in
unterschiedlichen Konstellationen bestehen. So kann eine der Achtung des
Selbstbestimmungsrechts entsprechende rasche Beteiligung der Bevölkerung an der
Ausübung der Verwaltungshoheit destabilisierend wirken, weil sie bestehende,
insbesondere ethnische Konflikte verfestigt oder wieder aufbrechen lässt. Gleiches
kann für das Recht auf freie Meinungsäußerung oder die Pressefreiheit gelten.1437
Auch strafrechtliche Verfahrensgarantien sind nur schwer zu wahren, wenn es keine
funktionierende Justiz gibt und nicht einmal die öffentliche Sicherheit und Ordnung
gewährleistet ist.1438 Deshalb alle Straftäter wieder freizulassen, kann gerade bei
ethnisch motivierten Straftaten den Konflikt fortdauern oder wieder aufleben lassen
und den Wiederaufbau staatlicher Strukturen dauerhaft beeinträchtigen.1439
1436
Etwas anderes gilt insoweit für die prozeduralen Vorschriften, die beispielsweise das Verfahren
vor den durch die Verträge geschaffenen Gremien regeln (z.B. Art. 28 ff. IPbürgR).
1437
Siehe dazu Palmer, Harvard JIL 26 (2001), 179-218.
1438
Zu den Schwierigkeiten beim Aufbau eines Justizsystems im Kosovo und in Osttimor siehe Betts
(u.a.), Michigan JIL 22 (2001), 371-389, und Strohmeyer, AJIL 95 (2001), 46-63, ferner unten 4.Kp.
E.II.
1439
Die Notwendigkeit zügiger polizeilicher Kriminalitätsbekämpfung betont auch UN-GS,
Transitional Justice (2004), §§ 28 f.
307
Genaue Kriterien für die Annahme eines Vorrangs der Friedenssicherung im
Einzelfall werden im Folgenden noch zu erarbeiten sein.1440 Entscheidend ist aber
zunächst, dass der Sicherheitsrat nicht unter allen Umständen zur vollumfänglich
Beachtung der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts verpflichtet ist,
sondern von ihnen abweichen kann, sofern dies zur Wahrung der Friedenssicherung
unbedingt erforderlich sein sollte. Dieser Umstand erlaubt es, die oben dargelegten
tatsächlichen Besonderheiten einer UN-Krisengebietsverwaltung auch bei der
Feststellung ihres völkerrechtlichen Rahmens hinreichend zu berücksichtigen. Dies
ist insbesondere hinsichtlich jener menschenrechtlichen Konventionen von
Bedeutung,
die
wie
die
Kinderrechtekonvention
(KRK)1441
nicht
über
Notstandsklauseln verfügen.
Ihre
Grenze
findet
diese
besondere
Derogationsmöglichkeit
in
der
gewohnheitsrechtlichen Bindung des Sicherheitsrates an jene Normen, die den
zwingenden Kernbestand der gemeinsamen Werte der internationalen Gemeinschaft
ausmachen.1442 Sie zu beachten ist der Sicherheitsrat unabhängig von der im
Krisengebiet tatsächlich vorgefundenen Lage verpflichtet.
Als Kernbereichsnormen sind zwingende Rechte jedoch nach Art und Umfang sehr
beschränkt, so dass sie die Verwaltungskompetenz des Sicherheitsrates nur in
geringem Umfang einschränkt. Ferner lässt sich ihre Missachtung im Regelfall kaum
mit der Verpflichtung des Sicherheitsrates aus Art. 1 Ziff. 1 und Art. 24 Abs. 1 SVN
vereinbaren, den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu schützen. Es ist
kaum denkbar, dass – um zwei weitgehend anerkannte ius cogens Verbote1443 zu
nennen – die Einführung der Sklaverei oder die Begehung eines Völkermordes in
nennenswerter Weise zur internationalen Sicherheit beitragen könnten. Im Alltag
einer Krisengebietsverwaltung werden diese Normen daher nur eine vergleichsweise
1440
Siehe dazu unten 4.Kp. D.III.3.
1441
Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989 (im Folgenden: KRK), in
Kraft getreten am 2.9.1990, abgedr. in U.N.T.S. Bd. 1577 (1990), 3-167, engl. Fassung auch ILM 28
(1989), 1454-1476, dt. Fassung in BGBl. 1992 II, 122 ff.
1442
Siehe dazu ausführlich oben 4.Kp. B.III.3.
1443
Hannikainen, Peremptory Norms (1988), S. 446 f. u. 466; Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht
308
geringe Rolle spielen. Nichtsdestoweniger sind sie als äußerste Grenze der
sicherheitsratlichen Handlungsbefugnis von Bedeutung. Dies gilt insbesondere für
die zwingenden Bestandteile des humanitären Völkerrechts, die dem Sicherheitsrat
zumindest in einer Phase militärischer Befriedung des Gebietes verbindlich
Schranken setzen.1444
Praktische Relevanz im friedlichen Alltag einer Zwangsverwaltung hat dagegen eher
die Frage, unter welchen Voraussetzungen im Einzelfall ein Vorrang der
Friedenssicherung vor den übrigen Zielen des Art. 1 SVN anzunehmen ist. Dem soll
im folgenden Abschnitt nachgegangen werden.
3.
Kriterien für die Annahme eines Vorrangs der Friedenssicherung
Anhand der im Folgenden zu entwickelnden abstrakten Kriterien soll im Einzelfall
beurteilt werden können, inwieweit die Charta dem Sicherheitsrat zum Zwecke der
Friedenssicherung ein Abweichen von einzelnen Menschenrechten oder dem
Selbstbestimmungsrecht gestattet. Sie konkretisieren damit das sich aus der Charta
ergebende Verhältnis zwischen den in Art. 1 SVN niedergelegten Zielen der
Organisation bei einer Tätigkeit des Sicherheitsrates unter Kapitel VII der Charta.
Die gesuchten Kriterien müssen daher dem Sicherheitsrat einerseits ein seinen
Ressourcen und der Situation angemessenes Eingreifen in einem Krisengebiet
erlauben, und andererseits die schutzwürdigen Interessen der Bewohner des Gebietes
hinreichend berücksichtigen.
a. Beeinträchtigung eines der von Art. 1 Ziff. 2 und 3 SVN geschützten Rechtsgüter
Zu prüfen ist zunächst, ob eine Maßnahme der vom Sicherheitsrat unter Kapitel VII
der Charta mandatierten Gebietsverwaltung überhaupt eines der nach Art. 24 Abs. 2
Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Ziff. 2 und 3 SVN zu schützenden Rechte
beeinträchtigt. Der Begriff Maßnahme ist dabei als Oberbegriff für jedes zu prüfende
Handeln oder Unterlassen zu verstehen, unabhängig davon, in welcher Rechtsform es
geschieht. Nur wenn durch die fragliche Maßnahme tatsächlich geschützte
(1992), S. 275 f. u. 296 f.; Ipsen, Völkerrecht (2004), § 15 Rn. 59.
1444
Siehe dazu ausführlicher unten 4.Kp.E.I. m.w.N.
309
Rechtspositionen beeinträchtigt werden, kann im Einzelfall ein Konflikt zwischen
dem Ziel der Friedenssicherung und den übrigen Zielen des Art. 1 SVN bestehen.
Dabei ist insbesondere bei Menschenrechten zu prüfen, ob es sich nicht um
Einschränkungen handelt, die nach den internationalen Pakten einschließlich der
weiteren relevanten UN-Menschenrechtskonventionen zulässig sind. So erlaubt
beispielsweise Art. 12 Abs. 3 IPbürgR, die Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit
zum Schutz des ordre public oder aus anderen dort genannten Gründen
einzuschränken. Aus denselben Gründen erlaubt Art. 15 Abs. 2 KRK1445 eine
Einschränkung
der
Versammlungsfreiheit.
In
beiden
Fällen
müssten
die
Einschränkungsmöglichkeiten gesetzlich normiert sein, im Falle einer UNGebietsverwaltung also in Form einer Verordnung.1446
Im Falle einer Beeinträchtigung von Rechten des IPbürgR ist ferner zu prüfen, ob
diese nicht bereits aus Notstandsgesichtspunkten gerechtfertigt ist. Art. 4 Abs. 1
IPbürgR erlaubt es den Vertragsstaaten, „[i]m Falle eines öffentlichen Notstandes,
der das Leben der Nation bedroht, (...) ihre Verpflichtungen aus diesem Pakt in dem
Umfang, den die Lage unbedingt erfordert, außer Kraft [zu] setzen“.1447 Eine solche
Bedrohung muss unmittelbar und gegenwärtig sein und muss ein Gebiet und seine
Bewohner in ihrer Gesamtheit treffen.1448 Es ist nicht ausreichend, dass lediglich die
politische Stabilität einer Regierung gefährdet ist oder dass nur Teile der
Bevölkerung betroffen sind.1449 Die Situation muss über eine bloße Bedrohung der
1445
Siehe die Nachweise oben in Fn. 1441.
1446
Siehe beispielsweise UNMIK/REG/2000/62 vom 30.11.2000 zur Anordnung von Platzverweisen
zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Je nach Stadium des staatlichen Wiederaufbaus
käme auch ein Legislativakt des zuständigen nationalen Gesetzgebungskörpers in Frage.
Art. 4 Abs. 1 IPbürgR lautet im engl. Original: „In time of public emergency which threatens the
life of the nation and the existence of which is officially proclaimed, the State Parties to the present
Covenant may take measures derogating from their obligations under the present Covenant to the
extent strictly required by the exigencies of the situation, provided that such measures are not inconsistent with their other obligations under international law and do not involve discrimination solely
on the ground of race, colour, sex, language or social origin.” Siehe auch die Kommentierungen von
Hartman, HRQ 7 (1985), 89-131, und Nowak, CCPR Commentary (1993), Art. 4, ferner HRC, General Comment No. 29 (2001).
1447
1448
Ausführlicher zu den Anforderungen an die Annahme einer Notstandssituation Hartman, HRQ 7
(1985), 89 (91-98); Oraá, Human Rights (1992), S. 27-31.
310
öffentlichen Sicherheit und Ordnung hinausgehen und darf nicht mehr mit den
regulären Mitteln des Rechtsstaats effektiv zu bekämpfen sein.1450
Es liegt nahe, zumindest in der Anfangszeit einer Krisengebietsverwaltung durch den
Sicherheitsrat eine Notstandssituation im Sinne des Art. 4 Abs. 1 IPbürgR
anzunehmen.1451 Zwar sind die Vereinten Nationen nicht Vertragsstaat des IPbürgR.
Der materielle Gehalt des Art. 4 Abs. 1 IPbürgR, demzufolge bestimmte
Gewährleistungen des Paktes nicht notstandsfest sind, bestimmt aber auch Inhalt und
Reichweite der betroffenen Menschenrechte und konkretisiert damit ebenfalls die
Zielvorgabe des Art. 1 Ziff. 3 SVN. Auch der Einwand, dass ein Staatswesen in der
Anfangszeit einer UN-Verwaltung regelmäßig nicht mehr existieren wird und somit
auch nicht mehr in seiner Existenz bedroht sein kann, ist nicht zwingend. Wenn es
schon zulässig ist, zur Sicherung des Bestandes einer Nation im Sinne einer in einem
Staatswesen organisierten Bevölkerung von Vorschriften des IPbürgR zu derogieren,
muss dies erst recht im Falle der Rekonstruktion dieses Staatswesens möglich sein.
Doch auch im weiteren Verlauf einer UN-Gebietsverwaltung ist es denkbar, dass es
zu Krisensituationen kommt, welche die Existenz der bisher geschaffenen
Verwaltungsstrukturen gefährden und so als Notstand im Sinne des Art. 4 Abs. 1
SVN einzustufen wären. Beispielhaft seien die im Frühjahr 2004 im Kosovo
aufgeflammten massiven Unruhen genannt, bei denen zahlreiche Menschen,
insbesondere Angehörige der serbischen Minderheit, getötet wurden und die von
UNMIK und KFOR nur mühsam unter Kontrolle gebracht werden konnten.1452
1449
Siehe die Auswertung der bisherigen Arbeit des Menschenrechtsausschusses des IPbürgR bei
Svensson-McCarthy, States of Exception (1998), S. 199-241 (insbes. S. 239 f.).
1450
Oraá, Human Rights (1992), S. 29 f. Dieses Erfordernis lässt sich ferner aus HRC, General Comment No. 29 (2001), § 3 u. § 5, folgern. Svensson-McCarthy, States of Exception (1998), S. 621, leitet
diese Anforderung aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip ab.
Nach O’Neill, Kosovo (2002), S. 78 f., plädierte er (O’Neill) als Menschenrechtsberater des SRSG
Kouchner Ende 1999 dafür, im Kosovo explizit eine Notstandslage nach Art. 4 IPbürgR zu
verkünden. Aus politischen Gründen sei dies jedoch abgelehnt worden. In diese Richtung auch OMIK,
3. Criminal Justice Review (2001), S. 36, die einen Notstand i.S.d. Art. 4 IPbürgR jedoch mangels
öffentlicher Verkündigung ablehnt.
1451
1452
Siehe dazu ausführlich Human Rights Watch, Failure to Protect (2004), und ICG, Collapse in
Kosovo (2004).
311
Problematischer sind die von Art. 4 Abs. 1 und 3 IPbürgR postulierten Deklarationsund Notifikationspflichten.1453 Trotz des Vorliegens einer Notstandssituation hat
weder UNMIK im Kosovo noch UNTAET in Osttimor dies amtlich verkündet oder
den
Mitgliedsstaaten
des
Paktes
notifiziert.1454
Indes
ist
zumindest
die
Notifikationspflicht des Art. 4 Abs. 3 IPbürgR der Sache nach nicht auf den
Sicherheitsrat anwendbar, da er nicht Vertragspartei ist und daher auch nicht dem
vom IPbürgR geschaffenen Kontrollregime unterliegt.1455 Bei diesen handelt es sich
um prozedurale Vorschriften, die lediglich der Durchsetzung der materiellen
Vertragsnormen dienen, ohne aber Einfluss auf deren Inhalt und Umfang zu haben.
Prozedurale Normen des IPbürgR wie auch der anderen UN-Menschenrechtsverträge
stellen daher keine Konkretisierung der vom Sicherheitsrat nach Art. 1 Ziff. 3 SVN
zu fördernden Menschenrechte dar und sind daher für diesen auch nicht verbindlich.
Ferner ist auch der Schutzzweck der Notifikationspflicht nicht einschlägig, da die
übrigen Staaten über die periodischen Berichte des Generalsekretärs sowie als
Mitglieder
der
Vereinten
Nationen
bereits
über
Informations-
und
Einflussmöglichkeiten verfügen und eine Staatenbeschwerde nach Art. 41 IPbürgR
gegen den Sicherheitsrat ohnehin nicht möglich ist.1456
Schwieriger erscheint es dagegen, eine Pflicht des Sicherheitsrates beziehungsweise
der Verwaltungsmission zur offiziellen Verkündung des Notstands zu verneinen.
Diese amtliche Verkündung ist nach Art. 4 Abs. 1 IPbürgR notwendige
Voraussetzung dafür, dass sich ein Vertragsstaat auf die Notstandsklausel berufen
kann.1457 Anders als Art. 4 Abs. 3 IPbürgR betrifft sie nicht lediglich das Verfahren
1453
Ausführlich zu beiden Pflichten und ihren Ausformungen in IPbürgR, EMRK und AMRK Oraá,
Human Rights (1992), S. 34-86. Speziell zur Notifikationspflicht unter Art. 4 Abs. 3 IPbürgR siehe
Svensson-McCarthy, States of Exception (1998), S. 683-696.
1454
So Stahn, ZaöRV 61 (2001), 107 (153), für UNMIK.
1455
Anders mag dies für vom Sicherheitsrat autorisierte Truppenverbände wie KFOR sein, da diese
weiter den Truppen stellenden Staaten zuzurechnen sind. Siehe dazu Cerone, EJIL 12 (2001), 469
(486 u. 488).
1456
Zur ratio legis des Art. 4 Abs. 3 IPbürgR siehe HRC, General Comment No. 29 (2001), § 17, und
ausf. Oraá, Human Rights (1992), S. 58 f.
1457
HRC, General Comment No. 29 (2001), § 2; Nowak, CCPR Commentary (1993), Art. 4 Rn. 17.
Streng formal auch IGH, Legal consequences of the wall (Gutachten 2004), § 127 u. § 136, der eine
Derogation Israels nur hinsichtlich des in der israelischen Noststandsnotifikation genannten Art. 9
312
der Vertragsparteien untereinander, sondern dient unmittelbar dem Schutz der
Betroffenen. Durch das Erfordernis der amtlichen Verkündung des Notstandes soll
die Bevölkerung gewarnt werden und der Möglichkeit einer ex post-Rechtfertigung
begangener Menschenrechtsverletzungen als Notstandsmaßnahmen ein Riegel
vorgeschoben werden.1458 Dieser Schutzzweck ist grundsätzlich auch im Falle einer
UN-Gebietsverwaltung einschlägig. Allerdings wird man angesichts der Zustände,
welche die UN zu Beginn ihrer Verwaltungstätigkeit im Kosovo und in Osttimor
vorfand, sagen können, dass das Vorliegen einer Notstandssituation für alle
Beteiligten derart offentsichtlich war, dass es einer Proklamation nicht mehr
bedurfte.1459 Dennoch erscheint aus Gründen der Rechtssicherheit auch in diesen
Fällen eine amtliche Verkündigung angebracht. Jedenfalls soweit sich eine UNMission nach der Festigung ihrer Gebietshoheit und ihrer Verwaltungsinstitutionen
noch auf die Notstandsbefugnis des Art. 4 Abs. 1 IPbürgR berufen will, ist eine
amtliche Verkündung erforderlich.1460
b. Kein Verstoß gegen zwingendes Recht
Lässt sich die festgestellte Beeinträchtigung eines geschützten Rechts weder als eine
zulässige Einschränkung noch als Derogation im Falle eines Notstands rechtfertigen,
so muss weiter geprüft werden, ob ein Verstoß gegen zwingende Rechtsnormen
IPbürgR zugelassen hat, nicht hingegen hinsichtlich der übrigen Gewährleistungen des IPbürgR.
1458
Oraá, Human Rights (1992), S. 35; Nowak, CCPR Commentary (1993), Art. 4 Rn. 19. Ähnlich
auch Hartman, HRQ 7 (1985), 89 (99). Dagegen sieht HRC, General Comment No. 29 (2001), § 2,
den wesentlichen Zweck dieser Vorschrift darin, den Grundsatz der Rechtsbindung aller staatlichen
Organe („principle of legality“) sowie die Rechtsstaatlichkeit („rule of law“) auch im Krisenfall
aufrecht zu erhalten. Die Proklamationspflicht hätte dann eine geringere Bedeutung, wenn beide
Prinzipien bereits im Vorfeld einer UN-Gebietsverwaltung zusammengebrochen sind, da es dann nicht
mehr darum gehen kann, die ohnehin offentsichtliche Abweichung vom rechtlichen Normalzustand in
einem geordneten Verfahren (amtlich) zu verkünden.
1459
Andererseits wurde eine Notstandsderogation nach Art. 4 Abs. 1 IPbürgR von UMNIK gerade
deshalb abgelehnt, weil man um die Glaubwürdigkeit der nach außen vertretenen These einer stetigen
Verbesserung der Verhältnisse fürchtete (O’Neill, Kosovo (2002), S. 78 f.). Derartigen politischen
Bedenken würde die Grundlage entzogen, wenn man, wie von O’Neill, ebenda S. 75 vertreten, gleich
zu Anfang der UN-Krisengebietsverwaltung den Notstand erklärte.
1460
So auch Narten, HVR 17 (2004), 144 (148), im Hinblick auf die gewaltsamen Unruhen im Kosovo
im März 2004. Weitergehend Stahn, ZaöRV 61 (2001), 107 (153), der unter allen Umständen eine
formelle Verkündung und Notifizierung des Notstandes durch den Sicherheitsrat verlangt.
313
vorliegt. Dies mag im Falle einiger Prozessgrundrechte1461 und hinsichtlich der
Reichweite des Selbstbestimmungsrechts1462 im Einzelfall problematisch sein, wird
aber in der Regel keine Schwierigkeiten aufwerfen.
c. Geeignetheit der Handlung zur Friedenssicherung
Ein regelungsbedürftiger Konflikt zwischen den Zielen des Art. 1 SVN, bei dem der
Vorrang der Friedenssicherung ins Spiel kommt, setzt weiter voraus, dass die
fragliche Maßnahme zum Zwecke der Friedenssicherung ergriffen wird und dass sie
dazu auch objektiv geeignet ist.1463 Soll sie primär anderen Zwecken dienen und
kann sie objektiv nicht dazu beitragen, die von dem Kriesengebiet ausgehende
Friedensbedrohung zu bekämpfen, so liegt schon gar kein regelungsbedürftiger
Konflikt zwischen dem Ziel der Friedenssicherung einerseits und der Förderung von
Menschenrechten und Selbstbestimmungsrecht andererseits vor. Die fragliche
Maßnahme wäre für die Friedenssicherung irrelevant und, da sie gegen das
Selbstbestimmungsrecht oder ein Menschenrecht verstößt, völkerrechtswidrig.
Bei der Beurteilung der Eignung einer Maßnahme ist jedoch zu beachten, dass
Friedenssicherung im Sinne des Art. 1 Ziff. 1 SVN nicht mit der Wiederherstellung
oder Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vor Ort
gleichzusetzen ist. Ein Maßnahme, die der Beseitigung einer Störung der
öffentlichen Sicherheit innerhalb des Krisengebietes dient, ist damit noch nicht zur
Friedenssicherung bestimmt und geeignet. Erst wenn die betreffende Störung
Ausmaße erreicht, welche die Stabilität des Gebietes und seiner Verwaltung
insgesamt beeinträchtigen, hat sie Auswirkungen auf die Sicherung des Weltfriedens.
Beispielhaft für eine derartig gravierende Störung sind die anti-serbischen
Ausschreitungen im Kosovo, bei denen im März 2004 zwanzig Personen getötet und
über 200 verletzt wurden und die ihrerseits zu Krawallen in Serbien führten, bei
1461
Strittig ist insbesondere, inwiefern Ausprägungen des fair trial-Grundsatzes zwingenden
Charakters sind. Zu den Prozessgrundrechten siehe auch unten 4.Kp. E.II.3.
1462
Siehe dazu unten 4.Kp. E.V.
1463
So für den ähnlich gelagerten Fall einer Notstandsderogation bei menschenrechtlichen Verträgen
Oraá, Human Rights (1992), S. 169.
314
denen
Moscheen
in
und
Niś
Belgrad
zerstört
wurden.1464
Bloße
Kriminalitätsbekämpfung oder Gefahrenabwehr unterhalb dieser Schwelle ist aber
noch keine Friedenssicherung im Sinne der Charta. Zwar umfasst der Begriff des
Weltfriedens und der internationalen Sicherheit nach der heute herrschenden weiten
Auslegung auch rein innerstaatliche Vorgänge. Diese müssen aber ein erhebliches
Gewicht haben.1465 Das gilt auch dann, wenn der Sicherheitsrat und damit die
Vereinten Nationen selbst für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung in
einem Gebiet verantwortlich sind.
d. Verhältnismäßigkeit der Maßnahme
Ist die fragliche Maßnahme indes zur Friedenssicherung bestimmt und geeignet, so
ist der Sicherheitsrat aufgrund des in der Charta niedergelegten Vorrangs der
Friedenssicherung
berechtigt,
nicht
zwingende
Bestandteile
des
Selbstbestimmungsrechts und der Menschenrechte zu missachten, soweit dies zum
Zwecke der Friedenssicherung unbedingt erforderlich und im Hinblick auf das
konkret angestrebte Ziel angemessen ist.1466
Diese beiden Voraussetzungen, die sich unter dem Begriff der Verhältnismäßigkeit
der Maßnahme zusammenfassen lassen, ergeben sich unter Anderem aus einer
entsprechenden
Heranziehung
der
Notstandsklauseln
menschenrechtlicher
Vertragswerke1467. Denn ihnen und dem in Art. 1 SVN niedergelegten Vorrang der
Friedenssicherung liegt eine vergleichbare Interessenlage zugrunde. In beiden Fällen
soll
eine
vorübergehende
Beeinträchtigung
bestimmter
Rechtsgüter
–
Menschenrechte und Selbstbestimmungsrecht – zulässig sein, um den Bestand eines
1464
Zu diesen Ausschreitungen ausführlich Human Rights Watch, Failure to Protect (2004), und ICG,
Collapse in Kosovo (2004).
1465
Siehe dazu bereits oben 3.Kp. C.II.
1466
Ausführlich zur Geltung des Verhältnismäßigkeitsprinzip im Bereich der Notstandsklauseln Oraá,
Human Rights (1992), S. 140-170. Die diesbzgl. Arbeit des Menschenrechtsausschusses des IPbürgR
wertet Svensson-McCarthy, States of Exception (1998), S. 569-590, aus.
1467
Zu erwähnen sind hier neben Art. 4 Abs. 1 IPbürgR auch Art. 15 EMRK und Art. 27 AMRK.
Umfassend zu den Notstandsklauseln allgemein aus jüngerer Zeit Svensson-McCarthy, States of Exception (1998), zu Art. 15 EMRK und Art. 27 AMRK Maslaton, Notstandsklauseln (2002). Zur Frage,
inwieweit sich aus diesen allgemeine gewohnheitsrechtliche Notstandskriterien entwickeln lassen,
siehe insbes. Oraá, in: FS Brownlie (1999), S. 413-437.
315
übergeordneten Rechtsgutes – Weltfrieden einerseits, Nation oder Staatswesen1468
andererseits – zu sichern.1469 Weder Weltfrieden noch funktionierendes Staatswesen
sind aber Selbstzwecke, vielmehr sind beide Voraussetzungen für eine dauerhafte
Verwirklichung der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts.1470 Die von
Notstandsklauseln in menschenrechtlichen Vertragswerken getroffene Abwägung
zwischen Systemsicherung und Menschenrechtsschutz ist daher vorliegend
entsprechend heranzuziehen. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip ist ferner gerade im
Bereich
der
Menschenrechte
relevantes
allgemeines
Rechtsprinzip
des
Völkerrechts.1471 Es ist ferner Kernbestandteil des humanitären Völkerrechts,
welches ebenfalls die Frage einer Rechtsbindung in einem Sonderzustand – dem des
bewaffnenten Konflikts – regelt.1472
Doch auch die Charta lässt eine Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips
zumindest in der Form des Erforderlichkeitsgrundsatzes naheliegend erscheinen. Die
Verpflichtung des Sicherheitsrates auf alle Ziele der Organisation (Art. 24 Abs. 2
Satz 1 SVN) verbietet es trotz des grundsätzlichen Vorrangs der Friedenssicherung,
die übrigen Ziele auch dann zurücktreten zu lassen, wenn dies im Einzelfalls gar
nicht erforderlich ist. Vielmehr hat der Sicherheitsrat soweit wie möglich alle Ziele
zu verfolgen. Ähnliches lässt sich spezifisch für Kapitel VII der Charta aus Art. 41
und 42 SVN ableiten, die ein Bemühen der Charta erkennen lassen, im Rahmen der
Friedenssicherung die Anwendung des mildesten Mittels zu sichern.1473
Zur Ursache der Wahl des Begriffs „Nation“ statt „Volk“ oder „Staat“ siehe Oraá, Human Rights
(1992), S. 13 m.w.N.
1468
Nach HRC, General Comment No. 29 (2001), § 1, muss die „restoration of a state of normalcy
where full respect for the Covenant can again be secured” das bestimmende Motiv für die Derogation
eines Mitgliedstaates vom Pakt sein.
1469
1470
Siehe dazu bereits oben 4.Kp. B.III.3.e.
1471
Delbrück, Proportionality, EPIL III (1997), 1140 (1143 u. 1144); Oraá, Human Rights (1992), S.
140. Ausführlich zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht in jüngerer Zeit Krugmann,
Verhältnismäßigkeit (2004).
1472
Delbrück, Proportionality, EPIL III (1997), 1140 (1142). Siehe dazu auch Krugmann,
Verhältnismäßigkeit (2004), S. 36 f., m.w.N.
1473
Frowein/Krisch, Introduction to Chapter VII (2002), Rn. 30, die allerdings einen weiten
Ermessensspielraum des Sicherheitsrates betonen. Siehe dazu auch unten den folgenden Abschnitt
4.Kp. D.III.3.e
316
Daraus folgt zunächst, dass die ein Menschenrecht oder das Selbstbestimmungsrecht
beeinträchtigende Maßnahme nur dann aufgrund des Vorrangs der Friedenssicherung
zulässig sein kann, wenn sie zur Beseitigung einer Friedensbedrohung nicht nur
geeignet, sondern auch zwingend erforderlich1474 ist. Das heißt, es darf kein milderes
Mittel zur Verfügung stehen, das bei gleicher Effektivität hinsichtlich der
Friedenssicherung in geringerem Maße in geschützte Rechtspositionen eingreift.
Dabei ist jedoch auch zu berücksichtigen, dass die Vereinten Nationen nur über
begrenzte Ressourcen verfügen und zudem regelmäßig sehr kurzfristig in einem
Krisengebiet
eingesetzt
werden.
Die
hier
relevante
Effektivität
einer
friedenssichernden Maßnahme bemisst sich danach, wie der Sicherheitsrat mit den
ihm im Einzelfall zur Verfügung stehenden Ressourcen die größten Forstschritte bei
der Bekämpfung einer Friedensbedrohung machen kann. So ist es beispielsweise
durchaus denkbar, erst in einem Krisengebiet einzugreifen, wenn sämtliches Personal
rekrutiert und ausgebildet wurde, das für eine den Anforderungen der Art. 9 und 10
IPbürgR ab initio gerecht werdende Justiz erforderlich ist. Das hieße jedoch, mit dem
Ergreifen von Maßnahmen zur Bekämpfung von Friedensbedrohungen zu warten,
und ist daher gegenüber einem sofortigen Eingreifen auch ohne ausreichend
qualifiziertes Personal kein gleich effektives Mittel.
Ähnlich wie im Falle der menschenrechtlichen Notstandsklauseln wird man auch die
Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne als Kriterium für die Annahme eines
Vorrangs der Friedenssicherung im Einzelfall sehen müssen. 1475 Nur wenn das mit
einer Maßnahme verfolgte konkrete Ziel in einem angemessenen Verhältnis zu der
durch die Maßnahme bewirkten Beeinträchtigung von Menschenrechten oder dem
Selbstbestimmungsrecht steht, ist sie aufgrund des Vorrangs der Friedenssicherung
zulässig. Damit ist der von der Maßnahme erwartete Beitrag zur Bekämpfung einer
1474
Vgl. Art. 4 Abs. 1 IPbürgR und die Ausführungen dazu in HRC, General Comment No. 29 (2001),
§ 4.
1475
Für die Angemessenheit als Kriterium für die Zulässigkeit einer Notstandsmaßnahme
beispielsweise McDougal u.A., AJIL 63 (1969), 237 (267); Higgins, BYIL 48 (1976-77), 281 (282 f.);
§ 51 der sog. Siracusa Principles on the Limitation and Derogation Provisions in the International
Covenant on Civil and Political Rights, abgedr. in HRQ 7 (1985), 3 (9); Nowak, CCPR Commentary
(1993), Art. 4 Rn. 24; Oraá, in: FS Brownlie (1999), S. 432. Zurückhaltender wohl HRC, General
Comment No. 29 (2001), § 4, die der Sache nach ein striktes Erforderlichkeitskriterium („strictly
required by the exigencies of the situation“) ausreichen lässt.
317
Friedensbedrohung ins Verhältnis zu setzen mit Art und Umfang der durch sie
bewirkten Rechtsbeeinträchtigung. Maßgeblich ist dabei insbesondere die Bedeutung
des beeinträchtigten Rechtsgutes für den Betroffenen sowie der Grad und die Dauer
der Beeinträchtigung. So wird aufgrund der hohen Bedeutung dieser Rechtsgüter
eine Beeinträchtigung des Lebens oder der körperlichen Integrität Einzelner selten,
eine vorübergehende Beeinträchtigung seiner persönlichen Freiheit oder seiner
Eigentumsrechte dagegen eher zulässig sein.
e. Einschätzungsprärogative des Sicherheitsrates
Insbesondere die Beantwortung der Fragen, ob eine Maßnahme geeignet und ob sie
erforderlich ist, ist in hohem Maße situationsgebunden. Welche Wirkung eine
Maßnahme haben wird, ob sie geboten ist und ob gleichwertige Alternativen zur
Verfügung stehen, kann nur bei genauer Kenntnis der tatsächlichen und politischen
Verhältnisse in einem Krisengebiet beurteilt werden. Gleiches gilt damit auch für die
Beurteilung der Frage, ob die von ihr erwartete friedenssichernde Wirkung in einem
angemessenen Verhältnis zu den erwarteten Beeinträchtigungen steht. Letztlich
handelt es sich im Kern um Prognoseentscheidungen auf der Grundlage politischer
Erfahrungen.
Als Prognoseentscheidung kann ihre Rechtmäßigkeit daher nur anhand der ex ante
bekannten Umstände beurteilt werden,1476 d.h. eine beeinträchtigende Maßnahme
bleibt auch dann aufgrund des Vorrangs der Friedenssicherung zulässig, wenn sie
sich erst ex post als wenig wirkungsvoll und daher unangemessen erweist.
Aufgrund des politischen Charakters der Entscheidung besitzt der Sicherheitsrat
ferner wie bei allen Entscheidungen unter Kapitel VII der Charta eine erhebliche
Einschätzungsprärogative.1477 Art. 39, 1. Halbsatz SVN weist dem Sicherheitsrat eine
Prärogative hinsichtlich der Einschätzung einer Situation als Friedensbedrohung
zu.1478 Auch obliegt es allein ihm, nach Art. 39, 2. Halbsatz SVN zu entscheiden,
1476
So allgemein Krugmann, Verhältnismäßigkeit (2004), S. 47 f.
1477
In diese Richtung auch Krugmann, Verhältnismäßigkeit (2004), S. 104.
1478
Allgemein zur Einschätzungsprärogative unter Kapitel VII der Charta siehe oben 3.Kp. C. II.
318
welche Maßnahmen er zu ihrer Beseitung ergreift. Er ist in Fragen der
Friedenssicherung der politische Entscheidungsträger der in der UN verfassten
Staatengemeinschaft und soll zu diesem Zweck zügig und flexibel handeln können.
Zudem vereinigt er aufgrund seiner Zusammensetzung wesentliche Teile des
politischen Sachverstandes der Staatengemeinschaft.
f. Zusammenfassung
Eine
Menschenrechte
oder
das
Selbstbestimmungsrecht
beeinträchtigende
Maßnahme des Sicherheitsrates oder der von ihm eingesetzten Verwaltungsmission
ist aufgrund des Vorrangs der Friedenssicherung im Einzelfall zulässig, wenn sie
nicht gegen zwingendes Recht verstößt und sie zur Bekämpfung einer
Friedensbedrohung geeignet und erforderlich ist. Ferner darf die mit der Maßnahme
verbundene Beeinträchtigung geschützter Rechtsgüter nicht außer Verhältnis zu ihrer
friedenssichernden Wirkung stehen. Maßstab ist dabei die Bedeutung des
beeinträchtigten Rechts für den Betroffenen sowie Umfang und Dauer der
Beeinträchtigung. Für die Beurteilung der Geeignetheit, Erforderlichkeit und
Angemessenheit ist die ex ante-Sicht maßgeblich, das heißt die im Zeitpunkt des
Ergreifens der Maßnahme vorhanden Kenntnisse. Da es sich im Kern um eine
Prognoseentscheidung auf der Grundlage einer politischen Einschätzung der
Situation handelt, besitzt der Sicherheitsrat
diesbezüglich wie
bei allen
Entscheidungen unter Kapitel VII der Charta eine weite Einschätzungsprärogative.
4.
Tendenz: Vom Vorrang der Friedenssicherung zur vollen Rechtsbindung
Doch wie wirkt sich diese abgestufte Rechtsbindung in der Praxis aus? Idealtypisch
ist von einer zunehmenden Rechtsbindung des Sicherheitsrates im Verlauf einer
Krisengebietsverwaltung
auszugehen.
Am
Anfang
einer
Intervention
des
Sicherheitsrates wird regelmäßig die Beendigung der Kampfhandlungen und die
militärische Befriedung des Gebietes stehen. In dieser Phase wird dem Sicherheitsrat
eine umfassende Wahrung der Menschenrechte nur schwer möglich sein, will er die
Kämpfe schnell und wirksam beenden. Außerdem wird die UN-Mission nur mit
einem Rumpfpersonal vor Ort vertreten und noch weit davon entfernt sein, effektive
Verwaltungsstrukturen aufgebaut zu haben, wie sie insbesondere zur Beachtung
justizieller Menschenrechte erforderlich sind. Da mildere Mittel mangels Ressourcen
319
vor Ort nicht zur Verfügung stehen, wird es vergleichsweise häufig zu einem
Zielkonflikt kommen, bei der sich der Vorrang der Friedenssicherung zu Lasten der
Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts durchsetzt. Dabei ist jedoch auch
der Sicherheitsrat gehalten, die einschlägigen zwingenden Grundwerte der
internationalen
Gemeinschaft
zu
beachten.
Solche
ergeben
sich
in
der
Befriedungsphase insbesondere aus den Normen des humanitären Völkerrechts,
soweit es gegenwärtig den Status zwingenden Rechts erlangt hat.1479 Doch auch die
oben erarbeiteten Kriterien für die Annahme eines Vorrangs der Friedenssicherung
im
Einzelfall
verhindern
eine
völlige
rechtliche
Handlungsfreiheit
des
Sicherheitsrates.
Mit
zunehmender
Stabilisierung
des
Gebietes
nimmt
der
Grad
der
Friedensbedrohung ab und es entstehen Entscheidungsspielräume. Immer seltener
treten Situationen auf, in denen die Beachtung der Menschenrechte zu Lasten der
Friedenssicherung
gehen
muss.
Die
Verwaltungsmission
wird
vollständig
eingerichtet sein und es bestand ausreichend Gelegenheit, kompetentes Personal zu
rekrutieren und in das Gebiet zu entsenden, so dass fehlende Ressourcen eine weit
geringere Rolle spielen sollten, als zu Beginn einer UN-Zwangsverwaltung.
Progressiv leben daher die Pflichten des Sicherheitsrates aus Art 1 Ziff. 2 und Ziff. 3
SVN wieder auf. Führt ein menschenrechtskonformes Verhalten nicht zu einer
Vergrößerung oder Verlängerung der friedensbedrohenden Situation, sind der
Sicherheitsrat und sein ausführendes Nebenorgan zu einem solchen Verhalten
verpflichtet. Sind die Möglichkeiten vorhanden, die Menschenrechte der Bewohner
zu beachten, wird ihre Beeinträchtigung regelmäßig nicht mehr zum Zwecke der
Friedenssicherung erforderlich sein. Im Laufe ihrer Mission wird eine UNZwangsverwaltung daher rein faktisch in zunehmenden Maße zur Einhaltung der
Menschenrechte und zur Beachtung des Selbstbestimmungsrechts verpflichtet sein.
Allerdings beschreibt das nur eine idealtypische Tendenz. Im Einzelfall kann auch
noch in einem stabilisierten Krisengebiet das Primat der Friedenssicherung zur
Geltung kommen.
1479
Siehe dazu unten 4.Kp. E.I. m.w.N.
320
5.
Zusammenfassung: Die progressive Rechtsbindung des Sicherheitsrates
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Sicherheitsrat aus Art. 24 Abs. 2 Satz 1
in Verbindung mit Art. 1 Ziff. 2 und Ziff. 3 SVN dazu verpflichtet ist, die
Menschenrechte und das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu fördern. Zumindest
wenn er – wie dies bei einer Gebietsverwaltung der Fall ist – unmittelbar für eine
Bevölkerung verantwortlich ist, konkretisiert sich dieses allgemeine Förderungsgebot
in eine Pflicht zur Beachtung und Gewährleistung dieser Rechte. Den Maßstab
bilden
im
Falle
des
Selbstbestimmungsrechts
die
normkonkretisierenden
Resolutionen der Generalversammlung, im Falle der Menschenrechte die unter der
Ägide der Generalversammlung ausgearbeiteten menschenrechtlichen Verträge. Als
autoritative Konkretisierungen der in Art. 1 Ziff. 2 und Ziff. 3 SVN niedergelegten
Ziele sind sie für alle UN-Organe verbindlich.1480
Aus Art. 1 SVN geht indes ebenfalls hervor, dass das Ziel der Friedenssicherung im
Konfliktfall Vorrang vor den übrigen Zielen der Vereinten Nationen, insbesondere
den in Ziff. 2 und Ziff. 3 genannten haben soll. Daraus folgt, dass der Sicherheitsrat
im konkreten Einzelfall Maßnahmen ergreifen darf, die Menschenrechte oder das
Selbstbestimmungsrecht beeinträchtigen, wenn derartige Maßnahmen nach seiner
Auffassung zur Bekämpfung und Beseitigung von Friedensbedrohungen unbedingt
erforderlich und im Hinblick auf die beeinträchtigten Rechtspositionen auch
verhältnismäßig sind.
Diese bedingte Freistellung des Sicherheitsrates durch das Recht der Charta findet
indes in jenen zwingenden Normen des Völkerrechts ihre Grenze, die den
Kernbereich der gemeinsamen Werte der Völkergemeinschaft schützen. An dieses
außerhalb der Verfügungsmacht der internationalen Akteure stehende ius cogens ist
auch der Sicherheitsrat unter allen Umständen gebunden. Diese Bindung ergibt sich
einerseits aus der Völkerrechtssubjektivität der Vereinten Nationen, deren Organ der
Sicherheitsrat ist, andererseits aus der Tatsache, dass der Sicherheitsrat lediglich
abgeleitete, keine originären Befugnisse ausübt.
In diese Richtung auch UN-GS, Transitional Justice (2004), § 9: „[They] represent the universally applicable standards adopted under the auspices of the United Nations und must therfore serve as
the normative basis for all United Nations activities (...).“
1480
321
Angewendet auf die Verwaltung von Krisengebieten unter Kapitel VII der Charta
ergibt sich aus diesem Koordinatensystem eine in der Grundtendenz progressive
Rechtsbindung des Sicherheitsrates. Je mehr ein Krisengebiet durch eine UNVerwaltung stabilisiert wird, desto geringer wird die Friedensbedrohung, die von ihm
ausgeht, und desto seltener werden die Fälle, in denen Friedenssicherung und die
Wahrung der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts miteinander in
Konflikt geraten. In dem Maße, wie die Friedensbedrohung zurückgeht, nimmt rein
faktisch die Verpflichtung des Sicherheitsrates auf die übrigen Ziele der Vereinten
Nationen zu.
Dieses Ergebnis ist auch sachlich gerechtfertigt. Je mehr eine UN-Verwaltung in
ihrem täglichen Betrieb einer normalen staatlichen Verwaltung gleicht, desto eher
scheint es gerechtfertigt, sie in gleicher Weise an allgemeine völkerrechtliche
Vorgaben zu binden. Im Einzelfall kann diese Bindung auch über das Niveau der
Verpflichtungen des zuvor verantwortlichen Territorialstaates hinausgehen, da nicht
alle Staaten alle UN-Menschenrechtsverträge ratifiziert haben. Indes kann der
Sicherheitsrat, soweit er aus Art. 1 SVN zum Schutze der Menschenrechte
verpflichtet ist, nicht hinter dem Schutzniveau zurückstehen, welches die Vereinten
Nationen im Übrigen als für alle Staaten erstrebenswert ansehen.1481
1481
So speziell für UN-Missionen mit exekutiven oder judikativen Befugnissen UN-GS, Transitional
Justice (2004), § 10.
322
E.
Die Grenzen der Verwaltungsmacht in der Praxis
Welche Konsequenzen sich aus den bislang abstrakt dargelegten Schranken der
Verwaltungskompetenz des Sicherheitsrates ergeben, soll im Folgenden anhand
ausgewählter Einzelfragen näher untersucht werden. Es handelt sich um
Rechtsfragen,
die
entweder
typisch
für
die
Besonderheiten
einer
Krisengebietsverwaltung sind oder die sich in der Praxis als besonders problematisch
erwiesen haben. Da die Arbeit einer UN-Gebietsverwaltung ratione materiae fast
den gesamten Bereich staatlicher Tätigkeit umfasst, muss die Auswahl der im
Folgenden behandelten Einzelprobleme notwendig eingeschränkt sein. Hinzu
kommt, dass ein Großteil der von einer Gebietsverwaltung zu bewältigenden
Probleme schwerpunktmäßig wirtschaftlicher oder sozialer Natur ist und nur am
Rande rechtliche Fragen aufwirft. Doch auch die vertiefte und umfassende
Behandlung der einzelnen Rechtsfragen würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit
sprengen. Die folgenden Ausführungen werden sich daher darauf beschränken, in die
Probleme einzuführen und auf der Grundlage der in den vorangegangenen
Abschnitten
dieses
Kapitels
erarbeiteten
abgestuften
Rechtsbindung
des
Sicherheitsrates Lösungansätze aufzuzeigen.
Aufgrund deutlicher inhaltlicher Parallelen wird dabei zunächst geprüft, inwiefern
das Recht der kriegerischen Besetzung auf UN-Übergangsverwaltungen Anwendung
findet und inwieweit seine vergleichsweise detaillierten Regelungen fruchtbar
gemacht werden können (I). Als Beispiel für Menschenrechte, die zu ihrer
Verwirklichung in besonderem Maße auf funktionierende staatliche Institutionen
angewiesen sind, soll dann untersucht werden, welche Anforderungen die
völkerrechtlich gewährleisteten justiziellen Rechten an den Wiederaufbau des
Justizwesens
des
verwalteten
Gebietes
stellen
(II).
Das
Verhältnis
von
Friedenssicherung und Menschenrechten soll ferner anhand einer rechtlichen
Untersuchung der im Kosovo angeordneten Fälle von Exekutivhaft veranschaulicht
werden (III). In die gleiche Richtung zielt die Frage, inwieweit eine UN-Verwaltung
völkerrechtlich verpflichtet ist, dem Einzelnen Rechtsschutz gegen ihre eigenen
Hoheitsakte zu gewähren (IV). Im Anschluss daran wird untersucht, welche
Beschränkungen
einer
Gebietsverwaltung
des
Sicherheitsrates
durch
das
Selbstbestimmungsrecht der Völker (V) und das Recht der Staaten auf Achtung ihrer
323
territorialen Integrität (VI) auferlegt werden. Nach einer kursorischen Behandlung
weiterer Aspekte einer UN-Zwangsverwaltung (VII) bildet die Auswertung der durch
die Einzeluntersuchung gewonnenen Erkenntnisse (VIII) den Schluss dieses
Abschnitts.
I.
UN-Zwangsverwaltung und das Recht der kriegerischen Besetzung
Da es die detailliertesten völkerrechtlichen Regelungen für die übergangsweise
Verwaltung eines Gebietes enthält, soll zunächst geprüft werden, inwieweit das
Recht der kriegerischen Besetzung auf eine Gebietsverwaltung unter Kapitel VII der
Charta Anwendung findet.
1.
Grundzüge des Rechts der kriegerischen Besetzung
Niedergelegt ist das Recht der kriegerischen Besetzung im dritten Abschnitt der
Haager Landkriegsordnung (HLKO)1482, in der 4. Genfer Konvention von 1949 (GK
IV)1483 sowie im 1. Zusatzprotokoll der Genfer Konventionen von 1977 (GK-ZP
I)1484. Es regelt als Teil des humanitären Völkerrechts die Rechte und Pflichten einer
Besatzungsmacht sowohl gegenüber den Bewohnern eines besetzten Gebietes als
auch gegenüber den Institutionen und dem öffentlichem Eigentum des betroffenen
Territorialstaats.1485
Ausgangspunkt ist die Erwägung, dass die militärische Besetzung eines Gebietes
lediglich ein vorübergehender Zustand ist, der eo ipso keinen Einfluss auf die
1482
Art. 42 bis 56 der Ordnung der Gesetze und Gebräuche des Landkriegs, Anlage zum Abkommen
betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs vom 18. Oktober 1907, abgedr. in RGBl. 1910,
107 ff.
1483
Siehe insbes. Art. 27-34 u. 47-78 des IV. Genfer Abkommen zum Schutze von Zivilpersonen in
Kriegszeiten vom 12. August 1949, abgedr. in U.N.T.S. 75 (1950), 287 ff.; dt. Fassung abgedr. in
BGBl. 1954 II, 917 ff. (berichtigte Fassung in BGBl. 1956 II, 1586 ff.).
1484
Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12.8.1949 über den Schutz der Opfer
internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll I) vom 8. Juni 1977, abgedr. in U.N.T.S. 1125
(1979), 3 ff., dt. Fassung abgedr. in BGBl. 1990 II, 1551 ff.
1485
Gasser, in: Fleck (Hrsg.), Humanitarian Law (1995), S. 241 (§ 4). Ausführlich zum Recht der
kriegerischen Besetzung auch Benvenisti, Law of Occupation (1993); Green, Law of armed conflict
(2000), S. 256-267; und David, Droit des conflits armés (2002), S. 497-531.
324
Souveränitätsrechte über das Gebiet hat.1486 Zu einer Statusänderung kann es
vielmehr erst im Rahmen eines Friedensvertrages kommen, der indes den Grundsatz
zu beachten hat, dass völkerrechtswidriger Gebietserwerb, insbesondere unter
Verstoß gegen das Gewaltverbot, keinen rechtlichen Bestand hat.1487 Vor diesem
Hintergrund verfolgt das Recht der kriegerischen Besetzung zwei Ziele: Einerseits
dient es dem Schutz der Bevölkerung vis-à-vis der Besatzungsmacht, indem es
beispielsweise Kollektivstrafen (Art. 50 HLKO) oder Zwangsumsiedlungen und
Deportationen (Art. 49 GK IV) verbietet. Anderseits dient das Recht der
kriegerischen Besetzung auch dem Schutz der staatlichen Souveränität, genauer: des
durch die Besetzung vorübergehend an der Ausübung seiner Befugnisse gehinderten
Souveränitätsträgers.1488
Um zu verhindern, dass es allein infolge der militärische Besetzung zu einem
Souveränitätsübergang auf den Okkupanten kommt, enthält das Recht der
kriegerischen Besetzung den Grundsatz der weitestmöglichen Aufrechterhaltung des
territorialen und legislativen status quo innerhalb des Gebietes.1489 Weder die
völkerrechtliche Zuordnung des Gebietes zu einem Souveränitätsträger, noch nach
Möglichkeit die interne institutionelle und rechtliche Ordnung des Gebietes sollen
von der Besatzungsmacht geändert werden. So hat die Besatzungsmacht nach Art. 43
HLKO die öffentliche Ordnung, „soweit kein zwingendes Hindernis besteht, unter
Beachtung der Landesgesetze“ wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten. Nach Art.
64 Abs. 2 GK IV kann die Besetzungsmacht nur insoweit neue Bestimmungen
erlassen, als dies zur Aufrechterhaltung einer ordnungsgemäßen Verwaltung, zur
Umsetzung der Bestimmungen der GK IV oder zur Eigensicherung der
Besatzungsmacht „unerlässlich“ ist.1490 Nach Art. 64 Abs. 1 Satz 2 GK IV bleiben
die nationalen Strafgerichte des besetzten Gebietes grundsätzlich auch während der
1486
Green, Law of armed conflict (2000), S. 257.
1487
Gasser, in: Fleck (Hrsg.), Humanitarian Law (1995), Rn. 525.
1488
IGH, Legal consequences of the wall (Gutachten 2004), § 95; Vité, IRRC 86 (2004), 9 (14).
1489
Gasser, in: Fleck (Hrsg.), Humanitarian Law (1995), Rn. 530 u. 547 ff.; Kolb, Ius in bello (2003),
Rn. 445-447; Vité, IRRC 86 (2004), 9 (14 f.).
1490
Ausführlicher zu dem insbesondere aus Art. 43 HLKO und Art. 64 GK IV folgenden Grundsatz
der Kontinuität der Rechtsordnung Vité, IRRC 86 (2004), 9 (15-19).
325
Besetzung zuständig. Art. 54 GK IV untersagt es der Besatzungsmacht, die
Rechtsstellung der Beamten und Gerichtspersonen des besetzten Gebietes zu ändern.
Nach Art. 56 Abs. 1 Satz 1 GK IV ist die Besatzungsmacht verpflichtet,
Krankenhäuser und andere medizinische Einrichtungen „im Benehmen mit den
Landes- und Ortsbehörden“ weiterzuführen.
Dieser Grundsatz der Kontinuität der Rechtsordnung und der Institutionen eines
Gebietes steht in besonderem Maße im Widerspruch zu den umfassenden Mandaten,
mit denen die UN-Verwaltungen im Kosovo und in Osttimor ausgestattet wurden.1491
Zwar setzten auch diese zunächst das zuvor anwendbare jugoslawische bzw.
indonesische Strafgesetzbuch wieder in Kraft, allerdings nur soweit es mit
menschenrechtlichen Bestimmungen vereinbar war.1492 Wesentliche Aufgabe dieser
Territorialverwaltungen war aber eine umfassende Neugestaltung der institutionellen
und rechtlichen Ordnung innerhalb des Gebietes, und damit gerade nicht die
Erhaltung des status quo. Dem lässt sich nicht entgegenhalten, dass entsprechende
Institutionen aufgrund des Abzugs des vorwiegend serbischen bzw. indonesischen
Personals faktisch nicht mehr existierten, da sie zumindest theoretisch auch auf der
Grundlage der bisherigen Ordnung hätten wieder aufgebaut werden können.
Andererseits enthält das Recht der kriegerischen Besetzung eine Vielzahl von
Detailregelungen, die auch für die Einrichtung einer Übergangsverwaltung von
Bedeutung sein können.1493 Insbesondere das 4. Genfer Abkommen regelt so
unterschiedliche Dinge wie die Ausübung der Strafjustiz (Art. 64-78 GK IV), die
Tätigkeit von Hilfsorganisationen (Art. 59-63 GK IV) oder die Möglichkeit, Teile
der Bevölkerung zu Arbeitsleistungen heranzuziehen (Art. 51 GK IV). Das Recht der
kriegerischen Besetzung enthält damit wesentlich detailliertere Regelungen für die
Ausübung einer Gebietsverwaltung als die bisherigen Ermächtigungsresolutionen des
1491
Vité, IRRC 86 (2004), 9 (24 f.).
1492
Siehe Sec. 3 UNMIK/REG/1999/1 vom 25.7.1999 (abgedr. als Annex zum Bericht des
Generalsekretärs S/1999/987 vom 16.9.1999), ersetzt durch UNMIK/REG/1999/24 und
UNMIK/REG/1999/25 vom 12.12.1999, für das Kosovo und Sec. 3 UNTAET/REG/1999/1 vom
27.11.1999, abgedr. als Annex zum Bericht des Generalsekretärs S/2000/53 Add.1 vom 8.2.2000.
Zum Ganzen auch Sassòli, in: Henzelin/Roth (Hrsg.), Droit pénal (2002), S. 124-137, m.w.N.
1493
Sassòli, in: Henzelin/Roth (Hrsg.), Droit pénal (2002), S. 145.
326
Sicherheitsrates.1494
Damit gewinnt die Frage an Bedeutung, inwieweit das Recht der kriegerischen
Besetzung
ratione
materiae
(2.)
und
ratione
personae
(3.)
auf
eine
Übergangsverwaltung von Krisengebieten auf der Grundlage von Kapitel VII der
Charta Anwendung finden kann.
2.
Anwendbarkeit ratione materiae
Nach Art. 2 Abs. 2 GK IV findet das Recht der kriegerischen Besetzung in allen
Fällen vollständiger oder teilweiser Besetzung eines Gebietes Anwendung, auch
wenn diese selbst nicht auf bewaffneten Widerstand stößt. Besetzt ist ein Gebiet nach
Art. 42 Abs. 1 HLKO, wenn es sich in der tatsächlichen Gewalt eines feindlichen
Heeres befindet.1495 Daraus folgt auch, dass die Besetzung zumindest zunächst
militärischer Natur sein muss1496 und nicht im Einvernehmen mit dem betroffenen
Territorialstaat erfolgt sein darf.1497 Gegenstand des Rechts der kriegerischen
Besetzung ist somit die vorübergehende Ausübung effektiver Gewalt durch einen
Staat oder eine internationale Organisation über ein Gebiet ohne die Zustimmung des
betroffenen Souveränitätsträgers, in der Regel also ohne Zustimmung des
betroffenen Territorialstaats.1498
Zumindest prima facie scheint eine derartige Situation auch im Falle einer
Zwangsverwaltung unter Kapitel VII der Charta regelmäßig gegeben zu sein. Denn
auch hier übt mit dem Sicherheitsrat eine externe Macht unabhhängig von der
Zustimmung des betroffenen Staates die tatsächliche Macht über ein Gebiet aus,
1494
Siehe insbes. S/RES/1244 (1999) vom 10.6.1999 und S/RES/1272 (1999) vom 25.10.1999.
1495
Ausführlich zum Begriff der Besetzung Roberts, BYIL 55 (1984), 249-305. Zu den Unterschieden
zwischen dem Begriff der Besetzung in Art. 42 HLKO und Art. 2 Abs. 2 GK IV siehe Zwanenburg,
Accountability (2004), S. 205 f. m.w.N.
1496
Vgl. Vité, IRRC 86 (2004), 9 (12): „(...) dans la mesure où elles sont le fruit d’un fait militaire.“
1497
Roberts, BYIL 55 (1984), 249 (300); Levrat, IRRC 83 (2001), 77 (96); David, Droit des conflits
armés (2002), S. 497 f.; Sassòli, in: Henzelin/Roth (Hrsg.), Droit pénal (2002), S. 143.
1498
Benvenisti, Law of Occupation (1993), S. 4; Cerone, EJIL 12 (2001), 469 (484).
327
ohne aber Souverän des betroffenen Territoriums zu werden.1499 Besonders
augenfällig ist dies im Kosovo, wo die Bundesrepublik Jugoslawien zwar formal als
Souverän anerkannt wird,1500 ihr aber keinerlei Einflussmöglichkeit innerhalb des
Gebietes gewährt und sie somit faktisch völlig aus ihrer Rechtsposition verdrängt
wird.1501 Auch der Umstand, dass sowohl der UN-Verwaltung des Kosovo1502 als
auch der Osttimors1503 eine militärische Besetzung des Gebiets durch vom
Sicherheitsrat autorisierte Truppenverbände voraussging, macht den engen
Zusammenhang zum Regelungsbereich des humanitären Völkerrechts deutlich. In
der Tat wird deshalb vereinzelt sogar das Recht der kriegerischen Besetzung als
eigentliche Rechtsgrundlage der UN-Verwaltungen im Kosovo und in Osttimor
gesehen.1504
Umgekehrt wird aber ebenso vertreten, dass das Recht der kriegerischen Besetzung
allenfalls analog auf UN-Zwangsverwaltungen angewendet werden könnte, da es
sich bei diesen nie um eine Besetzung im Sinne humanitären Völkerrechts handeln
könne.1505 Ausgangspunkt dieser These ist die Erwägung, dass eine UNZwangsverwaltung nicht den Interessen eines Einzelstaates diene, sondern dem
Interesse
der
Staatengemeinschaft
insgesamt
am
Schutz
der
örtlichen
Bevölkerung.1506 Damit fehle es aber an dem vom Besatzungsrecht vorausgesetzten
1499
Vité, IRRC 86 (2004), 9 (20).
1500
Siehe Präambel-§ 10 S/RES/1244 (1999) sowie ausf. oben 2.Kp.L.
1501
Tomuschat, in: FS Kooijmans (2002), S. 325, spricht hinsichtlich der jugoslawischen Souveränität
über das Kosovo von einem „purely nominal title“.
1502
Zwar beruhen KFOR und UNMIK auf derselben Sicherheitsratsresolution, wurden mithin
zeitgleich ins Leben gerufen. Dennoch ging zeitlich der Einmarsch der NATO-geführten Verbände
der Einrichtung der Zivilverwaltung voraus (siehe z.B. § 17 des Berichts S/1999/779 vom 12.7.1999).
Zudem bestand wenigstens in Form der vorangegangenen NATO-Luftschläge ein internationaler
bewaffneter Konflikt i.S.d. Genfer Konventionen, wie Cerone, EJIL 12 (2001), 469 (481 f.), zu Recht
feststellt.
1503
Gemeint ist die Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit in Osttimor durch die australisch
geführte INTERFET, nachdem das Gebiet zuvor durch pro-indonesische Milizen weitgehend zerstört
worden war. Siehe dazu ausführlich oben 2.Kp. M.I.
1504
Conforti, The Law and Practice of the United Nations (2000), S. 208 f. Siehe dazu bereits oben
3.Kp. C.I.2.a.
1505
In diese Richtung Vité, IRRC 86 (2004), 9 (inbes. 25-27).
1506
Vité, IRRC 86 (2004), 9 (25 f.).
328
Interessengegensatz zwischen Besatzern und Besetzten, so dass von einer
einvernehmlichen Besetzung auszugehen sei, auf welche die Regeln des humanitären
Völkerrechts mangels Vorliegen eines Konflikts nicht anwendbar sind.1507
Die Prämisse, dass die Interessen der internationalen Gemeinschaft und die der
betroffenen Bevölkerung im Falle einer UN-Gebietsverwaltung unter Kapitel VII der
Charta stets deckungsgleich sind, muss jedoch nicht immer zutreffen. Dabei geht es
weniger um Aspekte des menschenrechtlichen Individualschutzes, als um politische
Fragen. Die tatsächlichen politischen Aspirationen der betroffenen Bevölkerung sind
nicht notwendig immer mit dem Ziel der internationalen Gemeinschaft vereinbar,
den Weltfrieden im Sinne des Art. 39 SVN zu erhalten. Auch entsprechen die
Interessen der Bevölkerung nicht unbedingt denen des durch die Besetzung
verdrängten Territorialstaats, wie der Fall des Kosovo anschaulich zeigt. Vor diesem
Hintergrund erscheint die Annahme, im Falle eine Gebietsverwaltung nach Kapitel
VII der Charta seien die Interessen der internationalen Gemeinschaft als „Besatzer“
und
die
des
betroffenen
Territorialstaats
und
seiner
Bevölkerung
stets
deckungsgleich, eher als rechtliche Fiktion. Zumindest aber müsste man eher auf die
„wohlverstandenen“ als die tatsächlich zutage tretenden Interessen der Betroffenen
abstellen.
Eher noch ließe sich argumentieren, die Mitgliedstaaten hätten mit ihrem Beitritt zu
den Vereinten Nationen abstrakt und ex ante ihre Einwilligung zu einer möglichen
Besetzung erteilt, so dass eine solche unabhängig von den tatsächlichen
Verhältnissen im Moment des Einmarschs immer als einvernehmlich einzustufen
wäre. Dies würfe jedoch rechtliche Schwierigkeiten auf, wo – wie im Falle
Jugoslawiens – der Mitgliedstatus des betroffenen Staates unklar ist1508 oder wo –
wie im Fall Osttimors – die Betroffenen selbst mangels Staatsqualität ex ante keine
1507
Zur Unanwendbarkeit des Rechts der kriegerischen Besetzung auf einvernehmliche
Gebietsbesetzungen siehe Belege oben in Fn. 1497.
1508
Siehe dazu beispielsweise Blum, AJIL 86 (1992), 830-833; Tomuschat, in: FS Kooijmans (2002),
S. 333-336; sowie die Beiträge in Correspondent’s Agora: UN Membership of the Former Yugoslavia,
AJIL 87 (1993), 240-251.
329
Gelegenheit hatten, sich zu äußern.1509 Auch würde es dem Effektivitätsprinzip des
humanitären Völkerrechts nicht gerecht, dem zufolge es hinsichtlich seiner
Anwendbarkeit allein auf die tatsächlichen Verhältnisse, nicht aber ihre rechtliche
Einstufung durch die Beteiligten ankommt.1510
Auch der Umstand, dass eines der beiden Grundprinzipien des Rechts der
kriegerischen Besetzung, der Grundsatz der Bewahrung des legislativen und
institutionellen status quo des besetzten Gebietes, mit den umfassenden
transformatorischen Zielen einer UN-Übergangsverwaltung nicht vereinbar ist, kann
für sich allein nicht zur sachlichen Unanwendbarkeit des Besatzungsrechts
führen.1511 Sinn und Zweck des Rechts der kriegerischen Besetzung ist es gerade, die
Befugnisse des Okkupanten einzuschränken. Machte man seine Anwendbarkeit
ratione materiae von seiner Vereinbarkeit mit den Interessen und Zielen eben jenes
Okkupanten abhängig, verlöre es letztlich seine Rechtsqualität und würde auf den
Status einer unverbindlichen Richtlinie zurückgestuft.
Ratione materiae lässt sich mithin keine generelle Unanwendbarkeit des Rechts der
kriegerischen Besetzung auf die Zwangsverwaltung von Krisengebieten durch den
Sicherheitsrat begründen. Vielmehr ist in jedem Einzelfall zu prüfen, ob eine
Besetzung im Sinne der Art. 43 HLKO und Art. 2 GK IV vorliegt und der sachliche
Anwendungsbereich somit eröffnet ist. Entscheidend ist vor allem, inwieweit eine
tatsächliche Zustimmung des betroffenen Souveränitätsträgers gegeben ist, wodurch
die Anwendbarkeit des Rechts der kriegerischen Besetzung ausgeschlossen würde.
1509
In Osttimor konnte sich die Bevölkerung allerdings diesbezüglich im Rahmen des Referendums
über eine künftige Autonomie des Gebietes innerhalb Indonesiens äußern. Das zwischen UN, Portugal
und Indonesien geschlossene Tripartite-Agreement vom 5.5.1999 sah für den Fall der Ablehnung des
Autonomievorschlags ausdrücklich vor, dass Osttimor für eine Übergangszeit durch die Vereinten
Nationen verwaltet werden sollte, um es auf die Unabhängigkeit vorzubereiten (Art. 6 des
Abkommens, abgedr. als A/53/951-S/1999/513, Annex I). Insofern lag in der Tat bestenfalls eine
einvernehmliche Besetzung vor, auf die Besatzungsrecht keine Anwendung findet. Wie hier auch
Kelly (u.a.), IRRC 83 (2001), 101 (113 f.) Ausführlich zur Entwicklung in Osttimor oben 2.Kp.M.
1510
Vité, IRRC 86 (2004), 9 (11); Roberts, ICLQ 54 (2005), 27 (47).
So aber wohl Vité, IRRC 86 (2004), 9 (26 f.), die im Rahmen einer „solution autonome“ von
einer Situation außerhalb des sachlichen und personellen Anwendungsbereichs des Rechts der
kriegerischen Besetzung ausgeht. Zu der hier vertretenen Lösung einer auf Art. 1 Ziff. 1 SVN
beruhenden Einschränkung des personellen Anwendungsbereichs siehe den folgenden Abschnitt 4.Kp.
E.I.3.
1511
330
Im Falle der UNTAET ist aufgrund der Zustimmung aller Beteiligten im Rahmen des
sog. Tripartite Agreement sowie dem daraufhin abgehaltenen Referendum von einer
solchen Zustimmung auszugehen.1512 Dagegen erscheint die Annahme einer
einvernehmlichen Besetzung im Falle der UNMIK aufgrund der rechtlich
zweifelhaften Zustimmung Jugoslawiens eher problematisch.1513 Ergibt sich im
Einzelfall aus den tatsächlichen Umständen, dass das Recht der kriegerischen
Besetzung ratione materiae auf eine UN-Gebietsverwaltung anwendbar ist, kommt
es entscheidend darauf an, ob sein Anwendungsbereich im Hinblick auf den
Sicherheitsrat auch ratione personae eröffnet ist.
3.
Anwendbarkeit ratione personae
Eine unmittelbare, das heißt vertragsrechtliche Verpflichtung des Sicherheitsrates zur
Beachtung der HLKO, der GK IV und des GK-ZP I besteht nicht, da die Vereinten
Nationen nicht Vertragspartei dieser Abkommen sind.1514 Jedoch geben die
genannten Abkommen in weiten Teilen Völkergewohnheitsrecht wieder oder haben
mittlerweile zur Kristallisation entsprechenden Gewohnheitsrechts geführt.1515 Das
gilt auch für wesentliche Vorschriften des GK ZP I.1516 Auch die Vereinten Nationen
sind daher als Völkerrechtssubjekt grundsätzlich an dieses gewohnheitsrechtliche
humanitäre Völkerrecht gebunden, soweit es mutatis mutandis auf sie anwendbar
1512
Siehe oben Fn. 1509 und ausführlich 2.Kp.M. Für eine Unanwendbarkeit des Rechts der
kriegerischen Besetzung aufgrund einvernehmlicher Besetzung auch Sassòli, in: Henzelin/Roth
(Hrsg.), Droit pénal (2002), S. 143. Ausführlicher zur Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts
in Osttimor von der indonesischen Besetzung bis zu UNTAET Levrat, IRRC 83 (2001), 77-100.
1513
Cerone, EJIL 12 (2001), 469 (484); Vité, IRRC 86 (2004), 9 (23); ferner ausf. Milano, EJIL 14
(2003), 999 (insbes. 1007-1015). Von einer einvernehmlichen Besatzung geht dagegen Sassòli, in:
Henzelin/Roth (Hrsg.), Droit pénal (2002), S. 143, aus.
1514
Greenwood, YBIHL 1 (1998), 3 (16); Zwanenburg, Accountability (2004), S. 217.
1515
IGH, Nicaragua (merits), ICJ-Rep. 1986, 14 (113 § 218); IGH, Nuclear Weapons (Gutachten),
ICJ-Rep. 1996, 226 (257 § 79); IGH, Legal consequences of the wall (Gutachten 2004), § 89; Report
of the UNSG pursuant to § 2 of S/RES/808 (1993), UN-Doc. S/25704 vom 2.5.1993, § 35; UN, Final
Report of the Commission of Experts established pursuant to SC-Res. 780 (1992), UN-Doc.
S/1994/674 vom 24.5.1994, Abschnitt II.C; Greenwood, YBIHL 1 (1998), 3 (16 f.); Kolb, Ius in bello
(2003), Rn. 98. Ausführlich inbes. Meron, Customary Law (1989), S. 3-78.
1516
Meron, Customary Law (1989), S. 62-70 u. 74-78; Zwanenburg, Accountability (2004), S. 212 f.,
m.w.N.
331
ist.1517 Jedoch gilt dies nicht uneingeschränkt auch für den den Sicherheitsrat, sofern
dieser wie im Falle einer Zwangsverwaltung auf der Grundlage von Kapitel VII der
Charta tätig wird. Da ihn Art. 1 Ziff. 1 SVN dazu von der Beachtung des
allgemeinen Völkerrechts freistellt, ist er nur insoweit zur Beachtung humanitären
Völkerrechts verpflichtet, als dieses zwingenden Charakter besitzt.1518
Indes ist es Sinn und Zweck des humanitären Völkerrechts, einen Kernbestand an
Rechten auch im Extremfall des bewaffneten Konflikts zu sichern,1519 so dass es in
weiten Teilen „elementary considerations of humanity“1520, mithin Grundwerte der
internationalen Gemeinschaft wiedergibt. Zumindest der Inhalt des allen vier Genfer
Konventionen gemeinsamen Art. 3 hat daher zwingenden Charakter,1521 ebenso jene
Normen, deren Missachtung auch für das verantwortliche Individuum nach
geltendem Völkerstrafrecht1522 strafbar ist.1523 Zur Beachtung dieser Normen des
1517
Greenwood, YBIHL 1 (1998), 3 (16); Kolb, Ius in bello (2003), Rn . 183 u. 192. Ausführlich zur
Bindung der Vereinten Nationen an das humanitäre Völkerrecht in jüngerer Zeit David, Droit des
conflits armés (2002), S. 199-212; Kolb, Droit humanitaire et opérations des paix (2002); und
Zwanenburg, Accountability (2004), S. 135-223 (insbes. S. 219). Zur älteren Literatur siehe die
Nachweise bei Greenwood, YBIHL 1 (1998), 3 (3).
1518
Zu dieser auf zwingendes Recht beschränkten externen Bindung des Sicherheitsrates unter Kapitel
VII der Charta siehe ausf. oben 4.Kp.B. Von einer grundsätzlichen Derogationsmöglichkeit des
Sicherheitsrates unter Kapitel VII der Charta geht auch Zwanenburg, Accountability (2004), S. 162,
aus.
1519
David, Droit des conflits armés (2002), S. 94.
1520
IGH, Corfu Channel Case (merits), ICJ-Rep. 1949, 4 (22); wiederholt in IGH, Nicaragua (merits),
ICJ-Rep. 1986, 14 (114 § 218). Ausführlich zum zwingenden Gehalt des humanitären Völkerrechts
Hannikainen, Peremptory Norms (1988), S. 595-715; und David, Droit des conflits armés (2002), S.
94-101.
1521
Nieto-Navia, in: FS Cassese (2003), S. 639. Dies andeutend IGH, Nicaragua (merits), ICJ-Rep.
1986, 14 (113 f. § 218); und ICTY, Prosecutor v. Delalić u.a. (Urteil vom 20.2.2001), § 143 f. Etwas
zurückhaltender noch Hannikainen, Peremptory Norms (1988), S. 714: „a solid source of several
peremptory norms in the law of internal armed conflicts.“
1522
Hier sind insbesondere der materiellrechtliche Teil der Statute von ICTY, ICTR und IStGH
heranzuziehen. Für die Strafbarkeit einer Übertretung nach Völkerstrafrecht als Indiz für den
zwingenden Charakter eines Rechtssatzes auch Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht (1992), S. 306 f.
ICTY, Prosecutor v. Kupreškić u.a. (Urteil vom 14.1.2000), § 520; Tomuschat, in: FS ArangioRuiz (2004), S. 1767; in diese Richtung auch HRC, General Comment No. 29 (2001), § 12. Für einen
zwingenden Charakter der grundlegenden Normen des humanitären Völkerrechts ferner IGH, Nuclear
Weapons (Gutachten), ICJ-Rep. 1996, 226 (257 § 79). Zu weitgehend David, Droit des conflits armés
(2002), S. 100, der bis auf wenige Ausnahmen sämtliche Regeln des humanitären Völkerrechts dem
ius cogens zurechnet. Siehe allgemein zum Völkerstrafrecht Kittichanaisaree, Int’l. Criminal Law
(2001); und Werle, Völkerstrafrecht (2003).
1523
332
humanitären Völkerrechts sind daher auch der Sicherheitsrat und die von ihm mit der
Gebietsverwaltung betrauten Nebenorgane unter allen Umständen verpflichtet.
Dem lässt sich auch nicht entgegenhalten, dass der gemeinsame Art. 3 der Genfer
Konventionen seinem Wortlaut nach auf nicht internationale Konflikte anwendbar
ist, jeder Konflikt mit UN-Beteiligung aber per se internationalen Charakters ist.1524
Denn als absoluter Mindeststandard gelten die Vorgaben des Art. 3 für jede Art
bewaffneten Konflikts, ob Bürgerkrieg oder multilaterale Intervention.1525
Doch auch die weitergehenden Bestimmungen des humanitären Völkerrechts sind
insoweit für den Sicherheitsrat verbindlich, als sie dem Schutz des Individuums
dienen und deshalb als menschenrechtliches Sonderregime für bewaffnete Konflikte
gesehen werden können.1526 Zwar wurden die vertragsrechtlichen Grundlagen des
humanitären Völkerrechts nicht unter der Ägide der Generalversammlung oder des
ECOSOC ausgearbeitet, so dass sie keine autoritative Konkretisierung der
menschenrechtlichen Bestimmungen der Charta darstellen.1527 Soweit sie aber
gewohnheitsrechtlich Geltung erlangt haben, geben sie den international anerkannten
Umfang der Menschenrechte im Konfliktfall wieder. Als solcher stellen sie eine auch
für die Vereinten Nationen beachtliche Konkretisierung ihres in Art. 1 Ziff. 3 SVN
niedergelegten Ziels der Förderung der Menschenrechte dar.1528 Soweit sie allerdings
nicht zwingenden Charakters sind, kann der Sicherheitsrat unter Kapitel VII SVN
1524
Kolb, Ius in bello (2003), Rn. 183. Etwas anderes gilt nur insoweit, als die UN-Einheiten oder die
von der UN mandatierten Einheiten der Mitgliedstaaten nicht an den Kampfhandlungen beteiligt sind.
Siehe dazu David, Droit des conflits armés (2002), S. 160.
IGH, Nicaragua (merits), ICJ-Rep. 1986, 14 (114 § 218); ICTY, Tadič-Fall (Entscheidung v.
2.10.1995), abgedr. in: ILM 35 (1996), 32 (64 § 102); ICTY, Prosecutor v. Delalić u.a. (Urteil vom
20.2.2001), §§ 140-150; Kolb, Droit humanitaire et opérations des paix (2002), S. 71; Nieto-Navia,
in: FS Cassese (2003), S. 637 f.
1525
1526
In diese Richtung IGH, Nuclear Weapons (Gutachten), ICJ-Rep. 1996, 226 (240 § 25); Tomuschat, Human Rights (2003), S. 242.; und ausf. Meron, AJIL 94 (2000), 239 (266-73).
1527
Zu der auf diese Weise begründeten internen Bindung des Sicherheitsrates an die
Menschenrechtspakte siehe ausf. oben 4.Kp. A.V.1.
So befasst sich die Generalversammlung seit langem unter dem Stichwort „Menschenrechte im
bewaffneten Konflikt“ umfassend mit dem humanitären Völkerrecht. Siehe dazu Starck,
Wirtschaftssanktionen (2000), S. 156-161 m.w.N. (insbes. S. 159 f.). Für das humanitäre Völkerrecht
als Teil der Menschenrechte i.S.d. Art. 1 Ziff. 3 SVN auch Zwanenburg, Accountability (2004), S.
158.
1528
333
von ihnen abweichen, wenn dies im Einzelfall zur effektiven Bekämpfung von
Friedensbedrohungen erforderlich sein sollte.1529
Eine solche Verpflichtung zur Beachtung des humanitären Völkerrechts haben die
Vereinten Nationen mittlerweile auch ausdrücklich anerkannt.1530 In seinem Bulletin
vom 6.8.1999 ordnete der Generalsekretär an, dass alle Truppen unter dem
Kommando der Vereinten Nationen die grundlegenden Prinzipien und Regeln des
humanitären Völkerrechts, wie sie im Anschluss im Bulletin aufgeführt werden, zu
beachten hätten.1531
Der Sicherheitsrat ist daher auch bei Maßnahmen nach Kapitel VII der Charta in
abgestufter Form an individualschützendes humanitäres Völkerrecht gebunden,
soweit es der Sache nach auf ihn anwendbar ist. Jene Normen, die den Status von ius
cogens erreicht haben, hat er unter allen Umständen zu beachten. An die übrigen
Bestandteile des humanitären Völkerrechts ist er aus Art. 24 Abs. 2 Satz 1, Art. 1
Ziff. 3 SVN insoweit gebunden, als sie als „Menschenrechte im Kriegsfall“
anzusehen sind und ihre Beachtung nicht im Einzelfall dem Vorrang der
Friedenssicherung widerspricht.
Die bisherigen Ausführungen begründen indes eine abgestufte Bindung des
Sicherheitsrates nur an jenen Teil des Besatzungsrechts, der dem Schutz der
betroffenen Bevölkerung dient, nicht dagegen an jenen wesentlichen Teil, der primär
die Interessen des vorübergehend verdrängten Souveräns schützen soll. Denn die
diesbezüglichen Normen besitzen weder den Status zwingenden Rechts,1532 noch
können sie als Konkretisierungen des Art. 1 Ziff. 3 SVN verstanden werden.
Dagegen ist die staatliche Souveränität unter Kapitel VII der Charta nicht zuletzt
1529
Zu den Kriterien für die Annahme eines auf Art. 1 SVN beruhenden Vorrangs der
Friedenssicherung im Einzelfall siehe oben 4.Kp. D.III.3.
1530
Zur früheren Argumentation der UN gegen ihre Bindung an humanitäres Völkerrecht siehe Kolb,
Ius in bello (2003), Rn. 191 f.
Secretary-General’s Bulletin on the observance by United Nations forces of international humanitarian law vom 6.8.1999, abgedr. als UN-Doc. ST/SGB/1999/13 und in IRRC 81 (1999), 806-817 (im
Folgenden: Bulletin). Siehe ausf. dazu Ryniker, IRRC 81 (1999), 795-805; Benvenuti, RGDIP 105
(2001), 355-372; und Condorelli, in: FS Abi-Saab (2001).
1531
1532
Scheffer, AJIL 97 (2003), 842 (852); zurückhaltender Zwanenburg, IRRC 86 (2004), 745 (762).
334
wegen der expliziten Ausnahme des Art. 2 Ziff. 7 SVN kaum geschützt.1533 So
enthält denn auch das Bulletin des Generalsekretärs1534 lediglich Vorgaben für die
Behandlung der Zivilbevölkerung, aber keine hinsichtlich des Umgangs mit den
Institutionen und Einrichtungen des betroffenen Territorialstaates. Es deckt somit
bestenfalls einen Teil des Besatzungsrechts ab.1535
Auch eine mittelbare Bindung des Sicherheitsrates an den souveränitätsschützenden
Teil des Rechts der kriegerischen Besetzung lässt sich nicht begründen. Zwar sind
Truppen der Mitgliedstaaten auch dann an humanitäres Völkerrecht und damit an das
Besatzungsrecht gebunden, wenn sie mit einem Mandat des Sicherheitsrates tätig
werden.1536 Dies setzt jedoch voraus, dass sie – wie etwa im Falle der KFOR im
Kosovo – weiter unter dem Kommando der Mitgliedstaaten oder einer an
humanitäres Völkerrecht gebundenen internationalen Organisation stehen.1537
Unterstehen sie aber – wie die militärische Komponente der UNTAET – dem
Sicherheitsrat oder einem von ihm geschaffenen Nebenorgan, spielen die
völkerrechtlichen Verpflichtungen ihrer Heimatstaaten keine Rolle.1538 Dies gilt erst
Recht für die UN-Mitarbeiter, welche die eigentliche Gebietsverwaltung bilden.
Selbst wenn sie von einzelnen Mitgliedstaaten entsandt wurden, sind sie derartig in
die Struktur der Vereinten Nationen integriert, dass ihr Verhalten nicht mehr den
1533
Siehe dazu bereits oben 4.Kp. A.II.1.c. Ablehnend aufgrund der in Art. 1 der Genfer
Konventionen festgelegten Verpflichtung, die Abkommen „unter allen Umständen einzuhalten“,
Greenwood, YBIHL 1 (1998), 3 (18).
1534
Siehe oben Fn. 1531.
1535
So auch Vité, IRRC 86 (2004), 9 (22).
1536
Greenwood, YBIHL 1 (1998), 3 (17); Kolb, Ius in bello (2003), Rn. 183. Das gilt jedoch nur
insoweit, als das Mandat des Sicherheitsrat es ihnen nicht eine Abweichung vom Recht der
kriegerischen Besetzung erlaubt. Siehe dazu bereits oben 3.Kp. D.IV.4 zur Verwaltung des Irak durch
die US-geführte CPA.
1537
Zur Bindung der NATO an humanitäres Völkerrecht siehe ausf. Zwanenburg, Accountability
(2004), S. 135-223. Zur eingeschränkten Kommandogewalt der NATO über die verschiedenen
nationalen Einheiten der KFOR unter „unified control and command“ siehe CoE-Venice Commission, Human Rights in Kosovo (2004), § 14.
1538
Etwas anderes gilt nur für jene völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, die den
Status von ius cogens besitzen. Siehe ausführlich zu dieser mittelbaren Bindung des Sicherheitsrates
an die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten oben 4.Kp.C. Gegen eine
Verantwortlichkeit der UN für Truppen, die zwar mit einem Mandat des Sicherheitsrates tätig werden,
aber weiter dem Kommando der Mitgliedstaaten unterstehen, auch CoE-Venice Commission, Human
Rights in Kosovo (2004), § 79.
335
einzelnen Mitgliedstaaten zugerechnet werden kann und daher auch nicht mehr an
deren völkerrechtlichen Verpflichtungen gemessen werden kann.1539
4.
Ergebnis
Als Ergebnis ist festzuhalten, dass der Sicherheitsrat unter Kapitel VII der Charta nur
an jene sachlich anwendbaren Normen des Rechts der kriegerischen Besetzung
gebunden ist, die zwingenden Charakters sind.1540 Sofern dem nicht im Einzelfall der
Vorrang der Friedenssicherung entgegensteht, ist er ferner gehalten, jene
gewohnheitsrechtlich verbürgten Normen des Besatzungsrechts zu achten, die primär
den Schutz des Individuums bezwecken. Sie sind als menschenrechtliches
Sonderregime zu qualifizieren und – weil allgemein anerkannt, wofür ihr
gewohnheitsrechtlicher Status Indiz ist – als Konkretisierung des in Art. 1 Ziff. 3
SVN niedergelegten Ziels der Förderung der Menschenrechte. Von besonderer
praktischer Bedeutung sind dabei neben den Normen, welche die körperliche
Integrität
schützen,
auch
jene,
die
gewisse
Mindestanforderungen
an
Haftbedingungen und das gerichtlichen Verfahren stellen.1541 Dagegen ist der
Sicherheitsrat unter Kapitel VII der Charta nicht verpflichtet, jene Teile des Rechts
der kriegerischen Besetzung zu beachten, die primär dem Schutz der Souveränität
des betroffenen Staates dienen.1542
Das schließt jedoch nicht aus, Teile oder auch den gesamten Regelkatalog des Rechts
der kriegerischen Besetzung innerhalb eines von der UN unter Kapitel VII der Charta
verwalteten Gebietes für anwendbar zu erklären. So könnte insbesondere in der
Anfangszeit ein detailliertes Regelwerk quasi als Notgesetz in Kraft gesetzt und so
die
gerade
zu
Rechtsunsicherheit
Beginn
reduziert
einer
internationalen
werden.
Als
Verwaltung
Regelwerk
für
herrschende
eine
externe
1539
Insofern unterscheiden sich einzeln entsandte Beamte wiederum von nationalen Militäreinheiten
unter UN-Kommando, da letztere den Vereinten Nationen en bloc, also unter Aufrechterhaltung der
einheitsinternen nationalen Führungsstrukturen (Kompanie, Bataillon, Regiment etc.) zur Verfügung
gestellt werden.
1540
So i.E. auch Zwanenburg, IRRC 86 (2004), 745 (763).
1541
Zu Letzterem siehe auch den folgenden Abschnitt 4.Kp. E.II.3.
1542
So i.E. auch Greenwood, YBIHL 1 (1998), 3 (28).
336
Gebietsverwaltung ist es international anerkannt und böte zudem den Vorteil, dass
zumindest die Militärjuristen der Mitgliedstaaten mit seinen Regeln vertraut sein
dürften.1543 Mit der Zeit könnte es dann durch von der Verwaltung erarbeitete,
sachlich geeignetere Rechtsvorschriften abgelöst werden.1544 Zu einem solchen
Schritt hat sich der Sicherheitsrat aber bislang nicht entschlossen.
II.
Völkerrechtliche Anforderungen an den Wiederaufbau des Justizwesens
Der Aufbau eines effektiven und unabhängigen Justizwesens ist regelmäßig eine der
schwierigsten und zugleich dringendsten Aufgaben einer Übergangsverwaltung.1545
Als wesentliches Element des staatlichen Gewaltmonopols ist eine funktionierende
Justiz notwendige Voraussetzung für die Wiederherstellung der staatlichen Ordnung
und damit für die kurz- wie langfristige Befriedung eines Krisengebietes. Der
Justizaufbau ist damit wichtiges Instrument zur Beseitigung der von einem Gebiet
ausgehenden Friedensbedrohungen.1546
Eine unabhängige Justiz und ein geregeltes Verfahren sind ferner auch
Voraussetzung für einen effektiven Schutz der Menschenrechte. Sie unterliegen
daher ihrerseits verschiedenen menschenrechtlichen Vorgaben, die grundsätzlich
auch für den Sicherheitsrat beachtlich sind.1547 Solche ergeben sich insbesondere aus
1543
Sassòli, in: Henzelin/Roth (Hrsg.), Droit pénal (2002), S. 146. So wandte die australisch geführte
INTERFET in Osttimor das Recht der kriegerischen Besetzung als ein „framework of guiding
principles“ an. Siehe dazu Kelly (u.a.), IRRC 83 (2001), 101 (115).
1544
Für eine solche Anwendung des humanitären Völkerrechts in der Anfangsphase einer UNZwangsverwaltung insbesondere Vité, IRRC 86 (2004), 9 (30). Für eine analoge Anwendung zur
Beseitigung von Regelungslücken auch Sassòli, in: Henzelin/Roth (Hrsg.), Droit pénal (2002), S. 143.
1545
Strohmeyer, AJIL 95 (2001), 46 (47).
1546
So führte der UN-Generalsekretär in seinem Bericht zur rule of law in Konfliktsituationen aus:
„Our experience in the past decade has demonstrated clearly that the consolidation of peace in the
immediate post-conflict period, as well as the maintenance of peace in the long term, cannot be
achieved unless the population is confident that redress for grievances can be obtained through legitimate structures for the peaceful settlements of disputes and the fair administration of justice” (UNGS, Transitional Justice (2004), § 2). Wie hier auch Brand, Nordic JIL 70 (2001), 461 (480).
So führte der UN-Generalsekretär in seinem Bericht zum Entwurf des ICTY-Statuts aus: „It is
axiomatic that the International Tribunal must fully respect internationally recognized standards
regarding the rights of the accused at all stages of its proceedings“ (S/25704 vom 3.5.1993, § 106).
Was für das Jugoslawientribunal gilt, sollte mutatis mutandis auch für andere vom Sicherheitsrat
eingerichtete Gerichte gelten.
1547
337
Art. 8, 10 und 11 AEMR und Art. 9, 14 und 15 IPbürgR, welche die
menschenrechtlichen Verpflichtungen des Sicherheitsrates aus Art. 24 Abs. 2 Satz 1
in Verbindung mit Art. 1 Ziff. 3 SVN autoritativ konkretisieren.1548 Im Rahmen des
Wiederaufbaus des Justizwesens spielen auch die Fragen eine Rolle, inwiefern
Unrecht aus der Zeit vor der Einrichtung der UN-Verwaltung strafrechtlich
aufzuarbeiten ist und inwiefern Hoheitsakte der UN-Verwaltungsmission selbst einer
unabhängigen gerichtlichen Prüfung unterliegen sollten.1549 Doch zunächst soll kurz
auf die praktischen Schwierigkeiten beim Wiederaufbau des Justizsystems und der
Wiedererrichtung der Rechtsstaatlichkeit1550 eingangen werden.
1.
Praktische Schwierigkeiten und Anforderungen der Friedenssicherung
Der Aufbau eines effektiven, unabhängigen und den menschenrechtlichen
Anforderungen gerecht werdenden Justizwesens ist in der Praxis regelmäßig äußerst
schwierig.1551 Als wesentlicher Teil des staatlichen Machtapparates wird das
Gerichtssystem regelmäßig das Schicksal des politischen Systems teilen, das – aus
welchen Gründen auch immer – durch die UN-Verwaltung übergangsweise ersetzt
wurde. Der Zusammenbruch eines Staatswesens erfasst wie in Somalia immer auch
sein Justizwesen. Sowohl im Kosovo wie in Osttimor wurden Gerichte und
Justizverwaltung von den früheren Machthabern dominiert, so dass die Justiz bei
deren Abzug personell gleichsam aufhörte zu existieren.1552 Hinzu kommt, dass das
gesamte
Rechtswesen
eines
Krisengebietes
regelmäßig
von
jahrelanger
Misswirtschaft und seinem Missbrauch als Instrument zur Unterdrückung der
Bevölkerung gekennzeichnet sein wird.1553 Vor diesem Hintergrund lässt sich ein
nationales Gerichtssystem nicht über Nacht etablieren. Die materiellen Defizite wie
1548
Siehe dazu bereits oben 4.Kp. A.V.1.
1549
Siehe dazu unten 4.Kp. E.IV und E.VII.3.
Der Begriff „Rechtsstaatlichkeit“ bzw. „Rechtsstaatsprinzip“ wird vorliegend als Übersetzung des
englischen Begriffs der rule of law verwendet, da er diesem nach dessen Definition in UN-GS,
Transitional Justice (2004), § 6, weitgehend entspricht.
1550
1551
Siehe zu den auf den bisherigen Erfahrungen basierenden Strategien der Vereinten Nationen
ausführlich UN-GS, Transitional Justice (2004).
1552
Strohmeyer, AJIL 95 (2001), 46 (48-51).
1553
UN-GS, Transitional Justice (2004), § 27.
338
zerstörte Gerichtsgebäude oder fehlende Arbeitsmaterialien lassen sich dabei noch
am ehesten beheben. Dagegen braucht die Ausbildung nationaler Richter und
Staatsanwälte ebenso wie die Wiederherstellung des Vertrauens der Bevölkerung in
„ihre“ Justiz unter Umständen trotz des Einsatzes internationaler Richter und
Staatsanwälte Jahre.
Hinzu kommt ein latentes Spannungsverhältnis zwischen Erfordernissen der
Friedenssicherung und den menschenrechtlichen Gewährleistungen im Bereich der
Justiz. Anders als die meisten Menschenrechte verlangen Justizgrundrechte vom
Verpflichteten nicht, dass er ein bestimmtes Verhalten unterlässt, sondern vielmehr,
dass er umfangreiche Maßnahmen ergreift, um sie zu verwirklichen. 1554 Dazu gehört
insbesondere die Errichtung und den Unterhalt eines unabhängigen und
unparteiischen Gerichtswesens im Rahmen eines entwickelten Rechtssystems.1555
Gerade daran wird es indes im Falle einer UN-Zwangsverwaltung regelmäßig
mangeln. Insbesondere in der Anfangszeit einer UN-Verwaltung wird eine
vollumfängliche Gewährleistung justizieller Menschenrechte daher kaum möglich
sein. Dieses Problem lässt sich indes möglicherweise unter Rückgriff auf
Notstandsgesichtspunkte und eine entsprechende Auslegung der
einzelnen
Bestimmungen lösen.1556
Ein weiteres Problem ist die Beteiligung lokaler Kräfte im Justizwesen. Sie ist zum
Zwecke der Friedenssicherung aus zwei Aspekten erforderlich. So wird es den
Vereinten Nationen auch bei bester Vorbereitung kaum gelingen, genug geeignete
Kandidaten zu finden, um alle Richter-, Anwalts- und Staatsanwaltsstellen mit
internationalen Juristen zu besetzen. Dies ist auch gar nicht wünschenswert, da
internationales Personal nicht nur hinsichtlicher seiner Gehälter deutlich teurer als
lokale Kräfte ist, sondern überdies regelmäßig umfangreiche Übersetzerdienste
notwendig werden lässt. Ein verstärkter Einsatz lokaler Juristen ist somit deutlich
effektiver als eine weitgehende Internationalisierung der Rechtsprechung.
1554
Nowak, CCPR Commentary (1993), Art. 14 Rn. 3.
1555
Nowak, CCPR Commentary (1993), Art. 14 Rn. 3.
1556
Siehe dazu unten 4.Kp. E.II.
339
Ein früher und umfassender Einsatz nationaler Richter und Staatsanwälte ist aber
auch erforderlich, um ein nachhaltig stabiles und von der Bevölkerung anerkanntes
Gerichtswesen zu schaffen. Die Ernennung nationaler Richter und Staatsanwälte ist
ein entscheidendes politisches Symbol, das die eigenverantwortliche Beteiligung der
Bevölkerung am staatlichen Wiederaufbau signalisiert.1557 Nur die Wahrnehmung
der Justiz als Organ der eigenen Staatlichkeit, nicht als externe Macht, sichert die
Verankerung des Rechtsstaatsprinzips (rule of law) in der Bevölkerung. Auch der
Umstand, dass die internationale Unterstützung für ein Krisengebiet mit der Zeit
stark nachlässt, lässt es geboten erscheinen, die Abhängigkeit von teuren externen
Richtern und Staatsanwälten frühzeitig zu reduzieren.1558
Allerdings geht der aus dem Gesichtspunkt einer effektiven und langfristigen
Friedenssicherung gebotene frühzeitige Einsatz lokaler Kräfte einher mit einer oft
sehr geringen Qualifikation der frisch ernannten Richterschaft. Im Kosovo war das
Justizwesen sei 1990 weitgehend serbifiziert worden, nur noch 30 von insgesamt 756
Richtern und Staatsanwälten im Kosovo waren Albaner.1559 Die wenigen im Sommer
1999 noch verbliebenen serbischen Justizangehörigen wurden bald darauf mit
Todesdrohungen außer Landes getrieben.1560 Kosovo-Albaner durften nach 1990
wenn überhaupt nur als private Rechtsanwälte tätig sein, besaßen also wenig
praktische Erfahrung als Richter oder Staatsanwalt. Schlimmer noch war die
Situation in Osttimor, wo es nach Schätzungen nach Abzug aller Indonesier aus dem
Gebiet weniger als zehn Juristen gab,1561 die keinerlei praktische Erfahrung im
Bereich der Justiz hatten.1562 Kaum Erfahrung besaßen die kosovarischen und
osttimoresischen Juristen zunächst auch mit der von ihnen verlangten Anwendung
der international anerkannten Menschenrechtsstandards. Im Kosovo und in Osttimor
1557
Chesterman, You, The People (2004), S. 170 f. (zu Osttimor).
1558
Chesterman, You, The People (2004), S. 171.
1559
Siehe § 66 des Berichts des Generalsekretärs S/1999/779 vom 12.7.1999, ferner Strohmeyer, AJIL
95 (2001), 46 (50).
1560
Strohmeyer, AJIL 95 (2001), 46 (50 u. 52).
1561
Chesterman, You, The People (2004), S. 169.
1562
Strohmeyer, AJIL 95 (2001), 46 (54).
340
wurden diese Defizite durch entsprechende Kurse und Lehrgänge angegangen, die
jedoch erst nach einiger Zeit wirkten und aufgrund fehlender Ressourcen auch nicht
immer im erforderlichen Umfang möglich waren.1563 Richterliche Unabhängigkeit
war zudem im sozialistischen Jugoslawien keine staatlicherseits geförderte Tugend,
sondern musste als solche erst eingeführt werden. Zumindest kosovarische Richter
waren daher weit eher geneigt, Druck von außen nachzugeben.1564
Die frühe Ernennung lokaler Juristen führt somit regelmäßig zu erheblichen
Unsicherheiten in der Rechtsanwendung und erschwert so die Gewährleistung der
justiziellen Menschenrechte weiter. Nach den praktischen Erfahrungen der Vereinten
Nationen in den letzten zehn Jahren sind diese Erschwernisse jedoch hinzunehmen.
In seinem Bericht zur Rule of law and transitional justice in conflict and post-conflict
societies
betont
der
UN-Generalsekretär
die
Notwendigkeit,
bei
der
Wiederaufrichtung der Rechtsstaatlichkeit nationalen Lösungen, die vorwiegend von
nationalen Akteuren ausgearbeitet und umgesetzt werden, den Vorrang zu geben.1565
Dagegen wird der schwerpunktmäßige Rückgriff auf internationale Experten und
international entwickelte rechtliche Lösungen als Fehler eingestuft.1566 Auch wenn
sich diese Bewertung auf multidimensionale UN-Unterstützungmissionen1567
allgemein bezieht, beruht sie wesentlich auf Erfahrungen, welche die UN im Kosovo
und in Osttimor gemacht hat, und ist daher auch im vorliegenden Kontext beachtlich.
2.
Anforderungen an das Recht
Völkerrechtliche Anforderungen an das innerhalb des Gebietes geltende Recht
ergeben sich insbesondere aus dem strafrechtlichen nulla poena sine lege-Grundsatz.
Nach Art. 11 Abs. 2 AEMR und dem gleich lautenden Art. 15 Abs. 1 Satz 1 IPbürgR
darf niemand wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur
1563
Zu den entsprechenden Maßnahmen im Kosovo und in Osttimor siehe Strohmeyer, AJIL 95
(2001), 46 (55-57).
Interviews des Autors mit UNMIK-Mitarbeitern im Juli 2002. Siehe ferner Hartmann, Int’l. Judges (2003), S. 5.
1564
1565
UN-GS, Transitional Justice (2004), § 15.
1566
UN-GS, Transitional Justice (2004), § 15.
1567
Zu diesen multidimensionalen Unterstützungsmission in jüngerer Zeit siehe oben 2.Kp.N und O.
341
Zeit ihrer Begehung nach inländischem oder nach internationalem Recht nicht
strafbar war.1568 Das Recht der kriegerischen Besetzung weist ebenfalls in Art. 65
Satz 2 und Art. 67 Satz 1 GK IV ein strafrechtliches Rückwirkungsverbot auf. Auch
andere Menschenrechtsverträge und andere Normen des humanitären Völkerrechts
enthalten den nulla poena-Grundsatz.1569 Für den Sicherheitsrat ist er als
Konkretisierung seiner menschenrechtlichen Verpflichtungen aus Art. 24 Abs. 2 Satz
1 in Verbindung mit Art. 1 Ziff. 3 SVN verbindlich.1570
Umstände, die es nach den oben festgestellten Kriterien1571 im Einzelfall erforderlich
erscheinen lassen könnten, aus Gründen der Friedenssicherung vom strafrechtlichen
Rückwirkungsverbot abzuweichen, sind schwer vorstellbar. Hinsichtlich der für den
Weltfrieden im Sinne des Art. 39 SVN relevanten Straftatbestände lassen sich
mögliche Strafbarkeitslücken in der Regel durch den nach Art. 11 Abs. 2 Satz 1
AEMR und Art. 15 Abs. 2 IPbürgR zulässigen Rückgriff auf vertragliches und
gewohnheitsrechtliches Völkerstrafrecht schließen. Dass Art. 4 Abs. 2 IPbürgR das
strafrechtliche Rückwirkungsverbot zu den unabdingbaren Rechten zählt, dürfte in
der Praxis einer Krisengebietsverwaltung nicht zu unüberwindbaren Schwierigkeiten
führen.1572
Praktische Schwierigkeiten bei der Umsetzung können sich jedoch dann ergeben,
wenn man den nulla poena-Grundsatz nicht nur als Rückwirkungsverbot, sondern
darüber hinaus auch als strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz auslegt.1573 Gerade
Art. 15 Abs. 1 Satz 1 IPbürgR lautet im englischen Original: „No one shall be held guilty of any
criminal offence on account of any act or omission which did not constitute a criminal offence, under
national or international law, at the time when it was committed.”
1568
1569
So Art. 7 EMRK, Art. 9 AMRK, Art. 7 Ziff. 2 AfrCHPR; ferner Art. 99 Abs. 1 GK III, Art. 75
Abs. 4 lit. c) GK-ZP I und Art. 6 Abs. 2 lit. c) GK-ZP II.
1570
Die Geltung des nulla poena-Grundsatzes auch für das vom Sicherheitsrat auf der Grundlage von
Kapitel VII der Charta geschaffene Jugoslawien-Tribunal (ICTY) hat auch der UN-Generalsekretär in
§ 34 seines Berichts S/25704 vom 3.5.1993 zur Gründung des ICTY anerkannt.
1571
Siehe oben 4.Kp. D.III.3.
1572
Auch in der Praxis des UN-Menschenrechtsausschusses hat das Rückwirkungsverbot und seine
Notstandsfestigkeit bislang keine große Rolle gespielt. Siehe dazu den Überblick bei SvenssonMcCarthy, States of Exception (1998), S. 431-433.
1573
So Nowak, CCPR Commentary (1993), Art. 15 Rn. 4, unter Berufung auf die Rechtsprechung des
EGMR zu Art. 7 EMRK.
342
in Krisengebieten wird das geltende nationale Strafrecht selten in einem
„geordneten“ Zustand sein, sondern vielmehr von Notstandsgesetzen und
Ausnahmeverordnungen geprägt sein.1574 Sofern es – wie im Kosovo und im
indonesischen Osttimor – auch der Unterdrückung der Bevölkerung oder eines Teils
der
Bevölkerung
diente,
wird
es
regelmäßig
diskriminierende
und
menschenrechtswidrige Normen enthalten.1575 Aus diesem Grund wurde das zuvor
geltende Recht inklusive des Strafrechts von UNMIK und UNTAET jeweils nur
insoweit
wieder in
Kraft
gesetzt,
als
es
mit
international
anerkannten
Menschenrechtsstandards kompatibel und nicht diskriminierend war.1576
Jedoch wurde zunächst nicht näher dargelegt, welche Rechtsnormen diesen
Vorausetzungen genügten und welche nicht. Dies wurde dem Rechtsanwender,
insbesondere dem Richter überlassen. Speziell die nationalen Richter verfügten zu
Beginn ihrer Tätigkeit oft nicht über die notwendigen menschenrechtlichen
Kenntnisse, um eine solche Kompabilitätsprüfung vornehmen zu können.1577 Für das
betroffene Individuum war so schwer abzuschätzen, ob sein Verhalten einen
Straftatbestand erfüllte, oder ob dieser wegen menschenrechtlicher Bedenken
einschränkend auszulegen oder gar unanwendbar wäre.
Ein Sonderproblem gab es diesbezüglich im Kosovo.1578 Dort weigerte sich die
albanische Mehrheit der Juristen konsequent, das von der UNMIK in Kraft gesetzte
jugoslawische Recht von vor März 1999 anzuwenden, da sie es als „serbisches
1574
UN-GS, Transitional Justice (2004), § 27.
UN-GS, Transitional Justice (2004), § 27. Explizit für das Kosovo Hartmann, Int’l. Judges
(2003), S. 4.
1575
1576
Siehe Sec. 3 UNMIK/REG/1999/1 vom 25.7.1999 und Sec. 3 UNTAET/REG/1999/1 vom
27.11.1999. Zur Frage des anwendbaren Rechts in Osttimor siehe Morrow/White, Australian YBIL 22
(2002), 1 (7-11), zu der im Kosovo die unten in Fn. 1578 Genannten und zu der in Afghanistan nach
dem Sturz der Taliban Chesterman, You, The People (2004), S. 175 f.
1577
OMIK, 1. Criminal Justice Review (2000), S. 16 f., mit Beispielen für dadurch bedingte
Menschenrechtsverstöße ebenda, S. 20-22; ferner ICG, Scales of Justice (2002), S. 13. Ende 1999
führte der Europarat eine Studie zur Kompatibilität des im Kosovo geltenden Strafrechts mit
internationalen Menschenrechtsstandards durch und empfahl, einige Normen außer Kraft zu setzen
oder abzuändern (§ 80 des Berichts S/1999/1250 vom 23.12.1999).
1578
Ausf. zur Frage des anwendbaren Rechts im Kosovo OMIK, 1. Criminal Justice Review (2000), S.
15-23; Gil-Robles, Kosovo: Human Rights (2002), §§ 71-75; O’Neill, Kosovo (2002), S. 79-81; und
Muharremi, Treuhandverwaltung (2005), S. 20-27.
343
Recht“ ablehnten.1579 Vielmehr verlangte sie, das vor dem 22. März 1989 geltende
Recht wieder in Kraft zu setzen. Dieses war von den Organen der damals noch
autonomen Provinz Kosovo beschlossen worden und war daher politisch
akzeptabel.1580 Schließlich gab UNMIK dem Druck nach und erklärte das
kosovarische Recht von vor 1989 für anwendbar, wobei bei seiner Anwendung
international anerkannte Menschenrechtsstandards zu beachten waren.1581 Immerhin
waren die Menschenrechtsinstrumente, denen diese „anerkannten Standards“ zu
entnehmen sein sollten, im Anschluss aufgeführt.1582 Da das kosovarische Strafrecht
von 1989 bestimmte Straftatbestände, wie beispielsweise den des Drogenhandels,
nicht enthielt, musste in diesen Fällen weiter das jugoslawische Strafrecht von nach
1989 angewendet werden.1583 Die einschlägige UNMIK-Verordnung ließ dies
ausdrücklich zu.1584 Obwohl die Verordnung ebenfalls vorsah, dass die Gerichte bei
Zweifeln hinsichtlich des anwendbaren Rechts vom Sondergesandten des UNGeneralsekretärs (SRSG) Klärung erbeten konnten, scheint die so geschaffene
Rechtslage schwerlich mit dem strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz vereinbar zu
sein. Erst durch das in Kraft treten eines neuen Strafgesetzbuches und einer neuen
Strafprozessordnung wurde diese Rechtsunsicherheit im Sommer 2004 beseitigt.1585
1579
Siehe OMIK, 1. Criminal Justice Review (2000), S. 12; § 55 des Berichts des Generalsekretärs
S/1999/1250 vom 23.12.1999; ferner O’Neill, Kosovo (2002), S. 79 f.; und Chesterman, You, The
People (2004), S. 166. In weit geringerem Umfang gab es ähnliche Vorbehalte gegen die
Weiterverwendung indonesischen Rechts in Osttimor (Morrow/White, Australian YBIL 22 (2002), 1
[9]).
1580
Hartmann, Int’l. Judges (2003), S. 4.
1581
Sec. 1.1 und 1.3 UNMIK/REG/1999/24 vom 12.12.1999.
1582
Sec. 1.3 UNMIK/REG/1999/24 nennt die AEMR, die EMRK, den IPbürgR, den IPwirtR, die
Antidiskriminierungskonvention (1965), das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der
Diskriminierung von Frauen (1979), die UN-Anti-Folter-Konvention (1984) sowie die UNKinderrechtekonvention (1989).
O’Neill, Kosovo (2002), S. 80; Chesterman, You, The People (2004), S. 166. Siehe auch die
Erläuterungen in § 56 des Berichts S/1999/1250 vom 23.12.1999.
1583
1584
Sec. 1.2 UNMIK/REG/1999/24.
1585
OMIK, 6. Criminal Justice Review (2004), S. 14. Siehe UNMIK/REG/2003/25 (Strafgesetzbuch)
und UNMIK/REG/2003/26 (Strafprozessordnung) vom 6.7.2003. Beide Gesetze traten zum 6.4.2004
in Kraft. In seinem jüngsten Jahresbericht weist der von UMNIK geschaffene Ombudsmann jedoch
darauf hin, dass in anderen Rechtsbereichen die Unsicherheiten bzgl. des anwendbaren Rechts weiter
andauern (Ombudsperson Kosovo, 5th Annual Report (2005), S. 12-17). Er spricht insoweit von
einem andauernden „legal chaos“ (ebenda, S. 12). Kritisch auch CoE-Venice Commission, Human
344
Zwar ließen sich diese Schwierigkeiten mit dem Bestimmtheitsgebot vermeiden,
wenn eine UN-Verwaltung stets gleich zu Beginn ein neues, menschenrechtlichen
Anforderungen entsprechendes Strafrecht in Kraft setzte. In der Tat enthielt der so
genannte Brahimi-Report aus dem Jahr 2000 den Vorschlag, einen Satz an
Standardgesetzen, darunter auch Strafgesetze, zu entwickeln, die zügig in einem
Krisengebiet in Kraft gesetzt und umgesetzt werden könnten, weil UN-Mitarbeiter
bereits vor einem Kriseneinsatz in der Anwendung dieser Modellgesetze geschult
werden könnten.1586 Diese Gesetze sollten anerkannten Menschenrechtsstandards
entsprechen und eine effektive Strafverfolgung ermöglichen, bis adäquate nationale
Gesetzentwürfe erarbeitet werden können.1587 Ein solches „Einheitsmodell“ stieß in
der Praxis jedoch auf Bedenken.1588 Aufgrund der erheblichen Unterschiede in der
Rechtskultur der verschiedenen Staaten und Regionen der Erde würde ein UNModellgesetz stets auf erhebliche Akzeptanzprobleme stoßen und so nur schwer
durchsetzbar sein.1589 In seinem jüngsten Bericht zu Rechtsstaatlichkeit und
transitional justice in Krisengebieten hält der UN-Generalsekretär jedoch an
vorbereiteten Übergangsgesetzen (transitional codes) als ein Mittel zur kurzfristigen
Wiederherstellung
der
rule
of
law
fest.1590
Lediglich
zur
langfristigen
Wiederherstellung und Verankerung der Rechtsstaatlichkeit in einem Krisengebiet
seien externe Lösungsmodelle ungeeignet.1591 Das langfristig geltende Recht müsse
im Rahmen eines nationalen Prozesses von nationalen Akteuren ausgearbeitet und in
Kraft gesetzt werden. Der UN käme dabei lediglich eine unterstützende und
beratende Funktion zu.1592
Rights in Kosovo (2004), §§ 57-61.
1586
UN, Brahimi-Report (2000), §§ 81 f.
1587
Ebenda, § 81. Ausdrücklich unterstützend im Hinblick auf die im Kosovo gewonnenen
Erfahrungen O’Neill, Kosovo (2002), S. 81.
1588
In der Tat wurde im Rahmen der UNMIK im September 1999 kurzzeitig die Verabschiedung
eines externen Modellentwurfs als neues Strafgesetzbuch diskutiert. Diese Idee konnte sich jedoch
nicht durchsetzen (O’Neill, Kosovo (2002), S. 80).
1589
Interview des Autors mit UN-Mitarbeitern im Bereich der Justiz im Juni 2002.
1590
UN-GS, Transitional Justice (2004), § 30 a.E.
1591
Ebenda, § 15.
1592
Ebenda, § 17.
345
Im Ergebnis spricht Einiges dafür, dass auch eine UN-Zwangsverwaltung unter allen
Umständen zur Beachtung des Rückwirkungsverbotes gehalten ist. Dafür spricht
nicht nur, dass es auch im humanitären Völkerrecht verankert ist und insoweit als
Teil eines menschenrechtlichen Mindeststandards gesehen werden kann. Vielmehr ist
auch aus der bisherigen Praxis kein Grund ersichtlich, der eine Beachtung des
Rückwirkungsverbotes mit dem Ziel der Friedenssicherung in Konflikt bringen
könnte, zumal solche Straftaten, die besonders zur nachhaltigen Störung des Friedens
geeignet sind, zumindest nach Völkerstrafrecht geahndet werden können. Dagegen
ist die umfassende Achtung des strafrechtlichen Bestimmtheitsgebotes in der Praxis
schwierig. Dies gilt speziell dann, wenn auch kurzfristig die Achtung der
Menschenrechte in der Justiz sichergestellt werden soll und deshalb das geltende
Recht nur unter Vorbehalt seiner Kompatibilität mit internationalen Standards wieder
in Kraft gesetzt werden kann. Eine Abweichung vom völkerrechtlichen
Bestimmtheitsgrundsatz
kann
daher
im
Einzelfall
zum
Zwecke
der
Friedenssicherung erforderlich und zulässig sein. Aus dem Umstand, dass Art. 11
Abs. 2 AEMR und Art. 15 Abs. 1 IPbürgR auch gewohnheitsrechtliche Normen –
insbesondere solche des Völkerstrafrechts – zur Begründung der Strafbarkeit
ausreichen
lassen,1593
folgt
ohnehin,
dass
an
einen
völkerrechtlichen
Bestimmtheitsgrundsatz keine allzu hohen Anforderungen gestellt werden dürfen.
3.
Anforderungen an das Gericht
Insbesondere aus Art. 10 AEMR und Art. 14 IPbürgR, aber auch aus Art. 71 bis 75
GK IV ergeben sich umfangreiche völkerrechtliche Anforderungen an die
Einrichtung und Besetzung von Straf- und Zivilgerichten sowie an ihr Verfahren.
Einige von ihnen sollen im Folgenden exemplarisch untersucht werden.
a. Institutionelle Garantie einer Straf- und Zivilgerichtsbarkeit
Nach Art. 10 AEMR hat jeder Mensch Anspruch auf rechtliches Gehör vor einem
unabhängigen und unparteiischen Gericht. Nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 IPbürgR hat er
1593
Nowak, CCPR Commentary (1993), Art. 15 Rn. 5 u. 19. Ausführlich zu Art. 11 Abs. 2 AEMR
und seiner Entstehungsgeschichte vor dem Hintergrund der Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozesse
Morsink, UDHR (1999), S. 52-58.
346
zudem Anspruch auf ein öffentliches und faires Verfahren sowohl in Straf- wie in
Zivilsachen. Daraus folgt zunächst einmal, dass eine Krisengebietsverwaltung des
Sicherheitsrates aus Art. 24 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit dem durch die
genannten Artikel der AEMR und des IPbürgR konkretisierten Art. 1 Ziff. 3 SVN
verpflichtet ist, überhaupt eine unabhängige Zivil- und Strafgerichtsbarkeit
einzurichten. Diese muss auf gesetzlicher Grundlage und unabhängig von der
Exekutive arbeiten.1594 Diese institutionelle Garantie soll im Folgenden unter dem
Begriff Rechtsweggarantie zusammengefasst werden.
Die aus Art. 10 AEMR und Art. 14 Abs. 1 Satz 2 IPbürgR folgende Pflicht zur
Rechtswegeröffnung bedeutet indes nicht, dass eine UN-Krisengebietsverwaltung
gleich von Anfang an über ein voll ausgestattetes und voll funktionsfähiges
Gerichtssystem verfügen müsste. Dies würde den Sicherheitsrat angesichts der
beschränkten personellen und materiellen Ressourcen der UN praktisch überfordern
und ihn somit an einer effektiven Bekämpfung von Friedensbedrohungen hindern.
Gerade der Aufbau eines Gerichtswesens ist in einem Krisengebiet, in dem die
meisten staatlichen Institutionen personell und materiell nicht mehr funktionieren
können, äußerst schwierig. Die Erfahrungen im Kosovo und in Osttimor zeigen, dass
dies eher ein Prozess von Jahren denn von Monaten ist.1595
Eine sofortige Bereitstellung eines voll funktionsfähigen Gerichtssystems ist aber
auch aus völkerrechtlichen Gesichtspunkten nicht geboten. Einerseits gehört die
Rechtsweggarantie nicht nach Art. 4 Abs. 2 IPbürgR zu den unabdingbaren
1594
Seidel, Grund- und Menschenrechte (1996), S. 270. Zur institutionellen Garantie des Art. 14 Abs.
1 Satz 2 IPbürgR siehe Nowak, CCPR Commentary (1993), Art. 14 Rn. 9.
1595
Ausführlich zum Wiederaufbau des Justizwesens im Kosovo und in Osttimor Strohmeyer, AJIL
95 (2001), 46-63; Chesterman, You, The People (2004), S. 165-174, sowie die einschlägigen Berichte
des UN-Generalsekretärs zu den einzelnen Missionen. Speziell zu Osttimor Beauvais, NYU JIL&P 33
(2000/01), 1101 (1148-1160); Linton, Melbourne ULR 25 (2001), 122-180; Morrow/White, Australian YBIL 22 (2002), 1-45; und Othman, in: Ambos/ders. (Hrsg.), New Approaches (2003), S. 85-112.
Speziell zum Kosovo siehe OMIK, 2. Criminal Justice Review (2001), S. 31-53; ICG, Scales of
Justice (2002); O’Neill, Kosovo (2002), S. 75-98; Bohlander, in: Ambos/Othman (Hrsg.), New Approaches (2003), S. 21-59; sowie die Zusammenfassung der Entwicklung bis heute bei OMIK, 6.
Criminal Justice Review (2004), S. 10-13. Speziell zur Staatsanwaltschaft Naarden/Locke, AJIL 98
(2004), 727-743. Einen Einblick in die Wahrnehmung der durch UNMIK eingerichteten Justiz seitens
der kosovarischen Bevölkerung geben Latifi/Mekolli, Trial and Error (IWPR Report Oct. 2001).
347
Rechten.1596 Im Falle eines Notstandes, der gerade bei UN-Zwangsverwaltungen auf
der Grundlage von Kapitel VII der Charta zu Beginn regelmäßig gegeben sein
wird,1597 liegt daher im Fehlen eines unabhängigen Gerichtswesens nicht notwendig
auch ein Verstoß gegen Menschenrechte. Die Rechtsweggarantie ist zudem nicht
Bestandteil des zwingenden Rechts. Aufgrund des in der Charta niedergelegten
Vorrangs der Friedenssicherung ist der Sicherheitsrat daher auch dann von ihrer
Beachtung befreit, wenn ihm im konkreten Fall auf andere Weise eine effektive
Bekämpfung der von dem Gebiet ausgehenden Friedensbedrohung nicht möglich ist.
Dem kann nicht ohne Weiteres entgegengehalten werden, dass das Bestehen eines
Rechtswegs auch während eines Notstands notwendige Voraussetzung für den
Schutz der von Art. 4 Abs. 2 IPbürgR als unabdingbar bezeichneten Rechte ist und
daher selbst unabdingbar sein müsse.1598 Eine solche Argumentation ist sinnvoll, wo
ein Gerichtswesen besteht und die Fortdauer seiner Tätigkeit primär von der
Entscheidung des Trägers der Staatsgewalt abhängt.1599 Wo aber, wie im Kosovo und
in Osttimor, zu Anfang kein Gerichtssystem existiert und dieses auch nicht binnen
Tagen „aus dem Boden gestampft“ werden kann, hieße dies, den Sicherheitsrat
unzulässiger Weise zu etwas zu verpflichten, was niemand zu leisten im Stande ist.
Im Rahmen seiner tatsächlichen Möglichkeiten ist der Sicherheitsrat aber auch bei
einer Gebietsverwaltung unter Kapitel VII der Charta verpflichtet, eine den
Anforderungen des Art. 10 AEMR und des Art. 14 IPbürgR weitestmöglich gerecht
werdende Zivil- und Strafgerichtsbarkeit einzurichten – und dies so schnell wie
möglich.1600 Dies ergibt sich nicht nur aus seiner Pflicht zur Förderung der
1596
Gleiches gilt nach Art. 15 Abs. 2 EMRK für die vergleichbare Rechtsweggarantie des Art. 6 Abs.
1 Satz 1 EMRK.
1597
Zur UN-Krisengebietsverwaltung als Notstandssituation im Sinne des Art. 4 Abs. 1 IPbürgR siehe
bereits oben 4.Kp. D.III.3.a.
1598
So aber implizit HRC, General Comment No. 29 (2001), § 15.
1599
In diesem Kontext erfolgt die Argumentation von HRC, General Comment No. 29 (2001), der sich
an die Mitgliedstaaten des IPbürgR richtet und die Frage ihrer Derogation nach Art. 4 Abs. 2 IPbürgR
von den Garantien des Paktes betrifft.
1600
Die hohe Priorität, die der Wiederaufbau des Justizwesens bei einer solchen Friedensmission
haben sollte, wird inzwischen allseits anerkannt. Siehe beispielsweise UN-GS, Transitional Justice
(2004), § 2, und O’Neill, Kosovo (2002), S. 76.
348
Menschenrechte aus Art. 24 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Ziff. 3 SVN,
sondern auch unmittelbar aus seiner Pflicht zur Friedenssicherung aus Art. 24 Abs. 1
und Art. 1 Ziff. 1 SVN. Denn wie die UN selbst betont, ist ein effektives und
unabhängiges Gerichtswesen notwendige Voraussetzung für die langfristige
Befriedung eines Gebietes1601 und damit letztlich auch notwendig zur effektiven
Bekämpfung der für die Zwangsverwaltung ursächlichen Friedensbedrohung.
Die Möglichkeit, dem Individuum in engen Grenzen aus Gründen der
Friedenssicherung vorübergehend keine effektive und zugängliche Straf- und
Zivilgerichtsbarkeit
bereitszustellen,
erlaubt
dabei
lediglich
eine
zeitliche
Verzögerung der Rechtswegeröffnung. Sie erlaubt keine Abweichung von dem
Grundsatz, dass strafrechtliche Verurteilungen nur von einem ordentlich bestellten
Gericht verhängt werden dürfen. Denn bei diesem ebenfalls aus Art. 10 AEMR und
Art. 14 IPbürgR folgenden Grundsatz1602 handelt es sich um einen zwingenden
Kernbestandteil des fair trial-Grundsatzes,1603 von dem auch der Sicherheitsrat unter
keinen Umständen abweichen darf. Das ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass er nach
dem gemeinsamen Art. 3 Nr. 1 lit. d) der Genfer Konventionen selbst während
andauernder bewaffneter Konflikte einzuhalten ist.1604 Als Inhaber auch der
legislativen Gewalt innerhalb des unter Kapitel VII der Charta verwalteten
Gebietes1605 wird es der Sondergesandte und Leiter der UN-Mission zudem
regelmäßig selbst in der Hand haben, kurzfristig die notwendigen gesetzlichen
Grundlagen zu schaffen.
b. Unparteilichkeit des Gerichts
Art. 10 AEMR und Art. 14 Abs. 1 IPbürgR enthalten neben der institutionellen
Rechtsweggarantie auch den Anspruch des Einzelnen auf Gleichbehandlung vor
1601
UN-GS, Transitional Justice (2004), § 2.
1602
Siehe Nowak, CCPR Commentary (1993), Art. 14 Rn. 15.
1603
HRC, General Comment No. 29 (2001), § 16.
1604
Zum gemeinsamen Art. 3 der Genfer Konventionen als Ausdruck zwingenden Völkerrechts siehe
oben die Nachweise in Fn. 1521.
1605
Siehe Sec. 1.1 UNMIK/REG/1999/1 vom 25.7.1999 und § 6 S/RES/1272 (1999) vom 25.10.1999.
349
Gericht und auf eine unparteiische Besetzung des Gerichts.1606 Die Unparteilichkeit
des Gerichts wird man ebenfalls zu den wesentlichen Ausprägungen des fair trialGrundsatzes zählen können, da die Verhandlung eines Sachverhaltes vor einem
unvoreingenommen
Dritten
Streitschlichtungssystems
und
gleichsam
raison
Grundlage
d’être
seiner
eines
Legitimität
gerichtlichen
ist.1607
Der
Menschenrechtsausschuss des IPbürgR hat den Grundsatz der Unparteilichkeit des
Gerichts daher zu Recht als unabdingbar bezeichnet.1608
Doch gerade in Krisengebieten, die oftmals von nur oberflächlich beendeten internen
Konflikten geprägt sind, kann die Durchsetzung der Unparteilichkeit der Gerichte
schwierig sein. Wie bereits ausgeführt1609 wird es aufgrund begrenzter Ressourcen
und zur langfristigen Verankerung des Gerichtssystems im Staatswesen des
verwalteten Gebietes in der Regel geboten sein, zumindest den Großteil der Richterund Staatsanwaltstellen mit lokalen Juristen zu besetzen. Ein weiterer Grund kann
die Notwendigkeit sein, deutlich zu machen, dass alle Teile der Bevölkerung an der
Ausübung der „neuen“ Staatsgewalt beteiligt sind.1610 Doch gerade die Erfahrungen
im Kosovo haben gezeigt, dass mit der aus Gründen der Friedenssicherung
erforderlichen Einbindung nationaler Richterinnen und Richter auch ethnische
Voreingenommenheit Einzug in das Gerichtswesen hält.1611 So übten Teile der
kosovo-albanischen Bevölkerungsmehrheit derartigen Druck auf nicht-albanische
Richter aus, dass bis Oktober 1999 alle bis dato ernannten serbischen Richter und
Staatsanwälte ihre Ämter niederlegten.1612 Albanische Richter und Staatsanwälte
1606
Nowak, CCPR Commentary (1993), Art. 14 Rn. 18. Zur diesbzgl. Intention des Art. 10 AEMR
siehe Morsink, UDHR (1999), S. 50-52.
1607
In diese Richtung auch OMIK, 1. Criminal Justice Review (2000), S. 58.
1608
HRC, González del Río v. Peru (1992), § 5.2. Zustimmend Sayapin, HVR 17 (2004), 152 (156 f.).
Zum Grundsatz der Unabhängigkeit und Unvoreingenommenheit der Gerichte nach Art. 6 EMRK
siehe ausf. Kuijer, The Blindfold of Lady Justice (2004).
1609
Siehe oben 4.Kp. E.II.1.
1610
So betont der Generalsekretär in § 66 seines Berichts S/1999/779 vom 12.7.1999 die
Notwendigkeit, ein „multi-ethnic judicial system“ im Kosovo einzurichten.
1611
Ausf. zu den Schwierigkeiten mit der Sicherstellung der Unparteilichkeit der Richter im Kosovo
OMIK, 1. Criminal Justice Review (2000), S. 58-76; ferner ICG, Scales of Justice (2002), S. 6-8.
1612
§ 54 des Berichts S/1999/1250 vom 23.12.1999; OMIK, 1. Criminal Justice Review (2000), S. 11
f.; O’Neill, Kosovo (2002), S. 77. Umgekehrt bestand weiterhin ein paralleles rein serbisches
350
gingen teilweise deutlich entschiedener und härter gegen Serben als gegen Albaner
vor.1613 Während Erstere oft lange auf einen Prozess warten mussten, wurden
Letztere teilweise auch bei vergleichsweise eindeutiger Sachlage freigesprochen oder
aus der Haft entlassen.1614 Auch gab und gibt es erhebliche Schwierigkeiten mit
Vertretern der organisierten Kriminalität oder ehemaligen UÇK-Mitgliedern, die
teilweise massiven Druck auf Richter und Staatsanwälte ausübten.1615
Da es sich um eine unabdingbare Grundvoraussetzung für den effektiven Schutz der
Menschenrechte handelt, ist die Unparteilichkeit der Gerichte vom Sicherheitsrat
unter allen Umständen sicherzustellen. Soweit lokale Richter keine hinreichende
Gewähr für ihre Unvoreingenommenheit bieten können, sind ihnen internationale
Richter zur Seite zu stellen oder die tatsächliche Möglichkeit zu schaffen,
problematische Urteile von einer weiteren Instanz, deren Unabhhängigkeit und
Überparteilichkeit gesichert ist, überprüfen zu lassen.1616 Die Sicherstellung der
richterlichen Unvoreingenommenheit hat insoweit Vorrang vor dem Ziel, das
Justizwesen zum Zwecke seiner langfristigen Verankerung in der Bevölkerung
möglichst umfassend zu nationalisieren.
Zu Recht hat UNMIK daher nach anfänglichem Zögern1617 Anfang 2000 die
Voraussetzungen für den Einsatz internationaler Richter und Staatsanwälte
Gerichtswesen in den mehrheitlich von Serben bewohnten Gebieten. Siehe dazu ausf. OMIK, Parallel
Structures (2003), S. 16-23.
1613
O’Neill, Kosovo (2002), S. 83-88; Hartmann, Int’l. Judges (2003), S. 5 f.
1614
Siehe die in OMIK, 1. Criminal Justice Review (2000), S. 60-69, aufgeführten Beispielfälle.
1615
§ 109 des Berichts S/2000/177 des Generalsekretärs vom 3.3.2000; und § 57 des Berichts
S/2000/538 vom 6.6.2000; ferner ICG, Scales of Justice (2002), S. 5; Hartmann, Int’l. Judges (2003),
S. 7; und Naarden/Locke, AJIL 98 (2004), 727 (728 u. 730).
1616
Der erste internationale Staatsanwalt der UNMIK (2000-2003), Michael Hartmann, plädiert
insoweit dafür, stets vom schlimmsten Fall auszugehen und in einer Krisenregion von Anfang an
internationale Richter und Staatsanwälte einzusetzen. Sollten die Erwartungen an die nationalen
Richter im positiven Sinne enttäuscht werden, könnte das internationale Personal kurzfristig wieder
abgezogen werden (Hartmann, Int’l. Judges (2003), S. 14).
Nach Hartmann, Int’l. Judges (2003), S. 4, befürchtete die UN zunächst, sich dem Vorwurf des
Neokolonialimus auszusetzen, wenn sie neben der Exekutive und der Legislative auch die Judikative
personell an sich zöge. Zu den Gründen für das Zögern siehe auch O’Neill, Kosovo (2002), S. 88 f.
1617
351
geschaffen.1618 Auch ein Instanzenzug wurde geschaffen, der eine richterliche
Überprüfung von Urteilen ermöglicht.1619 Im September 2000 arbeiteten sieben
internationale Richter und drei internationale Staatsanwälte im Kosovo,1620 im März
des Folgejahres war ihre Zahl auf insgesamt zwölf Richter und fünf Staatsanwälte
angewachsen.1621 Bis 2004 wurde insbesondere die Zahl der internationalen
Staatsanwälte auf zehn bis fünfzehn erhöht.1622 Auch dadurch haben die
Schwierigkeiten mit ethnisch voreingenommenen Richtern und Staatsanwälten im
Kosovo bis heute deutlich abgenommen.1623
c. Verfahrensdauer
Neben der Garantie einer unabhängigen und unparteiischen Justiz enthält Art. 14
IPbürgR eine Reihe prozessualer Vorgaben, deren Gewährleistung der Einzelne im
Strafverfahren beanspruchen kann. Während die Einhaltung einiger von ihnen, wie
1618
UNMIK/REG/2000/6 vom 15.2.2000 erlaubte zunächst den Einsatz internationaler Richter und
Staatsanwälte im geteilten Mitrovica. Diese durften jedes neue oder bereits anhängige Strafverfahren
in ihrem örtlichen Zuständigkeitsbereich an sich ziehen (ebenda, Sec. 1.2 u. 1.3).
UNMIK/REG/2000/34 vom 27.5.2000 dehnte dieses Modell auf das gesamte Gebiet des Kosovo aus.
UNMIK/REG/2000/64 vom 15.12.2000 erlaubte es dem SRSG, in jedem Stadium des Verfahrens das
an sich zuständige kosovarische Gericht durch einen mehrheitlich mit internationalen Richtern
besetzten ad hoc-Spruchkörper (ein sog. „64-panel“) zu ersetzen. UNMIK/REG/2001/2 vom
12.1.2001 gab internationalen Staatsanwälten die Möglichkeit, bereits eingestellte Ermittlungs- und
Strafverfahren neu aufzurollen. Dieses Rechtsregime wurde zuletzt durch UNMIK/REG/2004/54 vom
15.12.2004 bis Dezember 2005 verlängert. Zur Entwicklung dieses Rechtsregimes und seinen
Hintergründen siehe insbes. Hartmann, Int’l. Judges (2003), S. 3-13. Zum Einsatz internationaler
Staatsanwälte in Osttimor im Rahmen der Verfolgung schwerer Menschenrechtsverletzungen aus der
Zeit vor der Einrichtung der UNTAET siehe Bowman, Emory ILR 18 (2004), 371-400, der 2002
selbst als Staatsanwalt in Osttimor tätig war.
1619
Oberste Instanz ist der Kosovo Supreme Court, dem auch internationale Richter angehören.
Darunter gibt es Bezirks- und Amtsgerichte (District bzw. Municipal Courts). Siehe dazu OMIK, 1.
Criminal Justice Review (2000), S. 13, ferner Hartmann, Int’l. Judges (2003), S. 12. Sec. 1.4
UNMIK/REG/2001/2 vom 12.1.2001 erlaubt es internationalen Staatsanwälten, auch bereits
eingestellte Strafverfahren wieder aufzunehmen.
1620
Siehe § 47 des Berichts S/2000/878 vom 18.9.2000.
1621
Siehe § 39 des Berichts S/2001/218 vom 13.3.2001. Zur Arbeit der internationalen Staatsanwälte
und Richter im Kosovo siehe ICG, Scales of Justice (2002), S. 8-10; ferner ausf. Hartmann, Int’l.
Judges (2003); und speziell zu den Staatsanwälten Naarden/Locke, AJIL 98 (2004), 727-743.
1622
ICG, Scales of Justice (2002), S. 8; Naarden/Locke, AJIL 98 (2004), 727 (728).
1623
Im Jahre 2004 gab es nur vier diesbzgl. Beschwerden, von denen eine offensichtlich unbegründet
war (§ 18 Annex I des Berichts S/2005/335 vom 23.5.2005). Allerdings sieht CoE-Venice Commission, Human Rights in Kosovo (2004), §§ 47-49, die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz
weiter als problematisch an.
352
etwa der Unschuldsvermutung des Art. 14 Abs. 2 IPbürg1624 oder auch das Prinzip
der Waffengleichheit bei der Zeugenbefragung (Art. 14 Abs. 3 lit. e) IPbürgR) auch
im Kontext einer Krisengebietsverwaltung keine besonderen Schwierigkeiten
aufwerfen dürfte, setzen andere in besonderem Maße das Bestehen eines
funktionierenden und mit hinreichenden Ressourcen versehenen Justizwesens
voraus. Das gilt beispielsweise für das Recht auf einen unentgeltlichen
Pflichtverteidiger nach Art. 14 Abs. 3 lit. d) IPbürgR,1625 das nicht nur voraussetzt,
dass die Justiz über entsprechende finanzielle Mittel verfügt, sondern vor allem, dass
überhaupt genügend qualifizierte Verteidiger zur Verfügung stehen.1626 Gleiches gilt
für das Recht auf die unentgeltliche Herbeiziehung eines Dolmetschers nach Art. 14
Abs. 3 lit. f) IPbürgR.1627
In besonderem Maße abhängig vom Bestehen eines funktionierenden und mit
ausreichenden Ressourcen versehenen Justizwesens ist auch das Recht des
Angeklagten auf ein „ohne unangemessene Verzögerung“ ergehendes Urteil. Art. 14
Abs. 3 lit. c) IPbürgR bezieht sich dabei nicht nur auf die eigentliche Verurteilung,
sondern auf alle Stadien des Strafverfahrens und auf alle Instanzen.1628 Es überlappt
sich teilweise mit dem Recht des Untersuchungshäftlings auf zügige Eröffnung eines
Gerichtsverfahrens aus Art. 9 Abs. 3 Satz 1 IPbürgR. 1629 Auch flankiert es die bereits
behandelte Rechtsweggarantie,1630 denn, um es mit einem englischen Sprichwort
1624
Siehe dazu Nowak, CCPR Commentary (1993), Art. 14 Rn. 33-37. HRC, General Comment No.
29 (2001), § 16, zählt die Unschuldsvermutung sogar zu den unabdingbaren Garantien des IPbürgR,
obwohl sie in Art. 4 Abs. 2 IPbürgR nicht erwähnt ist. In diese Richtung auch Sayapin, HVR 17
(2004), 152 (158).
1625
In Osttimor umgesetzt durch Sec. 27 UNTAET/REG/2000/11 vom 6.3.2000.
1626
Zu den diesbzgl. Problemen im Kosov und in Osttimor siehe Strohmeyer, AJIL 95 (2001), 46
(55). Zu den andauernden Schwierigkeiten mit mangelhaft arbeitenden Verteidigern, insbesondere
Pflichtverteidigern, im Kosovo siehe OMIK, 6. Criminal Justice Review (2004), S. 68-73.
1627
Hier wird man allerdings sagen müssen, dass die UN jedenfalls dann für einen unentgeltlichen
Dolmetscher sorgen muss, wenn sie durch den Einsatz internationaler Richter und Staatsanwälte erst
die Verwendung einer für den Angeklagten unverständlichen Verhandlungssprache bewirkt hat.
1628
HRC, General Comment No. 13 (1984), § 10; HRC, Lubuto v. Zambia (Entscheidung v.
31.10.1995), § 7.3; Seidel, Grund- und Menschenrechte (1996), S. 311; Conte, in: ders. u.a. (Hrsg.),
Defining Rights (2004), S. 129.
1629
Nowak, CCPR Commentary (1993), Art. 14 Rn. 44. Siehe dazu auch unten 4.Kp. E.III.4.
1630
Siehe oben 4.Kp. E.II.3.a.
353
auszudrücken, „justice delayed [is] justice denied“.1631 Seine Verwirklichung
scheint selbst für die hochentwickelten Staaten Westeuropas schwierig zu sein, so
dass es seinetwegen immer wieder zu Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof
für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg kommt.1632 Der Menschenrechtsausschuss
des IPbürgR musste sich gleichfalls häufig mit Verstößen gegen dieses
Verfahrensgrundrecht auseinandersetzen.1633 Auch im Kosovo und in Osttimor war
die lange Dauer einiger Strafverfahren Gegenstand der Kritik.1634
Vor dem Hintergrund, dass die Vereinten Nationen dort das Justizsystem quasi von
Grund auf neu errichten mussten, muss in einer langen Verfahrensdauer nicht immer
notwendig ein Verstoß gegen Menschenrechte vorliegen. Zwar ist auch der
Sicherheitsrat gehalten, die Vorgaben des Art. 14 Abs. 3 IPbürgR zu beachten und
umzusetzen, da sie autoritative Konkretisierungen der von ihm nach Art. 24 Abs. 2
Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Ziff. 3 SVN zu beachtendenden Menschenrechte
darstellen. Jedoch ist nicht jede lange Prozessdauer notwendig ein Eingriff in das
Grundrecht auf ein zügiges Urteil. Art. 14 Abs. 3 IPbürgR gehört ferner nicht zu den
nach Art. 4 Abs. 2 IPbürgR notstandsfesten Rechten und kann vom Sicherheitsrat
auch aufgrund des Vorrangs der Friedenssicherung im Einzelfall außer Kraft gesetzt
werden.
Aus dem Wortlaut der Art. 14 Abs. 3 lit. c) und Art. 9 Abs. 3 Satz 1 IPbürgR folgt
zunächst, dass die genannten Normen keine starre Zeitgrenze vorsehen, sondern es
von den Umständen und der Komplexität des Einzelfalles abhängt, was eine
1631
Zitiert nach Soyer/de Salvia, Article 6 CEDH (1999), S. 267.
1632
Insbesondere Italien wird immer wieder eines Verstoßes gegen dieses auch in der EMRK (Art. 6
Abs. 1 Satz 1) niedergelegte Individualrechts bezichtigt, weshalb der EGMR mittlerweile zu einer Art
kursorischen Prüfung dieser Fälle übergegangen ist. Siehe dazu die umfangreichen Nachweise bei
Frowein/Peukert, EMRK (1996), Art. 6 Rn. 153.
1633
Siehe die Übersicht bei Weissbrodt, Fair Trial (2001), S. 125-129, und Conte, in: ders. u.a.
(Hrsg.), Defining Rights (2004), S. 129 f.
1634
Zum Kosovo siehe insbesondere die Jahresberichte des Ombudsmannes, z.B. Ombudsperson Kosovo, 3rd Annual Report (2003), S. 3; Ombudsperson Kosovo, 4th Annual Report (2004), S. 13. Von
446 zulässigen Beschwerden, die zwischen Mitte 2004 und Mitte 2005 beim Ombudsmann im Kosovo
eingeganen sind, machten 131 eine überlange Verfahrensdauer geltend (siehe Ombudsperson Kosovo,
5th Annual Report (2005), S. 62 u. 64, ferner S. 123 u. 127 f. sowie die Beispielfälle ebenda, S. 8198). Zu Osttimor siehe z.B. § 8 des Berichts des Generalsekretärs S/2000/1105 vom 20.11.2000;
ferner JSMP, Justice in Practice (2001), S. 12-16; und Chesterman, You, The People (2004), S. 172.
354
„angemessene Frist“1635 ist und wann eine Verzögerung „unangemessen“1636
wird.1637 Dies lässt grundsätzlich Raum, um die tatsächlichen Verhältnisse vor Ort in
die Bewertung mit einfließen zu lassen.
Sowohl die Feststellungen des UN-Menschenrechtsausschusses als auch die
Rechtsprechung des EGMR zum ähnlich gelagerten Art. 6 Abs. 1 EMRK zeigen
indes nur eine geringe Neigung, externe Faktoren in ihre Beurteilung mit
einzubeziehen und stellen maßgeblich nur auf die Eigenarten des konkreten Falles
ab.1638 Wo die betroffenen Staaten ihre schwierige wirtschaftliche Situation als
Entwicklungsland oder finanzielle Engpässe als Rechtfertigung für eine lange
Verfahrensdauer anführten, wurde dies vom Menschenrechtsausschuss des IPbürgR
zurückgewiesen.1639
Ähnlich
urteilte
1985
der
EGMR
in
einem
Individualbeschwerdeverfahren gegen Portugal: Zwar wisse er die besonderen
Schwierigkeiten zu würdigen, die Portugal bei der Reform des Justizwesens infolge
der
Demokratisierung
im
Zuge
der
Nelkenrevolution
und
des
großen
Bevölkerungszuwachses im Zuge der Dekolonialisierung gehabt habe.1640 Jedoch
seien die von Portugal ergriffenen strukturellen Maßnahmen unzureichend, um die
knapp vierjährige Dauer des streitgegenständlichen Schadensersatzprozesses zu
rechtfertigen.1641
Art. 9 Abs.3 Satz 1 IPbürgR spricht in der französischen Fassung von einem „délai raisonnable“,
in der englischen von einem „trial within reasonable time“.
1635
Art. 14 Abs. 3 lit. c) IPbürgR lautet in der französischen Fassung „à être jugée sans retard
excessif“, in der englischen „to be tried without undue delay“.
1636
1637
HRC, Fillastre u. Bizouarn v. Bolivia (Entscheidung v. 6.11.1991); § 6.6; Nowak, CCPR Commentary (1993), Art. 14 Rn. 45.
1638
Zu den vom EGMR entwickelten Kriterien siehe Soyer/de Salvia, Article 6 CEDH (1999), S. 268;
und Frowein/Peukert, EMRK (1996), Art. 6 Rn. 144-152 m.w.N.
1639
HRC, Fillastre u. Bizouarn v. Bolivia (Entscheidung v. 6.11.1991), § 6.4 u. § 6.5; und HRC,
Lubuto v. Zambia (Entscheidung v. 31.10.1995), § 7.3. Zu dieser Spruchpraxis des
Menschenrechtsausschusses siehe auch Weissbrodt, Fair Trial (2001), S. 129.
1640
EGMR, Arrêt Guincho (1984), § 21 u. § 38.
1641
EGMR, Arrêt Guincho (1984), § 41. Ähnlich EGMR, Arrêt Union Alimentaria Sanders S.A.
(1989), § 42: Auch hier konnten die vom Gerichtshof anerkannten Schwierigkeiten Spaniens bei der
Rückkehr zur Demokratie und der Reorganisation des Justizwesens (siehe ebenda, §§ 37 f.) die lange
Verfahrensdauer nicht rechtfertigen.
355
Weder eine allgemeine Haushaltsnotlage noch eine vor geraumer Zeit erfolgte
demokratische Revolution sind jedoch mit dem völligen Zusammenbruch des
Justizwesens vergleichbar, wie ihn die UN im Kosovo und in Osttimor vorfand.
Daher taugen die bisher vom Menschenrechtsausschuss und vom EGMR behandelten
Fälle nur bedingt als Präzedenzfälle für eine UN-Krisengebietsverwaltung. Zudem
stützten sich beide Spruchkörper in den genannten Beispielsfällen wesentlich darauf,
dass die betroffenen Staaten bewusst die aus dem IPbürgR respektive der EMRK
folgenden Verpflichtungen übernommen hätten1642 und begründeten damit eine Art
verschuldensunabhängige Einstandspflicht.1643 Diese Argumentation lässt sich auf
die Übernahme der Verwaltungshoheit über ein Krisengebiet auf der Grundlage des
Kapitels VII der UN-Charta nur bedingt übertragen. Der Sicherheitsrat erklärt nicht
feierlich, hinfort bestimmte Rechte achten und schützen zu wollen, sondern er wird
gleichsam notgedrungen zur Abwehr einer akuten Friedensbedrohung tätig. Das für
die Argumentation des EGMR und des Menschenrechtsausschusses wesentliche
Element der freiwilligen Selbstverpflichtung ist damit im Falle der Resolutionen
1244 und 1272 (1999) zumindest weit schwächer ausgeprägt.
Zudem lässt der EGMR Anhaltspunkte dafür erkennen, dass organisatorische
Defizite des Justizwesens bei der Beurteilung der Angemessenheit einer
Verzögerung berücksichtigt werden könnten. Nach seiner ständigen Rechtsprechung
führt ein vorübergehender Engpass im Justizwesen eines Mitgliedstaates noch nicht
zu einem Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK, sofern zügig die erforderlichen
Maßnahmen ergriffen werden, um den Engpass zu beheben.1644 Dem folgend ließe
sich argumentieren, auch eine lange Verfahrensdauer infolge eines völligen
Zusammenbruchs des Gerichtssystems verstieße nicht gegen Art. 6 Abs. 3 EMRK
1642
Siehe EGMR, Arrêt Guincho (1984), § 38 (2. Abs.); EGMR, Arrêt Union Alimentaria Sanders
S.A. (1989); § 38; HRC, Lubuto v. Zambia (Entscheidung v. 31.10.1995), § 7.3; ferner die Nachweise
bei Frowein/Peukert, EMRK (1996), Art. 6 Rn. 148.
Soyer/de Salvia, Article 6 CEDH (1999), S. 268, sprechen von einer „obligation de résultat“.
Nach Tomuschat, in: FS Schermers III (1994), S. 329, handelt es sich um einen einheitlichen
europäischen Standard, einen „acquis commun“, zu dessen Einhaltung sich die Staaten mit der
Ratifikation der EMRK verpflichtet hätten.
1643
1644
St. Rspr., siehe beispielsweise EGMR, Arrêt Zimmermann et Steiner (1983), § 29; EGMR, Arrêt
Guincho (1984), § 40; EGMR, Arrêt Bagetta (1987), § 23; und EGMR, Klein v. Germany, NJW 54
(2000), 213 (214 § 43); ferner die Nachweise bei Frowein/Peukert, EMRK (1996), Art. 6 Rn. 148.
356
respektive Art. 14 Abs. 3 lit. c) IPbürgR, wenn nur die UN als Normadressat
umgehend die erforderlichen Maßnahmen zu seinem Wiederaufbau ergriffe.
Allerdings bezieht sich diese Rechtsprechung allein auf vorübergehende Störungen
des Justizbetriebs. Bei strukturellen Problemen, und dabei handelt es sich bei der
Notwendigkeit eines völligen Neuaufbaus zweifellos, stellt der EGMR hingegen
darauf ab, ob der betroffene Staat „wirksame“ Maßnahmen ergriffen hat.1645 Da er
die Wirksamkeit letztlich allein danach bemisst, ob sie eine den Eigenheiten des
konkreten Falles angemessene Prozessdauer bewirken konnten,1646 stellt dies der
Sache nach eine reine Erfolgspflicht des Normadressaten dar,1647 der keinen Raum
für
die
Berücksichtigung
der
strukturellen
Schwierigkeiten
einer
Krisengebietsverwaltung lässt.1648 Maßstab für die Angemessenheit der Prozessdauer
sind damit allein die konkreten Eigenheiten des Einzelfalles, das heißt seine
rechtlichen und tatsächlichen Schwierigkeiten sowie das Verhalten der Beteiligten,
nicht aber externe Faktoren wie der allgemeine Zustand der Justiz in einem Staat
oder die personelle wie materielle Ausstattung des Prozessgerichts – von lediglich
vorübergehenden Engpässen einmal abgesehen.
Nach dieser strengen Auslegung des Art. 6 Abs. 1 EMRK, die sinngemäß auch auf
Art. 14 Abs. 3 lit.c) IPbürgR angewendet werden kann, müsste eine UNGebietsverwaltung – quasi „koste es, was es wolle“ – sicherstellen, dass einfache
Strafverfahren schnell und zügig durchgeführt würden. Eine Berücksichtigung der
1645
EGMR, Arrêt Zimmermann et Steiner (1983), § 32; und EGMR, Arrêt Guincho (1984), § 40 (3.
Abs.), sprechen insoweit von „de mesures efficaces“.
1646
Siehe die Argumentation des Gerichtshofes in EGMR, Arrêt Zimmermann et Steiner (1983), § 31;
und in EGMR, Arrêt Guincho (1984), § 40 (3. Abs.).
1647
Soyer/de Salvia, Article 6 CEDH (1999), S. 268; Frowein/Peukert, EMRK (1996), Art. 6 Rn. 148.
So führt der EGMR in st. Rspr. aus: „Art. 6 § 1 imposes on the Contracting States the duty to
organise their judicial systems in such a way that their courts can meet each of its requirements, including the obligation to hear cases within a reasonable time“ (EGMR, Gast/Popp v. Germany, Slg.
2000-II, 467 [212 § 75]). In EGMR, Süßmann v. Germany, Slg. 1996-IV, 1158 (1174 § 60), fanden
die besonderen politischen Umstände der deutschen Wiedervereinigung nur insoweit
Berücksichtigung, als dem BVerfG gestattet wurde, sie bei der Entscheidung über die Reihenfolge der
zu behandelnden Fälle in die Ermessensentscheidung miteinzubeziehen. Ähnlich EGMR, Arrêt Foti et
autres (1982), § 61, wo anerkannte Beeinträchtigungen der Justiz durch vorangegangene Unruhen
lediglich insoweit Berücksichtigung fanden, als zumindest jene Verzögerung als gerechtfertigt
angesehen wurde, die notwendigerweise mit der gebotenen Verlegung des Verfahrens an ein anderes
1648
357
schwierigen Situation des justiziellen Wiederaufbaus wäre im Rahmen der genannten
Normen nicht möglich. Der UN bliebe dann nur, unter Verweis auf die schwierige
Situation vor Ort den Notstand zu proklamieren und nach Art. 4 Abs. 1 IPbürgR von
den Gewährleistungen des für sie maßgeblichen IPbürgR zu derogieren.1649 Diese
fehlende Notstandsfestigkeit wiederum zeigt auch, dass es sich beim Recht auf ein
zügiges Strafverfahren bislang nicht um einen zwingenden Grundwert der
internationalen Gemeinschaft handelt. Daher kann der Sicherheitsrat aufgrund des in
der Charta angelegten Vorrangs der Friedenssicherung seine Verwirklichung
insoweit zurückstellen, als dies im Einzelfall zur effektiven Bekämpfung von
Friedensbedrohungen erforderlich ist. In Betracht kommt hier insbesondere eine
Einschränkung des Rechts aufgrund der eingeschränkten personellen und
finanziellen Ressourcen.
Insbesondere ist es dem Sicherheitsrat so aber auch möglich, die notwendigen
Prioritäten zu setzen. Denn auch die Gewährleistung der einzelnen Menschenrechte
ist nicht immer zur gleichen Zeit und im gleichen Umfang nötig. Dies gilt gerade für
die justiziellen Rechte und für die Situation eines weitgehenden justiziellen
Neubeginns nach einem bewaffneten Konflikt oder einer sonstigen schweren Krise.
So ist es sicherlich theoretisch möglich, Verfahren zu beschleunigen, indem eine
Vielzahl lokaler Richter eingestellt wird. Fehlt diesen aber die nötige Qualifikation
oder sind sie voreingenommen, geht dies zu Lasten des Rechts auf faires und
ordnungsgemäßes
Verfahren.
Umgekehrt
kann
der
umfassende
Einsatz
internationaler Juristen – wenn er denn personell und finanziell möglich wäre – dazu
führen, dass die Justiz von der Bevölkerung nicht akzeptiert wird und so die
langfristige Verankerung des Rechtsstaatsprinzips in dem Gebiet gefährdet, die
wiederum notwendige Voraussetzung für eine dauerhafte Stabilisierung des Gebietes
ist. Der in der Charta angelegte Vorrang der Friedenssicherung und das weite
Ermessen, dass Art. 39 SVN dem Sicherheitsrat lässt, ermöglicht ihm so,
situationsangemessen und flexibel zu entscheiden.
Gericht verbunden war.
1649
Zur Anwendung des Art. 4 IPbürgR auf UN-Krisengebietsverwaltungen siehe bereits oben 4.Kp.
D.III.3.a.
358
Das heißt nicht, dass eine unter Kapitel VII der Charta eingerichtete
Gebietsverwaltung das Recht des Einzelnen auf ein zügiges Strafverfahren beliebig
missachten könnte. Vielmehr hat sie im Rahmen des Möglichen für seine
Verwirklichung zu sorgen. Sofern sie nicht nach Art. 4 Abs. 1 IPbürgR explizit
davon derogiert, hat sie im Einzelfall den Nachweis zu bringen, dass seine
Missachtung aus Gründen der Friedenssicherung erforderlich und im Hinblick auf
die dem Betroffenen drohende Beeinträchtigung auch angemessen ist.1650 Dabei wird
insbesondere eine Rolle spielen, ob sich der Betroffene zwischenzeitlich in Haft
befindet und welche Strafe ihm Falle eine Verurteilung droht.
III.
Das Recht auf Freiheit der Person und Haftanordnungen durch die UNVerwaltung
Die Inhaftierung von Personen ist im Falle einer Krisengebietsverwaltung aber auch
aus anderen Gesichtspunkten von Interesse. So ist gerade in der Anfangszeit der UNVerwaltung im Kosovo die überlange Untersuchungshaft von Personen kritisiert
worden, die einer Straftat verdächtigt wurden.1651 Das anwendbare jugoslawische
Strafrecht erlaubte die Anordnung von Untersuchungshaft für eine Dauer von
maximal sechs Monaten.1652 Als diese in vielen Fällen Ende 1999 überschritten zu
werden drohte, verlängerte sie die UNMIK auf maximal ein Jahr.1653 Dies wurde
teilweise im Hinblick auf die Garantien des Art. 9 Abs. 3 IPbürgR und Art. 5 Abs. 3
EMRK als höchst bedenklich angesehen.1654 Noch heute wird die Handhabung der
1650
Zu den Kriterien für die Annahme eine Vorrangs der Friedenssicherung im Einzelfall siehe oben
4.Kp. D.III.3.
1651
Siehe die von OMIK, 2. Criminal Justice Review (2001), S. 19-23, genannten Beispielfälle. Zur
Praxis der mit ähnlichen Schwierigkeiten konfrontierten UNTAET in Osttimor siehe Othman, Nordic
JIL 72 (2003), 449 (467-470).
1652
Zu den Voraussetzungen der Verhängung von Untersuchungshaft gemäß dem nach
UNMIK/REG/1999/24 anwendbaren jugoslawischen Strafprozessrecht siehe OMIK, 1. Criminal
Justice Review (2000), S. 33 f.
1653
Sec. 1 UNMIK/REG/1999/26 vom 22.12.1999. Wenn es bis zum Ablauf dieser Zeit nicht zu einer
Anklageerhebung gekommen war, war der Tatverdächtige freizulassen (ebenda, Sec. 2).
OMIK, Unlawfulness of Regulation 1999/26 (2000); O’Neill, Kosovo (2002), S. 78 f. Nach der
hier vertretenen Auffassung ist der Sicherheitsrat nicht absolut an die Vorgaben des Art. 9 Abs. 3
IPbürgR gebunden. Hinsichtlich der überlangen Untersuchungshaft gilt insoweit das zur
Verfahrensdauer Gesagte entsprechend. Sie ist im Einzelfall zulässig, wenn in Folge des
Zusammenbruchs des Justizwesens oder aus anderen Gründen ein Notstand i.S.d. Art. 4 IPbürgR oder
1654
359
Untersuchungshaft durch die von UNMIK eingerichteten Justizorgane teilweise als
menschenrechtlich problematisch eingestuft.1655
Interessanter unter dem Gesichtspunkt der Grenzen der sicherheitsratlichen
Verwaltungskompetenz unter Kapitel VII der Charta sind aber jene Fälle, in denen
die
Befugnis
zur
Inhaftierung
von
Personen
unmittelbar
auf
die
Ermächtigungsresolution des Sicherheitsrates gestützt wurde. Da sie nicht durch die
an sich zuständigen Organe der Strafverfolgungsbehörden oder durch die Justiz
angeordnet wird, soll diese Art des Freiheitsentzuges im Folgenden unter Rückgriff
auf den im Englischen gebräuchlichen Ausdruck executive detention als Exekutivhaft
bezeichnet werden.
1.
Die Praxis von KFOR und UNMIK
Exekutivhaft wurde im Kosovo bislang sowohl vom Sondergesandten des
Generalsekretärs (SRSG) als auch vom Kommandeur der KFOR (COMKFOR)
angeordnet. In einer Reihe von Fällen ließen SRSG Kouchner und vor allem sein
Nachfolger Haekkerup Personen in Gewahrsam nehmen, obwohl die kosovarische
Justiz deren Freilassung aus Mangel an Beweisen angeordnet hatte. Im Falle eines
Bombenattentats im Februar 2001 geschah dies sogar, als ein ausschließlich mit
internationalen Richtern besetztes Gericht
die Freilassung aller
vier als
Tatverdächtige verhafteten Männer angeordnet hatte.1656 Gestützt wurde diese
Exekutivhaft stets mit den besonderen Befugnissen des SRSG aus der Resolution
1244 (1999) des Sicherheitsrates. Begründet wurde sie damit, dass eine Freilassung
des Betroffenen eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstelle und ohne Eingriff
des SRSG mit einer Manipulation des normalen gerichtlichen Verfahrens zu rechnen
eine weitere Inhaftierung zur Friedenssicherung i.S.d. Art. 1 Ziff. 1, Art. 39 SVN erforderlich und
angemessen ist.
1655
Kritisiert wird neben der Dauer der Untersuchungshaft insbesondere auch ihre vielfach
unzureichende Begründung. Siehe dazu ausf. OMIK, 6. Criminal Justice Review (2004), S. 14-33.
1656
Bei diesem sorgfältig geplanten Attentat auf einen mit Serben besetzten Bus kamen elf Menschen
ums Leben, zahlreiche weitere wurden verletzt. Von den vier Tatverdächtigen konnte einer unter
zweifelhaften Umständen fliehen, die drei anderen wurden im Januar 2002 auf Anordnung des Kosovo
Supreme Court entlassen. Zu diesem Fall siehe ausf. Qirezi, IWPR Balkans Crisis Rep. 308 (2002).
360
sei.1657
Der wohl bekannteste Fall ist der des Kosovo-Albaners Afram Zeqiri, eines
ehemaligen UÇK-Mitgliedes. Er wurde im Mai 2000 verhaftet, weil Zeugen ihn als
denjenigen indentifiziert hatten, der zuvor drei Serben, darunter ein vierjähriges
Kind, erschossen hatte. Trotzdem wurde er vom zuständigen kosovo-albanischen
Staatsanwalt wie bereits zuvor in drei anderen Fällen mangels Tatverdacht
entlassen.1658 Diese Entscheidung wurde von zuständigen Bezirksgericht und vom
kosovarischen Supreme Court bestätigt, zu deren Besetzung jeweils auch ein
internationaler
Richter
gehörte.1659
Daraufhin
ordnete
der
SRSG
„aus
Sicherheitsgründen“ seine weitere Inhaftierung an. Nachdem unter anderem aus
diesem Anlass die notwendigen gesetzlichen Voraussetzungen geschaffen wurden,
nahm im Jahre 2001 ein internationaler Staatsanwalt die Untersuchungen wieder
auf.1660 2002 wurde Zeqiri schließlich von einem aus internationalen Richtern
bestehenden Senat aus mangel an Beweisen freigesprochen.1661 Bereits im Februar
2002 hatte ein Gericht Zaqiri nach mehr als 22 Monaten in Haft gegen
Sicherheitsleistung entlassen.1662
Nach heftiger Kritik an dieser Praxis insbesondere durch die OSZE1663 und die von
1657
Die Voraussetzungen einer von ihm angeordneten Exekutivhaft legte der SRSG im Januar 2001 in
einem Brief an die OSZE Mission im Kosovo dar: „(...) First, the merits of the case must be strong
enough to warrant executive action. Second, it must be established that an unfavourable result, such
as a release of a suspect from detention, would pose a menace to public security. Finally, there must
be a basis to believe that allowing the case to proceed without executive intervention would result in
manipulation of the case by involved officials“ (zitiert nach OMIK, 2. Criminal Justice Review (2001),
S. 17, und OMIK, 3. Criminal Justice Review (2001), S. 33 Fn. 61, Hervorhebungen übernommen).
O’Neill, Kosovo (2002), S. 86. Zeqiri war bereits zuvor dreimal von KFOR-Einheiten
festgenommen worden, davon zweimal wegen Bedrohung von Serben (Hartmann, Int’l. Judges
(2003), S. 9).
1658
1659
O’Neill, Kosovo (2002), S. 86; OMIK, 2. Criminal Justice Review (2001), S. 17.
1660
OMIK, 2. Criminal Justice Review (2001), S. 17 f. Grundlage war UNMIK/REG/2001/2 vom
12.1.2001, der internationalen Staatsanwälten die Wiederaufnahme bereits rechtskräftig eingestellter
Ermittlungs- und Strafverfahren ermöglichte.
Hartmann, Int’l. Judges (2003), S. 9. (Hartmann war der internationale Staatsanwalt, welcher die
Ermittlungen gegen Zeqiri führte.)
1661
1662
Chesterman, You, The People (2004), S. 168.
1663
Siehe insbesondere OMIK, 2. Criminal Justice Review (2001), S. 16-18; und OMIK, 3. Criminal
361
UNMIK geschaffene Ombudsperson-Institution1664 kam es seit Dezember 2001 nicht
mehr zu weiteren Haftanordnungen durch den SRSG.1665 Dagegen beruft sich KFOR
weiterhin unmittelbar auf Resolution 1244 (1999), um Personen auch ohne
Haftbefehl oder gar entgegen richterlicher Anordnung festzuhalten, die aus Sicht der
KFOR eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit darstellen. Nach Auffassung der
KFOR ist sie nach § 7 der Sicherheitsratsresolution sowie nach dem mit Jugoslawien
abgeschlossenen Militärtechnischen Abkommen1666 befugt, alle Maßnahmen zu
ergreifen, um die ihr nach § 9 lit. c) und d) übertragene Aufgabe zu erfüllen, ein
„secure environment“ herzustellen sowie „public safety and order“ zu
garantieren.1667 Auslöser für die Praxis war unter anderem die Erfahrung, dass in der
Frühzeit der UN-Verwaltung Straftäter durch kosovarische Gerichte wieder
freigelassen wurden, obwohl sie von NATO-Soldaten bei erheblichen Straftaten
beobachtet worden waren.1668 Zu zahlreichen Festnahmen kam es insbesondere im
Zusammenhang mit den bewaffneten Auseinandersetzungen albanischer Extremisten
mit örtlichen Sicherheitskräften im süd-serbischen Presovo-Tal sowie im nördlichen
Mazedonien Anfang 2001.1669 Doch auch außerhalb akuter Krisensituationen wie den
Justice Review (2001), S. 32-36.
1664
Siehe insbesondere Ombudsperson Kosovo, 3. Special Report (2001).
1665
OMIK, 5. Criminal Justice Review (2003), S. 33. Auch im jüngsten Bericht OMIK, 6. Criminal
Justice Review (2004) von Dezember 2004 wird keine Anordnung von Exekutivhaft durch des SRSG
erwähnt.
1666
Military-technical Agreement between the international security force (KFOR) and the Governments of the Federal Republic of Yugoslavia and the Republic of Serbia vom 9.6.1999, abgedr. als
Annex zu S/1999/682 vom 15.6.1999.
1667
Siehe die in OMIK, 3. Criminal Justice Review (2001), S. 37, wiedergegebene Argumentation der
KFOR. Dies bestätigend Guillaume, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the Intl. Community (2002),
S. 262 f., der als juristischer Mitarbeiter des frz. Verteidigungsministeriums in weiten Teilen die
offizielle Linie der KFOR vertritt.
O’Neill, Kosovo (2002), S. 85 f. Lt. Hartmann, Int’l. Judges (2003), S. 7, wurden Personen, die
während der bewaffneten Unruhen in Mitrovica im Februar 2000 auf französische KFOR-Soldaten
geschossen hatten, am nächsten Tag von kosovarischen Richtern wieder freigelassen. Zu den
Schwierigkeiten mit der Unparteilichkeit der Gerichte siehe bereits oben 4.Kp. E.II.3.b. In geringerem
Maße hatten auch die INTERFET-Truppen in Osttimor solche Probleme (siehe Kelly (u.a.), IRRC 83
(2001), 101 [131]).
1668
1669
Zu dieser Zeit waren bis zu 200 Personen von der KFOR festgesetzt worden. Auch nach den
Unruhen im März 2004 stieg die Zahl der von KFOR festgesetzten Personen wieder an. Siehe OMIK,
5. Criminal Justice Review (2003), S. 33; und CoE-Venice Commission, Human Rights in Kosovo
(2004), §§ 52 f.
362
Unruhen im März 2004 sind diese so genannten „COMKFOR-Holds“ gängige
Praxis, auch wenn ihre Zahl seit 2001 deutlich abgenommen hat.1670 Begründung war
teilweise auch, dass die Festnahmen aufgrund geheimdienstlicher Erkenntnisse
erfolgten, deren Geheimhaltung unter allen Umständen gewahrt werden müsse.1671
Insgesamt wurden bis April 2003 gut 3.500 Personen vorübergehend im KFORGefängnis im US-amerikanischen Camp Bondsteel festgehalten.1672
2.
Die völkerrechtlichen Vorgaben
Die Anordnung von Exekutivhaft durch eine UN-Gebietsverwaltung oder vom
Sicherheitsrat bevollmächtigte Dritte ist völkerrechtlich insbesondere an Art. 9
IPbürgR zu messen, der als autoritative Konkretisierung des Art. 1 Ziff. 3 SVN auch
vom Sicherheitsrat gemäß Art. 24 Abs. 2 Satz 1 SVN zu beachten ist.1673 Art. 9
IPbürgR enthält zwei relevante Gewährleistungen – zum einen das Verbot
willkürlicher Verhaftung, zum anderen das Recht auf unverzügliche richterliche
Haftprüfung. Nach Art. 9 Abs. 1 IPbürgR darf niemand ohne gesetzliche Grundlage
oder willkürlich seiner persönlichen Freiheit beraubt werden.1674 Was eine
hinreichende gesetzliche Grundlage ist, richtet sich maßgeblich nach den
1670
OMIK, 5. Criminal Justice Review (2003), S. 33 f. Lt. CoE-Venice Commission, Human Rights in
Kosovo (2004), § 53, befand sich im Oktober 2004 indes niemand mehr in KFOR-Exekutivhaft,
nachdem die Zahlen im Zuge der Unruhen im April 2004 noch einmal angestiegen waren.
1671
OMIK, 4. Criminal Justice Review (2002), S. 48 f., mit weiteren Argumenten der KFOR. Auch
der SRSG begründete die Inhaftierung der als Bombenattentäter vom Februar 2001 verdächtigten
Personen mit geheimdienstlichen Erkenntnissen, die nicht veröffentlicht werden dürften (kritisch
OMIK, ebenda, S. 45 f.).
1672
OMIK, 5. Criminal Justice Review (2003), S. 34.
1673
Gleiches gilt zwar auch für die Art. 8 und 9 AEMR, die jedoch wesentlich allgemeiner gehalten
sind als die detaillierte Regelung des Art. 9 IPbürgR und daher im Folgenden vernachlässigt werden
können. Die OSZE Mission im Kosovo und der Ombudsmann im Kosovo greifen wesentlich auch auf
Art. 5 EMRK und die zugehörige Rspr. des EGMR zurück. Soweit beide Normen deckungsgleich
sind, ist dies unproblematisch. Allerdings sind auf eine Organisation mit universeller Mitgliedschaft
grundsätzlich primär jene völkerrechtlichen Normen anzuwenden, die ebenfalls weltweite Geltung
besitzen (so zu Recht Hobe/Griebel, in: FS Ress (2005), S. 146). Eine unmittelbare Bindung der
UNMIK an die EMRK lässt sich letztlich nur im Wege der Selbstverpflichtung begründen. Für
UNMIK folgt eine solche bis zu einem gewissen Grad aus Sec. 1.3 UNMIK/REG/1999/24 vom
12.12.1999 und aus Sec. 3.2 des sog. constitutional framework (UNMIK/REG/2001/9 vom
15.5.2001), das allerdings nur die kosovarischen Selbstverwaltungsorgane zur Beachtung der EMRK
verpflichtet.
Die Begriffe Festnahme und Haft („arrest or detention“) sind weit zu verstehen und umfassen
jede Form der Freiheitsentziehung, also auch die Zwangseinweisung in ein Krankenhaus oder
1674
363
Anforderungen der betroffenen innerstaatlichen Rechtsordnung.1675 Zumindest aber
ist eine abstrakt-generelle Regelung zu verlangen, die vor der Ingewahrsamnahme in
Kraft trat,1676 und von der der Einzelne im Vorfeld Kenntnis nehmen konnte.1677 Im
Falle einer UN-Verwaltung würde zumindest eine in die Landessprachen übersetzte
und amtlich veröffentlichte Verordnung (regulation) diesen Anforderungen
genügen.1678 Willkürlich ist eine Festnahme auch dann, wenn sie zwar gesetzmäßig
erfolgte, aber in Anbetracht der Umstände des Falles nicht erforderlich oder
unverhältnismäßig ist.1679
Prozessual flankiert wird dieses Verbot durch das Recht auf unverzügliche
richterliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Inhaftierung. Art. 9 Abs. 3 Satz 1
IPbürgR enthält eine Sonderregel für Personen, die zum Zwecke der Strafverfolgung
festgesetzt werden. Sie sind umgehend („promptly“ beziehungsweise „dans le plus
court delai“) einem Richter vorzuführen, wobei umgehend nach Ansicht des
Menschenrechtsausschuss „binnen weniger Tage“ bedeutet.1680 Art. 9 Abs. 4
IPbürgR gibt jedem Inhaftierten, unabhängig von Haftgrund und gesetzlicher
Grundlage der Haft, das Recht, die unverzügliche („without delay“ beziehungsweise
„sans delai“) Überprüfung seiner Festsetzung durch ein Gericht zu beantragen.
Einerseits muss dem Betroffenen unverzüglich die Gelegenheit gegeben werden,
einen solchen Antrag zu stellen, andererseits muss das Gericht auf diesen Antrag hin
auch unverzüglich entscheiden.1681 Ab welcher Frist ein Verstoß gegen Art. 9 Abs. 4
Pflegeheim (Nowak, CCPR Commentary (1993), Art. 9 Rn. 21).
1675
Schilling, Menschenrechtsschutz (2004), Rn. 43.
1676
Dinstein, in: Henkin (Hrsg.), Bill of Rights (1981), S. 129 m.w.N. Weitergehend Nowak, CCPR
Commentary (1993), Rn. 27, der ein formales Parlamentsgesetz verlangt.
1677
Zu diesem insbesondere vom EGRM aufgestellten Publikationserfordernis siehe Schilling,
Menschenrechtsschutz (2004), Rn.135 u. 44 f. m.w.N.
1678
Siehe z.B. UNMIK/REG/1999/26 vom 22.12.1999 zur Verlängerung der Untersuchungshaft.
1679
HRC, van Alphen v. The Netherlands (1990), § 5.8.
1680
HRC, General Comment No. 8 (1982), § 2. Nach HRC, Borisenko v. Hungary (Entscheidung v.
14.10.2002), § 7.4, verstößt eine Frist von drei Tagen bereits gegen Art. 9 Abs. 3 Satz 1 IPbürgR,
wenn sie nicht sachlich begründet werden kann. EGMR, Brogan and others v. United Kingdom
(1988), § 62, hielt konkret in dem betroffenen Verfahren Großbritanniens gegen einen mutmaßlichen
nordirischen Terroristen einen Zeitraum von etwas über vier Tagen für zu lang.
1681
So der EGMR in st. Rspr. zum weitgehend deckungsgleichen Art. 5 Abs. 4 EMRK. Siehe z.B.
364
IPbürgR vorliegt, hängt insbesondere davon ab, ob die Inhaftierung auf einer
richterlichen Anordnung beruht, sie also bereits einer unabhängigen Kontrolle
unterzogen wurde oder nicht. Ersterenfalls kann auch eine Entscheidung binnen zwei
Wochen noch fristgemäß sein.1682 Liegt der Festsetzung wie im Falle der
Exekutivhaft lediglich ein Beschluss der Verwaltung zugrunde, entspricht die Frist
der des Art. 9 Abs. 3 Satz 1 IPbürgR.1683 Sowohl im Falle des Art. 9 Abs. 3 Satz 1
IPbürgR wie in dem des Abs. 4 muss der mit der Haftprüfung befasste Spruchkörper
unabhängig von der Exekutive beziehungsweise der Anklagebehörde sein und den
Fall objektiv und unvoreingenommen würdigen können.1684
Bevor untersucht werden kann, inwieweit die geschilderte Praxis exekutiver
Inhaftierungen mit anwendbarem Völkerrecht vereinbart werden kann, ist zunächst
der völkerrechtliche Status des Verbots willkürlicher Verhaftungen und des Rechts
auf unverzügliche Haftprüfung zu klären. Er ist nach der hier vertretenen Auffassung
einer abgestuften Bindung des Sicherheitsrates an Menschenrechte für den Grad der
Verpflichtung einer UN-Zwangsverwaltung entscheidend.1685 Beide hier diskutierten
Menschenrechte sind in allen umfassenden Menschenrechtsinstrumenten enthalten
und auch im bewaffneten Konflikt zu beachten.1686 Ferner haben die genannten
Menschenrechte mittlerweile gewohnheitsrechtliche Geltung erlangt.1687 Obwohl sie
EGMR, Rehbock v. Slovenia (2000), § 84; ferner Schilling, Menschenrechtsschutz (2004), Rn. 156.
1682
Nowak, CCPR Commentary (1993), Art. 9 Rn. 45 m.w.N.
Ähnlich EGMR, Iğdeli v. Turkey (2002), § 34, zum deckungsgleichen Art. 5 Abs. 4 EMRK, ferner
Schilling, Menschenrechtsschutz (2004), Rn. 156.
1683
1684
HRC, Kulomin v. Hungary (1996), § 11.3, der einen Staatsanwalt nicht als unabhängige
Amtsperson i.S.d. Art. 9 Abs. 3 Satz 1 IPbürgR ansieht; ferner Grote, in: Weissbrodt/Wolfrum, Fair
Trial (1997), S. 707. Weitere Nachweise zur diesbzgl. Rspr. des EGMR bei Schilling,
Menschenrechtsschutz (2004), Rn. 154.
1685
Zur Herleitung der absoluten Verpflichtung des Sicherheitsrates, die zwingenden Grundwerte der
internationalen Gemeinschaft zu achten, und die ihm unter Kapitel VII der Charta eingeräumte
Möglichkeit, in engen Grenzen zum Zwecke der Friedenssicherung von nicht zwingenden
Menschenrechten abzuweichen, siehe ausf. 4.Kp. A.-D.
1686
Neben den bereits erwähnten Art. 9 IPbürgR werden sie auch von Art. 8 und 9 AEMR, Art. 5 Abs.
1 u. 3 EMRK, Art. 7 AmMRK, Art. 6 der AfrCHPR gewährleistet. Zu ihrer Gewährleistung in den
vier Genfer Konventionen von 1949 siehe Paust, in: Heere (Hrsg.), Terrorism and the Military (2003),
S. 185-187.
American Law Inst., Restatement III (1987), § 702 Reporters’ note 2; Ledure, RBDI 27 (1994),
632 (660 f.); Paust, in: Heere (Hrsg.), Terrorism and the Military (2003), S. 182 u. 184 (mit
1687
365
nach den einschlägigen Menschenrechtskonventionen nicht zu den notstandsfesten
Rechten gehören, zählt sie der Menschenrechtsausschuss des IPbürgR zu den
zwingenden Rechten.1688 Begründet wird dies mit einem Verweis auf das humanitäre
Völkerrecht, das ebenfalls die Beachtung dieser Rechte vorschreibe. Wenn aber das
Verbot willkürlicher Verhaftung und das Recht auf unverzügliche Haftprüfung auch
in
einem
bewaffneten
Konflikt
als
dem
schlimmsten
aller
denkbaren
Ausnahmezustände zu beachten sei, müsste dies erst recht in allen übrigen
Notstandssituationen gelten.1689 Weiteres Argument ist der Charakter des Rechts auf
unverzügliche Haftprüfung als prozedurale Absicherung von Menschenrechten wie
dem Folterverbot, die unzweifelhaft zwingenden Charakters sind.1690
Dies erscheint jedoch angesichts der expliziten Derogationsmöglichkeiten in den
einschlägigen Menschenrechtsverträgen als zu weitgehend.1691 Zum einen ist auch
das humanitäre Völkerrecht nicht in allen Teilen zwingenden Charakters.1692 Der als
zwingend anerkannte gemeinsame Art. 3 der Genfer Konventionen enthält indes kein
explizites Recht auf unverzügliche Haftprüfung. Zum anderen fehlt es an klaren
Nachweisen zu einschlägiger US-amerikanischer Rechtsprechung); ferner Kadelbach, Zwingendes
Völkerrecht (1992), S. 301 (für das Verbot willkürlicher Verhaftung).
1688
HRC, General Comment No. 24 (1994), § 8; HRC, General Comment No. 29 (2001), § 16 (mit
kritischer Anmerkung Olivier, Leiden JIL 17 (2004), 405-419); ferner auch IACHR, Coard et al. v.
United States (1999), § 55. Zustimmend OMIK, 3. Criminal Justice Review (2001), S. 34. Eine
Derogation erlauben dagegen grundsätzlich Art. 4 Abs. 1 IPbürg, Art. 15 Abs. 1 EMRK und Art. 27
Abs. 1 AmMRK. AEMR und AfrCHPR verfügen nicht über eine Notstandsklausel.
1689
HRC, General Comment No. 29 (2001), § 16. Relevante Normen des humanitären Völkerrechts
sind insbesondere Art. 5 GK III; Art. 43 Abs. 1 u. 78 Abs. 2 GK IV. Dass nicht ohne Weiteres von
den Gewährleistungen des humanitären Völkerrechts auf einen unter allen Umständen zu beachtenden
menschenrechtlichen Mindeststandard geschlossen werden darf, zeigt Olivier, Leiden JIL 17 (2004),
405 (407 f. u. 413).
1690
HRC, General Comment No. 29 (2001), § 15. In diese Richtung auch EGMR, Aksoy v. Turkey
(1996), § 76, und IACHR, Coard et al. v. United States (1999), § 55. Zum Folterverbot als zwingende
Norm des Völkerrechts siehe ICTY, Prosecutor v. Furundžija (1998), § 153; House of Lords, Regina
v. Bartle and the Commissioner of Police for the Metropolis and others ex parte Pinochet, Urteil vom
24.3.1999, abgedr. in ILM 38 (1999), 581 (589, 626 u. 649); Frowein/Kühner, ZaöRV 43 (1983), 537
(543); Kooijmans, UN Torture Report (1986), § 3; American Law Inst., Restatement III (1987), § 702
(d) und Kommentare f.) und j.); Kühner, Torture, EPIL IV (2000), S. 870; Cassese, JICJ 2 (2004), 872
(873); Gaeta, JICJ 2 (2004), 785 (787). Ausführlich zur Auslegung des Folterbegriffes und zum
Umfang seiner zwingenden Geltung auch Hannikainen, Peremptory Norms (1988), S. 504-513. Zu
den rechtlichen Folgen des ius cogens-Status siehe de Wet, EJIL 15 (2004), 97-121.
1691
Zu den Derogationsklauseln siehe die Nachweise oben in Fn. 1688.
1692
Siehe dazu bereits oben 4.Kp. E.I.3 m.w.N.
366
Anzeichen
für
die
von
Art.
53
WVK
geforderte
Überzeugung
der
Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit. So genügt die Staatenpraxis vielfach noch
nicht einmal in Friedenszeiten den Anforderungen von Art. 9 IPbürgR.1693 Im Zuge
der Terrorbekämpfung nach dem 11. September 2001 haben eine Reihe von Staaten
das Recht auf richterliche Haftprüfung teilweise erheblich eingeschränkt.1694 Auch
der EGMR hat anerkannt, dass im Zuge der Terrorbekämpfung gewissen
Einschränkungen des Rechts auf unverzügliche Haftprüfung zulässig sein können.1695
Nach dem gegenwärtigen Stand des Völkerrechts kann daher nicht davon
ausgegangen werden, dass das Verbot willkürlicher Freiheitsentziehung und das
Recht auf eine unverzügliche Haftprüfung zwingenden Charakters sind.1696 Beide
Menschenrechte sind aber in Gestalt des Art. 9 IPbürgR für den Sicherheitsrat als
autoritative Konkretisierung seiner menschenrechtlichen Verpflichtungen aus Art. 24
Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Ziff. 3 SVN verbindlich. Aufgrund des in Art.
1 SVN niedergelegten Vorrangs der Friedenssicherung ist ihm im Einzelfall in engen
Grenzen ein Abweichen erlaubt. Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden geprüft
werden, inwieweit die im Kosovo praktizierte Anordnung von Exekutivhaft
völkerrechtskonform ist.
1693
Grote, in: Weissbrodt/Wolfrum, Fair Trial (1997), S. 724.
1694
So hat die britische Regierung den Europarat 2001 über das Bestehen eines öffentlichen Notstands
i.S.d. Art. 15 Abs. 1 EMRK unterrichtet und deshalb die Rechte aus Art. 5 Abs. 1 EMRK
eingeschränkt. (abgedr. in HRLJ 22 (2001), 465 f.). Das House of Lords rügte dies mit dem Argument, ein Notstand läge tatsächlich nicht vor (House of Lords, A (FC) and other (FC) v. Secretary of
State for the Home Department, [2004] UKHL 56 vom 16.12.2004, abrufbar unter
<www.publications.parliament.uk/pa/ld200405/ldjudgmt/jd041216/a&others.pdf>. Zur spanischen
Anti-Terror-Gesetzgebung siehe den kritischen Bericht von Human Rights Watch, Setting an Example? (2005), zur amerikanischen Praxis im Gefangenenlager auf dem Militärstützpunkt Guantanamo
Bay auf Kuba siehe beispielsweise Seidel, AVR 41 (2003), 449 (471-474); Amann, Columbia J.T.L.
42 (2004), 263-348, und Tams, AVR 42 (2004), 445-466.
1695
EGMR, Brogan and others v. United Kingdom (1988), § 61; EGMR, Brannigan and McBride v.
The United Kingdom (1993), § 60. In diese Richtung auch EGMR, Öcalan v. Turkey (2003), § 106,
der allerdings betont, dass dies keinen Freibrief für die betroffenen Staaten bedeute.
1696
So auch Hannikainen, Peremptory Norms (1988), S. 440; und Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht
(1992), S. 301.
367
3.
Die Vereinbarkeit von UN-Exekutivhaft mit dem Verbot willkürlicher
Freiheitsentziehung (Art. 9 Abs. 1 IPbürgR)
Die Anordnung von Exekutivhaft unter unmittelbarem Rückgriff auf die Befugnisse
aus der Resolution 1244 (1999) ist sowohl hinsichtlich des Rechts auf unverzügliche
Haftprüfung (d.) als auch hinsichtlich des Verbots willkürlicher Freiheitsentziehung
bedenklich. Zwar ist die Annahme einer grundsätzlichen Befugnis von SRSG und
KFOR zur Inhaftierung von Personen aus Gründen der öffentlichen Sicherheit vom
Wortlaut der Resolution gedeckt. Denn Resolution 1244 (1999) betraut sowohl die
„international security presence“ (KFOR) als auch die „international civil
presence“ (UNMIK) umfassend mit der Wiederherstellung und Aufrechterhaltung
der öffentlichen Sicherheit und Ordnung („public“ respektive „civil law and order“)
auf dem Gebiet des Kosovo.1697 Auch ist Art. 9 Abs. 1 IPbürgR kein generelles
Verbot der Exekutivhaft aus Sicherheitsgründen zu entnehmen. Da nach der
Spruchpraxis des Menschenrechtsausschusses eine Freiheitsentziehung aber nur dann
nicht willkürlich ist, wenn sie nach den Umstände des Einzelfalles erforderlich und
angemessen ist,1698 sind ihr in der Praxis jedoch enge Grenzen gesetzt.
Ferner wird die Resolution 1244 (1999) allein nicht dem von Art. 9 Abs. IPbürgR
postulierten Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage der Haft gerecht. Sie enthält –
wie auch die Resolution 1272 (1999) zur UNTAET – keinerlei Hinweise auf ein
Festnahmerecht des SRSG, geschweige denn entsprechende Verfahrensvorschriften.
Auch die Feststellung der UNMIK-Verordnung 1999/1, demzufolge der SRSG alle
legislativen, exekutiven und judikativen Befugnisse auf dem Gebiet des Kosovo
1697
Siehe § 9 lit. c) und d) sowie § 11 lit. i) S/RES/1244 (1999) vom 10.6.1999. Allerdings ließe sich
argumentieren, dass aus dem Wortlaut von § 9 lit. d) S/RES/1244 (1999) – „ensuring public law and
order until the international civil presence can take responsibility for this task“ – folge, dass KFOR
nur bis zur Einrichtung eines funktionierenden Polizei- und Justizwesens berechtigt gewesen sei,
polizeilich tätig zu werden (in diese Richtung OMIK, 5. Criminal Justice Review (2003), S. 33). Doch
auch die von KFOR vertretene Auffassung, dass diese Befugnis wieder auflebe, soweit die zivilen
Behörden im Einzelfall nicht bereit oder in der Lage wären, diese Aufgabe zu erfüllen (vgl. Sec. 4.a.
der KFOR Directive 42), lässt sich mit dem Wortlaut vereinbaren (i.E. auch CoE-Venice Commission,
Human Rights in Kosovo (2004), § 125). Siehe zum Ganzen OMIK, 4. Criminal Justice Review
(2002), S. 47. Guillaume, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the Intl. Community (2002), S. 260-263,
stützt die Befugnis der KFOR zur Polizeiarbeit ferner auf das Militärtechnische Abkommen der
KFOR mit Jugoslawien vom 9.6.1999. Expliziter wird § 4 S/RES/1272 (1999), die UNTAET in
Osttimor berechtigte, „all necessary means“ zur Erfüllung ihrer Aufgaben anzuwenden.
1698
Siehe oben Fn. 1679 und zugehörigen Text.
368
ausübt, reicht nicht aus. Die genannten Rechtsakte sind so allgemein gehalten, dass
für den Einzelnen in keiner Weise erkennbar ist, dass sie zu seiner Inhaftierung
berechtigen.1699
Auch ist kaum denkbar, dass ein Verzicht auf das Erfordernis einer gesetzlichen
Grundlage aus Notstandsgesichtspunkten (Art. 4 Abs. 1 IPbürgR) oder zur
Friedenssicherung erforderlich sein könnte. Gerade weil der Leiter einer
Zwangsverwaltung alle Staatsgewalten in seinen Händen hält,1700 ist er in der Lage,
schnell und ohne langwieriges parlamentarisches Verfahren die notwendigen
gesetzlichen Voraussetzungen zu schaffen. Allenfalls in der Anfangszeit der UNVerwaltung im Kosovo ist die Erforderlichkeit einer Inhaftierung ohne gesetzliche
Grundlage denkbar, da der UN zu diesem Zeitpunkt noch die Erfahrung mit der
Verwaltung von Krisengebieten fehlte, und man die praktische Notwendigkeit einer
gesetzlichen Regelung somit erst erkannte, als es für den konkreten Fall bereits zu
spät war.
In allen nachfolgenden Fällen und bei einer Verlängerung der Haft war UNMIK als
Unterorgan des Sicherheitsrates aus Art. 24 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1
Ziff. 3 SVN gemäß Art. 9 Abs. 1 IPbürgR verpflichtet, nur auf hinreichender
gesetzlicher Grundlage Exekutivverhaftungen vorzunehmen. Da bis heute eine
entsprechende Verordnung fehlt, verstießen die nachfolgenden Anordnungen gegen
das Verbot willkürlicher Freiheitsentziehung.1701 Die KFOR hat mittlerweile mit
KFOR Directive 42 eine rechtliche Grundlage für die von ihr durchgeführten
Festnahmen geschaffen.1702
1699
Zur Vorhersehbarkeit als Kriterium für eine hinreichende gesetzliche Grundlage i.S.d. Art. 9 Abs.
1 IPbürgR siehe Schilling, Menschenrechtsschutz (2004), Rn.135 u. 44 f. m.w.N.
1700
Siehe Sec. 1.1 UNMIK/REG/1999/1 vom 25.7.1999 für UNMIK, ferner §§ 1 u. 6 S/RES/1272
(1999) vom 25.10.1999.
1701
UNMIK/REG/2001/18 on the establishment of a detention review commission for extra-judicial
detentions based on executive orders vom 25.8.2001 schafft lediglich die rechtlichen Voraussetzung
für eine Überprüfung der Exekutivhaft, nicht aber eine Rechtsgrundlage für die Haftanordnung selber
(so zu Recht OMIK, 3. Criminal Justice Review (2001), S. 33). Sec. 2 UNMIK/REG/1999/2 vom
12.8.1999 erlaubt lediglich eine Sicherungshaft von bis zu 12 Stunden, kann somit nicht
Rechtsgrundlage für darüber hinausgehende Freiheitsentziehungen sein.
1702
Diese sog. COMKFOR Detention Directive 42 vom 9.10.2001, geändert am 12.7.2004, löste eine
369
Für weitere UN-Verwaltungsmissionen erscheint es daher im Hinblick auf das
Verbot willkürlicher Verhaftungen sinnvoll, auf Exekutivhaft entweder generell zu
verzichten, oder gleich zu Beginn eine entsprechende Verordnung zu erlassen. Dabei
kann auch auf das Recht der kriegerischen Besetzung zurückgegriffen werden,
welches in Art. 78 GK IV das Recht der Besatzungsmacht enthält, Personen aus
Sicherheitsgründen zu internieren, und in seinem Absatz 2 sowie in den folgenden
Artikeln detailliert die Behandlung dieser Internierten regelt.
4.
Die Vereinbarkeit von UN-Exekutivhaft mit dem Recht auf unverzügliche
Haftprüfung (Art. 9 Abs. 3 und 4 IPbürgR)
Sofern nicht im Einzelfall der Vorrang der Friedenssicherung nach Art. 1 SVN greift,
ist eine UN-Zwangsverwaltung grundsätzlich gehalten, Festnahmen binnen weniger
Tage durch Richter oder entsprechend ermächtigte unabhängige Amtspersonen
überprüfen zu lassen. Dies gilt unabhängig davon, ob die Exekutivhaft zum Zwecke
der Strafverfolgung (Art. 9 Abs. 3 IPbürgR) oder allein zu anderen Zwecken erfolgt,
insbesondere zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit. Ein Unterschied
besteht nur insoweit, als der Untersuchungshäftling nach Art. 9 Abs. 3 IPbürgR von
Amts wegen einem Richter vorzuführen ist, während bei einer Inhaftierung aus
sonstigen Gründen dem Betroffenen lediglich unverzüglich die Gelegenheit gegeben
werden muss, eine gerichtliche Überprüfung zu beantragen.
Hinsichtlich der auf seine Anweisung hin in Haft genommenen Personen hat der
SRSG mit der Verordnung 2001/18 die Möglichkeit geschaffen, die Inhaftierung
durch ein so genanntes Detention Review Panel überprüfen zu lassen.1703 Dieses vom
SRSG ernannte Gremium sollte auf der Grundlage international anerkannter
Menschenrechtsstandards die Inhaftierungen überprüfen und sie gegebenenfalls
verlängern oder aufheben.1704 Zum Zwecke des Schutzes geheimdienstlicher Quellen
ältere interne Anordnung (FRAGO 997) ab. Zu dieser Militärverordnung siehe OMIK, 4. Criminal
Justice Review (2002), S. 46; ferner CoE-Venice Commission, Human Rights in Kosovo (2004), §
129.
1703
UNMIK/REG/2001/18 vom 25.8.2001.
1704
Zu diesem Zweck zählte Sec. 6.1 UNMIK/REG/2001/18 eine Reihe von Haftgründen auf, zu
denen neben Flucht- und Verdunkelungsgefahr auch die Gefahr künftiger Straftaten zählte. Die
Haftgründe entsprechen weitgehend denen der deutschen Strafprozessordnung (vgl. §§ 112, 112a
370
oder bedrohter Zeugen durfte das Gremium auch unter Ausschluss des Betroffenen
tagen.1705 Da das Detention Review Panel erst etliche Monate geschaffen wurde,
nachdem die betroffenen Personen im Mai 2000 respektive im Februar 2001 auf
Anordnung des SRSG in Haft genommen worden waren, wurde es schon aus diesem
Grund den Anforderungen des Art. 9 Abs. 3 und 4 IPbürgR nicht gerecht. Schwierig
erscheint auch der Umstand, dass alle seine Mitglieder vom SRSG selbst ernannt
wurden, mithin von demjenigen Organ, dass die Inhaftierungen angeordnet hatte. Es
wurde daher argumentiert, dass das panel nicht hinreichend unabhängig sei.1706 Da
aber alle Richter im Kosovo vom SRSG als dem Inhaber der Verwaltungshoheit
ernannt werden,1707 und die Verordnung 2001/18 keinerlei Weisungsbefugnis des
SRSG gegenüber dem Gremium enthielt, erscheint diese Annahme nicht
zwingend.1708 In der Praxis reiste das Gremium für einen Tag zur Verhandlung ins
Kosovo, befand die angeordnete Exekutivhaft im Hinblick auf die ihm vorgelegten
Informationen für zulässig und reiste wieder ab.1709 Als die Verordnung 2001/18
nach Ablauf ihrer drei-monatigen Gültigkeit nicht mehr verlängert wurde, ordnete
der Kosovo Supreme Court als oberstes Gericht des UNMIK-verwalteten Kosovos
im Januar 2002 die Freilassung der verbliebenen Exekutivhäftlinge an.1710
Nach der von der KFOR im Herbst 2001 erlassenen KFOR Directive 42 dürfen
StPO). Sec. 6 UNMIK/REG/2001/18 fehlt aber das strenge Verhältnismäßigkeitserfordernis der
deutschen Regelung. Eine Bindung des Detention Review Panel an Menschenrechte bestand insofern,
als seine drei Mitglieder – internationale Persönlichkeiten, von denen zwei Richter sein mussten – sich
in ihrem Amtseid zur Beachtung des „highest level of internationally recognised human rights
standards“ verpflichteten (ebenda, Sec. 3).
1705
Sec. 5 UNMIK/REG/2001/18.
1706
OMIK, 3. Criminal Justice Review (2001), S. 34; Ombudsperson Kosovo, 4. Special Report
(2001), § 17.
1707
Siehe Sec. 7 UNMIK/REG/2000/57 vom 6.10.2000; Sec. 1.1 UNMIK/REG/2001/2 vom
12.1.2001, sowie Sec. 9.4.8 UNMIK/REG/2001/9 vom 15.5.2001. Nach Sec. 6.2
UNMIK/REG/2000/38 vom 30.6.2000 wird auch die Ombudsperson vom SRSG ernannt.
1708
Auch ist die Abhängigkeit eines auswärtigen Richters, der quasi nur nebenberuflich auch für das
Detention Review Panel tätig ist, gegenüber dem SRSG als eher gering einzuschätzen. Dennoch wäre
es sicher sinnvoller gewesen, die Auswahl der Panel-Mitglieder einem unabhängigen Dritten zu
überlassen.
1709
OMIK, 4. Criminal Justice Review (2002), S. 45 f.
1710
Siehe Qirezi, IWPR Balkans Crisis Rep. 308 (2002). Wer das Bombenattentat auf den mit Serben
besetzten Bus im Februar 2001 begangen hatte, konnte bis heute nicht geklärt werden.
371
Personen auf Anordnung des Kommandeurs der KFOR (COMKFOR) oder der
Kommandeure der vier regionalen Multinationalen Brigaden für bis zu drei Tage (72
Stunden) in Haft genommen werden.1711 Diese Frist entspricht der nach geltendem
Recht zulässigen Dauer des Polizeigewahrsams im Kosovo.1712 Den Betroffenen ist
der Grund ihrer Festnahme mitzuteilen. Ferner dürfen sie auf eigene Kosten eine
Anwalt konsultieren.1713 Inhaftierungen über 72 Stunden hinaus sind nur auf Antrag
des Rechtsberaters des KFOR-Kommandeurs zulässig, so dass auf diese Weise eine
rechtliche Prüfung durch einen allerdings weisungsgebundenen Militärjuristen
erfolgt.1714 Diese Form der Haftprüfung entspricht indes noch nicht einmal den
Vorgaben des humanitären Völkerrechts für die Inhaftierung von Zivilpersonen in
Kriegszeiten, da Art. 43 Abs. 1 GK IV die kollektive Entscheidung eines Gremiums
verlangt, dass zudem über eine hinreichende Unabhängigkeit verfügt.1715 Daher ist
für eine Vereinbarkeit mit Art. 9 IPbürgR wenigstens zu verlangen, dass die
Inhaftierungen durch ein weisungsungebundenes Gremium von Militärrichtern
überprüft werden.1716 KFOR Directive 42 verstößt daher gegen Art. 9 Abs. 3 und 4
IPbürgR, an die auch die KFOR-Einheiten gebunden sind, soweit sie ihre Befugnisse
aus der Resolution 1244 (1999) des Sicherheitsrates ableiten.1717
1711
OMIK, 4. Criminal Justice Review (2002), S. 50.
1712
OMIK, 4. Criminal Justice Review (2002), S. 50 f. Siehe die Darstellung der rechtlichen Regelung
nach dem bis April 2004 anwendbaren jugoslawischen Recht bei OMIK, 2. Criminal Justice Review
(2001), S. 19 f., ferner Art. 212 Abs. 4 des nunmehr geltenden Provisional Criminal Procedure Code
of Kosovo (UNMIK/REG/2003/26 vom 6.7.2003). Auch in Osttimor mussten Inhaftierte spätestens
nach 72 Stunden einem Haftrichter vorgeführt werden (Sec. 20.1 UNTAET/REG/2000/30 vom
25.9.2000, ferner Othman, Nordic JIL 72 (2003), 449 [468 f.]).
1713
Sec. 7.1 KFOR Directive 42 (lt. OMIK, 5. Criminal Justice Review (2003), S. 34).
1714
CoE-Venice Commission, Human Rights in Kosovo (2004), § 129.
1715
Pictet, IV. Geneva Convention (1958), S. 260. Anders Guillaume, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo
and the Intl. Community (2002), S. 275 Fn. 26, der davon ausgeht, dass das Vorgehen der KFOR den
Vorgaben der GK IV weitgehend entspricht.
1716
CoE-Venice Commission, Human Rights in Kosovo (2004), § 130, schlägt als Interimslösung ein
mit dem COMKFOR-Rechtsberater sowie zwei unabhängigen Juristen, vorzugsweise Richtern,
besetztes Advisory Board vor. Siehe auch die von der Parlamentarischen Versammlung des
Europarates erhobenen Forderungen in § 6 CoE-PA-Res. 1417 (2005) on the Protection of Human
Rights
in
Kosovo
vom
25.1.2005,
abrufbar
unter
<http://assembly.coe.int/Documents/AdoptedText/ta05/ ERES1417.htm >.
1717
KFOR leitet ihre Befugnisse zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit aber auch aus dem
am 9.6.1999 mit der Bundesrepublik Jugoslawien und der Republik Serbien abgeschlossenen
372
Nur soweit Inhaftierte tatsächlich die Möglichkeit hätten, binnen 72 Stunden die
Überprüfung ihrer Inhaftierung durch eine unabhängige, zu ihrer Freilassung befugte
Stelle in einem ordnungsgemäßen, den Anforderungen des Art. 14 IPbürgR gerecht
werdenden Verfahren zu veranlassen, wäre die Anordnung von Exekutivhaft durch
SRSG und KFOR mit den Vorgaben des Art. 9 Abs. 3 und 4 IPbürgR vereinbar. Eine
geringfügige Verlängerung der Frist wäre ebenfalls noch zulässig, soweit sie im
Einzelfall sachlich begründet werden könnte.1718 Dagegen verstößt die Praxis,
Personen in Exekutivhaft zu nehmen, deren Freilassung vom zuständigen Gericht
rechtskräftig angeordnet wurde, in jedem Fall gegen Art. 9 IPbürgR.1719 Sie ließe
sich ebenso wie eine wochen- oder gar monatelange Inhaftierung ohne richterliche
Haftprüfung allenfalls unter dem Gesichtspunkt des Notstandes (Art. 4 IPbürgR)
oder des Vorrangs der Friedenssicherung nach Art. 1 SVN rechtfertigen.1720
Dabei ist zwischen einer bloßen Verlängerung der Frist, bis die Anordnung von
Exekutivhaft von einer unabhängigen Stelle überprüft wird, und dem völligen
Verzicht auf eine Überprüfung zu unterscheiden. Grundsätzlich sind an eine
Notstandsderogation von den Garantien des Art. 9 IPbürgR strenge Anforderungen
zu stellen.1721 Dennoch kann im Einzelfall eine Verlängerung der Haftprüfungsfrist
im Rahmen einer Notstandsregelung zulässig sein, beispielsweise wenn es zu wenige
unabhängige oder unparteiische Richter gibt, weil das Justizwesen erst mühsam
Militärtechnischen Abkommen ab (siehe dazu Guillaume, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the Intl.
Community (2002), insbes. S. 244-247 und S. 259-263). Wie bereits im 4.Kp. C.I ausgeführt, ist es
nach Art. 53 WVK (1969)/WVKIO (1986) rechtlich möglich, dass ein Staat einem anderen
Völkerrechtssubjekt per völkerrechtlichem Vertrag Handlungen auf seinem Staatsgebiet erlaubt, die
gegen geltende Menschenrechte verstoßen, solange diese nicht den Status zwingenden Rechts haben.
Es würde indes den Rahmen dieser Arbeit sprengen, zu untersuchen, inwieweit besagtem Abkommen
eine solche Befugnis zu entnehmen ist und inwieweit KFOR-Einheiten als Organe ihrer
Entsendestaaten an Menschenrechte gebunden sind. Zu letzterem siehe ausf. Zwanenburg, Accountability (2004).
1718
In HRC, Freemantle v. Jamaica (2000), § 7.4, wurde eine Haftprüfung vier Tage nach der
Inhaftierung nur „in absence of a justification“ als Verstoß gegen Art. 9 Abs. 3 IPbürgR gewertet.
Das deutet darauf hin, dass bei Vorliegen sachlicher Gründe auch eine längere Frist noch zulässig sein
könnte. Ähnlich auch HRC, Borisenko v. Hungary (Entscheidung v. 14.10.2002), § 7.4 (drei Tage).
1719
Siehe beispielsweise HRC, Masslotti and Baritussio v. Uruguay (1982), § 13.
1720
In der Tat berief sich der SRSG zur Begründung der von ihm angeordneten Exekutivhaft auch auf
eine Notstandsderogation. Dazu kritisch OMIK, 3. Criminal Justice Review (2001), S. 35 f.
1721
HRC, Grille Motta v. Uruguay (1980), § 15.
373
wieder
aufgebaut
werden
muss
oder
weil
sich
die
Justiz
massiven
Einschüchterungsversuchen durch Terroristen oder Vertreter der organisierten
Kriminalität ausgesetzt sieht.1722
Dagegen wird ein völliger Verzicht auf jegliche Haftprüfungsmöglichkeit zumindest
bei längerer Inhaftierung auch in Notstandssituationen unzulässig sein.1723 Dafür
spricht einerseits, dass das humanitäre Völkerrecht auch in der Krisensituation eines
bewaffneten Konflikts ein solches Haftprüfungsrecht vorsieht.1724 So lässt das Recht
der kriegerischen Besetzung die Inhaftierung von Personen aus zwingenden
Sicherheitsgründen nur dann zu, wenn diese im Rahmen eines ordnungsgemäßen
Verfahrens erfolgt und über Rechtsmittel der Betroffenen schnellstmöglich
entschieden wird.1725 Andererseits wird ein völliger Verzicht in aller Regel nicht
erforderlich sein, da eine UN-Verwaltung wie auch ein Staat mit zunehmendem
Zeitablauf die tatsächliche Möglichkeit haben wird, durch geeignete Maßnahmen den
Engpass zu beseitigen oder die erforderlichen Ermittlungen durchzuführen.
Ein völliger Verzicht auf eine Haftprüfung lässt sich auch mit dem Argument des
Geheimnisschutzes nicht begründen. Zwar ist es grundsätzlich ein legitimes Ziel,
bestimmte Informationen aus Zeugenschutz oder geheimdienstlichen Gründen nicht
öffentlich zu machen. Jedoch wird es einer UN-Verwaltung aufgrund ihrer
umfassenden Kompetenzen auch in diesem Falle möglich sein, innerhalb eines
überschaubaren
Zeitraums
die
erforderlichen
gerichtlichen
Gremien
und
Verfahrensregeln zu schaffen, um angemessen mit sensiblen Informationen umgehen
zu können. Dabei kann auf diesbezügliche Erfahrungen oder Praktiken der
Mitgliedstaaten zurückgegriffen werden. Generell erscheint es sinnvoller, Abstriche
bei den Verfahrensrechten des Betroffenen oder bei der Unabhängigkeit des
Überprüfungsgremiums hinzunehmen, als gänzlich auf eine rechtliche Überprüfung
1722
Zu Einschränkungen im Rahmen der Terrorbekämpfung siehe beispielsweise EGMR, Brannigan
and McBride v. The United Kingdom (1993), § 60 (7 Tage zulässig), und EGMR, Aksoy v. Turkey
(1996), §§ 77 f. (14 Tage zu lang), zu Art. 5 EMRK.
1723
Siehe die in Fn. 1722 genannten Entscheidungen des EGMR, ferner OMIK, 3. Criminal Justice
Review (2001), S. 36.
1724
Siehe insbesondere Art. 43 Abs. 1 GK IV.
374
der Exekutivhaft zu verzichten. Dem entspricht es, wenn Art. 78 Abs. 2 Satz 4 und
Art. 43 Abs. 1 Satz 1 GK IV eine Überprüfung auch durch von der Besatzungsmacht
bestellte Verwaltungsausschüsse oder Behörden zulassen, aber in jedem Fall eine
solche Überprüfungsmöglichkeit fordern.
5.
Ergebnis
Im Ergebnis ist festzuhalten, dass auch eine vom Sicherheitsrat auf der Grundlage
von Kapitel VII der Charta eingerichtete UN-Gebietsverwaltung oder entsprechend
ermächtigte Dritte grundsätzlich gehalten sind, die Vorgaben des Art. 9 IPbürgR zu
beachten. Soweit sie es für erforderlich halten, Personen zum Zwecke der
Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung auch ohne richterlichen
Beschluss in Gewahrsam zu nehmen, bedarf es hierzu einer hinreichend detaillierten
gesetzlichen Grundlage. Die allgemeinen Aufgabenzuweisungen in den bisherigen
Sicherheitsratsresolutionen genügen den Anforderungen des Art. 9 Abs. 1 IPbürgR
nicht. Ferner müssen die Betroffenen gemäß Art. 9 Abs. 4 IPbürgR1726 die
Möglichkeit haben, ihre Festnahme binnen weniger Tage durch ein unabhängiges
und hinreichend bevollmächtigtes Gremium überprüfen zu lassen.
Ein Abweichen von diesen Vorgaben ist bei Verkündung eines Notstandes oder
wegen des Vorrangs der Friedenssicherung nur im Hinblick auf eine Verlängerung
der
Fristen
und
eine
Einschränkung
der
Rechte
der
Betroffenen
im
Überprüfungsverfahren zulässig. Eine erhebliche Verlängerung der zulässigen
Verzögerung einer Haftprüfung ist dabei allenfalls in der Anfangsphase einer UNKrisengebietsverwaltung tolerabel, um den Zeitraum bis zum Aufbau eines
hinreichend funktionstüchtigen Justizwesens zu überbrücken. Dagegen kann sich
eine UN-Verwaltung weder auf das Vorliegen eines Notstandes, noch auf den
Vorrang der Friedenssicherung berufen, um Individuen langfristig ohne unabhängige
Haftprüfung ihrer Freiheit zu berauben. Eine solche Maßnahme kann nicht zur
Friedenssicherung erforderlich sein, da eine UN-Verwaltung aufgrund ihrer
1725
Art. 78 Abs. 2 GK IV.
1726
Beziehungsweise nach Art. 9 Abs. 3 Satz 1 IPbürgR, soweit die Festnahme nicht präventiv,
sondern in erster Linie repressiv, d.h. zum Zwecke der Strafverfolgung erfolgte.
375
umfassenden Befugnisse in der Lage sein muss, zumindest mittelfristig die
notwendigen rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen für eine Haftprüfung zu
schaffen.
Ohnehin sind die Argumente für die Notwendigkeit, Personen über längere Zeit
hinweg ohne Haftprüfung festzusetzen, mit Skepsis zu betrachten. So waren
derartige Maßnahmen seitens der UNTAET in Osttimor nicht erforderlich und auch
die australisch geführte INTERFET hat den von ihr vorgenommenen Inhaftierungen
freiwillig die Regeln der IV. Genfer Konvention zugrunde gelegt, ohne dass dies das
Ziel der Friedenssicherung gefährdet hätte.1727 Auch wenn man das vergleichsweise
homogene und friedliche Osttimor nur eingeschränkt mit dem unter erheblichen
ethnischen Spannungen und organisierter Kriminalität leidenden Kosovo vergleichen
kann, ist doch bei der Annahme der vom SRSG und von KFOR vorgebrachten
zwingenden Sicherheitserfordernisse Zurückhaltung geboten.
IV.
Rechtsschutz gegen Hoheitsakte der UN-Verwaltung selbst
Die Frage der Überprüfbarkeit von Exekutivhaftanordnung ist jedoch nur ein
Teilaspekt der sehr viel grundlegenderen Frage, ob nicht für alle Handlungen und
Rechtsakte einer UN-Gebietsverwaltung die Möglichkeit einer unabhängigen
gerichtlichen Überprüfung bestehen sollte. Das Fehlen einer solchen rechtlichen
Kontrolle im Falle von UNMIK und UNTAET wird nicht nur in der juristischen
Literatur weithin bemängelt.1728 Kritisiert wird nicht nur grundsätzlich die fehlende
Gewaltenteilung innerhalb der UN-Missionen,1729 sondern auch die umfassende
1727
OMIK, 4. Criminal Justice Review (2002), S. 47 f.; Othman, Nordic JIL 72 (2003), 449 (469 f.).
Zur Praxis der INTERFET siehe Kelly (u.a.), IRRC 83 (2001), 101 (130-136). INTERFET war in
Osttimor ähnlich wie anfangs KFOR mit einem völlig dysfunktionalen Polizei- und Justizwesen
konfrontiert.
1728
Siehe beispielsweise Irmscher, GYIL 44 (2001), 353 (374); Korhonen, Leiden JIL 14 (2001), 495
(500); Stahn, ZaöRV 61 (2001), 107 (161-165); Zimmermann/Stahn, Nordic JIL 70 (2001), 423 (448);
Narten, HVR 17 (2004), 144 (148 f.); CoE-Venice Commission, Human Rights in Kosovo (2004),
insbes. § 74 u. § 91, und die auf diesem Bericht beruhende Forderung der Parlamentarischen
Versammlung des Europarates, einen Menschenrechtsgerichtshof für das Kosovo auf Basis der
EMRK zu schaffen (§ 4 CoE-PA-Res. 1417 (2005) on the Protection of Human Rights in Kosovo vom
25.1.2005, abrufbar unter <http://assembly.coe.int/Documents/AdoptedText/ta05/ERES1417.htm>).
1729
Chopra, Survival 42 (2000), 27 (29); Wagner, VN 48 (2000), 132 (137); Stahn, Leiden JIL 14
(2001), 531 (561); von Carlowitz, AVR 41 (2003), 336 (346); Zygojannis, Die Staatengemeinschaft
376
Immunität, die sie ihren zivilen und militärischen Mitarbeitern gewähren,1730 sowie
die bestenfalls eingeschränkt mögliche Anfechtbarkeit ihrer Verwaltungsakte vor
unabhängigen Gerichten.1731
Für die Bewohner des Kosovo besteht derzeit keine umfassende Möglichkeit,
gerichtlich gegen Rechtsakte der UNMIK selbst vorzugehen, durch die sie sich in
ihren Rechten beeinträchtigt sehen. Lediglich die Handlungen und Rechtsakte der
provisorischen
Selbstverwaltungsinstitutionen
unterliegen
einer
umfassenden
gerichtlichen Kontrolle.1732 Hinsichtlich materieller Schäden und Einbußen durch
Handlungen ihrer Mitarbeiter setzten UNMIK und KFOR unabhängig voneinander
interne Claims Commissions ein, die den vorgebrachten Sachverhalt prüfen und
gegebenenfalls Schadensersatz gewähren.1733 Im Übrigen können weder UNMIK
noch KFOR vor ordentlichen Gerichten des Kosovo belangt werden. 1734 Angehörige
der KFOR unterliegen allein der Jurisdiktion ihrer Entsendestaaten und auch der
SRSG und von ihm im Einzelfall zu bestimmende hohe UNMIK-Beamte genießen
und das Kosovo (2003), S. 219. In diese Richtung auch Oeter, in: FS Fleck (2004), S. 449 f.
1730
Ombudsperson Kosovo, 1. Special Report (2001); Brand, Nordic JIL 70 (2001), 461 (479); Stahn,
ZaöRV 61 (2001), 107 (161); Narten, HVR 17 (2004), 144 (149); CoE-Venice Commission, Human
Rights in Kosovo (2004), §§ 62-70, und jüngst § 5 (ix) CoE-PA-Res. 1417 (2005). Kritisch auch Morrow/White, Australian YBIL 22 (2002), 1 (23 f.), die darauf hinweisen, dass die Immunität auf dem
Modell klassischer Friedensmissionen basiert, die keine Verwaltungskompetenzen ausüben.
1731
Brand, Nordic JIL 70 (2001), 461 (481 f.); Frowein, in: FS Rudolf (2001), S. 52 f.
1732
Nach Sec. 9.4.2 des sog. constitutional framework (UNMIK/REG/2001/9) vom 15.5.2001 steht
allen, die sich durch Handlungen der kosovarischen (!) Exekutive in ihren Rechte verletzt sehen, der
Rechtsweg offen. Bereits Sec. 35 UNMIK/REG/2000/45 vom 11.8.2000 sah ein
Widerspruchsverfahren gegen Rechtsakte der Gemeinden vor, nach Sec. 36 UNMIK/REG/2000/45
stand darüber hinaus auch der Rechtsweg offen. Nach Sec. 9.4.11. UMIK/REG/2001/9 sollen auch
Legislativakte des Parlaments (Assembly of Kosovo) von einer Sonderkammer (special chamber) des
Kosovo Supreme Court auf ihre Vereinbarkeit mit dem constitutional framework geprüft werden
können. Im Januar 2005 war diese Kammer aber noch immer nicht eingerichtet worden (siehe die
Aufforderung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates in § 5 (i) CoE-PA-Res. 1417
(2005) vom 25.1.2005).
1733
Sec. 7 UNMIK/REG/2000/47 vom 20.8.2000. Kritisch zu den getroffenen Regelungen Ombudsperson Kosovo, 3rd Annual Report (2003), S. 4 f.; Narten, HVR 17 (2004), 144 (150); und CoEVenice Commission, Human Rights in Kosovo (2004), §§ 61 f. Zur Regelung der Schadensregulierung
durch KFOR siehe Guillaume, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the Intl. Community (2002), S.
256-258.
Siehe Sec. 2.1 und Sec. 3.1 UNMIK/REG/200/47 „on the status, privileges and immunities of
KFOR and UNMIK and their personnel in Kosovo” vom 20.8.2000, in Auszügen wiedergegeben bei
Stahn, ZaöRV 61 (2001), 107 (161 f., 163).
1734
377
absolute persönliche Immunität.1735 Die übrigen Angehörigen der UNMIK sowie
lokale Mitarbeiter sind zumindest hinsichtlich ihrer dienstlichen Tätigkeit von der
Zuständigkeit der kosovarischen Gerichte ausgenommen, wobei der SRSG ihre
Immunität im Einzelfall aufheben kann.1736
Jedoch kann gegen einzelne Maßnahmen von UNMIK-Mitarbeitern vorgegangen
werden, soweit sie sich auf das im Kosovo anwendbare Recht stützen und dieses
solche Maßnahmen vorsieht. Denn auch UNMIK-Angehörige sind bei ihrer
Amtsführung grundsätzlich an das anwendbare Recht gebunden.1737 So sieht
beispielsweise die Verordnung 2000/64 die Möglichkeit einer Überprüfung von
Platzverweisen durch einen Richter unabhängig davon vor, ob der Verweis durch
einen
UNMIK-Polizisten
Polizeidienstes1738
oder
ausgesprochen
einen
Angehörigen
wurde.1739
Von
der
des
kosovarischen
oben
besprochenen
Exekutivhaft abgesehen, richtet sich die Inhaftierung von Personen nach der
provisorischen Strafprozessordnung für das Kosovo, welche entsprechende
Überprüfungsmöglichkeiten vorsieht.1740 Mittlerweile unterliegen auch eine Vielzahl
der Rechtsakte der von UNMIK gegründeten Sonderbehörden einer gerichtlichen
Kontrolle. Dies gilt beispielsweise für Maßnahmen der Kosovo Treuhand Agentur
(KTA).1741 Mit der zunehmenden Übertragung von Kompetenzen auf die
provisorischen Selbstverwaltungsinstitutionen ist mittlerweile auch die Zahl der
Rechtsakte, die keinerlei unabhängiger Überprüfung zugänglich sind, stark
1735
Sec. 2.4 (KFOR) und 3.2 (UNMIK) UNMIK/REG/2000/47.
1736
Siehe Sec. 3.3 u. 6.1 UNMIK/REG/2000/47.
1737
Sec. 3.4 UNMIK/REG/2000/47. Dies gilt, soweit die Mandatserfüllung der KFOR dadurch nicht
beeinträchtigt wird, auch für KFOR-Angehörige (ebenda, Sec. 2.2).
1738
Kosovo Police Service (KPS).
1739
Sec.3 UNMIK/REG/2000/62 vom 30.11.2000. Gleiches gilt für das Beschwerderecht nach Sec. 8
und 10 UNMIK/REG/2002/6 vom 18.3.2002 gegen eine Abhörmaßnahme im Rahmen einer
Strafverfolgung.
1740
Siehe Art. 212 i.V.m. 281
(UNMIK/REG/2003/26 vom 6.7.2003).
Provisional
Criminal
Procedure
Code
of
Kosovo
1741
Lt. Sec. 30 UNMIK/REG/2005/18 vom 22.4.2005 ist für diese Verfahren die nach
UNMIK/REG/2002/13 vom 13.6.2002 geschaffene Sonderkammer (special chamber) des Kosovo
Supreme Court zuständig.
378
zurückgegangen.1742 Hinzu kommt, dass die Arbeit der UNMIK ebenso wie die der
UNTAET – nicht zuletzt durch ihre regelmäßigen Berichte an den Sicherheitsrat –
einer Kontrolle durch die internationale Gemeinschaft unterliegen, die deutlich
umfangreicher ist als jene, denen die Verhältnisse in einzelnen Staaten
normalerweise unterliegen.1743
Zudem hat die UNMIK bereits Mitte 2000 die Institution einer Ombudsperson für
das Kosovo geschaffen, die im November des Jahres ihre Arbeit aufnahm.1744 Die
Ombudsperson ist für alle Beschwerden über Menschenrechtsverletzungen durch
UNMIK oder die kosovarischen Selbstverwaltungsorgane auf dem Gebiete des
Kosovo zuständig und kann auch aus eigenem Antrieb tätig werden.1745 Ferner kann
sie
auch
die
Legislativakte
der
UNMIK
und
der
kosovarischen
Selbstverwaltungsorgane auf ihre Vereinbarkeit mit international anerkannten
Menschenrechtsstandards prüfen.1746 Dagegen ist sie vorbehaltlich einer bis dato
nicht abgeschlossenen gesonderten Vereinbarung nicht berechtigt, Handlungen der
KFOR zu überprüfen.1747 Bislang hat sie knapp zweitausend Beschwerden erhalten,
etwa 80 Abschlussberichte zu einzelnen Fällen angefertigt und eine Reihe von
Denkschriften (special reports) zu einzelnen Sachfragen veröffentlicht.1748
1742
Siehe die Aufzählung der Kompetenzen der provisorischen Selbstverwaltungsinstitutionen
(Provisional Institutions of Self-Government of Kosovo – PISG) bei CoE-Venice Commission, Human
Rights in Kosovo (2004), § 134.
1743
So für UNMIK Wagner, VN 48 (2000), 132 (137); und Zygojannis, Die Staatengemeinschaft und
das Kosovo (2003), S. 222-226.
1744
UNMIK/REG/2000/38 on the establishment of the Ombudsperson Institution in Kosovo vom
30.6.2000. Siehe auch ihre Internetpräsenz unter <www.ombudspersonkosovo.org>. Auch in Osttimor
richtete UNTAET eine Ombudsperson ein, die allerdings über ein beschränkteres Mandat verfügte
und lt. Chesterman, You, The People (2004), S. 149 f., insgesamt wenig effektiv war.
1745
Sec. 3.1 u. 3.2 UNMIK/REG/2000/38.
1746
Sec. 4.3 UNMIK/REG/2000/38.
1747
Sec. 3.4 UNMIK/REG/2000/38.
1748
Siehe die Jahresberichte der Ombudsperson, zuletzt Ombudsperson Kosovo, 5th Annual Report
(2005) vom 11.7.2005. Die Berichte können von der in Fn. 1744 genannten Internetseite abgerufen
werden.
379
1.
Rechtliche Argumente für eine Überprüfbarkeit von UN-Hoheitsakten
Die Notwendigkeit, eine Möglichkeit für die unabhängige Überprüfung ihrer
Handlungen und Rechtsakte zu schaffen, wird häufig rechtspolitisch mit der
Vorbildfunktion einer UN-Verwaltung begründet. Sie könne nur dann glaubhaft die
Bedeutung und Notwendigkeit rechtsstaatlicher Strukturen predigen, wenn sie selbst
die Prinzipien des Rechtsstaates, insbesondere die Bindung der Exekutive an Gesetz
und Recht, beachte und sich selbst einer gerichtlichen Kontrolle unterwerfe.1749
Zumindest hat sich die UN wiederholt zur Bedeutung des Rechtsstaatsprinzips und
der rule of law bekannt.1750
Am ehesten lässt sich das Erfordernis, dem Betroffenen effektiven Rechtsschutz
gegen Maßnahmen der UN-Gebietsverwaltung zu gewähren, jedoch mit den
Menschenrechten begründen. Nach Art. 8 AEMR hat jeder Mensch „Anspruch auf
wirksamen Rechtsschutz vor den zuständigen innerstaatlichen Gerichten gegen alle
Handlungen, die seine ihm nach der Verfassung oder nach dem Gesetz zustehenden
Rechte verletzen“. Art. 2 Abs. 3 IPbürgR verpflichtet die Mitgliedstaaten des Paktes
ebenfalls dazu, effektive Rechtsschutzmöglichkeiten zu schaffen. Zwar ist die UN
nicht Vertragsstaat des Paktes. AEMR und IPbürgR sind jedoch als autoritative
Konkretisierung der menschenrechtlichen Zielsetzung des Art. 1 Ziff. 3 SVN auch
für den Sicherheitsrat beachtlich. Zwar ließe sich argumentieren, dass die genannten
Artikel ähnlich wie etwa das Staatenberichtsverfahren nach Art. 40 IPbürgR keine
Menschenrechte im materiellen Sinne enthalten, sondern nur ihrer prozeduralen
Sicherung dienen und insoweit keine Konkretisierung der nach Art. 1 Ziff. 3 SVN zu
fördernden Menschenrechte darstellten. Dies erscheint jedoch zumindest im Hinblick
auf den explizit als Anspruchsnorm formulierten Art. 8 AEMR zweifelhaft. Er
bezieht sich zudem nicht unmittelbar auf die Gewährleistungen der AEMR, sondern
auf die des nationalen Rechts, und ist daher als eigenständiges Recht unabhängig von
den übrigen Gewährleistungen der AEMR zu sehen.
1749
Korhonen, Leiden JIL 14 (2001), 495 (501). In diese Richtung auch Zimmermann/Stahn, Nordic
JIL 70 (2001), 423 (448). Auf das Paradoxon, Gewaltenteilung zu fordern, selbst aber alle Gewalt in
einer Hand zu konzentrieren, machen Morrow/White, Australian YBIL 22 (2002), 1 (17), und von
Carlowitz, AVR 41 (2003), 336 (347), aufmerksam.
1750
Siehe zuletzt ausf. UN-GS, Transitional Justice (2004).
380
Jedenfalls aber ließe sich eine Pflicht zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes
gegen Maßnahmen einer UN-Verwaltung damit begründen, dass nur so eine
umfassende Wahrung der vom Sicherheitsrat nach Art. 24 Abs. 2 Satz 1 in
Verbindung mit Art. 1 Ziff. 3 SVN zu beachtenden Menschenrechte gesichert
werden kann.1751 Die Pflicht zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes ist somit
zumindest
als
Schutzpflicht
Ausfluss
der
einzelnen
materiellrechtlichen
Gewährleistungen des IPbürgR.
Inhaltlich verpflichtet Art. 2 Abs. 3 IPbürgR anders als Art. 8 AEMR nicht
notwendig zu einer gerichtlichen Überprüfung von Hoheitsakten.1752 Art. 2 Abs. 3 lit.
b) IPbürgR spricht insoweit explizit von dem „zuständige[n] Gerichts-, Verwaltungsoder Gesetzgebungsorgan oder (...) eine[r] andere[n], nach den Rechtsvorschriften
des Staates zuständige[n] Stelle“. Da Art. 2 IPbürgR die zeitlich spätere Norm ist und
zudem konkret menschenrechtliche Gewährleistungen betrifft, gebührt ihm insoweit
nach dem lex posterior- und dem lex specialis-Grundsatz der Vorrang gegenüber Art.
8 AEMR. Daher kann grundsätzlich auch eine Ombudsperson oder ein
vergleichbares Organ außerhalb des regulären Gerichtssystems ausreichend sein,
sofern sie von dem staatlichen Organ unabhängig ist, dessen Verhalten gerügt
wird.1753 Maßgeblich ist nur, dass der durch die zuständige Stelle gewährte
Rechtsschutz wirksam ist.1754 Abhängig von den Umständen des Einzelfalles kann
dies bedeuten, die fragliche Maßnahme rückgängig zu machen oder Schadensersatz
zu gewähren. Unter Umständen kann aber auch eine rein deklaratorische
Entscheidung ausreichend sein.1755 Notwendig ist nach Art. 2 Abs. 3 lit. c) IPbürgR
jedoch, dass die Entscheidung verbindlich ist, das heißt beachtet und umgesetzt wird,
1751
Siehe die Argumentation der Parlamentarischen Versammlung des Europarates in § 3 CoE-PARes. 1417 (2005) vom 25.1.2005.
1752
Seidel, Grund- und Menschenrechte (1996), S. 269.
1753
Schilling, Menschenrechtsschutz (2004), Rn. 341.
1754
Nowak, CCPR Commentary (1993), Art. 2 Rn. 61. Art. 2 Abs. 3 lit.a) IPbürgR spricht im Original
von einer „effective remedy“ bzw. einem „recours utile“, den der Vertragsstaat bereitstellen muss.
Nach Seidel, Grund- und Menschenrechte (1996), S. 282, ist ein solcher effektiver Rechtsschutz
langfristig aber nur durch gerichtlichen Rechtsschutz i.S.d. Art. 2 Abs. 3 lit. b) IPbürgR zu sichern.
1755
Siehe die Nachweise bei Nowak, CCPR Commentary (1993), Art. 2 Rn. 69.
381
und von der betroffenen staatlichen Stelle nicht schlicht ignoriert werden kann.1756
Diesen Anforderungen wird die von UNMIK eingerichtete Ombudsperson-Institution
nicht gerecht, da sie zwar behauptete Menschenrechtsverletzungen umfassend
untersuchen darf, aber nur berechtigt ist, Empfehlungen auszusprechen.1757 Werden
diese von UNMIK nicht binnen einer angemessenen Frist umgesetzt und der
Ombudsperson auch keine hinreichende Begründung dafür gegeben, bleibt ihr
lediglich, den gesamten Vorgang öffentlich zu machen.1758 Durchsetzen kann sie ihre
Entscheidung
nicht.
Dies
bedeutet
aber
noch
nicht
notwendig
einen
Völkerrechtsverstoß seitens der UNMIK. Denn das Gebot der Gewährung effektiven
Rechtsschutzes gehört nicht zu den nach Art. 4 Abs. 2 IPbürgR notstandsfesten
Rechten. Man wird es deshalb auch nicht zu den zwingenden Grundwerten der
internationalen
Gemeinschaft
zählen
können.
Eine
Derogation
aus
Notstandsgesichtspunkten ist daher prinzipiell möglich.
2.
Rechtsschutzgewährung und Friedenssicherung
Mangels zwingenden Charakters ist der Sicherheitsrat ferner aufgrund des in der
Charta niedergelegten Vorrangs der Friedenssicherung grundsätzlich berechtigt, vom
Gebot effektiven Rechtsschutzes abzuweichen, soweit dies zur effektiven
Bekämpfung von Friedenssbedrohungen erforderlich ist.1759 Da die Gewährung
umfassenden Rechtsschutzes gegen sämtliche Formen hoheitlichen Handelns sehr
aufwendig ist, hat diese Einschränkungsmöglichkeit im Kontext einer UNKrisengebietsverwaltung erhebliche Bedeutung. So stellt seine Umsetzung nicht nur
weitere Anforderungen an die Ausgestaltung der Behörden oder des Justizsystems,
da entsprechende Gremien mit hinreichend qualifiziertem Personal eingerichtet
werden müssen.
1756
Schilling, Menschenrechtsschutz (2004), Rn. 341, unter Berufung auf HRC, Gedumbe v. Congo
(Entscheidung 9.7.2002), § 6.1 u. § 6.2.
1757
Sec. 4.9 UNMIK/REG/2000/38.
1758
Siehe Sec. 4.11 UNMIK/REG/2000/38. Kritisch deshalb auch Brand, Nordic JIL 70 (2001), 461
(484).
1759
Zum Vorrang der Friedenssicherung siehe oben 4.Kp. A.II.2 und D.III.3.
382
Eine Überprüfbarkeit von Hoheitsakten bedeutet zudem in der Regel eine erhebliche
Zeitverzögerung und birgt erhebliche Risiken, wenn umfangreiche Maßnahmen
aufgrund eines Gerichtsbeschlusses rückabgewickelt werden müssen. Dies gilt
insbesondere für die Überprüfung von Legislativakten und steht im Widerspruch
zum prinzipiell transitorischen Charakter einer UN-Verwaltung, die ein Gebiet nur
für eine kurze Übergangszeit verwalten soll. Hinzu kommt die mit einem solchen
Verfahren verbundene Rechtsunsicherheit, die der Festigung der Autorität der UNVerwaltung entgegensteht, und auch die politische und wirtschaftliche Entwicklung
eines Gebietes hemmen kann. Eine rechtliche Überprüfung von Hoheitsakten birgt
zudem ein finanzielles Haftungsrisiko und kann so zu einer weiteren Schmälerung
der ohnehin knapp bemessenen Ressourcen der Vereinten Nationen führen.
Ferner ist zu berücksichtigen, dass eine gerichtliche Kontrolle von Hoheitsakten
einer UN-Zwangsverwaltung der Sache nach eine Überprüfung von Maßnahmen der
Friedenssicherung des Sicherheitsrates nach Kapitel VII der Charta darstellt. Denn
UN-Zwangsverwaltungen – und damit auch ihre ausführenden Rechtsakte – sind
nichts anderes als eine Variante friedenssichernder Zwangsmaßnahmen des
Sicherheitsrates.1760 Auch wenn aus menschenrechtlichen Erwägungen einiges dafür
spricht, die Maßnahmen einer UN-Gebietsverwaltung einer rechtlichen Kontrolle zu
unterziehen, darf nicht vergessen werden, dass diese Frage für Zwangsmaßnahmen
des Sicherheitsrates allgemein bis heute ungeklärt ist.1761 Zumindest eine externe
Kontrolle der Akte einer UN-Gebietsverwaltung wird im Hinblick auf Art. 39 SVN,
der dem Sicherheitsrat bewusst größte Handlungsfreiheit bei der Bekämpfung von
Friedensbedrohungen lässt, nur eingeschränkt zulässig sein.1762
Vor diesem Hintergrund erscheint es trotz der menschenrechtlichen Verpflichtung
zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes gerechtfertigt, zumindest in der
1760
Ausführlich zur Rechtsgrundlage bereits oben 3.Kp.C.
1761
Siehe dazu ausf. Martenczuk, Rechtsbindung und Rechtskontrolle (1996); Herbst, Rechtskontrolle
(1999); Fassbender, EJIL 11 (2000), 219-232; und de Wet, Chapter VII Powers (2004), S. 25-129;
sowie
speziell
zur
rechtlichen
Überprüfung
von
UN-Wirtschatssanktionen
Oette,
Wirtschaftssanktionen (2003), S. 431-473.
1762
Zum weiten Ermessensspielraum des Sicherheitsrates unter Art. 39 SVN siehe bereits oben 3.Kp.
C.II.1.
383
Anfangszeit einer UN-Krisengebietsverwaltung die Möglichkeit einer unabhängigen
rechtlichen Überprüfung von Hoheitsakten erheblich einzuschränken.1763 Gleiches
gilt ganz allgemein aufgrund der potentiell weitreichenden Folgen auch für die
Überprüfbarkeit von Legislativakten einer UN-Verwaltung oder anderer Rechtsakte
mit vergleichbarer Wirkung.
3.
Die Ombudsperson-Institution im Kosovo
Das von UNMIK gewählte Verfahren einer von den übrigen Institutionen der
Übergangsverwaltung unabhängigen Ombudsperson erscheint daher grundsätzlich
als probate Lösung.1764 Eine externe Lösung, beispielsweise ein Beschwerderecht des
Betroffenen vor dem Menschenrechtsausschuss des IPbürgR oder dem EGMR,
widerspräche der Letztverantwortung des Sicherheitsrates für friedenssichernde
Zwangsmaßnahmen.1765 Einer missionsinternen Lösung stünde sie jedoch nicht
entgegen. Auch erscheint es aufgrund des Vorrangs der Friedenssicherung und der
diesbezüglichen Hauptverantwortung des Sicherheitsrates zulässig, dem fraglichen
Gremium keine Letztentscheidungsbefugnis zu geben.
Allerdings sollte die Beachtung und Umsetzung seiner Entscheidung der Regelfall
und ihre Missachtung daher an strenge Bedingungen geknüpft sein. UNMIKs
Verordnung 2000/38, die eine Umsetzung der Entscheidung letztlich allein in das
Ermessen des betroffenen Amtsträgers stellt und ihn im Falle einer Nichtumsetzung
nicht einmal zu einer Begründung verpflichtet, ist unzureichend.1766 Hier ist
zumindest zu verlangen, dass allein der SRSG als Leiter der Mission über eine
Nichtumsetzung der Empfehlung entscheiden kann, und dass eine solche
1763
In diese Richtung auch Wagner, VN 48 (2000), 132 (137); und CoE-Venice Commission, Human
Rights in Kosovo (2004), § 95.
1764
Ablehnend Brand, Nordic JIL 70 (2001), 461 (482), der die Ombudspersoninstitution lediglich als
wichtige politische Institution sieht (ebenda, 483).
1765
CoE-Venice Commission, Human Rights in Kosovo (2004), §§ 101-112, und § 4 (ii) CoE-PA-Res.
1417 (2005) schlagen als langfristige Lösung eine Ausdehnung der Zuständigkeit des EGMR auf das
Kosovo vor. Grundlage soll ein von allen Beteiligten geschlossener völkerrechtlicher Vertrag sein.
Siehe auch oben Fn. 1728. Ferner hat der Menschenrechtsausschuss 2004 von UNMIK einen Bericht
zur Lage im Kosovo angefordert (CoE-Venice Commission, ebenda § 81 Fn. 27).
1766
Siehe Sec. 4.11 UNMIK/REG/2000/38.
384
Entscheidung schriftlich zu begründen ist.1767 Für diesen Fall erscheint es ferner
sinnvoll, der Ombudsperson das Recht zu geben, den Fall dem Sicherheitsrat zur
Letztentscheidung vorzulegen.1768 Ähnliche Regelungen findet sich bereits in dem
Statut für das Freie Territorium Triest: Auch dort war die Ausübung von
Sonderbefugnissen durch den vom Sicherheitsrat ernannten Gouverneur an ein
Petitionsrecht des betroffenen Organs an den Sicherheitsrat geknüpft.1769
Abschließend ist festzuhalten, dass das Recht des Einzelnen auf effektiven
Rechtsschutz
gegen
Hoheitsakte
auch
von
einer
UN-Zwangsverwaltung
grundsätzlich zu beachten ist. Dies folgt aus seiner Pflicht nach Art. 24 Abs. 2 Satz 1
in Verbindung mit Art. 1 Ziff. 3 SVN, die Menschenrechte zu fördern und zu
schützen.1770 Allerdings kann der Rechtsschutz aufgrund des Vorrangs der
Friedenssicherung und dem ebenfalls in der Charta festgelegten weiten
Ermessensspielraum
des
Sicherheitsrates
hinsichtlich
der
Ausführung
von
Zwangsmaßnahmen erheblich eingeschränkt werden. Dies betrifft insbesondere den
Zeitpunkt, ab dem ein solcher Rechtsschutz zur Verfügung steht, und die
Letztverbindlichkeit von Entscheidungen.
V.
Der Aufbau eines neuen Staatswesens und das Selbstbestimmungsrecht
Während es in den vorangegangenen Abschnitten um einzelne Rechtsfragen und
Probleme ging, welche bei der Umsetzung einzelner Menschenrechte in der Praxis zu
Tage traten, soll im folgenden Teil näher beleuchtet werden, inwiefern die
Befugnisse einer UN-Zwangsverwaltung durch das Recht der Völker auf
1767
So auch CoE-Venice Commission, Human Rights in Kosovo (2004), §§ 122 f., und § 5 (iv) lit. a)
CoE-PA-Res. 1417 (2005).
1768
Sollte dies zu einer erheblichen Arbeitsbelastung des Sicherheitsrates führen, könnte zu diesem
Zweck ein Sonderausschuss ähnlich dem Sanktionsausschuss gebildet werden.
1769
Art. 19 Abs. 6 Triest-Statut. Siehe dazu bereits oben 2.Kp.B.II. In ähnlicher Weise verknüpfte
auch der Entwurf eines Statuts für die geplante Internationale Stadt Jerusalem die Ausübung von
Sonderbefugnissen seitens des internationalen Gouverneurs der Stadt mit der Pflicht, dies umgehend
dem Treuhandrat als dem zuständigen Kontrollorgan zur Kenntnis zu bringen. Siehe dazu oben
2.Kp.C.II.
1770
Dazu, dass die Förderpflicht des Art. 1 Ziff. 3 SVN im Kontext einer Gebietsverwaltung des
Sicherheitsrates zu einer Befolgungs- und Schutzpflicht erstarkt, siehe oben 4.Kp. A.II.1.b.
385
Selbstbestimmung eingeschränkt werden. Denn in einem Zeitalter, indem sich die
Legitimität einer Staatsgewalt primär nach ihrer Vereinbarkeit mit dem Willen der
Regierten bemisst, erscheint eine vom Sicherheitsrat oktroyierte Gebietsverwaltung
besonders rechtfertigungbedürftig.1771 Das Selbstbestimmungsrecht wird von der
Friendly Relations Declaration definiert als das Recht aller Völker „freely to determine, without external interference, their political status and to pursue their economic, social and cultural development“.1772 Völker sollen mithin grundsätzlich alleinige
Herren ihres Schicksals sein.1773 Eine UN-Zwangsverwaltung soll aber ein Gebiet
nicht nur anstelle nationaler Organe regieren, sondern dort regelmäßig auch neue
Strukturen schaffen, die den Abzug der UN überdauern sollen.1774 Im Kosovo
entschied UNMIK sogar über das Wirtschaftssystem, schaffte die sozialistische
Planwirtschaft weitgehend ab und begann, die kollektivierten Staatsbetriebe zu
privatisieren.1775 Prima facie greift eine UN-Verwaltung mithin erheblich in das
Recht des betroffenen Volkes auf Selbstbestimmung ein.
Andererseits setzt die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts voraus, dass die
Bewohner eines Gebietes über Strukturen verfügen, um einen kollektiven Willen zu
bilden. Es ließe sich daher umgekehrt argumentieren, dass eine UN-Mission, die ein
Gebiet nach dem Zusammenbruch seiner staatlichen Institutionen für eine
Übergangszeit verwaltet, um solche kollektiven Strukturen zu errichten, erst die
Voraussetzung für die Ausübung des Selbstbestimmungrechts schafft und daher
1771
Ähnlich Tomuschat, in: FS Kooijmans (2002), S. 326 u. 327.
1772
5. Prinzip der Declaration on Principles of International Law Concerning Friendly Relations and
Co-operation Among States in Accordance with the Charter of the United Nations, von der Generalversammlung im Konsensverfahren angenommen als A/RES/2625 (XXV) vom 24.10.1970, abgedr. in
UNYB 1970, 788-792. Zum Selbstbestimmungsrecht allgemein siehe Cristescu, Self-Determination
(UN Studie 1981); Tomuschat (Hrsg.), Self-Determination (1993); Cassese, Self-Determination
(1995); McCorquodale (Hrsg.), Self-Determination (2000); Mett, Selbstbestimmungsrecht (2004).
Speziell zum Selbstbestimmungsrecht im Kosovo bzw. in Osttimor siehe Richardson, Temple
I.&C.L.J. 14 (2000), 101-108; Seidel, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the Int'l. Community (2002),
S. 203-215; Wodarz, Kosovo-Konflikt (2002), S. 152-230; de Wet, Chapter VII Powers (2004), S.
326-335; und Franz, Osttimor (2005), S. 139-260.
1773
Ipsen, Völkerrecht (2004), § 27 Rn. 10, unter Berufung auf den Bericht des UN
Sonderberichterstatters Cristescu, Self-Determination (UN Studie 1981), 17.
1774
Siehe § 2 (b) S/RES/1272 (1999) zu UNTAET oder § 11 (b)-(d) S/RES/1244 (1999) zu UNMIK.
1775
Siehe dazu bereits oben 2.Kp. L, ferner Hobe/Griebel, in: FS Ress (2005), S. 141-150.
386
grundsätzlich mit diesem vereinbar sein müsse.1776
Diesen Fragestellungen soll im Folgenden nachgegangen werden. Da das
Selbstbestimmungsrecht
sehr
unterschiedliche
Aspekte
einer
Krisengebietsverwaltung betrifft – von der täglichen Verwaltungsarbeit über die
langfristige
Reform
des
Staats-
und
Wirtschaftssystems
bis
hin
zum
völkerrechtlichen Status des Gebietes nach Abzug der UN – bietet es sich an, von
dem bislang gewählten problembezogenen Ansatz abzuweichen und normbezogen
vorzugehen. Die aufgeworfenen Fragen sollen daher im Folgenden ausgehend von
den unterschiedlichen Ausprägungen des Selbstbestimmungsrechts her untersucht
werden.
1.
Status des Selbstbestimmungsrechts im Völkerrecht
Obwohl Inhalt und Träger des Selbstbestimmungsrechts teilweise noch immer
umstritten sind, wird seine Rechtsqualität heute kaum noch in Zweifel gezogen.1777
Für den Sicherheitsrat ist es zumindest in Gestalt der Zielbestimmung des Art. 1 Ziff.
2 SVN nach Art. 24 Abs. 2 Satz 1 SVN zu beachten.1778 Nach der hier vertretenen
These einer abgestuften Bindung des Sicherheitsrates unter Kapitel VII der Charta
bedeutet dies zunächst, das er bei der Ausübung territorialer Hoheitsgewalt
verpflichtet
ist,
das
Selbstbestimmungsrecht
in
seinen
unterschiedlichen
Ausprägungen soweit zu berücksichtigen, wie ihm dies im Einzelfall ohne
wesentliche Beeinträchtigung der Friedenssicherung möglich ist.1779
1776
Tomuschat, RdC 281 (1999), 1 (244); Irmscher, GYIL 44 (2001), 353 (365); von Carlowitz, AVR
41 (2003), 336 (366). Kritisch Gill, NYIL 26 (1995), 33 (75), und Herdegen, Die Befugnisse des UN
Sicherheitsrates (1998), S. 29, die eine wie auch immer geartete Zustimmung der Bevölkerung
verlangen. Für UNMIK als Mittel zur Realisierung des internen Selbstbestimmungsrechts der
Kosovaren Stahn, Leiden JIL 14 (2001), 531 (541).
1777
Zur Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts siehe statt vieler Tomuschat, RdC 281 (1999), 1
(239-243).
1778
Siehe dazu bereits oben 4.Kp. A.II.1b. Art. 1 Ziff. 2 SVN spricht zwar lediglich vom Grundsatz
(„principle“) der Selbstbestimmung der Völker. Im Kontext einer Ausübung tatsächlicher
Herrschaftsgewalt über eine Bevölkerung kann eine Förderung dieses Prinzips in den internationalen
Beziehungen nur die eigene Beachtung und Umsetzung des Selbstbestimmungsrechts in der Gestalt
bedeuten, die es nach dem gegenwärtigen Stand des Völkerrechts gefunden hat.
1779
Zu dieser abgestuften Bindung siehe zusammenfassend oben 4.Kp.D.
387
Ob darüber hinaus eine absolute Verpflichtung des Sicherheitsrates zur Beachtung
des Selbstbestimmungsrechts besteht, hängt davon ab, inwieweit man diesem Recht
zwingenden Charakter zumisst. Das Selbstbestimmungsrecht ist nicht nur durch
seine Niederlegung im jeweils ersten Artikel der beiden UN-Menschenrechtspakte
vertraglich
gewährleistet,
sondern
mittlerweile
auch
gewohnheitsrechtlich
verbürgt.1780 In seinem Urteil zu Osttimor erklärte der IGH es zu einem Recht erga
omnes.1781 In der völkerrechtlichen Literatur wird es daher überwiegend als ein
zumindest in Teilbereichen zwingendes Recht angesehen.1782
Das hieße, dass der Sicherheitsrat unter allen Umständen zu seiner Beachtung
verpflichtet und er damit bei der Bekämpfung von Friedensbedrohungen in nicht
unerheblichem Maße eingeschränkt würde. Da Aspekte des Selbstbestimmungsrechts
heute bei einer Vielzahl von Friedensbedrohungen eine Rolle spielen, wäre der
Handlungsspielraum des Sicherheitsrates nach Kapitel VII der Charta erheblich
eingeschränkt. Da eine feindliche Besetzung eines Staates im Regelfall auch das
Selbstbestimmungsrecht
seiner
Bevölkerung
verletzt
(weil
es
zumindest
vorübergehend nicht mehr selbst sein politisches Schicksal bestimmen kann), würfe
jede diesbezügliche Autorisierung, Beteiligung oder Unterstützung seitens des
Sicherheitsrates schwierige Rechtsfragen auf.1783 Wie bereits ausgeführt, stellt auch
die UN-Verwaltung des Kosovo prima facie eine Beeinträchtigung des
Selbstbestimmungsrechts dar, weil ihre Fortdauer zumindest momentan weder dem
Willen der nach Unabhängigkeit strebenden albanischen Bevölkerungsmehrheit des
1780
IGH, Namibia-Gutachten, ICJ-Rep. 1971, 16 (31 § 52); bestätigt und ausgebaut in IGH, West
Sahara-Gutachten, ICJ-Rep. 1975, 12 (31-33 §§ 54-59); BVerfG, Teso-Beschluss (21.10.1987),
BVerfGE 77, 137 (161); Cristescu, Self-Determination (UN Studie 1981), § 141; Tomuschat, RdC
281 (1999), 1 (243).
1781
IGH, East Timor (Portugal v. Australia), ICJ-Rep. 1995, 90 (102 § 29).
1782
Hannikainen, Peremptory Norms (1988), S. 421, Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht (1992), S.
264, und Ipsen, Völkerrecht (2004), § 27 Rn. 9, messen nur dem Selbstbestimmungsrecht der
Kolonialvölker zwingenden Charakter bei. Weitergehend Nowak, CCPR Commentary (1993), Art. 1
Rn. 3 (auch Völker unter Fremdherrschaft); Frowein, Jus Cogens, EPIL III (1997), 65, S. 67; Zimmermann/Stahn, Nordic JIL 70 (2001), 423 (453); Tomuschat, in: FS Kooijmans (2002), S. 341;
Wodarz, Kosovo-Konflikt (2002), S.166 f.; Doehring, Völkerrecht (2004), Rn. 800; Mett,
Selbstbestimmungsrecht (2004), S. 194 f.; und Starita, RGDIP 108 (2004), 883 (906). Ablehnend noch
Cristescu, Self-Determination (UN Studie 1981), § 154.
1783
So in Bezug auf die Besetzung des Iraks Starita, RGDIP 108 (2004), 883-916 (inbes. 902-906).
388
Kosovo entspricht, noch dem der Serben als Staatsvolk des Landes, das zumindest
formell Träger der Souveränität über das Kosovo ist.
Der Umstand, dass weder die – wenn auch untergeordnete – Beteiligung der UN an
der CPA-Verwaltung des Irak,1784 noch die bis heute andauernde UN-Verwaltung des
Kosovo international als erhebliche Verstöße gegen das Selbstbestimmungsrecht
gebrandmarkt
wurden,
deutet
daraufhin,
dass
solche
nach
Ansicht
der
Staatengemeinschaft nicht vorliegt. Dieser Befund lässt sich rechtlich auf
unterschiedliche Arten begründen, beispielsweise durch eine restriktive Auslegung
des Selbstbestimmungsrechts im jeweiligen Einzelfall oder indem man dem
Sicherheitsrat unter Kapitel VII der Charta die Befugnis gibt, im Wege der
praktischen Konkordanz die Geltung eines zwingenden Rechts zugunsten der eines
anderen einzuschränken.1785
Am sinnvollsten erscheint es jedoch, davon auszugehen, dass der zwingende
Bestandteil des Selbstbestimmungsrechts nicht soweit reicht, dem Sicherheitsrat eine
vorübergehende Beschränkung zu verwehren. Das entspräche nicht nur der Praxis
des Sicherheitsrates, sondern würde auch einen diesbezüglichen Gleichlauf des
Selbstbestimmungsrechts mit dem Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten
bewirken. Auch dieser Grundsatz ist für alle Staaten untereinander verbindlich und
insbesondere in Gestalt des Aggressionsverbotes zwingenden Charakters. Dagegen
ist der Sicherheitsrat nicht daran gehindert, zum Zwecke der Friedenssicherung
zumindest vorübergehend die Souveränität der Staaten erheblich zu beschränken.1786
Da der in Art. 2 Ziff. 1 SVN niedergelegte Grundsatz der souveränen Gleichheit der
Staaten ebenso wie das Interventionsverbot des Art. 2 Ziff. 7 SVN in der Sache
nichts Anderes schützt als das fortbestehende Selbstbestimmungsrecht des
Staatsvolkes,1787
1784
kann
der
Schutz
des
Selbstbestimmungsrechts
vor
Siehe dazu bereits oben 2.Kp.P.
1785
Im letztgenannten Sinne Starita, RGDIP 108 (2004), 883 (909). Ähnlich Tomuschat, in: FS
Kooijmans (2002), S. 340, der den Sicherheitsrat als nicht an alle ius cogens-Normen gebunden
ansieht.
1786
1787
Siehe ausf. dazu unten 4.Kp. E.VI.
Zur staatl. Souveränität als Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts des Staatsvolkes siehe
389
Zwangsmaßnahmen des Sicherheitsrates im Grundsatz nicht weiter gehen als der
Schutz der staatlichen Souveränität. Es wäre widersprüchlich, wenn der
Sicherheitsrat wie im Falle des Kosovo einen Staat dazu zwingen könnte, die
Verwaltungshoheit über einen Teil seines Staatsgebietes aufzugeben, dies im Falle
eines nach Unabhängigkeit strebenden Volkes aber wegen Verstoßes gegen das
zwingende Selbstbestimmungsrecht unzulässig wäre.
Im Ergebnis ist daher davon auszugehen, dass das Selbstbestimmungsrecht jedenfalls
für den Sicherheitsrat nur insoweit zwingend sein kann, als es ihm seine langfristige
oder gar dauerhafte Beschränkungen untersagt. Das entspräche auch den Vorgaben
des Art. 1 Ziff. 1 SVN, der den Sicherheitsrat dazu verpflichtet, langfristige
Konfliktlösungen nur im Einklang mit den Grundsätzen des allgemeinen
Völkerrechts zu beschließen.1788 Zu diesen dann zu beachtenden Grundsätzen gehört
ohne Zweifel auch das Selbstbestimmungsrecht in seinen unterschiedlichen
Ausprägungen.
2.
Anwendungsbereich des Selbstbestimmungsrechts
Hinsichtlich
des
Anwendungsbereichs
ratione
personae
des
Selbstbestimmungsrechts ist aufgrund seines engen Zusammenhangs mit der
Dekolonialisierung lediglich unstrittig, dass die Einwohner von Gebieten unter
Fremdherrschaft erfasst werden.1789 Als solche sind nicht nur die Palästinenser in den
von Israel besetzten Gebieten einzustufen,1790 sondern auch die Bewohner solcher
Territorien, die vom Sicherheitsrat auf der Grundlage von Kapitel VII der Charta
Cassese, Self-Determination (1995), S. 59; Ipsen, Völkerrecht (2004), § 28 Rn. 6; Mett,
Selbstbestimmungsrecht (2004), S. 109 f. Ähnlich auch Nowak, CCPR Commentary (1993), Art. 1
Rn. 19.
1788
Siehe ausführlicher dazu unten 4.Kp.E.VI.
1789
Tomuschat, RdC 281 (1999), 1 (247); ähnlich Mett, Selbstbestimmungsrecht (2004), S. 371;
weitergehend Wodarz, Kosovo-Konflikt (2002), S.171-180 (unter bestimmten Umständen auch
Minderheiten innerhalb eines Staates). Siehe auch das Bekenntnis der UN-Mitgliedstaaten in der
Milleniumserklärung: „We rededicate ourselves to support all efforts to uphold (...) the right to selfdetermination of peoples which remain under colonial domination and foreign occupation” (§ 5
A/RES/55/2 vom 8.9.2000, abgedr. in UNYB 2000, 49-54 – Hervorhebungen durch den Verfasser).
1790
Siehe die jährlichen Resolutionen der Generalversammlung, zuletzt A/RES/59/179 vom
20.12.2004; ferner IGH, Legal consequences of the wall (Gutachten 2004), § 118.
390
verwaltet werden. Auch bei einer UN-Zwangsverwaltung handelt es sich um eine
Fremdherrschaft, da sich ihre Rechte und Befugnisse nicht von der Bevölkerung
ableiten, sondern allein aus der Charta.1791 Es erscheint nicht sinnvoll, den
personellen Anwendungsbereich auf die Bevölkerung solcher Gebiete zu
beschränken, die unter Verletzung des Gewaltverbotes militärisch besetzt wurden.1792
Vielmehr ist entscheidend, dass rechtlich und tatsächlich unabhängig von einem wie
auch immer gearteten Willen der Bevölkerung eine Territorialverwaltung
eingerichtet wird, die das Gebiet wiederum unabhängig vom Willen seiner
Bevölkerung regiert.1793
Da eine UN-Verwaltung die Geschicke des Gebietes und seiner Bevölkerung lenkt
und
bestimmt,
liegt
auch
ratione
materiae
ein
Eingriff
in
das
Selbstbestimmungsrecht vor. Zwar wurden die Kosovaren und die Osttimoresen in
zunehmendem Maße an der Verwaltung beteiligt,1794 die UN-Verwaltung blieb aber
letztverantwortlich und behielt ein Vetorecht auch in jenen Kompetenzbereichen, die
man lokalen Stellen zur Ausübung übertrug.1795 Der Sicherheitsrat ist mithin nach
Art. 24 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Ziff. 2 SVN grundsätzlich gehalten,
den Willen der Bevölkerung zu beachten. Soweit das Selbstbestimmungsrecht nach
dem oben Gesagten auch für den Sicherheitsrat zwingenden Charakters ist, gilt dies
grundsätzlich auch dann, wenn seine Beachtung die Wahrung der internationalen
Sicherheit gefährdet oder erschwert.
1791
Etwas anderes gilt dementsprechend für konsensgestützte UN-Gebietsverwaltungen auf der
Grundlage von Art. 24 Abs. 1 SVN, die auf der Einwilligung hinreichend legitimierter Vertreter der
Betroffenen fußen.
1792
So aber Cassese, Self-Determination (1995), S. 99; ihm folgend Irmscher, GYIL 44 (2001), 353
(364 f.).
1793
In diese Richtung auch Gill, NYIL 26 (1995), 33 (75), der von einer Gebietsverwaltung auf der
Grundlage von Kapitel VII als einer „alien rule“ spricht. Zu dem hier vertretenen Ergebnis käme man
auch bei Anwendung der von Mett, Selbstbestimmungsrecht (2004), S. 371, vertretenen These,
derzufolge das Selbstbestimmungsrecht allein jenen Völkern zustünde, deren Regierungen keinen
rechtmäßigen Titel für das regierte Territorium besäßen. Auch eine UN-Zwangsverwaltung verfügt
nicht über einen solchen Titel, da ihr der Sicherheitsrat lediglich die Befugnis zur Gebietsverwaltung,
nicht aber jene, frei über das Gebiet zu verfügen, übertragen kann. Siehe dazu auch den folgenden
Abschnitt 4.Kp. E.V.3 u. VI.
1794
Nachweise unten in 4.Kp. E.V.5.
1795
So ausdrücklich Kp. 12 des constitutional framework (UNMIK/REG/2001/9) vom 15.5.2001.
391
Drei Ausprägungen des Selbstbestimmungsrechts sind im Zusammenhang mit der
Verwaltung von Krisengebieten durch den Sicherheitsrat von Bedeutung: In seiner
externen Dimension betrifft das Selbstbestimmungsrecht die Frage, inwieweit der
Sicherheitsrat bei Entscheidungen, die den völkerrechtlichen Status des Gebietes
berühren, dessen Bevölkerung konsultieren muss (3). Die interne Dimension des
Selbstbestimmungsrechts besteht im Recht eines Volkes, einerseits über seine interne
Ordnung selbst zu entscheiden (4), und andererseits an der Regierungsgewalt
teilzuhaben (5). Beide Ausprägungen des internen Selbstbestimmungsrechts sind
völkerrechtlich weniger gefestigt als das externe Selbstbestimmungsrecht,1796 sind
aber dennoch für die Verwaltungskompetenz des Sicherheitsrates von Bedeutung.
3.
Externes Selbstbestimmungsrecht: Die Entscheidung über den
territorialen Status
Das externe Selbstbestimmungsrecht ist das Recht eines Volkes, selbst über den
langfristigen völkerrechtlichen Status seines Gebietes zu entscheiden.1797 Es hindert
den Sicherheitsrat daran, frei über das von ihm unter Kapitel VII verwaltete Gebiet
zu verfügen und einseitig irreversible Entscheidungen zu treffen. Er darf es nicht
eigenmächtig teilen, in einen bestehenden Drittstaat inkorporieren oder in die
Unabhängigkeit entlassen. Vielmehr sind derartige langfristige Statusentscheidungen
der Bevölkerung des Gebietes vorbehalten. Dieser Teil des Selbstbestimmungsrechts
ist zwingenden Charakters.1798 Der Sicherheitsrat ist daher absolut daran gebunden,
er kann sich nicht mit dem Verweis auf seine Friedenssicherungspflicht darüber
hinwegsetzen.1799
Andererseits bestimmt sich der Umfang des externen Selbstbestimmungsrechts einer
Gebietsbevölkerung nicht nach ihrem Status unter UN-Verwaltung, sondern nach
ihrem Status quo ante. War das Gebiet unter UN-Verwaltung zuvor ein unabhängiger
Staat, genießt seine Bevölkerung das Selbstbestimmungsrecht in vollem Umfang.
1796
Tomuschat, RdC 281 (1999), 1 (259).
1797
Siehe statt vieler Ipsen, Völkerrecht (2004), § 29 Rn. 1.
1798
Siehe die Nachweise in Fn. 1782.
1799
Anders Matheson, AJIL 95 (2001), 76 (85), und wohl auch Kirgis, AJIL 95 (2001), 579 (580).
392
War es dagegen wie das Kosovo zuvor Teil eines anderen Staates, kann seine
Bevölkerung grundsätzlich nicht aus dem externen Selbstbestimmungsrecht ein
Sezessionsrecht ableiten.1800 Ein solches wird zwar von der überwiegenden Literatur
für
den
Fall
befürwortet,
Menschenrechtsverletzungen
dass
seitens
eine
Minderheit
staatlicher
Opfer
Organe
schwerster
oder
der
Mehrheitsbevölkerung wurde.1801 Ein Verbleiben könne ihr dann nicht mehr
zugemutet werden. Bislang hat aber ein solches Recht in der Staatenpraxis keine
Anerkennung gefunden.1802 Gerade im Fall des Kosovo hat die internationale
Gemeinschaft bisher ein solches Sezessionsrecht trotz der vorangegangenen
Menschenrechtsverletzungen nicht anerkannt.1803 Vielmehr betont Resolution 1244
(1999) ausdrücklich die territoriale Integrität der Bundesrepublik Jugoslawien und
gewährt dem Kosovo nur substantielle Autonomie.1804
Auch in den übrigen Fällen der vollständigen Übernahme der Verwaltungshoheit
über ein Gebiet hat der Sicherheitsrat das externe Selbstbestimmungsrecht gewahrt
und den territorialen Status des Gebietes nicht eigenmächtig verändert. UNTAES
übergab die Verwaltungshoheit über Ostslavonien an Kroatien, womit dessen
1800
Siehe das 5. Prinzip, Abs. 7, der Friendly Relations Declaration, A/RES/2625 (XXV) Annex.
1801
Zimmermann/Stahn, Nordic JIL 70 (2001), 423 (455 f.); Tomuschat, in: FS Kooijmans (2002), S.
343; de Wet, Chapter VII Powers (2004), S. 328 f.; Doehring, Völkerrecht (2004), Rn. 798;
Hobe/Kimminich, Völkerrecht (2004), S. 118. Ausführlich im Hinblick auf das Kosovo Wodarz,
Kosovo-Konflikt (2002), S. 182-200, und Seidel, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the Int'l. Community (2002), S. 209-212.
1802
Wodarz, Kosovo-Konflikt (2002), S. 200-217.
1803
Zimmermann/Stahn, Nordic JIL 70 (2001), 423 (428); Wodarz, Kosovo-Konflikt (2002), S. 217 f.,
die allerdings selbst ebenso wie Seidel, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the Int'l. Community
(2002), S. 212, für ein Sezessionsrecht des Kosovo plädiert. In diese Richtung auch Tomuschat, in: FS
Kooijmans (2002), S. 343, der aber anmerkt, dass die erhebliche Verletzung der Rechte der
Minderheiten im Kosovo durch die albanische Bevölkerungsmehrheit zu einer Verwirkung des
Sezessionsrechts führen könnte (ebenda, S. 346). Gegen ein Sezessionsrecht für das Kosovo Muharremi, Treuhandverwaltung (2005), S. 126 f.
1804
Präambel-§§ 10 u. 11 S/RES/1244 (1999). Zu Recht bezeichnet Tomuschat, in: FS Kooijmans
(2002), S. 325, indes die jugoslawische Souveränität über das von der UN verwaltete Kosovo als
einen „purely nominal title“. Mittlerweile setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass der
kosovo-albanischen Bevölkerungsmehrheit ein Verbleiben im jugoslawischen Bundesstaat politisch
nicht zu vermitteln ist. Siehe dazu beispielsweise ICG, Kosovo: Final Status (2005). Die serbische
Seite besteht indes weiterhin auf einer Zugehörigkeit des Kosovo zu Serbien. Siehe NYT vom
13.2.2005.
393
territoriale Integrität wiederhergestellt wurde.1805 Die Unabhängigkeit Osttimors
beruhte auf der Entscheidung der timoresischen Bevölkerung im Referendum vom
30. August 1999, UNTAET setzte sie lediglich um.1806
4.
Internes Selbstbestimmungsrecht: Die Entscheidung über die Regierungsund Wirtschaftsform
Das Selbstbestimmungsrecht beinhaltet nach Art. 1 Satz 2 IPbürgR und IPwirtR
ferner das Recht aller Völker, frei über ihren politischen Status und über ihre
wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu entscheiden. Es umfasst damit
auch das Recht eines Volkes, über die Grundfragen seiner Staatsorganisation und
über sein Wirtschaftssystem selbst zu entscheiden.1807 Das so verstandene interne
Selbstbestimmungsrecht hindert den Sicherheitsrat daran, einem Gebiet dauerhaft
eine
Regierungsform
und
ein
Wirtschaftssystem
zu
oktroyieren.1808
Der
Sicherheitsrat kann grundsätzlich nur den Prozess der Willensbildung begleiten und
die von der Bevölkerung getroffene Entscheidung umsetzen. Als Kehrseite des
Rechts auf einen eigenen Staat spricht einiges dafür, auch dem Recht, diesen nach
eigenem Gutdünken zu organisieren, zwingenden Charakter zuzusprechen.1809 Dies
muss zumindest dann gelten, wenn die Bevölkerung eines Gebietes aus dem externen
Recht einen Anspruch auf einen eigenen Staat herleiten kann, da sonst auch dem
Grundsatz der Staatensouveränität nicht Genüge getan würde.
Vor diesem Hintergrund mag es überraschend erscheinen, dass es oft wesentliche
Aufgabe einer UN-Zwangsverwaltung ist, ein neues Regierungssystem einzurichten,
dessen Organe das Gebiet nach dem Abzug der Vereinten Nationen verwalten sollen.
1805
Zu UNTAES siehe oben 2.Kp. K.
1806
Zu UNTAET siehe oben 2.Kp. M.
1807
Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht (1992), S. 263; Wodarz, Kosovo-Konflikt (2002), S. 168;
Ipsen, Völkerrecht (2004), § 30 Rn. 1; Franz, Osttimor (2005), S. 124.
1808
Gill, NYIL 26 (1995), 33 (75 f.); Herdegen, Die Befugnisse des UN Sicherheitsrates (1998), S. 29;
Kondoch, JC&SL 6 (2001), 245 (260); Irmscher, GYIL 44 (2001), 353 (365); Tomuschat, in: FS
Kooijmans (2002), S. 326 f.; de Wet, Chapter VII Powers (2004), S. 329. Anders Matheson, AJIL 95
(2001), 76 (85), der dies für zulässig hält, soweit es für die Friedenssicherung erforderlich ist.
Dagegen ist nach dem oben (4.Kp. E.V.1) Gesagten ein vorübergehender Oktroy zulässig.
1809
Für die Gleichwertigkeit beider Aspekte des Selbstbestimmungsrechts auch Cristescu, SelfDetermination (UN Studie 1981), § 303.
394
Dabei wurde die Bevölkerung nie vorab nach dem gewünschten Regierungssystem
befragt, vielmehr umgehend mit der Errichtung demokratischer Regierungsstrukturen
auf allen Ebenen staatlicher Verwaltung begonnen.1810 Dies ist jedoch aus
verschiedenen Gründen nicht als Verstoß gegen das Selbstbestimmungsrecht zu
werten. Einerseits schaffen demokratische Strukturen erst die Voraussetzung dafür,
den „Willen“ der Bevölkerung regelmäßig und umfassend zu ermitteln. Das
wiederum ist Voraussetzung dafür, den Willen der Bevölkerung – und nicht nur den
von Machtstrukturen, die sich während eines vorangehenden Konfliktes bilden
konnten – bei der Gebietsverwaltung zu berücksichtigen.1811 Andererseits sind
demokratische Strukturen von allen staatlichen Regierungsformen am ehesten
reversibel. Sie erlauben es der Bevölkerung, sich nach Abzug der UN in freier
Abstimmung für ein anderes Regierungssystem zu entscheiden. Zuletzt ließe sich
auch argumentieren, dass die Teilnahme der Bevölkerung an den von einer UNVerwaltung organisierten Wahlen Ausdruck ihrer Zustimmung zu der von der UNVerwaltung eingerichteten Demokratie als Regierungsform ist.1812
Das letztgenannte Argument – die aktive Teilnahme als Ausdruck der Zustimmung –
ist letztlich auch das einzige, das die Einführung eines marktwirtschaftlichen
Systems im Kosovo und in Osttimor ohne explizite Volksbefragung rechtfertigen
kann. Denn anders als der Wechsel von der Demokratie zu einer anderen
Regierungsform lässt sich der Wechsel zu einem anderen Wirtschaftssystem,
beispielsweise zurück zur kollektivistischen Wirtschaftsordnung des früheren
Jugoslawiens, nur unter größtem Aufwand bewerkstelligen.1813 Prinzipiell scheint
1810
Ausführlich zu den diesbezüglichen Maßnahmen von UNMIK im Kosovo und UNTAET in
Osttimor Beauvais, NYU JIL&P 33 (2000/01), 1101 (insbes. 1114-1136); Stahn, Leiden JIL 14
(2001), 531 (558-560); Morrow/White, Australian YBIL 22 (2002), 1 (33-43); Brand, Kosovo Institutions (2003); Chesterman, You, The People (2004), S. 126-153 (insbes. S. 128-145), ferner S. 226234; und de Wet, Chapter VII Powers (2004), S. 329-335. Zur praktischen Arbeit der
Selbstverwaltungsinstitutionen im Kosovo siehe die regelmäßigen Berichte der OMIK, Department of
Human Rights and Rule of Law, abrufbar von <www.osce.org/kosovo>. Für einen Einblick in die
gegenwärtige innenpolitische Lage im UN-verwalteten Kosovo siehe ICG, Kosovo after Haradinaj
(2005).
1811
Vgl. die Nachweise oben in Fn. 1776.
1812
Irmscher, GYIL 44 (2001), 353 (365).
1813
Exemplarisch sei hier auf die gewohnheitsrechtliche Pflicht zur Entschädigung bei Enteignungen
verwiesen.
395
daher eine verbindliche Volksbefragung zu diesem Thema angemessen, auch wenn
es unwahrscheinlich ist, dass eine Bevölkerung sich gegen die Einrichtung eines
marktwirtschaftlichen Systems ausspräche. Auch sei nicht in Abrede gestellt, dass
tatsächliche Erwägungen die Entscheidung für eine Marktwirtschaft angeraten
erscheinen lassen.1814
5.
Internes Selbstbestimmungsrecht: Die Beteiligung der Bevölkerung an der
Gebietsverwaltung
Fraglich ist, inwieweit sich aus dem Selbstbestimmungsrecht ein Anspruch der
Bevölkerung ergibt, an der Gebietsverwaltung zu partizipieren – beispielsweise
durch
Abstimmungen
oder
Beteiligung
von
Entscheidungsprozessen
der
UN-Verwaltung.
Volksvertretern
Grundsätzlich
an
den
setzt
die
Berücksichtigung des Willens der Bevölkerung voraus, dass dieser in irgendeiner
Form ermittelt wird, idealerweise durch Plebiszite oder Wahlen. Insofern weist das
Selbstbestimmungsrecht durchaus demokratische Elemente auf. Eine Pflicht zur
Befragung der Bevölkerung folgt aus dem Selbstbestimmungsrecht indes nur
insoweit, als der Wille der Bevölkerung zu beachten ist. Anerkannt ist dies bislang
erst hinsichtlich der oben behandelten Fragen des territorialen Status und der
(langfristigen) Verfassungsordnung eines Gebietes.1815 Für das Tagesgeschäft1816
einer UN-Verwaltung folgt aus dem Selbstbestimmungsrecht allein noch keine
Pflicht zur Beteiligung der Bevölkerung.1817
Eine solche Pflicht folgt aber aus dem sich entwickelnden Demokratieprinzip im
Völkerrecht und aus der Vorreiterrolle, welche die Vereinten Nationen bei seiner
1814
Insbesondere die Notwendigkeit, private Investoren zu einem wirtschaftlichen Engagement in
(ehemaligen) Krisenregionen zu bewegen, spricht gegen die Einrichtung einer sozialistischen
Planwirtschaft.
1815
So folgert der IGH aus dem Selbstbestimmungsrecht eine Pflicht zur Befragung der Bevölkerung,
um den von ihr gewünschten internationalen Status des Gebietes zu ermitteln (IGH, West SaharaGutachten, ICJ-Rep. 1975, 12 (33 §§ 58 f.)). Für eine Pflicht zum Plebiszit auch Mett,
Selbstbestimmungsrecht (2004), S. 374.
1816
Hier verstanden als alle Maßnahmen, die keine über den Abzug der UN hinaus andauernden
Rechtsfolgen zeitigen sollen bzw. die nach dem Abzug der UN ohne erhebliche Schwierigkeiten
zurückgenommen oder geändert werden können.
1817
So auch Tomuschat, RdC 281 (1999), 1 (259), für Regierungen im Allgemeinen.
396
Entwicklung
spielen.1818
Es
speist
sich
neben
dem
internen
Selbstbestimmungsrecht1819 insbesondere aus den in Art. 25 IPbürgR niedergelegten
demokratischen
Individualrechten1820
und
der
zunehmenden
Betonung der
Demokratie als wesentliche und einzig förderungswürdige Regierungsform durch die
Staaten.1821 Diese sich herausbildende opinio iuris wird gestützt durch die Praxis der
Vereinten Nationen als ausführendes Organ der Staatengemeinschaft. Wann immer
sie sich seit 1988 im Bereich state-building engagierte, hatte ihre Tätigkeit stets den
Aufbau eines demokratischen Staatswesens zum Ziel.1822 Insoweit ist von einer
gewissen Selbstbindung des Sicherheitsrates auszugehen.1823 Hinzu tritt die
Verpflichtung aus Art. 25 IPbürgR als autoritative Konkretisierung des Art. 1 Ziff. 3
SVN.1824 Das Bestehen eines allgemeinen, völkergewohnheitsrechtlichen Anspruchs
auf demokratische Teilhabe an der Regierungsgewalt erscheint indes angesichts der
immer noch zahlreichen UN-Mitgliedstaaten ohne demokratische Regierungsform
weiter zweifelhaft.1825 Sofern es überhaupt zum gegenwärtigen Zeitpunkt
gewohnheitsrechtlich verbürgt ist, hat es jedenfalls noch nicht den Status zwingenden
1818
Zu diesem Rechtsprinzip in statu nascendi siehe grundlegend Franck, AJIL 86 (1992), 46-91;
ferner Fox/Roth (Hrsg.), Democratic Governance (2000), und Fulda, Demokratie (2002), S. 11-92.
1819
Für eine Herleitung aus dem Selbstbestimmungsrecht insbesondere Franck, AJIL 86 (1992), 46
(52-56), kritisch Fulda, Demokratie (2002), S. 25.
1820
Art. 25 IPbürgR enthält einen Anspruch des Einzelnen auf Teilhabe an der Gestaltung öffentlicher
Angelegenheiten, auf Teilnahme an Wahlen und auf Zugang zu öffentlichen Ämtern. Ausführlicher zu
seiner Bedeutung für das Demokratieprinzip Fulda, Demokratie (2002), S. 18-21.
1821
Siehe beispielsweise das Bekenntnis zur Förderung der Demokratie in § 24 der sog. Milleniumserklärung, A/RES/55/2 vom 8.9.2000 (abgedr. in UNYB 2000, 49-54), und die von der
Generalversammlung ohne Gegenstimmen (157/0/16) verabschiedete Resolution Promoting and
consolidating democracy, A/RES/55/96 vom 4.12.2000 (abgedr. in UNYB 2000, 674-676). Siehe
auch den Überblick über die bisherige Staatenpraxis bei Fulda, Demokratie (2002), S. 12-17.
1822
Ipsen, Völkerrecht (2004), § 30 Rn. 7; Fulda, Demokratie (2002), S. 11 f., mit ausführlicher
Analyse der UN-Praxis (ebenda, S. 37-67).
1823
Zur Möglichkeit einer Selbstbindung des Sicherheitsrates siehe 4.Kp. A.V.2.
1824
Zur autoritativen Konkretisierung des Art. 1 Ziff. 3 SVN durch die von der Generalversammlung
ausgearbeiteten Menschenrechtsinstrumente siehe oben 4.Kp. A.V.1.
1825
Keinesfalls kann von einer bestehenden Pflicht zur Demokratie ausgegangen werden. Diese
widerspräche dem oben behandelten Recht der Völker, selbst über ihre Regierungsform zu
entscheiden. So auch Mett, Selbstbestimmungsrecht (2004), S. 374.
397
Rechts erlangt.1826
Daraus ergibt sich für den Sicherheitsrat zweierlei: Einerseits ist er aufgrund des
internen Selbstbestimmungsrechts und des Demokratieprinzips dazu verpflichtet, die
Willensbildung der Bevölkerung zu ermöglichen und aktiv zu fördern, sowie die
Bevölkerung nach Möglichkeit frühzeitig und umfassend an der Verwaltung zu
beteiligen. Andererseits steht diese Pflicht unter dem Vorbehalt, dass ihre Beachtung
die Friedenssicherung nicht gefährdet, da sie nicht den Status zwingenden Rechts
besitzt. In rechtlicher Hinsicht kann eine auf der Grundlage von Kapitel VII der
Charta operierende UN-Verwaltung daher bis zu einer gewissen Stabilisierung der
Sicherheitslage in dem Gebiet ohne Beteiligung der Bevölkerung regieren, ohne
gegen Selbstbestimmungsrecht und Demokratieprinzip zu verstoßen. Im Rahmen des
Möglichen ist sie jedoch dazu verpflichtet, die Bevölkerung in demokratischer Weise
an der Regierung des Gebietes zu beteiligen.
In der Praxis entsprachen die UN-Verwaltungen im Kosovo und in Osttimor diesen
rechtlichen Vorgaben.1827 So war die Beteiligung der Bevölkerung und die
zunehmende Übergabe der Verantwortung an ihre Selbstverwaltungsinstitutionen
bereits in ihren Mandaten angelegt.1828 Dass in beiden Fällen zwischen Einrichtung
der Gebietsverwaltungen und Übertragung aller Kompetenzen an nationale
Institutionen einige Jahre vergingen, begegnet angesichts der mit dem Aufbau
staatlicher Strukturen verbundenen Probleme keinen grundsätzlichen Bedenken.1829
Gleiches gilt für das Vetorecht des UN-Sondergesandten gegen Rechtsakte der
Selbstverwaltungsinstitutionen, sofern seine Ausübung im Einzelfall der Wahrung
Tomuschat, RdC 281 (1999), 1 (259) mit Verweis auf die Feststellung des IGH, dass „adherence
by a State to any particular doctrine does not constitute a violation of customary law“ (IGH, Nicaragua (merits), ICJ-Rep. 1986, 14 (133 § 263)). Bereits seine gewohnheitsrechtliche Geltung ablehnend
Doehring, Völkerrecht (2004), Rn. 788. Für eine gewohnheitsrechtliche Pflicht zur Demokratisierung
dagegen Fulda, Demokratie (2002), S. 87.
1826
1827
Ausführlicher zur Beteiligung der Bevölkerung inbesondere durch UNMIK und UNTAET die
oben in Fn. 1810 Genannten.
1828
Siehe § 11 (b)-(d) S/RES/1244 (1999) und § 8 S/RES/1272 (1999).
1829
So dauerte die UN-Verwaltung Osttimors gut zweieinhalb Jahre, während die des Kosovo seit
Mitte 1999 andauert.
398
des Primats der Friedenssicherung dient.1830 Das Bestehen solcher residualer
Sondereingriffsrechte der UN-Verwaltung, wie sie etwa im so genannten
constitutional framework für das Kosovo vorgesehen sind,1831 ist sogar
völkerrechtlich geboten. Denn die Regierungsgewalt des SRSG leitet sich nicht von
der Bevölkerung des Gebietes, sondern allein von den Befugnissen des
Sicherheitsrates zur Friedenssicherung ab. Da der Sicherheitsrat nur zu diesem
Zweck berechtigt ist, Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII der Charta zu ergreifen,
muss er gewährleisten können, dass diese Zweckbindung auch in der Praxis der UNVerwaltung Beachtung findet. Eingriffsbefugnisse des SRSG wie das Vetorecht
gegen Legislativakte der Selbstverwaltungsorgane im Kosovo dienen dazu, den
Vorrang der Friedenssicherung auch in der täglichen Arbeit der UN-Verwaltung
durchsetzen zu können.
VI.
Das Recht der Staaten auf Achtung ihrer territorialen Integrität
Diese Reihe von Einzeluntersuchungen abschließen soll die Prüfung der Frage,
inwieweit Rechte des betroffenen Territorialstaates die Befugnis des Sicherheitsrates
einschränken, ein Gebiet auf der Grundlage des Kapitels VII der Charta zu
verwalten. Wie bereits eingangs des rechtlichen Teils dieser Arbeit festgestellt
wurde, stellt die Einrichtung einer UN-Verwaltung einen schwerwiegenden,
rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in die territoriale Souveränität eines Staates
dar.1832 Jedoch stellte sich heraus, dass die mitgliedstaatliche Souveränität nur in sehr
geringem
Maße
gegenüber
friedenssichernden
Zwangsmaßnahmen
des
Sicherheitsrates geschützt ist.1833 Im Folgenden soll am Beispiel des Rechts der
Staaten auf Achtung ihrer territorialen Souveränität geprüft werden, inwieweit
Rechte der betroffenen Staaten dennoch geeignet sind, die Verwaltungskompetenz
1830
Kritischer Kondoch, JC&SL 6 (2001), 245 (260 f.), der darin eine mögliche Verletzung des
internen Selbstbestimmungsrechts sieht. Nach Art. 9.1.45 des constitutional framework
(UNMIK/REG/2001/9 vom 15.5.2001) treten Legislativakte der Assembly of Kosovo erst mit ihrer
Verkündung durch des SRSG in Kraft, der aber aufgrund seiner Befugnisse nach Art. 12 des
constitutional framework berechtigt ist, diese zu verweigern.
1831
Siehe insbesondere Art. 12 des constitutional framework, UNMIK/REG/2001/9 vom 15.5.2001.
1832
Siehe oben 3.Kp. A.I.
1833
Siehe insbesondere oben 4.Kp. A.II.1.c und B.III.3.c.
399
des Sicherheitsrates unter Kapitel VII der Charta zu beschränken.
Das Recht der Staaten auf Achtung ihrer territorialen Integrität ist Ausfluss des
völkerrechtlichen Strukturprinzips der souveränen Gleichheit der Staaten. Es bildet
den Kern staatlicher Souveränität und schützt den Staat davor, dass andere Staaten
ohne seine Zustimmung auf seinem Staatsgebiet Hoheitsgewalt ausüben.1834 Dies
beinhaltet auch das Recht auf politische Unabhängigkeit, d.h. den Anspruch eines
Staates, im Rahmen des geltenden Völkerrechts allein über die Regelung seiner
internen Angelegenheiten zu entscheiden.1835 In dieser Hinsicht ist es Ausdruck des
auch nach Staatswerdung fortbestehenden Selbstbestimmungsrechts der (Staats)Völker.1836
Im Gegensatz zu Individuen und Völkern, deren Rechte Gegenstand der
vorangegangenen Einzeluntersuchungen waren, sind Staaten in aller Regel selbst
Mitglieder der Vereinten Nationen. Sicherheitsrat und betroffener Staat stehen somit
in einem unmittelbaren Vertragsverhältnis zueinander, das ihre wechselseitigen
Rechte und Pflichten bestimmt. Daher wird der Umfang der Rechte des betroffenen
Staates vis-à-vis des Sicherheitsrates weit stärker von der Charta bestimmt als im
Falle von Individuen und Gruppen. Bei den Bindungen des Sicherheitsrates an
Staatenrechte handelt es sich primär um interne Bindungen, externe Rechtsquellen
wie das Gewohnheitsrecht spielen demgegenüber eine sekundäre Rolle.
Grundsätzlich kann ein Staat auf seine territoriale Souveränität verzichten und
Drittstaaten oder internationalen Organisationen die Ausübung hoheitlicher Gewalt
auf seinem Territorium gestatten.1837 So ist in Art. 2 Ziff. 7 a.E. SVN ein abstrakter
ex ante-Verzicht der Mitgliedstaaten auf den Schutz ihrer territorialen Integrität
gegenüber Zwangsmaßnahmen des Sicherheitsrates zu sehen. Ebenso verzichteten
die Mitgliedstaaten in Art. 1 Ziff. 1 SVN auf ihre Rechtspositionen nach
1834
Tomuschat, RdC 281 (1999), 1 (162 u. 175).
1835
Ipsen, Völkerrecht (2004), § 26 Rn. 14.
1836
Cassese, Self-Determination (1995), S. 59; Ipsen, Völkerrecht (2004), § 28 Rn. 6; Mett,
Selbstbestimmungsrecht (2004), S. 109 f.
1837
Siehe oben 3.Kp. A.II.
400
allgemeinem Völkerrecht, um dem Sicherheitsrat effektive Kollektivmaßnahmen zur
Friedenssicherung zu ermöglichen.1838 Das Recht der Staaten auf Achtung ihrer
territorialen Integrität scheint daher prima facie kaum geeignet, den Sicherheitsrat
bei der zwangsweisen Verwaltung von Krisengebieten einzuschränken.
Etwas anderes ergibt sich jedoch aus der historischen Auslegung des Art. 1 Ziff. 1
SVN. Denn die dort getroffene Unterscheidung stellt einen Kompromiss dar
zwischen zwei sich widersprechenden Zielen der Gründungsmitglieder. Einerseits
sollte dem Sicherheitsrat bei der Wahrung des Weltfriedens größtmögliche
Handlungsfreiheit gewährt werden, andererseits befürchteten insbesondere kleinere
Staaten ein „zweites München“, d.h. die Bereinigung eines internationalen
Konfliktes auf ihre Kosten.1839 Zwar konnten sich diese mit ihrer Forderung, die
Tätigkeit des Sicherheitsrates insgesamt unter die Kuratel des allgemeinen
Völkerrechts zu stellen, nicht durchsetzen, doch willigten die Großmächte in eine
entsprechende Verpflichtung im Falle der friedlichen Streitbeilegung ein.1840 Die
Unterscheidung basiert auf der Prämisse der Gründerstaaten, dass kollektive
Zwangsmaßnahmen
des
Sicherheitsrates
grundsätzlich
vorübergehender
beziehungsweise vorläufiger Natur sind und nur dazu dienen, den offenen
Friedensbruch zu verhindern oder zu beseitigen, ohne die zugrunde liegenden
Rechtsverhältnisse der Mitgliedstaaten dauerhaft anzutasten.1841 Art. 1 Ziff. 1 SVN
unterscheidet somit zwischen zwei einander zeitlich nachfolgenden Phasen der
Konfliktlösung. Zunächst soll der Sicherheitsrat ohne rechtliche Hürden die
Kampfhandlungen auf der Grundlage von Kapitel VII beenden dürfen („collective
measures“). Im Anschluss daran soll er ohne Anwendung von Zwang („peaceful
measures“) den zugrunde liegenden Streit nach den Prinzipien der Gerechtigkeit und
1838
Siehe oben 4.Kp. B.III.1.
1839
Zur Münchner Konferenz von 1938 siehe bereits oben Fn. 1339.
1840
Siehe Report of the Rapporteur of Committee 1 to Commission I, UNCIO-Doc. 944 I/1/34 (1) vom
13.6.1945, abgedr. in UNCIO VI, 446-460 (453); Goodrich/Hambro/Simons, UN Charter (1969), S.
27 f. Eine Zusammenfassung der Debatte während der Konferenz von San Francisco findet sich bei
Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 16 f., Fn. 3.
1841
Frowein/Krisch, Introduction to Chapter VII (2002), Rn. 31.
401
des Völkerrechts schlichten (Kapitel VI).1842 Art. 1 Ziff. 1 SVN unterscheidet somit
nicht nur zwischen zwei verschiedenen Rechtsgrundlagen, sondern soll auch die
Souveränität der Mitgliedstaaten vor dauerhaften Beschränkungen durch den
Sicherheitsrat schützen.1843
In der Praxis hat sich die Prämisse, dass Zwangsmaßnahmen nur vorübergehender
Natur sind, nicht in allen Fällen bewahrheitet.1844 Vielfach hat sich erwiesen, dass für
eine effektive Friedenssicherung auch langfristige Zwangsmaßnahmen erforderlich
sein können.1845 Wo der Sicherheitsrat aber mit einer auf Kapitel VII gestützten
Maßnahme die endgültige Regelung eines Sachverhaltes bezweckte, hat er bislang
darauf geachtet, dass diese sich im Rahmen des geltenden Völkerrechts bewegte. So
sollte die UN Compensation Commission endgültig über Schadensersatzansprüche
aus dem irakischen Überfall auf Kuwait 1990 entscheiden.1846 Grundlage ihrer
Entscheidungen sollte aber geltendes Völkerrecht sein.1847 Ebenso urteilen die UNTribunale für das frühere Jugoslawien (ICTY) und für Ruanda (ICTR) auf der
Grundlage gewohnheitsrechtlich geltenden humanitären Völkerrechts, nicht aufgrund
eines vom Sicherheitsrat neu geschaffenen Strafkatalogs.1848 Bisher hat er zudem
So hielt der Bericht des Ausschusses I/1 der Konferenz von San Francisco fest: „When the Organization has used the power given to it and the force at its disposal to stop war, then it can find the
latitude to apply the principles of justice and international law, or can assist the contending parties to
find a peaceful solution.“ – Report of the Rapporteur of Committee 1 to Commission I, UNCIO-Doc.
944 I/1/34 (1) vom 13.6.1945, abgedr. in UNCIO VI, 446-460 (453).
1842
1843
Gill, NYIL 26 (1995), 33 (67); Randelzhofer, in: Wolfrum (Hrsg.), United Nations (1995), S. 998
Rn. 14.
1844
Zur umstrittenen Legislativtätigkeit des Sicherheitsrates in neuerer Zeit siehe Aston, ZaöRV 62
(2002), 257-291, und Szasz, AJIL 96 (2002), 901-905. Für eine generelle Befugnis des
Sicherheitsrates, zur Sicherung des Weltfriedens auch in abstrakt-genereller Form legislativ tätig zu
werden, bereits Tomuschat, AVR 33 (1995), 1 (12); skeptisch dagegen Seidel, AVR 41 (2003), 449
(467 f.).
1845
Tomuschat, in: FS Arangio-Ruiz (2004), S. 1759, kommt daher zu dem Schluss, dass die Dauer
einer Maßnahme kein entscheidendes Kriterium für ihre Zulässigkeit sein könne.
1846
Eingerichtet durch § 3 S/RES/692 (1991) vom 20.5.1999 i.V.m. § 18 S/RES/687 (1991) vom
3.4.1991 (dt. Fassungen in AVR 29 (1991), 487 f. bzw. 477-485). Ausführlicher zur UNCC Jütte, UN
Compensation Commission (1999); Kolliopoulos, CINU et droit de la responsabilité (2001);
Eichhorst, Rechtsprobleme der UNCC (2002); und Heiskanen, RdC 296 (2002), 259-397.
Gemäß § 16 S/RES/687 (1991) ist der Irak „liable under international law“ für alle
Kriegsschäden. Wie hier Tomuschat, in: FS Arangio-Ruiz (2004), S. 1760. Einzelheiten bei Heiskanen, RdC 296 (2002), 259 (333-356); und den übrigen in Fn. 1846 Genannten.
1847
1848
In beiden Fällen enthalten die vom Sicherheitsrat verabschiedeten Statute zwar einen
402
stets vermieden, selbst über territoriale Fragen zu entscheiden.1849 Auch hat er bisher
nicht in die Verfassungsordnung einzelner Staaten eingegriffen, indem er ihnen
beispielsweise die Wahrung bestimmter Minderheitenrechte dauerhaft vorschrieb.1850
In seinen jüngeren Irakresolutionen betonte der Sicherheitsrat zwar die Bedeutung
der Menschenrechte und der Gleichberechtigung von Mann und Frau, ging aber nicht
soweit, den Irakern die Beachtung dieser Rechte oder gar die Art und Weise ihrer
Umsetzung im nationalen Recht konkret vorzuschreiben.1851
Mithin spricht neben der historischen Auslegung der Charta auch die Praxis des
Sicherheitsrates dafür, dass er zumindest bei streitentscheidenden Maßnahmen, deren
Rechtsfolgen dauerhaft sein sollen, verpflichtet ist, geltendes Völkerrecht und damit
auch die territoriale Integrität des betroffenen Staates zu respektieren.1852 Daraus
folgt, dass der Sicherheitsrat bei der Verwaltung eines Krisengebietes auf der
Grundlage von Kapitel VII Maßnahmen mit dauerhafter Wirkung nur treffen darf,
wenn diese mit geltendem Völkerrecht vereinbar sind. Als dauerhaft sind dabei
solche Maßnahmen anzusehen, die nach Abzug der UN-Verwaltung von den
Betroffenen nicht mehr oder nur unter erheblichem Aufwand rückgängig gemacht
Straftatenkatalog, der aber lediglich geltendes Gewohnheitsrecht wiedergeben soll. Für das ICTY
siehe § 1 S/RES/808 (1993) vom 22.2.1993, § 2 S/RES/827 (1993) vom 25.5.1993, und § 29 des
Berichts S/25704 des Generalsekretärs vom 3.5.1993 (abgedr. in ILM 32 (1993), 1159-1201), ferner
Zacklin, JICJ 2 (2004), 361 (363). Zum ICTR siehe § 1 S/RES/955 (1994) vom 8.11.1994, ferner Art.
1 des ICTR-Statuts (S/RES/955 (1994) Annex, abgedr. in ILM 33 (1994), 1602-1613).
1849
Im Wortsinne Grenzfall ist die Bestätigung der irakisch-kuwaitischen Grenze in § 2 S/RES/687
(1991). Verwiesen wurde dabei auf ein irakisch-kuwaitisches einvernehmliches Protokoll („agreed
minutes“) von 1963, in welchem sich beide Staaten zunächst über den Grenzverlauf geeinigt hatten.
Die UN Iraq-Kuwait Boundary Demarcation Commission sollte diesen Grenzverlauf lediglich vor Ort
markieren. Selbst wenn man wie de Wet, Chapter VII Powers (2004), S. 364, annimmt, dass die
angenommene Einigung der Parteien nie bestand, § 2 S/RES/687 (1991) mithin der Sache nach keine
Bestätigung, sondern eine einseitige Festlegung des Grenzverlaufs bedeutete, ist darin eher ein
Versehen zu sehen. Entscheidend ist, dass der Sicherheitsrat eine solche einseitige Anordnung in
keiner Weise beabsichtigt hatte (Tomuschat, in: FS Arangio-Ruiz (2004), S. 1768).
1850
Die von § 1 S/RES/1244 (1999) für verbindlich erklärten und in Annex I u. II der Resolution
niedergelegten Prinzipien zur politischen Lösung des Kosovokonfliktes enthalten zwar die Vorgabe,
dem Kosovo “substantial self-government“ zu gewähren. Diese Vorgabe gilt aber zunächst nur für ein
„interim political framework agreement“ (Annex II, Nr. 8), nicht für eine endgültige Lösung.
1851
Beide Punkte wurden zudem lediglich in den Erwägungsgründen der Resolutionen behandelt.
Siehe Präambel-§ 5 S/RES/1483 (2003) vom 22.5.2003 und Präambel-§ 10 S/RES/1546 (2004) vom
8.6.2004.
1852
Zum selben Ergebnis kommt man, wenn man das Recht des Staates auf territoriale Integrität wie
hier als Ausprägung des zwingenden Selbstbestimmungrechts des Staatsvolkes begreift.
403
werden können.1853 Das sind insbesondere Entscheidungen über den territorialen
Status eines Gebietes inklusive seiner Grenzen, aber auch der Abschluss langfristiger
völkerrechtlicher Abkommen. Auch den Beitritt zu Menschenrechtsabkommen wird
man zu solchen wesentlichen Entscheidungen zählen müssen, da er regelmäßig
zahlreiche Verpflichtungen der staatlichen Verwaltung mit sich bringt. Zu Recht
haben die UN-Verwaltungen im Kosovo und in Osttimor daher lediglich den Inhalt
verschiedener Menschenrechtsinstrumente für anwendbar erklärt, ohne ihnen explizit
beizutreten.
Vor allem aber steht Art. 1 Ziff. 1 SVN nach der hier vertretenen Auslegung einer
dauerhaften Zwangsverwaltung eines Gebietes durch den Sicherheitsrat entgegen.1854
Langfristig angelegte Vorhaben ähnlich dem Freien Territorium Triest sind daher
schon wegen des Rechts des betroffenen Staates auf Achtung seiner territorialen
Integrität nur mit seiner Zustimmung zulässig. Einer Übergangsverwaltung und
ihrem Tagesgeschäft kann es dagegen wegen Art. 1 Ziff. 1 und Art. 2 Ziff. 7 SVN
nicht entgegengehalten werden.
VII.
Weitere Aspekte einer Zwangsverwaltung des Sicherheitsrates
Die in diesem Abschnitt E. des vierten Kapitels vorgenommenen Untersuchungen
haben eine Reihe rechtlicher Einzelprobleme behandelt, ohne jedoch auch nur
ansatzweise den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Die von einer UNGebietsverwaltung aufgeworfenen Rechtsfragen sind ähnlich vielfältig wie die von
ihr wahrgenommenen Befugnisse. Exemplarisch wurden einige von ihnen
aufgenommen, um die Bindung des Sicherheitsrates an Menschenrechte, das
Selbstbestimmungsrecht
und
die
souveräne
Gleichheit
der
Staaten
zu
veranschaulichen. Ein Großteil der hier nicht behandelten Einzelfragen wird sich
indes anhand der dargelegten Grundsätze beantworten lassen.
1853
Erfasst ist sowohl tatsächliches Unvermögen wie ein rechtliches Verbot, etwa durch eine Kapitel
VII-Resolution des Sicherheitsrates.
1854
Zimmermann/Stahn, Nordic JIL 70 (2001), 423 (459); Tomuschat, in: FS Kooijmans (2002), S.
327. Ähnlich bereits Gill, NYIL 26 (1995), 33 (75).
404
1.
Die Vertretung des Gebiets nach außen
So wird man einer UN-Zwangsverwaltung das Recht zugestehen müssen,
völkerrechtliche Verträge und Abkommen mit Drittstaaten abzuschließen, soweit
dies zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben erforderlich ist.1855 Aufgrund des
Selbstbestimmungsrechts
der
Völker
respektive
des
Grundsatzes
der
Staatensouveränität dürfen solche Verträge das Gebiet und seine Bevölkerung aber
nicht über die Dauer der UN-Verwaltung hinaus verpflichten.1856 Zumindest aber
muss mit dem Abzug der UN eine Auflösung dieser möglich sein. Eher theoretisch
ist dagegen die Frage des völkerrechtlichen Status des Gebietes. Entscheidend ist,
dass die übrigen Staaten aus Art. 25 SVN verpflichtet sind, die Befugnisses der UNMission für das Gebiet anzuerkennen. Im Übrigen wird der völkerrechtliche Status
stark von den Umständen des Einzelfalles abhängen.1857
2.
Daseinsvorsorge und soziale Sicherungssysteme
Schwieriger ist die Frage, inwieweit eine UN-Verwaltung verpflichtet ist,
Institutionen der Daseinsvorsorge und der sozialen Sicherung in dem von ihr
verwalteten Gebiet zu schaffen. Hier wird man die Regelungen der kriegerischen
Besetzung als völkerrechtlichen Mindeststandard heranziehen können. Dieses
verpflichtet die Besatzungsmacht, vorhandene Einrichtungen der Daseinsfürsorge
fortzuführen,1858 vor allem aber, die Versorgung der Bevölkerung mit Lebens- und
Arzneimitteln sicherzustellen.1859 Nach Art. 48 und 49 HLKO ist sie berechtigt, zu
diesem Zweck Abgaben, Zölle und Gebühren zu erheben. Da diese Vorgaben selbst
der Bevölkerung feindlich gesinnte Staaten binden, müssen sie erst Recht auf eine
UN-Verwaltung anwendbar sein, die zur Wiederherstellung des Friedens und zum
1855
Zimmermann/Stahn, Nordic JIL 70 (2001), 423 (449 f.). Zur Wahrnehmung der Befugnis durch
UNTAET siehe Morrow/White, Australian YBIL 22 (2002), 1 (25-27).
1856
Etwas anderes gilt, wenn die Bevölkerung, wie etwa von Art. 5.6 des Constitutional Framework
(UNMIK/REG/2001/9 vom 15.5.2001) vorgesehen, an der Ausarbeitung von Verträgen maßgeblich
beteiligt wird.
1857
Zum völkerrechtlichen Status des von UNMIK verwalteten Kosovo siehe beispielsweise Zimmermann/Stahn, Nordic JIL 70 (2001), 423 (425-429).
1858
Siehe etwa Art. 50 Abs. 1 (Kinderheime) und Art. 56 f. GK IV (Krankenhäuser).
1859
Art. 55 GK IV.
405
Schutze der Bevölkerung eingerichtet wird.
Inwieweit eine UN-Verwaltung darüber hinaus rechtlich verpflichtet ist, Institutionen
der Daseinsfürsorge oder gar ein System der sozialen Sicherung zu unterhalten oder
neu zu schaffen, wird stark von den Umständen des Einzelfalles abhängen. Greift die
UN in einem vergleichsweise hoch entwickelten Staat ein, kann es zur Sicherung des
sozialen Friedens erforderlich sein, bestimmte staatliche Leistungen fortzuführen
oder durch andere zu ersetzen. Dies entspricht den Vorgaben des Besatzungsrechts,
das wesentlich auf den in dem besetzten Gebiet vorhandenen Standard abstellt.1860
Andererseits ist die im Interesse der Friedenssicherung erforderliche langfristige
Stabilisierung eines Krisengebietes nur möglich, wenn die geschaffenen Institutionen
auch nach Abzug der UN von der Regierung des Gebietes aus eigenen Mitteln
aufrecht erhalten werden können. Auch das Recht eines Volkes, seine inneren
Angelegenheiten selbst zu bestimmen, verbietet es einer UN-Verwaltung, über das
zur Friedenssicherung erforderliche Maß hinaus gestalterisch tätig zu werden.
Derartige Regelungen sind daher im Rahmen des Möglichen Organen der
Betroffenen zu überlassen. Zu Recht zählt das Constitutional Framework für das
Kosovo die Soziale Sicherung, aber auch die Wirtschafts-, Bildungs- und
Gesundheitspolitik
zu
den
Materien,
für
die
die
kosovarischen
Selbstverwaltungsinstitutionen zuständig sind.1861 So wurde beispielsweise die Höhe
der Renten durch die parlamentarische Versammlung des Kosovo (Assembly of
Kosovo) festgelegt, nicht durch UNMIK.1862
3.
Vergangenheitsbewältigung und transitional justice
Doch nicht nur die Gestaltung der Zukunft, auch die Bewältigung der Vergangenheit
wird
regelmäßig
zu
den
Problemen
gehören,
mit
denen
eine
UN-
Krisengebietsverwaltung konfrontiert sein wird. Dies betraf im Kosovo die
1860
Siehe insbes. Art. 50 u. 56 GK IV sowie Art. 48 HLKO.
1861
Art. 5.1 UNMIK/REG/2001/9. Zur völkerrechtlichen Zulässigkeit der von UNMIK
vorgenommenen Maßnahmen zur Privatisierung der bislang kollektiven Betriebe siehe Hobe/Griebel,
in: FS Ress (2005), S. 141-150.
1862
Siehe PISG Law No. 2002/1 vom 4.7.2002, in Kraft getreten durch Verkündung des SRSG am
26.7.2002 (UNMIK/REG/2002/15 vom 26.7.2002).
406
vorwiegend von Serben, aber auch von einzelnen Albanern vor dem Einmarsch der
NATO im Juni 1999 begangenen Kriegsverbrechen, in Osttimor die von proindonesischen Milizen mit Unterstützung des indonesischen Militärs vorgenommene
völlige Verwüstung des Landes, nachdem seine Bevölkerung für die Unabhängigkeit
von Indonesien gestimmt hatte.1863 Da transitional justice, verstanden im Sinne einer
umfassenden Aufarbeitung vergangener schwerer Menschenrechtsverletzungen
innerhalb einer Gesellschaft,1864 ein sehr komplexes Thema ist, dessen umfassende
Bearbeitung den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, soll es vorliegend lediglich
in seinen im Kontext einer UN-Verwaltung relevanten Grundzügen skizziert
werden.1865
Aus dem Völkerstrafrecht lässt sich zunächst nur eine eingeschränkte Rechtspflicht
des
Sicherheitsrates
zur
Menschenrechtsverletzungen
gewohnheitsrechtliche
strafrechtlichen
und
Ahndung
herleiten.1866
Kriegsverbrechen
Völkerstrafrecht
kennt
schwerer
zwar
in
Gestalt
Das
des
Universalitätsprinzips das Recht aller Staaten, solche völkerrechtlichen Verbrechen
strafrechtlich
zu
Verfolgen.1867
gewohnheitsrechtliche
Pflicht
zur
Ob
aber
auch
Strafverfolgung
eine
besteht,
korrespondierende
erscheint
zum
gegenwärtigen Zeitpunkt fraglich.1868 Jedenfalls aber hätte eine solche Pflicht bislang
1863
Zu diesen Ereignissen siehe oben 2.Kp. K.I und L.I.
UN-GS, Transitional Justice (2004), § 8, definiert Transitional Justice als „the full range of processes and mechanisms associated with a society’s attempts to come to terms with a legacy of largescale past abuses, in order to ensure accountability, serve justice, and achieve reconciliation“.
1864
1865
Ausf. beispielsweise die verschiedenen Beiträge in Ambos/Othman (Hrsg.), New Approaches
(2003); ferner der Bericht UN-GS, Transitional Justice (2004). Zum Sondergerichtshof als Teil der
juristischen Vergangenheitsbewältigung in Sierra Leone siehe MacKay, Case W.R.JIL 35 (2003),
273-285; und Damgaard, Nordic JIL 73 (2004), 485-503; zu transitional justice in Afghanistan Grenfell, Nordic JIL 73 (2004), 505-534.
Allgemein zum Völkerstrafrecht Kittichanaisaree, Int’l. Criminal Law (2001), und Werle, Völkerstrafrecht (2003).
1866
1867
Werle, Völkerstrafrecht (2003), Rn. 173 m.w.N.
1868
Für eine solche Pflicht beispielsweise Enache-Brown/Fried, McGill LJ 43 (1998), 613 (625-632);
Bassiouni, Virginia JIL 41 (2001), 81 (148 f.); ablehnend dagegen Tomuschat, in: FS Steinberger
(2002), S. 342 f.; und Werle, Völkerstrafrecht (2003), Rn. 188 m.w.N. Eine vertragliche Pflicht zur
universellen Strafverfolgung besteht für Kriegsverbrechen aufgrund Art. 146 GK-IV. Diese
vertragsrechtliche Norm ist aber auf den Sicherheitsrat nicht unmittelbar anwendbar und kann
mangels materieller Gewährleistung auch nicht als Konkretisierung des Art. 1 Ziff. 3 SVN verstanden
werden.
407
nicht den Charakter zwingenden Rechts, so dass der Sicherheitsrat nach Art. 1 Ziff. 1
SVN grundsätzlich berechtigt wäre, von einer Strafverfolgung abzusehen, wenn er
dies zum Zwecke der Friedenssicherung als erforderlich ansähe.1869 Darauf deutet
auch der Umstand hin, dass Art. 1 Ziff. 1 SVN lediglich bei der langfristigen
Beilegung von Streitigkeiten, nicht aber beim Ergreifen effektiver Maßnahmen zur
Beachtung der „principles of justice“ verpflichtet.1870
Jedoch hat der Sicherheitsrat durch die Schaffung der Strafgerichtshöfe für das
frühere Jugoslawien und für Ruanda Standards gesetzt, an denen er sich auch in
anderen Konflikten messen lassen muss.1871 Die jüngst vorgenommene Beauftragung
des Internationalen Strafgerichtshofes mit der strafrechtlichen Aufarbeitung der
Menschenrechtsverletzungen in der sudanesischen Provinz Darfur zeigt, dass er sich
einer Ahndung solcher Verbrechen grundsätzlich verpflichtet sieht.1872 Unabhängig
von völkerstrafrechtlichen Gesichtspunkten ist transitional justice in einer durch die
Vergangenheit
traumatisierten
Bevölkerung
aber
auch
zur
langfristigen
Stabilisierung der Gesellschaft erforderlich. Denn nur so ist es möglich, die
eigentlichen Konfliktursachen offenzulegen, Verantwortliche zu identifizieren und
zu verhindern, dass überkommene Strukturen ihre friedensgefährdende Wirkung
auch in der Zukunft entfalten können.1873 Transitional justice ist daher auch aus dem
1869
Zu diesem bekannten Zielkonflikt zwischen notwendiger Flexibilität bei Friedensverhandlungen
und dem Gebot der Gerechtigkeit siehe das leidenschaftliche Plädoyer für die Gerechtigkeit bei
Scharf/Williams, Case W.R.JIL 35 (2003), 161-190.
Zu dieser von Art. 1 Ziff. 1 SVN getroffenen Unterscheidung zwischen „effective collective
measures“ und „peaceful (...) settlement of international disputes“ siehe bereits oben 4.Kp. E.VI.
1870
1871
Zu den vielen verschiedenen Maßnahmen zur strafrechtlichen Aufarbeitung vergangenen
Unrechts, an denen die UN im letzten Jahrzehnt aktiv beteiligt war, siehe die Aufzählung in UN-GS,
Transitional Justice (2004), § 38.
1872
Siehe § 1 S/RES/1593 (2005) vom 31.3.2005; sowie bereits zuvor Präambel-§ 10 S/RES/1574
(2004) vom 19.11.2004: „Condemning all acts of violence and violations of human rights and international humanitarian law by all parties, and emphasizing the need for perpetrators of all such
crimes to be brought to justice without delay” (Hervorhebung durch den Verfasser), wiederholt in
Präambel-§ 12 S/RES/1590 (2005) vom 24.3.2005 und Präambel-§ 10 S/RES/1591 (2005) vom
29.3.2005.
1873
UN-GS, Transitional Justice (2004), § 39 u. § 47; ferner Scharf/Williams, Case W.R.JIL 35
(2003), 161 (170-173).
408
Gesichtspunkt der Friedenssicherung (Art. 1 Ziff. 1 SVN) geboten.1874
Im Kosovo ahndete UNMIK Menschenrechtsverstöße aus der Zeit des KosovoKrieges im Wesentlichen im Rahmen des regulären Gerichtssystems, wobei jedoch
aufgrund des Drucks, der bei diesen Verfahren auf die Beteiligten ausgeübt wurde,
zumeist int
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