Von Triest nach Osttimor Der völkerrechtliche Rahmen für die Verwaltung von Krisengebieten durch die Vereinten Nationen – Dissertationsentwurf – zur Erlangung des akademischen Grades Dr. iur Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin von Hans Fabian Kiderlen geboren am 13. April 1976 in Heide (Holstein) 1 1. KAPITEL: EINLEITUNG 1 A. Gegenstand der Arbeit 2 B. Gang der Untersuchung 4 2. KAPITEL: A. HISTORISCHE EINFÜHRUNG Gebietsverwaltungen durch den Völkerbund I. Saarland (1920-1935) II. Leticia (1933-1934) B. Das Freie Territorium Triest (1947) 7 8 9 11 12 I. Historischer Hintergrund 13 II. Das Mandat des Sicherheitsrates 15 III. C. Bewertung Die Internationale Stadt Jerusalem (1947) 17 19 I. Historischer Hintergrund 19 II. Das Mandat des Treuhandrates 21 III. D. Bewertung Die internationale Verwaltung Libyens (1949-51) 22 24 I. Historischer Hintergrund 24 II. Das Mandat der Generalversammlung 26 III. Bewertung 27 E. Die Opération des Nations Unies au Congo (1960-1964) 28 F. Die United Nations Temporary Executive Authority in West-Neuguinea (1962-1963) 31 I. Historischer Hintergrund 32 II. Das Mandat der UNTEA 34 III. G. Bewertung Die United Nations Transition Group in Namibia (1989-1990) 35 37 I. Historischer Hintergrund 37 II. Das Mandat der UNTAG 38 III. H. Bewertung Die United Nations Transitional Authority in Kambodscha (1992-1993) 39 40 I. Historischer Hintergrund 40 II. Das Mandat der UNTAC 42 i III. Bewertung 44 I. Die United Nations Operation in Somalia (1993-1995) 46 J. Bosnien 49 I. Historischer Hintergrund 50 II. Das Mandat der internationalen Gemeinschaft 50 III. K. Bewertung Die UN-Übergangsverwaltung in Ost-Slavonien (1996-1998) 52 53 I. Historischer Hintergrund 53 II. Das Mandat der UNTAES 55 III. L. Bewertung Die UN-Übergangsverwaltung im Kosovo (seit 1999) 56 58 I. Historischer Hintergrund 59 II. Das Mandat der UNMIK 62 III. M. Bewertung Die UN-Übergangsverwaltung in Osttimor (1999-2002) 67 68 I. Historischer Hintergrund 68 II. Das Mandat der UNTAET 71 III. Bewertung 76 N. Die UN-Unterstützungsmission in Afghanistan (seit 2002) 77 O. Multidimensionale Unterstützungsoperation der UN seit 1999 80 P. Die Verwaltung des Irak durch ein Staatenbündnis (2003-2004) 82 3. KAPITEL: DIE RECHTSGRUNDLAGEN FÜR UN- GEBIETSVERWALTUNGEN A. Vorbereitende Überlegungen zur Rechtsgrundlage 89 90 I. Erforderlichkeit einer Rechtsgrundlage 90 II. Einwilligung durch den Territorialstaat 92 1. Art. 2 Ziff. 7 SVN als dispositives Recht 92 2. Völkerrechtliche Vorgaben 93 Die Unterscheidung zwischen Verwaltung und Souveränität 95 III. B. Krisengebietsverwaltung auf Grundlage der Peacekeeping-Befugnis des Sicherheitsrates (Art. 24 Abs. 1 SVN) I. Die Grundlage in der Charta 97 97 ii II. Art. 24 Abs. 1 SVN als Rechtsgrundlage einer UN-Gebietsverwaltung 102 1. Vereinbarkeit mit den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen 103 2. Geeignetheit 104 a. Rechtmäßige Vertretung des Gebietes 106 b. Dauer und Rücknahme der Einwilligung 107 c. Durchsetzung von Verwaltungsentscheidungen 110 3. Erforderlichkeit 111 III. Fallbeispiele: Triest und Kambodscha 113 IV. Bewertung und Ausblick 115 C. Krisengebietsverwaltung als friedenssichernde Zwangsmaßnahmen (Kapitel VII der Charta) I. 118 Errichtung einer UN-Verwaltung als Zwangsmaßnahme 119 1. Ungeschriebene Rechtsgrundlagen 119 2. Art. 41 und 42 SVN 121 a. Die Auslegung der Art. 41 und 42 SVN – Zulässigkeit auch atypischer Maßnahmen? 121 b. II. Verortung und Umfang der Verwaltungskompetenz Tatbestandliche Voraussetzungen einer UN-Zwangsverwaltung (Artikel 39 SVN) 125 127 1. Gesichtspunkte bei der Auslegung des Art. 39 SVN 128 2. Interne Konflikte als Friedensbedrohung 131 a. Die Praxis des Sicherheitsrates 131 b. Dogmatische Begründungsversuche 133 3. Verletzung grundlegender Normen des Völkerrechts als Friedensbedrohung 136 a. Menschenrechtsverletzungen und humanitäre Katastrophen 137 b. Beseitigung einer demokratisch gewählten Regierung 139 c. Missachtung des Selbstbestimmungsrechts 141 III. Die Bedeutung staatlicher Zustimmung zu einer Zwangsverwaltung 142 IV. Fallbeispiele 149 1. UNTAES 149 2. UNMIK 151 3. UNTAET 154 D. Die tatsächliche Ausübung der Verwaltungskompetenz des Sicherheitsrates I. Die Delegation der Verwaltungskompetenz des Sicherheitsrates 157 159 1. Umfang der Delegation 160 2. Die Zulässigkeit von Delegationen bei konsensgestützten UN-Verwaltungen 161 3. Die Zulässigkeit einer Delegation von Befugnissen im Rahmen einer Zwangsverwaltung 162 4. II. Grenzen der Delegation von Kapitel VII-Befugnissen Der rechtliche Status der UN-Verwaltungsmissionen 164 168 iii 1. Der rechtliche Status der UN-Verwaltungsmissionen im Gefüge der Vereinten Nationen 168 2. Der rechtliche Status der UN-Verwaltungsmissionen gegenüber Staaten und dritten internationalen Organisationen III. 175 Die Einbeziehung von UN-Unterorganisationen und dritter internationaler Organisationen in eine UN-Zwangsverwaltung IV. 177 Alternative Formen der Wahrnehmung der Verwaltungsbefugnisse des Sicherheitsrates 180 E. 1. Die Beauftragung des UN-Generalsekretärs mit der Verwaltung eines Krisengebietes 181 2. Die Ermächtigung regionaler Organisationen 184 3. Autorisierung einzelner Staaten und Koalitionen von Staaten 190 4. Die Rechtsgrundlage der Verwaltung des Irak durch die CPA – Beispiel einer Delegation der Verwaltungsbefugnis an einzelne Mitgliedstaaten? 195 Krisengebietsverwaltung durch die Generalversammlung 200 I. Rechtsgrundlage für eine Verwaltungskompetenz der Generalversammlung 200 1. Zuständigkeit der Generalversammlung in Abgrenzung zum Sicherheitsrat 201 2. Befugnis zur Gebietsverwaltung 204 3. Die Bedeutung staatlicher Zustimmung für die Verwaltungskompetenz der Generalversammlung II. Durchführung einer Gebietsverwaltung der Generalversammlung (Art. 22 SVN) 208 210 III. Fallbeispiel: West-Neuguinea 211 IV. Ausblick 214 F. Krisengebietsverwaltung unter dem Regime des Treuhandrates (Kapitel XII und XIII der Charta) 216 I. Die Rolle des Sicherheitsrates 217 II. Die formalen Voraussetzungen einer Treuhandverwaltung 218 III. Ergebnis 4. KAPITEL: 220 DIE GRENZEN DER VERWALTUNGS-KOMPETENZ UNTER KAPITEL VII DER CHARTA A. Organisationsinterne Grenzen der Verwaltungskompetenz des Sicherheitsrates 222 225 I. Funktionale Grenze aus Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen II. Die Bindung des Sicherheitsrates an die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen (Art. 24 Abs. 2 Satz 1 SVN) 1. Die relevanten Ziele und Grundsätze 226 227 229 a. Friedenssicherung 230 b. Selbstbestimmungsrecht der Völker und Menschenrechte 230 iv c. 2. Souveränität der Mitgliedstaaten Einschränkung der Bindung durch eine Hierarchie der Ziele? 233 235 a. Die Grundentscheidung der Charta für den Vorrang der Friedenssicherung 236 b. Einschränkungen des Vorrangs in der Praxis 240 3. Zwischenergebnis 242 III. Interne Bindung an allgemeines Völkerrecht durch Art. 1 Ziff. 1 SVN? 243 IV. Interne Bindung an das Treuhandprinzip der Kapitel XI bis XIII der Charta 245 V. Bindung durch Handeln der Vereinten Nationen 1. Konkretisierung der in Art. 1 Ziff. 2 und 3 SVN niedergelegten Ziele 250 2. Selbstbindung durch eigene Handlungen des Sicherheitsrates 254 Zwischenergebnis: Die internen Bindungen des Sicherheitsrates 258 VI. B. 249 Externe Grenzen der Verwaltungsmacht des Sicherheitsrates 260 Prinzipieller Vorrang der Charta vor allgemeinem Völkerrecht 262 I. 1. UN-Charta als Weltverfassung mit Geltungsvorrang 263 2. Vorrang der Charta nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen 266 II. Dogmatische Bedenken gegen eine Bindung des Sicherheitsrates an Völkergewohnheitsrecht 268 1. Die Adressatenbezogenheit des Völkergewohnheitsrechts und die daraus folgende Notwendigkeit einer Einwilligung der Vereinten Nationen 269 2. Stellungnahme 272 Eingeschränkte Rechtsbindung durch Art. 1 Ziff. 1 SVN? 275 III. 1. Art. 1 Ziff. 1 SVN als Verzicht der Mitgliedstaaten auf Rechtspositionen aus allgemeinem Völkerrecht 2. Beschränkung der Freistellung nach Art. 1 Ziff. 1 SVN auf staatsbezogene Rechtspositionen? 3. IV. C. 275 277 Beschränkung der Freistellung auf abdingbare Normen des allgemeinen Völkerrechts? 280 a. Das Konzept zwingender Grundwerte (ius cogens) 281 b. Bedenken gegen eine starre Bindung des Sicherheitsrates an ius cogens 283 c. Bindung an zwingende Staatenrechte 286 d. Bindung an den zwingenden Kerngehalt des Selbstbestimmungsrechts 287 e. Bindung an individualschützende zwingende Menschenrechte 288 Zwischenergebnis: Die externe Bindung des Sicherheitsrates Mittelbare Bindung des Sicherheitsrates 290 292 I. Beschränkungen des Sicherheitsrates nach dem nemo transferre-Grundsatz 293 II. Mittelbare Bindungen bei der Annahme originärer Sicherheitsratsbefugnisse 296 III. Einschränkungen einer so so begründete Bindung an ius cogens 297 IV. Zwischenergebnis: Mittelbare Bindung an zwingende Verpflichtungen der Mitgliedstaaten 298 v D. Auswertung: Relative und absolute Grenzen der Verwaltungs- kompetenz des Sicherheitsrates unter Kapitel VII der Charta 300 I. Zusammenfassung der bisherigen Erkenntnisse 300 II. Das Verhältnis der Grenzen zueinander 301 III. Anwendung auf die Befugnis des Sicherheitsrates zur zwangsweisen Verwaltung eines Krisengebietes E. 302 1. Die Besonderheiten internationaler Verwaltung 303 2. Auswirkungen auf die Befugnisse des Sicherheitsrates unter Kapitel VII SVN 306 3. Kriterien für die Annahme eines Vorrangs der Friedenssicherung 309 a. Beeinträchtigung eines der von Art. 1 Ziff. 2 und 3 SVN geschützten Rechtsgüter 309 b. Kein Verstoß gegen zwingendes Recht 313 c. Geeignetheit der Handlung zur Friedenssicherung 314 d. Verhältnismäßigkeit der Maßnahme 315 e. Einschätzungsprärogative des Sicherheitsrates 318 f. Zusammenfassung 319 4. Tendenz: Vom Vorrang der Friedenssicherung zur vollen Rechtsbindung 319 5. Zusammenfassung: Die progressive Rechtsbindung des Sicherheitsrates 321 Die Grenzen der Verwaltungsmacht in der Praxis I. UN-Zwangsverwaltung und das Recht der kriegerischen Besetzung 323 324 1. Grundzüge des Rechts der kriegerischen Besetzung 324 2. Anwendbarkeit ratione materiae 327 3. Anwendbarkeit ratione personae 331 4. Ergebnis 336 II. Völkerrechtliche Anforderungen an den Wiederaufbau des Justizwesens 337 1. Praktische Schwierigkeiten und Anforderungen der Friedenssicherung 338 2. Anforderungen an das Recht 341 3. Anforderungen an das Gericht 346 III. a. Institutionelle Garantie einer Straf- und Zivilgerichtsbarkeit 346 b. Unparteilichkeit des Gerichts 349 c. Verfahrensdauer 352 Das Recht auf Freiheit der Person und Haftanordnungen durch die UN-Verwaltung 359 1. Die Praxis von KFOR und UNMIK 360 2. Die völkerrechtlichen Vorgaben 363 3. Die Vereinbarkeit von UN-Exekutivhaft mit dem Verbot willkürlicher Freiheitsentziehung (Art. 9 Abs. 1 IPbürgR) 4. 368 Die Vereinbarkeit von UN-Exekutivhaft mit dem Recht auf unverzügliche Haftprüfung (Art. 9 Abs. 3 und 4 IPbürgR) 370 5. Ergebnis 375 Rechtsschutz gegen Hoheitsakte der UN-Verwaltung selbst 376 IV. vi 1. Rechtliche Argumente für eine Überprüfbarkeit von UN-Hoheitsakten 380 2. Rechtsschutzgewährung und Friedenssicherung 382 3. Die Ombudsperson-Institution im Kosovo 384 V. Der Aufbau eines neuen Staatswesens und das Selbstbestimmungsrecht 385 1. Status des Selbstbestimmungsrechts im Völkerrecht 387 2. Anwendungsbereich des Selbstbestimmungsrechts 390 3. Externes Selbstbestimmungsrecht: Die Entscheidung über den territorialen Status 392 4. Internes Selbstbestimmungsrecht: Die Entscheidung über die Regierungs- und Wirtschaftsform 5. 394 Internes Selbstbestimmungsrecht: Die Beteiligung der Bevölkerung an der Gebietsverwaltung 396 VI. Das Recht der Staaten auf Achtung ihrer territorialen Integrität 399 VII. Weitere Aspekte einer Zwangsverwaltung des Sicherheitsrates 404 1. Die Vertretung des Gebiets nach außen 405 2. Daseinsvorsorge und soziale Sicherungssysteme 405 3. Vergangenheitsbewältigung und transitional justice 406 Auswertung 412 1. Kurzfristiger Rechtsrahmen 412 2. Langfristige Gestaltungsfragen 414 VIII. 5. KAPITEL: DIE RECHTLICHEN GRENZEN KONSENS- GESTÜTZTER UN-GEBIETSVERWALTUNGEN 416 A. Umfang der staatlichen Zustimmung 416 B. Sonstige Grenzen konsensgestützter Gebietsverwaltungen des Sicherheitsrates 417 C. Sonstige Grenzen konsensgestützter Gebietsverwaltungen der Generalversammlung 419 6. KAPITEL: ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK 421 A. Ergebnis der Untersuchung 421 B. Ausblick 425 vii Abkürzungsverzeichnis a.A. anderer Ansicht Abs. Absatz a.E. am Ende AEMR Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 AFDI Annuaire Français de Droit International AfrCHPR African Charter on Human and People’s Rights vom 17. Juni 1981 AJIL American Journal of International Law AmMRK American Convention on Human Rights vom 22. November 1969 Am.Univ.ILR American University International Law Review (ab Bd. 13) Am.Univ.JIL&P American University Journal of International Law & Policy (bis Bd. 12) A/RES/.... Resolution der Generalversammlung Art. Artikel AU African Union (früher OAU) ausf. ausführlich Australian YBL Australian Yearbook of International Law AVR Archiv des Völkerrechts Bd. Band BdDGVR Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht BGBl. deutsches Bundesgesetzblatt brit. Britisch BYIL British Yearbook of International Law Case W.R.JIL Case Western Reserve Journal of International Law CEDH Convention européene des droits de l’homme (auch: EMRK) CoE Council of Europe (Europarat) CoE-PA-Res. Resolution der Parlamentarischen Versammlung des Europarates CPA Coalition Provisional Authority (Irak, Mai 2003 – Juni 2004) Cornell ILJ Cornell International Law Journal Diss. Op. abweichendes Votum (Dissenting Opinion) DÖV Die öffentliche Verwaltung DPKO Department of Peacekeeping Operations (Abteilung für Friedensmissionen innerhalb des UN Generalsekretariates) DVBl. Deutsches Verwaltungsblatt viii EA Europa-Archiv ECHR European Convention of Human Rights (auch: EMRK) ECOWAS Economic Community of West African States EGMR Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte EJIL European Journal of International Law Emory ILR Emory International Law Review EMRK Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 EPIL Encyclopedia of Public International Law EU Europäische Union EU ABl. Amtsblatt der Europäischen Union EUFOR European Force (Multinationale Friedenstruppe in BosnienHerzegowina unter Führung der EU) EuGH Europäischer Gerichtshof EuGRZ Europäische Grundrechte Zeitschrift EUPM EU-Polizeimission EU in Bosnien-Herzegowina F Frankreich FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung FS Festschrift FW Die Friedens-Warte G.A.O.R. General Assembly Official Records GB Großbritannien Georgia JI&CL Georgia Journal of International & Comparative Law GK III III. Genfer Konvention über die Behandlung von Kriegsgefangenen vom 12. August 1949 GK IV IV. Genfer Konvention zum Schutze von Zivilpersonen in Kriegszeiten vom 12. August 1949 GK-ZP I I. Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte vom 8. Juni 1977 GK-ZP II II. Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte vom 8. Juni 1977 GUS Gemeinschaft unabhängiger Staaten GYIL German Yearbook of International Law Harvard ILJ Harvard International Law Journal HLKO Haager Landkriegsordnung vom 18. Oktober 1907 HRC Human Rights Committee (Menschenrechtsausschuss nach ix Art. 28 IPbürgR) HRLJ Human Rights Law Journal HRQ Human Rights Quarterly HRW Human Rights Watch (NRO) HVR Humanitäres Völkerrecht (Zeitschrift) ICG International Crisis Group (NRO) ICJ International Court of Justice (auch: IGH) ICJ-Rep. International Court of Justice – Reports of Judgments, Advisory Opinions and Orders ICLQ International & Comparative Law Quarterly ICTR International Criminal Tribunal for Ruanda ICTY International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia i.d.F. in der Fassung i.E. im Ergebnis IFOR International Force (Bosnien) IGH Internationaler Gerichtshof (auch: ICJ) IKRK Internationales Komitee vom Roten Kreuz ILC International Law Commission ILCYB Yearbook of the International Law Commission ILM International Legal Materials ILR International Law Reports insbes. insbesondere INTERFET Intervention Force for East Timor (Sept. 1999 – Febr. 2000) Int’l. PK (Cass) International Peacekeeping (Verlag Frank Cass) Int’l. PK (Kl.) International Peacekeeping (Verlag Kluwer) x IPbürgR Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 IPwirtR Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 9. Dezember 1966 IRRC Revue Internationale de la Croix-Rouge / International Review of the Red Cross ISAF International Security Assistance Force (Afghanistan, seit Dez. 2001) i.S.d. im Sinne des i.V.m. in Verbindung mit IWPR Institute for War & Peace Reporting (NRO) JC&SL Journal of Conflict & Security Law JICJ Journal of International Criminal Justice JSMP Judicial System Monitoring Programme (osttimoresische NRO) KFOR Kosovo Force (seit Juni 1999) Kp. Kapitel KRK Kinderrechtekonvention (Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989) KSZE Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (seit 1994 OSZE) L.N.T.S. League of Nations Treaty Series (Publication of Treaties and International Engagements registered with the Secretariat of the League) Melbourne ULR Melbourne Univ. Law Review Michigan JIL Michigan Journal of International Law MINUSTAH United Nations Stabilisation Mission in Haiti (seit 2004) MIP Bull. Military Intelligence Professional Bulletin MP-UNYB Max Planck Yearbook of United Nations Law m.w.N. mit weiteren Nachweisen NATO North Atlantic Treaty Organization NGO Non-governmental organisation (auch: NRO) NL Niederlande Nordic JIL Nordic Journal of International Law NRO Nicht-Regierungsorganisation (auch: NGO) NYT New York Times NYU-JIL&P New York University Journal of International Law & Politics xi NZWehrR Neue Zeitschrift für Wehrrecht OAS Organization of American States OAU Organization of African Unity (nunmehr AU) ODIHR OSZE Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (Office for Democratic Institutions and Human Rights) OMIK OSZE Mission im Kosovo OSCE Organisation for Security and Co-operation in Europe (auch: OSZE) OSZE Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (auch: OSCE) ÖZöRV Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht und Völkerrecht PCIJ Permanent Court of International Justice (auch: StIGH) PISG kosovarische Selbstverwaltungsorgane unter UNMIK (Provisional Institutions of Self-Government) RBDI Revue Belge de Droit International RdC Recueil des Cours / Collected Courses der Académie de Droit International RGDIP Revue Générale de Droit International RPSC Repertoire of the Practice of the Security Council S.C.O.R. Security Council Official Records Sec. Section Sep. Op. Sondervotum (Separate Opinion) S.F.D.I. Société Française pour le Droit International SIPRI-YB Yearbook of the Stockholm International Peace Research Institute Slg. Sammlung der Entscheidungen und Urteile des betreffenden Gerichts (EuGH, EGMR) S.N.J.O. Société des Nations – Journal Officiel sog. so genannt S/RES/… Resolution des Sicherheitsrates SRSG Sondergesandter des UN-Generalsekretärs (Special Representative of the Secretary-General) StIGH Ständiger Internationaler Gerichtshof (auch: PCIJ) st. Rspr. ständige Rechtsprechung SVB Satzung des Völkerbundes SVN Satzung der Vereinten Nationen (auch: UN-Charta) SZ Süddeutsche Zeitung SZIER Schweizerische Zeitschrift für internationales und europäisches Recht xii Temple I&CLJ Temple International & Comparative Law Journal Tulane JI&CL Tulane Journal of International & Comparative Law UDHR Universal Declaration of Human Rights vom 10.12.1948 (auch: AEMR) UN United Nations UNAMA United Nations Assistance Mission in Afghanistan (seit 2002) UNAMET United Nations Mission in East Timor (1999) UNAMSIL United Nations Assistance Mission in Sierra Leone (1999-2005) UNCHR United Nations Commission on Human Rights UNCIO United Nations Conference on International Organization (1945) UN-GS UN-Generalsekretär UNHCR United Nations High Commissioner for Refugees UNJYB United Nations Juridical Yearbook UNMIK United Nations Interim Administration Mission in Kosovo (seit 1999) UNMIK/REG/… von UNMIK erlassene Verordnungen UNMIL United Nations Mission in Liberia (seit 2003) UNMISET United Nations Missions of Support in East Timor (2002-2005) UNOCI United Nations Operation in Cote d’Ivoire (seit 2004) UNOSOM I/II United Nations Mission in Somalia I/II (1993-1995) UNSMA United Nations Special Mission for Afghanistan (1993-2001) UNTAES United Nations Transitional Administration in Eastern Slavonia, Baranja and Western Sirmium (1996-1998) UNTAET United Nations Transitional Administration in East Timor (1999-2002) UNTAET/REG/… von UNTAET erlassene Verordnungen UNTEA United Nations Temporary Executive Authority (West-Neuguinea 1962/63) U.N.T.S. United Nations Treaty Series Vanderbilt JTL Vanderbilt Journal of Transnational Law VRÜ Verfassung und Recht in Übersee WVK Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 3. Mai 1969 WVKIO Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge zwischen Staaten und Internationalen Organisationen und zwischen Internationalen Organisationen vom 21. März 1986 Yale HR&DLJ Yale Human Rights & Development Law Journal YBIHL Yearbook of International Humanitarian Law xiii ZaöRV Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Ziff. Ziffer xiv 1. Kapitel: Einleitung Im Juni 1999 richtete der UN-Sicherheitsrat die United Nations Interim Administration Mission in Kosovo (UNMIK) ein und betraute sie mit der Verwaltung der serbischen Provinz Kosovo.1 Nur wenige Monate später rief er mit der United Nations Transitional Administration in East Timor (UNTAET) eine weitere internationale Verwaltung für die Osthälfte der Insel Timor ins Leben.2 Beide Missionen waren autorisiert, all jene Befugnisse in ihren jeweiligen Gebieten wahrzunehmen, die normalerweise durch den Territorialstaat ausgeübt werden. Die Vereinten Nationen wurden so allein verantwortlich für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sowie für die Organisation und den Betrieb eines Justizwesens.3 Zu ihren Aufgaben gehörten neben der Organisation von Wahlen nunmehr auch der Wiederaufbau der örtlichen Wirtschaft und – ganz allgemein – die staatliche Daseinsvorsorge.4 Zumindest für einen Übergangszeitraum ersetzten die Vereinten Nationen den Territorialstaat und vereinten alle drei staatlichen Gewalten in der Hand ihrer Sondergesandten.5 Auch wenn derartige internationale Gebietsverwaltungen nicht ohne Vorbild sind, markieren UNMIK und UNTAET einen Höhepunkt in der jüngeren Geschichte des UN-Peacekeeping.6 Nie zuvor hatten die Vereinten Nationen Gebiete dieser Größe 1 Eingerichtet durch S/RES/1244 (1999) vom 10.6.1999. Ausführlicher zur UNMIK unten 2.Kp. L. 2 Eingerichtet durch S/RES/1272 (1999) vom 25.10.1999. Ausfürlicher zur UNTAET unten 2.Kp. M. 3 Siehe die Aufgabenbeschreibung in UN, Brahimi-Report (2000), § 77. 4 Siehe die umfassende Aufzählung der Aufgaben in § 11 S/RES/1244 (1999) bzw. § 2 S/RES/1272 (1999). Siehe UNMIK-Reg. 1999/1 vom 25.7.1999: „All legislative and executive authority with respect to Kosovo, including the administration of the judiciary, is vested in UNMIK and is exercised by the Special Representative of the Secretary-General.“ Ähnlich lautet § 1 S/RES/1272 (1999) vom 25.10.1999. 5 Griffin/Jones, Int’l. PK 7 (Winter 2001), 75 (75); Matheson, AJIL 95 (2001), 76 (79); Kondoch, JC&SL 6 (2001), 245 (246). Einschränkend Wilde, EJIL 15 (2004), 71 (77 f.), der auf die zahlreichen Präzedenzfälle verweist. Zu diesen siehe unten das 2. Kapitel (Kp.) 6 1 eigenständig verwaltet, und nie zuvor waren sie in diesem Umfang mit dem Wiederaufbau eines Staatswesens betraut.7 Auf diese Weise übten sie nicht nur direkte Exekutivgewalt gegenüber den Einwohnern des Kosovos und Osttimors aus, sondern bestimmten auch über ihre Staats- und Wirtschaftsordnung. Statt interstaatlich waren die Vereinten Nationen nunmehr innerstaatlich tätig, erließen und vollstreckten Gesetze, sprachen Recht und änderten das Regierungssystem. Das wirft die Frage nach dem rechtlichen Rahmen für eine solche Übergangsverwaltung auf. A. Gegenstand der Arbeit Gegenstand der Arbeit sind die völkerrechtlichen Rahmenbedingungen für die Verwaltung von Krisengebieten durch die Vereinten Nationen. Der Begriff Krisengebiet ist dabei weit zu verstehen. Er umfasst jedes Gebiet in einer Sondersituation, welche die Einrichtung einer UN-Verwaltung sinnvoll erscheinen lässt. Regelmäßig, aber nicht notwendig wird es sich dabei um failed states handeln, mithin Gebiete, deren staatliche Strukturen zusammengebrochen sind oder aber drohen zusammenzubrechen.8 Eine UN-Verwaltung kann aber auch aus anderen Gründen sinnvoll sein, beispielsweise um einen geordneten und gesichtswahrenden Souveränitätsübergang von einem Staat zu einem anderen zu ermöglichen oder um vorhandene diskreditierte staatliche Strukturen durch neue, an Demokratie und Menschenrechten orientierte zu ersetzen.9 Als Verwaltung wird vorliegend die Wahrnehmung staatlicher Befugnisse und Aufgaben innerhalb eines bestimmten Territoriums bezeichnet. Im vorliegenden 7 Zwar besaß die UNTAES in Ostslavonien ein ähnliches Mandat. Das von ihr verwaltete Gebiet und seine Bevölkerungszahl waren indes deutlich kleiner. Ausführlich zur UNTAES unten 2.Kp. K. 8 Der Begriff failed state wurde von Helman/Ratner, Foreign Policy 89 (1992/93), 3 (5), geprägt, um das Phänomen zusammenbrechender Staaten zu beschreiben. Ausführlich zu diesem Begriff Bartl, Humanitäre Intervention (1999), S. 74-82. Kritisch Wilde, EJIL 15 (2004), 71 (89-91), der diesen Begriff als zu einseitig, weil nur auf die internen Ursachen des staatlichen Zusammenbruchs verweisend, ansieht. Eine ausführlichere völkerrechtliche Behandlung dieses Phänomens findet sich auch bei Thürer, FW 74 (1999), 275-306, sowie jüngst bei Geiß, Failed States (2005). 9 Beispiele für Ersteres sind die UN-Verwaltungen in West-Neuguinea und in Ostslavonien, ein Beispiel für Letzteres ist UNMIK im Kosovo. Eine gute Analyse der verschiedenen Funktionen internationaler Gebietsverwaltung liefert Wilde, AJIL 95 (2001), 583-606. 2 Zusammenhang umfasst der Begriff die Ausübung aller drei staatlichen Gewalten, neben der staatlichen Verwaltung im eigentlichen Sinne daher auch die Gesetzgebung und die Justiz. Die Berechtigung zur Ausübung dieser Befugnisse innerhalb eines Gebietes wird im Folgenden als Verwaltungskompetenz bezeichnet. Sie erfasst nur die Ausübung von Hoheitsbefugnissen innerhalb eines Gebietes, nicht über das Gebiet als solches. Die Verwaltungskompetenz umfasst somit nicht die Berechtigung, über ein Gebiet zu verfügen.10 Gegenstand der Arbeit ist ferner primär die eigenverantwortliche Ausübung sämtlicher staatlicher Befugnisse innerhalb eines Gebietes durch die Vereinten Nationen, mithin die vollständige Verdrängung des Territorialstaates aus der Verwaltung eines Gebietes.11 Dadurch unterscheiden sich die hier behandelten UNGebietsverwaltungen von solchen Missionen, die nur sektoral Verantwortung übernommen haben oder lediglich unterstützende Aufgaben besaßen.12 Diese Arbeit beschränkt sich ferner auf die Gebietsverwaltung durch die Vereinten Nationen (UN). Untersucht wird die Verwaltungskompetenz ihrer Hauptorgane, namentlich des Sicherheitsrates, der Generalversammlung und des Treuhandrates, sowie ihre Möglichkeit, Nebenorgane mit dieser Aufgabe zu betrauen. In diesem Zusammenhang spielt auch die Ermächtigung von Einzelstaaten und anderen internationalen Organisationen eine Rolle. Ausgangspunkt bleiben aber die Verwaltungskompetenzen der Vereinten Nationen. Untersucht wird daher nicht, inwiefern Staaten und Regionalorganisationen auf anderer Rechtsgrundlage – etwa aufgrund des Rechts der kriegerischen Besetzung – ein Gebiet verwalten können.13 Auch die Verwaltung von Flüchtlingslagern durch den UNHCR oder das IKRK 10 Ausführlicher zu dieser Unterscheidung unten 3.Kp. A.I. Zur Frage, inwiefern die Vereinten Nationen über ein Gebiet verfügen können siehe auch unten 4.Kp. C.II und III. 11 § 6 Annex II zu S/RES/1244 (1999) sah zwar vor, dass jugoslawische bzw. serbische Funktionsträger in beschränktem Umfang im Kosovo verbleiben durften (u.a. zur „Präsenz“ an serbisch-orthodoxen Klöstern). Aufgaben und Befugnisse wurden ihnen aber keine zugebilligt. 12 Diese werden nur am Rande behandelt. Beispiel für Erstere ist die UN-Mission in Kambodscha (unten 2.Kp. H.), für Letzteres die neueren UN-Missionen in Afghanistan und im Irak (unten 2.Kp. N. und O.). 13 Die Verwaltung des Irak durch eine Staatenkoalition unter amerikanischer Führung wird daher nur am Rande behandelt. Siehe dazu unten 2.Kp. P. und 3.Kp. D.IV.4. 3 bleibt unberücksichtigt.14 Im Folgenden sei noch kurz die Verwendung einiger Begriffe erläutert: Der Staat, zu dessen Territorium das von der UN verwaltete Gebiet gehört, wird hier als Territorialstaat bezeichnet. Betroffener Staat kann daneben auch jeder andere Staat sein, dessen wesentliche politische oder rechtliche Interessen von der Einrichtung einer UN-Verwaltung berührt werden.15 Der Begriff Konsensverwaltung oder konsensgestützte Verwaltung meint eine UN-Gebietsverwaltung, die im Einvernehmen mit dem Territorialstaat erfolgt. Soweit es sich bei diesem um einen failed state handelt, der nicht oder nicht mehr über effektive staatliche Strukturen verfügt, kann die Einwilligung auch durch Bürgerkriegsparteien oder andere hinreichend legitimierte Vertreter der Bevölkerung erfolgen. Dagegen bezeichnet der Begriff Zwangsverwaltung eine UN-Gebietsverwaltung, die unabhängig vom Willen des Territorialstaates und seiner Bevölkerung eingerichtet wurde. B. Gang der Untersuchung Ziel dieser Arbeit ist es, den völkerrechtlichen Rahmen für die Verwaltung von Krisengebieten durch die Vereinten Nationen zu bestimmen. Aufgrund der hohen Bedeutung, die der Praxis bei der Auslegung und Fortbildung des Völkerrechts zukommt, wird zunächst auf die historischen Vorläufer und die gegenwärtigen Erscheinungsformen dieses Phänomens eingegangen (2. Kapitel). Anschließend wird untersucht, auf welche rechtlichen Grundlagen eine UN-Gebietsverwaltung gestützt werden kann (3. Kapitel). Damit verbunden ist die Frage, welche Organe der Vereinten Nationen zu einer solchen befugt sein können. Ausgehend von den unterschiedlichen Rechtsgrundlagen sollen sodann abstrakt die rechtlichen Grenzen der Verwaltungskompetenzen der UN erarbeitet werden (4. und 5. Kapitel). Anhand der so gewonnenen Erkenntnisse werden anschließend einzelnen Rechtsfragen untersucht, die sich im Rahmen der bisherigen UN-Gebietsverwaltungen ergeben haben. Exemplarisch werden neben ausgewählten Menschenrechten auch das 14 Siehe dazu Wilde, Yale HR&DLJ 1 (1998), 107-128. 15 So sind beispielsweise im Falle Osttimors sowohl die ehemalige Kolonialmacht Portugal als auch Indonesien, das Osttimor widerrechtlich annektiert hatte, betroffene Staaten. 4 Selbstbestimmungsrecht der Völker und der Grundsatz der territorialen Integrität der Staaten auf ihre beschränkende Wirkung hin analysiert. Diese Arbeit bezieht sich nicht auf eine konkrete UN-Mission, sondern will den rechtlichen Rahmen für jede Form umfassender Territorialverwaltung durch die Vereinten Nationen aufzeigen. Daher kommen nicht nur Gebietsverwaltungen des Sicherheitsrates, sondern auch solche der Generalversammlung zur Sprache. Ferner wird kurz untersucht, inwiefern der Treuhandrat für diese Zwecke reaktiviert werden könnte. Aufgrund ihrer überragenden Bedeutung in der Praxis16 steht die vom Sicherheitsrat auf der Grundlage von Kapitel VII der Charta eingerichtete Gebietsverwaltung allerdings im Zentrum der Untersuchung. Dagegen werden frühere oder gegenwärtige UN-Verwaltungsmissionen außerhalb des historischen Teils nur insoweit behandelt, als sie beispielhaft für die Wahl einer bestimmten Rechtsgrundlage sind. UNMIK im Kosovo und UNTAET in Osttimor sind zwar Anlass, nicht aber Schwerpunkt dieser Arbeit. Ferner beschränkt sich die Arbeit auf die Untersuchung der rechtlichen Rahmenbedingungen einer UN-Gebietsverwaltung, so dass politische, wirtschaftliche und soziale Erwägungen keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielen. Ziel ist es, den rechtlichen Handlungsrahmen abzustecken, innerhalb dessen der Sicherheitsrat und andere Akteure ihre Entscheidungen treffen können. Soweit rechtliche Kriterien darüber hinaus bei der praktischen Ausgestaltung dieses Handlungsrahmens eine Rolle spielen, werden sie ebenfalls dargelegt. Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Charta der Vereinten Nationen. Sie ist zugleich Quelle und Beschränkung der Kompetenzen der Organisation. Die Auslegung der Charta und die Bestimmung ihres Verhältnisses zum übrigen Völkerrecht bilden daher den juristischen Schwerpunkt der Arbeit. Soweit vertretbar gibt die Arbeit den Stand der Diskussion in der Völkerrechtswissenschaft wieder, ohne eine vollständige und umfassende Wiedergabe aller vertretenen Meinungen 16 Alle jüngeren Verwaltungsmissionen wurden durch den Sicherheitsrat eingerichtet, wobei er sich in den letzten drei Fällen (UNTAES, UNMIK und UNTAET) stets des Kapitels VII als Rechtsgrundlage bedient hat. 5 anzustreben. Insbesondere in der Frage der allgemeinen Kompetenzen des Sicherheitsrates sowie hinsichtlich der konkret untersuchten einzelnen Rechte wird an geeigneter Stelle auf umfangreichere Arbeiten Dritter verwiesen. 6 2. Kapitel: Historische Einführung Die Verwaltung von Krisengebieten durch internationale Organisationen ist keine Neuentwicklung der letzten fünfzehn Jahre. Vielmehr hat bereits der Völkerbund Verantwortung für die Verwaltung bestimmter Gebiete übernommen und auch die Vereinten Nationen haben bereits in ihrer Frühzeit Gebiete verwaltet oder dies zumindest geplant. Mit Beendigung der UN-Mission in West-Neuguinea im Jahre 1963 geriet dieses Instrument der Krisenbewältigung jedoch gleichsam in Vergessenheit und wurde erst mit dem Ende des Ost-West-Konflikts wiederentdeckt. Beginnend mit der UN-Mission in Namibia im Jahre 1988 wurden bis hin zu jenen im Kosovo und in Osttimor im Jahre 1999 eine ganze Reihe von UN-Missionen eingerichtet, deren wesentliches Merkmal eine immer umfangreichere Befugnis zur Verwaltung des Gebietes war und ist. Hatten die Vereinten Nationen in Namibia noch weitgehend unterstützende Funktionen übernommen und arbeiteten nur in Randbereichen eigenverantwortlich, so übernahmen sie im Kosovo und in Osttimor schließlich die alleinige Verantwortung für alle Aspekte der Verwaltung und wurden so gleichsam zur Regierung dieser Gebiete. Die neueren UN-Missionen in Afghanistan, in Liberia und im Irak deuten demgegenüber eine Rückkehr zu primär unterstützenden Funktionen an. Im Folgenden werden die historischen Hintergründe der einzelnen UN-Missionen und die von ihnen übernommenen Aufgaben kurz dargestellt. Soweit dies bereits möglich ist, wird auch eine kurze Bewertung vorgenommen. Im Übrigen sei auf die Literaturhinweise in den Fußnoten verwiesen. Nicht eingegangen wird auf internationale Gebietsverwaltungen vor Gründung des Völkerbundes im Jahre 1919, 17 da es sich bei diesen nicht um Verwaltungen durch internationale Organisationen, sondern zumeist lediglich um die Abtretung bestimmter Souveränitätsrechte an Gruppen anderer Staaten handelt. Aus diesem Grund wird auch nicht auf das von 1923 bis 1956 bestehende internationale Regime für die nordafrikanische Stadt 17 Zu diesen siehe Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 22-39 u. 95-153. 7 Tanger (heute Marokko) eingegangen.18 A. Gebietsverwaltungen durch den Völkerbund Während der Zeit des Völkerbundes gab es eine ganze Reihe von Projekten, bestimmte Gebiete übergangsweise oder dauerhaft durch den Völkerbund oder zumindest unter seiner Aufsicht verwalten zu lassen. Viele von ihnen resultierten aus ungeklärten Territorialfragen nach dem ersten Weltkrieg. Die meisten von ihnen wurden nie verwirklicht. Zu diesen gehörten die internationale Verwaltung des Memelgebietes19 und die Internationalisierung der Städte Fiume an der Adria,20 Wilna in Litauen21 und Alexandretta in Syrien22. Verwirklicht wurden die Freie Stadt Danzig (1920 bis 1939), die internationale Verwaltung des Saarlandes (1920 bis 1935) sowie die Übergangsverwaltung von Leticia (1933 bis 1934). Gewisse Ähnlichkeiten mit heutigen UN-Gebietsverwaltungen weisen indes nur die Saarverwaltung und Leticia auf. Zweck der Internationalisierung Danzigs23 war es, dem wiedererstandenen Polen den Zugang zur Ostsee zu sichern, ohne die Stadt gegen den Willen seiner mehrheitlich deutschen Bevölkerung Polen zuweisen zu müssen.24 Jedoch übernahm der Völkerbund selbst keine Verwaltungsaufgaben in Danzig, sondern erfüllte lediglich die Funktion eines Garanten und Schiedsrichters.25 Die eigentliche Verwaltung teilten sich Polen und Organe der Stadt selbst. Dagegen nahm der Völkerbund im Saarland und in Leticia selbst Exekutivverantwortung war. 18 Zu Tanger siehe Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 154-184; Beck, Internationalisierung (1962), S. 9-17, jeweils m.w.N. 19 Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 48-50. 20 Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 51-59; Beck, Internationalisierung (1962), S. 26-30. 21 Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 36 m.w.N. 22 Wilde, AJIL 95 (2001), 583 (586) m.w.N. 23 Geregelt in Teil XI, Art. 100-108 Versailler Vertrag (1919), RGBl. 1919 II, 688 (868-877) sowie im Vertrag Polens mit der freien Stadt Danzig vom 9. November 1920, abgedr. in L.N.T.S. VI (1921), 189-207. 24 Beck, Internationalisierung (1962), S. 19. 25 Ratner, New UN Peacekeeping (1995), S. 94. Zur Freien Stadt Danzig ausführlich Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 185-230. 8 Auf beide soll im Folgenden daher näher eingegangen werden. I. Saarland (1920-1935) Wie die Freie Stadt Danzig fand auch die internationale Verwaltung des Saarlandes ihre Rechtsgrundlage im Friedensvertrag von Versailles,26 und wie diese war auch die Saarverwaltung eine Kompromisslösung zwischen der Wahrung des Selbstbestimmungsrechts der Saarbevölkerung und dem Wunsche Frankreichs, das ihm zu Reparationszwecken übertragene Eigentum an den saarländischen Kohlegruben zu sichern.27 Gemäß Art. 49 Abs. 1 des Versailler Vertrages übernahm der Völkerbund die Regierungsgewalt über das Saargebiet treuhänderisch vom Deutschen Reich. Die Einzelheiten des Völkerbundregimes über das Saargebiet waren im Anhang zu den Art. 45 bis 50 des Friedensvertrages geregelt (im Folgenden: Anhang). Gemäß § 16 des Anhangs wurde das Saargebiet von einer fünfköpfigen Kommission unter Leitung ihres Vorsitzenden regiert. Ihre Mitglieder wurden vom Rat des Völkerbundes ernannt und erstatteten diesem mehrmals jährlich Bericht.28 Gemäß § 19 des Anhangs besaß die Kommission alle Regierungsbefugnisse, die zuvor vom Deutschen Reich ausgeübt worden waren, darunter das Recht, Beamte zu ernennen oder zu entlassen und Steuern und Abgaben zu erheben.29 Im Übrigen galt das bestehende deutsche Recht fort, und auch die Volksvertretungen auf lokaler Ebene existierten weiter.30 Die Gerichte wurden lediglich durch ein von der Kommission 26 Abschnitt IV, Art. 45-50 des Versailler Vertrag (1919) nebst zugehörigen Anhangs, abgedr. in RGBl. 1919, 688 ff. (769-802). 27 Art. 45 des Versailler Vertrag (1919), RGBl. 1919, 688 (768 f.). Zur Verhandlungsgeschichte siehe Beck, Internationalisierung (1962), S. 30-34. 28 Ratner, New UN Peacekeeping (1995), S. 92. § 19 Abs. I des Anhangs lautet im englischen Original: „Within the territory of the Saar Basin the Governing Commission shall have all the powers of government hitherto belonging to the German Empire, Prussia or Bavaria, including the appointment of officials, and the creation of such administrative and representative bodies as it may deem necessary“ (RGBl. 1919, 688 [786]). Das Recht zur Steuerhebung findet sich in § 26 des Anhangs. 29 30 § 23 und § 28 Abs. 1 des Anhangs. 9 eingerichtetes Obergericht ergänzt.31 § 34 des Anhangs verpflichtete den Völkerbund, fünfzehn Jahre nach Inkrafttreten des Versailler Vertrages eine Volksabstimmung über den künftigen Status des Saargebietes abzuhalten. Deren Ergebnis hatte er bei seiner Entscheidung zur künftigen Souveränität über das Saargebiet zu berücksichtigen (§ 35 des Anhangs). Bei der Abstimmung 1935 votierte die Bevölkerung mit über 90% für eine Zugehörigkeit zu Deutschland. Dem folgend übergab der Rat des Völkerbundes die Regierungsgewalt über das Saarland am 1. März 1935 wieder dem Deutschen Reich.32 Von den heutigen UN-Gebietsverwaltungen unterscheidet sich die Saargebietsverwaltung des Völkerbundes zwar insofern, dass sie auf einem Friedensvertrag und nicht auf einer einseitigen Entscheidung des Organs einer internationalen Organisation beruhte. Auch verfügte das Saargebiet im Gegensatz zu heutigen Krisengebieten über eine intakte Infrastruktur, eine entwickelte Wirtschaft und eine gut ausgebildete Bevölkerung. Dennoch stellt die Saargebietsverwaltung aufgrund des Umfangs der durch die Saarkommission ausgeübten Kompetenzen geradezu einen Prototyp für die späteren UN-Verwaltungen im Kosovo und in Osttimor dar.33 Denn hier war mit dem Völkerbund erstmals eine internationale Organisation für sämtliche Regierungsaufgaben innerhalb eines Gebietes zuständig, vom Straßenbau über die Erhebung von Steuern bis hin zur Einrichtung und dem Betrieb eines Regierungsapparates. Mit der Organisation der Volksabstimmung über den künftigen Status des Gebietes nahm die Saarverwaltung eine weitere wesentliche Aufgabe späterer UN-Gebietsverwaltungen vorweg. Des Weiteren richtete der Völkerbund eine internationale Schutztruppe aus 3.300 britischen, italienischen, niederländischen und schwedischen Soldaten ein, um die öffentliche Sicherheit und 31 § 25 des Anhangs. 32 Zu den Überlegungen einer Internationalisierung bzw. Europäisierung des Saarlandes nach dem zweiten Weltkrieg siehe ausführlich Fischer, Die Saar zwischen Deutschland und Frankreich (1959), sowie Beck, Internationalisierung (1962), S. 37-41. 33 Ähnlich Ratner, New UN Peacekeeping (1995), S. 91, im Hinblick auf die von ihm behandelten UN-Friedensmissionen der zweiten Generation. 10 Ordnung im Vorfeld der Volksabstimmung zu gewährleisten. Auch hinsichtlich des Einsatzes von Friedenstruppen unter der Kontrolle einer internationalen Organisation spielte die Saarverwaltung mithin eine frühe Vorreiterrolle.34 II. Leticia (1933-1934) Die Völkerbundsverwaltung Leticias ist ein frühes Beispiel für internationale Gebietsverwaltung als Mittel zur Beendigung eines akuten internationalen militärischen Konflikts. Bei Leticia handelt es sich um ein trapezförmiges, etwa 100.000 km2 großes, im Süden an den Amazonas grenzendes und kaum bewohntes Gebiet, dessen Zentrum die gleichnamige Hafenstadt von etwa 400 Einwohnern war.35 Im kolumbianisch-peruanischen Grenzvertrag von 1922 war die Zugehörigkeit des Gebietes zu Kolumbien vereinbart worden.36 Dennoch wurde es im September 1932 von irregulären peruanischen Einheiten besetzt. Bei Versuchen Kolumbiens, das Gebiet militärisch zurückzuerobern, kam es zu bewaffneten Auseinandersetzungen mit peruanischen Regierungstruppen. Auf Antrag Kolumbiens wurde gemäß Art. 15 Abs. 1 der Satzung des Völkerbundes (SVB) Anfang 1933 eine Sondersitzung des Rates des Völkerbundes einberufen.37 Dieser erarbeitete gemäß Art. 15 Abs. 4 SVB einen Bericht,38 in dem die Völkerrechtswidrigkeit der peruanischen Besetzung festgestellt und den Parteien folgender Vorschlag zur Streitschlichtung unterbreitet wurde: Sämtliche peruanischen Einheiten sollten das Gebiet verlassen und seine Verwaltung von einer Kommission des Völkerbundes übernommen werden.39 Die Kosten der Verwaltung 34 Ratner, New UN Peacekeeping (1995), S. 93. 35 Weber, FW 33 (1933), 190 (191); Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 61. Eine Karte des Gebietes findet sich im Anhang II des Berichts der Kommission des Völkerbundes, S.N.J.O. 1933, N° 4 (1ière part.), 599-612 (612). 36 Art. 1 des Tratado de límites y libre navegación fluvial entre Colombia y el Peru, unterzeichnet am 24. März 1922 in Lima/Peru, abgedr. als Nr. 1726 in L.N.T.S. 74, 9-17. 37 Weber, FW 33 (1933), 190 (193). Zum System friedlicher Streitbeilegung nach Art. 15 SVB allgemein siehe Schücking/Wehberg, SVB-Kommentar (1924), S. 568-600. 38 S.N.J.O. 1933, N° 4 (1ière part.), 599-612. Zu den vorangegangenen Verhandlungen im Rahmen des Völkerbundes siehe Weber, FW 33 (1933), 190 (192 f.). 39 Im Original: „Prise en charge du territoire par une Commission de la Société des Nations“ 11 sollte Kolumbien tragen. Der Kommission sollten ferner kolumbianische Einheiten direkt unterstellt werden, welche zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit einzusetzen waren. Währenddessen sollten die Parteien über eine endgültige Lösung des Konfliktes verhandeln. Diesem Vorschlag stimmten Peru und Kolumbien im Mai 1933 zu.40 Im Juni 1933 nahm die Kommission ihre Arbeit auf und regierte das Gebiet unter der Flagge des Völkerbundes mit großem Geschick bis zu seiner Rückgabe an Kolumbien genau ein Jahr später.41 Dabei richtete sie unter Leitung je eines Kommissionsmitglieds Verwaltungsstellen für öffentliche Sicherheit, für Aufgaben der Daseinsvorsorge und für die Beurteilung von Schadensersatzansprüchen aus der peruanischen Besetzung des Gebietes ein.42 Auch wenn es sich lediglich um ein kleines, kaum bewohntes und kaum entwickeltes Gebiet handelte, treten in der Verwaltung Leticias bereits eine Vielzahl von Aspekten späterer UN-Mission auf: die übergangsweise Verwaltung eines Gebietes bis zur Klärung seines endgültigen Status, um diesbezügliche bewaffnete Konflikte zu beenden, der Wiederaufbau und die Aufrechterhaltung öffentlicher Daseinsvorsorge und die Verantwortung für die Klärung privatrechtlicher Ansprüche aus den vorangegangenen Konfliktereignissen. Auch wenn sich diese Aufgaben sicherlich auf einem sowohl qualitativ als auch quantitativ wesentlich niedrigeren Niveau bewegten, als dies bei heutigen UN-Verwaltungsmissionen der Fall ist, bleibt Leticia ein wichtiger Präzedenzfall für die internationale Gebietsverwaltung als ein Mittel friedlicher Streitbeilegung. Für den Völkerbund war die Lösung des LeticiaKonfliktes zudem einer der seltenen politischen Erfolge in schwierigen Zeiten.43 B. Das Freie Territorium Triest (1947) Das Freie Territorium Triest entstand mit Inkrafttreten des Friedensvertrages mit (S.N.J.O. 1933, N° 4 (1ière part.), 605). 40 Genfer Abkommen vom 25. Mai 1933, abgedr. in S.N.J.O. 1933, N° 7 (2 ième part.), 944 f. 41 Leticia, in: Strupp-Schlochauer II (1961), S. 414 f. 42 Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 61. 43 Weber, FW 33 (1933), 190 (190); Leticia, in: Strupp-Schlochauer II (1961), S. 415. 12 Italien am 15. September 194744 und endete mit dem Londoner Verständigungsmemorandum vom 5. Oktober 1954,45 ohne in diesen sieben Jahren je tatsächlich zu existieren.46 Nach seinem Statut sollte das Gebiet durch einen Gouverneur verwaltet werden, der vom Sicherheitsrat ausgewählt und diesem Rechenschaft schuldig war. Auch sollte der Sicherheitsrat die politische und territoriale Integrität des Gebietes garantieren. Wäre es je zustande gekommen, hätte das Freie Territorium Triest mithin einen frühen Idealfall territorialer Verwaltung durch den Sicherheitsrat dargestellt.47 I. Historischer Hintergrund Das Freie Territorium Triest umfasste die an der Nordspitze der Adria gelegene alte Hafenstadt Triest und Teile ihres Hinterlandes.48 Das Gebiet hatte von 1382 bis 1918 zum habsburgischen Österreich beziehungsweise zu Österreich-Ungarn gehört, bevor es 1920 im Vertrag von Rapallo mitsamt der Halbinsel Istrien Italien zugesprochen wurde.49 Während die Einwohner der Stadt selbst überwiegend italienischen Ursprungs waren, war ihr Hinterland slawisch geprägt.50 Nach dem zweiten Weltkrieg wurde das Gebiet in zwei Besatzungszonen geteilt. Die Stadt selbst und der sie umgebende, bis Italien reichende Küstenstreifen, die sog. Zone A, wurden unter britisch-amerikanische Militärverwaltung gestellt, während das Gebiet südlich 44 Art. 22 Abs. 1 des Friedensvertrag mit Italien (10. Februar 1947). Der Vertrag trat gem. Art. 90 mit seiner Ratifikation durch die vier Siegermächte UdSSR, USA, Großbritannien und Frankreich am 15. September in Kraft (siehe UNTS Bd. 49 (1950), S. 126). 45 Memorandum über die Verständigung zwischen den Regierungen Italiens, des Vereinigten Königreiches, der Vereinigten Staaten und Jugoslawiens betreffend das Freie Territorium Triest, abgedruckt in British Parliamentary Papers No. Cmnd. 9288 (1954) bzw. in USA State Department Bulletin 1954, 551 (Nr. 799). Eine deutsche Übersetzung findet sich bei Tončić-Sorinj, Schicksal Triests, EA 10 (1955), 7461 (7479-7482). 46 Beck, Internationalisierung (1962), S. 44. 47 Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 71. 48 Eine Karte findet sich in Annex I.D. des Friedensvertrag mit Italien (10. Februar 1947), UNTS No. 747, Bd. 50 (1950), und bei Sluga, The Problem of Trieste (2001), S. 142. Vertrag vom 12. November 1920. Ausführlich zu den historischen Hintergründen Tončić-Sorinj, Schicksal Triests, EA 10 (1955), 7461-7482; Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 232-238 und – mit soziologischem Schwerpunkt – Sluga, The Problem of Trieste (2001), S. 11-83. 49 Tončić-Sorinj, Schicksal Triests, EA 10 (1955), 7461 (7466); Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 235. 50 13 der Stadt auf der istrischen Halbinsel als Zone B von Jugoslawien verwaltet werden sollte.51 Die Frage, wie mit dem Gebiet verfahren werden sollte, zählte zu den ersten diplomatischen Auseinandersetzungen des beginnenden Kalten Krieges.52 Jugoslawien verlangte unter Verweis auf die slawische Bevölkerungsmehrheit eine vollständige Angliederung des Gebietes an die Volksrepublik Jugoslawien. Darin wurde es von der UdSSR unterstützt, wohl auch aus dem Gedanken heraus, Triest wieder als Hafen für die Länder Mittel- und Osteuropas zu gewinnen, eine Funktion, die Triest bereits zu Zeiten Österreich-Ungarns besaß.53 Italien verwies dagegen auf die italienische Bevölkerungsmehrheit in Triest selbst und führte die historische Zugehörigkeit der Stadt zum italienischen Kulturkreis an.54 Unterstützt wurde Italien dabei von den Vereinigten Staaten und Großbritannien, die den Zugang des sich entwickelnden Ostblocks zum Mittelmeer begrenzen wollten. Obwohl die Fronten zwischen den vier Siegermächte zu diesem Zeitpunkt noch nicht verhärtet waren, gelang es im Rahmen der Friedensverhandlungen mit Italien zunächst nicht, die Triestfrage einer Lösung zuzuführen.55 Schließlich schlug der französische Außenminister Bidault auf der Konferenz der vier Siegermächte im Juni 1946 mit der Internationalisierung nicht nur des Hafens, sondern des gesamten Gebietes einen dritten Weg aus dem Konflikt vor.56 Dabei sollte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die territoriale Integrität des Gebietes garantieren. Obwohl sich sowohl Italien als auch Jugoslawien gegen diesen Vorschlag aussprachen, wurde er in modifizierter Form von den vier Siegermächten angenommen und in den 51 Sluga, The Problem of Trieste (2001), S. 99 f. (mit Karten auf S. 100 u. 142). 52 Beck, Internationalisierung (1962), S. 42. Tončić-Sorinj, Schicksal Triests, EA 10 (1955), 7461 (7461-7463); Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 237 u. 239. 53 54 Beck, Internationalisierung (1962), S. 41 f. Ausführlicher zum Gang der Verhandlungen Tončić-Sorinj, Schicksal Triests, EA 10 (1955), 7461 (7467-7569), und Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 238-243. 55 Tončić-Sorinj, Schicksal Triests, EA 10 (1955), 7461 (7469); Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 240. 56 14 Friedensvertrag mit Italien aufgenommen.57 Am 10. Januar 1947 bestätigte der Sicherheitsrat die zu Triest getroffenen Regelungen des Friedensvertrages und erklärte die Übernahme der ihm darin angetragenen Aufgaben.58 Am 10. Februar 1947 wurde schließlich der Friedensvertrag unterzeichnet, mit dessen Ratifikation durch die vier Siegermächte am 15. September 1947 auch das in seinem Anhang VII niedergelegte Instrument zur übergangsweisen Verwaltung des Freien Territoriums Triest59 in Kraft trat. Das eigentliche, in Anhang VI des Friedensvertrages niedergelegte Statut des Freien Territoriums Triest (Triest-Statut) sollte gemäß seinem Art. 38 erst zu einem vom Sicherheitsrat zu bestimmenden Zeitpunkt in Kraft treten. Dazu kam es jedoch nie. II. Das Mandat des Sicherheitsrates Das Triest-Statut sah ein quasi-staatliches Gebilde unter der Aufsicht und dem Schutz des Sicherheitsrates vor. Als Organe nennt Art. 9 des Triest-Statuts einen Gouverneur, ein Parlament („popular assembly“), einen von diesem zu ernennenden Regierungsrat und eine unabhängige Justiz. Ferner sollte in Übereinstimmung mit den Vorgaben des Triest-Statuts eine Verfassung ausgearbeitet und vom Parlament verabschiedet werden (Art. 10 Triest-Statut). Als Attribute der Staatlichkeit sollte das Freie Territorium Triest über eine eigene Staatsbürgerschaft (Art. 6 Triest-Statut), Flagge und Wappen (Art. 8 Triest-Statut) und auch ein eigenes Schiffsregister einrichten (Art. 33 Triest-Statut). Im Gegensatz zum ursprünglichen französischen Vorschlag war die Geltungsdauer des Statuts nicht begrenzt. Das Freie Territorium Triest war daher nicht als Übergangslösung, sondern als dauerhafte Einrichtung vorgesehen. Die Gesetzgebung sollte dem in freier und geheimer Verhältniswahl gewählten Parlament obliegen (Art. 12 Triest-Statut). Ferner hatte es die Mitglieder des mit der 57 Art. 21 u. 22 sowie Anhänge VI - X des Friedensvertrag mit Italien (10. Februar 1947). 58 Entscheidung („decision“) vom 10.1.1947, abgedruckt in RPSC 1946-51, S. 312 f., ebenso in den S.C.O.R., 91. Sitzung, S/P.V./91, 61 f. 59 Instrument for the Provisional Regime of the Free Territory of Trieste, Anhang VII des Friedensvertrag mit Italien (10. Februar 1947). 15 Ausübung der Exekutivgewalt innerhalb des Gebietes betrauten Regierungsrates zu benennen (Art. 13 Abs. 1 Triest-Statut). Dieser wiederum war dem Parlament gegenüber verantwortlich. Aufgabe des Gouverneurs sollte die Überwachung der Einhaltung des Statuts und der zu verabschiedenden Verfassung sein. Dazu sollte er neben dem Recht, die Mitglieder der Richterschaft zu ernennen, weitere weitreichende Eingriffsbefugnisse besitzen. So gab ihm das Triest-Statut das Recht, die Verkündung von Gesetzen durch sein Veto zu verhindern (Art. 19 Abs. 4 Triest-Statut) oder von Änderungen abhängig zu machen. Völkerrechtsakte des Freien Territoriums Triest sollten gemäß Art. 24 Abs. 2 des Statuts nur mit Unterschrift des Gouverneurs rechtskräftig sein. Indes sollte er nur in Notstandssituationen selbst zu unmittelbar wirkenden Exekutivakten berechtigt sein (Art. 22 Triest-Statut). Er besaß daher eher eine Wächter- denn eine Regierungsfunktion.60 Nach Art. 11 des Statuts war der Gouverneur durch den Sicherheitsrat nach Konsultation mit Italien und Jugoslawien zu ernennen. Rechtlich gesehen war er als Vertreter des Sicherheitsrates (Art. 17 Abs. 1 Triest-Statut) ein Mitarbeiter der Vereinten Nationen. Dem Sicherheitsrat war er für die statutskonforme Arbeit der Regierung des Territoriums verantwortlich, wozu auch die Wahrung der Menschenrechte und die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit durch diese gehörte (Art. 17 Abs. 1 Triest-Statut). Ferner hatte er dem Sicherheitsrat jährlich Bericht zu erstatten (Art. 17 Abs. 2 Triest-Statut). Das Triest-Statut wies dem Sicherheitsrat im Wesentlichen die Funktionen eines Garanten und eines Schiedsrichters zu. So sollte er nach Art. 2 des Statuts die territoriale Integrität und die politische Unabhängigkeit des Gebiets garantieren. Dies beinhaltete neben Sicherstellung der Einhaltung des Statuts explizit auch die Verpflichtung, die Wahrung der Menschenrechte und der öffentlichen Ordnung innerhalb des Territoriums sicherzustellen. Ferner sollte er in dem Fall entscheiden, dass Gouverneur und Parlament hinsichtlich der Vereinbarkeit einzelner Normen der auszuarbeitenden Verfassung (Art. 10 Abs. 2 Triest-Statut) oder einfacher Gesetze (Art. 19 Abs. 5 Triest-Statut) mit dem Statut keine Einigkeit erzielen konnten. In Zu weitgehend Tončić-Sorinj, Schicksal Triests, EA 10 (1955), 7461 (7469), der von “diktatorischen Vollmachten” des Gouverneurs spricht. 60 16 diesen Fällen war das Vetorecht des Gouverneurs mit einem Petitionsrecht des Parlaments an den Sicherheitsrat verbunden. Nur in diesen Fällen waren explizite Einzelfallanweisungen des Sicherheitsrates vorgesehen (Art. 19 Abs. 6 Triest-Statut). III. Bewertung Formal scheiterte das Projekt eines Freien Territoriums Triest an der Unfähigkeit des Sicherheitsrates, sich auf eine Besetzung des Gouverneursposten zu einigen.61 In der Praxis blieb es daher bei einer getrennten britisch-amerikanischen beziehungsweise jugoslawischen Militärverwaltung in den Zonen A und B, wobei die damit verbundenen Aufgaben in zunehmenden Maße italienischen beziehungsweise jugoslawischen Zivilbeamten übertragen wurden. Die Regelungen des Friedensvertrages wurden so immer weiter ausgehöhlt.62 Im Oktober 1954 einigten sich die vier Siegermächte, Italien und Jugoslawien schließlich darauf, den status quo zu formalisieren, indem Italien Zone A und Jugoslawien Zone B annektieren sollte.63 Somit wurde das Gebiet letztlich nach ethnischen Gesichtspunkten geteilt und der Hafen von seinem Hinterland getrennt.64 Die Folgen dieser Entscheidung wurden erst durch die Aufnahme Sloveniens in die Europäische Union am 1. Mai 2004 wieder beseitigt. Das Projekt eines internationalisierten Triests war ein Kind seiner Zeit. Seinen Ursprung hatte es in den nationalstaatlichen Auseinandersetzungen zwischen Italien und dem sich noch später konstituierenden Jugoslawien. Die Idee, das Gebiet unter den Schirm der Vereinten Nationen zu stellen, spiegelt das große Vertrauen wider, welches der Organisation entgegengebracht wurde.65 Letztlich scheiterte es aus denselben Gründen, die den Sicherheitsrat bis weit in die achtziger Jahre zur Untätigkeit verdammten und ihn die in ihn gesetzten Hoffnungen enttäuschen 61 Ausführlich zu den Ursachen und den politischen Hintergründen des Scheiterns Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 257-269. 62 Tončić-Sorinj, Schicksal Triests, EA 10 (1955), 7461 (7473 f.). 63 So festgehalten im Londoner Verständigungsmemorandum vom 5.10.1954 (siehe oben Fn. 45) 64 Zur Entwicklung des Gebietes nach 1954 siehe Tončić -Sorinj, Triest, EA 31 (1976), 571 ff. 65 Beck, Internationalisierung (1962), S. 47. 17 ließen.66 Von heutigen UN-Gebietsverwaltungen unterscheidet das Triest-Projekt, dass es auf Dauer angelegt war und nicht lediglich als Übergangslösung zur Bewältigung einer akuten Krise entworfen wurde. Teilweise wurden die Vereinten Nationen deshalb auch als Träger der staatlichen Souveränität des Gebietes bezeichnet.67 Als erstes Beispiel für eine Gebietsverwaltung unter der Ägide des Sicherheitsrates ist das Freie Territorium Triest dennoch für heutige UN-Gebietsverwaltungen nicht ohne Bedeutung. So ähnelt die Stellung des Gouverneurs in einigen Aspekten der Stellung des Sondergesandten des Generalsekretärs (SRSG) in der Spätphase von Krisengebietsverwaltungen wie im Kosovo oder Osttimor: Die eigentliche Verwaltung wird von lokalen Institutionen wahrgenommen, der Sondergesandte besitzt aber ein Vetorecht, wenn und soweit seines Erachtens gegen die der Mission zugrunde liegende Sicherheitsratsresolution verstoßen wird.68 Auch die im Friedensvertrag mit Italien vorgenommene formale Trennung zwischen einem provisorischen Statut für die Zeit bis zur Einrichtung einer lokalen Verwaltung69 und einem Statut für die Zeit danach könnte ein Vorbild für künftige Gebietsverwaltungen des Sicherheitsrates sein. Denn auch wenn diese zur Bewältigung konkreter Krisen erfolgen, teilen sie sich doch zumeist in eine „Einrichtungsphase“, in der lokale Strukturen erst wieder organisiert werden müssen, und eine „Aufbauphase“, in der ihre Entwicklung und Stabilisierung gefördert und überwacht wird. Ähnlich Tončić-Sorinj, Schicksal Triests, EA 10 (1955), 7461 (7472). Pessimistisch deshalb zur Zukunft internationalisierter Gebiete Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 271. 66 Tončić-Sorinj, Schicksal Triests, EA 10 (1955), 7461 (7470); mit Verweis auf Äußerungen des amerikanischen Außenministers Byrnes auch Beck, Internationalisierung (1962), S. 45. Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 833, und ihm folgend Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 271, sehen die Vereinten Nationen eher in der Rolle eines Staatsoberhauptes. 67 68 Siehe beispielsweise Kapitel 12 des Constitutional Framework, verabschiedet als UNMIK/REG/2001/9 vom 15.5.2001: „The exercise of the responsibilities of the Provisional Institutions of Self-Government under this Constitutional Framework shall not affect or diminish the authority of the SRSG to ensure full implementation of UNSCR 1244 (1999), including overseeing the Provisional Institutions of Self-Government, its officials and its agencies, and taking appropriate measures whenever their actions are inconsistent with UNSCR 1244 (1999) or this Constitutional Framework.” 69 Anhang VII des Friedensvertrag mit Italien (10. Februar 1947). 18 Für die vorliegende Arbeit ist das Freie Territorium Triest aber insbesondere deshalb von Interesse, weil es den Sicherheitsratsmitgliedern dazu Anlass bot, die in Frage kommenden Rechtsgrundlagen für eine Gebietsverwaltung des Sicherheitsrates zu diskutieren. So wurden auf der 89. und 91. Sitzung des Sicherheitsrates, bei denen die dem Rat im Friedensvertrag mit Italien angetragenen Aufgaben debattiert wurden, durchaus gewichtige Einwände aufgeführt.70 Zumindest Australien war bis zuletzt nicht davon überzeugt, dass der Sicherheitsrat zu einem solchen Schritt berechtigt sei, und enthielt sich daher bei der Abstimmung am 10. Januar 1947 als einziges Mitglied der Stimme.71 Insbesondere bei der Frage, inwiefern der Sicherheitsrat außerhalb der Voraussetzungen des Kapitels VII der Charta zur Übernahme der Verwaltungshoheit über ein Gebiet berechtigt ist, wird daher das Freie Territorium Triest eine Rolle spielen.72 C. Die Internationale Stadt Jerusalem (1947) Ähnlich wie im Falle Triests sollte auch durch das zeitgleich entwickelte Projekt einer Internationalen Stadt Jerusalem ein territorialer Konflikt durch eine auf Dauer angelegte Internationalisierung des Streitgegenstandes behoben werden,73 und wie im Falle Triests scheiterte diese Idee letztlich an nationalstaatlichen Bestrebungen der Bewohner des betroffenen Gebietes.74 I. Historischer Hintergrund Nach dem Zusammenbruch des osmanischen Reiches als Folge des ersten 70 Siehe S.C.O.R., 2nd year, No. 1, 4-19 (89. Sitzung), sowie S.C.O.R., 2nd year, No. 3, 44-61 (91. Sitzung). 71 RPSC 1946-51, S. 312; S.C.O.R., 2nd year, No. 3 (91st sess.), 61. 72 Siehe unten 3.Kp. B. 73 Teil II.D. des in A/RES/181 (II) enthaltenen Teilungsplanes gab zwar für das Statut der Stadt eine Geltungsdauer von zehn Jahren vor. Dann sollte es indes lediglich im Lichte der gewonnenen Erfahrungen und entsprechend der Wünsche der Bevölkerung überarbeitet werden („reexamination“), nicht aber außer Kraft treten. Allgemein zur Entschärfung von Souveränitätskonflikten als Ziel internationaler Gebietsverwaltung Wilde, AJIL 95 (2001), 583 (586-592). 74 Ausführlich zur internationalen Stadt Jerusalem Weiss, Stellung Jerusalems (1954), S. 513-557; Falaize, RGDIP 62 (1958), 618-654; Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 273-315; Le Morzellec, Jerusalem devant l’ONU (1979), S. 63-310. 19 Weltkrieges wurde Palästina britisches Mandatsgebiet.75 In der sog. BalfourErklärung vom 2. November 1917 hatte die britische Regierung die Errichtung einer jüdischen Heimstatt in Palästina befürwortet, ohne dass dadurch die Rechte der nicht-jüdischen Bewohner des Gebietes beeinträchtigt werden sollten.76 In der Folgezeit kam es zu einer verstärkten Einwanderung von Juden nach Palästina, welche zahlreiche, teilweise kriegerische Auseinandersetzungen zwischen arabischen und jüdischen Bewohnern des Mandatsgebietes nach sich zog. Diese flauten während des zweiten Weltkrieges nur vorrübergehend ab.77 Nachdem eigene Bemühungen zur Lösung des Konflikts gescheitert waren, legte Großbritannien Anfang 1947 die Frage, wie mit dem Gebiet und seinen beiden verfeindeten Bevölkerungsgruppen zu verfahren sei, der Generalversammlung der Vereinten Nationen vor.78 Diese setzte zunächst eine Sonderkommission ein79, welche der zweiten Generalversammlung der Vereinten Nationen am 31. August ihren Bericht vorlegte80. Darin schlug die Mehrheit der Kommission vor, das Gebiet zu teilen und in Form eines jüdischen und eines arabischen Staates in die Unabhängigkeit zu entlassen. Die Stadt Jerusalem nebst einem kleinen Umland und der Stadt Bethlehem sollten als corpus separatum internationalisiert und hinfort von den Vereinten Nationen verwaltet werden.81 In ihrer Resolution 181 (II) vom 29. November 1947 entschied sich die Generalversammlung für diesen Teilungsplan und beauftragte den 75 Mandatsabkommen abgedruckt im Bericht der UN Sonderkommission für Palästina an die Generalversammlung vom 3.9.1947 (UN-Doc. A/364), G.A.O.R, 2nd Sess., Supplement No. 11, Vol. II, 18-22 (1947); sowie in Moore (Hrsg.), The Arab-Israeli Conflict (1977), S. 891-901. 76 Faksimile der Erklärung abgedruckt bei Moore (Hrsg.), The Arab-Israeli Conflict (1977), S. 885, und in der ZaöRV 3 (1933), Teil 2, S. 234 f. Dt. Übersetzung bei Weiss, Stellung Jerusalems (1954), S. 520. 77 Ausführlicher Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 276-283. 78 Zu den britischen Bemühungen um eine Konfliktlösung bis zu diesem Zeitpunkt siehe Le Morzellec, Jerusalem devant l’ONU (1979), S. 44-61. 79 United Nations Special Commission on Palestine (UNSCOP), eingerichtet durch A/RES/106 (S-1) vom 15.5.1947, abgedr. in Wengler/Tittel, Documents (1971), S. 10 f. 80 UNSCOP Report to the General Assembly, UN-Doc. A/364 (3.9.1947), abgedr. in G.A.O.R, 2nd Sess., Supplement No. 11, Vol. 11 (1947). 81 Ebenda, S. 47-58. 20 Treuhandrat damit, ein Statut für die Stadt Jerusalem zu erarbeiten. 82 Am 21. April 1948 legte der Treuhandrat seinen ersten Entwurf eines Statuts für die Stadt Jerusalem (Jerusalem-Statut) vor, der sich eng am Bericht der Sonderkommission orientierte.83 II. Das Mandat des Treuhandrates Art. 3 des Jerusalem-Statuts sah eine neutrale Verwaltung des zu entmilitarisierenden Gebietes durch die Vereinten Nationen vor, die durch den Treuhandrat wahrgenommen werden sollte. Dieser sollte einen Gouverneur ernennen, welcher als Vertreter des Treuhandrates die Verwaltung der Stadt leiten und ihm regelmäßig Bericht erstatten sollte. Zu seinen Aufgaben gehörten neben der Sicherung der öffentlichen Ordnung die Wahrnehmung der außenpolitischen Belange der Stadt und die Vorbereitung des Budgets. Er durfte ferner den gesetzgebenden Rat der Stadt („legislative council“) suspendieren oder auflösen und sodann selbst Legislativakte erlassen. Des Weiteren war er befugt, Legislativakte in Kraft zu setzen, wenn er sie für erforderlich hielt und der Rat ihre Verabschiedung verweigert hatte. In diesen Fällen – wie auch bei der Ausübung seiner Notstandsbefugnisse (Art. 14) – verpflichtete ihn das Jerusalem-Statut zur sofortigen Berichterstattung an den Treuhandrat. Diese Kopplung von Sonder- und Ausnahmebefugnissen des Gouverneurs mit einer Benachrichtigungspflicht an das Aufsichtsorgan – hier den Treuhandrat – findet sich auch im Triest-Statut, wenn auch in etwas schwächerer Form.84 Als gesetzgebendes Organ sah das Statut den aus vierzig Mitgliedern bestehenden Legislativrat vor. Je achtzehn Mitglieder waren aus dem jüdischen und aus dem arabischen Teil der Bevölkerung zu wählen, die übrigen vier waren für andere Abgedruckt in G.A.O.R., 2nd Sess. – Resolutions (UN-Doc. A/519 vom 8.1.1948), 131-150; ferner UNYB 1947/48, 247-256; und Moore (Hrsg.), The Arab-Israeli Conflict (1977), S. 907-933. Zur Debatte in der Generalversammlung siehe UNYB 1947-48, 245-247. 82 83 UN-Doc. T/118 Rev.2 vom 21.4.1948. Eine ausführliche Analyse des Statuts findet sich bei Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 285-297, und Le Morzellec, Jerusalem devant l’ONU (1979), S. 117-132. 84 Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 295. Zum Triest-Statut siehe oben 2.Kp. B.II. 21 Bewohner reserviert. Die vom Legislativrat erlassenen Rechtsakte sollten nur dann in Kraft treten, wenn ihnen der Gouverneur nicht innerhalb von dreißig Tagen widersprach. Auch in diesem Fall hatte er den Treuhandrat zu unterrichten (Art. 2023 Jerusalem-Statut). Auch eine unabhängige Justiz, bestehend aus Ober- und Untergerichten, sah der Statutsentwurf vor. Im Vergleich zum Triest-Statut fällt auf, dass die Rechtsstellung des Gouverneurs hier zu Lasten der Bevölkerung stärker ausgebaut wurde. Zwar war auch hier ein Regierungsrat („council of administration“) vorgesehen, doch sollte dieser weder durch den Legislativrat gewählt werden noch diesem gegenüber verantwortlich sein. Ferner wurde ihm lediglich beratende und unterstützende Funktion zugewiesen. Der Bevölkerung wurde so nur geringer Raum zur Regelung ihrer lokalen Angelegenheiten gegeben, was der erheblichen Verfeindung der beiden wesentlichen Bevölkerungsgruppen geschuldet war. Hier sollte eine UN-Verwaltung auf der Grundlage des Statuts einen neutralen Rahmen schaffen und so eine allmähliche Annäherung von Juden und Arabern ermöglichen.85 Ähnlich wie das Triest-Statut besaß auch das Jerusalem-Statut einen Grundrechtsteil, in dem insbesondere die Gleichheit aller Bewohner vor dem Gesetz und die Religionsfreiheit betont wurden. Aber auch die Freiheit der Person, die Prozessgrundrechte und das Eigentumsrecht wurden gewährt. Ferner sollte jeder Einwohner das Recht haben, eine Petition an den Treuhandrat zu richten. Des Weiteren enthielt das Statut eine umfangreiche Regelung hinsichtlich der in Jerusalem und Bethlehem gelegenen heiligen Stätten mit besonderen Vorrechten des Gouverneurs. III. Bewertung Dem Teilungsplan der Generalversammlung begegnete von Anfang an heftiger Widerstand seitens der arabischen Bevölkerung Palästinas und der sie unterstützenden arabischen Staaten.86 Auch Großbritannien verweigerte die 85 Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 295. 86 Ausführlicher Weiss, Stellung Jerusalems (1954), S. 537-539, und Le Morzellec, Jerusalem devant 22 Kooperation und erklärte seinen einseitigen Abzug aus dem Mandatsgebiet zum 15. Mai 1948.87 Am Tag davor riefen Vertreter der jüdischen Bevölkerung den Staat Israel aus. Kurz darauf brach der erste arabisch-israelische Krieg aus, der zur Besetzung der Altstadt von Jerusalem durch jordanische Truppen führte, während israelische Einheiten Teile der Neustadt kontrollierten.88 Keine der beiden Parteien hatte nunmehr Interesse an einer Internationalisierung der Stadt, und beide begannen, die von ihnen kontrollierten Teile in ihr jeweiliges Staatsgebiet zu integrieren.89 Zwar hielt die Generalversammlung zunächst an einer Neutralisierung und Internationalisierung Jerusalems fest90 und ließ den Entwurf des Statuts zweimal überarbeiten, um ihn für beide Parteien akzeptabler zu machen.91 Die fehlende Bereitschaft Jordaniens und Israels, das für die Internationale Stadt Jerusalem vorgesehene Gebiet unter die Kontrolle der Vereinten Nationen zu stellen, ließen das Projekt jedoch endgültig scheitern. Bis 1952 stand die Jerusalem-Frage noch auf der Tagesordnung der Generalversammlung, ohne dass jedoch die für die Verabschiedung einer Resolution erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit erreicht werden konnte. Das Projekt einer Internationalen Stadt Jerusalem ist trotz seines Scheiterns in zweierlei Hinsicht von Bedeutung für die vorliegende Untersuchung. Erstens enthielt der Statutsentwurf ähnlich wie im Falle Triests einen Grundrechtskatalog. Dieser liefert Hinweise darauf, an welche Grundsätze die Vereinten Nationen sich selbst bei der Ausübung territorialer Verwaltungshoheit gebunden fühlen. Dies gilt gerade auch für das Petitionsrecht der Bürger Jerusalems und die Verpflichtung des Gouverneurs, bei der Inanspruchnahme der ihm vom Statut eingeräumten Sonderrechte umgehend l’ONU (1979), S. 111-115. Kritisch auch Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 195-197 (Fn. 7); ihm folgend Brownlie, Principles (1998), S. 169 f. 87 Siehe den Bericht der UN-Palästina-Kommission (UNCP) an die Generalversammlung vom 10.4.1948, abgedr. G.A.O.R., 2nd extraordinary sess. (UN Doc. A/532); ferner Le Morzellec, Jerusalem devant l’ONU (1979), S. 108 f. 88 Weiss, Stellung Jerusalems (1954), S. 543-545; Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 299. 89 Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 301. 90 Siehe A/RES/194 (III) vom 11.12.1948 und A/RES/303 (IV) vom 9.12.1949. 91 UN-Doc. A/973 vom 12.9.1949 und T/592 vom 4.10.1950. Zu den Änderungen siehe Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 302 f. und 305 f. 23 den Treuhandrat zu unterrichten. Zweitens ist das Jerusalem-Projekt das bisher einzige – wenn auch nicht verwirklichte – Beispiel für eine Gebietsverwaltung durch den Treuhandrat. In allen anderen Fällen waren entweder der Sicherheitsrat oder (seltener) die Generalversammlung die ausführenden Organe.92 Zwar sollte Jerusalem nicht als echtes Treuhandgebiet im Sinne des Kapitels XII der Charta geführt werden, sondern als corpus separatum einen völkerrechtlichen Sonderstatus besitzen.93 Dennoch ist Jerusalem als Präzedenzfall für die Frage von Bedeutung, inwiefern der Treuhandrat zur Bewältigung sog. failed states reaktiviert werden kann.94 D. Die internationale Verwaltung Libyens (1949-51) Die internationale Verwaltung Libyens in den Jahren 1949 bis 1951 war der erste Fall, in dem die Vereinten Nationen außerhalb des Treuhandsystems der Kapitel XII und XIII der Charta eine wesentliche Rolle bei der Verwaltung eines Gebietes spielten. Interessanter Weise war es die Generalversammlung, nicht der Sicherheitsrat, die federführend tätig wurde.95 I. Historischer Hintergrund Der westlich von Ägypten und östlich von Tunesien gelegene Mittelmeeranrainerstaat Libyen besteht aus drei Teilen, dem dicht besiedelten Tripolitanien sowie den weniger bevölkerungsreichen Gebieten des Fezzan und der Cyrenaika. Tripolitanien und die Cyrenaika, die letzten nordafrikanischen Gebiete 92 Dass die Wahl auf den Treuhandrat fiel, mag daran gelegen haben, dass es sich bei Palästina zum Zeitpunkt der Planung des Projektes um ein Mandatsgebiet des Völkerbundes handelte. Solche Gebiete sollten gemäß Art. 77 Abs. 1 lit. a) SVN in das Treuhandsystem der Vereinten Nationen überführt werden. Teil III.A des Teilungsplans (A/RES/181 (II) vom 29.11.1947 – siehe oben Fn. 82), bestätigt in § 8 Abs. 3 A/RES/194 (III) vom 11.12.1948 und §. 1 A/RES/303 (IV) vom 9.12.1949. A.A. Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 310: „full-styled trusteeship (...) in accordance with Chapter XII“. 93 94 Dazu u.a. Delbrück, in: FS Rauschning (2001), S. 427-439, und unten 3.Kp. F. Einen neueren Beitrag zur Jerusalem-Frage liefert Shalakany, Leiden JIL 15 (2002), 431-444. 95 Zur Tätigkeit der UN in Libyen ausführlich UNYB 1948/49, 256-278; UNYB 1950, 345-362; 24 des Osmanischen Reiches, wurden 1911 von Italien erobert und im Friedensvertrag von Ouchy vom 18. Oktober 1912 offiziell an Italien abgetreten.96 Nach und nach wurde auch das Gebiet des Fezzan erobert und 1934 mit Tripolitanien und der Cyrenaika erstmals zu einer Verwaltungseinheit unter dem Namen Libyen zusammengefasst. Während des zweiten Weltkriegs von allierten Streitkräften erobert, wurde das Gebiet in einen französisch- (Fezzan) und einen englisch-verwalteten Teil (Cyrenaika und Tripolitanien) geteilt.97 Nach 1945 war der Verbleib des Gebietes zunächst umstritten. Im Friedensvertrag vom 10. Februar 1947 erklärte Italien den Verzicht auf alle seine Kolonien, darunter auch Libyen.98 Die vier Siegermächte verpflichteten sich ihrerseits, die Frage des künftigen Verbleibs der Generalversammlung der Vereinten Nationen vorzulegen, wenn sie sich nicht binnen Jahresfrist untereinander einigen könnten. Die Entscheidung der Generalversammlung sollte von allen als bindend anerkannt werden.99 Durch die Wahl der Generalversammlung anstatt des Sicherheitsrates wurde sichergestellt, dass keine der vier Siegermächte ihr Vetorecht nutzen konnte, um eine Einigung zu verhindern.100 Da es in der Tat bis 1948 aufgrund unterschiedlicher strategischer Interessen der Vertragsparteien101 nicht zu einer Einigung kam, wurde die Libyen-Frage auf die Tagesordnung der dritten Vollversammlung der Vereinten Nationen gesetzt.102 Ein UNYB 1951, 266-277. 96 Mattioli, Libyen, verheißenes Land, Die Zeit Nr. 21/2003. 97 Zur brit. Verwaltung dieser Gebiete seit 1941 siehe Cumming, Int’l. Affairs 29 (1953), 11 (13-21). 98 Art. 23 des Friedensvertrag mit Italien (10. Februar 1947), abgedruckt in UNYB 1948/49, 256. 99 Art. 23 i.V.m. § 3 Annex XI des Friedensvertrag mit Italien (10. Februar 1947), abgedruckt in UNYB 1948/49, 256. 100 Dennoch überrascht dieser Entschluss vor dem Hintergrund der Triest-Frage, deren Lösung die Siegermächte in Art. 21 Abs. 3 i.V.m. Anhängen VI und VII desselben Vertrages zur Aufgabe des Sicherheitsrates gemacht hatten. Dies lässt sich nur damit erklären, dass sie den ehemaligen italienischen Kolonien geringere Bedeutung beimaßen und deshalb eher bereit waren, für sie ungünstige Entscheidungen zu akzeptieren. 101 Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 68 m.w.N. 102 UNYB 1948/49, 256 f. 25 indischer Vorschlag, das Gebiet bis zu seiner Unabhängigkeit als Treuhandgebiet von den Vereinten Nationen selbst verwalten zu lassen (Art. 81 Satz 2 Var. 3 SVN), fand keine Mehrheit.103 Auch andere Vorschläge, die zumeist die Errichtung eines Treuhandgebietes für einen Zeitraum von fünf bis zehn Jahren vorsahen104, konnten sich nicht durchsetzen. Sie scheiterten insbesondere an Bedenken, Italien als Verwaltungsmacht für das Gebiet Tripolitaniens einzusetzen.105 So wurde die Entscheidung zunächst auf die vierte UN-Vollversammlung vertagt.106 Dort setzten sich jene Staaten durch, die eine schnelle Unabhängigkeit Libyens favorisierten, weshalb von einer formellen Unterstellung des Gebietes unter das UNTreuhandsystem abgesehen wurde.107 II. Das Mandat der Generalversammlung Resolution 289 A (IV) vom 19.11.1949108 sah vor, dass das aus dem Fezzan, der Cyrenaika und Tripolitanien bestehende Gebiet bis spätestens 1. Januar 1952 als Gesamtstaat Libyen unabhängig werden sollten. Durch § 4 der Resolution wurde das Amt eines UN-Kommissars für Libyen geschaffen109. Dieser sollte die Bevölkerung Libyens bei dem Entwurf einer Verfassung und der Einrichtung einer Regierung unterstützen. Dabei wurde er seinerseits von einem Rat („council“) unterstützt, der aus je einem Vertreter Ägyptens, Frankreichs, Italiens, Pakistans, Großbritanniens und der Vereinigten Staaten, sowie vier Vertretern der libyischen Bevölkerung bestand.110 Die Verantwortung für die eigentliche Verwaltung verblieb indes bis zur 103 UN Doc. A/C.1/448, abgedr. in UNYB 1948/49, 258. 104 UNYB 1948/49, 257 f. Hintergrund ist die unrühmliche italienische Kolonialherrschaft über das Gebiet in den Jahren 1911 bis 1943. Siehe dazu Mattioli, Libyen, verheißenes Land, Die Zeit Nr. 21/2003. 105 UNYB 1948/49, 262 f. 106 A/RES/287 (III) vom 18.5.1949, abgedruckt in UNYB 1948/49, 264. 107 UNYB 1948/49, 265. 108 A/RES/289 A (IV), abgedruckt in: UNYB 1948/49, 275-277. 109 Dieses Amt wurde am 21.11.1949 mit dem Niederländer Adrian Pelt besetzt (UNYB 1948/49, 277). 110 Art. 6 A/RES/289 A (IV). 26 Unabhängigkeit bei den bisherigen Besatzungsmächten Frankreich (Fezzan) und Großbritannien (Cyrenaika und Tripolitanien).111 Diesen wurde lediglich aufgetragen, ihre Mandatsgebiete auf die Unabhängigkeit vorzubereiten, der Generalversammlung jährlich zu berichten und untereinander und mit dem UNKommissar zusammenzuarbeiten.112 Der UN-Kommissar selbst besaß keinerlei administrative Befugnisse.113 Auch die Generalversammlung nahm lediglich die Berichte ihres Kommissars und der Verwaltungsmächte entgegen und gab Empfehlungen, wie die Ziele der Resolution 289 (IV) A zu erreichen seien.114 Diese wurden von Frankreich und Großbritannien in den von ihnen verwalteten Gebieten umgesetzt. Zu derartigen prinzipiell unverbindlichen Empfehlungen ist die Generalversammlung gemäß Art. 14 SVN befugt. Ihre bindende Wirkung beruhte allein auf den Verpflichtungen, die sich die Siegermächte im Friedensvertrag mit Italien selbst auferlegt hatten. Die Vereinten Nationen übten keinerlei legislative oder exekutive Befugnisse auf dem Gebiet Libyens aus. Diese verblieben vielmehr Kraft des Friedensvertrages bei den Siegermächten und wurden durch die Besatzungsmächte Frankreich und Großbritannien ausgeübt.115 Die Rolle der Generalversammlung war die eines Schiedsrichters in der Frage des weiteren Verbleibs der italienischen Kolonien und die eines Beobachters und Beraters auf dem Wege zur Unabhängigkeit Libyens. In dieser Hinsicht übernahm sie jene Aufgaben, die der Treuhandrat gemäß Kapitel XIII der Charta bei Treuhandgebieten wahrnimmt. III. Bewertung Mangels eigener Verwaltungshoheit der Generalversammlung handelt es sich bei der internationalen Verwaltung Libyens nicht um eine UN-Verwaltung der hier 111 Art. 10 lit. b) A/RES/289 A (IV). 112 Art. 10 A/RES/289 A (IV). 113 Dies stellte er in einer Sitzung des ad hoc-Komitees für politische Fragen der Generalversammlung selbst fest (siehe UNYB 1951, 272). 114 So in A/RES/387 (V) vom 17.11.1950, abgedruckt in UNYB 1950, 354. 115 Ydit, Internationalised Territories (1961), S. 69. 27 untersuchten Art,116 sondern eher um eine auf der Grundlage des Art. 14 SVN ad hoc geschaffene Variante eines Treuhandgebietes. Sie ist damit auch kein unmittelbarer Vorläufer der UN-Gebietsverwaltungen der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, sondern blieb ein durch seine tatsächlichen und politischen Umstände bedingter Einzelfall. Das Beispiel Libyens zeigt jedoch, dass die Generalversammlung von den Mitgliedstaaten nicht von vornherein für ungeeignet gehalten wurde, an der Verwaltung eines Gebietes mitzuwirken. Sie weist auch auf die Flexibilität der Mittel hin, mit denen die Vereinten Nationen seit ihrer Gründung die ihnen angetragenen Aufgaben ausführten. Die internationale Verwaltung endete mit der Erklärung eines unabhängigen Vereinigten Königreiches von Libyen durch König Senussi am 24. Dezember 1951.117 E. Die Opération des Nations Unies au Congo (1960-1964) Die wohl bedeutenste und politisch folgenreichste UN-Friedensmission mit Elementen einer Gebietsverwaltung war die Mission der Vereinten Nationen im Kongo, bekannt unter ihrer französischen Abkürzung ONUC. Sie kostete über 200 Blauhelmsoldaten und UN-Mitarbeiter, darunter den damaligen UN-Generalsekretär Dag Hammarskjøld, das Leben und stürzte die Organisation in eine schwere finanzielle Krise.118 Rechtlich konnte sie sich zunächst auf die Zustimmung der kongolesischen Regierung stützen, enthielt aber zunehmend Elemente einer Zwangsmaßnahme. Auslöser war die kurzfristig herbeigeführte Unabhängigkeit des Kongo am 30. Juni 1960, die zu Unruhen innerhalb des Vielvölkerstaates und zum Abzug der meisten belgischen Staatsangehörigen führte. Diese hatten in der früheren belgischen Kolonie alle relevanten Positionen in Verwaltung und Armee besetzt, ohne die Bevölkerung 116 Siehe oben 1.Kp. I. 117 UNYB 1951, 266. 118 Umfassend zu ONUC beispielsweise Franck/Carey/Tondel, UN Action in the Congo (1963); Urquhart, Hammarskjøld (1972), S. 389-589; Abi-Saab, Congo (1978); ferner Franke, UN Operation im Kongo (1978); Higgins, UN Peacekeeping (III) – Africa (1980); Schaefer, Funktionsfähigkeit (1981), S. 150-196; und Luard, History of the UN II (1989), S. 217-316. Zu den rechtlichen Aspekten siehe auch Miller, AJIL 55 (1961), 1-28. 28 in irgendeiner Weise auf die Übernahme dieser Aufgaben vorzubereiten.119 In der Folge brach das Staatswesen weitgehend zusammen, Belgien verstärkte aus nicht gänzlich uneigennützigen Motiven seine Truppen in dem Gebiet, und die rohstoffreiche Provinz Katanga erklärte ihre Unabhängigkeit.120 Der Sicherheitsrat ermächtigte daraufhin den Generalsekretär, der kongolesischen Regierung militärische und technische Hilfe zu leisten, ohne dieses Mandat zu präzisieren oder eine bestimmte Rechtsgrundlage zu nennen.121 Von Anfang an saß die ONUC zwischen allen Stühlen. Die mehrfach wechselnde kongolesische Regierung sah die UN-Mission zunächst als Hilfstruppe bei der Durchsetzung ihrer jeweiligen innenpolitischen Ziele an. Sie begann daher, ihre Zustimmung zu Maßnahmen der Mission zu verweigern, die diesen Zielen nicht entsprachen.122 Auf der internationalen Ebene führten der zeitgleich in der KubaKrise eskalierende Kalte Krieg und der Dekolonialisierungsprozess zu völlig widerstreitenden Positionen.123 In der Folge weigerten sich sowohl die UdSSR als auch Frankreich, ihren Anteil der Kosten der ONUC zu tragen, so dass die Vereinten Nationen in die bis dato schwerste finanzielle Krise ihrer Geschichte stürzten.124 Sein unklares Mandat legte der Generalsekretär im Gegenzug zunehmend weiter aus und nahm wenig Rücksicht auf die Zustimmung der kongolesischen Regierung.125 ONUC 119 Urquhart, Hammarskjøld (1972), S. 390; Abi-Saab, Congo (1978), S. 6. Zur Geschichte des Kongo bis zur Unabhängigkeit siehe Franck/Carey/Tondel, UN Action in the Congo (1963), S. 1-11. 120 Franck/Carey/Tondel, UN Action in the Congo (1963), S. 11-14; Urquhart, Hammarskjøld (1972), S. 395; Durch, Congo (1993), S. 317 f. 121 S/RES/143 (1960) vom 14. Juli 1960 (UN-Doc. S/4387, abgedr. in Higgins, UN Peacekeeping (III) – Africa (1980), S. 15). Ausf. zur Rechtsgrundlage Miller, AJIL 55 (1961), 1 (2-9), der sich hinsichtlich der Anfangszeit der ONUC für Art. 40 SVN ausspricht. In § 134 seines Abschlussberichts S/5784 vom 29.6.1964 spricht der UN-Generalsekretär insoweit von einer kurzfristigen Improvisation (ebenso Miller, ebenda, 1: „an emergency action“). 122 Siehe § 12 des 2. Berichts des Sondergesandten Dayal an den UN-Generalsekretär vom 2.11.1960 (UN-Doc. S/4557, part A), abgedr. bei Higgins, UN Peacekeeping (III) – Africa (1980), S. 310; ferner § 138 des Abschlussberichts S/5784 des Generalsekretärs vom 29.6.1964. 123 Franck, Nation against Nation (1985), S. 175 f.; Durch, Congo (1993), S. 320-326. Zu den Kosten der ONUC siehe Higgins, UN Peacekeeping (III) – Africa (1980), S. 274-303; und Durch, Congo (1993), S. 329-332. 124 125 Ratner, New UN Peacekeeping (1995), S. 107. Allgemein zur Auslegung der auf ONUC bezogenen Sicherheitsratsresolutionen durch Generalsekretär Hammarskjøld siehe Franck/Carey/Tondel, UN Action in the Congo (1963), S. 77-82; Abi-Saab, Congo (1978), S. 48-53. 29 wandelte sich so zumindest in tatsächlicher Hinsicht von einer konsensgestützten Friedensmaßnahme hin zu einer friedensschaffenden Zwangsmaßnahme.126 Dem folgte der Sicherheitsrat, indem er ONUC erstmals zur Anwendung von Gewalt als letztes Mittel autorisierte.127 Die zivile Komponente – technische Hilfe zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung nach dem Wortlaut der Sicherheitsratsresolution128 – sollte der kongolesischen Regierung beim Wiederaufbau eines funktionierenden Staatswesens nach dem Abzug allen belgischen Personals helfen.129 Anders als ursprünglich geplant, berieten UN-Mitarbeiter nicht nur kongolesische Beamte in allen Bereichen oder bildeten sie aus, sondern übernahmen wesentliche Aufgaben mangels geeigneten lokalen Personals selbst.130 Dabei wurde auch auf die personellen Ressourcen der UN-Sonderorganisationen zurückgegriffen.131 So gelang es dem Generalsekretariat relativ zügig, einen Verwaltungsapparat aufzubauen, dem zeitweise bis zu 2.000 Mitarbeiter aus 48 Staaten angehörten.132 Mithin lassen sich bei ONUC viele charakteristische Merkmale späterer UNGebietsverwaltungen finden: der Einsatz in einem failed state, ein robustes Mandat, welches auch die Anwendung von Gewalt einschloss, umfangreiche Aufgaben im Bereich des nation-building und Personal, welches sich aus einer Vielzahl von UNInstitutionen und Mitgliedstaaten rekrutierte. Dass die ONUC dennoch nur bedingt 126 Ratner, New UN Peacekeeping (1995), S. 104; Chesterman, You, The People (2004), S. 104. S/RES/161 (1961) vom 21.2.1961 (UN-Doc. S/4741, abgedr. in Higgins, UN Peacekeeping (III) – Africa (1980), S. 30). 127 128 § 2 S/RES/143 (1960). 129 Zur Arbeit der zivilen Komponente siehe §§ 78-109 des Abschlussberichts S/5784 des Generalsekretärs vom 29.6.1964, ferner Franck/Carey/Tondel, UN Action in the Congo (1963), S. 4347. Weitere Nachweise bei Ratner, New UN Peacekeeping (1995), S. 274 Endnote 66. 130 Franck/Carey/Tondel, UN Action in the Congo (1963), S. 44-46; Bardehle, Zivile Komponente des VN-Peace-keeping (1993), S. 196 f.; Ratner, New UN Peacekeeping (1995), S. 106; Chesterman, You, The People (2004), S. 113. 131 Franck/Carey/Tondel, UN Action in the Congo (1963), S. 45. Grundlage war Art. 4 S/RES/145 (1960) vom 22.7.1960 (UN-Doc. S/4405, abgedr. bei Higgins, UN Peacekeeping (III) – Africa (1980), S. 17). 132 Bardehle, Zivile Komponente des VN-Peace-keeping (1993), S. 196. 30 als Vorbild taugt, ist vor allem darauf zurückzuführen, dass sie nicht als eine Verwaltungsmission geplant war. Vielmehr sollte sie lediglich eine Waffenruhe erhalten, nicht aber eine politische Lösung herbeiführen oder gar ein Staatswesen wiederaufbauen.133 Ihre tatsächlich wahrgenommenen Aufgaben sind daher weit mehr den Verhältnissen vor Ort geschuldet als ihrem bewusst unklar formulierten Mandat. 134 Als es den UN-Truppen schließlich Ende 1963 in einer Reihe von Kämpfen gelang, die von ausländischen Söldnern unterstützten Sezessionisten in der Provinz Katanga niederzuschlagen135, konnte die Mission zur großen Erleichterung der Staatengemeinschaft verkleinert und im Juni 1964 offiziell beendet werden. ONUC war es zwar gelungen, das Land zusammenzuhalten und den Ausbruch eines Bürgerkrieges vorerst zu verhindern. Aufgrund der hohen Opferzahlen, der Kosten und der Uneinigkeit im Sicherheitsrat war die Mission jedoch zu einer Art Trauma geworden und führte dazu, dass sich die Vereinten Nationen in den folgenden 25 Jahren ausschließlich auf konsensgestützte, klar definierte Blauhelm-Einsätze beschränken sollten.136 F. Die United Nations Temporary Executive Authority in WestNeuguinea (1962-1963) Noch während ONUC andauerte, übernahmen die Vereinten Nationen vom 1. Oktober 1962 bis zum 1. Mai 1963 die Verwaltung West-Neugineas137 und richteten zu diesem Zweck die United Nations Temporary Executive Authority (UNTEA) ein.138 Sie ist nicht nur deshalb von Interesse, weil sie die erste UN- 133 Kritisch Franke, UN Operation im Kongo (1978), S. 114 („untaugliches Konzept“). 134 Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 34 f. Zur Formulierung des Mandats Franck, Nation against Nation (1985), S. 175. 135 Siehe dazu Abi-Saab, Congo (1978), S. 185-191. 136 Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 35; Chesterman, You, The People (2004), S. 104 f. 137 Andere Bezeichnung: West-Papua, West-Irian, Irian Barat bzw. Irian Jaya. Letzteres ist die heute übliche Bezeichnung. In ihrem Abkommen über die Zukunft des Gebietes vom 15. August 1962 verwendeten die Niederlande und Indonesien die Bezeichnung West-Neuguinea („West New Guinea“), die auch im Folgenden gebraucht werden soll. 138 Ausführlich zu allen Aspekten dieser Mission, den beteiligten Personen, den Kosten und ihrem 31 Verwaltungsmission war, bei der die Vereinten Nationen vollumfänglich und alleine mit der Verwaltung eines Gebietes betraut waren und so für eine Übergangszeit die Regierung eines Gebietes stellten.139 In dieser Hinsicht ist sie Vorläufer der heutigen UN-Verwaltungen im Kosovo und in Osttimor. Sie ist aber auch das bisher einzige Beispiel dafür, dass die Generalversammlung, nicht der Sicherheitsrat, eine solche Verantwortung übernommen hat. Eingerichtet wurde sie aufgrund von Vereinbarungen mit den betroffenen Staaten, es handelte sich mithin um eine konsensgestütze Verwaltungsmission. I. Historischer Hintergrund Gegenstand der UNTEA-Tätigkeit war das Territorium der niederländischen Kolonie Neuguinea.140 Diese befand sich auf der westlichen Hälfte der nördlich von Australien gelegenen Insel Neuguinea. Das Gebiet wurde von der Republik Indonesien beansprucht, welche sich – bis 1949 selbst eine niederländische Kolonie – als Rechtsnachfolgerin der Niederlande auf dem gesamten Gebiet NiederländischOstindiens begriff.141 Infolge des ungeklärten Status West-Neuguineas kam es in den späten fünfziger Jahren zu erheblichen Spannungen zwischen beiden Staaten, die in der Infiltration indonesischer Fallschirmjäger und bewaffneten Zusammenstößen der Seestreitkräfte im Jahre 1962 gipfelten.142 Vor dem Hintergrund der durch Resolution 1514 (XV) angestoßenen Dekolonialisierungsbemühungen der Vereinten Nationen gerieten die Niederlande auch unter zunehmenden internationalen Druck, Erfolg Higgins, UN Peacekeeping (II) – Asia (1970), S. 91-149. Etwas kürzer Dicke-Rengeling, Sicherung des Weltfriedens (1975), S. 149-162; Luard, History of the UN II (1989), S. 327-347; und UN, The Blue Helmets (1996), S. 641-648. 139 Monconduit, AFDI 8 (1962), 491 (509); Bowett, UN Forces (1964), S. 257. Stahn, ZaöRV 61 (2001), 107 (124), nennt sie das erste Beispiel für eine Friedensoperation der zweiten Generation. Ramsbotham/Woodhouse, Peacekeeping Operations (1999), S. 93, zählen sie dagegen – wohl aus zeitlichen Gesichtspunkten – zur ersten Generation von Friedensoperationen. 140 Ein nicht-selbstregiertes Gebiet i.S.d. Kapitels XI der Charta. Siehe dazu Higgins, UN Peacekeeping (II) – Asia (1970), S. 95. 141 Ausführlich zu den rechtlichen und tatsächlichen Hintergründen dieses Streitfalles Leyser, AVR 10 (1962/63), 257 (258-266). 142 Higgins, UN Peacekeeping (II) – Asia (1970), S. 99 f.; UN, The Blue Helmets (1996), S. 641 f. 32 ihre Hoheitsrechte über West-Neuguinea aufzugeben.143 Gleichzeitig machte Indonesien deutlich, dass es nicht bereit war, auf das Gebiet zu verzichten, und drohte unverhohlen mit der Anwendung militärischer Gewalt.144 In der Folge kam es zu weiteren Angriffen indonesischer Fallschirmjäger und Marineeinheiten auf dem Territorium West-Neuguineas.145 Vor diesem Hintergrund kam es unter Vermittlung des Sondergesandten des Generalsekretärs, des US-Botschafters bei den Vereinten Nationen Ellsworth Bunker, zum Abschluss eines Übereinkommens zwischen den Niederlanden und Indonesien,146 das eine kurze Übergangsverwaltung durch die Vereinten Nationen vorsah, bevor die Verwaltungshoheit an Indonesien übergehen sollte. Indonesien verpflichtete sich im Gegenzug, bis Ende 1969 einen „Akt der Selbstbestimmung“ durchzuführen,147 mit dem die Bevölkerung West-Neuguineas über eine Zugehörigkeit des Gebietes zu Indonesien befinden sollte. Bei seiner Durchführung sollten die Vereinten Nationen allerdings nur beratende Funktion haben.148 Entsprechend ihres Übereinkommens brachten die Parteien in der Generalversammlung einen Resolutionsentwurf ein, der als Resolution 1752 (XVII) am 21.9. 1961 mit 89 - 0 -14 Stimmen angenommen wurde.149 In ihr nahm die Generalversammlung das West-Neuguinea-Abkommen wohlwollend zur Kenntnis und ermächtigte den Generalsekretär, entsprechend dem Abkommen tätig zu 143 Luard, History of the UN II (1989), S. 336 f.; Ramsbotham/Woodhouse, Peacekeeping Operations (1999), S. 116. Zur Diskussion des Problems West-Neuguineas in der Generalversammlung in den Jahren 1954-57 siehe Indonesian Ministry of Foreign Affairs, The Question of West Irian (1958). 144 Higgins, UN Peacekeeping (II) – Asia (1970), S. 98. 145 Luard, History of the UN II (1989), S. 337 f. 146 Übereinkommen zwischen dem Königreich der Niederlande und der Republik Indonesien betreffend West-Neuguinea vom 15. August 1962 (im Folgenden: West-Neuguinea-Abkommen), abgedr. in U.N.T.S. 437, 273-291 (No. 6311); Higgins, UN Peacekeeping (II) – Asia (1970), S. 101106; und AVR 10 (1962/63), 350-355. Eine deutsche Übersetzung findet sich in EA 17 (1962), D445D450. Ausführlich zu diesem Abkommen auch Monconduit, AFDI 8 (1962), 491-516. Art. XX des West-Neuguinea-Abkommens spricht von einem „act of self-determination“. Teilweise wird auch von von „arrangements (...) for freedom of choice“ (Art. XVIII, Art. XIX) gesprochen. 147 148 Siehe Art. XVI des West-Neuguinea-Abkommens. 149 A/RES/1752 (XVII) vom 21.9.1962, mit Abstimmungsnachweisen abgedruckt bei Higgins, UN Peacekeeping (II) – Asia (1970), S. 110 f. 33 werden.150 II. Das Mandat der UNTEA UNTEA begann ihre Arbeit am 1. Oktober 1962.151 Zu ihrem Mandat gehörte die Überwachung des Waffenstillstands und des niederländischen Truppenabzugs,152 die Ablösung der niederländischen Verwaltung und die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit. Zum Zwecke des Letzteren besaß UNTEA eine 1.500 Mann starke militärische Komponente, die United Nations Security Force (UNSF), die hauptsächlich aus pakistanischen Soldaten bestand.153 Für die Zeit der UNVerwaltung besaß der Übergangsverwalter die volle Exekutivgewalt über das Gebiet154 und war auch berechtigt, legislativ tätig zu werden, soweit dies zur Erfüllung seines Mandats erforderlich war155. Zur Verwaltung des Gebietes gehörte auch die Organisation der Justiz. Wesentlicher Zweck der UNTEA war es, als ein Puffer zwischen der niederländischen und der indonesischen Verwaltung des Gebietes zu wirken. Dies bedeutete vor allem, das durch den Abzug niederländischer Beamter entstandene Vakuum zu füllen.156 Für die Übergangszeit sollten die höchsten Posten von der UN besetzt werden, zur Besetzung der übrigen sollte zunächst auf qualifizierte Einwohner, hilfsweise auf indonesisches Personal zurückgegriffen werden.157 150 Für eine ausführlichere Besprechung der rechtlichen Aspekte der UNTEA siehe unten 3.Kp. E.III. 151 UN, The Blue Helmets (1996), S. 644. 152 Basierend auf einem niederländisch-indonesischen Memorandum zu o.g. Abkommen vom 15. August 1962 (UN-Doc. A/5170, add.I, annex A, abgedr.in Higgins, UN Peacekeeping (II) – Asia (1970), S. 111-113). Bowett, UN Forces (1964), S. 259; Higgins, UN Peacekeeping (II) – Asia (1970), S. 116-118; Ramsbotham/Woodhouse, Peacekeeping Operations (1999), S. 116. 153 Art. V des West-Neuguinea-Abkommens lautet: „The United Nations Administrator, as chief executive officer of the UNTEA, will have full authority under the direction of the Secretary-General to administer the territory fort the period of the UNTEA administration in accordance with the terms of the present agreement.“ 154 155 Art. XI des West-Neuguinea-Abkommens. 156 UN, The Blue Helmets (1996), S. 644. 157 Art. IX des West-Neuguinea-Abkommens. 34 Die UN besaß kein Mandat zur Reform des Gebietes oder zur Förderung seiner Entwicklung. Auch die Wahrung des Selbstbestimmungsrechts gehörte nicht zu den Aufgaben der UNTEA. Der Akt der Selbstbestimmung sollte erst in einer späteren Phase (bis 1969) und allein in der Zuständigkeit Indonesiens erfolgen. Die UN besaß diesbezüglich nur eine beratende Funktion.158 Politisch gesehen war UNTEAs Aufgabe, eine bewaffnete Auseinandersetzung zwischen den Niederlanden und Indonesien zu verhindern159 und als neutraler Dritter eine gesichtswahrende Übertragung der Souveränität über das Gebiet ermöglichen. III. Bewertung Vor diesem Hintergrund war UNTEA ein Erfolg.160 Die Verwaltungshoheit wurde ohne größere Reibereien von den Niederlanden über die UN-Verwaltung auf Indonesien übertragen.161 Anfängliche Schwierigkeiten bei der Rekrutierung qualifizierten örtlichen Personals wurden insbesondere im Bereich der Justiz durch Rückgriff auf indonesische Fachkräfte behoben.162 Gleiches geschah hinsichtlich der Aufstellung von Sicherheitskräften, so dass die Verwaltung West-Neuguineas bereits zur Zeiten der UNTEA indonesisch dominiert war.163 Allein der Wahrung des vielbeschworenen Selbstbestimmungsrechts war die UNVerwaltung des Gebietes wenig dienlich.164 Nach der Übernahme der Gebietsverwaltung im Mai 1963 unterdrückte Indonesien nationalistische oder antiindonesische Bestrebungen in der Bevölkerung West-Neuguineas.165 Der „Akt der 158 Siehe Art. XVI des West-Neuguinea-Abkommens. 159 Korhonen, Leiden JIL 14 (2001), 495 (512). 160 Korhonen, Leiden JIL 14 (2001), 495 (512). 161 Zur Tätigkeit der UNTEA ausführlicher UN, The Blue Helmets (1996), S. 645-648. 162 Siehe den Jahresbericht des Generalsekretärs 1962-63, abgedr. in G.A.O.R., 18th sess., suppl. 1 (UN-Doc. A/5501), 37; in Auszügen abgedruckt bei Higgins, UN Peacekeeping (II) – Asia (1970), S. 142 – 148 (142 f.) 163 Luard, History of the UN II (1989), S. 341 f. 164 Ramsbotham/Woodhouse, Peacekeeping Operations (1999), S. 117. 165 Higgins, UN Peacekeeping (II) – Asia (1970), S. 142; von Mangoldt, ZaöRV 31 (1971), 197 (202 f.). 35 Selbstbestimmung“ fand lediglich in Form einer Befragung der offiziell anerkannten lokalen Vertreter der Bevölkerung statt.166 Diese insgesamt 1.026 Personen sprachen sich im Sommer 1969 zu hundert Prozent für die Zugehörigkeit zu Indonesien aus.167 Dennoch erkannte der Generalsekretär das Ergebnis als nach indonesischen Gepflogenheiten erfolgte freie Entscheidung an.168 Die geringe Beachtung des Selbstbestimmungsrechts war aber bereits im West-Neuguinea-Abkommen angelegt und war dessen wesentlichster Kritikpunkt.169 Als Verwaltung eines Krisengebietes durch die Generalversammlung war UNTEA ein Erfolg und ein Beweis für die Leistungsfähigkeit der Vereinten Nationen. 170 Sie zeigte, dass auch eine Gebietsverwaltung unter der Ägide der Generalversammlung praktikabel war und ist. Dass UNTEA dennoch kein Ruhmesblatt in der Geschichte der Vereinten Nationen ist, liegt an der geringen Achtung des Selbstbestimmungsrechts der Einwohner.171 Die Generalversammlung agierte hier wenig prinzipientreu als ein Feigenblatt für eine sehr realpolitisch motivierte Übergabe des Gebietes an Indonesien.172 166 UN, The Blue Helmets (1996), S. 648; Ramsbotham/Woodhouse, Peacekeeping Operations (1999), S. 117. Ausführlicher zu diesem „Akt der Selbstbestimmung“ und der Rolle der UN dabei Morand, AFDI 17 (1971), 513-540, und von Mangoldt, ZaöRV 31 (1971), 197-245. 167 UN, The Blue Helmets (1996), S. 648. „[A]n act of free choice has taken place in West Irian in accordance with Indonesian practice (…)”, UN-Doc. A/7723, Annex I (zitiert nach UN, The Blue Helmets (1996), S. 648). In der älteren Literatur stieß diese Vorgehensweise teilweise noch auf Verständnis, da sich bei den Einwohnern um „ein Volk auf dem Kulturniveau der Steinzeit“ handle (Dicke-Rengeling, Sicherung des Weltfriedens (1975), S. 151 u. 157), dass teilweise sogar noch dem Kannibalismus nachginge (Morand, AFDI 17 (1971), 513 (513). Die offizielle indonesische Sicht der Dinge ist nachzulesen in Permanent Mission of Indonesia to the UN, Questioning the Unquestionable (2003). 168 169 Siehe die Erklärung des Vertreters von Dahomey zu A/RES/1752 (XVII), abgedr. in G.A.O.R., 17th sess., 1127. plen. mtg., 56 f.; und in Higgins, UN Peacekeeping (II) – Asia (1970), S. 114 f. Zu kritischen Stimmen in der Generalversammlung siehe ferner von Mangoldt, ZaöRV 31 (1971), 197 (204); und Luard, History of the UN II (1989), S. 340. 170 Bowett, UN Forces (1964), S. 261; Stahn, ZaöRV 61 (2001), 107 (124). 171 Korhonen, Leiden JIL 14 (2001), 495 (513). 172 Luard, History of the UN II (1989), S. 346 f. 36 G. Die United Nations Transition Group in Namibia (1989-1990) Nach einer auch durch die Erfahrungen mit ONUC und UNTEA bedingten 25jährigen Pause war der Einsatz der United Nations Transition Group (UNTAG) in Namibia die erste UN-Mission neuerer Zeit, welche über den klassischen Einsatz von Blauhelmen wesentlich hinausging.173 Als solche war sie ein Meilenstein hin zur Entwicklung der umfangreicheren Gebietsverwaltungen der Gegenwart und wird als erstes Beispiel für eine Friedensoperation der sog. zweiten Generation bezeichnet.174 Wie die früheren Missionen konnte sie sich auf die Zustimmung der betroffenen Staaten und Parteien stützen.175 I. Historischer Hintergrund Namibia war als ehemalige deutsche Kolonie nach dem ersten Weltkrieg südafrikanisches Mandatsgebiet geworden. Nach dem Zweiten Weltkrieg weigerte sich Südafrika, das Gebiet dem Treuhandsystem der Vereinten Nationen zu unterstellen. Aufgrund der zunehmend zu Tage tretenden Annexionsbestrebungen Südafrikas und der Ausdehnung seiner Apartheidspolitik auch auf Namibia entzog ihm die Generalversammlung 1966 das Mandat zur Verwaltung des Gebietes.176 Südafrika verweigerte jedoch den Abzug, so dass sich der Konflikt mit den Vereinten Nationen um Namibia fortsetzte. Auf Initiative der sog. Namibia-Kontaktgruppe177 verabschiedete der Sicherheitsrat 1978 die Resolution 435.178 Diese enthielt einen nach Verhandlungen mit Südafrika und der Unabhängigkeitsbewegung SWAPO 173 Ratner, New UN Peacekeeping (1995), S. 123. Ausführlich zur Arbeit der UNTAG in Namibia Kamto, Namibie, RGDIP 94 (1990), 577-634; Melber, Modell mit Schönheitsfehlern, VN 38 (1990), 89-94; Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 42-85; Harbour, UNTAG (1998). 174 Han, NYU-J.I.L.P. 26 (1994), 837 (843); Harbour, UNTAG (1998), S. 1. Ausführlich zu den Merkmalen des sog. second generation peacekeeping Ratner, New UN Peacekeeping (1995), S. 21-24, und Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 209-221. 175 Ausführlich zur rechtlichen Grundlage der UNTAG Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 48-56. 176 A/RES/2145 (XXI) vom 27.10.1966. 177 Brief vom 10.4.1978 der Vertreter der Bundesrepublik Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens, Kanadas und der Vereinigten Staaten an den Präsidenten des Sicherheitsrates (UNDoc. 12636, abgedr. in S.C.O.R., 33rd year, suppl. f. April-June 1978, 17-21). 178 S/RES/435 (1978) vom 29.9.1978. 37 ausgearbeiten Plan für die Unabhängigkeit Namibias. Seine Umsetzung scheiterte jedoch zunächst am Widerstand Südafrikas. Erst 1988 konnten sich die Parteien auf eine Durchführung des Planes einigen.179 In seiner Resolution 632 (1989) bestätigte der Sicherheitsrat Resolution 435 (1978) und ermächtigte den Generalsekretär, sie entsprechend dem von ihm ausgearbeiteten Plan umzusetzen.180 Am 1. April 1989 nahm UNTAG seine Arbeit in Namibia auf.181 II. Das Mandat der UNTAG Gemäß der Resolution 435 (1978) besaß UNTAG drei Aufgaben: die Überwachung des Waffenstillstandes zwischen südafrikanischen Truppen und Einheiten der SWAPO, die Überwachung der südafrikanischen Polizei und die Sicherstellung eines freien und fairen Verlaufs der Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung Namibias.182 Zu keinem Zeitpunkt sollte UNTAG dabei Hoheitsgewalt ausüben. Vielmehr blieb Südafrika, vertreten durch seinen Generalgouverneur, für die Verwaltung des gesamten Gebietes und die Organisation der Wahlen verantwortlich.183 UNTAG sollte lediglich die südafrikanischen Stellen bei ihrer Arbeit beobachten, mithin sog. monitoring betreiben. Zu diesem Zweck bestand UNTAG aus einer militärischen Komponente von maximal 4.650 Soldaten und einer zivilen Komponente bestehend aus 1.500 Polizisten (CIVPOL) und etwa 900 weiteren Mitarbeitern.184 Durch enge Begleitung und Beobachtung der südafrikanischen Polizei und Verwaltung erkannte UNTAG Missstände und konnte zumeist erfolgreich beim Generalgouverneur auf Abhilfe dringen.185 Auf diese Weise 179 Zu den politischen Hintergründen siehe Fortna, in: Durch (Hrsg.), UN Peacekeeping (1993), S. 353-359. 180 Art. 2 S/RES/632 (1989) vom 16.2.1989. Zur Planung siehe den Bericht des Generalsekretärs vom 23.1.1989 (UN-Doc. S/20412). 181 UN, The Blue Helmets (1996), S. 216; Kamto, Namibie, RGDIP 94 (1990), 577 (617). 182 Zusammenfassung bei Fortna, in: Durch (Hrsg.), UN Peacekeeping (1993), S. 360; ausführlicher Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 57-73. 183 Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 65 u. 73. 184 UN, The Blue Helmets (1996), S. 209-214; Fortna, in: Durch (Hrsg.), UN Peacekeeping (1993), S. 364 f.; Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 78-81 (m.w.N). 185 Fortna, in: Durch (Hrsg.), UN Peacekeeping (1993), 370; Ratner, New UN Peacekeeping (1995), S. 38 wurde nicht nur ein freier und weitgehend fairer Verlauf186 der Wahlen, sondern auch die friedliche Rückführung von ca. 58.000 Flüchtlingen und die geordnete Übergabe der Staatsgewalt an die neu geschaffenen namibischen Institutionen sichergestellt. Nach Verabschiedung seiner unter Mitarbeit der UNTAG ausgearbeiteten Verfassung erklärte Namibia am 21. März 1990 seine Unabhängigkeit und wurde als 160. Staat Mitglied der Vereinten Nationen.187 III. Bewertung Dass UNTAG ihrem Mandat voll und ganz gerecht wurde, liegt nicht nur an seinem klar begrenzten Umfang, sondern auch an den überaus günstigen Rahmenbedingungen.188 So wurde UNTAG von allen Mitgliedern der Vereinten Nationen unterstützt, und auch die Parteien befürworteten ihre Arbeit im Grundsatz, auch wenn sie sich in concreto nicht immer kooperativ verhielten.189 1989/90 war sie die einzige größere Mission der UNO, so dass ihr die Aufmerksamkeit und Ressourcen der Organisation und ihrer Mitgliedstaaten ungeschmälert zugute kamen.190 Vor allem aber war die UN aufgrund ihres langjährigen Engagement in der Namibia-Frage und der langen Vorlaufzeit der Mission mit den Verhältnissen und Befindlichkeiten vor Ort bestens vertraut, was ihre politische Arbeit wesentlich erleichterte.191 Als eine Mission mit einer großen zivilen Komponente und einem primär zivilen, innerstaatlichen Aufgabenkreis erscheint UNTAG als ein frühes Beispiel für eine 120 f. 186 Zu Versuchen Südafrikas, auf das Wahlergebnis Einfluss zu nehmen, siehe Fortna, in: Durch (Hrsg.), UN Peacekeeping (1993), S. 370 f. Einzelheiten des Wahlergebnisses bei Kamto, Namibie, RGDIP 94 (1990), 577 (627). 187 Zur Verfassung Namibia siehe Tomuschat, VN 38 (1990), 95-100. 188 Han, NYU-J.I.L.P. 26 (1994), 837 (845); Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 81 f. 189 Ratner, New UN Peacekeeping (1995). S. 121 f. 190 Ratner, New UN Peacekeeping (1995). S. 123. 191 Fortna, in: Durch (Hrsg.), UN Peacekeeping (1993), S. 363 f. 39 UN-Verwaltungsmission.192 Von diesen unterscheidet sie sich jedoch insofern wesentlich, dass sie selbst keinerlei exekutivische Befugnisse in Namibia besaß. Aufgrund ihres Erfolges war UNTAG indes entscheidend für die Bereitschaft der Vereinten Nationen, in späteren Fällen größere Verantwortung bei der Verwaltung von Krisengebieten zu übernehmen. Auch ist anzunehmen, dass die im Falle der UNTAG gesammelten Erfahrungen es dem Generalsekretariat zumindest wesentlich erleichterten, zu einem späteren Zeitpunkt umfangreichere Verwaltungsmissionen zu realisieren. H. Die United Nations Transitional Authority in Kambodscha (1992-1993) Kaum zwei Jahre später übernahmen die Vereinten Nationen eine bereits sehr viel umfangreichere Rolle in dem zwischen Thailand und Vietnam gelegenen Kambodscha.193 Im Gegensatz zu Namibia handelte es sich hierbei nicht um einen Fall später Dekolonialisierung, sondern um ein vom Bürgerkrieg zerissenes Gebiet, das einem failed state sehr nahe kam.194 I. Historischer Hintergrund 1970 wurde Prinz Sihanouk, der die ehemalige französische Kolonie seit ihrer Unabhängigkeit 1953 geführt hatte, in einem Militärputsch durch General Lon Nol gestürzt.195 Den dadurch ausgelösten Bürgerkrieg konnten die roten Khmer 1975 zunächst für sich entscheiden. Unter Leitung ihres Vorsitzenden Pol Pot errichteten sie ein marxistisches Terrorregime, dem wohl über eine Million Menschen zum 192 Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 72. 193 Han, NYU-J.I.L.P. 26 (1994), 837 (849). Ausführlich zur UNTAC u.a. Isoart, RGDIP 97 (1993), 645-688; Chopra, Cambodia (1994); Ratner, New UN Peacekeeping (1995), S. 135-206; und Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 85-155. Die wesentlichen UN-Dokumente zum Engagement der Vereinten Nationen in Kambodscha zwischen 1991 und 1995 sind in dem Band UN, Cambodia (1995), zusammengefasst. 194 Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 95. Ausführlicher zur Vorgeschichte der UNTAC auch Isoart, AFDI 36 (1990), 267-297. Zur sozialen und wirtschaftlichen Situation des Landes siehe Chopra, Cambodia (1994), S. 55-58. 195 Isoart, AFDI 36 (1990), 267 (268). 40 Opfer fielen.196 Es wurde erst durch den von den Vereinten Nationen scharf kritisierten Einmarsch vietnamesischer Truppen 1979 beendet.197 Vietnam installierte seinerseits die ihm genehme Regierung unter Hun Sen. Obwohl vietnamesische Truppen das Land bis 1989 besetzten, dauerte der Bürgerkrieg an. Die von der UdSSR und der Volksrepublik Vietnam unterstütze Regierung Hun Sen konnte sich militärisch nicht gegenüber der international anerkannten Exilregierung durchsetzen. Diese bestand aus einer Koalition der Anhänger Prinz Sihanouks und der früheren Anhänger Lon Nols sowie aus den roten Khmer und wurde insbesondere von China, den ASEAN-Staaten und den Vereinigten Staaten unterstützt.198 Erst das Ende des Kalten Krieges ermöglichte eine Lösung der festgefahrenen Situation.199 Nach fast zweijährigen Verhandlungen akzeptierten die vier nationalen Konfliktparteien unter starkem internationalen Druck einen von den fünf ständigen Sicherheitsratsmitgliedern ausgearbeiteten Friedensplan.200 Das von den Konfliktparteien und achtzehn Staaten in Gegenwart des UN-Generalsekrektärs unterzeichnete Pariser Friedensabkommen vom 23. Oktober 1991 sah eine achtzehnmonatige Übergangsverwaltung des Landes bis zur Konstituierung einer frei gewählten Nationalversammlung vor.201 Zu diesem Zweck übertrug der aus den vier Konfliktparteien bestehende Supreme National Council (SNC) als Träger der kambodschanischen Souveränität202 den Vereinten Nationen alle zur Umsetzung des 196 Die Zahlen schwanken zwischen 0,5 und bis zu 3 Millionen, siehe die Nachweise bei Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 87. Zum Terrorregime der roten Khmer auch Isoart, AFDI 36 (1990), 267 (269 f.). 197 Zur Kritik der UN siehe beispielsweise A/RES/34/22 vom 14.11.1979. Ausführlich Isoart, AFDI 36 (1990), 267 (270-273). 198 Ratner, New UN Peacekeeping (1995), S. 141 f. 199 Isoart, AFDI 36 (1990), 267 (276). Zu den wesentlichen Änderungen des internationalen Umfeldes siehe Opitz/Seemüller, VN 40 (1992), 126 (127). 200 Zum Gang der Verhandlungen und dem Friedensplan der ständigen Sicherheitsratsmitglieder siehe Isoart, AFDI 36 (1990), 267 (276-297); Opitz/Seemüller, VN 40 (1992), 126 (127-129); und Ratner, AJIL 87 (1993), 1 (4-8). 201 Art. 1 des Agreement on a comprehensive political settlement of the Cambodian Conflict, UN-Doc. A/46/608 – S/23177 vom 30.10.1991 (Annex), abgedr. in ILM 31 (1992), 174-204 (184). Eine rechtliche Analyse des Abkommens unternimmt Ratner, AJIL 87 (1993), 1-41. Siehe Art. 3 des Pariser Friedensabkommens: „The Supreme National Council (...) is the unique legitimate body and source of authority in which, throughout the transitional period, the sovereignty, 202 41 Abkommens erforderlichen Befugnisse.203 Diese wurden ferner dazu aufgefordert, entsprechend den Vorgaben des Friedensabkommens die United Nations Transitional Administration in Cambodia (UNTAC) einzurichten, um diese Befugnisse wahrzunehmen.204 Bei UNTAC handelte es sich mithin um eine konsensgestützte UN-Verwaltung, die auf der Zustimmung der Betroffenen beruhte. II. Das Mandat der UNTAC Die wesentliche Aufgabe der UNTAC war es, freie und unabhängige Wahlen in einem politisch neutralen Umfeld zu organisieren und durchzuführen. Zu diesem Zweck sollte sie direkte Kontrolle über jene Teile der Landesverwaltung übernehmen, welche den Ausgang der Wahlen unmittelbar beeinflussen konnten.205 Explizit genannt wurden die Bereiche Äußeres, Verteidigung, Finanzen, öffentliche Sicherheit sowie Presse- und Öffentlichkeitsarbeit.206 Diesen sollte UNTAC verbindliche Anweisungen („directives“) geben dürfen.207 Über die Sicherheitskräfte und weitere, noch zu bestimmende sensible Bereiche der staatlichen Verwaltung sollte UNTAC ebenfalls Kontrolle ausüben oder sie zumindest beaufsichtigen. 208 Zu diesem Zweck sollte UNTAC berechtigt sein, bindende Richtlinien („guidelines“) zu erlassen. In allen Bereichen sollte UNTAC berechtigt sein, eigenes Personal zu installieren, die Entfernung kambodschanischer Mitarbeiter zu verlangen209 und independence and unity of Cambodia are enshrined” – abgedr. ILM 31 (1992), 174 (184). Zu Konzeption und Aufgabe des SNC siehe Ratner, AJIL 87 (1993), 1 (9-11). 203 Art. 6 des Pariser Friedensabkommen i.V.m. Annex 1 des Abkommens, abgedr. in ILM 31 (1992), 174 (184). Zur Legitimität und Berechtigung des SNC, diese Hoheitsrechte zu übertragen, siehe Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 107 f. 204 Art. 2 des Pariser Friedensabkommens, abgedr. ILM 31 (1992), 174 (184). 205 Art. 6 Abs. 2 des Pariser Friedensabkommens, abgedr. ILM 31 (1992), 174 (184). 206 Annex 1, Section B, § 1 Abs. 2 des Pariser Friedensabkommens, abgedr. ILM 31 (1992), 174 (189). 207 Annex 1, Section B, § 1 Abs. 1 des Pariser Friedensabkommens, abgedr. ILM 31 (1992), 174 (189). 208 Annex 1, Section B, §§ 2 u. 3 des Pariser Friedensabkommens, abgedr. ILM 31 (1992), 174 (189). Zur Arbeit der Polizeibeobachter siehe Chopra, Cambodia (1994), S. 44-47. 209 Annex 1, Section B, § 2 a.E. und § 4 des Pariser Friedensabkommens, abgedr. ILM 31 (1992), 174 (189). 42 Untersuchungen der Arbeit kambodschanischer Stellen einzuleiten.210 Ferner wurde UNTAC die Überwachung des Waffenstillstandes und der Entwaffnung der Bürgerkriegsparteien,211 die Flüchtlingsrückführung212 sowie die Förderung der Menschenrechte durch entsprechende Öffentlichkeitsarbeit, Monitoring und Einzelfallermittlungen angetragen.213 Nachdem Sicherheitsrat und Generalversammlung den Abschluss des Pariser Friedensabkommens ausdrücklich begrüßt hatten,214 ermächtigte der Sicherheitsrat mit Resolution 745 (1992) vom 28.2.1992 den UN-Generalsekretär, die UNTACMission entsprechend seinem Bericht vom 19.2.1992 einzurichten215. Der Japaner Akashi wurde zum Sondergesandten und Leiter der Mission ernannt, die am 15.3.1992 offiziell ihre Arbeit aufnahm.216 Sie bestand aus einer militärischen Komponente von 15.900 Soldaten zur Überwachung des Waffenstillstandes, etwa 3.600 Polizeibeobachtern sowie einer zivilen Komponente von etwa 2.500 Personen. Zu Hochzeiten beschäftigte UNTAC etwa 22.000 internationale Mitarbeiter aus 44 Ländern sowie 61.000 Kambodschaner.217 Zur militärischen Komponente gehörten erstmals auch deutsche Sanitätssoldaten – der erste Blauhelmeinsatz der deutschen 210 Annex 1, Section B, § 6 des Pariser Friedensabkommens, abgedr. ILM 31 (1992), 174 (184). 211 Annex 1, Section C und Annex 2 des Pariser Friedensabkommens, abgedr. ILM 31 (1992), 174 (190-197). 212 Art. 20 Abs. 2 i.V.m. Annex 4 des Pariser Friedensabkommens, abgedr. ILM 31 (1992), 174 (187 u. 198-200). Diese Aufgabe wurde vom UNHCR wahrgenommen. Zu seiner Arbeit siehe Chopra, Cambodia (1994), S. 61-67. 213 Art 16 i.V.m. Annex 1, Section E des Pariser Friedensabkommens, abgedr. ILM 31 (1992), 174 (186 u. 192). Zur Arbeit der Menschenrechtskomponente siehe Chopra, Cambodia (1994), S. 38-43. 214 Siehe S/RES/718 (1991) vom 31.10.1991 und A/RES/46/18 vom 20.11.1991, beide abgedr. in UNYB 1991, 155 f. 215 Bericht des Generalsekretärs vom 19.2.1992, UN-Doc. S/23613. S/RES/745 (1992) abgedruckt in UNYB 1992, 246; deutsche Fassung in VN 40 (1992), 78. Bereits vor Abschluss des Abkommens hatte der Sicherheitsrat in S/RES/717 (1991) vom 16.10.1991 die Einrichtung der UN Advance Mission in Cambodia (UNAMIC) zur Vorbereitung der UN-Verwaltung autorisiert. UNAMIC ging dann in UNTAC auf. Zu Entstehung, Aufgabe und Arbeit der UNAMIC siehe UNYB 1991, 157-160, und UNYB 1992, 241-243. 216 217 UNYB 1992, 250. Ausführlich zur personellen Zusammensetzung Friedensoperationen (1996), S. 144-153. der UNTAC-Mission Hufnagel, UN- 43 Bundeswehr.218 Insgesamt kostete UNTAC die Vereinten Nationen über 1,5 Mrd. US-Dollar und war damit etwa viermal so teuer wie UNTAG.219 Während die Überwachung des Waffenstillstandes und die Entwaffnung der Bürgerkriegsparteien fehlschlugen, weil insbesondere die roten Khmer ihre Mitarbeit verweigerten, war die Organisation der Wahlen trotz zahlreicher Schwierigkeiten erfolgreich.220 Trotz Boykottaufrufen der roten Khmer gingen fast 90 % der Bürger zur Wahl.221 Die so gewählte Versammlung erarbeitete eine Verfassung, die am 24.9.1993 verkündet wurde. Am selben Tag wurde Prinz Sihanouk zum König des konstitutionellen Königreiches Kambodscha gewählt.222 Bis zum 15.11.1993 beendete die UNTAC ihren Abzug aus dem Gebiet.223 Da es UNTAC jedoch nicht gelang, die staatliche Verwaltung politisch wirklich zu neutralisieren, behielt insbesondere die Partei Hun Sens wesentlichen Einfluss auf den Staatsapparat und ließ sich in der Folge nicht aus der Macht verdrängen. 224 Kambodscha ist daher bis heute kein demokratisches Musterland geworden. III. Bewertung Deshalb ein Scheitern der Vereinten Nationen festzustellen, erscheint jedoch zu weitgehend. UNTAC besaß lediglich ein beschränktes Mandat, dessen Kernelement die Organisation und Durchführung freier und gleicher Wahlen war. Nur zu diesem Zweck war UNTAC befugt, Verwaltungsaufgaben zu übernehmen. Auch sollte die UN in Kambodscha ihre Verwaltungsfunktion primär durch die Leitung und Beaufsichtigung bestehender Strukturen wahrnehmen, nicht dagegen selbst solche 218 Schmidt/Wasum-Rainer, VN 40 (1992), 88 (91). 219 §§ 84 f. u. Annex IX des Berichts des Generalsekretärs vom 8.12.1993, UN-Doc. A/48/701. Ausführlich zur schwierigen Finanzierung Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 139-144. 220 Han, NYU-J.I.L.P. 26 (1994), 837 (850); Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 93 f.; krit. Chopra, Cambodia (1994), S. 47-52. 221 Chopra, Cambodia (1994), S. 50; Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 93. 222 § 3 des Berichts S/26529 des Generalsekretärs vom 26.8.1993. 223 Entsprechend den Vorgaben der §§ 9-11 S/RES/880 (1993) vom 4.11.1993. 224 Ratner, New UN Peacekeeping (1995), S. 173 f. 44 Strukturen neu schaffen und besetzen.225 Mandat der UNTAC war nicht die Fremdverwaltung Kambodschas durch die UN, sondern lediglich die Sicherstellung ordnungsgemäßer Eigenverwaltung durch die Kambodschaner selbst.226 Nur diese Aufgabe hatten die Konfliktparteien den Vereinten Nationen übertragen. Diese beschränkte Rolle der UN wird auch dadurch deutlich, dass UNTAC verpflichtet war, Ratschläge („advice“) des SNC zu befolgen, sofern diese nach Ansicht des die Mission leitenden Sondergesandten des UN-Generalsekretärs mit Zielen des Friedensabkommens vereinbar waren.227 Auch wenn diese Regelung dem Sondergesandten in der Praxis viel Spielraum ließ, macht sie doch deutlich, dass UNTAC nur einen Teil der Verwaltungshoheit in Kambodscha ausüben sollte und auch diesen Teil nicht gänzlich selbständig. UNTAC stellt mithin einen Fall sachlich begrenzter Teilverwaltung eines Krisengebietes dar, deren Mittel sich auf Kontrollund Weisungsrechte beschränkten.228 In Kambodscha war die UN damit noch weit entfernt von jenen umfassenden Verwaltungsbefugnissen, die sie später im Kosovo oder in Osttimor ausüben sollte. UNTAC war ein Experiment, welches den Vereinten Nationen die Grenzen einer konsensgestützten Gebietsverwaltung aufzeigte.229 Mangels eigener Verwaltungsstrukturen war UNTAC nicht in der Lage, wesentliche Elemente ihres Mandates unabhängig von den Konfliktparteien umzusetzen. Wo diese die Zusammenarbeit verweigerten oder einstellten, blieben die Vereinten Nationen weitgehend machtlos.230 Die Erfahrungen in Kambodscha machten deutlich, dass eine erfolgreiche Gebietsverwaltung die rechtliche und tatsächliche Möglichkeit haben musste, Maßnahmen unabhängig vom Willen der Konfliktparteien durchzusetzen. Diese Erkenntnis wurde bei den späteren 225 Ratner, New UN Peacekeeping (1995), S. 149; Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 118. 226 Zu weitgehend daher Han, NYU-J.I.L.P. 26 (1994), 837 (868 f.), und Chopra, Cambodia (1994), S. 12, die von einer Quasi-Treuhandverwaltung durch UNTAC ausgehen. 227 Annex 1, Section A, § 2 des Pariser Friedensabkommens, abgedr. ILM 31 (1992), 174 (189). 228 Wobei UNTAC von diesen Befugnissen nur eingeschränkt Gebrauch machte. Ausführliche Kritik der operationellen Defizite der UNTAC bei Ratner, New UN Peacekeeping (1995), S. 194-204. 229 Chopra, Cambodia (1994), S. 11 f. 230 Zu den Schwierigkeiten der UNTAC siehe Chopra, Cambodia (1994), S. 27-37, zu den Motiven der Konfliktparteien Ratner, New UN Peacekeeping (1995), S. 158 f. 45 Gebietsverwaltungen in zunehmendem Maße berücksichtigt. I. Die United Nations Operation in Somalia (1993-1995) Die kurze und im Ergebnis gescheiterte erweiterte UN-Operation in Somalia (UNOSOM II) hat nur in geringem Umfang tatsächlich Hoheitsgewalt über Teile Somalias ausgeübt.231 Dennoch wies UNOSOM II bereits wesentliche Merkmale späterer Verwaltungsmissionen auf – den Einsatz in einem failed state-Szenario, die Ausübung der Verwaltungshoheit unmittelbar durch die Vereinten Nationen selbst und ein vom Willen der betroffenen Parteien und Bevölkerungsgruppen unabhängiges Mandat auf der Grundlage von Kapitel VII der Charta. 1992 hatte Somalia nach 21 Jahren Diktatur und einem fünfjährigen Bürgerkrieg aufgehört, als funktionierendes Staatswesen zu existieren.232 In der Folge starben über 300.000 Menschen an Hunger. Weitere 1 Million Somalier flüchteten in Nachbarländer.233 Weil auch internationale Hilfsorganisationen in zunehmendem Maße Opfer von Angriffen wurden, entschloss sich die UN zu einem militärischen Eingreifen.234 Als sich der Einsatz traditioneller Blauhelme im Rahmen der UN Operation in Somalia (UNOSOM I)235 als unzureichend erwies, wurde die Unified Taskforce (UNITAF), ein multinationaler Streitkräfteverband von etwa 30.000 Soldaten, autorisiert, das Gebiet im Rahmen der Operation „Restore Hope“ mit militärischer Gewalt zu befrieden.236 UNITAF konnte die Sicherheitslage soweit 231 Ausführlicher zum UN-Einsatz in Somalia (1991-1995) Matthies, VN 41 (1993), 45-51; Murphy, Tulane JI&CL 3 (1994/95), 19-41; Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 156-208; Osinbajo, ICLQ 45 (1996), 910-923; und Bartl, Humanitäre Intervention (1999), S. 15-58. Zur Vorgeschichte siehe Sorel, AFDI 38 (1992), 61-88, und Clark, in: Damrosh (Hrsg.), Enforcing Restraint (1993), S. 205-239. Die wesentlichen Dokumente zum UN-Engagement in Somalia zwischen 1992 und 1996 sind abgedruckt in UN, Somalia (1996). 232 Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 173. 233 Clark, in: Damrosh (Hrsg.), Enforcing Restraint (1993), S. 212 f.; Matthies, in: von Schorlemer (Hrsg.), Praxishandbuch UNO (2003), S. 45. 234 Kritisch zu diesem militärischen Ansatz Matthies, in: von Schorlemer (Hrsg.), Praxishandbuch UNO (2003), S. 46 f. Zur Entwicklung des UN-Engagements in Somalia siehe Murphy, Tulane JI&CL 3 (1994/95), 19 (24-33). 235 Rechtsgrundlage waren die Sicherheitsratsresolution S/RES/751 (1992) vom 24.4.1992 und S/RES/775 (1992) vom 28.8.1992. 236 S/RES/794 (1992) vom 3.12.1992. Eine ausführliche rechtliche Analyse dieser Resolution 46 wieder herstellen, dass die Hungersnot eingedämmt werden konnte.237 Hier sollte UNOSOM II übernehmen, unter anderem ausgestattet mit dem Mandat, die Somalier bei der Wiederherstellung des Friedens und der öffentlichen Sicherheit sowie dem Wiederaufbau des Staatswesen auf regionaler und nationaler Ebene zu unterstützen.238 Zu diesem Zweck war UNOSOM II auch als erste UNFriedenstruppe von Anfang an berechtigt, Gewalt anzuwenden.239 UNOSOM II besaß auf dem Papier eine rein unterstützende Funktion beim staatlichen Wiederaufbau Somalias.240 De facto übten die Vereinten Nationen in Teilgebieten die Hoheitsgewalt alleine aus, da es aufgrund des völligen staatlichen Zusammenbruchs an nationalen Strukturen fehlte, denen UNOSOM II Unterstützung hätte zukommen lassen können.241 So übte UNOSOM II zumindest rein faktisch für eine Übergangszeit die zentralstaatliche Regierungsgewalt in Somalia aus.242 Beispielsweise setzte der missionsleitende Sondergesandte des Generalsekretärs das somalische Strafgesetzbuch von 1962 mit leichten Änderungen wieder in Kraft.243 Auch wurden nationale Polizeieinheiten sowie ein lokaler Strafvollzug aufgebaut und beaufsichtigt.244 Insgesamt nahmen die Aufgaben der Zivilverwaltung aber nur eine unternimmt Bartl, Humanitäre Intervention (1999). 237 Murphy, Tulane JI&CL 3 (1994/95), 19 (27); Matthies, in: von Schorlemer (Hrsg.), Praxishandbuch UNO (2003), S. 49. 238 § 4 S/RES/814 (1992) vom 26.3.1993, deutsche Übersetzung in VN 41 (1993), 66-68. 239 §§ 5 f. S/RES/814 (1993) i.V.m. § 58 des Berichts des Generalsekretärs vom 3.3.1993 (UN-Doc. S/25354, S. 13). Zu diesem Paradigmenwechsel im Bereich des Peacekeeping siehe Bothe, in: Voit (Hrsg.), Völkerrecht und humanitäre Operationen (1997), S. 3-13. 240 So betonte eine vom Sicherheitsrat eingesetzte Untersuchungskommission, dass die Kapitel VIIBefugnisse der Mission sich nicht auf ihr politisches Mandat bezögen. Siehe § 52 ihres Berichts vom 24.2.1994 (abgedr. als S/1994/653 vom 1.6.1994). 241 Zum Fehlen nationaler Strukturen siehe Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 174 f. 242 Matthies, in: von Schorlemer (Hrsg.), Praxishandbuch UNO (2003), S. 51. Auf regionaler Ebene entwickelten sich dagegen teilweise lokale staatliche Strukturen. Siehe dazu Hufnagel, UNFriedensoperationen (1996), S. 175 f. 243 Siehe §§ 29 u. 32 des Annex I des Berichts des Generalsekretärs vom 17.8.1993 (UN-Doc. 26317, S. 24 f.). Die vom Sicherheitsrat eingesetzte Untersuchungskommission sah dies allerdings als durch S/RES/814 (1993) nicht mehr gedeckt an. Siehe § 67 ihres Berichts S/1994/653 vom 1.6.1994; ferner Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 62 f. 244 UN, Somalia (1996), S. 59 f. (§§ 168 f.); und ausf. Osinbajo, ICLQ 45 (1996), 910 (911-917). Grundlage waren die in §§ 15-28 sowie §§ 42-52 des Annex I des Berichts des Generalsekretärs vom 47 Randposition innerhalb des Tätigkeitskreises der UNOSOM II ein, der Schwerpunkt lag auf der militärischen Stabilisierung der Sicherheitslage.245 Ihre Kosten lagen mit etwa 2 Mrd. US-Dollar noch deutlich über denen der UNTAC.246 Die Mission scheiterte letztlich an mangelnder Planung, geringen Landeskenntnissen und zu kurzem Atem. Das Bestreben, möglichst schnell das Land wieder verlassen zu können, ließ wenig Möglichkeiten, auf die sozialen Traditionen und die Kultur Somalias Rücksicht zu nehmen.247 Statt mit den Somaliern zusammenzuarbeiten, wurde oft die Konfrontation mit einzelnen „widerspenstigen“ Clanführern gesucht und so die Sympathien großer Teile der Bevölkerung verspielt. Der Versuch, das Land kurzfristig durch militärische Operationen zu stabilisieren, führte zumindest in einigen Gebieten zu einer Art andauerndem Guerillakrieg zwischen UN-Truppen und somalischen Clanführern.248 In der Folge sank die Bereitschaft der Mitgliedstaaten, ihre Truppen in Somalia zu belassen. Im März 1994 wurde das Mandat der UNOSOM II reduziert, die zwangsweise Entwaffnung der Bürgerkriegsparteien gehörte nicht mehr zu ihren Aufgaben.249 Ende März 1994 verließen die meisten westlichen Truppenkontingente das Land, im März 1995 wurde UNOSOM II formell beendet.250 Das Scheitern in Somalia stellte das politische Konzept humanitärer Intervention insgesamt in Frage und war wesentliche Ursache für die Zurückhaltung der internationalen Staatengemeinschaft während des Völkermordes in Ruanda und dem sich ausbreitenden Bürgerkrieg im Kongo.251 Für die Entwicklung der UN-Gebietsverwaltungen ist UNOSOM II insbesondere 17.8.1993 (UN-Doc. 26317) aufgestellten Planungen. 245 Ausführlicher zu den Aufgaben der Zivilverwaltung der Annex I des Berichts des Generalsekretärs vom 17.8.1993 (UN-Doc. 26317, S. 20-29); ferner Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 180192. 246 Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 195, mit weiteren Ausführungen zur Finanzierung der UNOSOM II. 247 Siehe die Kritik bei Matthies, in: von Schorlemer (Hrsg.), Praxishandbuch UNO (2003), S. 49-51. 248 Murphy, Tulane JI&CL 3 (1994/95), 19 (31). 249 S/RES/897 (1994) vom 4.2.1994. 250 Matthies, in: von Schorlemer (Hrsg.), Praxishandbuch UNO (2003), S 49. 251 Matthies, in: von Schorlemer (Hrsg.), Praxishandbuch UNO (2003), S. 52. 48 hinsichtlich der Wahl der Rechtsgrundlage bedeutend. Sie war eine auf Kapitel VII der Charta gestützte Zwangsmaßnahme des Sicherheitsrates.252 Anders als UNTAG und UNTAC leitete sie ihre Befugnisse mithin nicht von der Zustimmung der betroffenen Staaten oder Bevölkerungsgruppen ab. Zugleich zeigte der Einsatz in Somalia die Schwierigkeiten und Grenzen eines solchen Ansatzes auf und den enormen personellen und materiellen Aufwand, den die Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben in einem völlig zerstörten Staatswesen mit sich bringt. Hier konnte nicht auf bestehende staatliche Strukturen zurückgegriffen werden, vielmehr mussten diese völlig neu errichtet werden.253 Die Verwaltungstätigkeit durch UNOSOM II war nicht geplant, vielmehr sollte sie nur unterstützend tätig werden. Insoweit war UNOSOM II lediglich in tatsächlicher Hinsicht und nur in einem sehr beschränkten Umfang eine UN-Gebietsverwaltung. In der Wahl der Rechtsgrundlage sollte sie indes für alle späteren Missionen dieser Art richtungsweisend sein. J. Bosnien Keine echte UN-Gebietsverwaltung ist auch die Republik Bosnien und Herzegowina auf der Grundlage des Friedensvertrages von Dayton 254. Formal wurde durch den Vertrag ein bestehender souveräner Staat neu konstituiert, dessen vertragskonforme Entwicklung die internationale Gemeinschaft durch ihren sog. „hohen Repräsentanten“ lediglich beobachten und garantieren wollte. Widerstände auf Seiten der verschiedenen bosnischen Vertragsparteien ließen den hohen Repräsentanten jedoch eine zunehmend aktivere und intervenierende Rolle spielen, die es rechtfertigen, Bosnien-Herzegowina als eine Art internationales Protektorat zu bezeichnen.255 252 Ausführlich zur Rechtsgrundlage Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 162-169. 253 Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 177. 254 General Framework Agreement for Peace in Bosnia and Herzegovina, parafiert am 21.11.1995 in Dayton/Ohio, unterzeichnet am 14. Dezember 1995 in Paris, abgedr. als Annex zu S/1995/999, und in ILM 35 (1996), 75-183; im Internet abrufbar unter <www.ohr.int/dpa/default.asp?content_id=380>. Eine Einführung in dieses Vertragswerk geben u.a. Sorel, AFDI 41 (1995), 65-99, Ramcharan, Leiden J.I.L. 9 (1996), 131-140, und Dörr, AVR 35 (1997), 129-180. 255 Maziau, AFDI 45 (1999), 181 (186). Zur praktischen Umsetzung des Friedensvertrages siehe ferner Cox, BYIL 69 (1998), 201-243; Graf Vitzthum, in: FS Eitel (2003) und ausführlich Ducasse- 49 I. Historischer Hintergrund Nach fast fünfjährigem, von ethnischen Säuberungen und Kriegsverbrechen begleiteten Bürgerkrieg in der ehemaligen Teilrepublik der Volksrepublik Jugoslawien schlossen die Konfliktparteien unter internationaler Vermittlung und starkem internationalen Druck einen Friedensvertrag, dessen wesentliche Regelungen in den zwölf Annexen enthalten waren.256 Annex 1a sah eine NATOgeführte, vom Sicherheitsrat ermächtigte multilaterale Friedenstruppe vor.257 In Annex 3 wurde die OSCE gebeten, Wahlen in Bosnien-Herzegowina zu organisieren. Annex 4 enthielt eine neue Verfassung für die aus zwei ethnisch geprägten Teilstaaten („Entitäten“) bestehende Republik Bosnien-Herzegowina. Annex 6 sah die Schaffung einer teilweise durch den Europarat zu besetzenden Menschenrechtskommission vor, bestehend aus einem Ombudsmann und einer Menschenrechtskammer als einer Art Sondergericht für Menschenrechte.258 In Annex 7 wurde der UNHCR aufgefordert, einen Plan für die Rückführung von Flüchtlingen auszuarbeiten und bei seiner Umsetzung mitzuwirken. Annex 11 sah die Einrichtung einer internationalen Polizeitruppe (International Police Task Force – IPTF) unter der Leitung eines vom UN-Generalsekretär zu benennenden Kommissars vor, welche den Aufbau einer nationalen multiethnischen Polizei unterstützen sollte.259 II. Diese Das Mandat der internationalen Gemeinschaft vielfältige Aufgabenwahrnehmung durch die unterschiedlichsten internationalen Akteure sollte gemäß Annex 11 ein hoher Repräsentant (High Rogier, L’accord de paix de Dayton (2003). Speziell zur Arbeit der UN-Polizeimission in Bereich Menschenrechte Cordone, Intl. PK (Cass) 6/4 (1999), 191-209, und Okuizumi, HRQ 24 (2002), 721735. 256 Zu den historischen Hintergründen, dem vorangegangenen Krieg und dem Verlauf der Verhandlungen siehe Ducasse-Rogier, L’accord de paix de Dayton (2003), S. 9-128. 257 IFOR, autorisiert durch S/RES/1031 (1995) vom 15.12.1995. 258 Zur Arbeit der Menschenrechtskammer siehe Cornell/Salisbury, Cornell ILJ 35 (2002), 389-426. 259 Die IPTF wurde vom Sicherheitsrat auf der Grundlage von Kp. VII der Charta durch S/RES/1035 (1995) vom 21.12.1995 autorisiert. Ihre Aufgabe übernahm am 1.1.2003 eine Polizeimission der Europäischen Union. Zu dieser siehe Nowak, L’Union en action (2003). 50 Representative) der internationalen Gemeinschaft koordinieren, ohne jedoch Weisungsbefugnisse gegenüber anderen internationalen, nationalen und lokalen Akteuren zu besitzen.260 Sein einziges Vorrecht war, selbst abschließend und für alle Vertragsparteien verbindlich über die Auslegung des Annex 10 entscheiden zu können.261 Als die Umsetzung des Friedensvertrages aufgrund des Widerstandes von Teilen der Konfliktparteien ins Stocken geriet, wurde deutlich, dass diese beschränkten Befugnisse nicht ausreichend waren.262 Die sog. Peace Implementation Conference (PIC), bestehend aus etwa 50 interessierten Staaten, darunter die bei der Aushandlung des Friedensvertrages federführenden, statteten den hohen Repräsentanten auf ihrer Konferenz in Bonn im Dezember 1997 mit weitergehenden Befugnissen gegenüber den bosnischen Akteuren aus.263 Die vom Sicherheitsrat „anerkannten“264 sog. Bonn-Powers erlaubten dem hohen Repräsentanten insbesondere, anstatt der eigentlich zuständigen bosnischen Stellen verbindliche Rechtsakte zu erlassen. Dabei konnte es sich sowohl um abstrakt-generelle Legislativakte als auch um konkrete Verwaltungsentscheidungen handeln. Sie konnten lediglich durch solche Gesetze oder Einzelfallentscheidungen der zuständigen bosnischen Stellen abgeändert oder ersetzt werden, die der hohe Repräsentant für mit dem Vertragswerk von Dayton insgesamt vereinbar hielt.265 Auch wurde er befugt, bosnische Funktionsträger aus ihren Ämtern zu entfernen, so er dies für erforderlich hielt. Ausgestattet mit diesen Befugnissen, griff der hohe Repräsentant, unterstützt durch sein etwa 700 Mitarbeiter starkes Büro, das sog. Office of the High Representative, immer stärker in die bosnische Politik ein. Wo Die entsprechenden Texte sprechen lediglich von „guidance“, nicht von directions, instructions oder Ähnlichem. 260 Art. V des Annex 10 des Friedensvertrages von Dayton: „The High Representative is the final authority in theater regarding interpretation of this Agreement on the civilian implementation of the peace settlement.“ 261 262 Cox, BYIL 69 (1998), 201 (211 f.). 263 Art. XI Nr. 2 der Schlussakte der PIC-Konferenz von Bonn vom 9.-10.12.1997 (Conclusion of the Peace Implementation Conference on Bosnia and Herzegovina), abgedr. als Annex zu UN-Doc. S/1997/979 vom 16.12.1997. § 2 S/RES/1144 (1997) vom 19.12.1997 lautet: „Expresses its support for the conclusions of the Bonn Conference (…)” (abgedr. in UNYB 1997, 300 f., Hervorhebungen im Original). 264 265 Cox, BYIL 69 (1998), 201 (214). 51 immer bosnische Stellen sich nicht auf ein Vorgehen im Sinne des hohen Repräsentanten einigen konnten oder wollten, erließ dieser die erforderlichen Rechtsakte selbst.266 Dies hat ihm den Vorwurf eines wohlwollenden Despotismus eingetragen.267 Die Rechtsgrundlage für diese erweiterten Befugnisse bleibt unklar. Sie gehen weit über die in Annex 10 des Friedensvertrages vereinbarten Kompetenzen hinaus, finden mithin keine Stütze im Vertrag selbst. Teilweise wird von einer Vertragsänderung durch die PIC ohne Rücksprache mit den eigentlichen Vertragsparteien ausgegangen.268 Möglicherweise kann angesichts der ständigen Praxis des hohen Repräsentanten seit Ende 1997 und der Abhängigkeit BosnienHerzegowinas von ausländischer Unterstützung auch von einer stillschweigenden Zustimmung der bosnischen Vertragsparteien ausgegangen werden. Im Ergebnis ist in Bosnien-Herzegowina ungeplant eine Art Treuhandgebiet sui generis unter starker Beteiligung der Vereinten Nationen entstanden.269 So sind neben der bis Ende 2002 für die IPTF verantwortliche UN-Mission in Bosnien-Herzegowina (UNMIBH) zahlreiche UN-Unter- und Sonderorganisationen in Bosnien tätig und tätig gewesen. Ferner wacht der Sicherheitsrat über die Umsetzung des Friedensabkommens insgesamt. III. Bewertung Da der hohe Repräsentant als Hauptfigur des internationalen Engagement kein UNMitarbeiter ist und seine Behörde ferner nicht Teil des UN-Systems ist, kann im Falle Bosnien-Herzegowinas nicht von einer UN-Gebietsverwaltung gesprochen 266 Cox, BYIL 69 (1998), 201 (215 f.). 267 Knaus/Martin, FAZ vom 25.7.2003, 9. Kritisch auch Cox, BYIL 69 (1998), 201 (215 f.), und Maziau, AFDI 45 (1999), 181 (202), die eine steigende Verantwortungslosigkeit bosnischer Institutionen aufgrund des ständigen Eingreifens des hohen Repräsentanten mit der Folge mangelnder Selbständigkeit feststellen. Für eine Rücknahme internationaler Intervention auch Chandler, Int’l. PK (Cass) 6/1 (1999), 109-125. 268 Cox, BYIL 69 (1998), 201 (214). Cox, BYIL 69 (1998), 201 (214). Ähnlich Maziau, AFDI 45 (1999), 181 (195): „Les conditions de [la] mise en œuvre [du traité de Dayton] et l’implication active du Haut représentant contribuent à placer la Bosnie-Herzégovine sous le contrôle étroit de la communauté internationale.“ 269 52 werden.270 Als unmittelbarer Vorläufer hat das internationale Engagement in Bosnien-Herzegowina indes eine wesentliche Rolle bei der Planung der UN-Mission im Kosovo gespielt. Insbesondere das parallele und nur unzureichend koordinierte Tätigwerden zahlreicher internationaler Organisationen (UN, OSCE, EU, UNHCR u.a.) sollte sich in dieser Form nicht wiederholen.271 Dabei konnten die Vereinten Nationen auch auf die positiven Erfahrungen zurückgreifen, welche sie mit der zeitgleich stattfindenden Verwaltungsmission in Ostslavonien machten. K. Die UN-Übergangsverwaltung in Ost-Slavonien (1996-1998) Die United Nations Transitional Administration in Eastern Slavonia, Baranja and Western Sirmium (UNTAES) war die erste Friedensmission seit UNTEA, in der die Vereinten Nationen die vollständige Verwaltungshoheit über ein Gebiet übernahmen.272 Obwohl stets im Schatten des Friedensabkommens von Dayton stehend, war sie damit unmittelbare Vorläuferin der UN-Verwaltungen des Kosovos und Osttimors drei Jahre später. Ihre Tätigkeit begann am 15.1.1996 und endete am 15.1.1998. I. Historischer Hintergrund Das etwa 2.300 km2 große Ostslawonien273 mit seiner Hauptstadt Vukovar liegt im Osten Kroatiens und grenzt an die Donau. Es war eine der wirtschaftlich bedeutendsten Regionen der früheren Volksrepublik Jugoslawien, bewohnt von etwa 270 Aufgrund der starken UN-Beteiligung spricht Stahn, ZaöRV 61 (2001), 107 (136), von einer indirekten UN-Gebietsverwaltung. 271 Kritisch auch Maziau, AFDI 45 (1999), 181 (198), und Graf Vitzthum, in: FS Eitel (2003), S. 838 f. 272 Zur UNTAES siehe UN-DPKO, UNTAES - Lessons Learned (1999); Jones, MIP Bull. 1/1998, 1-7; Šimunović, Int’l. PK (Cass) 6/1 (1999), 126-142; Reichel, Transitional Administrations (2000), S. 69, 17-21 u. 32-37; sowie Chesterman, You, The People (2004), S. 70-72. Siehe auch die offiziellen Informationen der UN unter <www.un.org/Depts/dpko/dpko/co_mission/untaes.htm> und die Berichte des Generalsekretärs vom 13.12.1995 (UN-Doc. S/1995/1028), vom 26.6.1996 (S/1996/472 + Add.1), vom 5.8.1996 (UN-Doc. S/1996/622), vom 26.10.1996 (UN-Doc. S/1996/883), vom 24.2.1997 (UN-Doc. S/1997/148), vom 23.6.1997 (UN-Doc. S/1997/487), vom 2.10.1997 (UN-Doc. S/1997/767), vom 4.12.1997 (UN-Doc. S/1997/953) und vom 22.1.1998 (UN-Doc. S/1998/59). Zu UNTEA siehe oben 2.Kp. F. 273 Gemeint sind im Folgenden neben Ostslavonien auch Baranja und Westsirmium. 53 190.000 Kroaten, Serben, Ungarn und anderen Volksgruppen.274 Als Kroatien im Oktober 1991 seine Unabhängigkeit erklärte, wurde das Gebiet ebenso wie die Kraijna und Westslawonien in heftigen Kämpfen von der jugoslawischen Volksarmee und serbischen paramilitärischen Verbänden besetzt.275 Die kroatischen Bevölkerungsteile wurden vertrieben, sofern sie nicht ohnehin bereits geflohen waren.276 Im Mai 1995 eroberten kroatische Truppen die Kraijna und Westslavonien zurück und drohten, auch das inzwischen nur noch von serbischen Paramilitärs besetzte Ostslavonien mit Waffengewalt anzugreifen.277 In dieser Situation schlossen kroatische Regierungsvertreter und die örtlichen serbischen Machthaber am 12. November 1995 unter Vermittlung des UN-Sondergesandten Stoltenberg und des US-Botschafters in Kroatien Galbraith das sog. Grundabkommen („basic agreement“).278 In diesem Grundabkommen wurde der Sicherheitsrat aufgefordert, für eine Übergangszeit von zunächst zwölf Monaten eine Verwaltung für das Gebiet einzurichten, welche das Gebiet im Interesse aller seiner Einwohner und der zurückkehrenden Flüchtlinge regieren sollte, sowie eine Friedenstruppe zu entsenden. Zu den Aufgaben der Übergangsverwaltung sollte neben der Sicherstellung der Flüchtlingsrückkehr der Wiederaufbau der staatlichen Verwaltung und der staatlichen Daseinsfürsorge gehören.279 Ferner sollte sie für die Übergangszeit einen örtlichen Polizeidienst aufstellen und ausbilden. Spätestens 30 Tage vor dem Ende der Übergangszeit sollte sie Wahlen für alle kommunalen und UN-DPKO, UNTAES - Lessons Learned (1999), § 1; Jones, MIP Bull. 1/1998, 1 (2); Šimunović, Int’l. PK (Cass) 6/1 (1999), 126 f. 274 275 Reichel, Transitional Administrations (2000), S. 6. 276 § 6 des Berichts des Generalsekretärs vom 13.12.1995 (UN-Doc. S/1995/1028) schätzt die Zahl der geflohenen Kroaten auf 70.000, während bis 1995 etwa 75.000 Serben, insbesondere aus anderen Teilen Kroatiens, zuzogen. § 5 des Berichts des Generalsekretärs vom 13.12.1995 (UN-Doc. S/1995/1028); Šimunović, Int’l. PK (Cass) 6/1 (1999), 126 (132 f.). 277 278 Basic agreement on the region of Eastern Slavonia, Baranja and Western Sirmium vom 12. November 1995, UN-Doc. A/50/757-S/1995/951, Annex, vom 15.11.1995, abgedr. in ILM 35 (1996), 184-187. Das Abkommen wird teilweise auch nach dem Ort seines Abschlusses Erdut-Abkommen genannt. 279 Art. 4 des Grundabkommens, abgedr. in ILM 35 (1996), 184 (186). 54 regionalen Volksvertretungen in Ostslawonien organisieren und unter internationaler Beobachtung durchführen. Die militärische Komponente sollte die serbischen Einheiten entwaffnen, die Entmilitarisierung des Gebiets überwachen und die öffentliche Sicherheit und Ordnung wiederherstellen. Die Übergangszeit und damit das Mandat der UN-Mission sollte einmal um weitere zwölf Monate verlängert werden können.280 Ziel des Abkommens war es, Ostslawonien demilitarisiert und befriedet in den Staat Kroatien zu reintegrieren.281 II. Das Mandat der UNTAES Mit der Resolution 1037 (1996) vom 15.1.1996 nahm der Sicherheitsrat die ihm angetragene Aufgabe an und autorisierte die Einrichtung der UN- Übergangsverwaltung für das Gebiet.282 Dabei stellte er ausdrücklich fest, dass er in dem Konflikt um das Gebiet weiterhin eine Friedensbedrohung im Sinne des Art. 39 SVN sah, und behielt sich weitere Maßnahmen vor, sollten sich die Parteien nicht an das von ihnen vereinbarte Grundabkommen halten283. Rechtsgrundlage der UNTAES war damit nicht das Abkommen der Konfliktparteien, sondern Kapitel VII der UNCharta.284 UNTAES war somit rechtlich befugt, Entscheidungen ohne Zustimmung der Konfliktparteien zu treffen und umzusetzen.285 Diese Feststellung einer Friedensbedrohung wiederholte er in den Resolutionen 1079 (1996) und 1120 (1997), mit denen er das Mandat der UNTAES um jeweils sechs Monate verlängerte.286 280 Art. 1 des Grundabkommens, abgedr. in ILM 35 (1996), 184 (186). 281 § 6 des Berichts S/1995/1028 des Generalsekretärs vom 13.12.1995. Siehe auch Reichel, Transitional Administrations (2000), S. 9, mit weiteren Ausführungen zum serbisch-kroatischen Disput um dieses im Grundabkommen nicht explizit genannte Ziel. 282 Gemäß seines Art. 14 trat das Grundabkommen damit in Kraft (ILM 35 (1996), 184 [187]). Zur Planung der UNTAES siehe den Bericht S/1995/1028 des Generalsekretärs vom 13.12.1995. 283 Siehe Präambel-§ 9 und § 8 S/RES/1037 (1996). 284 Zur Rechtsgrundlage der UNTAES siehe unten 3.Kp. C.IV.1. 285 Dies hatte der Generalsekretär in § 22 seines Berichts vom 13.12.1995 (UN-Doc. S/1995/1028) ausdrücklich gefordert. 286 S/RES/1079 (1996) vom 15.11.1996 und S/RES/1120 (1997) vom 12.7.1997. 55 Bei der Planung der Mission wurde insbesondere auf einen einheitlichen, hierarisch strukturierten Aufbau der Mission geachtet.287 Unter der Leitung eines Sondergesandten des Generalsekretärs (Special Representative of the SecretaryGeneral – SRSG) sollten Spezialisten der einschlägigen UN-Unter- und Sonderorganisationen sowie interessierter Mitgliedstaaten unmittelbar als Personal der UNTAES einbezogen werden. So sollte eine flexible und effiziente Verwaltung ermöglicht werden.288 Auch die militärische Komponente unterstand dem SRSG.289 Zeitweise umfasste UNTAES bis zu 450 zivile Mitarbeiter, 770 Ortskräfte, über 400 internationale Polizisten, 100 Militärbeobachter und etwa 5.000 Soldaten.290 Die Zivilverwaltung war auf ein Hauptquartier und sechs Regionalbüros (field offices) aufgeteilt und verfügte über Verbindungsbüros in Zagreb und Belgrad. 291 Ein aus Vertretern der kroatischen Regierung, der örtlichen Serben und Kroaten, verschiedener Minderheiten sowie der USA, Russlands und der Europäischen Union bestehender Verwaltungsrat (Administration Council) beriet den SRSG bei der Verwaltung.292 III. Bewertung Im Ergebnis war UNTAES ein Erfolg. Zunächst gelang es bis Ende Juni 1996, die insgesamt etwa 11.000 Mann umfassenden serbischen Einheiten zu entwaffnen oder zum Verlassen des Gebietes zu bewegen.293 Im Oktober 1996 begann UNTAES zudem mit einem Waffenrückkaufprogramm aus Mitteln der kroatischen Regierung, um die Zahl der im Umlauf befindlichen Waffen zu reduzieren.294 Auch organisierte 287 UN-DPKO, UNTAES - Lessons Learned (1999), § 20. 288 Reichel, Transitional Administrations (2000), S. 17 m.w.S. 289 § 2 S/RES/1037 (1996). 290 Jones, MIP Bull. 1/1998, 5; Reichel, Transitional Administrations (2000), S. 18. 291 § 21 des Berichts des Generalsekretärs vom 26.6.1996 (UN-Doc. S/1996/472). 292 Zur internen Organisation der UNTAES siehe §§ 14-16 des Berichts des Generalsekretärs vom 13.12.1995 (UN-Doc. S/1995/1028). 293 §§ 13-18 des Berichts des Generalsekretärs vom 26.6.1996 (UN-Doc. S/1996/472); Reichel, Transitional Administrations (2000), 32 f. 294 § 7 des Berichts des Generalsekretärs vom 26.10.1996 (UN-Doc. S/1996/883). 56 die UN-Verwaltung ein Minenräumprogramm, stellte über 90.000 Personen die für die Teilnahme an den Wahlen erforderlichen Papiere aus und beobachtete die Lage der Menschenrechte vor Ort. Eine ethnisch gemischte Übergangspolizei und ein Grenzschutz wurden organisiert und ausgebildet.295 Nach und nach wurden kroatisches Recht eingeführt und Flüchtlinge zurückgeführt. Im April 1997 wurden die regionalen und lokalen Volksvertretungen gewählt.296 Die fehlende finanzielle Ausstattung hinderte allerdings viele Kommunen daran, ihre Aufgaben effektiv wahrzunehmen.297 Auch kam es weiterhin zu ethnischen Spannungen und Auseinandersetzungen, meist zulasten der serbischen Bevölkerung.298 Obwohl nicht alle Probleme bis zum Abzug der UNTAES im Januar 1998 gelöst werden konnten299, war die Arbeit der UN-Übergangsverwaltung im Großen und Ganzen erfolgreich. ernstzunehmenden Ausgestattet militärischen mit einer Komponente300 einheitlichen und starker Führung, einer internationaler Unterstützung gelang es ihr, Ostslawonien friedlich und weitgehend ohne ethnische Säuberungen in die Republik Kroatien zu integrieren. Angesichts der Verhältnisse in anderen Gebieten des früheren Jugoslawien ist dies eine nicht zu unterschätzende Leistung. UNTAES bewies damit die Eignung einer UN-Verwaltung, Krisengebiete zu stabilisieren und bewaffnete Konflikte zu verhindern. Zu diesem Erfolg trugen die außerordentlich günstige Rahmenbedingungen wesentlich bei. So hatte der Sicherheitsrat stets die territoriale Zugehörigkeit des Gebietes zu Kroatien betont, so dass sein rechtlicher Status – anders als der des 295 §§ 19-22 des Berichts des Generalsekretärs vom 22.1.1998 (UN-Doc. S/1998/59); Reichel, Transitional Administrations (2000), S. 34. Ausführlich zur Arbeit der Polizeikomponente CIVPOL Holm, CIVPOL in Eastern Slavonia, Int’l. Peacekeeping (Cass) 6/4 (1999), 135 (143-149). 296 §§ 2-7 des Berichts S/1997/487 des Generalsekretärs vom 23.6.1997. 297 §§ 4 f. des Berichts S/1996/622 des Generalsekretärs vom 5.8.1996. 298 Siehe §§ 31-37 des Berichts S/1997/487 des Generalsekretärs vom 23.6.1997 und §§ 16 f. des Berichts S/1998/59 vom 22.1.1998. 299 Siehe § 31 des Berichts S/1998/59 des Generalsekretärs vom 22.1.1998. Ihre Bedeutung unterstrich der Generalsekretär bereits bei der Planung der Mission – siehe §§ 3 u. 22 seines Berichts S/1995/1028 vom 13.12.1995. 300 57 Kosovo – von Anfang an weitgehend unstrittig war.301 Auf Seiten der Bundesrepublik Jugoslawien bestand nur geringe Neigung, zugunsten der kroatischen Serben einzugreifen, so dass diese sich weitgehend mit ihrer Situation abfanden. Ostslawonien ist ein vergleichsweise kleines und damit überschaubares Gebiet, kleiner noch als das Saarland.302 Vor allem war aber das Mandat der UNTAES inhaltlich klar und von vornherein mit einem realistischen Endziel versehen.303 Geplant war nicht der staatliche Wiederaufbau in toto, sondern lediglich eine kurze, übergangsweise Verwaltung mit ersten einleitenden Maßnahmen zur Rekonstruktion und Anpassung bestehender Institutionen an das kroatische System. Insofern bestehen zwischen den UN-Verwaltungen Ostslawoniens und des Kosovo trotz geographisch Nähe erhebliche Unterschiede. L. Die UN-Übergangsverwaltung im Kosovo (seit 1999) Die UN Interim Administration Mission in Kosovo (UNMIK) ist ebenfalls eine Folge des Jugoslawienkonflikts der neunziger Jahre und das erste Beispiel für eine Gebietsverwaltung gegen den Willen des Territorialherrn.304 Die heutige Provinz Kosovo305 ist ein in etwa rhombenförmiges Gebiet von ca. 11.000 km2, welches im Norden und Osten an Serbien, im Westen an Montenegro und Albanien und im Süden an Mazedonien grenzt.306 Wirtschaftlich gehört das Gebiet zu den ärmsten 301 Siehe statt vieler die Präambel-§§ der Resolutionen S/RES/1023 (1995) vom 22.11.1995 und S/RES/1120 (1997) vom 12.7.1997. 302 Seine Nord-Süd-Ausdehnung beträgt etwa 140 km, zwischen seiner östlichen und seiner westlichen Grenze liegen etwa 30 km (Šimunović, Int’l. PK (Cass) 6/1 (1999), 126 (136). UN-DPKO, UNTAES - Lessons Learned (1999), § 11; Šimunović, Int’l. PK (Cass) 6/1 (1999), 126 (128); Chesterman, You, The People (2004), S. 71. 303 304 Die Einwilligung Rest-Jugoslawiens erfolgte erst unter dem Eindruck wochenlanger NATOLuftangriffe. Die andauernde Ablehnung einer internationalen Verwaltung des Kosovo macht die Stellungnahme des jugoslawischen Vertreters anlässlich der Verabschiedung der Resolution 1244 (1999) deutlich: „I must note with regret that the draft resolution proposed by the G-8 is yet another attempt (...) at legalizing post festum the brutal aggression to which the Federal Republic of Yugoslavia has been exposed in the last two and a half months. (...) The solutions which are being tried to be imposed on the Federal Republic of Yugoslavia set a dangerous precedent for the international community.“ (UN-Doc. S/PV.4011, teilw. abgedr. bei Milano, EJIL 14 (2003), 999 [1008 Fn. 45]). 305 Die albanische Bezeichnung lautet Kosova. Im Folgenden wird bei geographischen Bezeichnungen die bekanntere, d.h. in der Regel die serbische Schreibweise, verwendet. Eine Karte findet sich bei O’Neill, Kosovo (2002), S. 12, und auf der Internetseite der UNMIK unter <www.unmikonline.org/maps.htm>. 306 58 Regionen Europas, verfügt aber in der Nähe der Stadt Mitrovica über Blei- und Silbervorkommen.307 Schätzungen gehen in den Jahren 1998-99 von einer Bevölkerung zwischen 1,8 und 2 Millionen aus, von den etwa 80-90% Albaner waren.308 I. Historischer Hintergrund Das Gebiet ist seit Jahrhunderten Schauplatz von Auseinandersetzungen, da sowohl Albaner wie Serben es im Rahmen ihrer jeweiligen Geschichtsschreibung als nationales Kerngebiet beanspruchen.309 Die Niederlage gegen die Türken auf dem Amselfeld (Kosovo Polje) im Jahre 1389 und einige bedeutende serbisch-orthodoxe Klöster auf seinem Territorium ließen das Kosovo im serbischen Nationalmythos zur „Wiege des Serbentums“ werden, obschon Serben seit Ende des 17. Jahrhunderts nur den kleineren Teil der Bevölkerung bildeten.310 Wie Serbien lange Zeit Teil des osmanischen Reiches, wurde das Kosovo nach dem ersten Balkan-Krieg 1913 Serbien zugeschlagen, welches alsbald mit einer aggressiven Serbifizierungspolitk begann und so den serbischen Bevölkerungsanteil bis 1927 auf 38% anheben konnte.311 Nach dem 2. Weltkrieg genoss das Kosovo nach einer weiteren Phase der Repression eine zunehmende Autonomie als Provinz der jugoslawischen Teilrepublik Serbien.312 Nicht zuletzt aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage des Kosovo sank der serbische Bevölkerungsanteil im Kosovo bis 1981 wieder auf 307 Zum Minenkomplex von Trepca und seiner Rolle im Konflikt um die noch immer geteilte Stadt Mitrovica siehe ICG, Trepca (1999). 308 ICG, Reality Demands (2000), S. 48. Wodarz, Kosovo-Konflikt (2002), S. 24, nennt als Ergebnis der letzten Volkszählung von 1981 77,4% Albaner und 13,2% Serben. 309 Wodarz, Kosovo-Konflikt (2002), S. 24 f. Für eine historische Abhandlung der Geschichte des Kosovo bis 1998 siehe Malcolm, Kosovo (1998). 310 Wodarz, Kosovo-Konflikt (2002), S. 26. 311 Malcolm, Kosovo (1998), S. 282; Wodarz, Kosovo-Konflikt (2002), S. 29. Ausführlich zur Eroberung des Kosovo durch serbische Truppen 1912 und von ihnen begangenen Massakern an Kosovo-Albanern, sowie zur nachfolgenden Serbifizierungspolitik im Kosovo Malcolm, Kosovo (1998), S. 239-289. 312 Ausführlicher zu den Entwicklungen innerhalb der Volksrepublik Jugoslawien Malcolm, Kosovo (1998), S. 315-356; Stahn, Leiden JIL 14 (2001), 531 (532-534); und Wodarz, Kosovo-Konflikt (2002), S. 34-39. 59 13%.313 1989 hob Serbien unter seinem großserbisch-nationalistischen Präsidenten Slobodan Milosevic die Autonomie des Kosovo auf und stellte es 1990 unter serbische Zwangsverwaltung.314 Diese war verbunden mit einer weitgehenden Verdrängung der albanischen Bewohner aus dem öffentlichen Leben. Diese reagierten zunächst mit passivem Widerstand und der Einrichtung paralleler Strukturen.315 Nachdem die Kosovo-Frage im Rahmen der Friedensverhandlungen von Dayton ausgeklammert worden war, war der gewaltlose Widerstand in den Augen vieler Kosovo-Albaner diskreditiert. Unter dem Dach der kosovarischen Befreiungsarmee (UÇK) kam es zu bewaffneten Angriffen auf serbische Sicherheitskräfte, auf die diese mit großer Brutalität auch gegenüber der Zivilbevölkerung reagierten.316 Trotz verschiedener internationaler Vermittlungsbemühungen, der Verhängung eines Waffenembargos317, einer Beobachtermission der OSZE318 und der Drohung mit NATO-Luftangriffen verbesserte sich die Situation nicht.319 Es kam zu zahlreichen zivilen Opfern und immer größeren Flüchtlingsbewegungen in die Nachbarländer Albanien, Bosnien und Mazedonien.320 Sie waren Teil einer gezielten Kampagne der Vertreibung und Wodarz, Kosovo-Konflikt (2002), S. 38 f.; Kokott, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the Int’l. Community (2002), S. 4. 313 314 Lagrange, AFDI 45 (1999), 335 (335); Wodarz, Kosovo-Konflikt (2002), S. 43-45. ICG, Reality Demands (2000), S. 49; Kokott, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the Int’l. Community (2002), S. 4-6. 315 316 Lagrange, AFDI 45 (1999), 335 (336); Seidel, AVR 41 (2003), 449 (451 f.). 317 § 8 der S/RES/1160 (1998) vom 31.3.1998. 318 Vom Sicherheitsrat durch die Resolution 1203 (1998) vom 24.10.1998 ausdrücklich begrüßt. Der Abschlussbericht der OSZE, As Seen, As Told – Bd. I (1999), ist im Internet über die Suchfunktion auf der Seite <www.osce.org/kosovo/documents.html> abrufbar. Zur Tätigkeit der OSZE im Kosovo bis zum Sommer 1999 siehe auch Czaplinski, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the Int’l. Community (2002), S. 37-44. 319 Siehe den Bericht S/1998/834 des Generalsekretärs vom 4.9.1998. Zu den Entwicklungen von Anfang 1998 bis Anfang 1999 ausführlicher ICG, Reality Demands (2000), S. 60-213, und insbesondere der Bericht der OSZE, As Seen, As Told – Bd. I (1999). 320 Siehe Präambel-§ 7 S/RES/1199 (1998) vom 23.9.1998. Siehe auch die Aufstellung der begangenen Taten und ihre rechtliche Bewertung bei ICG, Reality Demands (2000), S. 212-249. 60 des Terrors seitens der serbischen Sicherheitskräfte.321 Im Februar 1999 lud die Balkan-Kontaktgruppe322 Vertreter der Kosovo-Albaner und Restjugoslawiens zu einer Konferenz nach Rambouillet, um über eine friedliche Lösung zu verhandeln.323 Der von der Balkan-Kontaktgruppe vorgelegte Plan sah den Abzug der meisten serbischen Sicherheitskräfte und eine sehr weitgehende Autonomie des Kosovo innerhalb Jugoslawiens vor. Nach drei Jahren sollten die Einwohner der Provinz in einer Volksabstimmung über ihre Unabhängigkeit entscheiden. Die Umsetzung des Plans sollte eine internationale militärische Präsenz vor Ort überwachen. Nachdem auch nach einer Folgekonferenz in Paris lediglich die Kosovo-Albaner dem Plan zugestimmt hatten, begann die NATO am 24. März 1999 mit den angedrohten Luftangriffen, um die Belgrader Regierung zur Zustimmung zu dem in Rambouillet ausgehandelten Abkommen zu zwingen.324 Während der elf Wochen dauernden Luftschläge kam es zu schweren Kämpfen zwischen bewaffneten UÇK-Anhängern und serbischen Sicherheitskräften, die erhebliche Flüchtlingsströme auslösten. Die genauen Zahlen der insgesamt getöteten und vertriebenen Einwohner sind weiterhin unklar. Es ist wohl von etwa 800.000 Vertriebenen und weiteren 600.000 Binnenflüchtlingen (internally displaced persons) und vermutlich weniger als 10.000 Toten auszugehen.325 Am 3. Juni 1999 akzeptierten die jugoslawische Regierung und das serbische Parlament schließlich einen ihnen vom EU-Sonderbeauftragten Ahtisaari und dem 321 OSZE, As Seen, As Told – Bd. I (1999), S. 11; Oeter, in: FS Fleck (2004), S. 444 f. 322 Bestehend aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Russland und den USA. Ausführlich zu den Verhandlungen Decaux, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the Int’l. Community (2002), S. 45-64; und Wodarz, Kosovo-Konflikt (2002), S. 57-59. Einzelheiten des Friedensplans auch bei Stahn, Leiden JIL 14 (2001), 531 (536-538). Eine Schilderung aus der Perspektive einer Teilnehmerin findet sich bei Albright, Memoir (2003), S. 397-407. 323 324 Dieser insgesamt 11 Wochen dauernde NATO-Einsatz erfolgte ohne UN-Mandat. Ausführlich zur Frage seiner Rechtmäßigkeit Cassese, EJIL 10 (1999), 23-30; Simma, EJIL 10 (1999), 1-22; Suy, Leiden J.I.L. 13 (2000), 193-205; Wodarz, Kosovo-Konflikt (2002), S. 63-150; Seidel, AVR 41 (2003), 449 (452-458); Zygojannis, Die Staatengemeinschaft und das Kosovo (2003), S. 30-124; sowie die Kurzbeiträge verschiedener namhafter Völkerrechtler in AJIL 93 (1999), 824-862, und ICLQ 49 (2000), 878-943. Weitere Nachweise bei Oeter, in: FS Fleck (2004), S. 445. 325 O’Neill, Kosovo (2002), S. 15 u. 32 f. 61 russischen Sonderbeauftragten Tschernomyrdin vorgeschlagenen Friedensplan.326 Dieser sah die Einstellung der Kampfhandlungen, die Rückkehrmöglichkeit aller Flüchtlinge, einen umgehenden Abzug aller jugoslawischen Sicherheitskräfte und den Einsatz einer internationalen Friedenstruppe unter erheblicher Beteiligung der NATO vor.327 Ferner sollte durch den Sicherheitsrat eine internationale Zivilverwaltung eingesetzt werden, welche das Gebiet übergangsweise regieren und provisorische Selbstverwaltungsorgane der Kosovaren einrichten sollte.328 Das Gebiet sollte zunächst Teil der Bundesrepublik Jugoslawien bleiben, aber substantielle Autonomie genießen und sich in bedeutendem Umfang selbst verwalten dürfen.329 Dieser Plan wurde vom Sicherheitsrat mit Verabschiedung der Resolution 1244 am 10. Juni 1999 in die Tat umgesetzt.330 II. Das Mandat der UNMIK Resolution 1244 (1999) unterscheidet zwischen einer militärischen und einer zivilen Komponente. Es besteht keine einheitliche Führung zwischen beiden. Sie werden lediglich aufgefordert, eng miteinander zu kooperieren.331 Autorisiert durch den Sicherheitsrat, begann die Kosovo Force (KFOR) unter NATO-Oberkommando am 326 Siehe den Brief des ständigen Vertreters Deutschlands bei den UN vom 7.6.1999 (S/1999/649) mit Friedensplan im Annex. 327 Details der internationalen Militärpräsenz Kosovo Force (KFOR) und des jugoslawischen Rückzugs aus dem Kosovo regelte ein zwischen NATO und den Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien und der Republik Serbien am 9.6.1999 im mazedonischen Kumanovo vereinbartes militärtechnisches Abkommen (Military-technical agreement, abgedr. in S/1999/682 Annex vom 15.6.1999). 328 Die zentrale Rolle des UN war nach Oeter, in: FS Fleck (2004), S. 447, der politische Preis für die Zustimmung des Sicherheitsrates, insbesondere seiner ständigen Mitglieder China und Russland. Die in Präambel-§ 11 S/RES/1244 (1999) übernommene Formulierung lautet: „substantial autonomy and meaningful self-administration for Kosovo“. Gleichzeitig wurde aber die Zugehörigkeit zur Bundesrepublik Jugoslawien betont (vgl. auch Präambel-§ 10 S/RES/1244 (1999)). Durch diese von O’Neill, Kosovo (2002), S. 30, scherzhaft als „mother of all compromises“ bezeichnete Formulierung wurde die Kernfrage des Konflikts, der künftige völkerrechtliche Status des Kosovo, bewusst offen gelassen. 329 330 Kritisch Lagrange, AFDI 45 (1999), 335 (339). Für eine rechtliche Analyse dieser Resolution siehe unten 3.Kp. C.IV.2. 331 Siehe §§ 5 u. 6 S/RES/1244 (1999). 62 12.6.1999 mit der Verlegung ins Kosovo.332 Dagegen verblieb die Führung der zivilen Komponente (UNMIK) bei den Vereinten Nationen. Unter Leitung eines vom Generalsekretär zu benennenden Sondergesandten (SRSG) wurde sie mit der übergangsweisen Verwaltung des Krisengebietes und dem Aufbau lokaler Selbstverwaltungsorgane betraut.333 Mit der Befugnis zur Verwaltung des Gebietes übertrug der Sicherheitsrat UNMIK alle legislativen, exekutiven und judikativen Befugnisse auf dem Gebiet des Kosovo.334 Mit Ausnahme der militärischen Verteidigung wurde die UN mithin Inhaberin aller staatlichen Gewalt in der Provinz und musste diese zunächst weitgehend selbst ausüben, ohne wie etwa in Kambodscha oder Ostslavonien auf bestehende nationale Institutionen zurückgreifen zu können.335 Zur Verwaltung des Gebietes sollte der Generalsekretär auf die Hilfe anderer internationaler Organisationen (gemeint waren OSZE und EU) zurückgreifen.336 Ziel war es, alle relevanten internationalen Akteure – zumindest die zivilen – in eine einheitliche Führungsstruktur einzubinden und so eine optimale Nutzung aller vorhandenen Resourcen zu ermöglichen.337 Dies war eine der Lehren aus dem oft unkoordinierten und teilweise redundanten Nebeneinander internationaler Institutionen in Bosnien.338 Zu diesem Zweck wurde UNMIK in vier Abteilungen („Säulen“) geteilt, die jeweils unter Leitung eines stellvertretenden Sondergesandten 332 Siehe § 7 S/RES/1244 (1999). Gemäß § 9 S/RES/1244 (1999) war KFOR insbesondere mit der Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und dem Schutz der Bevölkerung und der internationalen Helfer betraut. Zur Anfangszeit der KFOR im Kosovo siehe das Tagebuch ihres zweiten Kommandeurs, General Reinhardt, KFOR (2002). 333 Siehe §§ 10 u. 11 S/RES/1244 (1999). 334 Brand, Nordic JIL 70 (2001), 461 (463). Explizit stellte dies Sec. 1.1 der UNMIK-Verordnung 1999/1 vom 25.7.1999 fest (UN Dokumentennr.: UNMIK/REG/1999/1). Alle Verordnungen sind von der Internetseite der UNMIK unter <www.unmikonline.org/regulations/index.htm> abrufbar. Oeter, in: FS Fleck (2004), S. 448, spricht von einer „Herkulesaufgabe“, auf welche die UN völlig unvorbereitet war (ebenda, S. 447). 335 336 § 10 S/RES/1244 (1999). 337 Siehe §§ 3 u. 5 des Berichts des Generalsekretärs zur Organisation der UNMIK vom 12.6.1999 (S/1999/672). Ausführlich zum Aufbau der UNMIK und ihrer Tätigkeitsfelder Zygojannis, Die Staatengemeinschaft und das Kosovo (2003), S. 173-207. 338 Garcia, RGDIP 104 (2000), 61 (63); O’Neill, Kosovo (2002). S. 37. 63 standen.339 Die erste Säule, humanitäre Angelegenheiten und Flüchtlingsrückführung, wurde vom UNHCR gestellt und sollte u.a. die humanitäre Hilfe koordinieren. Die zweite Säule umfasste die klassischen Aufgaben staatlicher Verwaltung und wurde von der UN selbst übernommen.340 Der Aufbau von Selbstverwaltungsinstitutionen und die Überwachung der Menschenrechtslage war in der dritten Säule der OSZE anvertraut, während die EU in der vierten Säule den wirtschaftlichen Wiederaufbau übernahm. Nach Abschluss der Flüchtlingsrückführung wurde die erste Säule im Jahre 2000 aufgelöst. Stattdessen kam im Mai 2001 eine eigene Säule für Polizei und Justiz hinzu, deren Bestandteile aus der zweiten Säule herausgelöst wurden.341 § 11 lit. (e) der Resolution 1244 (1999) beauftragte UNMIK ferner mit dem Schutz und der Förderung der Menschenrechte im Kosovo. Zu diesem Zweck wies die erste von UNMIK erlassene Verordnung alle Inhaber öffentlicher Ämter und alle in öffentlichem Auftrag tätigen Personen an, die international anerkannten Menschenrechte zu beachten, und verbot jegliche Diskriminierung.342 UNMIK Verordnung 1999/24 vom 12.12.1999 ordnete konkret die Beachtung der in verschiedenen internationalen Instrumenten343 genannten Menschenrechte, ohne allerdings die Instrumente selbst für anwendbar zu erklären.344 Die als Verordnung 2001/9 erlassene provisorische Verfassung für das UN-verwaltete Kosovo verpflichtete die kosovarischen Selbstverwaltungsinstitutionen (nicht die UNMIK), 339 Siehe § 5 und den Annex des Berichts S/1999/672. 340 Ihr Leiter war bis Sommer 2002 der frühere Stadtkämmerer von Frankfurt/M, Tom Koenigs. 341 Brand, Nordic JIL 70 (2001), 461 (464). Zu Organisation und Tätigkeit dieser Säule im Bereich der Strafjustiz siehe den Bericht von Naarden/Locke, AJIL 98 (2004), 727-743. 342 Sec. 2 UNMIK/REG/1999/1 vom 25.7.1999. 343 Es handelt sich um die allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die europäische Konvention der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK), den internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbürgR), den internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwirtR), die Anti-Folterkonvention von 1984, das Übereinkommen gegen Rassendiskriminierung von 1965, das Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung von Frauen von 1979 und die Kinderrechtekonvention von 1989. 344 Brand, Nordic JIL 70 (2001), 461 (475 f.). Entsprechend ist auch Sec. 1.3 UNMIK/REG/2000/59 vom 27.10.2000 formuliert: „In exercising their functions, all persons undertaking public duties or holding public office in Kosovo shall observe internationally recognized human rights standards, as reflected in particular in (…)” (Hervorhebung durch den Verfasser). 64 die Europäische Charta für Regional- und Minderheitensprachen und die europäische Rahmenkonvention für den Schutz nationaler Minderheiten zu beachten.345 Die Beobachtung der Menschenrechtslage im Kosovo ist Aufgabe der OSZE-Säule, die regelmäßig entsprechende Berichte veröffentlicht.346 Zum Schutz der Menschenrechte schuf UNMIK ferner 2000 unter der Verantwortung der OSZE eine unabhängige Ombudsmann-Institution, die entsprechenden Beschwerden der Einwohner des Kosovo nachgehen sollte.347 Mit dem Abzug der serbischen Sicherheitskräfte kam es zu einer massiven Fluchtbewegung serbischer Einwohner aus dem Kosovo, die auch durch nunmehr einsetzende anti-serbische Ausschreitungen der Kosovo-Albaner bedingt war.348 Aufgrund der weitgehenden Serbisierung des öffentlichen Lebens seit 1989 führte dieser Exodus zum völligen Zusammenbruch der staatlichen Infrastruktur im Kosovo. Sofern im Untergrund kosovo-albanische Parallelstrukturen bestanden hatten, waren diese oft nicht hinreichend ausgebildet, um den Verlust zu ersetzen. NATO-Luftangriffe, vor allem aber serbische Sicherheitskräfte hatten zudem die wirtschaftliche Infrastruktur des ohnehin sehr armen Gebietes weitgehend zerstört. Der staatliche Wiederaufbau der UNMIK musste daher vielfach „nahe Null“ beginnen. Hinzu kam, dass die UN oftmals nicht über das nötige Fachwissen verfügte, um ein Gebiet dieser Größe selbst zu verwalten, und die Rekrutierung von Fachpersonal schwierig und langwierig war.349 In diese Lücke stießen kosovo- 345 Siehe Art. 3.2 des sog. Constitutional Framework, UNMIK/REG/2001/9 vom 15.5.2001. (abrufbar auf der Seite <www.unmikonline.org/regulations/index_reg_2001.htm>). Lediglich Art. 3.1 UNMIK/REG/2001/9, dem zufolge alle Einwohner ohne jegliche Diskriminierung Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen sollten, kann als auch die UNMIK selbst verpflichtend ausgelegt werden. Ausführlicher zum Constitutional Framework Stahn, Leiden JIL 14 (2001), 531 (542-560). 346 Abrufbar unter <www.osce.org/kosovo/documents.html>. 347 UNMIK/REG/2000/38 vom 30.6.2000, ferner Kapitel 10 des Constitutional Framework (UNMIK/REG/2001/9). Siehe auch die Internetpräsenz der Ombudsperson unter <www.ombudspersonkosovo.org>. Kritisch Brand, Nordic JIL 70 (2001), 461 (482-484), der die Ombudsmann-Institution mangels Möglichkeit, Rechtsverletzungen abzuhelfen, als unzureichend ansieht. O’Neill, Kosovo (2002), S. 55 u. 60-63. Ausführlich zu den vornehmlich von Kosovo-Albanern begangenen Menschenrechtsverletzungen zwischen Juni und Oktober 1999 OSCE, As Seen, As Told Bd. II (1999). 348 349 UN, Brahimi-Report (2000), § 127; Garcia, RGDIP 104 (2000), 61 (70); Caplan, New Trusteeship (2002), S. 48 f.; O’Neill, Kosovo (2002), S. 38. 65 albanische Kräfte, die sich so weiter Teile der noch bestehenden staatlichen und wirtschaftlichen Strukturen bemächtigten und später nur schwer von UNMIK wieder verdrängt werden konnten. Seit 1999 hat UNMIK sowohl auf kommunaler wie auf Ebene der Gesamtprovinz Exekutiv- und Legislativorgane geschaffen und normale Verwaltungstätigkeit entsprechend den Vorgaben der Resolution 1244 (1999) weitgehend diesen übertragen.350 Erfolgreich wurden mehrere Wahlen auf lokaler wie auf Provinzebene abgehalten. Ferner wurde ein Justizsystem aufgebaut, das indes teilweise immer noch Mängel aufweist.351 Auch die wirtschaftliche Lage ist weiterhin schwierig. Zur Privatisierung der ehemals kollektivistischen Wirtschaft wurde nach deutschem Vorbild eine Kosovo-Treuhand-Agentur eingerichtet.352 Im Übrigen beschränkt sich die Aufgabe der UNMIK zunehmend auf Überwachung und finanzielle Unterstützung der kosovarischen Institutionen. Erhebliche Defizite bestehen weiterhin in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit (rule of law) und Minderheitenrechte. Beide bestehen zwar auf dem Papier, lassen sich aber in der Praxis nur schwer durchsetzen.353 Eine Ursache sind die noch immer bestehenden ethnischen Spannungen. Diese entluden sich seitens der Kosovo-Albaner im Frühjahr 2004 in mehrtägigen, pogromartigen Unruhen, die von UNMIK und KFOR nur mühsam unter Kontrolle gebracht werden konnten.354 Bei diesen wurden 19 Menschen, insbesondere Serben 350 Siehe § 11 lit. (d) S/RES/1244 (1999). Zur Beteiligung der Bevölkerung an der Regierung im ersten Jahr siehe Brand, Nordic JIL 70 (2001), 461 (467-469). Ausführlich zur Arbeit der UNMIK in den Anfangsjahren O’Neill, Kosovo (2002), S. 51-135. Siehe ferner die vierteljährlichen Berichte des UN-Generalsekretärs (zuletzt S/2005/335 vom 23.5.2005). 351 Siehe die periodischen Berichte der OMIK über die Strafjustiz, insbesondere OMIK, 1. Criminal Justice Review (2000) und zuletzt OMIK, 6. Criminal Justice Review (2004); ferner Brand, Nordic JIL 70 (2001), 461 (480). 352 Kosovo Trust Agency, eingerichtet durch UNMIK/REG/2002/12 vom 13.6.2002. Siehe auch ihre Internetpräsenz unter <www.kta-kosovo.org>, ferner Rapp, VN 51 (2003), 167-171; und zur völkerrechtlichen Zulässigkeit der Privatisierungsmaßnahmen Hobe/Griebel, in: FS Ress (2005), S. 141-150. 353 Siehe beispielsweise OMIK, 6. Criminal Justice Review (2004), 14 (zur Strafjustiz). 354 Ausführlich zu den Unruhen und ihren Ursachen der Bericht der ICG, Collapse in Kosovo (2004), sowie Human Rights Watch, Failure to Protect (2004). 66 und Angehörige anderer Minderheiten, getötet und weitere knapp 900 verletzt. Über 700 Häuser und zahlreiche serbische Kirchen und Klöster wurden verwüstet oder zerstört und etwa 4.500 Nicht-Albaner aus ihren Wohnorten vertrieben.355 Auch die Stadt Mitrovica ist nach wie vor in einen albanischen und einen von Jugoslawien unterstützten serbischen Teil geteilt.356 Ein wesentlicher Grund für die anhaltenden ethnischen Konflikte ist die noch immer von der internationalen Gemeinschaft offen gehaltene Statusfrage.357 Der zugrunde liegende Streit ist damit lediglich eingefroren, nicht aber gelöst, und bestimmt damit weiter das politische Geschehen im Kosovo. III. Bewertung In der Entwicklung der Gebietsverwaltung durch die Vereinten Nationen ist UNMIK einerseits lediglich eine logische Fortsetzung der bisherigen Entwicklung, andererseits aber auch ein qualitativer und quantitativer Meilenstein.358 Formal hatte die UN zwar bereits in Ostslavonien die gesamte Verwaltungsmacht über ein Gebiet übernommen.359 Tatsächlich aber diente UNTAES ähnlich wie die Völkerbundsverwaltung von Laeticia360 und die UN-Verwaltung von WestNeuguinea361 in erster Linie dazu, einen geordneten Übergang der Verwaltungsmacht von einer Partei auf die andere sicherzustellen. Im Kosovo liegt der tatsächliche Schwerpunkt dagegen auf dem institutionellen und wirtschaftlichen Wiederaufbau des Landes, wobei UNMIK nicht nur den Übergang von einem Kriegsgebiet zu einem stabilen Staatswesen, sondern auch den vom Sozialismus zu Demokratie und freier Markwirtschaft bewerkstelligen muss. Gemessen an diesen Herausforderungen und der bis dato fehlenden Erfahrung der UN mit Gebietsverwaltungen dieser 355 ICG, Collapse in Kosovo (2004), S. 1. 356 Speziell zur Lage in der Stadt Mitrovica siehe ICG, Division in Mitrovica (2002). 357 Bugajski u.a., Final Status (2003), S. 2. Zur Statusfrage und seiner ethnischen Komponente siehe auch ICG, Kosovo Roadmap I (2002) und ICG, Ethnic Dilemma (2003). 358 Garcia, RGDIP 104 (2000), 61 (62). Zustimmend in Bezug auf den Umfang der tatsächlichen Aufgaben auch Wilde, ILSA J.I.&C.L. 9 (2003), 391 (396). 359 Siehe dazu oben 2.Kp. K. 360 Siehe oben 2.Kp. A.II. 361 Zur UNTEA siehe oben 2.Kp. F. 67 Größenordnung ist UNMIK bislang ein Erfolg. Verbunden mit dem weiterhin unklaren Endstatus des Gebietes362 zeigt UNMIK den Vereinten Nationen zumindest in ihrer jetzigen organisatorischen Verfassung die Grenzen ihrer Kapazitäten auf. M. Die UN-Übergangsverwaltung in Osttimor (1999-2002) Nur wenige Monate nach der Einrichtung der Übergangsverwaltung im Kosovo richteten die Vereinten Nationen in Osttimor eine weitere UN-Gebietsverwaltung ein.363 Gegenüber UNMIK stellt die United Nations Transitional Administration in East Timor (UNTAET) eine weitere Steigerung der UN-Gebietsverwaltungstätigkeit dar, da UNTAET nicht nur die zivile, sondern auch die militärische Komponente des internationalen Engagements beinhaltet. Die Insel Timor liegt in Südostasien, etwa 500 km nordwestlich von Australien und ist die östlichste Insel der kleinen SundaInselgruppe.364 Osttimor ist der etwa 15.000 km2 große östliche Teil der Insel und verfügt über einer Einwohnerzahl zwischen 850.000 und 1 Million.365 Osttimor zählt nach wie vor zu den ärmsten Regionen der Welt.366 I. Historischer Hintergrund Seit 400 Jahren portugiesische Kolonie,367 erklärte Osttimor sich am 28.11.1975 für 362 Zur Frage des Endstatus siehe aus jüngerer Zeit Johanson, Nordic JIL 73 (2004), 535-549; ICG, Kosovo: Final Status (2005); Muharremi, Treuhandverwaltung (2005), S. 142-150; ferner Carlucci, The War We Haven’t Finished, Op-ed, NYT vom 22.2.2005. 363 S/RES/1272 (1999) vom 25.10.1999. Zu UNTAET und ihrer Vorgeschichte siehe die Internetseite der UN unter <www.un.org/peace/etimor/etimor.htm>. Siehe ferner Goy, AFDI 45 (1999), 203-225; Cahin, AFDI 46 (2000), 139-175; Chopra, Survival 42 (2000), 27-39; Clark, Temp. I.&C.L.J. 14 (2000), 75-88; de Coning, Int’l. PK (Kl.) 6 (2000), 83-90; Purnawanty, Temp. I.&C.L.J. 14 (2000), 61-74; Rothert, Columbia JTL 39 (2000), 257 -282; Beauvais, NYU JIL&P 33 (2000/01), 1101-1178; Kondoch, JC&SL 6 (2001), 245-265; Morrow/White, Australian YBIL 22 (2002), 1-45; und Abline, RGDIP 107 (2003), 349-375. 364 Abline, RGDIP 107 (2003), 349 (350). 365 Eine Karte des Gebietes ist abgedruck bei Guilhaudis, AFDI 23 (1977), 307 (308), ferner abrufbar unter <www.un.org/Depts/Cartographic/map/dpko/unmiset.pdf>. 366 Beauvais, NYU JIL&P 33 (2000/01), 1101 (1102). 367 Diese portugiesische Kolonialvergangenheit ist eine der wesentlichen Gründe für die politische Eigenständigkeit Osttimors gegenüber dem indonesischen Westteil der Insel und den ebenfalls indonesischen Nachbarinseln, die alle Teil des niederländischen Kolonialreiches waren. Siehe dazu Chesterman, You, The People (2004), S. 136 Fn. 34. 68 unabhängig. Wenige Tage später wurde das Gebiet von Indonesien militärisch besetzt und 1976 formell als 27. Provinz der Republik Indonesien eingegliedert.368 Diese Annektion wurde von einigen Staaten anerkannt369, zumeist aber als Verstoß gegen das Selbstbestimmungsrecht der Osttimoresen verurteilt. Auch der Sicherheitsrat und die Generalversammlung verurteilten die Invasion scharf und forderten den Rückzug Indonesiens.370 Die Vereinten Nationen verweigerten die Anerkennung indonesischer Souveränität über Osttimor und führten das Gebiet bis 2002 weiter auf der Liste der nicht-selbstverwalteten Gebiete.371 Letztlich bestand international aber keine Bereitschaft, Indonesien zu einem Rückzug zu zwingen,372 obwohl das Thema Osttimor weiter von den Vereinten Nationen behandelt wurde.373 Mitte der neunziger Jahre brachte Portugal mit einer Klage gegen Australien den Fall vor den Internationalen Gerichtshof.374 Dieser lehnte eine Entscheidung in der Sache aufgrund der fehlenden, rechtlich aber erforderlichen Beteiligung Indonesiens ab, stellte aber fest, dass Osttimor für beide Parteien, Portugal und Australien, weiterhin als nicht-selbstverwaltetes Gebiet zu behandeln sei,375 und untergrub so weiter die Legitimität der indonesischen Herrschaft.376 368 Einzelheiten des geschichtlichen Ablaufs bei Guilhaudis, AFDI 23 (1977), 307-324, Clark, Temp. I.&C.L.J. 14 (2000), 75-81; Schlicher/Flor, FW 78 (2003), 251-279; und Franz, Osttimor (2005), S. 456. Für eine pro-indonesische Sichtweise siehe Purnawanty, Temp. I.&C.L.J. 14 (2000), 61-66. 369 Stahn, MP-UNYB 5 (2001), 105 (111) nennt u.a. Australien, Indien, Iran, Irak, Malaysien, die Philippinen, Saudi Arabien, Singapur und Thailand. 370 Siehe S/RES/384 (1975) vom 22.12.1975 und S/RES/389 (1976) vom 22.4.1976, ferner die Generalversammlungsresolution A/RES/3485 (XXX) vom 12.12.1975. 371 Clark, Temp. I.&C.L.J. 14 (2000), 75 (82). Bis 1999 wurde Portugal, danach UNTAET als Verwaltungsmacht genannt (siehe Nachweise bei Stahn, MP-UNYB 5 (2001), 105 (115)). Mit Resolution A/RES/56/282 vom 1.5.2002 beschloss die Generalversammlung, Osttimor am Tag seiner Unabhängigkeit von der Liste zu nehmen. 372 Clark, Temp. I.&C.L.J. 14 (2000), 75 (82); Abline, RGDIP 107 (2003), 349 (351). 373 Bis 1982 in der jährlichen Sitzung der Generalversammlung, danach durch den Sonderausschuss für Dekolonialisierungsfragen (geschaffen zur Umsetzung der Resolution A/RES/1541 (XV) von 1961). 374 IGH, Case concerning East Timor (Portugal v. Australia), Urteil vom 30.6.1995, ICJ-Rep. 1995, 90-106 (insbes. §§ 33-35). Zu diesem Urteil siehe Thouvenin, AFDI 41 (1995), 328-353; Scobbie/Drew, Leiden J.I.L. 9 (1996), 185-211; Grant, Vanderbilt J.T.L. 33 (2000), 273 (298-310). 375 IGH, East Timor Case, ICJ-Rep. 1995, 90 (103 § 33). 376 Clark, Temp. I.&C.L.J. 14 (2000), 75 (83). 69 Auch das Ende der autoritären Regierung Suhartos in Indonesien brachte Bewegung in die festgefahrene Situation, und so kam es schließlich am 5. Mai 1999 zu einer Einigung zwischen Portugal, Indonesien und den als Vermittler agierenden Vereinten Nationen.377 Nach dem sog. Tripartite Agreement sollten die Osttimoresen in einer von der UN organisierten Volksabstimmung über einen erweiterten Autonomiestatus Osttimors innerhalb Indonesiens entscheiden.378 Eine Ablehnung dieses Vorschlags sollte als Votum für die Unabhängigkeit Osttimors gewertet werden.379 In diesem Fall sollte die UN die Verwaltung des Gebietes übernehmen und es auf seine Selbständigkeit vorbereiten.380 Zur Durchführung des Referendums rief der Sicherheitsrat die UN-Mission UNAMET ins Leben,381 für die Sicherheit während der Abstimmung blieb aber allein Indonesien zuständig.382 Nach einigen Verschiebungen aufgrund der unsicheren Lage stimmten die Osttimoresen am 30. August 1999 mit großer Mehrheit für die Unabhängigkeit ihres Landes.383 In der Folge kam es zu einer gezielten Terrorkampagne pro-indonesischer Milizen, die mit erheblicher Unterstützung der indonesischen Streitkräfte systematisch die 377 Im Rahmen des Tripartite Agreement vom 5.5.1999 wurden insgesamt drei verschiedene Abkommen geschlossen. Sie sind abgedruckt in den Anhängen I-III des Berichts A/53/951 – S/1999/513 vom 5.5.1999. Der Sicherheitsrat begrüßte die Einigung in S/RES/1236 (1999) vom 7.5.1999. Zu Verhandlung und Abschluss der Abkommen siehe auch §§ 1-13 des Berichts A/54/654 des Generalsekretärs vom 13.12.1999. 378 Das vorgeschlagene Autonomiestatut (constitutional framework for a special autonomy for East Timor) ist abgedr. als Appendix zu Anhang I des Bericht A/53/951 – S/1999/513. Die Einzelheiten der Volksabstimmung sind in den beiden anderen, von allen drei Parteien unterzeichneten Teilen des Tripartite Agreement geregelt (abgedruckt als Anhänge II und III des o.g. Berichts). 379 Art. 6 des Abkommens zwischen Portugal und Indonesien vom 5.5.1999 (abgedr. als Annex I des Bericht A/53/951 – S/1999/513). 380 Ebenda. 381 United Nations Mission in East Timor, eingerichtet durch S/RES/1246 (1999) vom 12.6.1999. Zu Planung und Aufbau der UNAMET siehe die Berichte des Generalsekretärs S/1999/595 vom 22.5.1999, S/1999/705 vom 22.6.1999 und §§ 14-20 A/54/654 vom 13.12.1999. Der Sache nach handelte es sich um eine typische Wahlhilfe-Mission der UN. Ausführlich zu UNAMET und ihren rechtlichen Grundlagen Toole, Am.Univ.I.L.R 16 (2000), 199-267. 382 Art. 3 des Abkommens zwischen Portugal und Indonesien vom 5.5.1999 (abgedr. als Annex I des Bericht A/53/951 – S/1999/513). 383 Lt. §§ 30 f. des Berichts A/54/654 des Generalsekretärs vom 13.12.1999 nahmen 98,6% der registrierten Wähler am Referendum teil. 21,5% stimmten für eine Autonomie innerhalb Indonesiens, 78,5% für die Unabhängigkeit Osttimors. Zum Ablauf des Referendums siehe auch de Hoogh, Leiden J.I.L. 13 (2000), 997-1010. 70 Bevölkerung vertrieben und die Infrastruktur des Gebietes zerstörten.384 Etwa 75% der Einwohner wurden vertrieben, ein Großteil von ihnen ins indonesische Westtimor.385 Etwa 70% der physischen Infrastruktur wurde zerstört, es kam zu Massenerschießungen und Massenvergewaltigungen, deren Opfer insbesondere Anhänger der Unabhängigkeitsbewegung und Ortskräfte der UNAMET waren.386 Erst nach indonesischer Zustimmung autorisierte der Sicherheitsrat eine internationale Eingreiftruppe (INTERFET387), der es unter Führung Australiens in kurzer Zeit gelang, das Gebiet zu befrieden.388 Am 25. Oktober 1999 teilte Indonesien dem Generalsekretär mit, dass es das Gesetz über die Eingliederung Osttimors von 1976 aufgehoben habe.389 Am selben Tag erließ der Sicherheitsrat Resolution 1272 (1999), mit der er die UN-Übergangsverwaltung in Osttimor (UNTAET) einrichtete.390 II. Das Mandat der UNTAET Aufgabe der UNTAET war zunächst, entsprechend des Tripartite Agreement die Verwaltung Osttimors zu übernehmen und es auf die Unabhängigkeit vorzubereiten.391 Entsprechend beauftragte der Sicherheitsrat UNTAET mit 384 Siehe §§ 3-5 des Bericht des Generalsekretärs S/1999/1024 vom 4.10.1999, ferner den Bericht einer Sicherheitsratsdelegation vom 14.9.1999 (S/1999/976), der in § 19 ausdrücklich die Beteiligung weiter Teile der indonesischen Polizei- und Militärkräfte bei den Ausschreitungen feststellte. Siehe auch den umfassenden Bericht der Weltbank vom 8.12.1999, Report of the Joint Assessment Mission to East Timor, abrufbar unter <http://pascal.iseg.utl.pt/~cesa/jamsummarytablefinal.pdf>, ferner den gemeinsamen Bericht dreier Sonderberichterstatter der UN-Menschenrechtskommission (A/54/660 vom 10.12.1999). 385 § 14 des Sicherheitsratsberichts S/1999/976. Chopra, Survival 42 (2000), 27 (27); de Coning, Int’l. PK (Kl.) 6 (2000), 83 (83); Abline, RGDIP 107 (2003), 349 (359). 386 387 Intervention Force for East Timor, autorisiert durch S/RES/1264 (1999) vom 15.9.1999. 388 Siehe §§ 2 u. 14 des Berichts S/2000/53 des Generalsekretärs vom 26.1.2000, ferner de Coning, Int’l. PK (Kl.) 6 (2000), 83 (84). Zur politischen Notwendigkeit der indonesischen Zustimmung siehe Abline, RGDIP 107 (2003), 349 (360 f.); zum Rechtsrahmen, in dem INTERFET tätig wurde Kelly (u.a.), IRRC 83 (2001), 101-139. 389 § 39 des Berichts A/54/654 des Generalsekretärs vom 13.12.1999. 390 § 1 S/RES/1272 (1999) vom 25.10.1999. 391 Siehe Art. 6 des Abkommens zwischen Portugal und Indonesien vom 5.5.1999 (abgedr. als Annex I des Bericht A/53/951 – S/1999/513). Beauvais, NYU JIL&P 33 (2000/01), 1101 (1107 f., 1112- 71 Herstellung und Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, der physischen Einrichtung einer effektiven Verwaltung, der Hilfe bei der Einrichtung von Organen der öffentlichen Daseinsfürsorge und der Unterstützung Osttimors beim Aufbau von Selbstverwaltungsstrukturen.392 Zu diesem Zweck stattete der Sicherheitsrat UNTAET explizit mit der geradezu absolutistischen Befugnis aus, alle exekutiven, legislativen und judikativen Befugnisse in Osttimor auszuüben und alle notwendigen Maßnahmen („all necessary measures“) zu ergreifen, um ihr Mandat zu erfüllen.393 Resolution 1272 (1999) teilte UNTAET in eine Zivilverwaltungskomponente, zu der bis zu 1.640 Polizeikräfte gehörten, eine humanitäre und eine bis zu 8.950 Personen starke militärische Komponente.394 Ferner wurde UNTAET angewiesen, die Einwohner Osttimors zu konsultieren und eng mit ihnen zusammen zu arbeiten, um so die Verankerung lokaler demokratischer Strukturen zu fördern.395 Auffallend ist, dass die Menschenrechte der Osttimoresen in der Resolution 1272 (1999) keine ausdrückliche Erwähnung finden. Anders als im Falle der UNMIK396 fehlt ein Passus, der UNTAET zu Schutz und Förderung der Menschenrechte verpflichtet. Ähnlich wie UNMIK legte aber UNTAET in seiner ersten Verordnung die zu beachtenden Menschenrechte fest.397 Bei der Vorbereitung Osttimors auf die Selbständigkeit musste UNTAET nahezu bei 1114) spricht von einem „dual mandate“, dessen beide Teile – Verwaltung eines Krisengebietes einerseits, Unterstützung der Selbstverwaltung dieses Gebietes andererseits – in einem Spannungsverhältnis zueinander stünden. 392 § 2 S/RES/1272 (1999). UNTAET sollte ferner bei der nachhaltigen Entwicklung („sustainable development“) des Gebietes helfen. 393 §§ 1 u. 4 S/RES/1272 (1999). Der Umfang der Befugnisse lässt Abline, RGDIP 107 (2003), 349 (363), von „compétences régaliennes“ sprechen, während Chopra, Survival 42 (2000), 27 (29) deswegen von „UN’s Kingdom of East Timor“ spricht und sie mit den Befugnissen eines vorkonstitutionellen Monarchen vergleicht. 394 § 3 S/RES/1272 (1999). Der Aufbau basierte auf dem vom Generalsekretär im Berichts S/1999/1024 vom 4.10.2004 vorgelegten Plan. 395 § 8 S/RES/1272 (1999). 396 § 11 lit. k) S/RES/1244 (1999) vom 10.6.1999, siehe oben 2.Kp. L.II. 397 UNTAET/REG/1999/1 vom 27.11.1999. 72 Null beginnen, da die vorangegangene Verwüstung des Gebietes und der Abzug seiner indonesisch dominierten Verwaltung alle staatlichen Strukturen beseitigt hatten.398 Es fehlte nicht nur an physischer Infrastruktur, sondern auch an qualifiziertem Personal. Zivilverwaltung und die Organe der Rechtspflege hatten aufgehört zu existieren.399 Dringender aber waren noch die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und die Rückführung der Flüchtlinge.400 In ihren ersten Monaten war UNTAET daher in erster Linie mit der Koordination humanitärer Hilfe beschäftigt.401 Im Februar 2000 zog die multinationale Friedenstruppe INTERFET ab, die bislang die wesentliche Verantwortung für die innere und äußere Sicherheit Osttimors übernommen hatte. Nunmehr war UNTAET bis Mai 2002 allein verantwortlich für das Gebiet. In dieser Zeit baute sie die verschiedenen Ebenen staatlicher Verwaltung sowie das Gerichtswesen auf, organisierte Parlaments- und Präsidentschaftswahlen und half bei der Verabschiedung einer Verfassung.402 Das zunächst bis 31. Januar 2001 beschränkte Mandat der UNTAET wurde vom Sicherheitsrat zweimal verlängert.403 Am 20. Mai 2002 wurde Osttimor in einer feierlichen Zeremonie in die Selbständigkeit entlassen und im September als 191. Staat in die Vereinten Nationen aufgenommen.404 UNTAET selbst wurde durch UNMISET405 abgelöst, welche den Staatsaufbau weiter 398 Beauvais, NYU JIL&P 33 (2000/01), 1101 (1104), und Abline, RGDIP 107 (2003), 349 (352) sprechen vom Aufbau eines Staatswesens „ex nihilo“. 399 § 37 des Berichts A/54/654 des Generalsekretärs vom 13.12.1999. 400 de Coning, Int’l. PK (Kl.) 6 (2000), 83 (85). 401 Ebenda. Auch dies gehörte gemäß § 2 lit. d) S/RES/1272 (1999) zu ihrem Mandat. 402 Zum Aufbau der staatlichen Verwaltung siehe Beauvais, NYU JIL&P 33 (2000/01), 1101 (11361148), zum Aufbau des Gerichtswesens siehe Beauvais, NYU JIL&P 33 (2000/01), 1101 (11531160); Linton, Melbourne ULR 25 (2001), 122-180; Strohmeyer, AJIL 95 (2001), 46-63, ferner Othman, Nordic JIL 72 (2003), 449 (457 f.). Zu den Wahlen siehe Chesterman, You, The People (2004), 231 f. Zur Arbeit der UNTAET insgesamt siehe auch die halbjährlichen Berichte des Generalsekretärs, zuletzt S/2002/432 vom 17.4.2002. 403 S/RES/1338 (2001) vom 31.1.2001 und S/RES/1392 (2002) vom 31.1.2002. 404 Aufnahme durch die Generalversammlung (A/RES/57/3 vom 27.9.2002) auf einstimmige Empfehlung des Sicherheitsrates (S/RES/1414 (2002) vom 23.5.2002). Siehe dazu auch UNYB 2002, 324 f. 405 United Nations Mission of Support in East Timor, eingerichtet durch S/RES/1410 (2002) vom 17.5.2002, letztmalig bis 20.5.2005 verlängert durch S/RES/1573 (2004) vom 16.11.2004. Siehe auch die halbjährlichen Berichte des Generalsekretärs zu UNMISET, zuletzt S/2005/310 vom 12.5.2005. 73 unterstützte, ohne allerdings eigenständig exekutive Verantwortung zu übernehmen. Ferner war UNMISET für die innere und äußere Sicherheit Osttimors verantwortlich, bis die osttimoresische Polizei- und Militärorgane diese Aufgabe unternehmen können.406 UNTAET basiert in vielerlei Hinsicht auf den Erfahrungen, welche die UN bei der Einrichtung der UNMIK gemacht hatte.407 So ist das vom Sicherheitsrat in Resolution 1272 (1999) erteilte Mandat wesentlich präziser. UNTAET wird bereits in der Ermächtigungsresolution explizit die Ausübung aller drei Staatsgewalten zugewiesen, während UNMIK sich dies erst im Verordnungswege quasi selbst bescheinigen musste.408 Auch die Gesetzgebungsbefugnisse des Sondergesandten sind im Falle der UNTAET bereits in der Resolution genannt.409 Die Kontinuität wird auch in personeller Hinsicht deutlich: Der zum Sondergesandten und Leiter der UNTAET berufene Sergio Vieira de Mello hatte zuvor den Aufbau der UNVerwaltung im Kosovo geleitet.410 Wie UNMIK hatte auch UNTAET große Schwierigkeiten, ausreichend geschultes Personal zu rekrutieren.411 Gerade die starke Anlehnung an das Vorbild der UNMIK in der Anfangszeit gab aber auch Anlass zur Kritik. So agierte UNTAET zunächst eher autoritär und beteiligte die Bevölkerung trotz eines ausdrücklichen Auftrags dazu seitens des Sicherheitsrates412 nur in geringem Umfang.413 Dabei war die Bevölkerung – anders 406 Siehe § 2 S/RES/1410 (2002). Zu diesem Zweck wurde UNMISET auf der Grundlage von Kp. VII der Charta ermächtigt, alle erforderlichen Handlungen („all necessary actions“) auszuführen (siehe § 6 S/RES/1410 (2002)). Ausführlicher zu UNMISET Abline, RGDIP 107 (2003), 349 (370-372) und der Abschlussbericht des Generalsekretärs S/2005/310 vom 12.5.2005. UNMISET endete am 20.5.2005 und wurde seinerseits durch das United Nations Office in Timor-Leste (UNOTIL) abgelöst. Diese aus maximal 120 Beratern bestehende politische Mission wurde vom Sicherheitsrat durch S/RES/1599 (2005) vom 28.4.2005 ohne Rückgriff auf Kapitel VII der Charta eingerichtet und soll die osttimoresische Regierung für zunächst ein Jahr bis zum 20.5.2006 beratend zur Seite stehen. 407 Beauvais, NYU JIL&P 33 (2000/01), 1101 (1164 f.); Chesterman, You, The People (2004), S. 63 408 Siehe § 1 S/RES/1272 (1999) einerseits und Sec. 1.1 der UNMIK/REG/1999/1 vom 25.7.1999 andererseits. 409 § 6 S/RES/1272 (1999). 410 Siehe den Brief des Generalsekretärs S/1999/1093 vom 26.10.1999. 411 UN, Brahimi-Report (2000), § 127. 412 § 8 S/RES/1272 (1999). 74 als im Kosovo – politisch zunächst weitgehend homogen, es gab keine sich befehdenden Ethnien und keine aggressiven Parallelstrukturen, gegen die es das Machtmonopol der UNTAET durchzusetzen galt.414 Das dominante Auftreten der UNTAET führte zunächst zu einem erheblichen Vertrauensverlust seitens der Bevölkerung.415 Die Vorgehensweise entsprechend Vereinten Nationen anzupassen.416 brauchten In der geraume Zeit, Beteiligung ihre anderer internationaler Akteure unterschied sich UNTAET ebenfalls von UNMIK. Anders als im Kosovo, wo EU und OSZE wesentliche Aufgaben im Rahmen der Zivilverwaltung übernommen hatten, war die UN in Osttimor weitgehend allein tätig. Dafür wurden IWF und Weltbank früher und umfassender am Wiederaufbau des Landes beteiligt.417 Wesentlicher Schwachpunkt des internationalen Engagements aber war der Umgang mit den umfangreichen Menschenrechtsverletzungen während der indonesischen Besatzungszeit418 sowie im Anschluss an die Bekanntgabe des Referendumsergebnisses im September 1999.419 Indonesien bestand darauf, die tatverdächtigen Indonesier vor ein eigenes Sondergericht zu stellen, und konnte die Einrichtung eines internationalen Gremiums verhindern.420 In Osttimor richtete 413 Chopra, Survival 42 (2000), 27 (insbes. 30-32). Ausführlich zu dem inhärenten Spannungsverhältnis zwischen effektiver internationaler Verwaltung und Beteiligung der Bevölkerung zur Vorbereitung auf die Selbstverwaltung Beauvais, NYU JIL&P 33 (2000/01), 1101-1178 (insbes. 1114-1119). 414 Beauvais, NYU JIL&P 33 (2000/01), 1101 (1165). Zu den politischen Gruppierungen Osttimors in den Jahren 1999 und 2000 a.a.O., 1121-1124. 415 Chopra, Survival 42 (2000), 27 (32). Beauvais, NYU JIL&P 33 (2000/01), 1101 (1124) spricht von einer “Legitimitätskrise”, in der UNTAET sich im April 2000 befunden habe. 416 Chesterman, You, The People (2004), S. 64. Ausführlich zu der sich entwickelnden politischen Einbindung der Osttimoresen in der Frühzeit der UNTAET Beauvais, NYU JIL&P 33 (2000/01), 1101 (1119-1136). 417 Siehe § 5 S/RES/1272 (1999), ferner Chopra, Survival 42 (2000), 27 (29) 418 Schätzungen gehen von etwa 200-250.000 Toten in den 24 Jahren indonesischer Besatzung aus (Nachweise bei Abline, RGDIP 107 (2003), 349 (359)). 419 § 16 S/RES/1272 (1999) verlangt explizit, dass die für die Gewalt nach dem Referendum Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Ausführlich zur mangelhaften juristischen Aufarbeitung dieser Ereignisse Othman, Nordic JIL 72 (2003), 449-482; ferner de Bertodano, JICJ 2 (2004), 910-926. 420 Abline, RGDIP 107 (2003), 349 (369). Die Zuständigkeit des indonesischen „Ad hoc- 75 UNTAET innerhalb des neuerrichteten Gerichtssystems spezielle Kammern für schwere Menschenrechtsverletzungen ein, die zwischen Januar und Oktober 1999 begangen worden waren.421 Diese Kammern waren mit zwei internationalen und einem timoresischen Richter besetzt. Aufgrund der Schwierigkeiten beim Aufbau des Gerichtswesens in Osttimor kam es aber nur zu wenigen Verurteilungen. 422 Im Übrigen setzte die UN-Verwaltung im Jahre 2001 eine Wahrheitskommission ein, welche den gesamten Zeitraum seit 1974 bis zur Einrichtung der UNTAET abdeckt.423 III. Bewertung Im Großen und Ganzen war die Übergangsverwaltung in Osttimor ein für die UN wichtiger Erfolg.424 In etwas mehr als zweieinhalb Jahren gelang es UNTAET, in einem Gebiet, das jahrhundertelang fremdregiert war, die Fundamente eines demokratischen Staatswesens zu legen.425 Diese Leistung sollte angesichts der praktischen Schwierigkeiten, denen UNTAET im Herbst 1999 gegenüber stand, nicht gering geschätzt werden. Wie im Kosovo zeigte sich aber auch in Osttimor, dass insbesondere der Aufbau einer effektiven und unabhängigen Justiz zu den größten Herausforderungen des state-building gehört.426 Menschenrechtstribunal“ war sehr eingeschränkt. Seine Verurteilungen waren gering an der Zahl und sehr milde. Siehe beispielsweise §§ 36 f. des Bericht des Generalsekretärs S/2002/432 vom 17.4.2002. Zu Hintergrund und Arbeit des Ad Hoc-Tribunals siehe auch Othman, Nordic JIL 72 (2003), 449 (473-480), ferner de Bertodano, JICJ 2 (2004), 910 (922-925), und Linton, Leiden JIL 17 (2004), 303361. Mittlerweile haben sich Osttimor und Indonesien auf die Einrichtung einer gemeinsamen Wahrheitskommission geeinigt, um diese Verbrechen aufzuarbeiten (FAZ vom 2.8.2005, S. 5). 421 Es handelt sich um die serious crimes units, eingerichtet durch UNTAET/REG/2000/15 vom 25.9.2000. Ausführlich Othman, Nordic JIL 72 (2003), 449 (457-473). 422 Siehe §§ 34 f. des Berichts des Generalsekretärs S/2002/432 vom 17.4.2002, ferner Othman, Nordic JIL 72 (2003), 449 (466 f.). Wesentlicher Grund war aber auch, das Indonesien sich beharrlich weigerte, Tatverdächtige auszuliefern (a.a.O., 472 f.). Zur Arbeit der Special Panels for Serious Crimes in jüngster Zeit siehe de Bertodano, JICJ 2 (2004), 910 (910-922). 423 Grundlage war UNTAET/REG/2001/10 vom 13.7.2001. Zur Warheitskommission für Osttimor siehe Abline, RGDIP 107 (2003), 349 (370), ferner ausführlicher Stahn, AJIL 95 (2001), 952-966. 424 So auf der Grundlage der ersten 18 Monate der Mission Beauvais, NYU JIL&P 33 (2000/01), 1101 (1161 u. 1177). 425 Abline, RGDIP 107 (2003), 349 (365 f., 371). 426 Siehe die Berichte des Generalsekretärs, z.B. §§ 17-20 S/2002/432 vom 17.4.2002 und §§ 22-26 76 N. Die UN-Unterstützungsmission in Afghanistan (seit 2002) Auch in Afghanistan gilt es, ein von jahrzehntelangem Bürgerkrieg zerstörtes Staatswesen zu rekonstruieren und Demokratie und die Achtung der Menschenrechten im Land zu verankern. Anders als im Kosovo oder in Osttimor beschränkt sich die Rolle der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) dabei aber weitgehend auf die eines Helfers und Ratgebers.427 Im Jahre 2001 übte die international nur von wenigen Staaten anerkannte radikalislamische Taliban-Regierung die faktische Hoheitsgewalt über weite Teile des 647.500 km2 großen Landes und seiner knapp 29 Millionen Einwohner aus. Knapp einen Monat nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wurde sie im Rahmen der Operation Enduring Freedom von einer Koalition unter Führung der Vereinigten Staaten im Zusammenwirken mit afghanischen Widerstandsgruppen militärisch gestürzt.428 Am 5. Dezember 2001 verständigten sich 25 Vertreterinnen und Vertreter verschiedener afghanischer Gruppen in Bonn auf ein Abkommen über die vorläufige Regierung des Landes bis zur Einrichtung permanenter Staatsorgane.429 Dieses sah eine Interimsregierung (interim authority) vor, die das Land für sechs Monate regieren sollte, um anschließend von von einer durch eine außerordentliche Loya Jirga gewählte Übergangsregierung (transitional authority) abgelöst zu werden.430 Innerhalb von achtzehn Monaten nach Amtsantritt der Übergangsregierung sollte eine verfassungsgebende Loya Jirga mit Unterstützung S/2004/888 vom 9.11.2004. 427 Ausführlicher zur UNAMA Marauhn, AVR 40 (2002), 480-511, und Chesterman, You, The People (2004), S. 88-92. 428 Für eine völkerrechtliche Bewertung der Ereignisse vom 11.9.2001 und der Operation Enduring Freedom siehe statt vieler Tomuschat, EuGRZ 28 (2001), 535-545; und Seidel, AVR 41 (2003), 449 (458-471). Zur deutschen Beteiligung an der Operation siehe Heintschel von Heinegg/Gries, AVR 40 (2002), 145-182. 429 Agreement on provisional arrangements in Afghanistan pending the re-establishment of permanent government institutions, abgedr. als S/2001/1154 vom 5.12.2001 (im Folgenden: Bonner Abkommen). Der Sicherheitsrat machte sich dieses Abkommen mit S/RES/1383 (2001) vom 6.12.2001 zu Eigen. Für eine rechtliche Qualifizierung des Abkommens siehe Marauhn, AVR 40 (2002), 480 (491-493). Siehe Art. I des Bonner Abkommens. Bei der Loya Jirga, zu deutsch „große Ratsversammlung“, handelt es sich um die in Afghanistan traditionell zur Bestimmung der Regierung legitimierte Versammlung der Vertreter der afghanischen Volksgruppen (Marauhn, AVR 40 (2002), 480 (494)). 430 77 der Vereinten Nationen dem Land eine neue Verfassung geben.431 Entsprechend dem Bonner Abkommen übernahm die Interimsregierung unter Hamid Karsai am 22.12.2001 die Regierungsgewalt.432 Im Juni 1999 tagte die außerordentliche Loya Jirga und wählte die Übergangsregierung, wiederum unter Präsident Karsai.433 Im Dezember 2003 trat die verfassungsgebende Loya Jirga zusammen und verabschiedete am 4. Januar 2004 feierlich die neue Verfassung der islamischen Republik Afghanistan.434 Trotz weiterhin schwieriger Sicherheitslage fanden im Oktober 2004 die ersten landesweiten Präsidentschaftswahlen in Afghanistan statt, aus denen wiederum Hamid Karsai als Sieger hervorging und die erste reguläre Regierung Afghanistans bildete.435 Die ursprünglich für das Frühjahr 2005 vorgesehen Regional- und Parlamentswahlen sind aufgrund der schwierigen Sicherheitslage nunmehr auf den 18. September 2005 verschoben worden.436 Für die Vereinten Nationen sah das Bonner Abkommen primär die Rolle eines Beobachters und Mediators vor.437 So sollten sie bei der Organisation der außerordentlichen Loya Jirga mit Rat und Tat zur Seite stehen und bei Konflikten vermitteln.438 Ferner sollten 431 Art. I Abs. 6 des Bonner Abkommens. 432 § 11 A/56/875 – S/2002/278. sie die unabhängige afghanische Siehe S/RES/1419 (2002) vom 26.6.2002, ferner §§ 28-42 des Berichts A/56/1000 – S/2002/737 des Generalsekretärs vom 11.7.2002. 433 434 Dt. Übersetzung in ZaöRV 64 (2004), 943-978. Zu Entwurf und Verabschiedung der Verfassung siehe §§ 34-27 des Berichts S/2003/1212 vom 30.12.2003, ferner §§ 2-5 des Berichts A/58/742 – S/2004/230 vom 19.3.2004. Ausführlicher zur neuen afghanischen Verfassung Vergau, VRÜ 37 (2004), 465-488, ferner zu einzelnen Aspekten Mahmoudi, ZaöRV 64 (2004), 867-880 (Recht der Sharî’a); Grote, ZaöRV 64 (2004), 897-915 (Gewaltenteilung); Lau, ZaöRV 64 (2004), 917-927; und Tellenbach, ZaöRV 64 (2004), 929 (beide zu Justizgrundrechten). 435 Begrüßt durch A/RES/59/112 A-B vom 8.12.2004. Siehe auch §§ 5-11 u. 74-76 des Berichts A/59/581 – S/2004/925 des Generalsekretärs vom 26.11.2004. Siehe §§ 1-14 des Berichts A/59/744 – S/2005/183 vom 18.3.2005 und § 8 A/60/224 – S/2005/525 vom 12.8.2005. Zu den andauernden Schwierigkeiten siehe auch Ziener, In Afghanistan wird das Geld für die Wahl knapp, Handelsblatt vom 16.8.2005, S. 6; ferner Gall, Fatal Bombing Mars Start of Afghan Parliamentary Race, NYT vom 18.8.2005. 436 437 Marauhn, AVR 40 (2002), 480 (501). Chesterman, You, The People (2004), S. 90 f., warnt indes davor, den tatsächlichen Einfluss der UNAMA und ihres Leiters, SRSG Brahimi, auf die politische Entwicklung in Afghanistan zu unterschätzen. 438 §§ 3 u. 5 Annex II des Bonner Abkommens (Role of the United Nations during the interim period). 78 Menschenrechtskommission unterstützen, bei Menschrechtsverletzungen ermitteln und ein Programm zur Förderung der Menschenrechte entwerfen und umsetzen.439 Die Vereinten Nationen besaßen aber keinerlei eigenständige exekutive Befugnisse. Für die Sicherheit im Land waren neben den Afghanen selbst die International Security Assistance Force (ISAF) zuständig, die vom Sicherheitsrat auf der Grundlage von Kapitel VII der Charta eingerichtet worden war.440 Zur Wahrnehmung der den Vereinten Nationen angetragenen Aufgaben richtete der Sicherheitsrat im März 2002 UNAMA ein, in der alle Aktivitäten der UN in Afghanistan zusammengefasst wurden.441 Sie stützte sich nicht auf Kapitel VII der Charta, sondern auf die im Bonner Abkommen geäußerte Zustimmung der Vertreter des afghanischen Volkes. Anfang 2003 wurde ihr Aufgabenbereich um die Unterstützung der afghanischen Wahlkommission bei der Vorbereitung und Durchführung der Präsidentschaftswahlen erweitert.442 Vom wahrgenommenen Aufgabenbereich entspricht UNAMA eher der UN-Mission in Namibia443 als den Gebietsverwaltungs- und peace-building-Missionen jüngeren Datums. Trotz ähnlicher Ausgangslage wie im Kosovo und in Osttimor444 entschloss man sich hier, die Verwaltung von Anfang an den Afghanen zu überlassen und diese lediglich – quasi aus dem Hintergrund – mit Fachwissen, Sach- und Geldmitteln zu unterstützen.445 Ein Grund hierfür mag gewesen sein, dass Afghanistan anders als das Kosovo und Osttimor und trotz aller Bürgerkriege ein etablierter Staat war, kein Zur praktischen Umsetzung siehe §§ 34-40 des Berichts A/56/875 – S/2002/278 des Generalsekretärs vom 18.3.2002. 439 § 6 Annex II des Bonner Abkommens. Siehe auch §§ 41-44 A/56/875 – S/2002/278. 440 S/RES/1386 (2001) vom 20.12.2001. 441 S/RES/1401 (2002) vom 28.3.2002. Zu Planung und Aufgabe der UNAMA siehe §§ 94-115 A/56/875 – S/2002/278. UNAMA löste die seit 1993 bestehende UN Special Mission to Afghanistan (UNSMA) ab, deren Personal im September 2001 abgezogen worden war. 442 § 2 S/RES/1471 (2003) vom 28.3.2003. 443 Zur UNTAG siehe oben 2.Kp. G. So mussten auch hier Ministerien und Verwaltung neu geschaffen werden. Siehe § 12 A/56/875 – S/2002/278. 444 § 98 (d) A/56/875 – S/2002/278 nennt als Ziel der UNAMA, nach Möglichkeit nur einen „light expatriate footprint“ zu hinterlassen. 445 79 Gebiet, dessen Souveränität sich im Übergang befand.446 Ferner hatten Afghanen Fremdherrschaft stets erbittert bekämpft, weshalb es sinnvoll erschien, das neue Staatswesen ab initio als primär afghanisches Projekt anzugehen.447 Auch Sicherheitsrat und Generalversammlung betonten stets die Hauptverantwortung der Afghanen.448 Letztlich übersteigt aber vor allem die Größe des Landes, gekoppelt mit der äußerst schwierigen Sicherheitslage449, alles, was die UN bisher im Kosovo oder in Osttimor geleistet haben. Eine Übernahme der Verwaltung Afghanistans hätte die Vereinten Nationen schlicht überfordert.450 In der vergleichsweise bescheidenen Rolle der UNAMA kann daher noch keine prinzipielle Abkehr von der Idee der UNVerwaltung von Krisengebieten als Mittel zur Konfliktlösung gesehen werden. O. Multidimensionale Unterstützungsoperation der UN seit 1999 Neben UNAMA in Afghanistan haben die Vereinten Nationen seit 1999 mehrere multidimensionale Peacekeeping-Missionen eingerichtet, die dem Wiederaufbau staatlicher Strukturen dienen, ohne aber formal selbst und eigenständig Aufgaben der Gebietsverwaltung wahrzunehmen.451 Ihre Mandate umfassen die Beobachtung, Beratung und Unterstützung nationaler Stellen, insbesondere in den Bereichen öffentliche Sicherheit, Polizei und Justiz und bei der Organisation von Wahlen.452 446 Marauhn, AVR 40 (2002), 480 (504); Chesterman, You, The People (2004), S. 89. Zur Souveränität als Grenze der Befugnisse des Sicherheitsrates zur Gebietsverwaltung siehe auch unten 4.Kp. A.II.3 und E.III. 447 Chesterman, You, The People (2004), S. 90 f. Die Notwendigkeit, eine dem jeweiligen Kulturkreis angepasste Lösung zu finden, betont auch Marauhn, AVR 40 (2002), 480 (510 f.). 448 Siehe beispielsweise Präambel-§ 4 S/RES/1386 (2001) und S/RES/1510 (2003) vom 13.10.2003: „Recognizing that the responsibility for providing security and law and order (…) resides with the Afghan themselves”, Präambel-§ 3 S/RES 1471 (2003): „Recognizing the Transitional Administration as the sole legitimate government of Afghanistan (…)”. Ähnlich auch die entsprechenden Passagen in A/RES/59/112 A-B vom 8.12.2004. Weitere Nachweise bei Marauhn, AVR 40 (2002), 480 (503). Zur Sicherheitslage in Afghanistan siehe beispielsweise §§ 12-15 A/59/581 – S/2004/925 vom 26.11.2004. 449 450 In diese Richtung auch Chesterman, You, The People (2004), S. 90, unter Berufung auf den Sondergesandten des Generalsekretärs für Afghanistan, Brahimi. Als „multidimensional United Nations peacekeeping operation“ bezeichnet der Generalsekretär die geplante UN Operation in Cote d’Ivoire (UNOCI) in § 87 seines Berichts S/2004/3 vom 6.1.2004. 451 452 Siehe beispielsweise das Mandat der UNOCI, S/RES/1528 (2004) vom 27.2.2004, sowie der UN Stabilization Mission in Haiti (MINUSTAH), S/RES/1542 (2004) vom 30.4.2004. 80 Auch die Förderung der auf die Konfliktbewältigung gerichteten nationalen politischen Prozesse gehört zu ihren Aufgaben.453 Ihr Einsatzbereich sind zumeist Länder, deren Staatswesen infolge Bürgerkrieges zerüttet sind und die sich zumindest nahe am failed state bewegen. Meist kam es – oft unter UN-Vermittlung – zu einer Einigung der Konfliktparteien in der Art eines Friedensvertrages, in dem die Vereinten Nationen um Beobachtung und Unterstützung bei seiner Umsetzung gebeten wurden.454 Die Einrichtung dieser Unterstützungsmissionen kann sich somit – selbst wenn der Sicherheitsrat sie auf Kapitel VII der Charta gründet455 – auf einen bestehenden Konsens der Beteiligten stützen. Wesentliches Merkmal dieser Missionen ist indes, dass sie zumindest formal keine Hoheitsbefugnisse in ihrem Einsatzgebiet übernehmen. Vielmehr bleiben nationale Stellen grundsätzlich verantwortlich für alle Bereiche der Zivilverwaltung456 und werden dabei lediglich beraten, angeleitet und durch Ausbildung und Ausstattung unterstützt. Es handelt sich damit gerade nicht um UN-Gebietsverwaltungen, mit denen sie zwar Teile des Aufgabenfeldes teilen, nicht aber die umfangreichen Befugnisse. Von Interesse sind die Unterstützungsmissionen daher nur unter zwei Aspekten: Erstens sind sie flexibel angelegt und können im Einzelfall mangels geeigneter nationaler Kräfte durchaus selbst Verwaltungsaufgaben übernehmen.457 So war die UN Mission in Sierra Leone (UNAMSIL) zunächst eine hauptsächlich militärische Mission, zu deren primären Aufgaben die Überwachung des Waffenstillstands, die Unterstützung der Regierung bei Entwaffnung der Kombattanten und die Sicherung 453 Siehe beispielsweise § 7 II S/RES/1542 (2004). 454 Beispielsweise das Abkommen von Lomé vom 7. Juli 1999 (abgedr. als S/1999/777 vom 12.7.1999) im Falle der UNAMSIL in Sierra Leone oder das Linas-Marcoussis-Abkommen vom 24.1.2003 (abgedr. als S/2003/99 vom 27.1.2003). 455 So beispielsweise UNOCI (S/RES/1528 (2004) vom 27.2.2004) und eingeschränkt auch UNAMSIL (S/RES/1270 (1999) vom 22.10.1999). Lediglich die militärische Komponente verfügt in der Regel über ein „robustes“ Mandat und einen von nationalen Stellen unabhängigen Aufgabenbereich, beispielsweise im Rahmen der Überwachung eines Waffenstillstands. 456 457 Kritisch zu dieser Flexibilität im Falle der UNAMSIL Chesterman, You, The People (2004), S. 87. 81 humanitärer Hilfe gehörte.458 Später kam die Sicherung wesentlicher Verkehrswege459, logistische und organisatorische Unterstützung landesweiter Wahlen460 und der nationalen Polizei hinzu.461 Mangels nationaler Kapazitäten in Sierra Leone nahm UNAMSIL viele Aufgaben eigenständig wahr, obwohl sie formal nur unterstützend tätig werden sollte.462 Eine solche Entwicklung ist auch bei anderen Missionen denkbar. Zweitens bilden diese Unterstützungsmissionen den momentan bevorzugten Typus der peacebuilding-Mission. Solche sind seit 1999 außer in Afghanistan und Sierra Leone auch in Liberia, Haiti und an der Elfenbeinküste eingerichtet worden.463 Sie stellen gegenüber der teilweisen oder vollständigen Übernahme der Verwaltungsbefugnisse in einem Gebiet ein weniger in Souveränität und Selbstbestimmungsrecht eingreifendes Mittel dar und beanspruchen meist weniger Ressourcen der Vereinten Nationen. Ob sie lediglich Alternative zu einer eigenständigen UN-Krisengebietsverwaltung sind oder diese völlig ersetzen, bleibt abzuwarten. P. Die Verwaltung des Irak durch ein Staatenbündnis (2003-2004) Kein Fall einer Gebietsverwaltung durch die Vereinten Nationen selbst, aber das jüngste Beispiel einer vollständigen Übernahme der Regierungsmacht in einem Krisengebiet durch internationale Akteure ist die Verwaltung des Iraks durch die 458 § 8 S/RES/1270 (1999). 459 § 10 S/RES/1289 (2000) vom 7.2.2000, § 3 S/RES/1313 (2000) vom 4.8.2000. 460 §§ 1 u. 4-6 S/RES/1389 (2002) vom 16.1.2002. Zu den Wahlen am 14.5.2002 siehe §§ 2-9 des Berichts des Generalsekretärs S/2002/679 vom 19.6.2002. 461 § 3 S/RES/1389 (2002) und § 17 S/2002/679. § 6 S/RES/1562 (2004) – „Urges the government of Sierra Leone to intensify its efforts (…) so that the Government can take over from UNAMSIL as soon as possible full responsibility for maintaning law and order throughout Sierra Leone (…)” – macht deutlich, dass die tatsächliche Wahrnehmung staatlicher Befugnisse durch UNAMSIL auch dem Sicherheitsrat bewusst war. 462 463 UN Mission in Liberia (UNMIL), eingerichtet durch S/RES/1509 (2003) vom 19.9.2003; UN Stabilization Mission in Haiti (MINUSTAH), eingerichtet durch S/RES/1542 vom 30.4.2004; UN Operation in Cote d’Ivoire (UNOCI), eingerichtet durch S/RES/1528 (2004) vom 27.2.2004. Weitere Informationen zu diesen UN-Missionen finden sich im Internet unter <www.un.org/Depts/dpko/dpko/index.asp> unter „current missions“. Zu Haiti siehe auch Scott, Vanderbilt JTL 37 (2004), 555-586. 82 Coalition Provisional Authority (CPA) von Mai 2003 bis Juni 2004.464 Die CPA wurde nach der militärischen Eroberung des Iraks durch eine Koalition von Staaten unter der Führung der USA im Frühjahr 2003 von diesen eingerichtet, um das Gebiet bis zur Einsetzung einer geeigneten irakischen Regierung zu verwalten.465 Nach dem eine Mehrheit der Mitglieder des Sicherheitsrates sich zuvor geweigert hatte, den Einmarsch im Irak zu autorisieren, sah sie sich nun vor vollendete Tatsachen gestellt.466 Nach langen Verhandlungen einigte man sich schließlich auf den Wortlaut der Resolution 1483, die am 22. Mai 2003 mit 14 Ja-Stimmen bei einer Enthaltung verabschiedet wurde.467 In dieser auf der Grundlage von Kapitel VII der Charta verabschiedeten Resolution wurden Großbritannien und die Vereinigten Staaten als aufgrund allgemeinen Völkerrechts für die Verwaltung des Iraks zuständige Besatzungsmächte anerkannt.468 Als solche wurden sie dazu aufgefordert, im Rahmen der UN-Charta und relevanten Völkerrechts das Wohlergehen der 464 Zu den Ereignissen im Irak seit 2002 siehe auch Cottey, SIPRI-YB 2004, 67-93 und Chronik, FAZ vom 24.1.2005, S. 8. Einblicke in die praktische Arbeit der CPA geben Reinhart/Merrit, Vanderbilt JTL 37 (2004), 765-790. 465 Nach ihrer ersten Verordnung, der Coalition Provisional Order Number 1 vom 16.5.2003, war sie dazu „vested with all executive, legislative and judicial authority necessary to achieve its objectives“ (Sec. 1 (2) CPA/REG/16 May 2003/1, zitiert nach Zwanenburg, IRRC 86 (2004), 745 [747 f.]). Die Parallelen zu den jeweils ersten Verordnungen der UNMIK sind unübersehbar. Zu ihrer umfangreichen gesetzgeberischen Tätigkeit zur politischen und wirtschaftlichen Neuausrichtung des Iraks siehe Starita, RGDIP 108 (2004), 883 (886 f.), m.w.N. 466 Zur Frage der Rechtmäßigkeit des Angriffs auf den Irak siehe beispielsweise Bothe, AVR 41 (2003), 255-271; Nguyen-Rouault, RGDIP 107 (2003), 835 (838-853);Seidel, AVR 41 (2003), 449 (475-480); Tomuschat, FW 78 (2003), 141-160; und Hmoud, Cornell ILJ 36 (2004), 435 (438-444). Zahlreiche weitere Nachweise bei Hestermeyer, ZaöRV 64 (2004), 315-341, der die Debatte unter dem Gesichtspunkt der unterschiedlichen Rechtskultur diesseits und jenseits des Atlantiks analysiert. Siehe auch die zahlreichen Kurzbeiträge namhafter Autoren in der Rubrik „Agora“ des AJIL 97 (2003). 467 S/RES/1483 (2003) vom 22.5.2003, abgedr. in ILM 42 (2003), 1016-1022, dt. Übersetzung in VN 51 (2003), 137-140. Syrien erklärte, dass es für den Resolutionsentwurf gestimmt hätte, hätte man ihm mehr Bedenkzeit gegeben (siehe S.C.O.R., 58th year, 4761st mtg. vom 22.5.2003, abgedr. als S/PV.4761 (provisional)). Zu den Verhandlungen siehe Hmoud, Cornell ILJ 36 (2004), 435 (446 f.). Für eine erste Analyse der Resolution siehe Kirgis, ASIL-Insights (Mai 2003). Diskussionsgrundlage war ein Brief der Vertreter der Vereinigten Staaten und Großbritanniens an den Präsidenten des Sicherheitsrates, in dem die Koalition ihre Pläne für eine Verwaltung des Iraks darlegte (S/2003/538 vom 8.5.2003), auszugsweise wiedergegeben bei Roberts, ICLQ 54 (2005), 27 (31). 468 So auch Bruha, AVR 41 (2003), 295 (309 f.). Der relevante Teil des Präambel-§ 13 S/RES/1483 (2003) lautet: „(...) and recognizing the specific authorities, responsibilities, and obligations under applicable international law of these states as occupying powers under unified command”. Zur Frage der Rechtsgrundlage dieser Übergangsverwaltung – humanitäres Völkerrecht oder Kapitel VII der Charta – siehe unten 3.Kp. D.IV.4. 83 irakischen Bevölkerung durch eine effektive Verwaltung zu fördern.469 Ferner „unterstützte“ der Sicherheitsrat die Bemühungen des irakischen Volkes, mit der Hilfe der Besatzungsmacht und in Zusammenarbeit mit einem zu entsendenden UNSondergesandten eine irakische Interimsverwaltung einzurichten, bis eine international anerkannte und repräsentative irakische Regierung die Befugnisse der Besatzungsmacht übernehmen könne.470 Des Weiteren wies der Sicherheitsrat den Generalsekretär an, das der Versorgung der irakischen Bevölkerung dienende Oil for food-Programm binnen sechs Monaten abzuwickeln und die vorhandenen Gelder des Programms dem von der Besatzungsmacht eingerichteten und verwalteten irakischen Entwicklungsfond (Development Fund for Iraq) zu überweisen.471 Mit Resolution 1511 (2003) autorisierte der Sicherheitsrat den Einsatz einer multinationalen Friedenstruppe (multinational force) unter Führung der Vereinigten Staaten.472 Die Rolle der UN selbst bei der Verwaltung des Iraks beschränkte sich nach Res. 1483 (2003) auf Förderung, Unterstützung und Mediation, jeweils in Abstimmung mit der Besatzungsmacht.473 Neben der Koordination humanitärer Hilfe sollte ein Sondergesandter des Generalsekretärs vor allem in intensiver Zusammenarbeit mit der Besatzungsmacht und dem irakischen Volk Bemühungen zur Errichtung repräsentativer Regierungsorgane auf lokaler und nationaler Ebene fördern.474 Um § 4 S/RES/1483 (2003) lautet: „Calls upon the Authority, consistent with the Charter and other relevant international law, to promote the welfare of the Iraqi people through effective administration of the territory (...)”. 469 § 9 S/RES/1483 (2003) lautet: „Supports the formation, by the people of Iraq with the help of the Authority and working with the Special Representative, of an Iraqi interim administration as a transitional administration run by Iraqis, until an internationally recognized, representative government is established by the people of Iraq and assumes the responsibilities of the Authority”. 470 471 Siehe §§ 12, 13 u. 16 S/RES/1483 (2003). 472 § 13 S/RES/1511 (2003) vom 16.10.2003. Siehe § 8 S/RES/1483 (2003). Hmoud, Cornell ILJ 36 (2004), 435 (451) spricht von einer „vital, yet peripheral (...) role that does not interfere with the overall authority of the Coalition.“, Seidel, AVR 41 (2003), 449 (479 f.), von einer „nebengeordnete[n] Rolle, die wohl eher den Umstand verschleiern soll[e], dass die beiden Staaten (...) nunmehr das Kommando übernommen [hätten]“. Allerdings ist zweifelhaft, ob die UN bereit und in der Lage gewesen wäre, eine deutlich größere Verantwortung im Irak zu übernehmen. 473 § 8 (c) S/RES/1483 (2003) lautet: „working intensively with the Authority, the people of Iraq, and others concerned to advance efforts to restore and establish national local institutions for representative governance, including working together to facilitate a process leading to an internationally recognized, representative government of Iraq“. 474 84 diese bewusst eher vage gehaltenen Aufgaben475 wahrzunehmen, richtete der Sicherheitsrat im August 2003 die UN Assistance Mission in Iraq (UNAMI) ein.476 Obschon der Generalsekretär den früheren Leiter der UN-Verwaltung in Osttimor, Sergio Vieira de Mello, zu ihrem Leiter ernannte, entsprach das Mandat der UNAMI noch nicht einmal dem der UNAMA in Afghanistan.477 Die ohnehin eingeschränkte Bedeutung der Vereinten Nationen im Irak wurde durch das Bombenattentat auf das UNAMI-Hauptquartier in Bagdad weiter geschwächt, bei dem neben SRSG Vieira de Mello vierzehn weitere UN Mitarbeiter ermordet wurden.478 In der Folge stellte UNAMI ihre Tätigkeit weitgehend ein und hat sie aufgrund der äußerst schwierigen Sicherheitslage bis heute nur eingeschränkt wieder aufgenommen.479 Dennoch wurde die Mission jüngst erneut bis zum 11. August 2006 verlängert.480 Die auf die tatsächlichen Verhältnisse im Irak unzureichend vorbereiteten Besatzungsmächte ernannten im Juli 2003 den sog. Regierungsrat („Governing Council“).481 Er bestand aus 25 von der CPA halbwegs repräsentativ ausgewählten Vertretern der irakischen Bevölkerung und übernahm bereits Regierungsverantwortung.482 Zunächst hatte die CPA geplant, dem Land zügig durch eine konstitutionelle Versammlung eine Verfassung geben zu lassen, auf deren 475 Grant, AJIL 97 (2003), 823 (830). 476 S/RES/1500 (2003) vom 14.8.2003, dt. Übersetzung in VN 51 (2003), 191-193. 477 Zur Ernennung Vieira de Mellos zu SRSG am 27.5.2003 siehe § 2 des Berichts S/2003/715 des Generalsekretärs vom 17.7.2003. Zur UNTAET siehe oben 2.Kp. M., zur UNAMA 2.Kp. N. Kirgis, ASIL-Insights (Mai 2003), 4, und ihm folgend Grant, AJIL 97 (2003), 823 (831), betonen indes zu Recht, dass S/RES/1483 (2003) dem SRSG viel Spielraum bei der Wahrnehmung und Ausformung seines Mandats ließ. Viel hing daher von der Persönlichkeit des SRSG und den weiteren Umständen ab. 478 Siehe §§ 17-20 des Berichts S/2003/1149 des Generalsekretärs vom 5.12.2003. 479 Siehe §§ 24 u. 31 S/2004/1149, ferner §§ 19 f. des Berichts S/2004/959 des Generalsekretärs vom 8.12.2004. 480 Siehe § 1 S/RES/1619 (2005) vom 11.8.2005. 481 Siehe § 1 S/RES/1500 (2003) vom 14.8.2004, ferner Grant, AJIL 97 (2003), 823 (824). Zur mangelhaften Planung der Besatzungsmächte siehe Scheffer, AJIL 97 (2003), 842 (853-856). 482 Siehe § 24 des Berichts S/2003/715 des Generalsekretärs vom 17.7.2003. In § 4 S/RES/1511 (2003) erkannte der Sicherheitsrat den Regierungsrat ausdrücklich als Interimsregierung (interim administration) i.S.d. § 9 S/RES/1483 (2003) und Träger der irakischen Souveränität an. Zu Bildung und Aufgaben des Regierungsrates siehe Nguyen-Rouault, RGDIP 107 (2003), 835 (859 f.), ferner Cottey, SIPRI-YB 2004, 67 (82). 85 Grundlage sodann Wahlen abgehalten werden sollten.483 Mit der daraus hervorgehenden irakischen Regierung sollte der Irak auch seine volle Souveränität wiedererhalten. Die anhaltend schwierige Sicherheitslage machte aber landesweite Wahlen unmöglich, so dass die Pläne geändert werden mussten.484 Unter Vermittlung des UN Sonderberaters Brahimi und nach ausführlichen Konsultationen mit Vertretern der irakischen Bevölkerung ernannt die CPA im Juni 2004 eine Interimsregierung (Interim Government) bestehend aus einem Präsidenten, zwei Vizepräsidenten und einem von einem Premierminister geleiteten Ministerkabinett.485 Mit Resolution 1546 bestätigte der Sicherheitsrat einen von der CPA und dem irakischen Regierungsrat zuvor vorgelegten Zeitplan für die Wiederherstellung der irakischen Souveränität.486 Zwei Tage vor dem im Zeitplan vorgesehen Datum endete am 28. Juni 2004 formell die Besatzung, und der Irak erhielt seine Souveränität zurück.487 Am gleichen Tag stellte die CPA ihre Arbeit ein, und die Interimsregierung unter Präsident Scheich Ghazi und Premierminister Allawi übernahm die volle Regierungsverantwortung.488 Ihr wurde ein beratendes parlamentarisches Gremium, der Interimsnationalrat (Interim National Council), zur Seite gestellt.489 483 § 26 S/2003/715. 484 Siehe den Bericht des Sonderberaters des Generalsekretärs Brahimi vom 7.6.2004 (abgedr. als S/2004/461 Annex), S. 3. 485 Ausführlich dazu der Bericht des Sonderberaters Brahimi, S/2004/461 Annex. Nach Roberts, ICLQ 54 (2005), 27 (37 f.), spielte Brahimi bei der Bildung der Interimsregierung keine wesentliche Rolle („was effectively sidelined“). 486 § 4 S/RES/1546 (2004) vom 8.6.2004, dt. Übersetzung in VN 52 (2004), 110-113. 487 Zwanenburg, IRRC 86 (2004), 745 (752), und Roberts, ICLQ 54 (2005), 27 (37), der anschließend kritisch beleuchtet, inwieweit der Irak vor dem Hintergrund der im Land verbliebenen Koalitionstruppen, der anhaltenden Kämpfe und Terrorattentate sowie nur eingeschränkt funktionierender Institutionen tatsächlich volle Souveränität genießt (ebenda, 39-44): „In short, 28 June 2004 marks an important stage on the road to full resumption of Iraqi sovereignty, not arrival at that destination“ (ebenda, 46). 488 Aufgrund ihrer fehlenden demokratischen Legitimation war die Interimsregierung indes nicht zu Entscheidungen berechtigt, welche die Zukunft des Iraks über den Zeitpunkt hinaus betrafen, an dem die demokratisch gewählte Übergangsregierung die Regierungsgewalt übernahm (§ 1 S/RES/1546 (2004)). Wie Roberts, ICLQ 54 (2005), 27 (42), bemerkt, sind ihre Befugnisse damit ähnlich eingeschränkt wie die einer Besatzungsmacht. 489 Dieses war im August 2004 von einer aus 1.100 ernannten Delegierten bestehenden nationalen 86 Beide wurden im Frühjahr 2005 durch das aus den ersten freien Wahlen am 30. Januar 2005490 hervorgegangene Übergangsparlament (Transitional National Assembly) und die von ihm gewählte Übergangsregierung (Transitional Government) ersetzt.491 Weitere Aufgabe des Übergangsparlaments ist die Ausarbeitung einer endgültigen Verfassung, die im Wege des Referendums bis Mitte Oktober 2005 angenommen werden soll. Nach ihrem Inkrafttreten sollen erneut Wahlen ausgeschrieben werden, so dass der Irak noch 2005 über ein demokratisch legitimiertes und verfassungsgemäß konstituiertes Parlament und eine ebensolche Regierung verfügen soll.492 Ob dieser Zeitplan noch eingehalten werden kann, ist angesichts der Probleme des Parlaments, sich auf einen gemeinsamen Verfassungsentwurf zu einigen, gegenwärtig fraglich.493 In Resolution 1546 beschloss der Sicherheitsrat ferner eine gewisse Ausdehnung des Mandates der UNAMI.494 Sie soll insbesondere bei der Organisation der Wahlen und bei der Ausarbeitung einer Verfassung beratend und unterstützend tätig werden. Die eigenständige Wahrnehmung exekutiver Aufgaben ist ihr nicht zugewiesen. Der neue Aufgabenbereich der UNAMI entspricht damit in etwa dem der UNAMA. Das mag wie im Falle Afghanistans an der Größe des Landes sowie daran liegen, dass es sich Konferenz gewählt worden. Zu diesem Prozess siehe §§ 13-23 des Berichts S/2004/710 des Generalsekretärs vom 3.9.2004. 490 Zur Rolle der UNAMI bei der Vorbereitung der Wahlen siehe §§ 9 f. des Berichts S/2004/959 des Generalsekretärs vom 8.12.2004 und §§ 17-28 des Berichts S/2005/141 vom 7.3.2005; ferner FAZ vom 24.1.2005, S. 8. Zum Ablauf der Wahlen allgemein §§ 3-6 S/2005/141, ferner SZ vom 31.1.2005, S. 1. 491 Zum Ergebnis der Wahlen siehe Burns/Glanz, Iraqi Shiites Win, but Margin is Less than Projection, NYT vom 14.2.2005; ferner Münch, Neuland im Zweistromland, SZ vom 15.2.2005, 8. Zur Bildung der Übergangsregierung siehe §§ 3-13 des Berichts S/2005/323 des Generalsekretärs vom 7.6.2005. 492 § 9 S/2004/959; Chronik, FAZ vom 24.1.2005, 8. Dies entspräche den Vorgaben von § 4 (c) S/RES/1546 (2004). 493 Bislang konnten sich die Parlamentarier jedoch noch nicht einigen, so dass die Frist zur Vorlage eines Verfassungsentwurfs am 15.8.2005 um zunächst eine Woche verlängert wurde. Besondere Schwierigkeiten sind die künftige föderale Struktur des Iraks, die Rechte der Frau und die Beteiligung der Sunniten am Verfassungsprozess, da diese aufgrund ihres Wahlboykotts im Übergangsparlament nur unzureichend vertreten sind. Ob der Zeitplan noch eingehalten werden kann, ist offen. Siehe zum Ganzen beispielsweise Filkins/Glanz, Leaders in Iraq Extend Deadline on Constitution, NYT vom 16.8.2005; und Dschaafari mahnt zu Geduld, FAZ vom 17.8.2005, S. 1; ferner ICG, Iraq: Don’t Rush the Constitution (2005). 494 § 7 S/RES/1546 (2004). 87 zumindest formal um einen unabhängigen und souveränen Staat handelt. Tatsächlich werden weite Teile der irakischen Politik weiter von den USA bestimmt. Insbesondere im Sicherheitsbereich sind die Mitgliedstaaten der Coalition of the Willing weiter weitgehend alleinverantwortlich. Auf ausdrücklichen Wunsch der irakischen Interimsregierung hatte der Sicherheitsrat das Mandat der multinationalen Truppen (multinational force) verlängert.495 Diese sollte ihre Aufgaben bei der Sicherstellung der öffentlichen Sicherheit im Lande progressiv auf die irakischen Sicherheitskräfte übertragen. Insbesondere aufgrund der Schwierigkeiten bei der Ausbildung irakischer Polizisten und Soldaten hat sich die angekündigte und vom Sicherheitsrat angeordnete echte Partnerschaft in Sicherheitsfragen noch immer nicht voll verwirklichen lassen.496 Obschon die UN bei der internationalen Verwaltung des Irak nur eine Nebenrolle spielte, war zumindest der Sicherheitsrat durch den Erlass der Resolutionen 1483, 1511 und 1546 nicht unwesentlich beteiligt.497 Ob es sich bei der CPA um einen einmaligen Sonderfall oder ein Modell mit Vorbildcharakter handelt, bleibt abzuwarten. Maßgeblich wird sein, inwieweit es den Mitgliedern des Sicherheitsrates gelingt, dessen Hauptrolle bei der Wahrung der internationalen Sicherheit und des Weltfriedens wieder herzustellen. 495 § 10 S/RES/1546 (2004). Der Sicherheitsrat hat dieses Mandat ausdrücklich von der fortdauernden Zustimmung der irakischen Regierung abhängig gemacht (ebenda, § 12). Eine „full partnership between Iraqi security forces and the multinational force“ ordnete der Sicherheitsrat in § 11 a.E. S/RES/1546 (2004) an. Dieser Anordnung liegen die Briefe des irakischen Premierministers Allawi und des US-amerikanischen Außenministers Powell vom Juni 2004 (abgedr. als Annex zu S/RES/1546 (2004)) zugrunde. 496 497 Zur rechtlichen Bedeutung dieser Resolutionen siehe unten 3.Kp. D.IV.4. 88 3. Kapitel: Die Rechtsgrundlagen für UN-Gebietsverwaltungen „My hon. Friend is now asking me to put the territory under the United Nations. There is no provision in the United Nations Charter for accepting the sovereignty of this or any other part of the world.”498 Die Charta der Vereinten Nationen kennt nur eine explizite Ermächtigung zu einer Gebietsverwaltung durch die Organisation selbst: Art. 81 Satz 2 erlaubt es, anstatt einzelner Staaten auch die Vereinten Nationen als Verwaltungsmacht eines Treuhandgebietes einzusetzen. Daraus wurde teilweise e contrario geschlossen, dass ihnen eine Gebietsverwaltung in allen anderen Fällen verwehrt sei.499 Auch wenn diese Auffassung nicht mehr vertreten wird, ist die Frage der Zulässigkeit einer UNGebietsverwaltung und ihrer rechtlichen Voraussetzungen bis heute nicht abschließend geklärt. Im Folgenden soll deshalb untersucht werden, auf welche rechtlichen Grundlagen die Vereinten Nationen die Einrichtung von Gebietsverwaltungen stützen können. Dabei wird aufgrund ihrer praktischen Bedeutung mit den Verwaltungskompetenzen des Sicherheitsrates begonnen (B. und C.), bevor auf entsprechende Befugnisse der Generalversammlung eingegangen wird (D.). Auch auf die Frage, inwiefern der Treuhandrat de lege lata für die Verwaltung von Krisengebieten reaktiviert werden könnte, wird kurz eingegangen (E.). Abschließend wird untersucht, Verwaltungskompetenzen an inwieweit Nebenorgane die und genannten dritte Organe ihre Völkerrechtssubjekte delegieren dürfen (F.). Im Vorfeld bedarf es aber zunächst der Klärung einiger allgemeinen Fragen zur Rechtsgrundlage (A.). 498 Erklärung des brit. Außenministers vom 25.4.1956 zur Zukunft der Antarktis, abgedr. bei E. Lauterpacht, ICLQ 5 (1956), 405 (410). 499 Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 651. 89 A. Vorbereitende Überlegungen zur Rechtsgrundlage Zunächst ist kurz zu erläutern, warum es überhaupt für die Verwaltung von Krisengebieten einer Rechtsgrundlage bedarf (I.), welchen Umfang diese haben muss (II.) und inwieweit ein Staat in die Verwaltung seines Staatsgebietes durch die Vereinten Nationen einwilligen kann (III.). I. Erforderlichkeit einer Rechtsgrundlage Die Übernahme der Verwaltung eines Krisengebiets durch die Vereinten Nationen bedarf aus zwei Gesichtspunkten einer Rechtsgrundlage. Einerseits sind die Vereinten Nationen als gekorenes Völkerrechtssubjekt nur zu jenen Maßnahmen befugt, zu denen sie ihre Mitgliedstaaten ermächtigt haben. Andererseits stellt die Ausübung staatlicher Befugnisse durch einen externen Akteur einen schwerwiegenden Eingriff in die territoriale Souveränität des betroffenen Staates dar. Organisationsimmanent bedarf die UN einer Rechtsgrundlage, weil sie als internationale Organisation grundsätzlich nicht mehr Aufgaben wahrnehmen und Befugnisse ausüben kann, als ihr von ihren Mitgliedern übertragen wurden.500 Da ihr die Fähigkeit, sich selbst Aufgaben und Zuständigkeiten zuzuweisen – die so genannte Kompetenz-Kompetenz –, in der Charta nicht gegeben wurde501, muss eine jede ihrer Tätigkeiten eine explizite oder implizite Grundlage in der Charta vorweisen können.502 Dies gilt auch für den Sicherheitsrat als ihr wesentliches Organ zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit.503 Auch unabhängig von einem Eingriff in die territoriale Souveränität eines Staates bedarf es mithin für die Einrichtung einer Gebietsverwaltung durch die Vereinten Nationen 500 Franck, in: Dupuy (Hrsg.), Rôle du Conseil de Sécurité (1993), S. 83 f. So für internationale Organisationen allgemein bereits StIGH, Commission of the Danube (Gutachten vom 8.12.1927), PCIJ Ser. B, No. 14, 64; ihm folgend IGH, Use of Nuclear Weapons (Gutachten), ICJ-Rep. 1996, 66 (78 f. § 25); Seidl-Hohenveldern/Loibl, Internationale Organisationen (2000), Rn. 1507; Zuleeg, Implied Powers, EPIL II (1995), 1312 (1312). Für den Sicherheitsrat Frowein/Krisch, Introduction to Chapter VII (2002), Rn. 25; Franck, Fairness in International Law (1995), S. 219; Schermers/Blokker, International Institutional Law (1995), § 209 m.w.N. 501 So für den Sicherheitsrat Frowein/Krisch, Introduction to Chapter VII (2002), Rn. 25. 502 Franck, in: Dupuy (Hrsg.), Rôle du Conseil de Sécurité (1993), S. 83 f. 90 einer wie auch immer gearteten Rechtsgrundlage in der Charta.504 Ferner bedarf aber auch der mit der Einrichtung einer UN-Verwaltung verbundene Eingriff in die Souveränität des Territorialstaates einer Rechtfertigung. Die Ausübung staatlicher Gewalt innerhalb seines Staatsgebietes – und um nichts anderes handelt es sich bei der Wahrnehmung der Verwaltungshoheit – ist grundsätzlich allein Aufgabe des Territorialstaats. Die Tatsache, dass die Art und Weise der Hoheitsausübung inzwischen zahlreichen völkerrechtlichen Normen unterliegt, ändert nichts daran, dass die tatsächliche Wahrnehmung dieser Aufgabe zum Kernbereich staatlicher Tätigkeit und somit zu seinem domaine réservé gehört.505 So unterliegt ein Staat zwar zahlreichen menschenrechtlichen Verpflichtungen. Diese schreiben aber in der Regel nur ein Ziel vor – auf welche Art und Weise er dies erreicht, gehört zu seinen inneren Angelegenheiten.506 Selbst wo internationale Menschenrechtsinstrumente bestimmte Methoden vorgeben, beispielsweise den Zugang zu Gerichten, bleibt die Umsetzung in der Verantwortung des Staates. Die Vereinten Nationen sind jedenfalls durch Art. 2 Ziff. 7 der Charta dazu verpflichtet, die territoriale Souveränität ihrer Mitgliedstaaten zu wahren. Ohne eine gesonderte Ermächtigung sind die UN daher daran gehindert, das Staatsgebiet eines Mitgliedstaates zu verwalten. Eine Ausnahme ist ausdrücklich nur für Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII der Charta vorgesehen. 503 Akande, ICLQ 46 (1997), 309 (315). 504 Bowett, UN Forces (1964), S. 422. In diese Richtung auch Rothert, Columbia JTL 39 (2000), 257 (262), der auch bei Einwilligung des Territorialstaates verlangt, dass das Handeln der UN den Zielen und Grundsätzen der Organisation dient. 505 Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 298. So erklärt die Friendly Relations Declaration die Unverletzlichkeit der territorialen Integrität und der politischen Unabhängigkeit jedes Staates, sowie ihr Recht „freely to choose and develop its political, social, economic and cultural systems” (Prinzip VI (d) und (e), Annex A/RES/2625 (XXV) vom 24.10.1970. IGH, Nicaragua (merits), ICJRep. 1986, 14 (106 § 202 und 107 f. § 205). Diese Rechte werden einem Staat jedoch verwehrt, wenn er unter UN-Verwaltung gestellt wird. Die vollständige Übernahme staatlicher Funktionen sieht auch Gordon, Cornell I.L.J. 28 (1995), 301 (330) als Eingriff in den domaine réservé an. Allgemein zum domaine réservé der UN-Mitgliedstaaten Seidl-Hohenveldern/Loibl, Internationale Organisationen (2000), Rn. 1508 u. 1510. So führt beispielsweise Georg Schwarzenberg aus: „[I]n the Charter, a clear distinction is drawn between the promotion and encouragement of respect for human rights, and the actual protection of these rights. The one is entrusted to the United Nations. The other remains the prerogative of each Member State” (ders., Power Politics: A Study of World Society (1964), S. 462 (zitiert nach Mégret/Hoffmann, HRQ 25 (2003), 314 [320]). Ähnlich auch Nolte, Art. 2 VII SVN (2002), Rn. 42. 506 91 II. Einwilligung durch den Territorialstaat Fraglich ist jedoch, inwieweit ein Mitgliedstaat auf den ihm in Art. 2 Ziff. 7 SVN gewährten Schutz verzichten kann. Das setzt zum Einen voraus, dass der genannte Artikel dispositiv ist, zum Anderen, dass ein derart weitreichender Hoheitsverzicht eines Staates völkerrechtlich zulässig ist. 1. Art. 2 Ziff. 7 SVN als dispositives Recht Gegen die Ansicht, dass das Verbot der Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten zur Disposition der Mitgliedstaaten steht, sprechen in erster Linie systematische Erwägungen. Art. 2 Ziff. 7 SVN ist als Grundprinzip der Vereinten Nationen gefasst. Als solches könnte es den Charakter eines Strukturprinzips haben, welches die Organisation unabhängig vom Willen des betroffenen Mitgliedstaates zur Zurückhaltung verpflichtet.507 Dafür spräche, dass Art. 2 Ziff. 7 SVN anders als die entsprechende Norm der Völkerbundsatzung nicht als vom betroffenen Staat ausdrücklich zu erhebende Einrede formuliert ist, also quasi von Amts wegen zu beachten ist.508 Im Übrigen spricht der Wortlaut aber eher dafür, dass die Norm einer UN-Mission, die mit Zustimmung des betroffenen Staate erfolgt, nicht entgegenstünde. Art. 2 Ziff. 7 SVN lautet im englischen Original: „Nothing contained in the present Charter shall authorize the United Nations to intervene (…)” (Hervorhebungen durch den Verfasser). Dies besagt, dass eine solche Ermächtigung zur Einmischung in innere Angelegenheiten nicht aus der Charta herausgelesen werden darf. Im Falle der Einwilligung des betroffenen Staates liegt dieser Ermächtigung aber weniger in der UN-Charta als vielmehr in der Einwilligung. Ferner ist der Tatbestand erst bei einem 507 So argumentierte US-Außenminister Dulles, Art. 2 Abs. 7 SVN behandle die inneren Angelegenheiten (domestic jurisdiction) als „basic principle” (UNCIO Doc. 1019, I/i/42, 1 vom 16.6.1945, abgedr. in UNCIO VI, 507). Für ein prinzipielles Verbot auch Schaefer, Funktionsfähigkeit (1981) S. 168, offenlassend Szasz, Georgia JI&CL 13 (1983), 345 (353 f.). Art. 15 Abs. 8 der Satzung des Völkerbundes lautet: „If the dispute between the parties is claimed by one of them, and is found by the Council, to arise out of a matter which by international law ist solely within the domestic jurisdiction of that party, the Council shall so report and shall make no recommendations as to its settlement.” Zu Art. 15 Abs. 8 SVB allgemein siehe Schücking/Wehberg, SVB-Kommentar (1924), S. 588-592. 508 92 Eingreifen im Sinne einer Intervention eröffnet. Dies setzt ein Handeln gegen oder zumindest ohne den Willen des Betroffenen voraus509. Im Nicaragua-Urteil hat der IGH zum allgemeinen völkerrechtlichen Interventionsverbot ausgeführt, dass es gerade ein Element von Zwang sei, das die verbotene Intervention charakterisiere510. Selbst wenn man diesen Grundsatz nicht auf das organisationsbezogenen Interventionsverbot des Art. 2 Ziff. 7 SVN übertrüge, ist der Schutzzweck der Norm zu berücksichtigen. Art. 2 Ziff. 7 SVN enthält ein Abwehrrecht der Mitgliedstaaten gegenüber den Vereinten Nationen511. Stimmen diese der „Einmischung“ zu oder fordern die UN sogar zu einem Tätigwerden auf, bedürfen diese keines Schutzes. Es ist daher davon auszugehen, dass jeder Mitgliedstaat grundsätzlich auf den ihm durch Art. 2 Ziff. 7 der Charta gewährten Schutz verzichten kann.512 2. Völkerrechtliche Vorgaben Zu prüfen bleibt, ob der vollständige und umfassende Verzicht eines Staates auf die Ausübung seiner Verwaltungshoheit völkerrechtlich zulässig ist. Generell scheint es ratione materiae wenig zu geben, in das Staaten nicht einwilligen können. Der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1990 zeigt, dass Staaten selbst in den völligen Verlust ihrer Eigenstaatlichkeit einwilligen können.513 Der Ständige Internationale Gerichtshof (StIGH) hat dies 1931 in seinem Gutachten zur deutsch-österreichischen Zollunion implizit bestätigt.514 Deutschland, Österreich- 509 Gordon, Michigan JIL 15 (1994), 519 (537); Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 301; Rothert, Columbia JTL 39 (2000), 257 (262). 510 IGH, Nicaragua (merits), ICJ-Rep. 1986, 14 (107 §205). 511 Nolte, Art. 2 VII SVN (2002), Rn. 3. Auch US-Außenminister Dulles begründete die gegenüber Art. 15 Abs. 8 SVB weitere Fassung des Art. 2 Abs. 7 SVN mit den umfangreicheren Befugnissen der Vereinten Nationen, die einen erweiterten Schutz der Mitgliedstaaten vor unzulässigen Einwirkungen erfordere (UNCIO Doc. 1019, I/i/42, S.1 f. vom 16.6.1945, abgedr. in UNCIO VI, 507 f.). 512 So im Ergebnis auch Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. S. 302; Nolte, Art. 2 VII SVN (2002), Rn. 58 und – im Hinblick auf die UN-Mission im Kongo (ONUC) Richter Bustamente, Diss. Op., Certain Expenses-Gutachten, ICJ-Reports 1962, 288 (297). Stahn, ZaöRV 61 (2001), 107 (130), führt als weiteres Argument an, dass eine UN-Verwaltung einen Staat gerade dazu befähigen solle, seine Souveränität effektiv wahrnehmen zu können. Daher sei schwach, dem die souveränitätsschützende Vorschrift des Art. 2 Ziff. 7 SVN entgegenzuhalten. 513 So auch Anzelotti, Sep. Op., StIGH, Customs Régime, PCIJ Ser. A/B, No. 41, 35 55 (59). 514 StIGH, Customs Régime, PCIJ Ser. A/B, No. 41, 35 (49). Dort verhinderten lediglich gegenteilige vertragliche Verpflichtungen eine Teilnahme Österreichs an besagter Zollunion. 93 Ungarn und das Osmanische Reich verzichteten nach dem ersten Weltkrieg auf erhebliche Teile ihres Staatsgebietes. Im Friedensvertrag mit den Alliierten vom 10. Februar 1947 verzichtete Italien auf alle seine territorialen Besitztümer in Afrika.515 Ähnlich ist die Erklärung Jordaniens vom 31. Juli 1988 zu deuten, derzufolge es sämtliche administrativen und rechtlichen Beziehungen zum Westjordanland beende.516 Ist es aber rechtlich möglich, dauerhaft sämtliche staatliche Rechte über ein Gebiet abzutreten, muss es de maiore ad minus zulässig sein, einem Dritten wie den Vereinten Nationen für einen begrenzten Zeitraum zu gestatten, das fragliche Gebiet zu verwalten. Grundsätzlich kann ein Staat daher der Verwaltung seines Staatsgebiets durch einen Drittstaat oder eine internationale Organisation zustimmen.517 Er verzichtet dann auf seine Rechte aus Art. 2 Ziff. 7 SVN.518 Wirksam ist diese Einwilligung allerdings nur, wenn sie nicht durch Drohung, Täuschung oder Irrtum zustande kam.519 Der betroffene Staat kann sie im konkreten Einzelfall geben – etwa in Form eines mit den Vereinten Nationen geschlossenen völkerrechtlichen Vertrages. Die UN- Mitgliedstaaten haben aber möglicherweise ihre Einwilligung zu einer Verwaltung ihres Territoriums durch die Vereinten Nationen schon in genereller Form erteilt. Gemäß Art. 2 Ziff. 7 SVN sind Maßnahmen des UN-Sicherheitsrats vom Verbot der Einmischung in innere Angelegenheiten ausdrücklich ausgenommen. Geht man davon aus, dass die Einrichtung von UN-Verwaltungen zulässigerweise auf Kapitel VII der UN-Charta gestützt werden kann,520 so stellt Art. 2 Ziff. 7 a.E. der Charta eine diesbezügliche abstrakte-generelle Einverständniserklärung der Mitgliedstaaten dar, bedingt allein durch das gleichzeitige Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 515 Art. 23 des Friedensvertrag mit Italien (10. Februar 1947), abgedruckt in UNYB 1948/49, 256. 516 Zu dieser Erklärung siehe Boyle, Palestine, EJIL I (1990), 301 (301). 517 Stahn, ZaöRV 61 (2001), 107 (130). Nolte, Art. 2 VII SVN (2002), Rn. 58, hält Art. 2 Ziff. 7 SVN in diesen Fällen für unanwendbar („inoperable“). 518 Franke, UN Operation im Kongo (1978), S. 195; Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. S. 300. 519 Artikel 48-51 WVK (1969) geben insoweit ein allgemeines Rechtsprinzip wieder. 520 Siehe dazu unten 3.Kp. C. 94 39 der Charta.521 Mithin lässt sich feststellen, dass die Verwaltungen eines Gebietes durch die Vereinten Nationen keinen unzulässigen Eingriff in die Souveränität des betroffenen Staates darstellt, wenn dieser darin eingewilligt hat. Die Unterscheidung zwischen solchen Rechtsgrundlagen für die Einrichtung von UN-Verwaltungen, die im konkreten Einzelfall der Zustimmung des betroffenen Souveräns bedürfen, und solchen, die den UN die Einrichtung einer solchen Verwaltung auch ohne dessen Einwilligung erlauben, ist dabei eine ganz wesentliche. Als Rechtsgrundlage für letzteres kommt allein ein Tätigwerden des Sicherheitsrats auf der Grundlage des Kapitels VII der Charta in Frage. Dagegen kommen für die einvernehmliche Einrichtung einer UN-Verwaltung sowohl andere Rechtsgrundlagen als auch andere Organe in Betracht. III. Die Unterscheidung zwischen Verwaltung und Souveränität Fraglich ist, in welchem Umfang die gesuchte Rechtsgrundlage die Vereinten Nationen ermächtigen muss. Die früher geltend gemachten Einwände gegen eine UN-Territorialregierung stützten sich wie das eingangs aufgeführte Zitat darauf, dass die Charta die Vereinten Nationen nicht ermächtige, die Souveränität über ein Gebiet zu übernehmen.522 Dieser Einwand geht vorliegend jedoch unabhängig davon fehl, ob er in der Sache zutreffend ist. Vielmehr ist zwischen der Verwaltungskompetenz über ein Gebiet einerseits und der auf das Gebiet bezogenen territorialen Souveränität andererseits zu unterscheiden. Die Befugnis, exklusiv Hoheitsgewalt innerhalb seines Staatsgebietes auszuüben, ist zwar ein wesentlicher Teil der territorialen Souveränität eines Staates, aber eben nur ein Teil. Ihr eigentliches Kernelement ist das Recht, über das Gebiet verfügen zu 521 Bustamente, Diss. Op., Certain Expenses-Gutachten, ICJ-Reports 1962, 288 (295). Winiarski, Diss. Op., Certain Expenses-Gutachten, ICJ-Reports 1962, 227 (233) spricht davon, dass die Mitgliedstaaten für den Fall einer bindenden Entscheidung des Sicherheitsrats nach Kapitel VII der Charta in eine Beschränkung ihrer Souveränität eingewilligt hätten. Ähnlich Delbrück, Art. 24 SVN (2002), Rn. 11, und Matheson, AJIL 95 (2001), 76 (84). 522 So der brit. Außenminister in seiner bei E. Lauterpacht, ICLQ 5 (1956), 405 (411), abgedruckten Erklärung, und Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 651. 95 können, mithin seinen völkerrechtlichen Status frei verändern zu können.523 Beide Befugnisse sind normalerweise in der Hand des selben Völkerrechtssubjekts – des Territorialstaates – vereinigt. Es besteht aber kein rechtlicher Grund, der sie hindert, auseinander zu fallen.524 Vielmehr besteht die Befugnis des Territorialstaates zur Verfügung über sein Gebiet unabhängig davon fort, ob er die Verwaltungskompetenz vorübergehend einem Dritten übertragen hat.525 So blieb China auch während der Verpachtung Hongkongs an Großbritannien territorialer Souverän, und die Übernahme der Verwaltungshoheit 1945 bewirkte nicht die Annexion des deutschen Staatsgebietes durch die Alliierten.526 Auch die UN-Charta erkennt dieses Konzept an, wenn sie die für die Treuhandgebiete zuständigen Staaten als Verwaltungsmächte („administering authority“) bezeichnet.527 Es ist daher vorliegend ohne Bedeutung, ob die Charta den Vereinten Nationen die Übernahme territorialer Souveränität erlaubt oder nicht. Ausreichend ist vielmehr, dass sie ihnen die Kompetenz zur Gebietsverwaltung gewährt.528 Art. 81 Satz 2 SVN macht dabei deutlich, dass die Charta der UN diese Befugnis zumindest nicht grundsätzlich verweigert. Die Frage, inwieweit sie zur Verfügung über ein Krisengebiet berechtigt ist, kann daher einstweilen dahinstehen.529 523 Kohen, Possession contestée (1997), S. 77. 524 E. Lauterpacht, ICLQ 5 (1956), 405 (410). 525 Kohen, Possession contestée (1997), S. 77 f. Etwas anderes mag in jenen Fällen gelten, in denen die Übertragung zeitlich unbegrenzt erfolgte und eine Rückgabe einzig vom Willen des verwaltenden Dritten abhängt. 526 E. Lauterpacht, ICLQ 5 (1956), 405 (410). Kohen, Possession contestée (1997), S. 81, nennt als weitere Beispiele Zypern, den Panama-Kanal und die Verwaltung des Saargebietes nach dem ersten Weltkrieg. 527 Kohen, Possession contestée (1997), S. 80. 528 Auch Stahn, MP-UNYB 5 (2001), 105 (119) nimmt im Falle der UN-Verwaltungen des Kosovo und Osttimors ein Auseinanderfallen von Souveränität und Verwaltungshoheit an. 529 Zu dieser Frage siehe unten 4.Kp. E.II und III. 96 B. Krisengebietsverwaltung auf Grundlage der Peacekeeping-Befugnis des Sicherheitsrates (Art. 24 Abs. 1 SVN) Der Sicherheitsrat stellt im Bereich der internationalen Friedenssicherung das wichtigste Organ der Vereinten Nationen dar. In der Tat sind fast alle UNGebietsverwaltungen unter seiner Ägide durchgeführt worden.530 Zwei Rechtsgrundlagen kommen für sein Tätigwerden in Frage: Seine Befugnis zu Zwangsmaßnahmen (Kapitel VII SVN) und seine Befugnis, im Einvernehmen mit dem betroffenen Staat als friedenserhaltende Maßnahme Truppen und ziviles Personal zu entsenden. Die Letztgenannte wird im Folgenden unter Rückgriff auf die gebräuchlichere englische Bezeichnung als Peacekeeping-Befugnis bezeichnet.531 Der historischen Entwicklung folgend bildet sie den ersten Untersuchungsgegenstand. Nach einer kurzen Herleitung dieser Befugnis aus dem Recht der Charta (I.) wird untersucht, inwiefern sie dem Sicherheitsrat die Einrichtung einer Gebietsverwaltung erlaubt (II.).Die so gewonnenen Erkenntnisse werden anhand zweier Fallbeispiele überprüft (III.).Die Untersuchung der Befugnisse des Sicherheitsrates unter Kapitel VII der Charta bildet einen eigenständigen Abschnitt, der auf diesen folgt.532 I. Die Grundlage in der Charta Auf die Peacekeeping-Befugnis hat der Sicherheitsrat bis Mitte der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts den Großteil der sog. Blauhelmmissionen gestützt.533 Wesentliche Merkmale einer auf diese Kompetenz gestützten Maßnahme sind, dass sie zur Friedenssicherung erfolgt und dass sie – im Gegensatz zu einer auf Kapitel VII der Charta gestützten Zwangsmaßnahme – der Zustimmung des betroffenen 530 Ausnahmen sind lediglich UNTEA in West-Neuguinea und das nicht realisierte Jerusalem-Projekt. Siehe dazu oben 2.Kp. F. und C. 531 Zur Peacekeeping-Befugnis als mögliche Rechtsgrundlage für eine UN-Verwaltung auch Muharremi, Treuhandverwaltung (2005), S. 63-70. 532 Siehe unten 3.Kp. C. 533 Zu den charakteristischen Merkmalen dieser oft als Peacekeeping der ersten Generation bezeichneten Operationen siehe statt vieler Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 20-25. 97 Territorialstaates bedarf.534 Trotz einer langjährigen und gefestigten Praxis des Sicherheitsrates, derartige konsensgestützte Friedensmissionen zu entsenden, ist die genaue Verortung dieser Befugnis bis heute umstritten.535 Es fehlt an einer explizten Ermächtigung in der Charta.536 So wurden und werden alternativ die Artikel 24, 29, 34, 36, 39, 40, 41, 42 und 48 SVN als Rechtsgrundlage genannt.537 Letztlich „passt“ aber keine dieser Normen wirklich, so dass davon ausgegangen werden muss, dass das ursprüngliche Konzept der Charta derartige Maßnahmen nicht vorsah.538 Dies hat jedoch nicht die Rechtswidrigkeit der Peacekeeping-Missionen zur Folge. Vielmehr ist die UN-Charta wie alle konstituierenden Verträge internationaler Organisationen teleologisch auszulegen.539 Bei den Vereinten Nationen ist wie bei anderen internationalen Organisationen davon auszugehen, dass ihr von ihren Mitgliedern nicht nur bestimmte Aufgaben, sondern auch die zur Erfüllung dieser Aufgaben erforderlichen Kompetenzen übertragen wurden. Wo es an entsprechenden expliziten Befugnissen im Gründungsdokument fehlt, ist deshalb nach der sog. implied powers-Doktrin von einer impliziten, ungeschriebenen 534 UN Special Committee on Peace-keeping Operations (UN Spec.Com. on PKO), Art. 9 der Draft formulae for agreed guidelines for United Nations Peace-keeping Operations, A/32/394, Annex II, Appendix I vom 2.12.1977; Boutros-Ghali, Suppl. to an Agenda for Peace (1995), A/50/60 S/1995/1, § 33; §§ 9 u. 36 des Report of the Spec.Com. on PKO 2004, A/58/19 vom 26.4.2004; ferner aus der Literatur Garvey, AJIL 64 (1970), 241 (241); Franke, UN Operation im Kongo (1978), S. 247;Ciobanu, in: Cassese (Hrsg.), UN Peace-keeping (1978), S. 38; Di Blase, in: Cassese (Hrsg.), UN Peace-keeping (1978), 55 (55); Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht (1984), § 256; Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 24; Suy, UN Peacekeeping, EPIL IV (2000), 1143 (1145); Bothe, Peace-keeping (2002), Rn. 72. Die Anwendung von Zwang gegen einen Staat als wesentliches Merkmal einer Zwangsmaßnahme nach Kapitel VII geht zurück auf IGH, Certain ExpensesGutachten, ICJ-Rep. 1962, 151 (170 f. u. 177); dem folgend Bowett, UN Forces (1964), S. 266. 535 Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 25. 536 Bothe, Peace-keeping (2002), Rn. 83; Orakhelashvili, Virginia JIL 43 (2003), 485 (489). 537 Siehe die Diskussion nebst Nachweisen bei Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 25-30. Nach funktionalen Gesichtspunkten differenzierend Orakhelashvili, Virginia JIL 43 (2003), 485 (489498). 538 Tomuschat, in: Koch (Hrsg.), Blauhelme (1991), S. 47 f. 539 Sarooshi, BYIL 67 (1996), 413 (424). Dieser in Art. 31 Abs. 1 WVK (1969) a.E. niedergelegte Grundsatz wurde beispielsweise angewendet von StIGH, Polish Postal Service (Gutachten vom 16.5.1925), PCIJ Ser. B, No. 11, 37; IGH, Reparations for Injuries, ICJ-Rep. 1949, 174 (182 f.); IGH, Genocide Convention-Gutachten, ICJ-Rep. 1951, 15 (22); und IGH, Privileges and ImmunitiesGutachten, ICJ-Rep. 1989, 177 (196 § 53). Zur Entwicklung dieses Grundsatzes in der Rechtsprechung von StIGH und IGH siehe Gordon, Constitutive Treaties, AJIL 59 (1965), 794-833 (815 f.). 98 Kompetenzübertragung auszugehen.540 So erklärte der UN-Generalsekretär bereits 1947 im Hinblick auf die dem Sicherheitsrat in Art. 24 Abs. 1 der Charta übertragenen Aufgaben: „[T]he responsibility to maintain peace and security carrie[s] with it a power to discharge this responsibility. (…) [T]his (…) reflects a basic conception of the Charter, namely, that the Members of the United Nations have conferred upon the Security Council powers commensurate with its responsibility for the maintenance of peace and security.”541 Der IGH bestätigte in seinem Namibia-Gutachten von 1971 ausdrücklich, dass der Sicherheitsrat zu Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit neben den in Art. 24 Abs. 2 Satz 2 SVN aufgeführten Befugnissen auch über allgemeine, ungeschriebene Kompetenzen verfüge.542 Dies entspricht auch der Auffassung der Gründungsmitglieder, welche die Befugnisse des Sicherheitsrates ausdrücklich nicht auf die in Art. 24 Abs. 2 Satz 2 SVN genannten beschränkt wissen wollten.543 Dogmatisch sind diese allgemeinen, ungeschriebenen Befugnisse als generalklauselartige Auffangkompetenz für jene Fälle einzustufen, denen der Sicherheitsrat mit den in Art. 24 Abs. 2 Satz 2 SVN genannten Mitteln nicht adäquat begegnen kann.544 Ohne eine solche Auffangkompetenz würde der Sicherheitsrat seiner Hauptverantwortung, der Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit, weit schwerer gerecht werden können.545 Denn die Gründungsmitglieder konnten kaum alle möglichen Entwicklungen im Bereich der internationalen Sicherheit voraussehen. Mangels einschlägiger expliziter Normen der Charta sind diese implied powers als 540 IGH, Reparations for Injuries, ICJ-Rep. 1949, 174 (182); Seyersted, BYIL 37 (1961), 351 (447460); Zuleeg, Implied Powers, EPIL II (1995), 1312 (1312). 541 Vorgebracht in der 91. Sitzung des Sicherheitsrates am 10. Januar, S.C.O.R., S/P.V./91, 6 (11). 542 IGH, Namibia-Gutachten, ICJ-Rep. 1971, 16 (52 § 110). 543 Dies ergibt sich aus der Debatte im 1. Komitee des III. Ausschusses der Konferenz von San Francisco. Siehe dazu Norwegen, Doc. 2, G/7 (n) (1) v. 4.5.1945, UNCIO III, 365 (371 f.), Committee III/3, Doc. 539 (24.5.1945), UNCIO XII, 353 (354 f.) – Debatte Committee III/1, Doc. 597 (26.5.1945), UNCIO XI, 393-395. 544 Delbrück, Art. 24 SVN (2002), Rn. 10. 545 Degni-Segui, Article 24 (1991), 447(459). 99 rechtliche Grundlage für die Einrichtung konsensgestützter Peacekeeping-Missionen durch den Sicherheitsrat anzusehen.546 Systematisch lässt sich diese Befugnis an der Aufgabennorm des Art. 24 Abs. 1 SVN festmachen, von der sie sich ableitet.547 Wenn im Folgenden daher von Art. 24 Abs. 1 SVN als Rechtsgrundlage die Rede ist, meint dies die dort implizierte, ungeschriebene Befugnis des Sicherheitsrates zu konsensgestützten Peacekeeping-Maßnahmen. Die Peacekeeping-Befugnis kann mittlerweile zudem als organisationsinternes Gewohnheitsrecht betrachtet werden.548 Die Vielzahl der vom Sicherheitsrat mit Zustimmung der betroffenen Territorialstaaten entsandten Friedensmissionen stellt eine hinreichend gefestigte Praxis dar.549 Dass sie von einer entsprechenden opinio iuris der Mitgliedstaaten getragen wird, machen die jährlichen Resolutionen der Generalversammlung deutlich.550 Dass auf Grundlage der Peacekeeping-Befugnis ergriffene Maßnahmen grundsätzlich 546 So auch Bowett, UN Forces (1964), S. 307-311; Seyersted, BYIL 37 (1961), 351 (460 f.); Suy, UN Peacekeeping, EPIL IV (2000), 1143 (1144). Kritisch Orakhelashvili, Virginia JIL 43 (2003), 485 (488); ablehnend Conforti, The Law and Practice of the United Nations (2000) 206, der die Annahme ungeschriebener Kompetenzen als unzulässige Umgehung der geschriebenen Bestimmungen der Charta ansieht. Er stützt Peacekeeping-Missionen auf Art. 42 SVN und macht sie damit zur Zwangsmaßnahme (ebenda, S. 200 f.). Dass dies nicht der Meinung der Mitgliedstaaten entspricht, zeigt Präambel-§ 3 A/RES/58/315 vom 16.7.2004, der Peacekeeping ausdrücklich zu den Maßnahmen friedlicher Streitbeilegung zählt: „Affirming that the efforts of the United Nations in the peaceful settlement of disputes, including through ist peacekeeping operations, are indispensable“ [Hervorhebungen durch den Verfasser]. 547 Delbrück, Art. 24 SVN (2002), Rn. 10. Vgl. auch die Äußerungen der Vertreter der UdSSR und des Vereinigten Königreiches in der 89. Sitzung des Sicherheitsrats am 7. Januar 1947, S.C.O.R., S/P.V./89, 41. 548 Franke, UN Operation im Kongo (1978), S. 247; Tomuschat, in: Koch (Hrsg.), Blauhelme (1991), S. 49. Im Ergebnis auch Ciobanu, in: Cassese (Hrsg.), UN Peace-keeping (1978), S. 26-29, der auf die Akzeptanz derartiger ungeschriebener Befugnisse durch die Mitgliedstaaten abstellt. 549 Siehe die Aufstellung der verschiedenen Missionen in UN, The Blue Helmets (1996), sowie die zahlreichen Einträge bei Ramsbotham/Woodhouse, Peacekeeping Operations (1999), S. Einen Überblick gibt auch Bothe, Peace-keeping (2002), Rn. 14-71. 550 Das Thema Peacekeeping wird seit 1965 jährlich von der Generalversammlung behandelt. Dabei nimmt sie die jährlichen Berichte des zuständigen Ausschusses im Konsensverfahren an. Die allgemeine Aktzeptanz des Peacekeeping zeigen beispielsweise Präambel-§ 3 der jüngsten Resolution A/RES/58/351 vom 16.7.2004 (siehe oben Fn. 539), ferner § 8 u. § 30 des Report of the Spec.Com. on PKO 2004, A/58/19 vom 26.4.2004. Zwar entfalten Resolutionen der Generalversammlung keine bindende Wirkung. In dieser Regelmäßigkeit können sie jedoch als Nachweis der kollektiven Rechtsauffassung der UN-Mitgliedstaaten angesehen werden (vgl. Tomuschat, in: FS Arangio-Ruiz (2004), S. 1753). 100 der Zustimmung des betroffenen Staates bedürfen, ergibt sich aus dem Nichteinmischungsgebot des Art. 2 Ziff. 7 SVN, das nur Zwangsmaßnahmen von seiner Geltung ausnimmt und zu dessen Überwindung es in allen anderen Fällen der Einwilligung des betroffenen Staates bedarf.551 Das die Peacekeeping-Kompetenz den Sicherheitsrat nicht berechtigt, Zwangsmaßnahmen zu ergreifen, ergibt sich aus dem Wesen der implied powers. Sie sind nur dort vorstellbar, wo es an vergleichbaren expliziten Regelungen fehlt. Die Befugnisse des Sicherheitsrates zu Zwangsmaßnahmen sind aber in Kapitel VII der Charta geregelt. Ließe man neben diesen expliziten Kompetenzen weitere gleichartige ungeschriebene zu, könnten die Voraussetzungen des Kapitels VII beliebig umgangen werden. Zu diesen Voraussetzungen gehört insbesondere der Tatbestand des Art. 39 SVN, mithin das Vorliegen einer unmittelbaren Friedensbedrohung oder gar eines Friedensbruches.552 Eine besondere Zurückhaltung ist auch deshalb geboten, weil Maßnahmen gegen den Willen des betroffenen Staates einen erheblichen Eingriff in dessen Souveränität bedeuten. Auch wenn man die restriktive Auslegungsmaxime des StIGH553 als durch spätere Urteile des IGH überholt ansieht,554 so können doch weitreichende Ermächtigungen der Mitgliedstaaten zur Einschränkung ihrer Souveränität nicht leichtfertig unterstellt werden.555 Dass es sich bei Peacekeeping-Maßnahmen nicht um Zwangsmaßnahmen handelt,556 551 Siehe dazu bereits oben 3.Kp. A.II.1. 552 Zu den Voraussetzungen des Kapitels VII ausführlicher unten 3. Kp. C.II. 553 Siehe StIGH, Commission of the Danube (Gutachten vom 8.12.1927), PCIJ Ser. B, No. 14, 64. 554 So Ress, Interpretation (2002), Rn. 1, mit Verweis auf IGH, Reparations for Injuries, ICJ-Rep. 1949, 174 (182 f.), IGH, Awards of Admin. Tribunal, ICJ-Rep. 1954, 47 (57); und IGH, Certain Expenses-Gutachten, ICJ-Rep. 1962, 151 (167). 555 So sprach der französische Vertreter bei seiner Anhörung vor dem IGH im Rahmen des Verfahrens zum Namibia-Gutachten von einem „principe fondamental selon lequel les restrictions à la souveraineté des Etats ne se présument pas mais doivent être consenties par eux.“ (abgedr. in Bedjaoui, New World Order (1994), Document Section, S. 277). Für eine restriktive Auslegung wegen der Beschränkung der Souveränität der Mitgliedstaaten auch Seyersted, BYIL 37 (1961), 351 (462), und Ciobanu, in: Cassese (Hrsg.), UN Peace-keeping (1978), S. 39. Aus dem selben Grund plädieren Frowein/Krisch, Introduction to Chapter VII (2002), Rn. 35, für eine restriktive Auslegung von Resolutionen des Sicherheitsrates. 556 So stuft die Generalversammlung Peacekeeping-Operationen ausdrücklich als Maßnahmen der friedlichen Streitbeilegung ein. Siehe den in Fn. 539 zitierten Präambel-§ 3 A/RES/58/315 vom 16.7.2004. 101 hat umgekehrt zur Folge, dass sie einen weiteren Anwendungsbereich als Maßnahmen nach Kapitel VII der Charta haben. Es bedarf nicht der Existenz einer Friedensbedrohung im Sinne des Art. 39 SVN, vielmehr reicht es aus, dass die Maßnahme im Sinne des Art. 24 Abs. 1 SVN allgemein der Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit dient.557 Die Peacekeeping-Befugnis ist mithin eine ungeschriebene Kompetenz des Sicherheitsrates, die ihm erlaubt, eine Maßnahme auch dann zu ergreifen, wenn sie von seinen in Art. 24 Abs. 2 Satz 2 SVN aufgeführten expliziten Kompetenzen nicht gedeckt ist. Voraussetzung ist, dass sie erstens zu den in Art. 24 Abs. 1 SVN genannten Zwecken ergriffen wird und zweitens, dass der betroffene Staat in diese Maßnahme eingewilligt hat. II. Art. 24 Abs. 1 SVN als Rechtsgrundlage einer UN-Gebietsverwaltung Das Bestehen der Peacekeeping-Befugnis sagt indes noch nichts darüber aus, ob sie dem Sicherheitsrat auch erlaubt, mit Zustimmung des betroffenen Staates eine UNGebietsverwaltung einzurichten. In der Tat war das Bestehen einer derartigen ungeschriebenen Befugnis bereits in der Frühzeit der Organisation Gegenstand kontroverser Diskussionen im Sicherheitsrat. Auslöser war Anfang 1947 die Frage, inwieweit die Charta dem Sicherheitsrat erlaubte, die ihm angetragene Verantwortung für das geplante Freie Territorium Triest zu übernehmen.558 Das Triester Projekt scheiterte jedoch, und auch in der Folgezeit kam es nur zu einer konsensgestützten Friedensmission des Sicherheitsrates, die Elemente einer Gebietsverwaltung enthielt.559 Da es mithin an einer gefestigten Praxis mangelt, kann nicht von einer gewohnheitsrechtlichen Befugnis des Sicherheitsrates ausgegangen werden. Es kann sich nur um eine implied power handeln. Die Annahme einer solchen ungeschriebenen Befugnis setzt nach der Rechtsprechung des IGH voraus, dass sie mit den Zielen und Grundsätzen der Organisation vereinbar (1.) und zur Erfüllung der ihr übertragenen Aufgaben geeignet (2.) und unbedingt erforderlich ist In diese Richtung – Peacekeeping auch in Kapitel VI-Situationen zulässig – auch Bothe, Peacekeeping (2002), Rn. 86. 557 558 Zu Triest siehe bereits oben 2.Kp. B. 559 Gemeint ist UNTAC in Kambodscha. Siehe dazu unten 3.Kp. B.III. 102 (3.). 1. Vereinbarkeit mit den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen In seinem Rechtsgutachten zur Zulässigkeit des freien Territoriums Triest stellte der Generalsekretär im Hinblick auf die Annahme ungeschriebener Kompetenzen des Sicherheitsrates fest: „The only limitations are the fundamental principles and purposes found in Chapter I of the Charter.“560 Diese Aussage wurde vom IGH in seinem Namibia-Gutachten ausdrücklich bestätigt.561 Tatsächlich ist der Übernahme der Verantwortung für das Freie Territorium Triest seitens Australiens entgegengehalten worden, dass sie mit den in den Art. 1 und 2 der Satzung niedergelegten Zielen und Grundsätzen unvereinbar sei562. Indes richtete sich dieser Einwand allein gegen die Übernahme einer Garantie der territorialen Integrität und der politischen Unabhängigkeit Triests, nicht gegen die Übernahme der Verwaltungskompetenz über dasTerritorium Triests. Die Garantie territorialer Integrität war neben der unbeschränkten Dauer aber eine der Besonderheiten des Triester Projekts, die in dieser Form bei einer übergangsweisen Verwaltung eines Krisengebietes nicht auftreten.563 Eine solche Gebietsverwaltung steht nicht prinzipiell im Widerspruch zu den Zielen und Grundsätzen der Organisation. Das gilt insbesondere, wenn sie der Friedenssicherung dienen soll.564 Wie bereits ausgeführt, stellt die einvernehmliche 560 Vorgetragen in der 91. Sitzung des Sicherheitsrates am 10. Januar, siehe S.C.O.R., S/P.V./91, 6 (11). 561 IGH, Namibia-Gutachten, ICJ-Rep. 1971, 16 (52 §110). 562 So der Vertreter Australiens in der 91. Sitzung des Sicherheitsrats, S.C.O.R., S/P.V./91, 62 (63). 563 Zwar wird die Beachtung der territorialen Integrität des betroffenen Staates bei fast jeder Initiierung von Friedensmissionen durch den Sicherheitsrat betont. Diese Hervorhebung bezieht sich aber auf den bereits zuvor bestehenden Status und erreicht nicht die Qualität einer (langfristigen) Garantie. Siehe dazu statt vieler den Präambel-§ 10 S/RES/1244 (1999) vom 10.6.1999. Ohnehin ernteten die australischen Bedenken Widerspruch seitens der übrigen Sicherheitsratsmitglieder. Siehe die Äußerungen der Vertreter Frankreichs und Polens, S.C.O.R., 91. Sitzung vom 10.1.1947, S/P.V./91, 71, bzw. 89. Sitzung vom 7.1.1947, S/P.V./89, 62 (66). 564 Etwas Anderes könnte nur gelten, wenn die Verwaltung zu dem Zweck eingerichtet würde, das Selbstbestimmungsrecht eines Volkes zu unterdrücken oder um Menschenrechtsverletzungen zu ermöglichen. Dies erscheint jedoch wenig wahrscheinlich. 103 Übernahme der Verwaltungshoheit insbesondere keine Souveränitätsverletzung dar.565 Die grundsätzliche Vereinbarkeit einer UN-Verwaltung von Krisengebieten mit den Grundsätzen und Zielen der Organisation lässt auch die Debatte um einen norwegischen Änderungsvorschlag bei der Konferenz von San Francisco erkennen. Der norwegische Delegierte schlug vor, den Sicherheitsrat explizit zur Übernahme der Verwaltung über ein Gebiet zu ermächtigen, wenn dies der Friedenssicherung diene566. Dieser Vorschlag ist nur deshalb abgelehnt worden, weil die Ausschussmehrheit befürchtete, den Sicherheitsrat durch die detaillierte Aufzählung einzelner Kompetenzen bei der Wahl seiner Mittel allzu sehr einzuschränken. Die Unvereinbarkeit einer solchen Verwaltung mit der Charta wurde dagegen nicht geltend gemacht567, was auf eine entsprechende gemeinsame Rechtsüberzeugung der Gründerstaaten hinweist. 2. Geeignetheit In dem für die Anwendbarkeit der implied powers-Lehre auf die UN-Charta grundlegenden Reparations for injuries-Gutachten führte der IGH aus: „Under international law, the Organization must be deemed to have those powers which, though not expressly provided in the Charter, are conferred upon it by necessary implication as being essential to the performance of its duties.”568 Die fragliche ungeschriebene Befugnis muss somit zur Erfüllung der dem Sicherheitsrat übertragenen Pflichten erforderlich sein.569 Diese Aussage impliziert zwei weitere Voraussetzungen: Die Befugnis muss der Erfüllung der Aufgaben des Sicherheitsrates dienen, mithin in seinen Zuständigkeitsbereich fallen,570 und sie muss zur Erreichung dieses Zwecks 565 Siehe oben 3.Kp. A.II. 566 Norwegen, Doc. 2, G/7 (n) (1) v. 4.5.1945, UNCIO III, 365 (371 f.). Dieser Vorschlag bezog sich zwar auf den jetzigen Art. 42 SVN, er macht aber wie Art. 81 Satz 2 SVN deutlich, dass eine Gebietsverwaltung nicht prinzipiell unvereinbar mit den Zielen und Grundsätzen der Organisation ist. 567 Siehe den Bericht des Berichterstatters des Unterausschuss III/3 des Ausschusses III zu Kapitel VIII, Sektion B, Paul-Boncour, Doc. 881 (10.6.1945), UNCIO XII, 502 (508). 568 IGH, Reparations for Injuries, ICJ-Rep. 1949, 174 (182). 569 Siehe dazu den folgenden 3.Kp. B.II.3. 570 Dieses Erfordernis ist auch damit zu begründen, dass die interne Kompetenzordnung der Organisation auch bei der Annahme ungeschriebener Befugnisse eines ihrer Organe gewahrt bleiben muss. Siehe Campbell, ICLQ 32 (1983), 523 (528), unter Berufung auf die Rechtsprechung des IGH, 104 geeignet sein. Der Zuständigkeitsbereich des Sicherheitsrates wird in erster Linie durch Art. 24 Abs. 1 SVN festgelegt. Die Annahme einer implied power zur Einrichtung einer Konsensverwaltung ist damit nur dann zulässig, wenn diese der Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit dient. Dies bestritt der australische Vertreter im Hinblick auf das Freie Territorium Triest. Mit der Übernahme der ihm angetragenen Verantwortung für das Gebiet übernehme der Sicherheitsrat lediglich allgemeine Verwaltungstätigkeiten ohne einen notwendigen Bezug zu Fragen des Weltfriedens.571 Dem ist zunächst der finale Charakter einer friedenssichernden Maßnahme entgegenzuhalten. Entscheidend ist nicht die Maßnahme als solche – sie kann von der Beauftragung des Generalsekretärs, einen Bericht abzugeben572, bis zur Autorisierung einer militärischen Intervention von Mitgliedstaaten573 reichen – sondern ihre Zielsetzung und ihre Eignung, dieses Ziel zu erreichen. Dies gilt für alle Maßnahmen der Friedenssicherung unabhängig davon, ob sie sich auf die Kapitel VI oder VII oder auf eine ungeschriebene Kompetenz des Sicherheitsrates zur Friedenssicherung stützen. Soweit die Einrichtung einer Konsensverwaltung der Wahrung der internationalen Sicherheit dienen soll, bewegt sich eine solche Maßnahme im Kompetenzbereich des Sicherheitsrates. Dies bestätigen die Debattenbeiträge im Sicherheitsrat anlässlich des Triest-Projekts.574 Letztlich können die Ziele einer UN-Verwaltung ohnehin nur anhand des konkreten Einzelfalls beurteilt werden. und Gill, NYIL 26 (1995), 33 (70). Für einen Vorrang der Effektivität der Satzung bei ähnlich gelagerten expliziten Kompetenzen auch Blokker, EJIL 11 (2000), 541 (549). 571 91. Sitzung des Sicherheitsrats am 10.1.1947, SCOR, S/P.V./91, 63-66. Dieser Auffassung scheint sich auch Kelsen anzuschließen, der die Übernahme der Führung („headship“) eines Staatswesens als keinesfalls von Art. 24 SVN gedeckt ansieht (Kelsen, Law of the United Nations (1950), S.834). 572 Art. 6 der Resolution 598 (1987) des Sicherheitsrats vom 20.7.1987 ersuchte den Generalsekretär, die Ursache des Krieges zwischen Irak und Iran zu klären. Siehe dazu den Bericht des Generalsekretärs (S/23273) und UNYB 1991, 165. 573 So beispielsweise die Autorisierung der Befreiung Kuwaits durch S/RES/678 (1990) vom 29.11.1990 oder der Operation Artemis in der Demokratischen Republik Kongo durch S/RES/1484 vom 30.5.2003. 574 So betonte beispielsweise der Vertreter Frankreichs, dass das Freie Territorium Triest eine Konfliktursache entschärfe und deshalb in den Aufgabenbereich des Sicherheitsrates falle. Siehe S.C.O.R., 91. Sitzung vom 10.1.1947, S/P.V./91, 71. 105 Dagegen bestehen durchaus prinzipielle Bedenken gegen die Eignung einer konsensgestützten Gebietsverwaltung, einen relevanten Beitrag zur Wahrung des Weltfriedens zu leisten. Sie betreffen die Abhängigkeit von einer Zustimmung des betroffenen Staates und die Notwendigkeit, Verwaltungsentscheidungen auch gegen den Willen der betroffenen Personen durchsetzen zu können. a. Rechtmäßige Vertretung des Gebietes Da die Einrichtung einer UN-Verwaltung auf der Grundlage der PeacekeepingBefugnis die Zustimmung des betroffenen Staates erfordert, ist sie rechtlich nur zulässig, wenn dieser noch über effektive, hinreichend legitimierte Organe verfügt. Daran wird es gerade bei den für eine solche Verwaltung prädestinierten failed states regelmäßig fehlen.575 Wegen der völkerrechtlichen Fiktion des Fortbestehens auch kollabierter Staatswesen bestehen auch dessen Souveränitätsrechte fort.576 Art. 2 Abs. 7 SVN schützt damit grundsätzlich auch den failed state. Indes mag es im Einzelfall durchaus Gruppierungen geben, die hinreichend gefestigt sind, so dass sie in der Lage sind, übernommene Verpflichtungen auch umzusetzen. Ist ihre Zahl begrenzt und vertreten sie in ihrer Gesamtheit die Bevölkerung eines Gebietes in einigermaßen Völkerrechtsfähigkeit und repräsentativer können in Weise, eine so haben UN-Verwaltung sie partielle des Gebietes rechtswirksam einwilligen.577 Bei der Beurteilung, ob es sich um derartige Gruppen handelt, kann auf die Kriterien zur Bestimmung nationaler Befreiungsbewegungen zurückgegriffen werden.578 Fehlen aber derartige quasi-staatliche de-facto Organe, weil sich das Staatswesen in eine große Zahl rivalisierender Gruppierungen aufgelöst hat, so kann ein Eingreifen des Sicherheitsrats nur aufgrund einer konsensunabhängigen Rechtsgrundlage 575 Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 295 f. 576 Ipsen, Völkerrecht (2004), § 5 Rn. 11. 577 Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 294 f. u. 327. 578 Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 327. Zu diesen Kriterien siehe beispielsweise Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht I/2 (2002), S. 296 f.; Shaw, Int’l. Law (2003), S. 219-223; und Ipsen, Völkerrecht (2004), § 8 Rn. 11-15. 106 erfolgen. Als solche kommt nur Tätigwerden auf der Basis von Kapitel VII der Charta in Frage. Indes sind nicht alle Krisengebiete ohne legitime Organe, die gegenüber der UNO als rechtmäßige Vertreter agieren können. Dort, wo es, wie im Falle Triests, um die Entschärfung eines „Zankapfels“ zwischen zwei Staaten geht, ist eine konsensgestützte Verwaltung durchaus möglich, ebenso, wo es nach einem Bürgerkrieg zu einem Friedensabkommen der beteiligten Parteien gekommen ist.579 b. Dauer und Rücknahme der Einwilligung Weiterer Einwand gegen eine konsensgestützte Gebietsverwaltung ist, dass sie von der Aufrechterhaltung der staatlichen Einwilligung abhängig ist, mithin vom Wohlwollen des Territorialstaates.580 In der Tat erzwang Ägypten den Rückzug der ersten United Nations Emergency Force (UNEF I) im Jahre 1967, indem es seine Einwilligung zur Stationierung der Blauhelm-Truppe im Grenzgebiet zu Israel zurücknahm.581 Auch den Abzug der UN-Mission im Kongo (ONUC) begründete der Generalsekretär unter anderem damit, dass die kongolesische Regierung keine Verlängerung der Mission beantragt habe.582 Eine internationale Verwaltung ist aber im Verhältnis zu einer reinen Friedenstruppe oder gar einer bloßen Beobachtermission ein längerfristiges Projekt. Allein ihr Aufbau bedarf in der Regel einiger Zeit. Noch mehr Zeit aber bedarf sie, wenn ihre Aufgabe die Wiedererrichtung eines funktionierenden Staatswesen mit leistungsfähigen lokalen 579 Beispiele hierfür sind Namibia und Kambodscha. Zu Kambodscha siehe unten 3.Kp. B.III. 580 Wegen der Unzuverlässigkeit der Parteien vor Ort befürwortete der Generalsekretär auch im Falle der UN-Verwaltung in Ostslavonien (UNTAES), diese auf Kapitel VII und nicht auf die durchaus vorhandene Einwilligung der kroatischen Regierung und der örtlichen serbischen Bevölkerung zu stützen. Siehe dazu § 22 des Berichts S/1995/1028 vom 13.12.1995. Nach Rothert, Columbia JTL 39 (2000), 257 (274), war dies auch der Grund, weshalb der Sicherheitsrat in S/RES/1264 (1999) vom 15.9.1999 die Autorisierung der internationalen Friedenstruppe INTERFET in Osttimor auf Kapitel VII SVN stützte, obwohl Indonesien zuvor sein Einverständnis gegeben hatte. UN, Threats, Challenges and Change (2004), § 213, betont „that even the most benign environment can turn sour – when spoilers emerge to undermine a peace agreement (...)“. 581 Zwar war die UNEF I auf eine Resolution der Generalversammlung gestützt. Ein Tätigwerden der Generalversammlung im Bereich der Friedenserhaltung erfordert aber ebenfalls die Zustimmung des betroffenen Staates (siehe unten 3.Kp. E.). Zur UNEF I insgesamt siehe UN, The Blue Helmets (1996), S. 35-55, und Tsur, in: Cassese (Hrsg.), UN Peace-keeping (1978), S. 183-221. Zu ihrem Rückzug ausführlich Garvey, AJIL 64 (1970), 241-268. 582 Siehe den § 145 des Bericht S/5784 des Generalsekretärs vom 29.6.1964, sowie UN, The Blue Helmets (1996), S. 199. 107 Institutionen ist. Ein erzwungener vorzeitiger Abzug würde eine solche UN-Mission regelmäßig zum Fehlschlag werden lassen. Doch selbst wenn es nicht zu einer vollständigen Rücknahme des territorialstaatlichen Einverständnis käme, könnte das Erfordernis fortdauernden Einvernehmens mit dem betroffenen Territorialstaat die Vereinten Nationen von diesem in einer Art und Weise politisch abhängig machen, die weder ihrem Auftrag vor Ort, noch ihrer Eigenschaft als Organ der Weltgemeinschaft gerecht würde.583 Diese Abhängigkeit ließe sich indes erheblich einschränken, wenn man mit einem Teil der Literatur die Beziehungen zwischen den Vereinten Nationen, vertreten durch den Sicherheitsrat, und dem betroffenen Völkerrechtssubjekt als ein völkerrechtliches Vertragsverhältnis, gerichtet auf die Durchführung der UNVerwaltung, begreift.584 Denn die territorialstaatliche Zustimmung erfolgt zu einer bestimmten Absicht der Vereinten Nationen, wie sie in den entsprechenden Resolutionen des Sicherheitsrats zur Errichtung der Verwaltung deutlich geworden ist. Insofern liegen zwei korrespondierende Willenserklärungen vor585. Noch deutlicher wird dies, wenn die Ermächtigungsresolution wie im Falle der Einrichtung der UNTAC in Kambodscha der Willenserklärung des betroffenen Staates zeitlich nachfolgt.586 Dort einigten sich die Konfliktparteien in den Pariser Friedensvereinbarungen auf die Einrichtung einer UN-Übergangsverwaltung mit bestimmten Zuständigkeiten. Die ihm so angetragene Aufgabe übernahm der Sicherheitsrat mit der Zustimmung zu diesen Verträgen durch die Resolution 718 (1991) vom 31. Oktober 1991.587 Das Vertragsverhältnis ist dabei eher ein informelles, welches sich weniger aus einem einheitlichen Vertragsdokument als aus dem Vorhandensein 583 Die Notwendigkeit, unabhängig von einer andauernden Zustimmung der Betroffenen handeln zu können, betont auch UN, Brahimi-Report (2000), § 49. 584 Orakhelashvili, Virginia JIL 43 (2003), 485 (520). Bothe, Peace-keeping (2002), Rn. 113 spricht von einer Vereinbarung („agreement“) zwischen UN und Territorialstaat. 585 Vgl. Di Blase, in: Cassese (Hrsg.), UN Peace-keeping (1978), 55 (56). 586 Di Blase, in: Cassese (Hrsg.), UN Peace-keeping (1978), 55 (81). 587 Zu den UN-Missionen in Kambodscha siehe oben 2.Kp. H. 108 korrespondierender Willenserklärungen ergibt.588 Dennoch können die allgemeinen Auslegungsgrundsätze des Völkerrechts angewendet werden.589 Im Rahmen einer Vertragsbeziehung ist auch die Dauer des Einsatzes einer vertraglichen Regelung zugänglich. Sie kann entweder konkret bestimmt werden, oder es kann ein Modus vereinbart werden, wer nach welchen Kriterien über die Beendigung der Mission entscheidet. Eine Regelung kann ferner entweder ausdrücklich erfolgen – beispielsweise durch einen entsprechenden Passus in der relevanten Sicherheitsratsresolution590 - oder sich durch Auslegung ergeben. Doch selbst wenn man ein wie auch immer geartetes Vertragsverhältnis über die Errichtung und Durchführung einer UN-geleiteten Gebietsverwaltung ablehnt – etwa, weil ein solches Verhältnis die Entscheidungsspielräume der UN zu sehr einengte oder sie der Gefahr einer vertraglichen Haftung gegenüber dem Gaststaat aussetzte, gilt nicht notwendig etwas anderes. Die Zustimmungserklärung des betroffenen Staates ist dann als einseitiger völkerrechtlicher Akt zu bewerten, durch den dieser sich selbst bindet.591 Sofern sich die Zustimmung auf die reine Billigung der UNMission beschränkt und keine weiteren Vorbehalte enthält, bestimmt sich ihr Inhalt nach der Sicherheitsratsresolution, auf die sie sich bezieht. Im Übrigen sind auch einseitige völkerrechtliche Akte grundsätzlich einer Auslegung zugänglich.592 588 Vgl. Art. 11 WVK (1969) und Art. 11 WVKIO (1986). 589 Di Blase, in: Cassese (Hrsg.), UN Peace-keeping (1978), 55 (57). 590 § 19 S/RES/1244 (1999) vom 10.6.1999 lautet: “[The Security Council] [d]ecides that the international civil and security presences are established for an initial period of 12 months, to continue thereafter unless the Security Council decides otherwise”. Wäre diese Resolution auf der Grundlage des Art. 24 Abs. 1 SVN verabschiedet worden und hätte der betroffene Staate dem vorbehaltlos zugestimmt, so wäre der betroffene Staat daran gehindert, seine Zustimmung zurückzuziehen, weil das durch die Zustimmung zustande gekommene Vertragsverhältnis die Entscheidung über die Fortdauer nach dem Wortlaut des o.g. Artikels allein dem Sicherheitsrat zuweist. 591 So Di Blase, in: Cassese (Hrsg.), UN Peace-keeping (1978), 55 (57), die allerdings selber der vertraglichen Theorie zugeneigt ist. Zur bindenden Wirkung einseitiger Akte siehe IGH, Nuclear Tests Case, ICJ-Rep. 1974, 253 (267 f. §§ 42-46) bzw. 457 (472 f. §§ 45-49), Hobe/Kimminich, Völkerrecht (2004), S. 202-206; Ipsen, Völkerrecht (2004), § 18 Rn. 7-9. 592 Ipsen, Völkerrecht (2004), § 18 Rn. 11 f. 109 Die Abhängigkeit von der Einwilligung des betroffenen Völkerrechtssubjekt macht eine auf Art. 24 Abs. 1 SVN gestützte Gebietsverwaltung mithin nicht unpraktikabel. Voraussetzung ist allerdings, dass dieser Punkt bereits bei der Initiierung der Mission in Gestalt einer konkreten und hinreichend langen Zeitvorgabe Berücksichtigung findet. Auf diese Weise ist der betroffene Staat für diesen Zeitraum an sein einmal gegebenes Einverständnis gebunden. c. Durchsetzung von Verwaltungsentscheidungen Weiter wird gegen eine Gebietsverwaltung auf Grundlage der PeacekeepingBefugnis eingewandt, dass eine effektive Gebietsverwaltung die Fähigkeit haben müsse, Entscheidungen auch gegen den Willen der betroffenen Gruppen und Individuen durchzusetzen. Zu Zwangsmaßnahmen berechtige den Sicherheitsrat aber allein Kapitel VII der Charta, so dass Art. 24 Abs. 1 SVN keine taugliche Rechtsgrundlage für die Errichtung einer Gebietsverwaltung sein könne.593 Dieser Einwand geht jedoch insoweit fehl, als Zwangsmaßnahmen im Sinne des Kapitels VII der Charta nur Maßnahmen gegen den Willen des betroffenen Staates sind.594 Sofern dieser jedoch in eine Gebietsverwaltung durch die Vereinten Nationen eingewilligt hat, erfasst dies als notwendigen Teil der Verwaltungskompetenz auch den Verwaltungszwang, d.h. die Durchsetzung von Entscheidungen gegenüber Einzelnen oder Gruppen. Voraussetzung ist lediglich, dass die zustimmenden Organe oder Parteien hinreichend legitimiert sind, um für die Bevölkerung zu sprechen. Da es sich mithin nicht um Zwang gegen Staaten handelt, die Souveränität der Mitgliedstaaten somit nicht berührt wird, gibt es keinen Grund, die PeacekeepingBefugnis diesbezüglich eng auszulegen. Wie bereits ausgeführt beinhaltet Art. 24 Abs. 1 SVN eine subsidiäre Ermächtigung des Sicherheitsrats zu Maßnahmen verschiedenster Art im Rahmen seiner Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens. Sie erlaubt daher auch die Anwendung von Verwaltungszwang gegenüber Individuen oder Gruppen, soweit dies zur Friedenswahrung erforderlich 593 Dies andeutend Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 296. 594 IGH, Certain Expenses-Gutachten, ICJ-Rep. 1962, 151 (172 u. 177). 110 ist und von der staatlichen Einwilligung gedeckt ist.595 Somit handelt es sich bei einer konsensgestützten Gebietsverwaltung sehr wohl um ein grundsätzlich geeignetes Mittel zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit, welches allerdings insbesondere das Bestehen einer legitimen völkerrechtlichen Vertretung des Gebietes voraussetzt. 3. Erforderlichkeit Zu prüfen bleibt nurmehr, ob die Annahme einer ungeschriebenen Befugnis zur Verwaltung von Krisengebieten mit Zustimmung des Territorialstaates auch erforderlich ist, damit der Sicherheitsrat den ihm in Art. 24 Abs. 1 SVN übertragenen Pflichten nachkommen kann. Eine solche Befugnis müsste „essential to the performance of its duties“596 sein, ihr Fehlen müsste dem Sicherheitsrat die effektive Wahrung des Weltfriedens zumindest wesentlich erschweren. Das wäre schon dann nicht der Fall, wenn dieser über eine gleichwertige Rechtsgrundlage im geschriebenen Recht verfügte.597 Als eine solche alternative Rechtsgrundlage kämen Art. 81 Satz 2 SVN und insbesondere Art. 41 und 42 der Charta in Betracht. Art. 81 Satz 2 SVN, der eine Treuhandverwaltung durch die Vereinten Nationen erlaubt, ist aus verschiedenen Gründen, die an späterer Stelle ausführlich behandelt werden, keine gleichwertige Rechtsgrundlage für die übergangsweise Verwaltung von Krisengebieten.598 Gegen Art. 41 und 42 SVN spricht – unabhängig von der Frage, ob sie dem Sicherheitsrat tatsächlich die 595 Anders ohne Angabe von Gründen der Generalsekretär in § 22 seines Berichts S/1995/1028, der trotz Zustimmung der Betroffenen ein Kapitel VII-Mandat für erforderlich hält, damit die UN-Mission in Ostslavonien (UNTAES) Regierungsgewalt ausüben könne. 596 IGH, Reparations for Injuries, ICJ-Rep. 1949, 174 (182). 597 Moreno Quintana, Diss. Op., Certain Expenses-Gutachen, ICJ-Reports 1962, 239 (245); Hackworth, Diss. Op., IGH, Effects of Awards-Gutachten, ICJ-Rep. 1954, 76 (80 f.). Ähnlich Campbell, ICLQ 32 (1983), 523 (528) unter Berufung auf die Rechtsprechung des IGH und Gill, NYIL 26 (1995), 33 (70). Beide stellen darauf ab, dass eine explizite Kompetenz nicht durch die Annahme einer implied power umgangen oder anderweitig entwertet werden darf. Für einen Vorrang der Effektivität der Satzung auch bei ähnlich gelagerten expliziten Kompetenzen Blokker, EJIL 11 (2000), 541 (549). 598 Siehe dazu unten 3.Kp. F. 111 Einrichtung einer Gebietsverwaltung erlauben,599 dass sich eine auf sie gestützte UNVerwaltung in zweierlei Hinsicht von einer solchen auf Grundlage der PeacekeepingBefugnis unterscheidet. So bedarf es zunächst für Maßnahmen auf der Grundlage der Art. 41 und 42 SVN grundsätzlich nicht der Zustimmung des betroffenen Staates. Eine Kooperation des betroffenen Staates mag im Hinblick auf den Erfolg der Unternehmung wünschenswert sein, ist aber rechtlich nicht erforderlich.600 Das Verhältnis zwischen Sicherheitsrat und betroffenem Staat ist mithin eines von Über- und Unterordnung. So vorteilhaft sich dieses auf die rechtliche Handlungsfähigkeit des Rates auswirkt, so schwierig mag es unter politischen Aspekten sein. Ein Tätigwerden des Rates mit der Zustimmung des betroffenen Staates erlaubt es diesem, sein Gesicht zu wahren und auf die Ausgestaltung des Mandates der Verwaltung bestimmenden Einfluss zu nehmen. Dazu kommt, dass sich in der Vergangenheit oft keine Mehrheit im Sicherheitsrat für den Beschluss von Zwangsmaßnahmen gefunden hat. Diese Blockade, insbesondere während des Kalten Krieges, hat entscheidend zur Herausbildung der weniger einschneidenden, weil konsensgestützten PeacekeepingKompetenz geführt. Sie hat damit auch gezeigt, dass eine solche Rechtsgrundlage zumindest politisch erforderlich ist. Rechtlich lässt sich dem zwar mit einem de maiore ad minus-Schluss begegnen: Wo dem Sicherheitsrat Zwangsmaßnahmen erlaubt sind, muss ihm auch das weniger einschneidende Mittel einer konsensgestützten Maßnahme gestattet sein.601 Dieses Argument greift jedoch insoweit zu kurz, als sich auch die Anwendungsbereiche beider Rechtsgrundlagen unterscheiden. Während der Rückgriff auf Art. 41 und 42 SVN wenigstens das Bestehen einer Friedensbedrohung im Sinne des Art. 39 SVN voraussetzt, reicht für die Peacekeeping-Befugnis aus, dass eine auf sie gestützte Maßnahme allgemein der Wahrung des Weltfriedens im Sinne des Art. 24 Abs. 1 SVN dient. Eine Gebietsverwaltung auf der Grundlage der Peacekeeping-Befugnis 599 Zu dieser Frage siehe unten 3.Kp. C.I.2. 600 Siehe dazu ausführlich unten 3.Kp. C.III. 601 Tomuschat, in: Koch (Hrsg.), Blauhelme (1991), S. 48 f. 112 wäre mithin bereits im Vorfeld einer Friedensbedrohung möglich. Mithin stellt eine UN-Verwaltung auf der Grundlage des Art. 24 Abs. 1 SVN nicht nur eine qualitativ-politisch andere Maßnahme dar als eine auf Kapitel VII gestützte Administration. Sie erweitert den Handlungsspielraum des Rates in einer Weise, die in Einzelfällen seine Tätigkeit überhaupt erst ermöglicht. Ohnehin hat der Internationale Gerichtshof und ihm folgend die Praxis innerhalb der UN nie besonders hohe Anforderungen an die Erforderlichkeit einer impliziten Ermächtigung gestellt.602 So ist es teilweise als ausreichend angesehen worden, dass die Annahme einer impliziten Ermächtigung nicht ausdrücklich verboten ist und sich im Rahmen der Grundsätze und Aufgaben der Organisation bewegt.603 Auch im Hinblick darauf ist eine hinreichende Erforderlichkeit einer solchen ungeschriebenen Kompetenz anzunehmen. Da dies mit den Zielen und Grundsätzen der Organisation vereinbar und zur Erfüllung der Aufgaben des Sicherheitsrates erforderlich ist, ist davon auszugehen, dass die implizite Peacekeeping-Befugnis dem Sicherheitsrat auch die Einrichtung einer Gebietsverwaltung erlaubt, soweit dies der Friedenswahrung dient und von der Zustimmung des betroffenen Staates gedeckt ist. III. Fallbeispiele: Triest und Kambodscha Dass er eine solche Befugnis besäße, war auch die Meinung des Sicherheitsrates, als er am 10. Januar 1947 mit nur einer Enthaltung (Australien) beschloss, die ihm im Friedensvertrag mit Italien angetragene Verantwortung für das Freies Territorium Triest zu übernehmen.604 Das erscheint nach der hier vertretenen Ansicht nur 602 Seyersted, BYIL 37 (1961), 351 (455) mit Beispielen aus der Praxis der Vereinten Nationen. 603 Bowett, UN Forces (1964), S. 309. Diese Auffassung wurde auch von der britischen Regierung zur Frage der Rechtsgrundlage für die Einrichtung der UNEF und der UNTAET vertreten. Siehe dazu E. Lauterpacht, ICLQ 6 (1957), 301 (322). In seinem Gutachten zur Finanzierung der UNEF- und ONUC-Missionen stellte der IGH fest, es gäbe eine (widerlegliche) Vermutung der Rechtmäßigkeit des Handelns der Vereinten Nationen, sofern dieses der Erfüllung der Aufgaben der Organisation diene (IGH, Certain Expenses-Gutachten, ICJ-Rep. 1962, 151 [168]). 604 Entscheidung („decision“) vom 10.1.1947, abgedruckt in RPSC 1946-51, S. 312 f., ebenso in den S.C.O.R., 91. Sitzung, S/P.V./91, 61 f. Ausführlich zu Triest bereits oben 2.Kp. B. 113 insoweit bedenklich, als Triest zeitlich unbegrenzt, mithin auf Dauer durch den Sicherheitsrat verwaltet werden sollte. Art. 24 Abs. 1 der Satzung erlaubt jedoch nur solche Maßnahmen des Sicherheitsrats, die der Erhaltung oder Wiederherstellung des Weltfriedens dienen. Seine Verantwortung für Triest hätte der Sicherheitsrat daher nur solange ausüben dürfen, wie alle anderen Möglichkeiten, beispielsweise ein unabhängiges, souveränes Triest oder eine Teilung des Gebietes zwischen Italien und Jugoslawien605, ein Sicherheitsrisiko dargestellt hätten. Die Vereinbarungen zu Triest hätten daher zumindest eine regelmäßige Überprüfung der Situation und eine mögliche Beendigung des Engagement des Sicherheitsrats vorsehen müssen. Wie bereits dargelegt, war das Triest-Projekt jedoch eines der ersten Opfer des Kalten Krieges und kam nie zustande. Aus der Praxis des Sicherheitsrates lässt sich so nur ein Beispiel aufführen, in dem eine UN-Mission mit Zustimmung der betroffenen Parteien exekutivische Befugnisse innerhalb eines Gebietes übernommen hat. Es handelt sich dabei um die United Nations Transitional Authority in Kambodscha.606 Ihre Grundlage war das Pariser Friedensabkommen vom 23. Oktober 1991, in welchem dem Sicherheitsrat angetragen wurde, innerhalb von achtzehn Monaten freie Wahlen in Kambodscha zu organisieren und zu diesem Zweck weitreichende Befugnisse zu übernehmen.607 Mit Resolution 745 (1991) stimmte der Sicherheitsrat dem zu und richtete UNTAC ein. Sie ist ein gutes Beispiel für die Stärken und Schwächen einer konsensgestützten Gebietsverwaltung. So war die Situation in Kambodscha – nicht zuletzt aufgrund des Friedensschlusses – hinreichend stabil und stellte keine Friedensbedrohung im Sinne des Art. 39 SVN dar. So enthält die Resolution 745 (1992) auch keinerlei expliziten oder impliziten Verweis auf Kapitel VII.608 Ferner enthielt das Pariser 605 Zu dieser Lösung kam es im Ergebnis. Siehe dazu oben 2.Kp. B.III. 606 Siehe dazu ausführlich oben 2.Kp. H. und die dortigen Nachweise. In der ebenfalls konsensgestützten UN-Mission in Namibia (UNTAG) verblieb alle exekutivische Verantwortung bei Südafrika, weshalb sie hier nicht behandelt wird. Siehe aber dazu oben 2.Kp. G. 607 Art. 2 des Agreement on a comprehensive political settlement of the Cambodian Conflict, abgedr. als Annex zu UN-Doc. A/46/608 – S/23177 vom 30.10.1991, ferner in ILM 31 (1992), 174-204 (184). Einzelheiten oben in 2. Kp. H. Lediglich Präambel-§ 4 S/RES/745 (1992) stellt fest, dass man u.a. zu „restoration and maintenance of peace in Cambodia“ beitragen wolle. 608 114 Friedensabkommen relativ detaillierte Vorgaben hinsichtlich der von UNTAC zu übernehmenden Aufgaben und Befugnisse. Da dieses Abkommen auch unter Vermittlung des UN-Generalsekretärs zustandegekommen war, kann von einem maßgeschneiderten Aushandeln der UN-Befugnisse ausgegangen werden. Andererseits wies das Mandat der UNTAC echte Schwächen auf, insbesondere weil es ihr nicht ermöglichte, ihre Ziele auch gegen den Willen einzelner kambodschanischer Parteien durchzusetzen.609 Das hätte durch die Aushandlung entsprechender Befugnisse während der Friedensverhandlungen vermieden werden können. Ohnehin beruht diese Schwäche wesentlich darauf, dass UNTAC primär bestehende Verwaltungsstrukturen beaufsichtigen sollte, statt eigene aufzubauen oder zumindest die bestehenden grundlegend reformieren zu können. Dies wäre bei Missionen anders, welche, wie die hier besprochenen UN-Verwaltungen, die gesamte Verwaltungskompetenz über ein Gebiet ausüben. IV. Bewertung und Ausblick Im Hinblick auf die Errichtung einer UN-geleiteten Verwaltung lässt sich sagen, dass Art. 24 Abs. 1 SVN eine zulässige Rechtsgrundlage darstellt. Sie setzt allerdings eine legitime völkerrechtliche Vertretung des betroffenen Gebietes und deren Einwilligung voraus. Da die Kompetenz aus Art. 24 Abs. 1 der Charta nicht unter die Ausnahmeregelung des Art. 2 Ziff. 7 SVN a.E. fällt, muss die staatliche Einwilligung nicht nur das „Ob“ der Einrichtung einer UN-Verwaltung erfassen, sondern auch alle Kompetenzen und Modalitäten der Verwaltung vor Ort abdecken. Eine UNVerwaltung auf dieser Grundlage erfordert daher zumindest bei ihrer Einrichtung einen sehr kooperativen „Gaststaat“. Ein solcher wäre im Falle Triests wohl vorhanden gewesen, da das gesamte Projekt auf dem Friedensvertrag mit Italien basierte, Italien ihm also zugestimmt hatte. Im Übrigen ist eine auf Art. 24 Abs. 1 SVN und den Konsens mit den Betroffenen gestützte Verwaltung durchaus zulässig610 und mag im Einzelfall aus politischen 609 Siehe oben 2.Kp. H. und die dortigen Nachweise. 610 Klein, Statusverträge (1980), S. 110; Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security 115 Erwägungen von Vorteil sein611. So sind seit Anfang des neuen Jahrtausends alle UN-Missionen, die den Wiederaufbau staatlicher Strukturen zum Gegenstand haben, nur noch mit Zustimmung der betroffenen Staaten eingerichtet worden. 612 Das lässt erkennen, dass dem konsensualen Ansatz zumindest aus politischen Erwägungen heraus wieder stärkeres Gewicht zukommt. Ferner mag es auch in Zukunft wie in Kambodscha Situationen geben, in denen eine internationale Verwaltung eines Gebietes sinnvoll ist, ohne dass die für eine Zwangsmaßnahme nach Kapitel VII erforderliche Bedrohung des Weltfriedens gegeben ist.613 Dies zeigt, dass Art. 24 Abs. 1 SVN keine praktisch völlig unbedeutende Rechtsgrundlage ist. Indes fehlt es aber häufig an der Grundvoraussetzung für eine auf Art. 24 Abs. 1 SVN gestützte Verwaltung: zusammengebrochenen einem Staatswesen ist kooperativen regelmäßig Territorialstaat. schon kein Bei legitimer Ansprechpartner vorhanden, der die notwendige Zustimmung namens des betroffenen Gebietes und seiner Bevölkerung erteilen könnte.614 In anderen Krisengebieten mag die Zustimmung innerstaatlicher Akteure halbherzig oder nur vorgetäuscht sein, und zurückgezogen werden, sobald einer Partei die Wiederaufnahme der Kampfhandlungen günstiger erscheint.615 Der praktische Anwendungsbereich einer auf Art. 24 Abs. 1 SVN gestützten UN-Verwaltung erscheint daher in der Praxis momentan gering. Wo es an einem konsensbereiten Partner fehlt, bleibt dem Sicherheitsrat nur ein „unilaterales“ Vorgehen auf der (1999), S. 62; Stahn, MP-UNYB 5 (2001), 105 (138). Boutros-Ghali, Suppl. to an Agenda for Peace (1995), A/50/60 - S/1995/1, §§ 33 ff., scheint ebenfalls in seiner Beschreibung einer „peacebuilding“-Mission, die in ihren Grundzügen einer UN-Gebietsverwaltung entspricht, davon auszugehen, dass diese auf die allgmeine Kompetenz zu Peacekeeping-Maßnahmen gestützt werden kann. 611 So merkt UN, Threats, Challenges and Change (2004), § 213, an, dass ein Kapitel-VII-Mandat nicht immer im Interesse der truppenstellenden Staaten sei. 612 Siehe oben 2.Kp. N. und O. Sie sind allerdings nicht direkt vergleichbar, da die Vereinten Nationen in den dort genannten Missionen zumindest formal lediglich beratende Funktionen übernommen haben und der Sicherheitsrat zudem meist eine Friedensbedrohung im Sinne des Art. 39 SVN festgestellt hatte. 613 Matheson, AJIL 95 (2001), 76 (83). 614 Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 295, nennt Somalia als Beispiel. Andererseits hat sich die internationale Gemeinschaft in Afghanistan und im Irak als relativ geschickt darin gezeigt, schnell allgemein als legitim anerkannte Ansprechpartner zu finden. 116 Grundlage des Kapitels VII der Charta. Ob und unter welchen Voraussetzung dieses die Errichtung einer UN-Verwaltung über ein Krisengebiet zulässt, soll im nächsten Teil untersucht werden. 615 UN, Brahimi-Report (2000), § 48; UN, Threats, Challenges and Change (2004), § 213. 117 C. Krisengebietsverwaltung als friedenssichernde Zwangsmaßnahmen (Kapitel VII der Charta) Obwohl auch Art. 24 Abs. 1 der Charta als Rechtsgrundlage für eine UN-Verwaltung in Frage kommt, hat der Sicherheitsrat in den jüngsten und bisher einzigen Fällen, in denen er die gesamte Staatsgewalt über ein Krisengebiet übernommen hat, sein Handeln ausdrücklich auf Kapitel VII der Charta gestützt.616 Dass das Fehlen einer Einwilligung des Territorialstaats nicht ausschlaggebend war, zeigt die UNVerwaltung in Osttimor (UNTAET). Denn ihrer Einrichtung durch SicherheitsratsResolution 1272 (1999) gingen erfolgreiche Gespräche mit Portugal und Indonesien voraus, in denen diese Staaten der Übertragung der Verwaltungshoheit auf die Vereinten Nationen zugestimmt hatten.617 Dennoch ist die grundsätzliche Unabhängigkeit vom Willen des betroffenen Staates das prägende Merkmal einer Zwangsmaßnahme nach Kapitel VII der Charta.618 Im Folgenden wird untersucht, inwieweit die Befugnisse des Sicherheitsrates zu Zwangsmaßnahmen ihm erlauben, ein Krisengebiet unter UN-Verwaltung zu stellen. Zunächst wird dabei geprüft, ob Kapitel VII der Charta überhaupt – als Rechtsfolge – die Einrichtung einer Gebietsverwaltung zulässt, mithin ob es sich bei dieser um ein zulässiges Zwangsmittel handelt (I.). Im Anschluss soll kurz auf die tatbestandlichen Voraussetzungen einer solchen Zwangsmaßnahme, insbesondere auf die Diskussion des Friedensbegriffes des Art. 39 SVN, eingegangen werden (II.). Darauf folgend wird untersucht, welche rechtliche Bedeutung eine Zustimmung des betroffenen Staates zur Einrichtung einer auf Kapitel VII gestützten Gebietsverwaltung hat (III.), bevor die so gewonnenen Erkenntnisse anhand der bisherigen Fallbeispiele in der Praxis überprüft werden (IV.). 616 Siehe den jeweils letzten Präambel-§ der Resolutionen S/RES/1244 (1999) vom 10.6.2003 (UNMIK) und S/RES/1272 (1999) vom 25.10.1999 (UNTAET). 617 Siehe Präambel-§ 9 der S/RES/1272 (1999), § 25 des Berichts S/1999/1024 des Generalsekretärs vom 4.10.1999 und § 39 des Berichts A/54/654 an die Generalversammlung vom 13.12.1999. 618 Bowett, UN Forces (1964), S. 267; Gill, NYIL 26 (1995), 33 (52); Frowein/Krisch, Art. 42 (2002), Rn. 12. Zur rechtlichen Bedeutung einer Zustimmung des betroffenen Staates zu einer Zwangsmaßnahme siehe unten 3. Kp. C.III. 118 I. Errichtung einer UN-Verwaltung als Zwangsmaßnahme Bevor auf die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Gebietsverwaltung auf der Grundlage von Kapitel VII der Charta eingegangen wird, muss zunächst festgestellt werden, ob Kapitel VII überhaupt taugliche Rechtsgrundlage für die Einrichtung einer UN-Verwaltung sein kann. Schließlich handelt es sich bei dieser Maßnahme um einen erheblichen Eingriff in die Souveränität des betroffenen Staates, zu dem sich keine explizite Ermächtigung in den Normen des siebten Kapitels der Charta findet.619 Trotz dieses Befundes begegnete die Einrichtung von UN-Verwaltungen im Kosovo und in Osttimor keinem Widerstand von Seiten der übrigen Mitgliedstaaten.620 Im Gegenteil beteiligten sich viele der Mitgliedstaaten aktiv an diesen Projekten.621 Auch in der neueren Literatur wird die grundsätzliche Zulässigkeit einer solchen auf Kapitel VII gestützten Maßnahme nicht bezweifelt, jedoch unterschiedlich begründet. 1. Ungeschriebene Rechtsgrundlagen Während von einer Mehrheit der Literatur Art. 41 SVN – ggf. in Verbindung mit Art. 42 SVN – als zulässige Rechtsgrundlage für die Errichtung einer UN-Verwaltung gesehen wird,622 wird dies von einigen Autoren abgelehnt623. Der große Umfang der von einer UN-Verwaltung ausgeübten Kompetenzen sprenge den Rahmen von Sanktionsmaßnahmen, wie sie die Art. 41 und 42 SVN zuließen.624 Man könne Art. 619 Frowein, in: FS Rudolf (2001), S. 43; Ruffert, ICLQ 50 (2001), 613 (620). Siehe auch Stein, Sicherheitsrat und Rule of Law (1999), S. 302, der das Instrumentarium des Kapitels VII als „nicht für die Übernahme der Zentralfunktion eines Staates im inneren Bereich geschaffen“ ansieht. Zur Gebietsverwaltung als Souveränitätseingriff siehe bereits oben 3.Kp. A.II. 620 S/RES/1244 (1999) wurde vom Sicherheitsrat ohne Gegenstimmen verabschiedet, lediglich China enthielt sich (siehe UNYB 1999, 356). S/RES/1272 (1999) wurde ohne Gegenstimme verabschiedet (siehe UNYB 1999, 293). 621 Einzelheiten oben im 2.Kp. L. und M. 622 Kondoch, JC&SL 6 (2001), 245 (256 f.); Matheson, AJIL 95 (2001), 76 (83 f.); Stahn, ZaöRV 61 (2001), 107 (131); Bothe/Marauhn, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the International Community (2002), S. 232; Frowein/Krisch, Art. 41 (2002), Rn. 20; Wodarz, Kosovo-Konflikt (2002), S. 222 f.; ähnlich de Wet, Chapter VII Powers (2004), S. 315 (implied power unter Art. 41 SVN). Siehe dazu ausführliche den folgenden Teil (3.Kp. C.I.2.). 623 Ohne Begründung Wagner, VN 48 (2000), 132 (133), differenzierter Ruffert, ICLQ 50 (2001), 613 (620 f.) und Zygojannis, Die Staatengemeinschaft und das Kosovo (2003), S. 158 f. 624 Zygojannis, Die Staatengemeinschaft und das Kosovo (2003), S. 158. 119 41 SVN nicht als prinzipiell unbegrenzte Ermächtigung zu beliebigen friedenssichernden Maßnahmen auffassen.625 Alternativ wird deshalb vorgeschlagen, die Berechtigung des Sicherheitsrat auf eine implied power626 oder auf instant customary law627 zu stützen. Es erscheint jedoch problematisch, allein aus den zwei Sicherheitsratsresolutionen 1244 (1999) und 1272 (1999) ein spontan entstandenes Völkergewohnheitsrecht anzunehmen. Einerseits ist bereits die Rechtsfigur des instant customary law umstritten.628 Andererseits birgt ihre Anwendung im Bereich der Kompetenzordnung einer internationalen Organisation die Gefahr, diese einer gewissen Beliebigkeit auszusetzen und den konstituierenden Vertragstext gänzlich obsolet werden zu lassen. Kurz: Welche Maßnahmen eine Organisation ergreifen und welches Organ dazu tätig werden dürfte, wäre allein von einem kurzfristig bestehenden Konsens der Mitgliedstaaten abhängig.629 Für die Annahme einer gewohnheitsrechtlichen Kompetenz wäre daher wenigstens eine Sicherheitsratspraxis zu fordern, die deutlich über zwei einzelne Missionen hinausgeht, zumal die Genannten auch noch in einem sehr kurzen zeitlichen Abstand voneinander autorisiert wurden. Die Annahme spontan entstehenden Gewohnheitsrechts ist daher im Bereich des Kapitels VII der Charta abzulehnen.630 Gegen die Annahme einer implied power zu Zwangsmaßnahmen wiederum spricht der Wortlaut des Art. 39 SVN, der in seinem zweiten Halbsatz bestimmt, dass alle Maßnahmen, die der Sicherheitsrat zur Wahrung oder Wiederherstellung des 625 Ruffert, ICLQ 50 (2001), 613 (620). 626 Ruffert, ICLQ 50 (2001), 613 (620 f.); Zygojannis, Die Staatengemeinschaft und das Kosovo (2003), S. 158 f. 627 Wagner, VN 48 (2000), 132 (133). Das Konzept eines instant customary law geht zurück auf Ago, RdC 90 (1956 II), 851 (932-935) und Cheng, Indian JIL 5 (1965), 23 (35-40). 628 Ipsen, Völkerrecht (2004), § 16 Rn. 5. 629 Dies ist etwas anderes als die Berücksichtigung der ständigen Praxis der Organe der Vereinten Nationen bei der Auslegung der Charta, die zumindest eine längere Zeitdauer verlangt. Siehe dazu Ress, Interpretation (2002), Rn. 27 ff. 630 Stein, Sicherheitsrat und Rule of Law (1999), S. 330 f. In diese Richtung auch Bernhardt, GYIL 42 (1999), 11 (21), der für die Annahme einer gewohnheitsrechtlichen Fortbildung des Kapitels VII der Charta eine „continous practice“ verlangt. 120 Weltfriedens ergreifen möchte, auf der Grundlage der Art. 41 und 42 SVN zu erfolgen haben.631 Dies lässt im Bereich des Kapitels VII wenig Raum für die Annahme zusätzlicher implied powers.632 Zudem könnte anderenfalls das Verbot des Art. 2 Abs. 7 SVN beliebig umgangen werden. Entscheidender ist aber der Umstand, dass die Befugnis zu Zwangsmaßnahmen dem Sicherheitsrat weitreichende Eingriffe in die Souveränität der UN-Mitgliedstaaten erlaubt, weshalb bei der Annahme entsprechender ungeschriebener Ermächtigungen größte Zurückhaltung geboten ist.633 2. Art. 41 und 42 SVN Ohnehin bedarf es der Annahme ungeschriebener oder gewohnheitsrechtlicher Kompetenzen nur dann, wenn es an geschriebenen, den Sachverhalt erfassenden Normen fehlt.634 Vorliegend wäre dies nur dann der Fall, wenn die Prämisse der Vertreter alternativer Rechtsgrundlagen korrekt wäre und die Art. 41 und 42 tatsächlich keine Rechtsgrundlage für die zwangsweise Errichtung einer UNVerwaltung über ein Krisengebiet böten. a. Die Auslegung der Art. 41 und 42 SVN – Zulässigkeit auch atypischer Maßnahmen? Art. 41 SVN regelt den Einsatz nicht-militärischer Zwangsmittel durch den Sicherheitsrat, während Art. 42 der Charta ihn zum Einsatz von Streitkräften befugt. Beide Artikel enthalten in ihrem jeweiligen zweiten Satz eine Aufzählung möglicher Maßnahmen, wobei keine der genannten einen Bezug zur Errichtung einer Gebietsverwaltung enthält. Sähe man diesen Maßnahmenkatalog als abschließend an, stellten Art. 41 und 42 SVN somit keine taugliche Rechtsgrundlage für UNMIK und Art. 39, 2. Halbsatz SVN lautet im Original: „(...) shall (...) decide what measures shall be taken in accordance with Articles 41 and 42, to maintain or restore international peace and security.“ 631 Dagegen sprach Art. 24 Abs. 2 Satz 2 SVN von den „specific powers granted to the Security Council“, was die Annahme darüber hinausgehender general powers zulässt. Siehe dazu Delbrück, Art. 24 SVN (2002), Rn. 10 und oben 3.Kp. B.I. 632 633 Siehe dazu bereits oben 3.Kp. B.I. am Ende. 634 Zu recht verweist Campbell, ICLQ 32 (1983), 523 (528), darauf, dass implied powers nicht zu Lasten expliziter Kompetenzen angenommen werden dürfen. Ähnlich ICTY, Tadič-Fall (Entscheidung v. 2.10.1995), abgedr. in: ILM 35 (1996), 32 (43 § 31). 121 UNTAET dar. Indes beginnen die Aufzählungen in beiden Artikeln mit der Wendung „These“ (Art. 41 Satz 2 SVN) beziehungsweise „Such action [Art. 42 Satz 2] may include (...)“. Diese Formulierung, die mit „Sie können (...) einschließen“ übersetzt wurde,635 zeigt, dass die darauf folgenden Listen keinen numerus clausus der zulässigen Maßnahmen darstellen, sondern lediglich beispielhafte Aufzählungen sind.636 Es ließe sich aber argumentieren, die Art. 41 und 42 SVN erlaubten tiefe Eingriffe in die Souveränität der Mitgliedstaaten und seien deshalb grundsätzlich eng auszulegen. Aus dieser Prämisse ließe sich ableiten, dass die Liste der dort genannten Handlungsmöglichkeiten zwar wegen des Wortlauts der Normen nicht abschließend ist, sie aber als zwingende Typisierung aller nach diesen Normen gestatteten Handlungsweisen aufzufassen ist. Mithin dürfte der Sicherheitsrat aufgrund der Art. 41 und 42 SVN nur solche Maßnahmen ergreifen, die den genannten in Wirkungsweise und Ergebnis entsprechen. Dann ließe Art. 41 SVN nur verschiedene Arten von Embargos zu, während Art. 42 SVN nur klassische Militäroperationen erlaubte. Denkbar wäre dann nur, die Errichtung einer internationalen Verwaltung quasi als Nebenprodukt einer nach Art. 42 SVN zulässigen militärischen Besetzung eines Krisengebietes durch UN-mandatierte Truppen zuzulassen.637 Die Befugnis zur Errichtung einer UN-Verwaltung folgte dann allerdings eher aus humanitärem Völkerrecht, d.h. der Verpflichtung des Besatzers aus Art. 43 der Haager Landkriegsordnung (HLKO)638, die öffentliche Ordnung im besetzten Gebiet aufrechtzuerhalten.639 Indes erklärt dies nicht die weiten Befugnisse, die der 635 Nach der amtl. Übersetzung im BGBl. 1980 II, 1252 ff. 636 ICTR, Kanyabashi-Fall (Entscheidung v. 18.6.1997), § 27; Frowein/Krisch, Art. 41 (2002), Rn. 14; Conforti, The Law and Practice of the United Nations (2000),S. 193; Schachter, AJIL 85 (1991), 452 (454), jeweils zu Art. 41 Satz 2 SVN; Frowein/Krisch, Art. 42 (2002), Rn. 2, zu Art. 42 Satz 2 SVN und Herdegen, Die Befugnisse des UN Sicherheitsrates (1998), S. 7 u. 25, zu beiden Artikeln. 637 So Conforti, The Law and Practice of the United Nations (2000), S. 205 ff. (insb. 208 f.). 638 Abkommen, betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs vom 18. Oktober 1907, RGBl. 1910, 107 ff. 639 Zur Frage der Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts auf Truppen unter UN-Mandat siehe 122 Sicherheitsrat den UN-Verwaltungen im Kosovo und in Osttimor gegeben hat,640 die weit über Bestimmungen des humanitären Völkerrechts hinausgehen. Die Art. 42 ff. HLKO bezwecken in erster Linie die Wahrung des status quo in den besetzten Gebieten,641 während das Mandat von UNMIK und UNTAET maßgeblich die Veränderung der vorgefundenen Verhältnisse bezweckt642. Ein Gebiet unter UNVerwaltung zu stellen bedarf daher einer über das humanitäre Völkerecht hinausgehenden Ermächtigung. Zu berücksichtigen ist ferner, dass die kriegerische Besetzung des Kosovo – wenn man sie denn so nennen will – gemäß § 7 der Resolution 1244 (1999) durch Mitgliedstaaten und relevante internationale Organisationen643 erfolgen sollte, während die Zivilverwaltung gemäß § 10 der Resolution 1244 (1999) getrennt davon durch den UN-Generalsekretär organisiert werden sollte. In Osttimor fand eine kriegerische Besetzung wenn überhaupt durch die auf Resolution 1264 (1999) gestützten Truppen der INTERFET statt. Diese wurde aber explizit durch die aufgrund durch Resolution 1272 (1999) eingerichtete Zivilverwaltung UNTAET abgelöst.644 Auch dies deutet – wenn auch nicht zwingend – darauf hin, dass der Sicherheitsrat die Einrichtung einer Gebietsverwaltung nicht lediglich als Annexkompetenz zu erlaubten militärischen Zwangsmaßnahmen ansieht. Gegen die Ansicht, die in Art. 41 und 42 SVN genannten Maßnahmen als in ihrer Typisierung zwingend anzusehen, sprechen ferner teleologische Erwägungen. Eine Typisierung durch die genannten Beispiele würde das Handlungsarsenal des das Bulletin des UN-Generalsekretärs vom 6.8.1999 (UN Doc. ST/SGB/1999/13), ferner Shraga, AJIL 94 (2000), 406 (406-409), und Benvenuti, RGDIP 105 (2001), 355-372. Zur Rechtsgrundlage der Verwaltung des Irak durch die von den USA und Großbritannien geführte CPA siehe unten 3. Kp. D.IV.4. 640 Siehe § 9 u. § 11 S/RES/1244 (1999) sowie § 2 S/RES/1272 (1999). 641 Ipsen, Völkerrecht (2004), § 69 Rn. 22; Froissart, FS Fleck (2004), S. 107. Dieser Grundsatz ist insbesondere in Art. 43 u. 55 HLKO sowie in Art. 54 und 64 GK IV niedergelegt. Siehe dazu ausführlicher unten 4.Kp. E.I. 642 Siehe etwa § 12 (a) S/RES/1244 (1999), der UNMIK mit der Organisation und Betreuung demokratischer Selbstverwaltungsstrukturen im Kosovo beauftragt – Strukturen, die das Kosovo unter jugoslawischer Herrschaft gerade nicht besaß. 643 Gemeint war die NATO. 644 §. 9 S/RES/1272 (1999). 123 Sicherheitsrats auf dem Stand von 1945 einfrieren und ihm ein flexibles, der aktuellen Situation angepasstes Vorgehen bei Friedensbrüchen und –bedrohungen wesentlich erschweren. Dies widerspräche dem in Art. 24 Abs. 1 SVN zum Ausdruck kommenden Motiv der Mitgliedstaaten, dass der Rat „prompt and effective“ handeln möge. Auch die ständige Praxis widerspricht einer engen Auslegung der Art. 41 und 42 SVN. So hat der Sicherheitsrat eine Vielzahl atypischer Maßnahmen auf seine Kompetenzen aus Kapitel VII der Charta gestützt, darunter die Errichtung internationaler Strafgerichte,645 die Verpflichtung von Staaten, Verdächtige auszuliefern646 oder abzurüsten647. Obwohl diese Maßnahmen nicht immer unumstritten waren, trafen sie bei den Mitgliedstaaten überwiegend auf Zustimmung.648 Es ist daher davon auszugehen, dass Art. 41 und 42 SVN dem Sicherheitsrat eine große Freiheit bei der Wahl militärischer beziehungsweise nichtmilitärischer Mittel zur Bekämpfung einer Friedensbedrohung lassen.649 Dass es auch der Intention der UN-Gründerstaaten entspricht, die Errichtung einer UN-Territorialverwaltung in den Kreis der Kapitel VII-Befugnisse einzubeziehen, zeigt der bereits erwähnte norwegische Vorschlag bei der Konferenz von San Francisco im Jahre 1945. Er sah vor, dem Beispielskatalog des späteren Art. 42 Satz 2 der Charta die Ermächtigung hinzuzufügen, die Verwaltung über ein Gebiet zu 645 So errichtete der Sicherheitsrat mit der Resolution 827 (1993) vom 25.5.1993 den internationalen Strafgerichtshof für das Gebiet des früheren Jugoslawiens (ICTY) und mit der Resolution 955 (1994) vom 8.11.1994 den internationalen Strafgerichtshof für Ruanda (ICTR). 646 S/RES/748 (1992) vom 31.3.1992 i.V.m. S/RES/731 (1992) vom 21.1.1992 (Libyen), S/RES/1054 (1996) vom 26.4.1996 (Sudan) und S/RES/1267 (1999) vom 15.10.1999 (Afghanistan). 647 §§ 7-14 S/RES/687 vom 3.4.1991, abgedr. in UNYB 1991, 172-176 (Irak). 648 So für die Errichtung internationaler Strafgerichte Frowein/Krisch, Art. 41 (2002), Rn. 19, und Tomuschat, in: FS Arangio-Ruiz (2004), S. 1755 f. ICTY, Tadič-Fall (Entscheidung v. 2.10.1995), abgedr. in: ILM 35 (1996), 32 (43 para. 31 u. 44 f. para. 35); Goodrich/Hambro/Simons, UN Charter (1969), S. 312, und Frowein/Krisch, Art. 41 (2002), Rn. 14, zu Art. 41 SVN. Für Art. 42 SVN siehe Goodrich/Hambro/Simons, UN Charter (1969), S. 315; Gill, NYIL 26 (1995), 33 (51); und Frowein/Krisch, Art. 42 (2002), Rn. 16. So stellt auch der Bericht der UN, Threats, Challenges and Change (2004), in § 193 fest: „[T]he language of Chapter VII is inherently broad enough, and has been interpreted broadly enough, to allow the Security Council to approve any coercive action at all (...) when it deems this ‘necessary to maintain or restore international peace and security’.” 649 124 übernehmen, wenn anderenfalls ein Bedrohung des Friedens vorläge650. Diesen Vorschlag zog der norwegische Delegierte nur deshalb zurück, weil befürchtet wurde, eine zu ausführliche und detaillierte Aufzählung möglicher Maßnahmen könnte zu der oben besprochenen restriktiven Auslegung der Kompetenzen des Sicherheitsrats führen, welche die Gründerstaaten gerade vermeiden wollten.651 Zusammenfassend ist daher festzustellen, dass die Errichtung einer UN-Verwaltung ein zwar atypisches, aber zulässiges Zwangsmittel ist, auf das sich der Sicherheitsrat zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens stützen kann.652 b. Verortung und Umfang der Verwaltungskompetenz Zu klären bleibt, welcher der beiden Artikel die eigentliche Rechtsgrundlage bildet oder ob sogar beide in Frage kommen. Einerseits ist eine Zivilverwaltung grundsätzlich kein militärisches Mittel, so dass seine Grundlage eher in Art. 41 SVN zu suchen wäre.653 Allein eventuelle militärische Komponenten wie die KFOR im Kosovo oder der militärische Teil der UNTAET müssten auf Art. 42 SVN gestützt werden654. Andererseits erlaubt Art. 41 Satz 1 SVN nicht den Einsatz von Waffengewalt („armed force“). Eine effektive Gebietsverwaltung erfordert aber den Einsatz von Polizeigewalt zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, zur Strafverfolgung und zum Verwaltungsvollzug.655 Insofern verwendet auch die 650 Siehe Norwegen, Doc. 2, G/7 (n) (1) v. 4.5.1945, UNCIO III, 365 (371 f.). Das dieser Passus den späteren Art. 42 SVN (und nicht Art. 41 SVN) ergänzen sollte, deutet allerdings daraufhin, dass die norwegische Delegation die Befugnis zur Gebietsverwaltung als Erweiterung der militärischen Kompetenzen des Sicherheitsrats sah. 651 Siehe die Zusammenfassung der Diskussion in Committee III/3, Doc. 539 (24.5.1945), UNCIO XII, 353 (354 f.) und den Bericht des zuständigen Berichterstatters Paul-Boncour, Doc. 881 (10.6.1945), UNCIO XII, 502 (508). 652 So auch die oben in Fn. 615 Genannten. Ablehnend Hoffman, IRRC No. 837 (2000), 193 (197 f.), der mit dem lapidaren Hinweis, die Charta enthalte keine Ermächtigung zur Gebietsverwaltung, das Recht der kriegerischen Besetzung als Rechtsgrundlage annimmt. 653 Für Art. 41 SVN als Rechtsgrundlage einer UN-Verwaltung auch Lagrange, AFDI 45 (1999), 335 (344); Matheson, AJIL 95 (2001), 76 (83 f.); Stahn, ZaöRV 61 (2001), 107 (131); Bothe/Marauhn, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the International Community (2002) (232); Wodarz, Kosovo-Konflikt (2002), S. 222 f.; Frowein/Krisch, Art. 41 (2002), Rn. 21; von Carlowitz, AVR 41 (2003), 336 (342); und Muharremi, Treuhandverwaltung (2005), S. 61 f. 654 Kondoch, JC&SL 6 (2001), 245 (256); Bothe/Marauhn, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the International Community (2002) (232); Stahn, ZaöRV 61 (2001), 107 (131) 655 Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 295. 125 Zivilverwaltung armed force. Eine klare Trennung zwischen Art. 41 und 42 SVN erscheint schwierig. Im Ergebnis ist daher von einer gemischten Rechtsgrundlage auszugehen: Die Zwangsverwaltung eines Krisengebietes durch den Sicherheitsrat stützt sich als weitgehend friedliche Maßnahme primär auf Art. 41,656 hinsichtlich der Befugnis zur Anwendung von Waffengewalt (armed force) aber auf Art. 42 SVN.657 Eine derartige gemischte Rechtsgrundlage erweckt keine Bedenken, da die Schranken und Voraussetzungen der Art. 41 und 42 SVN – vom Einsatz bewaffneter Gewalt abgesehen – dieselben sind. Aus dem gleichen Grund führte auch eine Fundierung der UNZwangsverwaltung allein auf Art. 41 SVN658 oder allein auf Art. 42 SVN659 zu keinem anderen Ergebnis. Der Annahme einer gemischten Rechtsgrundlage entspricht auch die Praxis des Sicherheitsrates. Er ließ diese Frage offen und berief sich bei der Einrichtung von UNMIK und UNTAET schlicht auf Kapitel VII der Charta insgesamt.660 Die Befugnis des Sicherheitrates aus Art. 41 und 42 SVN, ein Krisengebiet auch gegen den Willen des betroffen Staates zu verwalten, ist dabei umfassend. Sie erfasst die Ausübung aller Hoheitsbefugnisse innerhalb des Gebietes, die erforderlich sind, um das Gebiet effektiv zu verwalten und die von ihm ausgehende Bedrohung für den Weltfrieden im Sinne des Art. 39 SVN zu beenden. Das beinhaltet nicht nur die militärische oder polizeiliche Befriedung des Gebietes, sondern auch den Aufbau neuer Verwaltungsstrukturen und die damit einhergehenden staatlichen Gesetzgebungsbefugnisse.661 Kapitel VII der Charta erlaubt dem Sicherheitsrat somit 656 So im Ergebnis auch Milano, EJIL 14 (2003), 999 (1005), zur UN-Verwaltung im Kosovo (UNMIK). 657 So Frowein/Krisch, Art. 41 (2002), Rn. 21. Muharremi, Treuhandverwaltung (2005), 62 f., geht von einer Art. 41 SVN-Maßnahme aus, die ggf. um militärische Maßnahmen nach Art. 42 SVN ergänzt werden könne. 658 Zimmermann/Stahn, Nordic JIL 70 (2001), 423 (438). 659 Conforti, The Law and Practice of the United Nations (2000) 206. Siehe den jeweils letzten Präambel-§ S/RES/1244 (1999) und S/RES/1272 (1999): „[A]cting (....) under Chapter VII of the Charter of the United Nations“. 660 661 Anders von Carlowitz, AVR 41 (2003), 336 (342 f.), der insoweit auf der Grundlage der implied 126 in letzter Konsquenz auch, Steuern zu erheben oder die Erteilung von Fahrerlaubnissen zu regeln. II. Tatbestandliche Voraussetzungen einer UN-Zwangsverwaltung (Artikel 39 SVN) Steht somit fest, dass der Sicherheitsrat aufgrund seiner Kompetenzen aus Art. 41 f. SVN eine UN-Zwangsverwaltung einrichten darf, bleibt zu prüfen, welche tatsächlichen Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um dem Rat derartige Maßnahmen zu erlauben. Diese Voraussetzungen sind in Art. 39 SVN niedergelegt. Er besagt, dass der Rat zunächst das Vorliegen einer Angriffshandlung, eines Bruchs oder wenigstens einer Bedrohung des Friedens und der internationalen Sicherheit feststellen muss. Bei der Subsumtion einer tatsächlichen Situation unter die drei Tatbestandsvarianten des Art. 39 verfährt der Sicherheitsrat dabei bislang eher uneinheitlich.662 In den weitaus überwiegenden Fällen stellte er lediglich eine Friedensbedrohung fest.663 Dies geschah teilweise selbst dann, wenn ein internationaler bewaffneter Konflikt bereits offen ausgebrochen war.664 Da sich aber die Rechtsfolgen der drei Tatbestandsvarianten nicht unterscheiden, soll im Folgenden einheitlich der Begriff der Friedensbedrohung verwendet werden. Die Frage, wann eine tatsächliche Situation als Bedrohung des Friedens eingestuft werden kann, ist insbesondere im Hinblick auf die verstärkte Tätigkeit des Sicherheitsrats seit dem Ende des Kalten Krieges sehr umstritten.665 Da diese powers-Lehre von einer ungeschriebenen Annexkompetenz ausgeht. 662 Cohen-Jonathan, Art. 39 (1991), 645 (651 ff.); Franck, Fairness in International Law (1995), S. 222. 663 Chesterman, Just War or Just Peace? (2001), S.126 f.; Zambelli, La constatation des situations de l'article 39 de la Charte (2002), S. 267. 664 Siehe beispielsweise S/RES/1304 (2000) vom 16.6.2000, insb. Präambel-§§ 9 u. 18. Weitere Beispiele bei Frowein/Krisch, Art. 39 (2002), Rn. 16. Nach Lailach, Die Wahrung des Weltfriedens (1998), S. 147, lässt sich dies damit erklären, dass die Bezeichnung einer Situation als Friedensbruch von einzelnen Mitgliedern aus politischen Gründen abgelehnt wurde und man sich im Übrigen in zweifelhafteren Fällen auf den weiten Begriff der Friedensbedrohung zurück zog. 665 Etwas weniger umstritten ist inzwischen die Frage, wann eine Aggression oder Angriffshandlung vorliegt. Siehe dazu die Aggressionsdefinition der UN-Generalversammlung im Annex der Resolution A/RES/3314 (XXIX) vom 14.12.1974 und IGH, Nicaragua (merits), ICJ-Rep. 1986, 14 (103 § 195). Zum Scheitern der Versuche, bei der Konferenz von San Francisco eine Aggressionsdefinition in der 127 Kontroverse bereits ausreichende Bearbeitung in der Literatur666 erfahren hat, soll an dieser Stelle lediglich der Stand der Diskussion kurz wiedergegeben werden. Eingangs werden dabei die für die Auslegung des Art. 39 SVN relevanten Gesichtspunkte dargelegt (1.), bevor die Diskussion zur Anwendung der Norm auf interne Konflikte (2.) und auf die massive Verletzung völkerrechtlicher Grundnormen (3.) in ihren Grundzügen wiedergegeben wird. Beide Aspekte sind für die Einrichtung von UN-Zwangsverwaltungen von besonderer Bedeutung. So führen gerade interne Konflikte oft zu einem Zusammenbruch staatlicher Strukturen, ohne dass die Konfliktparteien in der Lage wären, diese eigenständig zu ersetzen. Die massive Verletzung grundlegender völkerrechtlicher Normen, insbesondere im Bereich der Menschenrechte, durch einen rechtlichen oder faktischen Hoheitsträger diskreditiert diesen und kann es erforderlich machen, ihn dauerhaft oder vorübergehend durch einen anderen zu ersetzen. Letzteres ist beispielsweise im Kosovo geschehen.667 Dort wurde die jugoslawisch-serbische Verwaltung des Gebietes von der internationalen Gemeinschaft als nicht mehr hinnehmbar angesehen. Bis zur Heranbildung gefestigter Selbstverwaltungsorgane hat daher die UN in Gestalt von UNMIK die Verwaltung des Gebiets übernommen. 1. Gesichtspunkte bei der Auslegung des Art. 39 SVN Obwohl Art. 39 SVN das Einfallstor zu den umfassenden Kompetenzen des Sicherheitsrats nach Kapitel VII bildet, ist keiner seiner drei Schlüsselbegriffe („threat to [or] breach of the peace“, „act of aggression“) in der Charta näher definiert.668 Dies entspricht der überwiegenden Absicht der UN-Gründerstaaten, es Charta festzulegen siehe Paul-Boncour, Doc. 881 (10.6.1945), UNCIO XII, 502 (505). 666 Siehe insbesondere Zambelli, La constatation des situations de l'article 39 de la Charte (2002); ferner Bauer, Effektivität und Legitimität (1996), S. 189-207; Gading, Souveränität (1996); Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 222-289; Martenczuk, Rechtsbindung und Rechtskontrolle (1996), S. 164 ff.; Lailach, Die Wahrung des Weltfriedens (1998), ; Österdahl, Threat to the Peace (1998); Herbst, Rechtskontrolle (1999), S. 321-364; Stein, Sicherheitsrat und Rule of Law (1999), insbes. S. 111 ff.; Leiß, Interventionen (2000); Chesterman, Just War or Just Peace? (2001), S. 112-162; de Wet, Chapter VII Powers (2004), S. 133-177. Weitere Literaturhinweise bei Frowein/Krisch, Art. 39 (2002), S. 717 f. 667 So Wilde, EJIL 15 (2004), 71 (85). 668 Goodrich/Hambro/Simons, UN Charter (1969), S. 295. Zu dem Versuch einer Definition einer Angriffshandlung siehe oben Fn. 658. 128 der Praxis des Sicherheitsrates zu überlassen, diese Begriffe mit Inhalt zu füllen669. Im Wortlaut des Art. 39 SVN wird dies durch die Formulierung „The Security Council shall determine (...)“ deutlich gemacht, die dem Sicherheitsrat eine weitreichende Einschätzungsprärogative zuweist.670 Teilweise wird sogar vertreten, die Feststellung einer Ermessensentscheidung Friedensbedrohung des sei Sicherheitsrates.671 eine Alle nicht justiziable Vorschläge, den Tätigkeitsbereich des Sicherheitsrates genauer zu definieren, wurden von der Mehrheit der Gründerstaaten mit dem Argument abgelehnt, der Rat würde anderenfalls daran gehindert, flexibel und angemessen auf Krisensituationen zu reagieren.672 Es ist das Konzept der Charta, die unilaterale Gewaltausübung durch die Mitgliedstaaten auf ein Minimum zu beschränken (Art. 2 Abs. 4 und Art. 51 SVN) und im Gegenzug dem Sicherheitsrat als Kollektivorgan die Hauptverantwortung für die Friedenswahrung zu übertragen (Art. 24 Abs. 1 SVN) sowie ihn zu befähigen, auf jegliche Art von Friedensbedrohung angemessen reagieren zu können.673 Der Tatbestand des Art. 39 SVN ist daher trotz seiner potentiell souveränitätsbeschränkenden Folgen (Art. 41 und 42 SVN) grundsätzlich weit auszulegen, wobei der Praxis des Sicherheitsrates besondere Bedeutung zukommt.674 Insbesondere seit den frühen neunziger Jahren hat der Sicherheitsrat seine Tätigkeit auf der Grundlage des Kapitels VII der Charta erheblich ausgebaut und ist bei der Feststellung einer Friedensbedrohung über Fälle zwischenstaatlicher bewaffneter 669 Siehe den Bericht des Berichterstatters Paul-Boncour, Doc. 881 (10.6.1945), UNCIO XII, 502 (505); ferner Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 727. Herdegen, Die Befugnisse des UN Sicherheitsrates (1998), S. 14, spricht von einer „Kompetenz ... [zur] normativen Konkretisierung“. 670 Gill, NYIL 26 (1995), 33 (45). Ähnlich Ipsen, VN 40 (1992), 41 (42), der aus dieser Feststellungsbefugnis auf ein Recht des Sicherheitsrates zur dynamischen Interpretation des Begriffs der Friedensbedrohung schließt. 671 Weeramantry, Diss. Op., IGH, 1971 Montreal Convention (prov. measures ), ICJ-Rep. 1992, 169 (176); Schwebel, Diss. Op., IGH, 1971 Montreal Convention (prelim. obj.), ICJ-Rep. 1998, 64 (80). A.A. beispielsweise Martenczuk, EJIL 10 (1999), 517 (541 f.) m.w.N. 672 Paul-Boncour, Doc. 881 (10.6.1945), UNCIO XII, 502 (504 f.); Gowlland-Debbas, Collective Responses (1990), S. 452; Frowein/Krisch, Art. 39 (2002), Rn. 2. 673 Gill, NYIL 26 (1995), 33 (39); Gray, Use of Force (2000), S. 144. 674 Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 234. 129 Konflikte weit hinausgegangen.675 So stellten die Staats- und Regierungschefs der im Sicherheitsrat vertretenen Staaten bei einem Gipfeltreffen im Jahre 1992 fest, dass Friedensbedrohungen auch wirtschaftliche, soziale, humanitäre oder ökologische Ursachen haben können.676 Einem derart weiten Anwendungsbereich des Art. 39 SVN scheint die Auffassung zu entsprechen, die Feststellung einer Friedensbedrohung habe rein formalen Charakter, eine Friedensbedrohung könne alles sein, was der Sicherheitsrat für eine Friedensbedrohung halte.677 Sie geht indes zu weit. Zwar ist es richtig, dass die Charta dem Sicherheitsrat in Form des Art. 27 SVN eher prozedurale als inhaltliche Schranken setzt.678 Ferner ist er gemäß Art. 24 Abs. 2 Satz 1 SVN verpflichtet, die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen zu beachten.679 Auch der politische Charakter des Sicherheitsrates680 enthebt ihn nicht der Verpflichtung zur Beachtung der Charta.681 Bei der Erklärung, dass eine Situation die Voraussetzungen des Art. 39 SVN erfüllt, 675 Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 266; Österdahl, Threat to the Peace (1998), S. 18 ff. Siehe auch die ausführlichen Fallstudien bei Stein, Sicherheitsrat und Rule of Law (1999), S. 142-298. „The absence of war and military conflicts among States does not in itself ensure international peace and security. The non-military sources of instability in the economic, social, humanitarian and ecological fields have become threats to peace and security.” (Abschlusserklärung des Gipfeltreffens des Sicherheitsrats zur Verantwortung des Rates für die Erhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit, 3046. Sitzung am 31.1.1992, UN Doc. S/23500, abgedruckt in UNYB 1992, 33 [34]). 676 677 Combacau, Pouvoir de sanction (1974), S. 99 f.; Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 727; Österdahl, Threat to the Peace (1998), S. 97 f. In diese Richtung – allerdings für den Begriff des Friedensbruches – auch Gill, NYIL 26 (1995), 33 (43 f.). Weitere Nachweise zu dieser Auffassung bei Martenczuk, Rechtsbindung und Rechtskontrolle (1996), S. 186 f. Chesterman, Just War or Just Peace? (2001), S. 158, nennt sie unter Berufung auf Lewis Carolls literarisches Werk Through the Looking Glass (1872) Humpty-Dumpty-Doktrin: „’When I use a word,’ Humpty Dumpty said in a rather scornful tone, ‘it means just what I choose it to mean – neither more nor less.’” 678 Degni-Segui, Article 24 (1991), 447 (464 f.); Frowein/Krisch, Art. 39 (2002), Rn. 4; Tomuschat, in: FS Arangio-Ruiz (2004), S. 1765 f. ICTY, Tadič-Fall (Entscheidung v. 2.10.1995), abgedr. in: ILM 35 (1996), 32 (41 § 29); Chesterman, Just War or Just Peace? (2001), S. 158; de Wet, Chapter VII Powers (2004), S. 191. DegniSegui, Article 24 (1991), 447 (462-464), betont demgegenüber, dass die Verantwortung zur Friedenswahrung sehr umfangreich und unbestimmt ist und daher die Befugnisse des Sicherheitsrats nicht wirklich begrenzen könne. Ausführlich zur Bindung des Sicherheitsrates an die Ziele und Grundsätze der UN unten 4.Kp. A.II. 679 680 Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 735; Gill, NYIL 26 (1995), 33 (46). 681 IGH, Conditions of Admission (Gutachten), ICJ-Rep. 1947/48, 57 (64). 130 hat der Sicherheitsrat mithin zwar einen weiten Beurteilungsspielraum 682, ist aber nicht gänzlich frei von inhaltlichen Vorgaben.683 2. Interne Konflikte als Friedensbedrohung Die vollständige Übernahme der Staatsgewalt durch die Vereinten Nationen wird in der Regel vor allem dann in Frage kommen, wenn vor Ort keine effektive Verwaltung mehr vorhanden oder möglich ist. Das ist oft der Fall, wenn ein Staat oder ein Gebiet in Folge eines Bürgerkrieges völlig zerrüttet ist.684 Indes war lange Zeit umstritten, ob rein innerstaatliche Krisen wie Bürgerkriege oder humanitäre Katastrophen den Sicherheitsrat zu Zwangsmaßnahmen befugen. a. Die Praxis des Sicherheitsrates Schon früh ist allerdings argumentiert worden, dass der Weltfriede im Sinne des Art. 39 SVN auch durch rein innerstaatliche Vorgänge bedroht werden könne.685 Diese Position hat sich der Sicherheitsrat allerdings nicht sofort zu Eigen gemacht und bei Interventionen in innerstaatliche Konflikte zunächst stets explizit auf deren internationale Auswirkungen abgestellt.686 So nennt die Resolution 688 (1991) zum Schutz der Kurden im Nordirak nicht die Unterdrückung dieser Volksgruppe durch die irakische Regierung, sondern die dadurch ausgelösten Grenzverletzungen und Fluchtbewegungen von Kurden in die Nachbarländer als Bedrohung des Friedens und der Sicherheit in der Region.687 Im gleichen Jahr verhängte der Sicherheitsrat ein 682 Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 233. Zur Frage zur Bedeutung der Begriffe Ermessen und Beurteilungspielraum im Völkerrecht siehe Martenczuk, Rechtsbindung und Rechtskontrolle (1996), S. 189-192, der dem Sicherheitsrat letztlich einen Beurteilungsspielraum zuspricht (siehe S. 196-253, insbes. S. 240 ff.) 683 Martenczuk, Rechtsbindung und Rechtskontrolle (1996), S. 253; Tesón, Humanitarian Intervention (1997), S. 231; Frowein/Krisch, Art. 39 (2002), Rn. 5. 684 Boutros-Ghali, Suppl. to an Agenda for Peace (1995), A/50/60 - S/1995/1, § 13. 685 Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 19. Siehe ferner zur UN-internen Diskussion in der Anfangszeit der Organisation Goodrich/Hambro/Simons, UN Charter (1969), S. 296, und Chesterman, Just War or Just Peace? (2001), S. 130. 686 Chesterman, Just War or Just Peace? (2001), S. 130 mit weiteren Nachweisen. Präambel-§ 3 S/RES/688 (1991) vom 5.4.1991 lautet: „Gravely concerned by the repression of the Iraqi civilian population in many parts of Iraq (...), which lead to a massive flow of refugees towards and across international frontiers and to cross-border incursions, which threaten international peace 687 131 Waffenembargo über die auseinander brechende, völkerrechtlich aber noch bestehende Volksrepublik Jugoslawien.688 Die Auswirkungen der Kämpfe innerhalb Jugoslawiens „auf die Grenzregionen der Nachbarstaaten“ ist hier aber bereits nur noch einer von zwei Faktoren (neben den Verlusten an Menschenleben), die den Sicherheitsrat eine Bedrohung des Weltfriedens annehmen lassen.689 Ähnlich enthielt Resolution 733 (1992), die ein Waffenembargo über das vom Bürgerkrieg zerstörte Somalia verhängte, zwar noch einen Verweis auf die Auswirkungen der humanitären Katastrophe auf die Region insgesamt, der Schwerpunkt der Begründung einer Friedensbedrohung lag aber bereits auf den Vorgängen im Land selber.690 In der Resolution 794 (1992), mit der der Sicherheitsrat die Mitgliedstaaten zu einem Eingreifen in Somalia autorisierte, stellte der Rat dagegen nur noch auf die katastrophale Lage im Land selbst ab.691 Spätestens mit der Anordnung von Zwangsmaßnahmen gegen die angolanische Rebellengruppe UNITA durch Resolution 864 (1993) stellte der Sicherheitsrat klar, dass auch interne Auseinandersetzungen eine Friedensbedrohung im Sinne des Art. 39 SVN darstellen können.692 Diese Auslegungspraxis des Rats spiegelt sich in den UN-Friedensmissionen wieder. Während 1988 nur eine von fünfen einen innerstaatlichen Konflikt betraf, drehte sich and security in the region.” § 1 S/RES/688 (1991) lautet: „Condemns the repression of the Iraqi civilian population (...) the consequences of which threaten international peace and security in the region” (Hervorhebungen durch den Verfasser). Siehe dazu auch Chesterman, Just War or Just Peace? (2001), S. 130-133 m.w.N. 688 S/RES/713 (1991) vom 25.9.1991. 689 Siehe Präambel-§§ 2 u. 3 S/RES/713 (1991). Siehe aber auch Gowlland-Debbas, ICLQ 43 (1994), 55 (65), die in den Versuchen eines gewaltsamen Gebietserwerbs und einer gewaltsamen Änderung bestehender Grenzen den Auslöser für eine Friedensbedrohung sieht. 690 Siehe Präambel-§§ 3 u. 4 S/RES/733 (1992) vom 23.1.1992. S/RES/794 (1992) vom 3.12.1992, deren Präambel-§ 3 lautet: „Determining that the magnitude of the human tragedy caused by the conflict in Somalia, further exacerbated by the obstacles being created to the distribution of humanitarian assistance, constitutes a threat to international peace and security”. Ähnlich auch die Feststellung in S/RES/929 (1994) vom 22.6.1994 zum Genozid in Ruanda: „Determining that the magnitude of the humanitarian crisis in Rwanda constitutes a threat to peace and security in the region” (letzter Präambel-§). 691 Siehe Teil B S/RES/864 (1993) vom 15.9.1993: „Determining that, as a result of UNITA’s military actions, the situation in Angola constitutes a threat to international peace and security”. 692 132 das Verhältnis in der Folgezeit um: Nur zwei der elf im Zeitraum von 1992 bis 1995 autorisierten UN-Missionen hatten eine zwischenstaatliche Auseinandersetzung zum Anlass.693 Dieser Trend hat auch nach 1995 weiter angehalten.694 Beispielsweise wurde die Lage in der Provinz Ituri im Nordosten der Demokratischen Republik Kongo auch nach Abzug der ausländischen Truppen aus der Region als Friedensbedrohung eingestuft.695 Diese ständige Praxis des Rates, auch innerstaatliche Konflikte von einem gewissen Gewicht als Friedensbedrohung im Sinne des Art. 39 SVN zu qualifizieren,696 hat weitgehende Zustimmung und Unterstützung von Seiten der Mitgliedstaaten erhalten.697 Dies zeigt einen gefestigten Konsens innerhalb der Vereinten Nationen698 und kann insoweit als authentische Konkretisierung des Art. 39 der Charta gesehen werden.699 b. Dogmatische Begründungsversuche Seinem Wortlaut nach lässt Art. 39, 2. Halbsatz SVN Maßnahmen aber nur zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen, mithin zwischenstaatlichen Sicherheit zu. Zwei Begründungsansätze werden in der Literatur 693 Boutros-Ghali, Suppl. to an Agenda for Peace (1995), A/50/60 - S/1995/1, § 11. 694 So liegen den UN-Missionen in Sierra-Leone, an der Elfenbeinküste und in Haiti primär innerstaatliche Konflikte zugrunde. Siehe dazu oben 2.Kp. O. 695 Siehe S/RES/1484 (2003) vom 30.5.2003 und S/RES/1493 (2003) vom 28.7.2003. 696 Eine Analyse der Praxis des Sicherheitsrats findet sich u.a. bei Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 248-269, und Stein, Sicherheitsrat und Rule of Law (1999), S. 142-298 und Chesterman, Just War or Just Peace? (2001), S. 128-139. 697 Siehe beispielsweise A/RES/46/242 vom 25.8.1992, welche das Handeln des Sicherheitsrats in Jugoslawien billigte (verabschiedet mit nur einer Gegenstimme und fünf Enthaltungen) und A/RES/47/167 vom 18.12.1992 zu Somalia (angenommen im Konsensverfahren). Siehe ferner die Debatte im Sicherheitsrat am 28.8.2003, in der der Vertreter Pakistans die Bedrohung des Weltfriedens durch innerstaatliche Konflikte ausdrücklich betonte (siehe die Pressemitteilung SC/7860 vom 28.8.2003). Keiner der 15 Ratsmitglieder äußerte sich kritisch zur Ausdehnung der Tätigkeit der UN im Rahmen des Peacekeeping. Ausführlich dazu Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 279; und Lailach, Die Wahrung des Weltfriedens (1998), S. 215 f. Zu kritischen Stimmen seitens der UN-Mitgliedstaaten siehe Stein, Sicherheitsrat und Rule of Law (1999), S. 327-330. Zustimmend auch ICTY, Tadič-Fall (Entscheidung v. 2.10.1995), abgedr. in: ILM 35 (1996), 32 (43 § 30); ihm folgend Chesterman, Just War or Just Peace? (2001), S. 139; Frowein/Krisch, Art. 39 (2002), Rn. 18; jeweils mit weiteren Nachweisen zur Sicherheitsratspraxis. 698 699 Kritisch Stein, Sicherheitsrat und Rule of Law (1999), S. 299-312 u. 390, Dem zufolge die Praxis des Rats eine unzulässige Rechtsfortbildung darstellt. Dagegen nimmt Tesón, Humanitarian Intervention (1997), S. 232 f., ein Recht zur kollektiven humanitären Intervention in interne Konflikte neben, 133 vertreten, um auch rein interne Konflikte darunter subsumieren zu können.700 Einserseits wird eine Ausdehnung des Friedensbegriffes auch auf den innerstaatlichen Frieden angenommen, andererseits den Begriff der Bedrohung weit ausgelegt. Setzt man am Friedensbegriff an, so ließe sich argumentieren, der Weltfriede als Friede in der Welt umfasse nicht nur die Beziehungen der Staaten untereinander, sondern auch die Zustände innerhalb der Staaten.701 Weltfrieden und innerstaatlicher Frieden stünden nicht im Exklusivitätsverhältnis zueinander, vielmehr ist letzterer Bestandteil und notwendige Voraussetzung des ersteren. Dies hätte zur Folge, dass prinzipiell jeder innerstaatliche bewaffnete Konflikt eine Friedensbedrohung im Sinne des Art. 39 SVN bedeutete702 und es allein im Ermessen des Sicherheitsrat läge, Maßnahmen zu ergreifen oder den Dingen ihren Lauf zu lassen.703 Wesentliches Merkmal dieser Ansicht ist jedoch, dass sie von einer inhaltlichen Modifikation der Charta ausgeht.704 Im Hinblick auf die Veränderung der sachlichen Realitäten seit Unterzeichnung der Charta, die hinreichend gefestigte Praxis des Rates und weitgehende Zustimmung der Mitgliedstaaten vertritt sie eine dynamische d.h. außerhalb des Art. 39 SVN an. 700 Zambelli, La constatation des situations de l'article 39 de la Charte (2002), S. 270 f. Siehe auch die Diskussion bei Stein, Sicherheitsrat und Rule of Law (1999), S. 301-312, der sich allerdings im Ergebnis für die Anwendung des sog. positiven Friedensbegriffs, d.h. Frieden als Verwirklichung bestimmter Grundwerte der internationalen Gemeinschaft, ausspricht (ebenda, S. 307 ff.). 701 In diese Richtung Delbrück, in: Kühne, Blauhelme (1993), S. 107; Tomuschat, RdC 241 (1993), 195 (341 f.); Conforti, Nazioni Unite (1994), S. 175; Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 289; Ruffert, ICLQ 50 (2001), 613 (617). Kritisch zur Erweiterung des Friedensbegriffes Stein, Sicherheitsrat und Rule of Law (1999), S. 301 f., und de Wet, Chapter VII Powers (2004), S. 139-144. 702 Einschränkend Martenczuk, Rechtsbindung und Rechtskontrolle (1996), S. 232, der erst dann eine innerstaatliche Auseinandersetzung als internationalen bewaffneten Konflikt ansehen will, wenn sie der Kontrolle des betroffenen Staates entgleitet und diesem so das innerstaatliche Gewaltmonopol genommen wird. Dies stuft er allerdings bereits als Bruch des Friedens im Sinne des Art. 39 SVN ein (ebenda, S. 232), so dass eine Friedensbedrohung bereits im Vorfeld eines staatlichen Kontrollverlustes anzunehmen wäre. 703 Ablehnend de Wet, Chapter VII Powers (2004), S. 144, die mit dem Argument, die Charta sähe eine solches unbegrenztes, die Kompetenzordung beseitigendes Ermessen des Sicherheitsrates nicht vor, am Kriterium des internationalen, staatsübergreifenden Frieden festhält. 704 Dies betont Zambelli, La constatation des situations de l'article 39 de la Charte (2002), S. 288. Koskenniemi, EJIL 6 (1995), 325 (341 f.), spricht dem Sicherheitsrat indes die Befugnis ab, eine derartige inhaltliche Änderung des Friedensbegriffes durchzusetzen. Dies sei allein Sache der Generalversammlung als Vertretung aller Mitgliedstaaten. 134 Auslegung des Art. 39 SVN dahingehend, dass der Friedensbegriff nunmehr auch den innerstaatlichen Frieden erfasst.705 Dogmatisch wird dies unter Anderem mit dem Effektivitätsgrundsatz begründet – nur so werde den Vereinten Nationen trotz sich wandelnder Verhältnisse die Erreichung ihrer Ziele und Aufgaben ermöglicht.706 Diese Ansicht wird auch der Tendenz des Sicherheitsrats gerecht, zunehmend allein die humanitäre Lage und nicht mehr deren Auswirkungen auf die Nachbarstaaten zum Anlass für die Feststellung einer Friedensbedrohung zu nehmen.707 Die andere Möglichkeit, die neuere Praxis des Sicherheitsrats mit der Charta zu vereinbaren, ist, auf die internationalen Auswirkungen interne Konflikte zu verweisen, mithin den Begriff der Friedensbedrohung weit auszulegen. In der Tat zeigt die Erfahrung, dass jeder Bürgerkrieg und jede humanitäre Katastrophe zumindest in der Form von Flüchtlingsströmen Auswirkungen auf Nachbarstaaten haben wird.708 Interne Konflikte von einiger Dauer und Intensität haben zudem regelmäßig eine destabilisierende Wirkung auf die Region.709 Aufgrund der eher zunehmenden Interdependenz der internationalen Gemeinschaft wird kaum noch ein interner Konflikt ohne internationale Auswirkungen bleiben.710 Es ließe sich daher ohne Weiteres auf der Grundlage dieser allgemeinen Erfahrungen argumentieren, dass ein Bürgerkrieg stets eine Bedrohung des Weltfriedens darstelle. 711 Dem wird 705 Ipsen, VN 40 (1992), 41 (42), und die oben in Fn. 694 Genannten. Noch weitergehend Zambelli, La constatation des situations de l'article 39 de la Charte (2002), S.330, der sämtliche Verstöße gegen Grundwerte der Völkergemeinschaft als Friedensbedrohung einstuft. 706 Zambelli, La constatation des situations de l'article 39 de la Charte (2002), S. 277. 707 Zambelli, La constatation des situations de l'article 39 de la Charte (2002), S. 272-274 mit weiteren Nachweisen. 708 Gordon, Michigan JIL 15 (1994), 519 (569 f.); UN, Brahimi-Report (2000), § 18; de Wet, Chapter VII Powers (2004), S. 143. So auch zur Begründung einer Friedensbedrohung in Ruanda ICTR, Kanyabashi-Fall (Entscheidung v. 18.6.1997), § 21. Zu den möglichen internationalen Folgen innerstaatlicher Sitationen allgemein Lailach, Die Wahrung des Weltfriedens (1998), S. 196 f. 709 Gordon, Michigan JIL 15 (1994), 519 (579). Als Beispiel seien nur die sich wechselseitig verstärkenden Bürgerkriege in Sierra-Leone, Liberia und der Elfenbeinküste einerseits sowie in Ruanda, Burundi und der demokratischen Republik Kongo andererseits genannt. 710 So bereits van Well, EA 47 (1992), 703 (706). 711 Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 282. In diese Richtung auch van Well, EA 47 (1992), 703 (706). Kritisch Lailach, Die Wahrung des Weltfriedens (1998), S. 203 f., und Stein, Sicherheitsrat und Rule of Law (1999), S. 303 f. (jeweils m.w.N.). 135 entgegengehalten, dass man so die Grenze zwischen dem für – auch potentielle – Friedensgefährdungen konzipierten Kapitel VI712 und dem für akute Friedensbedrohungen konzipierten Kapitel VII der Charta aufhebe713 und Kapitel VI ohne eigenständigen Anwendungsbereich lasse.714 Jedenfalls handelt es sich bei der Einstufung auch primär interner Konflikte als Friedensbedrohung im Sinne des Art. 39 SVN um eine seit längerem gefestigte Praxis des Sicherheitsrates. Ihr wird mittlerweile seitens der Mitgliedstaaten kaum noch Widerstand entgegengebracht wird. Ein Eingriffsrecht des Sicherheitsrates bei internen Konflikten wird nicht mehr ernsthaft bestritten.715 Insofern kann letztlich dahinstehen, ob diese ständige Praxis auf einer erweiterten Auslegung des Friedensbegriffs beruht oder ob der Begriff der Bedrohung weiter gefasst wird. Auch interne Konflikte sind somit potentieller Anwendungsbereich für eine UNVerwaltung unter Kapitel VII der Charta. 3. Verletzung grundlegender Normen des Völkerrechts als Friedensbedrohung Wesentlich zweifelhafter erscheint dagegen, ob der Sicherheitsrat auch für Gebiete Zwangsverwaltungen einrichten darf, deren Machthaber grundlegende Normen des Völkerrechts massiv verletzen, ohne dass es zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommt und ohne dass es Auswirkungen auf Nachbarstaaten gibt. Zu denken ist hier in erster Linie an Diktaturen, die beispielsweise das Selbstbestimmungsrecht einer Volksgruppe missachten oder systematische Menschenrechtsverletzungen wie Folterungen und Verschleppung von Oppositionellen begehen. Hier fehlt es nicht nur an der Internationalität des fraglichen Vorganges, es liegt auch kein kriegerischer Konflikt vor. Unter den Friedensbegriff ließen sie sich daher nur dann fassen, wenn dieser nicht gemäß seinem ursprünglichen Wortsinn nur – negativ – die Abwesenheit Siehe den Wortlaut des Art. 33 Abs. 1 SVN: „(...) any dispute, the continuance of which is likely to endanger the maintenance of international peace (...)“. 712 713 Zu dieser Unterscheidung siehe Zambelli, La constatation des situations de l'article 39 de la Charte (2002), S.188-192. 714 Martenczuk, Rechtsbindung und Rechtskontrolle (1996), S. 234; Stein, Sicherheitsrat und Rule of Law (1999), S. 304. 715 Chesterman, Just War or Just Peace? (2001), S. 139; Frowein/Krisch, Art. 39 (2002), Rn. 18. 136 von kriegerischen Auseinandersetzungen umfasste,716 sondern darüber hinaus – positiv – auch die Wahrung gewisser völkerrechtlicher Grundwerte,717 oder des sog. völkerrechtlichen ordre public718. a. Menschenrechtsverletzungen und humanitäre Katastrophen In diese Richtung scheint auch der Sicherheitsrat zu tendieren, da er Feststellungen einer Friedensbedrohung in seinen Resolutionen zunehmend allein mit der jeweiligen humanitären Lage begründet.719 Beispiele sind die Resolutionen zu Somalia (1992) und Ruanda (1994).720 Auch im Falle des Kosovo hat er maßgeblich auf die drohende humanitäre Katastrophe verwiesen.721 Diesen Fällen lag allerdings immer eine bewaffnete Auseinandersetzung verfeindeter Gruppierungen zugrunde. Sie belegen daher nicht, dass der Sicherheitsrat humanitären Katastrophen per se, d. h. ohne dass ihnen ein bewaffenter Konflikt zugrunde liegt, für eine Friedensbedrohung hält, auch wenn sie eine dahingehende Vermutung stützen.722 716 Diese Auslegung wird auch als negativer Friedensbegriff bezeichnet. Siehe dazu Stein, Sicherheitsrat und Rule of Law (1999), S. 118; ferner Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 226 (jeweils m.w.N.). 717 Gaja, RGDIP 97 (1993), 297 (307); Zambelli, La constatation des situations de l'article 39 de la Charte (2002), S. 331; Stein, Sicherheitsrat und Rule of Law (1999), S. 307-310, der darin eine Rechtsfortbildung sieht (ebenda, S. 311). Martenczuk, Rechtsbindung und Rechtskontrolle (1996), S. 246, spricht von fundamentalen und essentiellen Werten der internationalen Gemeinschaft. 718 Brunner, NZWehrR 34 (1992), 1 (3); Dupuy, in: FS Bernhardt (1995), S. 51; Bauer, Effektivität und Legitimität (1996), S.198 f. In diese Richtung auch Hobe, in: ders. (Hrsg.), Präambel der UNCharta (1997), S. 67 f. 719 Allgemein zum Engagement des Sicherheitsrates im Bereich der Menschenrechte Bailey, Security Council and Human Rights (1994); Ramcharan, Protection of Human Rights (2002); und Weschler, in: Malone (Hrsg.), Security Council (2004), S. 55-68. 720 Siehe oben Fn. 684. Zu den Beweggründen der Sicherheitsratsmitglieder siehe Lailach, Die Wahrung des Weltfriedens (1998), S. 136 (Somalia) und 138 (Ruanda). 721 Siehe S/RES/1199 (1998) vom 23.9.1998, S/RES/1203 (1998) vom 24.10.1998 und S/RES/1244 (1999) vom 10.6.1999, ferner ihre Besprechung bei Zambelli, La constatation des situations de l'article 39 de la Charte (2002), S.259-263. 722 Zu Berücksichtigen ist aber auch, dass der Sicherheitsrat vor allem ein politisches Organ ist. Schwere Menschenrechtsverletzungen und humanitäre Katastrophen mögen daher der politische Auslöser für ein Tätigwerden des Rats sein und deshalb in den Erwägungsgründen der entsprechenden Resolutionen genannt werden. Dies besagt aber nicht notwendigerweise, dass sie auch das rechtliche Fundament der Resolution bilden oder bilden sollen. Ähnlich Lailach, Die Wahrung des Weltfriedens (1998), S. 135. 137 Auch wenn er explizit schwere Menschrechtsverletzungen als Friedensbedrohung kennzeichnete,723 galt dies nur für solche Taten, die im Rahmen von Kampfhandlungen verübt wurden und werden.724 Auch in den oft als Beispiel genannten Fällen Rhodesiens und Südafrikas stützten sich die entsprechenden Resolutionen zumindest formal weniger auf die in diesen Ländern praktizierte Apartheidspolitik als vielmehr auf die Bedrohung, die von diesen Staaten auf die Nachbarstaaten ausging.725 Somit hat der Sicherheitsrat bisher die Grenzen des negativen Friedensbegriff bei der Anwendung des Art. 39 SVN noch nicht gesprengt.726 Vielmehr bewegt sich seine Praxis in dem bereits zu den internen Konflikten skizzierten Rahmen. Damit sie eine Friedensbedrohung darstellen können, müssen schwere Menschenrechtsverletzungen oder humanitäre Katatstrophen ihre Ursachen daher weiterhin in einem bewaffneten Konflikt haben.727 Ohne einen solchen Konfliktbezug können sie nur dann eine 723 So unter anderem in Osttimor, siehe jeweils Präambel-§ 13 der Resolutionen 1264 (1999) vom 15.9.1999 und 1272 (1999) vom 25.10.1999. 724 Siehe beispielsweise § 5 S/RES/1296 (2000) vom 19.4.2000 über den Schutz von Zivilisten in bewaffneten Konflikten: „Notes that (...) the committing of systematic, flagrant and widespread violations of (...) human rights law in situations of armed conflict may constitute a threat to international peace and security (…)” (Hervorhebungen durch den Verfasser). Diese Aussage wiederholte er in § 9 S/RES/1314 (2000) vom 11.8.2000 über den Schutz von Kindern in bewaffneten Konflikten. 725 In S/RES/232 (1966) vom 16.12.1966 bezeichnete der Sicherheitsrat die Lage in Rhodesien insgesamt und ohne nähere Ausführungen als Friedensbedrohung. Die Mehrheit der zeitgenössischen und älteren Kommentatoren sah den drohenden Konflikt mit den Nachbarstaaten als Grundlage dieser Feststellung (siehe Stein, Sicherheitsrat und Rule of Law (1999), S. 146-151 m.w.N.; Frowein/Krisch, Art. 39 (2002), Rn. 19, ferner umfassend Gowlland-Debbas, Collective Responses (1990)). Im Falle Südafrikas begründete der Sicherheitsrat seine Feststellung einer Friedensbedrohung in S/RES/418 (1977) vom 4.11.1977 ausdrücklich mit der militärischen Aufrüstung Südafrikas. Ausführlicher Stein, Sicherheitsrat und Rule of Law (1999), S. 151-154. Die Bedeutung des Apartheidsregime bzw. des Selbstbestimmungsrechtes bei der Feststellung der Friedensbedrohung betont dagegen beispielsweise Tomuschat, RdC 241 (1993), 195 (337 f.). 726 So aber Stein, Sicherheitsrat und Rule of Law (1999), S. 307-310, der darin eine im Ergebnis unzulässige Rechtsfortbildung sieht. Für die Auslegung des Art. 39 SVN im Sinne des negativen Friedensbegriffes dagegen Zambelli, La constatation des situations de l'article 39 de la Charte (2002), S. 185 und 193. Für einen dynamisch-objektive Auslegung des Art. 39 SVN, die zwar von einem negativen Friedensbegriff ausgeht, diesen aber aus teleologischen Gesichtspunkten auf innerstaatliche Zusammenbrüche erweitert, Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 234-289. 727 Martenczuk, EJIL 10 (1999), 517 (544); Frowein/Krisch, Art. 39 (2002), Rn. 21. Lailach, Die Wahrung des Weltfriedens (1998), S. 182 u. 207, sieht zwar auch die Abwesenheit extremen menschlichen Leids unabhängig von einem internationalen bewaffneten Konflikt als vom Friedensbegriff des Art. 39 SVN erfasst an, fordert aber, dass das Leid durch menschliche Gewaltanwendung hervorgerufen wurde. Weitergehend UN, Threats, Challenges and Change (2004), §§ 200 f., die auf der Grundlage einer sich entwickelnden Schutzverpflichtung der Staaten („responsibility to protect“) Völkermord und umfangreiche ethnische Säuberungen wohl per se 138 Friedensbedrohung darstellen, wenn sie die konkrete Gefahr bergen, einen internationalen bewaffneten Konflikt auszulösen.728 Diese Gefahr kann auch darin liegen, dass andere Staaten drohen, militärisch einzugreifen. Das gilt nicht nur, wenn der Intervention eigennützige Motive zugrunde liegen – beispielsweise, eine bevorzugte politische Gruppierung an die Macht zu bringen –, sondern auch wenn sie allein aus altruistischen Erwägungen erfolgen soll. Auch eine drohende humanitäre Intervention von Drittstaaten stellt eine Friedensbedrohung im Sinne des Art. 39 SVN dar, die dem Sicherheitsrat erlaubt tätig zu werden. Das gilt unabhängig davon, ob eine unilaterale humanitäre Intervention für völkerrechtskonform hält oder nicht. Als zwischenstaatliche Ausübung militärischer Gewalt stellt sie einen Bruch des Weltfriedens auch in seiner engsten Auslegung dar. Ein völkerrechtswidriges Verhalten ist für Art. 39 SVN nicht erforderlich.729 Per se aber erlauben schwere Menschenrechtsverletzungen aber noch keine Zwangsmaßnahmen des Sicherheitsrats. b. Beseitigung einer demokratisch gewählten Regierung Ähnliche Zurückhaltung ist bei der Annahme einer Friedensbedrohung in Folge des Umsturzes einer demokratische gewählten Regierung geboten. Die nichtdemokratische Regierungsform allein reicht für eine Friedensbedrohung nicht aus.730 Zum Einen wären dann ein nicht unerheblicher Teil der Staatengemeinschaft des Schutzes des Art. 2 Ziff. 7 SVN beraubt,731 zum Anderen gibt es dafür in der Praxis ausreichen lassen, um ein Interventionsrecht des Sicherheitsrates zu begründen. 728 Ähnlich Martenczuk, Rechtsbindung und Rechtskontrolle (1996), S. 239, der für eine Friedensbedrohung fordert, dass das fragliche Verhalten „zu einer wesentlichen Ursache für einen bewaffneten internationalen Konflikt werden kann.“ Die Einrichtung eines Apartheidsregimes und andere ethnisch oder religiös motivierte Verfolgungen zählt er allerdings dazu (ebenda, S. 251 f.). 729 Gowlland-Debbas, Collective Responses (1990), S. 452; Morrison, in: Delbrück (Hrsg.), Allocation of Authority (1995), S. 44; Lailach, Die Wahrung des Weltfriedens (1998), S. 192; Frowein/Krisch, Art. 39 (2002), Rn.9. 730 Martenczuk, Rechtsbindung und Rechtskontrolle (1996), S. 252 f. Teilweise wird allerdings die Regierungsform der Demokratie als eine Voraussetzung für die Erhaltung des Weltfriedens angesehen (so u.a. Franck, AJIL 86 (1992), 46 (88), ferner Zambelli, La constatation des situations de l'article 39 de la Charte (2002), S. 319 f. m.w.N.). Dies entspricht aber wiederum eher dem Aufgabenkreis des Kapitels VI der Charta. 731 Chesterman, Just War or Just Peace? (2001), S. 158. 139 des Sicherheitsrats keine Anhaltspunkte. Resolution 940 (1994), mit der die Wiedereinsetzung des gewählten haitianischen Präsidenten Aristide durch eine multinationale Streitmacht autorisiert wurde, bezeichnet lapidar die gesamte Situation auf dem karibischen Inselteil unter expliziter Erwähnung der Situation der Flüchtlinge als Friedensbedrohung.732 Die Wiedereinsetzung der demokratischen Regierung wird lediglich als Ziel der internationalen Gemeinschaft, nicht aber als Ursache ihres Tätigwerdens genannt.733 Eine Auslegung der Resolution 940 (1992) dahingehend, dass allein in der Beseitigung der demokratischen Regierung eine Friedensbedrohung liegt, ist daher nicht zwingend.734 Ferner bezeichnete der Sicherheitsrat die Situation in Haiti und die zu ihrer Bereinigung ergriffenen Maßnahmen ausdrücklich als einzigartig und außergewöhnlich.735 Sie kann daher nicht als Präzedenzfall für eine erweiterte Auslegung des Art. 39 SVN gesehen werden,736 zumal der Sicherheitsrat eine vergleichbare Feststellung bislang nicht wieder getroffen hat737. Nach dem gegenwärtigen Stand erlauben daher weder eine nicht-demokratische Regierungsform noch der Umsturz einer demokratisch gewählten Regierung per se die Einrichtung einer UN-Zwangsverwaltung über das betroffene Gebiet. 732 Siehe den 3., 4. und letzten Erwägungsgrund S/RES/940 (1994) vom 31.7.1994. 733 Siehe den 8. Erwägungsgrund und Art. 4 S/RES/940 (1994). 734 Chesterman, Just War or Just Peace? (2001), S. 159. Tesón, Humanitarian Intervention (1997), S. 253, sieht sie aber als Beleg für ein Recht des Sicherheitsrats zur Intervention auch ohne das Vorliegen einer Friedensbedrohung im Sinne des Art. 39 SVN. § 2 S/RES/940 (1992): „Recognizes the unique character of the present situation in Haiti (…) requiring an exceptional response”. 735 736 Chesterman, Just War or Just Peace? (2001), S. 159, der darüber hinaus die Zustimmung des gewählten und international anerkannten Präsidenten Aristide anführt, welche das Eingreifen der USgeführten Truppen auch ohne Rückgriff auf Kapitel VII der Charta hinreichend legitimiere. Dagegen Tesón, Humanitarian Intervention (1997), S. 256. Ausführlicher zu dieser Frage Fulda, Demokratie (2002), S. 43-51. 737 Zwar ordnete der Sicherheitsrat in S/RES/1132 (1997) vom 8.10.1997 die Wiedereinsetzung der demokratisch gewählten Regierung in Sierra Leone an. Indes herrschten dort nach dem Militärcoup bürgerkriegsähnliche Zustände und der Rat betonte bei seiner Feststellung einer Friedensbedrohung in der Region die Auswirkungen des Konflikts auf die benachbarten Staaten. 140 c. Missachtung des Selbstbestimmungsrechts Ähnliches gilt nach dem gegenwärtigen Stand der Praxis auch für das Recht der Völker auf Selbstbestimmung.738 So hat der Sicherheitsrat im Falle des Kosovo zwar betont, dass er eine politische Lösung des Konflikts dahingehend befürworte, dass dem Kosovo größere Autonomie und echte Selbstverwaltung zugestanden werden.739 Die Einstufung der Situation im Kosovo als Bedrohung des Friedens in der Region hat er allerdings mit den gewalttätigen Auseinandersetzungen in dem Gebiet,740 den andauernden Menschenrechtsverletzungen, der drohenden humanitären Katastrophe und den Flüchtlingsströmen in der Region begründet.741 Etwas anderes mag für Fälle fortdauernder gewaltsamer Kolonialisierung gelten.742 Sieht man Osttimor als einen durch die indonesische Besetzung aufgehaltenen Fall der Dekolonialisierung an,743 so ist zu berücksichtigen, dass der Sicherheitsrat nur zwei Mal im Zusammenhang mit Osttimor eine Bedrohung des Friedens im Sinne des Art. 39 der Charta feststellte.744 Auch hier wird dies indes nur mit der humanitären Situation, den Vertreibungen und den verbreiteten Verletzungen von humanitärem Völkerrecht und Menschenrechten begründet.745 Eine Verletzung des Selbstbestimmungsrechts erscheint daher nur insofern relevant, als dass sie wegen des (oft ethnischen oder 738 Anders Zambelli, La constatation des situations de l'article 39 de la Charte (2002), S. 319, der das Recht auf Selbstbestimmung als Grundwert des Völkergemeinschaft ansieht, zu dessen Schutz der Sicherheitsrat Maßnahmen nach Kapitel VII ergreifen dürfe. Ausführlicher zum Selbstbestimmungsrecht unten 4.Kp. B.III. Siehe § 5 S/RES/1160 (1998) vom 31.3.1998: „(...) and expresses its support for an enhanced status of Kosovo which would include a substantially greater degree of autonomy and meaningful self-administration“. Diese Aussage wiederholte der Rat im Präambel-§ 8 S/RES/1203 (1998) vom 24.10.1998. 739 740 Präambel-§ 3 S/RES/1160 (1998) vom 31.3.1998. Allerdings trifft der Rat in dieser Resolution keine ausdrückliche Feststellung gemäß Art. 39 SVN. Die implizite Feststellung einer Friedensbedrohung ist aber darin zu sehen, dass der Sicherheitsrat sich auf Kapitel VII der Charta beruft. Kritisch zu einer solchen Feststellung Zambelli, La constatation des situations de l'article 39 de la Charte (2002), S. 259 f. 741 S/RES/1199 (1998) vom 23.9.1998 und S/RES/1203 (1998) vom 24.10.1998. 742 Martenczuk, Rechtsbindung und Rechtskontrolle (1996), S. 251. 743 Stahn, MP-UNYB 5 (2001), 105 (110). 744 S/RES/1264 (1999) vom 15.9.1999 und S/RES/1272 (1999) vom 25.10.1999, jeweils im vorletzten Präambel-§. 745 Ebenda. Auch Kondoch, JC&SL 6 (2001), 245 (255), hält das Selbstbestimmungsrecht für nicht entscheidend für die Feststellung einer Friedensbedrohung im Sinne des Art. 39 SVN. 141 religiösen) Konfliktpotentials und der möglichen Auswirkungen auf Staatsgrenzen in besonderem Maße geeignet ist, eine den Weltfrieden bedrohende Situation zu schaffen.746 Das entspricht allerdings eher einer Situation, wie sie Kapitel VI der Charta vorsieht. Als Zwischenstand lässt sich daher festhalten, dass der Sicherheitsrat bei der Feststellung einer Friedensbedrohung grundsätzlich einen großen Spielraum besitzt. Der Begriff der Friedensbedrohung ist weit auszulegen und erfasst auch primär innerstaatliche Konflikte. Dagegen umfasst er bislang die Verletzung grundlegender völkerrechtlicher Normen nur insoweit, als diesen ein bewaffneter Konflikt zugrunde liegt. Für sich genommen reicht die Verletzung von Völkerrecht oder Menschenrechten für eine Friedensbedrohung im Sinne des Art. 39 SVN und mithin für die Einrichtung einer UN-Zwangsverwaltung über ein Gebiet nicht aus. III. Die Bedeutung staatlicher Zustimmung zu einer Zwangsverwaltung Wesentliches Charakteristikum einer Zwangsmaßnahme nach Kapitel VII der Charta ist ihre Unabhängigkeit von einer Einwilligung seitens des betroffenen Staates. Dennoch lag in den bisherigen Fällen, in denen der Sicherheitsrat auf der Grundlage von Kapitel VII der Charta eine UN-Verwaltung über ein Gebiet einrichtete, stets eine wie auch immer geartete Einwilligung des oder der betroffenen Territorialstaaten vor. Im Falle der UNMIK ging der Resolution 1244 (1999) die Festlegung eines Friedensplans durch die G8-Staaten voraus,747 dem die jugoslawische Regierung und das serbische Parlament zustimmten.748 Dieser Friedensplan enthielt bereits die wesentlichen Grundzüge einer internationalen Verwaltung des Kosovo, wie sie am 10. Juni 1999 durch den Sicherheitsrat eingerichtet wurde. Auch in die Stationierung von NATO-Truppen hatten Serbien 746 Martenczuk, Rechtsbindung und Rechtskontrolle (1996), S. 251 f., nimmt daher zumindest dann eine Friedensbedrohung im Sinne des Art. 39 SVN an, wenn die Unterdrückung bzw. Verfolgung „Ausmaße annimmt, die denen des Völkermords zumindest nahe kommen.“ 747 S/1999/516 vom 6.5.1999, abgedr. als Annex 1 u. 2 zu S/RES/1244 (1999). 748 Siehe den Brief des ständigen Vertreters Deutschlands bei den Vereinten Nationen an den Präsidenten des Sicherheitsrats vom 7.6.1999 (S/1999/649). Ausführlich zur UNMIK und ihrer Vorgeschichte oben 2.Kp. L. 142 und die Bundesrepublik Jugoslawien bereits zuvor eingewilligt.749 Während die Rechtswirksamkeit dieser Einwilligung in Hinblick auf das vorangegangene Bombardement Jugoslawiens durch die NATO zweifelhaft erscheinen mag,750 wurden die Vereinbarungen betreffend Osttimor ohne derartigen militärischen Zwang getroffen.751 Art. 6 des Abkommens zwischen Indonesien und Portugal vom 5. Mai 1999752 sah die Übernahme der Verwaltungshoheit über Osttimor durch die Vereinten Nationen vor, sollten sich die Ostimoresen in dem vereinbarten Referendum für die Unabhängigkeit entscheiden. Das Abkommen kam unter Vermittlung der Vereinten Nationen zustande, die seinen Abschluss durch die Unterschrift ihres Generalsekretärs bezeugten. Ein Folgeabkommen, bei dem die UN selbst Vetragspartei waren, regelte die Ausführung der von den Vereinten Nationen übernommenen Aufgaben.753 Diesen Vorgaben entsprechend und unter ausdrücklicher Berufung auf diese Vereinbarung übernahm die UN im Oktober die Verantwortung für Osttimor.754 Man kann daher von einer vertragsrechtlichen Grundlage der UNTAET ausgehen und Resolution 1272 (1999) lediglich als Umsetzung der Verträge vom 5. Mai 1999 seitens der Vereinten Nationen sehen.755 Ein Rückgriff auf Kapitel VII der Charta erscheint deshalb im Falle Osttimors nicht zwingend, wenn auch zulässig.756. Ähnlich liegt der Fall der UN-Verwaltung Ostslavoniens (UNTAES). Auch ihr lag 749 Siehe das sog. Military-technical Agreement zwischen KFOR und den Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawiens und Serbiens vom 9.6.1999 (auch Kumanovo-Abkommen genannt), abgedruckt in S/1999/682 vom 15.6.1999 sowie in ILM 38 (1999), 1217-1222. 750 Milano, EJIL 14 (2003), 999 (1007-1015), hält aus diesem Grund zumindest das militärtechnische Abkommen für nichtig. 751 Ausführlich zu UNTAET und ihrer Vorgeschichte oben 2.Kp. M. 752 Abkommen vom 5. Mai 1999 zwischen der Republik Indonesien und der Portugiesischen Republik zur Frage Osttimors, abgedruckt als Annex I des Berichts des Generalsekretärs vom 5.5.1999 (S/1999/513 bzw. A/53/951). 753 Diese Vereinbarungen wurden ebenfalls am 5. Mai 1999 geschlossen und sind abgedruckt als Annex II und III des Berichts des Generalsekretärs vom 5.5.1999 (S/1999/513 bzw. A/53/951). 754 § 39 des Berichts des Generalsekretärs A/54/654 vom 13.12.1999. 755 Stahn, MP-UNYB 5 (2001), 105 (114). 756 Siehe dazu ausführlicher unten 3.Kp. C.IV.3. 143 eine Vereinbarung der Parteien zugrunde, in der die Vereinten Nationen gebeten wurden, für eine Übergangszeit die Verwaltung über dass zwischen Kroatien und örtlichen Serben umstrittene Gebiet im Osten Kroatiens zu übernehmen.757 Dennoch entschloss sich der Sicherheitsrat, UNTAES auf der Grundlage des Kapitels VII einzurichten. Dies mag seinen Grund in den schlechten Erfahrungen haben, welche die Vereinten Nationen mit der Einhaltung von Vereinbarungen durch die Konfliktparteien auf dem Gebiet des früheren Jugoslawiens gemacht hatten.758 Fraglich ist, ob die Entscheidung des Sicherheitsrats, neben einer Berufung auf Kapitel VII der Charta auch eine Zustimmung des oder der betroffenen Staaten einzuhohlen, rechtliche Bedeutung hat. Drei Antworten sind denkbar. Einerseits könnte diese Praxis des Rates Ausdruck einer entsprechenden Rechtsüberzeugung dahingehend sein, dass die Einrichtung einer UN-Gebietsverwaltung ein derartig tiefer Eingriff in die Befugnisse eines Staates ist, dass er ohne dessen Zustimmung unzulässig wäre.759 Dagegen spricht, dass es gerade das Wesen des Kapitels VII der Charta ist, dass es dem Rat Maßnahmen ohne oder auch gegen den Willen des betroffenen Staates erlaubt. Wie bereits ausgeführt enthalten die Art. 41 und 42 SVN keinen abschließenden Maßnahmenkatalog, sondern erlauben dem Sicherheitsrat bei der Bekämpfung von Friedensbedrohungen, auch atypische Mittel wie die zwangsweise Errichtung einer UN-Verwaltung über ein Krisengebiet zu wählen.760 Ist aber die Einrichtung einer UN-Verwaltung vom Mandat des Sicherheitsrat gedeckt, bedarf es keiner weitergehenden Anforderungen an die Rechtmäßigkeit einer solchen Maßnahme.761 Dass dies auch der Auffassung des Rats entspricht, macht Resolution 1244 (1999) deutlich. § 1 dieser Resolution lautet: 757 Das sog. Basic Agreement vom 12. November 1995 zwischen der Republik Kroatien und der örtlichen serbischen Bevölkerung, UN-Doc. A/50/757 – S/1995/951 vom 12.11.1995, abgedr. in ILM 35 (1996), 184-187. 758 So ausdrücklich der Generalsekretär in § 22 seines Berichts S/1995/1028 vom 13.12.1995 zur Planung der UNTAES. 759 In diese Richtung Orakhelashvili, Virginia JIL 43 (2003), 485 (519). 760 Siehe oben 3.Kp. C.I.2. 761 So für die Verhängung eines Waffenembargos gegen Jugoslawien durch S/RES/713 (1991) Judge Lauterpacht, Sep. Op., Application of Genocide Convention, ICJ-Rep. 1993, 407 (439 § 98). 144 „Decides that a political solution to the Kosovo crisis shall be based on the general principles in annex 1 and as further elaborated in the principles and other required elements in annex 2”. Diese Wortwahl macht deutlich, dass die Zugrundelegung der dort genannten allgemeinen Prinzipien zur politischen Lösung des Konflikts einseitig angeordnet wird. Dem entspricht, dass erst in § 2 der Resolution 1244 (1999) die Zustimmung Jugoslawiens zu diesen Prinzipien begrüßt wird. An keiner Stelle der Resolution ist erkennbar, dass der Sicherheitsrat von einer konstitutiven Wirkung der serbischen beziehungsweise jugoslawischen Zustimmung ausgeht. Im letzten Präambelparagraphen erklärt der Rat seine Berufung auf Kapitel VII der Charta damit, so sicherstellen zu wollen, dass alle Beteiligten ihren Pflichten nach dieser Resolution gerecht würden.762 Dies lässt sich nur so deuten, dass der Sicherheitsrat die Entstehung rechtlicher Pflichten aus der Resolution gerade nicht von der Zustimmung der betroffenen Völkerrechtssubjekte abhängig machen will. Die Einwilligung des betroffenen Staates kann daher nicht als Voraussetzung der Rechtmäßigkeit einer auf Kapitel VII der Charta gestützten UN-Gebietsverwaltung angesehen werden.763 Dies entspräche weder dem Wortlaut der Charta, noch ist eine entsprechende, seine eigenen Befugnisse beschränkende Rechtsauffassung des Sicherheitsrats erkennbar. Die zweite rechtliche Deutungsmöglichkeit ist, dass das vorherige Einholen der Zustimmung der betroffenen Staaten zu der Errichtung einer UN-Verwaltung eine völkerrechtliche Vetragsbeziehung zu dem betroffenen Territorialstaat begründet, welche die Errichtung einer UN-Verwaltung durch die die Vereinten Nationen zum Gegenstand hätte. Eine solche UN-Mission könnte sich dann auf zwei Rechtsgrundlagen stützen, einerseits auf die einseitige Befugnis des Sicherheitsrats nach Kapitel VII, andererseits auf die Zustimmung des betroffenen Präambel-§ 13 S/RES/1244 (1999) lautet: „Determined to ensure the safety and security of international personel and the implementation by all concerned of their responsibilities under the present resolution, and acting for these purposes under Chapter VII of the Charta of the United Nations”. 762 763 Für Kapitel VII der Charta als alleinige Rechtsgrundlage im Falle der UNMIK auch Lagrange, AFDI 45 (1999), 335 (343). 145 Territorialstaats.764 Wie bereits ausgeführt erlaubt auch die allgemeine PeacekeepingKompetenz aus Art. 24 Abs. 1 SVN dem Rat die Einrichtung einer UNGebietsverwaltung, sofern dies im Einvernehmen mit dem oder den betroffenen Staaten erfolgt.765 Eine solche vertragliche Deutung der Einwilligung ist daher möglich, sofern zwischen dem Sicherheitsrat und dem betroffenen Staat ein solches Einvernehmen tatsächlich besteht und die Akteure ihr Handeln erkennbar an diesem ausrichten.766 Dies war der Fall bei der Übernahme der Verwaltungshoheit über Osttimor durch die UN.767 In solchen Fällen besitzt die UN-Verwaltung eine doppelte Rechtsgrundlage. Zu klären bleibt, ob beide Rechtsgrundlagen unabhängig von einander bestehen, oder ob eine bestehende Vereinbarung den Sicherheitsrat in der Ausübung seiner Kompetenzen aus Kapitel VII beschränkt und ihn an eine bestimmte Vorgehensweise bindet. Zu denken wäre beispielsweise an eine Beschränkung der Verwaltung auf bestimmte Sachgebiete (Organisation von Wahlen, Koordination humanitärer Hilfe) oder an eine Verpflichtung, überhaupt eine Verwaltung einzusetzen, obwohl er es angesichts der Entwicklung der Lage sachlich nicht mehr für erforderlich hält. Voraussetzung für eine solche Bindung wäre zunächst, dass eine solche vertragliche Beschränkung der Kompetenzen des Sicherheitsrats überhaupt rechtlich möglich und zulässig ist. Dagegen spricht die systematische Stellung des Rats im Gefüge der Vereinten Nationen. Er soll schnell und flexibel auf Bedrohungen und Brüche des Weltfriedens reagieren können und zu diesem Zwecke weitgehend frei von 764 Eine solche duale Rechtsgrundlage, basierend auf S/RES/1386 (2001) vom 20.12.2001 und einem Brief des afghanischen Außenministers vom 19.12.2001 (abgedr. als S/2001/1223), nimmt Marauhn, AVR 40 (2002), 480 (500), für die ISAF in Afghanistan an. 765 Zu dieser Kompetenz des Sicherheitsrats zur Errichtung einer UN-Verwaltung mit der Zustimmung des betroffenen Staates siehe ausführlich oben 3.Kp. B.I u. II. 766 Ablehnend Tomuschat, in: FS Kooijmans (2002), S. 339, der einem im Vorfeld des Sicherheitsratsbeschlusses erzielten Einvernehmen mit dem betroffenen Staat wohl keine rechtliche Wirkung zubilligt. 767 Hier berief sich der Generalsekretär ausdrücklich auf das Abkommen zwischen Indonesien und Portugal vom 5. Mai 1999, welches die Vereinten Nationen vermittelt und durch Unterschrift Kofi Annans “bezeugt” hatten. Siehe § 39 des Berichts A/54/654 des Generalsekretärs vom 13.12.1999. 146 rechtlichen Bindungen Mitgliedstaaten zur handeln Befolgung dürfen.768 und Art. Ausführung 25 SVN verpflichtet die der Entscheidungen des Sicherheitsrats, während Art. 103 SVN dieser Verpflichtung Vorrang vor anderweitig begründeten Rechten und Pflichten gewährt. Da Art. 103 SVN seinem Wortlaut nach auch Übereinkommen mit der Organisation selbst erfasst,769 könnten sich Mitgliedstaaten gegenteiligen Entscheidungen des Rats nicht unter Berufung auf ein solches Abkommen widersetzen. Denkbar wäre allein, dass dem Rat nach der Charta die Befugnis zu einer solchen Entscheidung fehlt, wenn er sich zuvor durch eine Vereinbarung mit einem Mitgliedstaat zu einem andersartigen Vorgehen entschlossen hat. Entsprechende Anhaltspunkte sind in der Charta nicht zu erkennen. Art. 39 SVN macht das Ergreifen von Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII allein vom Vorliegen einer Friedensbedrohung abhängig. Eine Verpflichtung zur Errichtung einer Kapitel VII-Verwaltung ist daher nur insofern denkbar, als dass eine Friedensbedrohung tatsächlich vorliegt und der Sicherheitsrat sich lediglich bei der Auswahl eines geeigneten Mittels auf die Errichtung einer internationalen Verwaltung beschränken lässt. Doch auch eine solche Beschränkung seines Auswahlermessens widerspricht der Konzeption der Charta, welche dem Rat gerade größtmögliche Freiheiten bei der Wahrung des Weltfriedens lassen will. Dem kann auch nicht analog zur Staatensouveränität entgegengehalten werden, dass gerade die freiwillige Bindung eine charakteristische Gebrauchsform dieser Freiheit ist. Anders als Staaten besitzt der Sicherheitsrat als Organ einer internationalen Organisation nur jene Kompetenzen, die ihm seine Mitgliedstaaten in der Charta zugewiesen haben. Eine teleologische Auslegung der Charta ergibt indes, dass ihm eine entsprechende Kompetenz zur Eingehung vertraglicher Verpflichtungen, die ihn in der Ausübung seiner Kompetenzen aus Kapitel VII beschränken, nicht übertragen wurde. 768 Art. 24 Abs. 2 Satz 1 SVN verpflichtet ihn lediglich zur Beachtung der Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen. Art. 1 Abs. 1 SVN wiederum verpflichtet den Rat lediglich bei der Ausübung seiner Kompetenzen zur friedlichen Streitbeilegung zur Beachtung der Grundsätze der Gerechtigkeit und des Völkerrechts. Zu dieser Unterscheidung ausführlich unten 4.Kp. A.III. 769 Art. 103 SVN gibt den Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus der Charta Vorrang vor Verpflichtungen aus allen anderen internationalen Übereinkommen („obligations under any other international agreement“ – Hervorhebung durch den Verfasser). 147 Entsprechende Übereinkommen mit den betroffenen Territorialstaaten hindern den Sicherheitsrat daher nicht, in Ausübung seiner Kompetenzen aus Kapitel VII von diesen Abreden abzuweichen. Mithin ist davon auszugehen, dass die vorherige Einholung der Zustimmung des betroffenen Staates zur Errichtung einer UNVerwaltung bedeuten kann, dass diese sich auch auf die konsensuale PeacekeepingKompetenz des Sicherheitsrats stützen kann, sofern die Parteien der Einwilligung erkennbar eine rechtliche Bedeutung zumessen. Beruft sich der Sicherheitsrat daneben aber auch auf Kapitel VII der Charta, so stehen beide Rechtsgrundlage unabhängig nebeneinander. Daher ist die dritte Deutungsmöglichkeit hinsichtlich der rechtlichen Bedeutung einer Einwilligung des betroffenen Staates die zutreffende: Für eine auf Kapitel VII der Charta gestützte UN-Territorialverwaltung ist die Einwilligung rechtlich ohne Bedeutung, da sie die Kompetenzen des Rates nach Kapitel VII weder begrenzen noch erweitern kann.770 Ungeachtet dessen ist sie aber politisch höchst wünschenswert.771 Der Erfolg einer UN-Verwaltung steht und fällt mit der Zustimmung zumindest der betroffenen Bevölkerung zu ihrer Tätigkeit.772 Die Einwilligung des betroffenen Staates oder anderer Vertreter der Bevölkerung kann wesentlich zur Legitimität und damit zu Akzeptanz einer vorübergehende „Fremdverwaltung“ beitragen. Dies erklärt das ständige Bemühen des Sicherheitsrats um Einvernehmlichkeit mit den betroffenen Staaten beziehungsweise den Vertretern der betroffenen Bevölkerung. Die Bereitschaft des Rates, sich über Widerstände der genannten hinwegzusetzen, zeigt aber auch, dass er diesem Einvernehmen zu Recht keine rechtliche Bedeutung zumisst.773 770 So im Ergebnis auch Tomuschat, in: FS Kooijmans (2002), S. 339; und wohl auch Muharremi, Treuhandverwaltung (2005), S. 76. 771 So auch Marauhn, AVR 40 (2002), 480 (500), für den Fall der ISAF in Afghanistan. Tomuschat, in: FS Kooijmans (2002), S. 339, sieht in einer vorab vom betroffenen Staat erteilten Einwilligung zudem ein wichtiges Indiz dafür, dass tatsächlich einer Friedensbedrohung i.S.d. Art. 39 SVN vorliegt, deren Beseitigung die Kräfte des betroffenen Staates übersteigt. 772 So Orakhelashvili, Virginia JIL 43 (2003), 485 (518) zu Peacekeeping-Operationen allgemein. 773 So im Ergebnis auch Marauhn, AVR 40 (2002), 480 (500). 148 IV. Fallbeispiele Bislang hat der Sicherheitsrat in drei Fällen Krisengebiete unter Berufung auf Kapitel VII der Charta unter UN-Verwaltung gestellt. Alle drei Gebietsverwaltungen wurden vor relativ kurzer Zeit in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre eingerichtet. Es waren beziehungsweise sind dies UNTAES in Ostslavonien (1996-1998), UNMIK im Kosovo (seit 1999) und UNTAET in Osttimor (1999 – 2002).774 Anhand der bislang gewonnenen Erkenntnisse soll kurz geprüft werden, inwiefern der Sicherheitsrat sie zu Recht auf Kapitel VII der Charta gestützt hat. 1. UNTAES Eine deutliche internationale Dimension weist der Fall Ostslavoniens auf. Zwar gehört und gehörte das Gebiet, wie der Sicherheitsrat wiederholt festgestellt hatte,775 zu Kroatien. Auch war es 1995 nicht mehr von regulären jugoslawischen Truppen, sondern von ca. 10.000 Soldaten der „Armee der serbischen Republik Krajina“ und einigen Hundert Mitgliedern paramilitärischer Brigaden besetzt.776 Insofern könnte von einem nunmehr rein innerstaatlichen Konflikt gesprochen werden. Indes war die Lage in Ostslavonien eine direkte Folge des Krieges zwischen der seit 1991 unabhängigen Republik Kroatien und der Volksrepublik Jugoslawien, in dem die jugoslawische Volksarmee weite Teile Ostkroatiens erobert hatte.777 Ende 1995 konnten die Serben in Ostslavonien zwar nicht mehr mit militärischer Unterstützung aus Belgrad rechnen.778 Dennoch bestanden nach wie vor enge Beziehungen zwischen den serbischen Gruppierungen in Ostslavonien und dem aus Serbien und Montenegro bestehenden Rest-Jugoslawien, dass sich bis heute als Schutzmacht auch 774 Zu den historischen Hintergründen und dem Verlauf dieser drei Missionen siehe oben 2.Kp. K.-M. 775 Siehe beispielsweise jeweils Präambel-§ 2 der Resolutionen S/RES/1023 (1995) vom 22.11.1995 und S/RES/1037 (1996) vom 15.1.1996. 776 Reichel, Transitional Administrations (2000), S.32 f. 777 Zur Vorgeschichte der UNTAES siehe Reichel, Transitional Administrations (2000), S. 6-9, und oben 2.Kp. K. 778 Reichel, Transitional Administrations (2000), S. 8. 149 der im Ausland lebenden Serben begreift.779 Der Konflikt besaß daher eine deutliche internationale Dimension, zumal er nicht isoliert von der Gesamtsituation auf dem Balkan gesehen werden kann.780 Die Kämpfe griffen oft auf das benachbarte Bosnien über und umgekehrt. Bosnische Kroaten waren ebenso wie bosnische Serben auch an den Auseinandersetzungen in Ostslavonien beteiligt.781 Mit zwei Offensiven im Mai und August 1995 hatte die kroatische Armee mit Ausnahme Ostslavoniens alle serbisch kontrollierten Gebiete der früheren jugoslawischen Teilrepublik Kroatien wieder unter ihre Kontrolle gebracht,782 und drohte unverhohlen damit, auch im Falle Ostslavoniens zu einer gewaltsamen Lösung zu greifen.783 Damit bestand im November 1995 die konkrete Gefahr eines militärischen Konflikts mit erheblichen transnationalen Auswirkungen.784 Zwar schlossen die Parteien am 12. November 1995 unter der Vermittlung der Vereinten Nationen und der Vereinigten Staaten ein sogenanntes basic agreement,785 in dem der UN die Verwaltung des Gebietes für zunächst zwölf Monate angetragen wurde, bevor Kroatien seine Hoheitsgewalt über die Region wiederherstellen sollte. Es ließe sich daher argumentieren, dass im Zeitpunkt der Sicherheitsratsresolution, durch die die UN-Verwaltung Ostslavoniens eingesetzt wurde,786 die unmittelbare 779 Diese enge Beziehung wurde nicht zuletzt dadurch deutlich, dass die schweren Waffen der serbischen Einheiten in Ostslavonien bei ihrer Demilitarisierung nicht etwa der kroatischen, sondern der Armee Serbien-Montenegros übergeben wurden. Siehe Reichel, Transitional Administrations (2000), 33. 780 So liefen die Bemühungen zu einer friedlichen Lösung des Ostslavonien-Problems parallel zu den Bemühungen um eine Einigung in Bosnien-Herzegowina, die mit der Unterzeichnung des Vertrages von Dayton am 14.12.1995 endeten. 781 Siehe Beschreibung der Lage im Juni 1995 in UN, The Blue Helmets (1996), S. 550 f. 782 UN, The Blue Helmets (1996), S. 549-553. 783 UN, The Blue Helmets (1996), S. 554; Reichel, Transitional Administrations (2000), 8. 784 UN-DPKO, UNTAES - Lessons Learned (1999), § 8. Zur internationalen Dimension des Konflikts auch Šimunović, Int’l. PK (Cass) 6/1 (1999), 126 (133). Abgedruckt als Annex zu A/50/757 – S/1995/951 und in ILM 35 (1996), 184-187. Außer von den Parteien wurde das Abkommen auch vom US-Botschafter in Kroatien, Galbraith, und dem UNVermittler Stoltenberg unterzeichnet. 785 786 S/RES/1037 (1996) vom 15.1.1996. 150 Gefahr eines bewaffneten Konflikts entfallen war. Im Hinblick auf die früheren Erfahrungen der Vereinten Nationen im ehemaligen Jugoslawien erscheint dies aber fraglich. Der Wille der Konfliktparteien, sich an getroffene Vereinbarungen zu halten, war oftmals sehr gering. Blauhelme und zivile UN-Mitarbeiter wurden häufig an der Ausführung ihrer Tätigkeit gehindert oder sogar direkt angegriffen.787 Eine effektive Umsetzung des basic agreements – und damit eine Beseitung der Friedensbedrohung – war nur unabhängig vom Fortbestehen einer entsprechenden Konsenses der Parteien möglich.788 Somit konnte der Sicherheitsrat zulässigerweise das Mandat der UNTAES auf Kapitel VII der Charta stützen.789 2. UNMIK Die Lage im Kosovo war in den Jahren 1998 und 1999 durch ein zunehmend aggressiveres Vorgehen serbischer Sicherheitskräfte gegen die albanische Bevölkerungsmehrheit in der jugoslawischen Provinz und eine gleichfalls zunehmende Zahl terroristischer Angriffe bewaffneter albanischer Gruppen, insbesondere der UÇK, gekennzeichnet.790 Dies führte zu einer kritischen humanitären Lage innerhalb des Kosovos791 und großen Flüchtlingsströmen, sowohl innerhalb Restjugoslawiens als auch in die benachbarten Staaten BosnienHerzegowina, Albanien und Mazedonien.792 Gleichzeitig stellte der Konflikt die noch sehr jungen Grenzziehungen zwischen den Staaten der Region in Frage. Dass der Sicherheitsrat wiederholt die Souveränität und die territoriale Integrität der 787 Siehe die Beschreibung des Verlaufs der UN Confidence Restoration Mission in Croatia (UNCRO) in UN, The Blue Helmets (1996), S. 548-554, insb. S. 550 f. 788 So die Auffassung des Generalsekretärs in § 22 seines Berichts S/1995/1028 vom 13.12.1995. 789 Siehe den vorletzten und letzten Präambel-§ S/RES/1037 (1995) vom 15.1.1995. 790 Siehe den Präambel-§ 3 S/RES/1160 (1998) vom 31.3.1998. Zur Situation im Kosovo siehe oben Teil 1.2.12. 791 Der Sicherheitsrat sprach zunächst von einer drohenden (Präambel-§ 6 S/RES/1199 (1998) vom 23.9.1998, Präambel-§ 11 S/RES/1203 (1998) vom 24.10.1998), dann von einer eingetretenen humanitären Katastrophe (Präambel-§ 3 S/RES/1239 (1999) vom 14.5.1999). 792 Schätzungen des UNHCR gingen von etwa 860.000 Kosovo-Albaner aus, die im Jahre 1999 in die Nachbarstaaten geflohen waren (siehe <www.unhcr.ch/cgi-bin/texis/vtx/balkans-country?country= Kosovo>). Siehe auch § 8 des Berichts S/1999/779 des Generalsekretärs vom 12.7.1999, ferner Präambel-§ 7 S/RES/1199 (1998) vom 23.9.1998 und Präambel-§ 4 S/RES/1239 (1999) vom 14.5.1999. Die grenzüberschreitenden Flüchtlingsströme sehen auch Zimmermann/Stahn, Nordic JIL 151 Bundesrepublik Jugoslawien793 und der übrigen Staaten in der Region794 betonte, weist daraufhin, dass er sich dieser destabilisierenden Wirkung bewusst war.795 Es ließe sich aber argumentieren, dass mit dem Eingreifen der NATO und dem dadurch erzwungenen Rückzug der serbischen Sicherheitskräfte aus dem Kosovo796 die Ursache für die humanitäre Katastrophe beseitigt worden sei. In der Tat spricht die Resolution 1244 (1999) vom 10.6.1999, mit der die UN-Verwaltung des Kosovo eingerichtet wurde, nur mehr von einer schwierigen humanitären Lage,797 nicht mehr wie frühere Resolutionen von einer humanitären Katastrophe.798 Indes war die humanitäre Situation nicht die einzige Ursache für die Feststellung einer Friedensbedrohung im Sinne des Art. 39 SVN,799 zumal die Gewalt im Kosovo weiter andauerte800. So galt es einerseits, die Flüchtlinge aus den Nachbarländern zurückzuführen.801 Andererseits stellten die bewaffneten Gruppen im Kosovo weiterhin ein Bedrohung des zwischenstaatlichen Friedens in der Region dar, wie die aufflammenden Konflikte Anfang 2001 im südserbischen Presovo-Tal und in Mazedonien beweisen sollten.802 Daher müssen auch jene eine Bedrohung des 70 (2001), 423 (437), als hinreichende Grundlage für die Annahme einer Friedensbedrohung an. 793 Präambel-§ 7 S/RES/1160 (1998) vom 31.3.1998, Präambel-§ 13 S/RES/1199 (1998) vom 23.9.1998 und Präambel-§ 14 S/RES/1203 (1998) vom 24.10.1998. 794 Präambel-§ 11 S/RES/1244 (1999) vom 10.6.1999. 795 Allerdings dehnte er diese Garantie nur ein Mal auf alle Staaten der Region aus, noch dazu in einer Resolution, die nicht auf Kapitel VII gestützt ist und mithin keine Feststellung einer Friedensbedrohung enthält. (Siehe Präambel-§ 7 S/RES/1239 (1999) vom 14.5.1999). Auf die destabilisierende Wirkung auf die Nachbarstaaten verweisen auch Zimmermann/Stahn, Nordic JIL 70 (2001), 423 (437). 796 Zu den Einzelheiten siehe oben 2.Kp. L. 797 Präambel-§ 4 S/RES/1244 (1999) vom 10.6.1999. 798 Siehe die Nachweise oben in Fn. 781. 799 Zambelli, La constatation des situations de l'article 39 de la Charte (2002), S. 263, nimmt aber an, dass der Sicherheitsrat die humanitäre Lage für die einzige Ursache der Friedensbedrohung hielt, hält dies selbst aber nicht für zwingend. 800 Siehe Präambel-§ 5 S/RES/1244 (1999) vom 10.6.1999 und § 5 des Berichts S/1999/779 des Generalsekretärs vom 12.7.1999. 801 Siehe Präambel-§§ 4 u. 7 S/RES/1244 (1999) vom 10.6.1999, sowie §§ 8 u. 9 des Berichts S/1999/779 des Generalsekretärs vom 12.7.1999. 802 Zu diesen Ereignissen siehe §§ 11 f. des Berichts des Generalsekretärs S/2001/218 vom 13.3.2001, ferner §§ 9 des Berichts S/2001/565 vom 7.6.2001. 152 Weltfriedens und der internationalen Sicherheit annehmen, die eine Erweiterung des Art. 39 SVN auf rein innerstaatliche Konflikte ablehnen.803 Der Sicherheitsrat konnte daher zu Recht UNMIK als atypische Maßnahme nach Art. 41 und 42 SVN ins Leben rufen.804 Teilweise wird zudem vertreten, dass sich das Mandat der UNMIK auch auf die Zustimmung Jugoslawiens stützen könne.805 Dies erscheint zweifelhaft, da es voraussetzt, dass die jugoslawische Einwilligung rechtswirksam erfolgte, obwohl sie auf der Drohung der NATO-Staaten beruhte, anderenfalls die Bombardements gegen Serbien fortzusetzen.806 Dem lässt sich nicht entgegenhalten, der militärische Druck sei nicht von der UN ausgeübt worden und sei deshalb für UNMIK unbeachtlich.807 Eher schon ließe sich in Anwendung des in Art. 52 der Wiener Vertragsrechtskonvention niedergelegten Grundsatzes808 vertreten, die Androhung von Gewalt sei nach den Grundsätzen der humanitären Internvention gerechtfertigt und verstoße deshalb nicht gegen die in der Charta niedergelegten Grundsätze des 803 Zum Streitstand siehe oben 3.Kp. C.II.2. und die dortigen Nachweise. 804 Stahn, ZaöRV 61 (2001), 107 (131); Bothe/Marauhn, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the International Community (2002), S. 232; Matheson, AJIL 95 (2001), 76 (83 f.); Frowein/Krisch, Art. 41 (2002), Rn. 20; Wodarz, Kosovo-Konflikt (2002), S. 222 f.; Kondoch, JC&SL 6 (2001), 245 (256 f.). 805 Zimmermann/Stahn, Nordic JIL 70 (2001), 423 (441); von Carlowitz, AVR 41 (2003), 336 (343), in diese Richtung wohl auch Irmscher, GYIL 44 (2001), 353 (377 f.). Nach der hier vertretenen Auffassung (siehe oben 3.Kp. C.III.) ist die Zustimmung des Territorialstaates jedoch ohne rechtliche Bedeutung für die Verwaltungskompetenz des Sicherheitsrates. Wie hier ablehnend auch Tomuschat, in: FS Kooijmans (2002), S. 339. 806 Bothe/Marauhn, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the International Community (2002), S. 233, nehmen deshalb einen Fall des sog. „robust peace-keeping“ an. Dass Jugoslawien die Einrichtung einer UN-Verwaltung im Kosovo tatsächlich als Zwangsmaßnahme empfand, macht die Stellungnahme des jugoslawischen Vertreters anlässlich der Verabschiedung der Resolution 1244 (1999) deutlich: „I must note with regret that the draft resolution proposed by the G-8 is yet another attempt (...) at legalizing post festum the brutal aggression to which the Federal Republic of Yugoslavia has been exposed in the last two and a half months. (...) The solutions which are being tried to be imposed on the Federal Republic of Yugoslavia set a dangerous precedent for the international community.“ (UN-Doc. S/PV.4011, teilw. abgedr. bei Milano, EJIL 14 (2003), 999 (1008 Fn. 45). 807 So aber Bothe/Marauhn, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the International Community (2002), S. 233; ihnen folgend von Carlowitz, AVR 41 (2003), 336 (343). 808 Nach dem Urteil des IGH, Fisheries Jurisdiction Case, ICJ-Rep. 1973, 3 (14 § 24), reflektiert Art. 52 WVK (1969) geltendes Gewohnheitsrecht. 153 Völkerrechts.809 3. UNTAET Etwas schwieriger gestaltet sich die Annahme einer Friedensbedrohung in Osttimor.810 In Anbetracht des Umstandes, dass es sich bei Osttimor um eine ehemalige portugiesische Kolonie handelt, die 1976 von Indonesien in völkerrechtswidriger Weise annektiert wurde, kann die Internationalität des Konflikts nicht bestritten werden.811 Als nicht-selbstverwaltetes Gebiet im Sinnes des Kapitels XI der Charta812 fiel Osttimor ohnehin in den generellen Aufgabenbereich der Vereinten Nationen813. Eine fehlgeschlagene Dekolonialisierung allein begründet indes noch keine Friedensbedrohung. Auch die Annexion Osttimors durch Indonesien hatte der Sicherheitsrat zwar verurteilt, aber nicht als Friedensbedrohung eingestuft.814 Erst als es nach dem Referendum über die Unabhängigkeit Osttimors zu einer Verwüstung des gesamten Gebietes durch pro-indonesische Milizen unter Beteiligung der indonsesischen Streitkräfte kam815, stellte der Sicherheitsrat eine Bedrohung des Friedens und der Sicherheit fest und autorisierte ein militärisches Eingreifen unter der Führung Australiens.816 809 Ablehnend Milano, EJIL 14 (2003), 999 (1009-1015). 810 Zweifelnd Zambelli, La constatation des situations de l'article 39 de la Charte (2002), S. 264. 811 Zu den historischen Vorgängen siehe oben 2.Kp. M. 812 Diese Einstufung Osttimors nahm die Generalversammlung in A/RES/1542 (XV) vom 15.12.1960 vor. Portugal lehnte diese Einstufung strikt ab und kam seinen Berichtspflichten nach Art. 73 (e) SVN nicht nach. Siehe dazu das Sondervotum Oda, IGH, East Timor (Portugal v. Australia), ICJ-Rep. 1995, 90 107 (113-129, §§ 9-13) und de Quadros, Decolonization: Portuguese Territories, EPIL I (1992), 990-993. 813 Zum Status der nicht-selbstverwalteten Gebiete innerhalb des Systems der Vereinten Nationen siehe Fastenrath, Art. 73 (2002). 814 Siehe S/RES/384 (1975) vom 22.12.1975 und S/RES/389 (1976) vom 22.4.1976. 815 Siehe Kapitel II des Berichts des Generalsekretärs S/1999/1024 vom 4.10.1999, den Bericht einer Delegation des Sicherheitsrats S/1999/976 vom 14.9.1999 und den Bericht der UNAMET im Annex zu S/1999/976. Siehe ferner den Bericht A/54/726-S/2000/59 vom 31.1.2000 der vom UNMenschenrechtsausschuss eingesetzten internationalen Untersuchungskommission sowie den gemeinsamen Bericht A/54/660 dreier Sonderberichterstatter der UN-Menschenrechtskommission vom 10.12.1999. 816 S/RES/1264 (1999) vom 15.9.1999. 154 Aufgabe der International Force East Timor (INTERFET) war es in erster Linie, unter Einsatz aller erforderlichen Mittel die öffentliche Sicherheit wiederherzustellen.817 Obwohl es INTERFET weitgehend gelang, das Gebiet zu befrieden, und obwohl nach Ansicht des Sicherheitsrats alle beteiligten Parteien – Indonesien, Portugal und die Osttimoresen selbst – einer Verwaltung durch die Vereinten Nationen zugestimmt hatten818, stufte er die „andauernde Situation“ in Osttimor weiterhin als Friedensbedrohung ein, um auf der Grundlage des Kapitels VII der Charta UNTAET als Verwaltung des Gebietes einzurichten.819 Als Begründung führt er wiederum die schwierige humanitäre Situation und die Notwendigkeit an, eine Rückkehr der Flüchtlinge zu ermöglichen,820 von denen ein nicht geringer Teil in Lagern im indonesischen Westtimor untergebracht war.821 Diese Begründung erscheint etwas schwach.822 Sie erstarkt etwas, wenn man vom gewählten Mittel auf das damit zu lösende Problem schließt. Die Einbeziehung eines knapp 9.000 Köpfe zählenden Militärkontingents in die UN-Mission823 und der Verweis auf andauernde Gewalt in Osttimor824 deuten darauf hin, dass der Rat ein Wiederaufflammen der Kämpfe für den Fall befürchtete, dass INTERFET ohne Ersatz abzöge. Auch der Aufbau eines effektiven Staatswesens825 diente dazu, dies 817 § 3 S/RES/1264 (1999). 818 Siehe Präambel-§§ 2 u. 3 S/RES/1272 (1999) vom 25.10.1999. 819 Präambel-§§ 15 u. 16 S/RES/1272 (1999). 820 Präambel-§§ 9 u. 10 S/RES/1272 (1999). Kondoch, JC&SL 6 (2001), 245 (255), hält daneben die schweren Menschenrechtsverletzungen für entscheidend zur Feststellung einer Friedensbedrohung. Allerdings dauerten diese zum Zeitpunkt der Resolution 1272 (1999) nicht mehr an, was der Rat selbst andeutete: „Expressing its concerns at reports indicating that systematic, widespread and flagrant violations of international humanitarian and human rights law have been committed (...)“ (Präambel§ 13 S/RES/1272 (1999)). 821 Siehe §§ 12 f. S/RES/1272 (1999). § 19 des Berichts S/1999/1024 des Generalsekretärs vom 4.10.1999 spricht von ca. 500.000 vertriebenen Osttimoresen, von denen etwa 150.000 in Westtimor seien (bei einer Gesamtbevölkerung von 890.000). Dem entspricht, dass der Sicherheitsrat hier die eher schwache Formulierung eines „threat to peace and security“ wählte, während er im Kosovo ausdrücklich einen „threat to international peace and security“ feststellte [Präambel-§ 12 S/RES/1244 (1999)]. 822 823 § 3 (c) S/RES/1272 (1999). 824 § 16 S/RES/1272 (1999). 825 § 2 (c) und (e) S/RES/1272 (1999). 155 langfristig zu verhindern. Die Betonung der Notwendigkeit, die Grenzen Osttimors zu sichern826, lässt eine weitere Ursache der Friedensbedrohung erkennen. Neben dem unsicheren Grenzverlauf827 ist hier auch das Eindringen bewaffneter Milizen zu nennen, zu dem es auch nach Beginn der UNTAET und sogar nach der Staatswerdung Osttimors noch kam.828 In Anbetracht der unsicheren Lage in Indonesien – dort war es nach der Absetzung des Diktators Suharto 1999 zu den ersten freien Wahlen seit 40 Jahren gekommen – und der unrühmlichen Rolle, die indonesische Sicherheitskräfte bei der Verwüstung Osttimors nach dem Referendum gespielt hatten,829 konnte auch die weitere Kooperation Indonesiens nicht als sicher vorausgesetzt werden.830 Daher lag auch in Osttimor eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit vor,831 der der Sicherheitsrat in zulässiger Weise mit der Einrichtung einer UN-Verwaltung über das Gebiet auf der Grundlage der Art. 41 und 42 SVN begegnete.832 826 Präambel-§ 12 S/RES/1272 (1999). 827 In Präambel-§ 13 S/RES/1272 (1999) wird ausdrücklich auf die Notwendigkeit gesicherter Grenzen für Osttimor verwiesen. Über den genauen Verlauf der Grenze wurde bis zum Abzug der UNTAET nur eine vorläufige Einigung mit indonesischen Stellen erzielt. Siehe §§ 3 u. 26 des Berichts S/2002/432 vom 17.4.2002. 828 Siehe §§ 7-11 des Sonderberichts S/2003/243 des Generalsekretärs vom 3.3.2003; ferner Chopra, Survival 42 (2000), 27 (34). 829 Die Sicherheitsratsdelegation, die im September 1999 Indonesien und Osttimor besuchte, stellte fest, dass indonesische Sicherheitskräfte in erheblichem Maße an den Gewalttaten und Unruhen beteiligt war. Siehe dazu oben 2.Kp. M.I. und die dortigen Nachweise. 830 So drückten Mitglieder auswärtiger Vertretungen in Jakarta gegenüber der sie befragenden Sicherheitsratsdelegation Zweifel darüber aus, ob die indonesische Regierung mit einer Friedenstruppe kooperieren würde (siehe § 5 des Bericht S/1999/976 vom 14.9.1999). In der Tat war Indonesien anfangs nicht bereit, einer militärischen Intervention seitens des Sicherheitsrats zuzustimmen (siehe §§ 4 u. 8 S/1999/976). Bezogen auf ihr gesamtes Verhalten im Zusammenhang mit dem Referendum vom 30.8.1999 sprach die Sicherheitsratsdelegation von einem Mangel an Glaubwürdigkeit seitens der indonesischen Regierung (ebenda, § 18). 831 So im Ergebnis auch Kondoch, JC&SL 6 (2001), 245 (255), der allerdings rein interne Ursachen der Friedensbedrohung ohne grenzüberschreitende Auswirkungen annimmt. 832 Dagegen nimmt Stahn, MP-UNYB 5 (2001), 105 (114), eine vertragliche Grundlage für die Errichtung der UN-Verwaltung an. S/RES/1272 (1999) sei nur die Umsetzung der im trilateralen Abkommen zwischen Indonesien, Portugal und den Vereinten Nationen vom 5.5.1999 vereinbarten Übergangsverwaltung Osttimors durch die UN. 156 D. Die tatsächliche Ausübung der Verwaltungskompetenz des Sicherheitsrates Wie dargelegt berechtigen sowohl Art. 41 und 42 SVN wie auch Art. 24 Abs. 1 SVN – letzterer lediglich bei Zustimmung des betroffenen Staates – den Sicherheitsrat, die Verwaltungshoheit über ein Gebiet zu übernehmen. Die tatsächliche Ausübung dieser Verwaltungshoheit erfordert indes tagtäglich eine Vielzahl kleiner und großer Einzelentscheidungen in unterschiedlichsten Sachbereichen, mithin einen mit kompetenten Personen besetzten Apparat vor Ort. Diesen sachlichen und personellen Anforderungen kann der Sicherheitsrat nicht gerecht werden, da er nach dem Konzept der Charta über keinen administrativen Unterbau verfügt, sondern sich vielmehr gemäß Art. 98 Satz 1 SVN der Dienste des Generalsekretärs bedient.833 Für die Wahrnehmung der Verwaltungshoheit des Sicherheitsrates über ein Krisengebiet wurde daher bislang immer eine eigene UN-Mission ins Leben gerufen, welche die eigentlichen administrativen Aufgaben vor Ort wahrnahm.834 Diese Organsationsform wurde unabhängig davon gewählt, ob sich um eine einvernehmliche (Art. 24 Abs. 1 SVN) oder um eine Zwangsverwaltung handelte. 835 Mit der Planung, dem Aufbau und der Führung dieser Missionen hat der Rat stets den Generalsekretär beauftragt,836 da er in Gestalt der Abteilung für Friedensoperationen837 und anderer Teile des Sekretariats als einziger im System der 833 Zu den einzelnen Aufgaben des Generalsekretärs im Rahmen dieser Tätigkeit siehe Fiedler, Art. 98 (2002), Rn. 26-37. 834 UNTAC in Kambodscha (1992-1993), UNOSOM II in Somalia (1993-1995), UNTAES in Ostslavonien (1996-1998), UNMIK in Kroatien (seit 1999) und UNTAET in Osttimor (1999-2002). 835 Beispiel für erstere Variante ist die UNTAC in Kambodscha, in die zweite Kategorie fallen beispielsweise UNTAES in Ostslavonien und die UNMIK im Kosovo. 836 Zur Planung der Missionen siehe beispielsweise § 2 S/RES/1025 (1995) vom 30.11.1995 (Planung UNTAES), § 10 S/RES/1244 (1999) vom 10.6.1999 (Planung und Einrichtung UNMIK), sowie § 1 S/RES/1272 (1999) vom 25.10.1999 (Planung UNTAES). Die entsprechenden Entwürfe des Generalsekretärs finden sich in den Berichten S/1995/1028 vom 13.12.1995 (UNTAES), S/1999/672 vom 12.6.1999 (UNMIK) und S/1999/1024 vom 4.10.1999. Zu der Organisation von PeacekeepingMission durch das Sekretariat der Vereinten Nationen im Allgemeinen siehe Shimura, in: Thakur/Schnabel (Hrsg.), UN Peacekeeping Operations (2001), S. 48 ff. 837 Department of Peacekeeping Operations, im <www.un.org/Depts/dpko/dpko/home.shtml> [Stand: 2.10.2003]. Internet zu finden unter 157 Vereinten Nationen über entsprechende Ressourcen verfügt.838 Es ist daher damit zu rechnen, das die Beauftragung des Generalsekretärs weiterhin das primäre Modell einer Territorialverwaltung nach Kapitel VII darstellen wird.839 Da der Sicherheitsrat so auf Personal und Ressourcen eines anderen Hauptorgans der UN zurückgriff, können die in Frage stehenden Verwaltungsmissionen nicht als unselbständige organisatorische Untergliederungen des Rates selbst eingestuft werden.840 Dafür spricht auch die Berichtspflicht, die er dem Generalsekretär in den Ermächtigungsresolutionen der jeweiligen Verwaltungsmissionen auferlegte.841 Auch der Umstand, dass die Missionen vor Ort durch einen Vertreter des Generalsekretärs und nicht einen Sonderbeauftragten des Sicherheitsrates geleitet werden, spricht dafür, die Verwaltungsmissionen als gegenüber dem Sicherheitsrat rechtlich selbständige Einheiten aufzufassen. Bisher hat der Sicherheitsrat mithin stets eine von ihm rechtlich unterscheidbare Stelle mit der tatsächlichen Verwaltungstätigkeit beauftragt. Rechtlich stellt sich diese Beauftragung eines im Verhältnis zum Sicherheitsrat rechtlich selbständigen Organs als eine Delegation der Verwaltungskompetenz des Sicherheitsrates dar. Im Folgenden sollen zunächst die Voraussetzungen, der Umfang und die Grenzen dieser Kompetenzdelegation untersucht werden (I.), bevor auf den rechtlichen Status der Verwaltungssysteme innerhalb der UN und im Verhältnis zu Dritten eingegangen wird (II.). Daran anschließend werden die rechtliche Vorgaben für die Beteiligung dritter Völkerrechtssubjekte an einer UN-Gebietsverwaltung dargelegt (III.). Abschließend wird als Alternative zur gegenwärtigen Praxis untersucht, inwiefern der Sicherheitsrat seine Verwaltungskompetenz an den Generalsekretär, einzelne Mitgliedstaaten oder Regionalorganisationen delegieren 838 Ausführlich zur Tätigkeit des Sekretariats der Vereinten Nationen bei der Planung einer Peacekeeping-Mission Shimura, in: Thakur/Schnabel (Hrsg.), UN Peacekeeping Operations (2001), S. 46 ff. 839 Ähnlich Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 63. 840 Um eine solche handelt es sich beispielsweise bei ad hoc-Arbeitsgruppen des Rates. Siehe dazu Paulus, Art. 29 (2002), Rn. 9. 841 Siehe § 10 S/RES/745 (1992), § 9 S/RES/1037 (1996), § 20 S/RES/1244 (1999), und § 18 S/RES/1272 (1999). 158 könnte (IV.). I. Die Delegation der Verwaltungskompetenz des Sicherheitsrates Wesentliches Charakteristikum der hier untersuchten Beauftragung durch den Sicherheitsrat ist, dass der beauftragten Stelle nicht nur gewisse Aufgaben, sondern auch bestimmte Befugnisse übertragen werden. Das ergibt sich daraus, dass die betrauten Stellen anderenfalls nicht über die zur Erfüllung ihrer Aufgabe erforderlichen Kompetenzen verfügten. Selbstverständlich ist dies bei Nebenorganen im Sinne des Art. 7 Abs. 2 SVN und Art. 29 SVN. Denn ihre rechtliche Existenz beruht allein auf einem Kreationsakt eines UN-Hauptorgans, so dass sich auch etwaige Befugnisse allein aus denen des sie schaffenden UN-Organs ableiten lassen. Doch auch der Generalsekretär, der als Hauptorgan über eine eigenständige Rechtsgrundlage in der Charta verfügt,842 ist nach dieser nicht berechtigt, selbständig die Verwaltung über ein Krisengebiet zu übernehmen.843 Art. 24 Abs. 1 SVN und Kapitel VII der Charta ermächtigen allein den Sicherheitsrat zur Verwaltung eines Gebietes. Sollen andere diese Aufgaben für ihn wahrnehmen, müssen sie daher zunächst mit entsprechenden Befugnissen ausgestattet werden.844 Im Kern handelt es sich daher bei der hier untersuchten Beauftragung um eine Delegation von Kompetenzen des Sicherheitsrats an andere UN-Organe oder Dritte zur eigenständigen Wahrnehmung.845 842 Art. 7 Abs. 1 und Art. 97-101 SVN. 843 Higgins, in: Cassese (Hrsg.), UN Peace-keeping (1978), S. 7, verneint eine Befugnis des Generalsekretärs, eigenständig Peacekeeping-Missionen ins Leben zu rufen, selbst dann, wenn diese auf ausdrücklichen Wunsch aller Betroffenen eingerichtet werden sollen. 844 Dies gilt zumindest für die Wahrnehmung der hier in Frage stehenden Befugnisse des Sicherheitsrats aus Art. 24 Abs. 1 SVN und Kapitel VII der Charta. Die Frage, ob die Generalversammlung oder der Treuhandrat darüberhinaus auch über eigene Kompetenzen zur Verwaltung eines Krisengebietes verfügen, siehe unten 3.Kp. E. und F. 845 Ausführlicher zum Begriff der Kompetenzdelegation Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 4 f; ferner Böhmer, Ermächtigung zu militärischer Gewaltanwendung (1997), S. 70-72. 159 1. Umfang der Delegation Eigenständige Wahrnehmung bedeutet nicht, dass nunmehr allein der so Bevollmächtigte die ihm übertragene Kompetenz ausüben kann. Vielmehr bleibt der Rat weiter zur Gebietsverwaltung befugt und kann dem Beauftragten diese Befugnis grundsätzlich jederzeit wieder entziehen.846 Auch behalten die Entscheidungen des Rates grundsätzlich Vorrang vor denen der beauftragten Stelle, ebenso wie er grundsätzlich die Kontrolle über die Ausübung der von ihm übertragenen Kompetenzen behält.847 Dies geschieht jedoch eher in Form einer allgemeinen Beaufsichtigung der Tätigkeit des Bevollmächtigten, sowie in Gestalt einer politischen Kontrolle. Innerhalb dieses Rahmens – den der Sicherheitsrat in Einzelfall enger oder weiter gestalten kann – handelt die beauftragte Stelle indes mit eigenem Entscheidungsspielraum. Kompetenzdelegationen sind daher von solchen Fällen abzugrenzen, in denen sich der Rat oder das von ihm beauftragte Organ lediglich des Personals anderer Organe, Organisationen oder der UN-Mitgliedstaaten bedient, ohne diesen selbst Verantwortung zuzuweisen. Eine Kompetenzdelegation liegt ebenfalls nicht vor, wenn Dritten lediglich die Ausführung eines in seinen Einzelheiten feststehenden Ratsbeschlusses zugewiesen wird.848 Andererseits reicht die bloße Weisungsgebundenheit nicht aus, da ein Eingriffsrecht des Sicherheitsrates auch bei delegierten Kompetenzen besteht. Entscheidend ist, ob die internationale Organisation oder der Mitgliedstaat selbst, d.h. in ihrer beziehungsweise seiner Eigenschaft als juristische Person, tätig wird und dabei ein gewisses Maß an Entscheidungsfreiheit genießt, oder ob diese lediglich ihr Personal zur Verfügung stellen. Vergleichbar ist diese Differenzierung mit der 846 Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 7. 847 Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 7 f., mit Hinweisen zu den beiden möglichen Ausnahmen, die insbesondere bei der Einrichtung internationaler Gerichte von Bedeutung sind. Ausführlicher zu diesen Beschränkungen unten 3.Kp. D.I.4. 848 Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 10 f., unterscheidet hier zwischen der Übertragung einer Kompetenz („delegation of a power“) und der Zuweisung einer Aufgabe („delegation of a function“). Entscheidend kommt es dabei auf den Entscheidungsspielraum an, den der Sicherheitsrat dem Beauftragten bei der Ausführung gewährt. 160 Unterscheidung von UN-Blauhelmsoldaten und autorisierten Einheiten des Militärs der Mitgliedstaaten. Beide bestehen aus nationalen Truppenkontingenten. Doch während erstere unter direktem UN-Kommando stehen, führen letzte zwar den kollektiven Willen des Sicherheitsrats aus, die operativen Entscheidungen treffen indes allein die Mitgliedstaaten. 2. Die Zulässigkeit von Delegationen bei konsensgestützten UN-Verwaltungen Die Frage des „Ob“, also der Zulässigkeit einer derartigen Beauftragung, gestaltet sich relativ einfach bei UN-Verwaltungen, die auf der Grundlage des Art. 24 Abs. 1 SVN mit Zustimmung des betroffenen Staates eingerichtet wurden. Hier ist eine Beauftragung anderer UN-Organe oder –Unterorganisationen zulässig, soweit sie von der Einwilligung des betroffenen Territorialstaates umfasst ist. So sah das Pariser Friedensabkommen, das der UN-Verwaltung in Kambodscha zugrunde lag, ausdrücklich die Einrichtung der UNTAC als eigenständiger UN-Mission vor.849 Angesichts des Umfangs der erforderlichen Verwaltungstätigkeit und der gängigen Praxis des Rates bei Blauhelmmissionen kann eine Einwilligung in eine Beauftragung des Generalsekretärs angenommen werden, sofern sie der betroffene Staat nicht ausdrücklich ausschließt. Im Hinblick auf die arbeitsteilige Vorgehensweise der UN und ihrer Sonder- und Unterorganisationen gilt gleiches für die Einbeziehung dieser in die Gebietsverwaltung. Nur so können die Ressourcen der Vereinten Nationen optimal eingebracht werden. Bei einem Fehlen gegenteiliger Hinweise ist zu vermuten, dass dies auch dem Interesse des betroffenen Staates entspricht. Etwas anderes gilt für die Einbeziehung einzelner Staaten oder anderer internationaler Organisationen. Sofern sie mit eigenständigem Verantwortungsbereich und eigenständiger Organisation tätig werden, also nicht lediglich der UN Personal und Ressourcen zur Verfügung stellen, sind sie sind im Verhältnis zwischen Sicherheitsrat und betroffenem Staat als Dritte anzusehen, deren Einbeziehung zustimmungsbedürftig ist.850 Doch kann sich aus der staatlichen 849 850 Art. 2 des Pariser Friedensabkommens, abgedr. in ILM 31 (1992), 174 (184). Dies entspricht der Praxis bei Blauhelm-Missionen, bei denen dem Territorialstaat das Recht 161 Zustimmung und ihren äußeren Umständen ergeben, dass auch der bloße Rückgriff auf Personal bestimmter oder aller anderen Staaten oder Organisationen ausgschlossen wurde.851 Im Übrigen findet die Delegation von Sicherheitsratskompetenzen bei konsensualen Friedensoperationen nur insoweit eine quasi-inhärente Grenze, als die Operation ihren Charakter als Maßnahme der kollektiven Sicherheit und Friedenswahrung verliert, wenn sich der Sicherheitsrat der tatsächlichen Kontrolle und Überwachung der Operation begibt. Insbesondere bei der Delegation an einzelne Mitgliedstaaten oder Regionalorganisationen kann es dann fraglich sein, ob überhaupt noch von einer UN-Operation gesprochen werden kann.852 3. Die Zulässigkeit einer Delegation von Befugnissen im Rahmen einer Zwangsverwaltung Komplizierter gestaltet sich die Rechtslage bei der Delegation von Befugnissen des Sicherheitsrats aus Kapitel VII. Zwar sieht die Charta ausdrücklich vor, dass sich der Sicherheitsrat bei der Erfüllung seiner Aufgaben auch Regionalorganisationen (Art. 53 Abs. 1 SVN) oder des Generalsekretärs (Art. 98 Satz 1 SVN) bedienen darf oder zu diesem Zwecke Nebenorgane schaffen kann (Art. 29 SVN). Auch die eingangs beschriebene praktische Notwendigkeit, bei der Wahrung von Frieden und Sicherheit in der Welt auf die Ressourcen anderer internationaler Akteure zurückgreifen zu können, lassen eine implied power des Rates zur Delegation seiner Befugnisse aus Kapitel VII vermuten. Dass eine Delegation der Befugnisse des Rates nach Kapitel VII nicht im Widerspruch zur Chartakonzeption eines Systems kollektiver Sicherheit gegeben wurde, bestimmte, ihm nicht genehme Staaten als Truppensteller auszuschließen. Siehe UN Special Committee on Peace-keeping Operations (UN Spec.Com. on PKO), Art. 10 der Draft formulae for agreed guidelines for United Nations Peace-keeping Operations, A/32/394, Annex II, Appendix I vom 2.12.1977, und Higgins, in: Cassese (Hrsg.), UN Peace-keeping (1978), S. 5. 851 So wurde bei Blauhelmmissionen während des Kalten Krieges darauf geachtet, keine Truppen der fünf ständigen Sicherheitsratsmitglieder einzubeziehen, um die Mission vor einer Einbeziehung in die Konfrontation der Großmächte zu bewahren. Siehe dazu Shimura, in: Thakur/Schnabel (Hrsg.), UN Peacekeeping Operations (2001), S. 51. 852 White, Keeping the Peace (1997), S. 118. Gaja, in: Tomuschat (Hrsg.) UN at Age Fifty (1995), S. 41 f., nennt die amerikanisch geführte Operation Restore Hope 1992 in Somalia als Beispiel für eine solche nur lose mit der UN verbundene Operation. 162 steht,853 wird zudem durch Art. 42 Satz 2, Art. 48 Abs. 2 und Art. 53 Abs. 1 Satz 1 SVN angedeutet, welche explizit die Ausführung der Zwangsmaßnahmen durch Dritte vorsehen. Art. 53 Abs. 1 Satz 2 SVN spricht sogar ausdrücklich von der Ermächtigung („authorization“)854 regionaler Einrichtungen durch den Sicherheitsrat. Zu Recht wird dem Sicherheitsrat daher die Befugnis zugesprochen, im Rahmen des Kapitels VII der Charta Kompetenzen auf andere völkerrechtliche Akteure zu übertragen.855 Strittig ist allein, ob es sich dabei um eine allgemeine implied power handelt, die allen internationalen Organisationen zusteht,856 oder ob die Artikel der Charta eine hinreichende ausdrückliche Ermächtigung enthalten.857 Die fraglichen Artikel sind für eine Delegation an Nebenorgane Art. 29 SVN, für eine an den Generalsekretär Art. 98 Satz 1 SVN, für die Übertragung von Befugnissen an Regionalorganisationen Art. 53 Abs. 1 SVN und für solche an einzelne Mitgliedstaaten Art. 42 Satz 2 und Art. 48 Abs. 2 SVN. Da sie jeweils nur einen konkreten Fall betreffen, soll die Frage, ob sie den Sicherheitsrat auch zur Delegation von Kompetenzen berechtigen, oder ob auf eine entsprechende implied power zurückgegriffen werden muss, zu einem späteren Zeitpunkt jeweils individuell geklärt werden. An dieser Stelle reicht die Feststellung aus, dass der Sicherheitsrat prinzipiell zur Delegation seiner Befugnisse aus Kapitel VII der Charta berechtigt ist und dass nicht ersichtlich ist, dass für die Befugnis zur zwangsweisen Verwaltung eines Krisengebietes etwas Anderes gelten sollte. 853 So aber Quigley, Michigan JIL 17 (1996), 249 (250). Eine ausführliche Erläuterung des vom Sicherheitsrat zumeist verwendeten Begriffs „autorisieren“ (to authorize) findet sich Böhmer, Ermächtigung zu militärischer Gewaltanwendung (1997), S. 52 f. 854 855 Für die Zulässigkeit einer solchen freiwilligen Beteiligung von Mitgliedstaaten an Zwangsmaßnahmen des Sicherheitsrates auch Schachter, AJIL 85 (1991), 452 (464). 856 Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 16-18. Zu einer entsprechenden allgemeinen Befugnis internationaler Organisationen siehe Schermers/Blokker, International Institutional Law (1995), § 224, und Seidl-Hohenveldern/Loibl, Internationale Organisationen (2000), Rn. 1404. 857 Fassbender, UN Security Council Reform and the Right of Veto (1998), S. 231; Frowein/Krisch, Introduction to Chapter VII (2002), Rn. 32. 163 4. Grenzen der Delegation von Kapitel VII-Befugnissen Jedoch kann eine solche Übertragung von Kompetenzen unabhängig von ihrer Rechtsgrundlage nicht grenzenlos erfolgen. Aus dem allgemeinen Rechtsgrundsatz nemo dat quot non habet folgt zunächst, dass der Sicherheitsrat nur solche Kompetenzen übertragen kann, die er nach der Charta selbst besitzt.858 Das bedeutet insbesondere, dass der Beauftragte bei der Ausübung der ihm übertragenen Kompetenzen denselben Beschränkungen unterliegt wie der Sicherheitsrat selbst.859 Aber auch die Befugnisse, die der Sicherheitsrat tatsächlich besitzt, kann er nicht vollumfänglich übertragen. Art. 24 Abs. 1 SVN überträgt ihm die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit. Diese zentrale Rolle860 wird wesentlich durch Kapitel VII geprägt, welches dem Sicherheitsrat allein weitreichende Befugnisse zu Zwangsmaßnahmen erteilt. Im Gegenzug stellt Art. 27 Abs. 3 SVN in Gestalt des Veto-Rechts eine prozedurale Hürde auf, die wesentliche Voraussetzung dafür war, dass sich die Mitgliedstaaten diesem System unterworfen haben. Gleiches gilt für die in Art. 23 Abs. 1 SVN niedergelegte, halbwegs repräsentative Zusammensetzung des Sicherheitsrats.861 Diese Grundfesten des Regimes kollektiver Sicherheit im Rahmen der Charta dürfen durch die grundsätzlich zulässige Delegation von Kompetenzen nicht unterlaufen werden. Daraus folgt nicht nur, dass die Kompetenz zur Feststellung einer Friedensbedrohung im Sinne des Art. 39 SVN beim Sicherheitsrat verbleiben muss.862 Er muss auch die 858 Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 142; Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 20; Reinhart, Die Nebenorganpraxis des Sicherheitsrates (2000), S. 29. Für die allgemeine Geltung dieses Grundsatzes im Recht der internationalen Organisationen siehe SeidlHohenveldern/Loibl, Internationale Organisationen (2000), Rn. 1405; Schermers/Blokker, International Institutional Law (1995), § 225. 859 Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 19; Blokker, EJIL 11 (2000), 541 (552). 860 Blokker, EJIL 11 (2000), 541 (551). 861 Zu Kritik an der Zusammensetzung des Sicherheitsrates und den Reformvorschlägen ausführlich Fleurence, Réforme du Conseil de sécurité (2000), sowie jüngst UN, Threats, Challenges and Change (2004), §§ 244-260. 862 Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 33 f.; Frowein/Krisch, 164 Entscheidung über die Art der zu ergreifenden Zwangsmaßnahmen863 – vorliegend über Art und Umfang der UN-Verwaltung – haben und die Letztkontrolle über ihre Ausführung behalten.864 Dies beinhaltet auch die Fähigkeit, ein einmal erteiltes Mandat wieder zu entziehen.865 Dieses Kontrollrecht des Sicherheitsrates unterscheidet sich von der Frage, ob es einer individuellen Überprüfbarkeit einzelner Rechtsakte der UN-Verwaltung bedarf, die von einzelnen Betroffenen veranlasst werden kann. Während ersteres das Verhältnis zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer, mithin das Innenverhältnis betrifft, betrifft letzteres das Außenverhältnis zwischen Vereinten Nationen und dem betroffenen Individuum. Nur die Kontrolle und das Selbsteintrittsrecht des Sicherheitsrats rechtfertigen die Umgehung des Art. 27 Abs. 3 SVN, die darin liegt, dass bei einer Delegation die Sicherheitsratskompetenzen von UN-Organen oder Völkerrechtssubjekten ausgeübt werden, die kein Vetorecht und keine Art. 23 Abs. 1 SVN entsprechende Zusammensetzung kennen.866 Auch die Art. 46 und 47 Abs. 3 Satz 1 SVN deuten an, dass die Charta eine Kontrolle der Zwangsmaßnahmen durch den Sicherheitsrat befürwortet.867 Art. 54 SVN legt ferner Regionalorganisationen auf, dem Sicherheitsrat über die von ihnen getroffenen Maßnahmen vollständig Bericht zu erstatten. Da es dem Rat nur so möglich ist, seine Kontrollfunktion wahrzunehmen, ist diese Pflicht zur Berichterstattung auf alle mit der Ausführung von Kapitel VII- Introduction to Chapter VII (2002), Rn. 33. 863 Frowein/Krisch, Introduction to Chapter VII (2002), Rn. 33. 864 Siehe die krit. Stellungnahme Indiens zu S/RES/770 (1992), S.C.O.R. , 47 th sess., 3106th mtg., S/PV.3106 (1992), S. 12. Ähnlich der Vertreter Simbabwes in der gleichen Sitzung, ebenda, S. 16; beide Stellungnahmen abgedr. bei Quigley, Michigan JIL 17 (1996), 249 (265 f.). Aus der Literatur siehe Böhmer, Ermächtigung zu militärischer Gewaltanwendung (1997), S. 110; Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 41; Paulus, Art. 29 (2002), Rn. 15. 865 So für internationale Organisationen allgemein Seidl-Hohenveldern/Loibl, Internationale Organisationen (2000), Rn. 1404. 866 Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 40 f. im Hinblick auf das Vetorecht und die Rolle der fünf ständigen Sicherheitsratsmitglieder. Zu Beispielen für den Selbsteintritt der Sicherheitsrates in Gestalt konkreter Anweisungen an den Generalsekretär im Rahmen der UNTAC-Mission in Kambodscha siehe Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 105 m.w.N. 867 White, Keeping the Peace (1997), S. 117; White/Ülgen, NILR 44 (1997), 378 (386 f.). 165 Maßnahmen Betraute auszudehnen.868 Bei den UN-Verwaltungsmissionen ist dies inzwischen gängige Praxis.869 Formal ist zu beachten, dass eine Bevollmächtigung nicht einfach unterstellt werden darf, da es sich bei der Befugnis zur Ausführung von Zwangsmaßnahmen um die weitreichendste und wesentlichste Kompetenz handelt, die der Sicherheitsrat besitzt. Insbesondere die Übertragung der Befugnisse zur zwangsweisen Verwaltung eines Gebietes bedarf daher einer expliziten Übertragung im Wege einer Resolution.870 Gleiches ist aber auch für eine konsensgestützte Territorialverwaltung auf der Grundlage von Art. 24 Abs. 1 SVN zu fordern. Denn auch hier geht es um die Wahrnehmung der Kernaufgabe des Sicherheitsrates, die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit. Der Mangel einer expliziten Ermächtigung spielte bei der zweiten UN-Mission in Somalia (UNOSOM II) eine Rolle. Dort setzte der zuständige Sondergesandte des Generalsekretärs das somalische Strafgesetzbuch von 1962 wieder in Kraft. Da aber Resolution 814 (1993) vom 26.3.1993, welche die rechtliche Grundlage seiner Tätigkeit bildete, keine explizite Befugnis zu Legislativakten enthielt, wurde dieser Akt später von einer UN- Untersuchungskommission als eine möglicherweise unzulässige ultra viresHandlung bewertet.871 In der Folge hat der Sicherheitsrat daher die einzelnen Kompetenzen des Generalsekretärs bei der Ausübung der Verwaltung wesentlich präziser ausgestaltet.872 Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine zu detaillierte 868 Für den Fall der Delegation von Kompetenzen an Mitgliedstaaten Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 161 f.; Frowein/Krisch, Art. 42 (2002), Rn. 25. Auch White/Ülgen, NILR 44 (1997), 378 (387) fordern eine Verpflichtung der ermächtigten Mitgliedstaaten zur regelmäßigen Berichterstattung. 869 § 10 S/RES/745 (1992) zu UNTAC (3 monatlich); § 9 S/RES/1037 (1996) zu UNTAES (erster Bericht nach 11 Monaten); § 20 S/RES/1244 (1999) zur Verwaltung des Kosovo (erster Bericht innerhalb von 30 Tagen, dann in „regular intervals“) und § 18 S/RES/1272 (1999) zur Verwaltung Osttimors (erster Bericht nach drei Monaten, dann halbjährliche Berichte). 870 So für die Delegation von Zwangsbefugnissen allgemein Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 8 f. u. 63. 871 Siehe § 67 des Berichts einer vom Sicherheitsrat eingesetzten Untersuchungskommission, abgedr. als S/1994/653 vom 1.6.1994; ferner Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 62 f. 872 Während § 14 S/RES/814 (1993) den Generalsekretär lediglich das Ziel, eine sicheres Umfeld zu schaffen, als Aufgabe gesetzt hat, enthalten § 11 S/RES/1244 (1999) zum Kosovo und § 2 S/RES/1272 (1999) zu Osttimor einen detaillierten Aufgabenkatalog und werden damit den 166 Umschreibung der übertragenen Kompetenzen die UN-Verwaltung daran hindern würde, flexibel auf die vor Ort angetroffenen Verhältnisse und ihre Entwicklung zu reagieren. Da die Feststellung einer Friedensbedrohung aus den oben genannten Gründen nicht delegiert werden kann, muss der delegierenden Resolution eine solche Feststellung entweder vorausgehen, oder sie muss diese selbst enthalten.873 Da es sich bei der Delegation von Kompetenzen um eine nicht-prozedurale Frage im Sinne des Art. 27 Abs. 3 SVN handelt, unterliegt sie dem Vetorecht der fünf ständigen Ratsmitglieder.874 Inhaltlich sind die übertragenen Aufgaben und Befugnisse sowie die angestrebten Ziele möglichst präzise zu benennen.875 So dies nicht erfolgt ist, sind entsprechende Resolutionen grundsätzlich restriktiv auszulegen.876 Eine klare Benennung der angestrebten Ziele führt auch zu einem bestimmbaren zeitlichen Ende der Befugnisübertragung. Denn mit der Erreichung der in der Resolution genannten Ziele erlischt auch die Delegation der entsprechenden Kompetenz. Anderenfalls bedürfte die Rücknahme der übertragenen Befugnisse einer weiteren Sicherheitsratsresolution, was die Gefahr eines sogenannten reverse veto mit sich brächte. Sie lässt sich auch dadurch vermeiden, dass der Sicherheitsrat die Delegation von vornherein nur für einen bestimmten Zeitraum ausspricht.877 So hat der Sicherheitsrat die UNTAET-Mission zunächst nur für gut fünfzehn Monate autorisiert878 und in der Folge zweimal verlängert.879 Aber auch hier gilt, dass eine zu Anforderungen an eine Präzisierung der übertragenen Kompetenzen gerecht. 873 White/Ülgen, NILR 44 (1997), 378 (387); Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 9 f. 874 Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 9. 875 Frowein/Krisch, Introduction to Chapter VII (2002), Rn. 33. Für den Fall der Autorisierung von Mitgliedstaaten zu militärischen Zwangsmaßnahmen siehe White/Ülgen, NILR 44 (1997), 378 (387). 876 Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 44. 877 Blokker, EJIL 11 (2000), 541 (563). 878 § 17 S/RES/1272 (1999) vom 25.10.1999. 879 Durch S/RES/1338 (2001) vom 31.1.2001 um ein Jahr und S/RES/1389 (2002) vom 31.1.2002 um weitere vier Monate bis zur Selbständigkeit Osttimors am 20.5.2002. 167 kurze Leine im Einzelfall das Erreichen der mit der Delegation angestrebten Ziele behindern kann.880 Auch angesichts des weiten Ermessens, dass Kapitel VII der Charta dem Sicherheitsrat bei der Wahl der Mittel einräumt,881 muss man ihm allerdings auch in Hinblick auf den Umfang der von ihm ausgeübten Kontrolle eine gewisse Flexibilität gestatten.882 Die fehlende zeitliche Begrenzung des Mandats des Generalsekretärs zur Verwaltung des Kosovo stellt daher die Rechtmäßigkeit der UNMIK nicht in Frage.883 II. Der rechtliche Status der UN-Verwaltungsmissionen Da es sich bei den bisherigen UN-Verwaltungsmissionen nicht um unselbständige Untergliederungen des Sicherheitsrates handelt, teilen sie nicht vollumfänglich dessen rechtlichen Status. Im Folgenden wird daher untersucht, in welchem rechtlichen Verhältnis sie zu den übrigen Organen der UN stehen (1.) und welcher rechtliche Status ihnen im Außenverhältnis zukommt (2.). 1. Der rechtliche Status der UN-Verwaltungsmissionen im Gefüge der Vereinten Nationen Hinsichtlich des internen rechtlichen Status einer UN-Verwaltungsmission ist zunächst festzustellen, dass es sich bei diesen bisher stets um rechtlich selbständige Nebenorgane, nicht um unselbständige Untergliederungen des UN Sekretariates 880 Das konzediert auch Korhonen, Leiden JIL 14 (2001), 495 (500), die sich im Übrigen kritisch zur geringen Kontrolle der UNMIK und der UNTAET durch den Sicherheitsrat äußert. Eine ausführlichere Darstellung dieses Spannungsverhältnisses bei der Autorisierung mitgliedstaatlicher Militäreinsätze durch den Sicherheitsrat und in Frage kommende Abwägungskriterien zu seiner Auflösung finden sich bei Böhmer, Ermächtigung zu militärischer Gewaltanwendung (1997), S. 98110. 881 Siehe dazu oben 3.Kp. C.II.1. 882 Vgl. Blokker, EJIL 11 (2000), 541 (551 f.), der lediglich eine Präferenz der Charta für eine engere Kontrolle des Sicherheitsrates feststellt und auf die Probleme zu umfangreicher Mandatsbeschränkungen aufmerksam macht (ebenda, S. 565). 883 Gemäß § 19 S/RES/1244 (1999) ist UNMIK zwar zunächst nur für ein Jahr eingerichtet worden, um dann jedoch bis auf Widerruf durch eine weitere Sicherheitsratsresolution fortzubestehen. Diese Regelung mag im Hinblick darauf gewählt worden sein, dass die Kosovofrage im Sicherheitsrat im Gegensatz zur Osttimorfrage erhebliche Kontroversen ausgelöst hatte. Durch ein zeitlich unbegrenztes Mandat steht die UNMIK auf einem solideren Fundament. 168 handelte.884 Entscheidend ist dabei der Grad an Unabhängigkeit, den die betreffende Organisationseinheit geniesst.885 Die bisherigen UN-Verwaltungsmissionen wurde dabei stets von einem Sondergesandten des Generalsekretärs (SRSG) im Range eines Under-Secretary-General geleitet,886 der durch den Generalsekretär ernannt wurde.887 Sie sind damit nicht Untergliederungen des ebenfalls von einem UnderSecretary-General geleiteten Department for Peacekeeping Operations (DPKO). Ferner verfügen sie über ein gegenüber dem allgemeinen Haushalt der Vereinten Nationen gesondert ausgewiesenes Budget.888 Dass die bisherigen Missionen in vielfacher Weise auf die Ressourcen des DPKO und des Generalsekretariates zurückgriffen, bedeutet noch keine Integration in die Hierarchie des Sekretariates, sondern ist eher mit dem Bestreben, Synergieeffekte zu nutzen, zu erklären.889 Zu prüfen bleibt lediglich, ob es sich um Nebenorgane des Sicherheitsrates oder um solche des Generalsekretärs handelt. Im ersteren Falle böte Art. 29, im letzteren Art. 7 Abs. 2 der Charta die notwendige Rechtsgrundlage. Diese Unterscheidungen sind insofern von Interesse, als sie über die Rolle des Generalsekretärs bei der Verwaltung eines Krisengebietes entscheiden. Handelt es sich bei den Verwaltungsmissionen um Teile des Sekretariats oder zumindest um Nebenorgane des Generalsekretärs, so kann 884 Für die Einstufung als Nebenorgan auch Ruffert, ICLQ 50 (2001), 613 (622), Irmscher, GYIL 44 (2001), 353 (355); Bothe/Marauhn, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the International Community (2002) (228); Jaenicke, Art. 7 (2002), Rn. 18. Für eine Definition des Begriffs “Nebenorgan” („subsidiary organ“) siehe Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S.87-91; ferner Jaenicke, Art. 7 (2002), Rn. 4; jeweils m.w.N. 885 Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 89. 886 Siehe beispielsweise § 4 S/1999/672 vom 12.6.1999 zur Umsetzung des § 10 S/RES/1244 (1999). Im Rahmen der UNTAES wurde diese Position des Missionsleiters lediglich als „transitional administrator“ bezeichnet (§ 2 S/RES/1037 (1996)). 887 § 2 S/RES/1037 (1996) verpflichtet ihn dabei zur Rücksprache mit dem Sicherheitsrat und den betroffenen Parteien in Ostslavonien, in § 3 S/1999/672 (UNMIK) verpflichtet sich der Generalsekretär selbst zu Rücksprache mit dem Rat – § 10 S/RES/1244 (1999) ließ dies offen –, während ihm § 6 S/RES/1272 (1999) in Osttimor formal freie Hand lässt. 888 Siehe beispielsweise A/RES/54/245 A vom 23.12.1999, abgedr. in UNYB 1999, 365 f., oder A/RES/54/246 A vom gleichen Tag, abgedr. ebenda, 297 f. Zur Finanzierung von PeacekeepingOperationen allgemein siehe Bothe, Peace-keeping (2002), Rn. 103-107. So werden alle Legislativakte der UN-Verwaltungen (die sog. „regulations“) vor ihrer Verkündung durch die Rechtsabteilung des Sekretariates geprüft. Siehe dazu Corell, Role of the UN in Peacekeeping (2000), S. 5 f. Ausführlich zur Planung einer Peacekeeping-Mission durch den Generalsekretär und das Department of Peacekeeping Operations Shimura, in: Thakur/Schnabel (Hrsg.), UN Peacekeeping Operations (2001), S. 46-56. 889 169 der Sicherheitsrat nicht unmittelbar auf die Mission Einfluss nehmen, sondern ist auf den Umweg über den Generalsekretär angewiesen. Im ersten Fall folgt dies aus der Stellung des Generalsekretärs als höchstem Verwaltungsbeamtender UN (Art. 97 Satz 3 SVN), im zweiten daraus, dass grundsätzlich allein das aufstellende Hauptorgan befugt ist, Zusammensetzung, Aufgaben und Befugnisse eines Nebenorgans zu ändern.890 Handelt es sich dagegen um ein Nebenorgan des Sicherheitsrates, so kann dieser unabhängig vom Generalsekretär über die Mission befinden. Bei einem Nebenorgan des Generalsekretärs bliebe ferner zu prüfen, inwieweit dieser zur Subdelegation der ihm vom Sicherheitsrat übertragenen Kompetenzen befugt ist. Entscheidend ist, welches der beiden UN-Hauptorgane das fragliche Nebenorgan aufstellt. Betrachtet man zunächst den Fall der UN-Verwaltung im Kosovo, so spricht einiges für eine Aufstellung durch den Generalsekretär.891 So wurde er vom Sicherheitsrat autorisiert, eine Zivilverwaltung im Kosovo einzurichten892, und er wurde beauftragt, einen Sondergesandten für diese Aufgabe zu benennen.893 Bei allen drei auf der Grundlage von Kapitel VII eingerichteten Missionen ist ihm – und nicht dem Leiter der Mission vor Ort – auferlegt worden, dem Sicherheitsrat regelmäßig Bericht zu erstatten.894 Die Mission im Kosovo ist aber insofern ein Sonderfall, als sie zum Zeitpunkt der Verabschiedung ihrer Ermächtigungsresolution 1244 (1999) am 10.6.1999 noch nicht abschließend geplant worden war.895 Der Sicherheitsrat konnte sie daher noch nicht in ihren Einzelheiten darlegen und bevollmächtigte den Generalsekretär 890 Jaenicke, Art. 7 (2002), Rn. 5; ähnlich Szasz, Role of the UN Secretary General, NYU.J.I.L&P 24 (1991), 161 (172). 891 Irmscher, GYIL 44 (2001), 353 (355), stuft die UNMIK deshalb als Nebenorgan des Generalsekretärs ein. § 10 S/RES/1244 (1999) lautet: „Authorizes the Secretary-General (...) to establish an international civil presence in Kosovo in order to provide an interim administration for Kosvo (…)”. 892 § 6 S/RES/1244 (1999) lautet: „Requests the Secretary General (…) to appoint a Special Representative (…)”. 893 894 § 9 S/RES/1037 (1996), § 20 S/RES/1244 (1999) und § 18 S/RES/1272 (1999). 895 Dies erfolgte erste mit dem Bericht S/1999/672 des Generalsekretärs vom 12.6.1999. 170 entsprechend umfassender. In den beiden anderen Fällen einer UN- Verwaltungsmission auf der Grundlage von Kapitel VII waren die Planungen bereits im Vorfeld abgeschlossen.896 In § 1 der Resolution 1037 (1996) beauftragte der Sicherheitsrat daher nicht den Generalsekretär, sondern rief UNTAES unmittelbar selbst ins Leben.897 In gleicher Weise verfuhr er bei der Einrichtung der UNTAETMission in Osttimor.898 Die Urheberschaft des Rates wird besonders deutlich im Falle der UNTEAS. Hier behielt sich der Sicherheitsrat in § 8 der Resolution 1037 (1996) ausdrücklich vor, das Mandat der Mission zu ändern, sollte dies erforderlich werden. Hätte es sich um ein Nebenorgan des Generalsekretärs gehandelt, hätte diese Befugnis bei diesem gelegen. Für ein Nebenorgan im Sinne des Art. 29 SVN spricht ferner, dass der Sicherheitsrat nicht dem Generalsekretär, sondern den Missionen selbst bestimmte Aufgaben und Kompetenzen zu weist.899 Die Delegation findet mithin im Verhältnis zwischen Sicherheitsrat und dem von ihm geschaffenen Nebenorgan statt. Dass er in gleicher Weise mit der UN-Verwaltung im Kosovo verfährt,900 deutet daraufhin, dass auch im Falle der UNMIK nicht der Generalsekretär, sonder die von ihm so genannte „international civil presence“ der Empfänger der vom Rat übertragenen Befugnisse ist. Bei allen bisherigen Verwaltungsmissionen handelt es sich mithin um Nebenorgane des Sicherheitsrates,901 nicht solche des Generalsekretärs.902 Zu Recht haben die UN 896 Im Falle der UNTAES mit dem Bericht S/1995/1028 des Generalsekretärs vom 13.12.1995, im Falle der UNTAET mit dem Bericht S/1999/1024 vom 4.10.1999. § 1 S/RES/1037 (1996) lautet: „Decides to establish (...) a United Nations peace-keeping operation for the region (…) under the name ‘United Nations Transitional Administration for Eastern Slavonia, Baranja and Western Sirmium’ (UNTAES)”. 897 § 1 S/RES/1272 (1999) lautet entsprechend: „Decides to establish (...) a United Nations Transitional Administration in East Timor (UNTEAT) (...)“. 898 899 §§ 10 u. 11. S/RES/1037 (1996) bzw. §§ 1, 2 u. 4 S/RES/1272 (1999). § 11 S/RES/1244 (1999) lautet: „Decides that the main responsibilities of the international civil presence will include (…)”. 900 901 Paulus, Art. 29 (2002), Rn. 48; von Carlowitz, AVR 41 (2003), 336 (342). Zu der Annahme eines Nebenorgans des Sicherheitsrates tendieren auch Ruffert, ICLQ 50 (2001), 613 (622), und Bothe/Marauhn, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the International Community (2002) (228). 171 die Peacekeeping- und Verwaltungsmissionen in ihrem Organigramm der Vereinten Nationen dem Sicherheitsrat zugeordnet.903 Die rechtliche Grundlage für die Delegation von Kompetenzen an Nebenorgane ist auch hier nicht in einer generellen implied power zu suchen,904 sondern in Art. 29 SVN selbst. Dieser legt fest, dass der Sicherheitsrat solche Nebenorgane einrichten kann, die er „zur Wahrnehmung seiner Aufgaben für erforderlich hält.“905 Der Wortlaut des Art. 29 SVN906 erfasst damit auch die Schaffung solcher Nebenorgane, die Befugnisse des Sicherheitsrates ausüben, wenn dieser ein solches Organ für erforderlich hält. Damit erlaubt Art. 29 SVN auch die Übertragung von Kompetenzen auf ein Nebenorgan, so dass für die Annahme einer entsprechenden ungeschriebenen Delegationsbefugnis kein Raum ist. Der Einstufung der Verwaltungsmissionen als Nebenorgane des Sicherheitsrates lässt sich auch nicht entgegenhalten, dass die Mission jeweils von ein Sondergesandten und Vertreter des Generalsekretärs und nicht einem Beauftragten des Sicherheitsrats geleitet wird. Dieser Umstand lässt sich vielmehr damit erklären, dass der Rat den Generalsekretär mit der Führung des von ihm nach Art. 29 SVN geschaffenen Nebenorgans betraut. Da der Sicherheitsrat, wie bereits ausgeführt, über kein eigenes Personal verfügt, bedient er sich hierzu unter Rückgriff auf Art. 98 SVN des Generalsekretärs, der seinerseits zur Wahrnehmung dieser Aufgabe einen Sondergesandten als Vertreter benennt.907 Dass dem Generalsekretär diese Vorgehensweise durch die jeweilige Resolution des Sicherheitsrates vorgeschrieben oder doch zumindest empfohlen ist,908 ist dabei als rechtliche Ausgestaltung seiner 902 So aber Irmscher, GYIL 44 (2001), 353 (355). In dieser Richtung wohl auch Frowein/Krisch, Introduction to Chapter VII (2002), Rn. 32, die von einer Autorisierung des Generalsekretärs zur Übernahme der Verwaltungshoheit sprechen. 903 The United Nations System, Organigramm, abrufbar unter <www.un.org/aboutun/chart.html>. 904 So aber Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 16-18. 905 Zum Verfahren der Einrichtung von Nebenorganen siehe Reinhart, Die Nebenorganpraxis des Sicherheitsrates (2000), S. 56 f.; Paulus, Art. 29 (2002), Rn. 16-18. Art. 29 SVN lautet im englischen Original: „The Security Council may establish such subsidiary organs as it deems necessary for the performance of its functions.” 906 907 Paulus, Art. 29 (2002), Rn. 48. 908 Siehe § 2 S/RES/1307 (1999) [„Requests“] oder § 6 S/RES/1272 (1999) [„Welcomes“]. Hinsichtlich der Person des Sondergesandten sieht sich der Generalsekretär zudem zunehmenden Drucks seitens der Mitgliedstaaten ausgesetzt (Shimura, in: Thakur/Schnabel (Hrsg.), UN Peacekeep- 172 Beauftragung mit der Leitung des Nebenorgans zu verstehen. Der Generalsekretär wird mit der Leitung der Mission betraut, verbunden mit der Auflage, dieses Amt einem von ihm zu ernennenden Vertreter, seinem Sondergesandten, zu übertragen. Die eigentliche Kompetenzdelegation findet indes im Verhältnis zwischen Sicherheitsrat und dem von ihm geschaffenen Nebenorgan statt. Allein diesem wird die Befugnis zur Verwaltung des Gebietes übertragen. Der Generalsekretär, beziehungsweise dessen Sondergesandter, sofern seine Ernennung bereits in der Ermächtigungsresolution vorgesehen ist, wird lediglich zum Leiter der mit diesen Befugnissen ausgestatteten Mission bestellt und übt als solcher diese Befugnisse aus. Im Verhältnis zwischen Generalsekretär und Sicherheitsrat liegt somit keine Kompetenzdelegation, sondern lediglich ein Auftragsverhältnis vor. Am deutlichsten wird dieses Verhältnis – Ermächtigung der Mission beziehungsweise dessen Leiter bei gleichzeitiger Beauftragung des Generalsekretärs, diesen Posten zu besetzen – in § 6 S/RES/1272 (1999): “Welcomes the intention of the Secretary-General to appoint a Special Representative who, as the Transitional Administrator, will be responsible for all aspects of the United Nations work in East Timor and will have the power to enact new laws and regulations and to amend, suspend or repeal existing ones”. 909 Es ist der Übergangsverwalter, der als Leiter der Übergangsverwaltung deren Kompetenzen ausübt und bestimmte Befugnisse besitzt. Dass dieser Posten vom Generalsekretär mit einem Vertreter besetzt wird, entspricht Art. 101 Abs. 1 SVN, Dem zufolge die Personalhoheit, d.h. die Befugnis, Personal einzustellen, grundsätzlich beim Generalsekretär liegt. Art. 101 Abs. 2 SVN legt darüber hinaus den Grundsatz der Einheitlichkeit des Sekretariats fest und bezieht prinzipiell auch das Personal der Nebenorgane der UN in das Sekretariat ein.910 So lief die ing Operations (2001), S. 51 f.). Eine ähnliche Formulierung findet sich in § 2 S/RES/1037 (1996): „Requests the SecretaryGeneral to appoint (...) a Transitional Administrator, who will have overall authority over (…) UNTAES, and who will exercise the authority given to the Transitional Administration in the Basic Agreement”. (Im Falle der UNTAES war das Amt des Missionsleiters noch nicht als Sondergesandtschaft des Generalsekretärs ausgestaltet.) 909 910 Zu diesem Grundsatz siehe Göttelmann/Münch, Art. 101 (2002), Rn. 44-46. 173 Rekrutierung von Personal für die Verwaltungsmissionen weitgehend über die Abteilung für Friedensoperationen des Sekretariats, auch wenn einzelne Stellen auch durch die Missionen selbst ausgeschrieben wurden911. Im übrigen bindet diese Verfahrensweise die Verwaltungsmission an das Sekretariat in New York an und ermöglicht es, auf dessen personelle und sachliche Ressourcen zurückzugreifen. Dem Respekt vor dem Grundsatz der Einheit des Sekretariats entspricht es auch, dass der Generalsekretär, nicht der Missionsleiter, vom Sicherheitsrat zur regelmäßigen Berichterstattung verpflichtet wird, da der Generalsekretär als oberster Beamter der UN-Verwaltung912 Dienstvorgesetzter des vom Nebenorgan Verwaltungsmission eingesetzten Personals bleibt und als solcher dem Rat über die Tätigkeit seiner Untergebenen Rechenschaft ablegt.913 Zusammenfassend lässt sich daher feststellen, dass es sich bei den in Frage stehenden Verwaltungsmissionen um Nebenorgane des Sicherheitsrats im Sinne des Art. 29 SVN handelt, denen dieser seine Befugnisse zur Territorialverwaltung aus Kapitel VII übertragen hat. Mit deren Planung, Aufstellung und Leitung hat er gemäß Art. 98 SVN den Generalsekretär beauftragt, der den in Art. 101 Abs. 1 und 2 SVN niedergelegten Grundsätzen entsprechend auch für die personelle Austattung, insbesondere für die Benennung eines seiner Sondergesandten als Missionsleiter zuständig ist. Dass diese Struktur auch bei den komplexeren Verwaltungsmissionen gewählt wurde, lässt darauf schließen, dass sie sich in den Augen des Sicherheitsrates bewährt hat. Es ist somit davon auszugehen, dass er auch bei zukünftigen Missionen auf diese Struktur zurückgreifen wird, sofern sachliche oder politische Umstände des Einzelfalls nicht eine andere Vorgehensweise sinnvoller erscheinen lassen. 911 Siehe die Stellenauschreibungen <http://www.unmikonline.org/jobopps/index.htm>. 912 der UNMIK unter Art. 97 Satz 3 SVN. 913 Unklar Reinhart, Die Nebenorganpraxis des Sicherheitsrates (2000), S. 62 f., die bezogen auf Blauhelm-Missionen von eine Mandatierung des Generalsekretärs zur Berichterstattung spricht, die dieser aufgrund der zahlreichen Missionen nur durch Vertreter wahrnehmen könne. 174 2. Der rechtliche Status der UN-Verwaltungsmissionen gegenüber Staaten und dritten internationalen Organisationen Die bisherigen Ausführungen betrafen allein das Innenverhältnis der verschiedenen Akteure im Rahmen der Vereinten Nationen. Nur im Innenverhältnis sind die Verwaltungsmissionen Nebenorgane des Sicherheitsrates. Im Außenverhältnis sind sie dagegen Nebenorgane der Vereinten Nationen insgesamt914 und haben als solche Teil am völkerrechtlichen Status der Mutterorganisation. Dies bedeutet einerseits, dass die Art. 104 und 105 SVN auf sie ebenso Anwendung finden wie die Konvention über die Vorrechte und Immunitäten der Vereinten Nationen.915 Andererseits besitzen sie keine von den Vereinten Nationen unabhängige Völkerrechtssubjektivität.916 Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die Befugnisse der Verwaltungsmission auf dem und für das von ihr verwalteten Territorium anzuerkennen, ergibt sich zunächst aus der Verbindlichkeit der Beschlüsse des Rates, die der Einrichtung und Mandatierung der Mission zugrunde liegen. Jedenfalls im Falle von Missionen, die auf der Grundlage von Kapitel VII der Satzung eingerichtet wurden, verpflichten Art. 25 und Art. 48 Abs. 2 SVN die mittlerweile 191 UN-Mitglieder zur Anerkennung.917 Diese Pflicht erfasst auch die Beachtung und gegebenenfalls die Ausführung oder Unterstützung der von der Mission im Rahmen ihres Mandats getroffenen Entscheidungen und Maßnahmen.918 Doch auch Verwaltungsmissionen, die ihre Grundlage in Art. 24 Abs. 1 SVN und der Einwilligung der betroffenen Völkerrechtssubjekte finden, können die Mitgliedstaaten ihre Anerkennung nicht verweigern.919 Denn Art. 2 Ziff. 5 SVN verpflichtet die Staaten, der UN bei der 914 Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 87. 915 Jaenicke, Art. 7 (2002), Rn. 26. 916 Jaenicke, Art. 7 (2002), Rn. 26. 917 So für Nebenorgane des Sicherheitsrates allgemein Paulus, Art. 29 (2002), Rn. 20. 918 Paulus, Art. 29 (2002), Rn. 20. Entsprechend für die Entscheidungen des Jugoslawientribunals ICTY, Prosecutor v. Blaškić (Subpoenae), Entscheidung vom 18.7.1997, § 33, abgedr. in ILR 110 (1998), 607 (628). 919 Anders Rothert, Columbia JTL 39 (2000), 257 (280), der eine Anerkennungspflicht seitens der Mitgliedstaaten nur für Missionen annimmt, die sich auf Kapitel VII SVN stützen. 175 Erfüllung ihrer Aufgaben jeglichen Beistand zu leisten. Da auch die konsensgestützte Verwaltung von Krisengebieten in den Aufgabenbereich des Sicherheitrates nach Art. 24 Abs. 1 SVN fällt,920 sind die Mitgliedstaaten auch in diesen Fällen verpflichtet, die Verwaltungsmission zu unterstützen. Die Anerkennung der Zuständigkeit der Mission für das Krisengebiet kann dabei gleichsam als Minimalforderung an die Mitgliedstaaten gesehen werden. Die Pflicht, die rechtlich Existenz921 der Verwaltungsmission als Teil der Vereinten Nationen anzuerkennen, sowie ihr und ihrem Personal gewisse Vorrechte und Privilegien zuzubilligen, folgt dagegen bereits aus der Anwendbarkeit der Art. 104 und Art. 105 SVN. Inwiefern die einzelnen Missionen berechtigt sind, eigenständig rechtliche Beziehungen gegenüber Dritten einzugehen, hängt davon ab, ob ihnen eine entsprechende Kompetenz übertragen wurde.922 So wurde UNTAET in § 5 der Resolution 1272 (1999) ausdrücklich ermächtigt, auf das Wissen und die Ressourcen anderer internationaler Organisationen zurückzugreifen.923 In der Regel setzt dies aber eine wie auch immer geartete rechtliche Vereinbarung zwischen den Parteien voraus. Auf dieser Grundlage hat UNTAET beispielsweise auch in eigenem Namen einen Darlehensvertrag mit der internationalen Entwicklungsagentur (International Develepment Agency) der Weltbank geschlossen.924 Im Falle der UNMIK fehlt eine solche ausdrückliche Ermächtigung, § 10 der Resolution 1244 (1999) autorisiert lediglich den Generalsekretär, die Mission mit der Hilfe anderer relevanter internationaler Organisationen einzurichten.925 Es ist jedoch an eine entsprechende 920 Siehe dazu oben 3.Kp. B.II. 921 Gemeint ist die Teilhabe an der Rechtsfähigkeit der UN als Ganzes. Wie bereits ausgeführt ist die Verwaltungsmission selbst kein eigenständiges Rechtssubjekt. 922 Jaenicke, Art. 7 (2002), Rn. 26. § 5 S/RES/1272 (1999) lautet: „Recognizes that, in developing and performing its functions under its mandate, UNTAET will need to draw on the expertise and capacity of Member States, United Nations agencies and other international organizations, including international financial institutions“. 923 924 Siehe dazu Chopra, Survival 42 (2000), 27 (30), und American Society for International Law (ASIL), IDA-UNTAET: Trust Fund for East Timor Grant Agreement of 21 February 2000, International Law in Brief (ILIB), April 2000, abrufbar unter <www.asil.org/ilib/ilib0309.htm>. Der relevante Teil des § 10 S/RES/1244 (1999) lautet: „Authorizes the Secretary-General, with the assistance of relevant international organizations, to establish an international civil presence in Kosovo (…)”. 925 176 implied power zu denken, sofern und soweit das eigenständige Knüpfen rechtlicher Außenbeziehungen für die Erfüllung der Aufgaben unbedingt erforderlich ist, die § 11 der Resolution 1244 (1999) der Mission überträgt. III. Die Einbeziehung von UN-Unterorganisationen und dritter internationaler Organisationen in eine UN-Zwangsverwaltung Sachliche und politische Erwägungen können es ferner im Einzelfall sinnvoll erscheinen lassen, andere Akteure in die Verwaltung eines Krisengebietes einzubeziehen, ohne dabei die rechtliche Struktur der Mission zu ändern. In Frage kommen dabei nicht nur Sonderorganisationen der UN, sondern auch Regionalorganisationen und einzelne Mitgliedstaaten.926 So ist im Rahmen der sog. 4-Säulen-Konstruktion der UNMIK die OSZE für den Aufbau demokratischer Institutionen und die Überwachung der Wahrung der Menschenrechte zuständig, während die Europäische Union mit dem wirtschaftlichen Wiederaufbau des Kosovo betraut wurde.927 In Afghanistan hat Deutschland die Rolle als Führungsnation („lead nation“) für den Aufbau einer afghanische Polizei übernommen, während Italien in gleicher Weise für den Justizsektor verantwortlich ist.928 Sofern diese externen Akteure einen Aufgabenbereich zur eigenständigen Wahrnehmung zugewiesen bekommen haben, handelt es sich dabei um eine Subdelegation von Kompetenzen durch die vom Sicherheitsrat bevollmächtigte UNVerwaltungsmission. Eine solche ist nur dann zulässig, wenn der Sicherheitsrat sie seinem Nebenorgan gestattet hat. Je nach Umfang des zugewiesenen Aufgabenbereichs kann eine solche Subdelegation den Unterbevollmächtigten erheblichen Einfluss bei der Gebietsverwaltung geben und so den Charakter der Mission als quasi überparteiliche Maßnahme der Völkergemeinschaft insgesamt 926 Zur Frage der grundsätzlichen Zulässigkeit der Delegation von Kompetenzen an regionale Organisationen und einzelne Mitgliedstaaten siehe unten 3.Kp. D.IV.2. u. 3. 927 Siehe § 5 und den Annex des Berichts S/1999/672, ferner oben 2.Kp. L. 928 Dies wurde vom Untergeneralsekretär für Peacekeeping, Jean-Marie Guéhenno, ausdrücklich als mögliches Modell für zukünftige Operationen bewertet. Siehe seine Rede vor dem Sicherheitsrat am 30.9.2003, UN-Doc. S/PV.4835, 3 (6). Zur Tätigkeit Deutschlands im Bereich des Polizeiaufbaus siehe ferner Vergau, VRÜ 37 (2004), 371-379. 177 beeinträchtigen.929 Daher ist bei der Annahme einer implied power zur Subdelegation Zurückhaltung geboten. Grundsätzlich ist dabei zwischen der Beauftragung anderer Nebenorgane, Unter- und Sonderorganisationen der UN einerseits und der Bevollmächtigung externer Akteure wie Mitgliedstaaten und andere internationale Organisationen andererseits zu unterscheiden. Denn während Erstere institutionell zum alleinigen Handeln im Interesse der Vereinten Nationen verpflichtet sind, unterliegen Letztere lediglich einer Treuepflicht (Art. 2 Ziff. 5 SVN) beziehungsweise einer Pflicht zur Ausführung der konkreter Beschlüsse des Sicherheitsrates (Art. 25 SVN). Sicherheitsrat regelmäßig Entscheidungsfindungsprozesse keinen unmittelbaren regionaler 930 Ferner wird der Einfluss Organisationen oder auf die einzelner Mitgliedstaaten ausüben können, was ihm die Kontrolle der Mission erschwert. Während daher eine implied power zur Aufgabenübertragung an Akteure innerhalb des UN-Systems anzunehmen ist, wenn dies für eine effektive Erfüllung des Mandats der Mission erforderlich erscheint, ist für eine Unterbevollmächtigung externe Dritter eine explizite Ermächtigung durch den Sicherheitsrat erforderlich.931 Im Sinne einer je-desto-Formel muss diese umso genauer sein, je bedeutender der übertragene Aufgabenbereich und je größer die Unabhängigkeit ist, welche jene Dritte bei der Ausübung der ihnen übertragenen Kompetenzen genießen. Einen gewissen Maßstab hierfür bietet die Resolution 1244 (1999), die in ihrem § 10 die Ermächtigung des Generalsekretärs enthält, „mit Hilfe der zuständigen internationalen Organisationen eine internationale zivile Präsenz im Kosovo einzurichten“.932 Sie beschränkt den Kreis der beteiligungsfähigen Akteure auf 929 Internationale Legitimität und die grundsätzliche Neutralität des Personals werden in UN, Threats, Challenges and Change (2004), § 262, als wesentliche Merkmale eines UN-Engagements im Bereich Peacebuilding betont. 930 Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 19. 931 Anders Frowein, in: FS Bernhardt (1995), S. 64, der zumindest für den weitergehenden Fall einer Anwendung militärischer Gewalt allein durch Mitgliedstaaten oder Regionalorganisationen unter bestimmten Bedingungen einen stillschweigende Ermächtigung für möglich hält. 932 Entnommen der deutschen Übersetzung der Resolution in VN 1999, 116. Im englischen Original lautet der Passus: „Authorizes the Secretary-General, with the assistance of relevant international organizations, to establish an international civil presence in Kosovo (…)“. 178 internationale Organisationen, schließt mithin eine Subdelegation an Einzelstaaten aus. Zuständig („relevant“) kann im Kontext der Verabschiedung der Resolution 1244 (1999) nur so verstanden werden, dass damit auf jene Organisationen Bezug genommen wird, die bereits zuvor an der Konfliktlösung auf dem Balkan beteiligt waren oder zumindest eine besondere Beziehung zu diesem Konflikt haben. Dass diese Formulierung eingrenzende Bedeutung hat, wird auch daran deutlich, dass der Sicherheitsrat sich an anderer Stelle an Mitgliedstaaten und internationale Organisationen in ihrer Gesamtheit wendet.933 Die Wendung „mit Hilfe“ legt gleichzeitig fest, dass den zuständigen Organisationen nur eine unterstützende Rolle übertragen werden darf, die Organisationen mithin bei ihrer Tätigkeit der UNMIK und ihrem Sondergesandten unterstellt sein müssen. Im Hinblick darauf begegnet es weniger Bedenken, dass Resolution 1244 (1999) weder die zu bevollmächtigenden Organisationen, noch die ihnen zu übertragenen Aufgaben näher benennt, da der Sicherheitsrat so jederzeit auf ihre Tätigkeit Einfluss nehmen kann. Aufgrund des allgemeinen Rechtsgrundsatzes, dass ein Rechtssubjekt nicht mehr Rechte übertragen kann, als es selbst innehat (nemo dat quod non habet), finden im Übrigen die Voraussetzungen und Bedingungen einer Kompetenzdelegation durch den Sicherheitsrat selbst auf eine Subdelegation entsprechend Anwendung.934 Dies bedeutet insbesondere, dass sich die UN-Verwaltungsmission nicht vollständig der Kontrolle über den delegierten Aufgabenbereich begeben darf und dass der Unterbevollmächtigte wie die Verwaltungsmission selbst auf die Ziele und Grenzen des Sicherheitsratsmandats verpflichtet werden muss. Inwiefern eine Verwaltungsmission zur Erfüllung ihrer Aufgaben ihrerseits Nebenorgane einrichten darf, ist ebenfalls durch Auslegung des durch den Sicherheitsrat erteilten Mandates zu ermitteln. Die Einrichtung von Unterorganen ist jedenfalls dann zulässig, wenn eine entsprechende ausdrückliche Ermächtigung § 13 S/RES/1244 (1999): „Encourages all Member States and international organizations to contribute to economic and social reconstruction as well as to the safe return of refugees and displaced persons (…)”. Siehe ferner auch § 17 der Resolution. 933 934 Zu diesen allgemeinen Anforderungen siehe bereits oben 3.Kp. D.I.4. 179 durch den Sicherheitsrat gegeben ist.935 Da solche Unterorgane selbst Teil des UNSystems sind, ist aber auch die Annahme einer entsprechenden implied power zulässig, wenn eine entsprechende Notwendigkeit besteht.936 Da die Einrichtung weitere Organe aber in der Regel zu zusätzlichen Kosten führt, ist auch hier Zurückhaltung geboten.937 Im Übrigen gelten die genannten Grundsätze auch für diese Form der Unterbevollmächtigung durch die Verwaltungsmission. IV. Alternative Formen der Wahrnehmung der Verwaltungsbefugnisse des Sicherheitsrates Dass der Sicherheitsrat bisher stets ein eigenständiges Nebenorgan ins Leben gerufen hat, welches er mit der Wahrnehmung seiner Verwaltungshoheit beauftragt hat, bedeutet nicht, dass er sich auch künftig stets dieser Form bedienen muss. Vielmehr besitzt er auch hinsichtlich der Ausführung seiner Beschlüsse eine weites Ermessen. Die bisherigen Missionen besitzen daher keine bindende Präzedenzwirkung, sondern lassen lediglich eine Präferenz des Rates erkennen. Im Folgenden sollen daher weitere Formen der Gebietsverwaltung unter der Ägide des Sicherheitsrates untersucht werden. In Frage kommen eine Bevollmächtigung des Generalsekretärs (1.), regionaler Organisationen (2.) und einzelner Mitgliedstaaten (3.). Dabei ist zu berücksichtigen, dass nur im erstgenannten Fall die Verwaltungskompetenz innerhalb der Vereinten Nationen verbleibt, während sie in den letztgenannten Fällen an externe Völkerrechtssubjekte delegiert wird. Ein nicht unerheblicher Kontrollverlust seitens des Sicherheitsrates wird dabei kaum zu vermeiden sein. Eine weitere Unterscheidung ist die zwischen einer Zwangsverwaltung auf der Grundlage von Kapitel VII und einer konsensgestützten Gebietsverwaltungen (Art. 935 Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 144. Ein Beispiel einer solchen ausdrücklichen Ermächtigung eines Nebenorgans zur Einrichtung von Unterorganen, allerdings durch die UNGeneralversammlung, findet sich in § 4 A/RES/377 (V) – Uniting for Peace der UNGeneralversammlung vom 3.11.1950: „Decides that the Commission shall have authority in its discretion to appoint sub-commissions (...)“. 936 Paulus, Art. 29 (2002), Rn. 22. Reinhart, Die Nebenorganpraxis des Sicherheitsrates (2000), S. 68, begründet sie mit einer auch „dem Nebenorgan selbst innewohnenden, natürlichen Organisationskompetenz“. 937 Jaenicke, Art. 7 (2002), Rn. 25. 180 24 Abs. 1 SVN). Bei Letzterer ist hinsichtlich der Zulässigkeit einer solchen Delegation allein maßgeblich, ob eine Bevollmächtigung anderer Akteure von der Einwilligung des betroffenen Staates gedeckt ist. Wie bereits ausgeführt, ist das im Falle einer Beauftragung des Generalsekretärs anzunehmen.938 Dagegen wird zumindest eine vollständige Übertragung der Verwaltungshoheit auf externe Völkerrechtssubjekte regelmäßig unzulässig sein. Wäre das die Intention des betroffenen Staates, hätte dieser sein Anliegen direkt dem Dritten gegenüber vorbringen können. Die folgenden Ausführungen betreffen daher – soweit es um die Zulässigkeit einer Kompetenzdelegation geht – allein eine auf Kapitel VII der Charta gestützte Zwangsverwaltung. 1. Die Beauftragung des UN-Generalsekretärs mit der Verwaltung eines Krisengebietes Die wesentliche Rolle, die der Generalsekretär bei Planung, Aufbau und Tätigkeit der bisherigen UN-Verwaltungen gespielt hat,939 lässt es naheliegend erscheinen, ihn vollständig mit dieser Aufgabe zu betrauen, mithin ihm die Kompetenzen zur Verwaltung eines Krisengebietes zu übertragen.940 So weist der Sicherheitsrat dem Generalsekretär und nicht der zweiten United Nations Operation in Somalia (UNOSOM II) in § 4 der Resolution 814 (1993)941 umfangreiche Aufgaben in Somalia zu, die dieser durch seinen Sondergesandten wahrnehmen soll.942 Allerdings beschränken sich diese auf die Koordination von Hilfsmaßnahmen und die Unterstützung der Bevölkerung beim Wiederaufbau, enthalten somit nicht die Befugnis zur Übernahme der Verwaltung über das Gebiet und insbesondere auch 938 Siehe oben 3.Kp. D.I.2. 939 Siehe dazu ausführlicher Shimura, in: Thakur/Schnabel (Hrsg.), UN Peacekeeping Operations (2001), S. 46-56. 940 Ausführlich zur Delegation von Kompetenzen an den Generalsekretär im Rahmen von Peacekeeping-Operationen Sarooshi, Australian YBIL 20 (1999), 279-297. 941 S/RES/814 (1993) vom 26.3.1993, deutsche Übersetzung in VN 41 (1993), 66-68. 942 Ein ähnlicher Aufgabenkatalog für das Gebiet des Iraks nach der Besetzung durch englische und amerikanische Truppen findet sich in Art. 8 S/RES/1483 (2003) vom 22.5.2003. Allerdings wird hier bereits direkt ein vom Generalsekretär zu benennender Sondergesandter und nicht der Generalsekretär selbst beauftragt. 181 nicht die Befugnis zu Zwangsmaßnahmen.943 Dennoch erscheint es nicht ausgeschlossen, dem Generalsekretär derartige Vollmachten zu erteilen.944 Art. 98 Satz 1 SVN erlaubt den anderen Hauptorganen der Vereinten Nationen – mit Ausnahme des Internationalen Gerichtshofes –, den Generalsekretär945 mit weiteren Aufgaben zu betrauen, und könnte so Rechtsgrundlage für eine Delegation von Kompetenzen sein. Teilweise wird indes der Begriff „Aufgaben“ („functions“) so ausgelegt, dass er nur administrative Tätigkeiten, nicht aber Kompetenzen erfasst.946 Im Hinblick auf die allgemein aktzeptierte und gefestigte Praxis des Sicherheitsrates, dem Generalsekretär mehr als nur Verwaltungsaufgaben zu übertragen,947 erscheint es jedoch wenig sinnvoll, zunächst Art. 98 Satz 1 SVN eng auszulegen, um sodann die entstandene Lücke mit der Annahme einer implied power zur Kompetenzdelegation zu füllen.948 Dies gilt umso mehr, als die enge Auslegung nicht zwingend ist. Art. 99 SVN zeigt, dass auch das ursprüngliche Konzept der Charta das Amt des Generalsekretärs nicht als reines ausführendes Verwaltungsorgan ausgestaltet hat, sondern ihm auch politisches Ermessen zuweist.949 Art. 98 Satz 1 SVN ist daher als hinreichende Rechtsgrundlage für die Delegation von Kompetenzen an den Generalsekretär anzusehen, ohne dass es eines Rückgriffs auf 943 Auch § 14 S/RES/814 (1993), der die Übernahme der Verantwortung für ein sicheres Umfeld in Somalia betrifft, beinhaltet keine Ermächtigung zur Verwaltung Somalias, wie Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 63, zu recht bemerkt. Zudem soll die Verantwortung nicht beim Generalsekretär, sondern beim Kommandeur der UNOSOM II - Truppen liegen. 944 Für die Zulässigkeit einer Ermächtigung des Generalsekretärs zu Peacekeeping-Operationen allgemein Orakhelashvili, Virginia JIL 43 (2003), 485 (507). Konkret von einer Bevollmächtigung des Generalsekretärs als Modell für zukünftige Territorialverwaltungen durch die Vereinten Nationen scheint Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 62 f., auszugehen. Der Begriff „Generalsekretär“ umfasst im Folgenden auch das ihm unterstellte Sekretariat der Vereinten Nationen, obwohl beide Begriffe von der Charta nicht völlig kongruent verwendet werden. Siehe dazu Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 136, und Fiedler, Art. 97 (2002), Rn. 3 f. 945 946 Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 52. 947 Beispielhaft wiederum S/RES/814 (1993) vom 26.3.1993. 948 So aber Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 52. 949 Szasz, Role of the UN Secretary General, NYU.J.I.L&P 24 (1991), 161 (187); Ben Dhia, Secrétaire Général et maintien de la paix, FS Boutros-Ghali I (1998), 227 (228 f.); Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 54 m.w.N. 182 die implied powers-Lehre bedarf.950 Sofern daher die oben genannten allgemeinen Grenzen und Voraussetzungen einer Delegation von Sicherheitsratskompetenzen beachtet werden, wäre daher auch eine Delegation der Verwaltungsbefugnisse des Sicherheitsrates an den Generalsekretär zulässig.951 Ihm obläge es dann auch – vorbehaltlich präzisierender Äußerungen des Rates – die ihn mandatierende Resolution auszulegen.952 Ob er andere unterbevollmächtigen oder Nebenorgane einrichten darf, ist nach den gleichen Grundsätzen zu ermitteln, die für die Subdelegation durch die bisherigen Verwaltungsmissionen (als Nebenorgane des Sicherheitsrates) gelten.953 Dass der Rat den Weg einer unmittelbaren Bevollmächtigung des Generalsekretärs bisher nicht gewählt hat, mag daran liegen, dass eine erhebliche eigenständige exekutivische Tätigkeit des Sekretariats nicht dem Konzept der Charta entspricht. Diese hat, wie Art. 97 Satz 2 SVN deutlich macht, den Generalsekretär primär als administratives und unterstützendes Organ ausgestaltet.954 Andererseits würde er, wenn er die Verwaltungshoheit über ein Krisengebiet übernähme, keine eigenen Kompetenzen ausüben, sondern solche des Sicherheitsrates, und zudem unter dessen Kontrolle stehen. Die ursprüngliche Konzeption der Charta stellt daher kein rechtliches Hindernis dar. Aufgrund seiner Stellung als Organ der Vereinten Nationen ist er ferner in gleicher Weise zur Wahrung der Ziele und Grundsätze der Organisation verpflichtet wie der Sicherheitsrat selbst. Als von Art. 100 SVN zur Unabhängigkeit verpflichtetes Organ würde eine unmittelbare Bevollmächtigung des Generalsekretärs ferner die grundsätzliche Neutralität der UN-Verwaltung und somit 950 So Fassbender, UN Security Council Reform and the Right of Veto (1998), S. 231, Frowein/Krisch, Introduction to Chapter VII (2002), Rn. 32. In diese Richtung scheint auch IGH, Certain ExpensesGutachten, ICJ-Rep. 1962, 151 (177) zu tendieren. 951 So für die Delegation von Sicherheitsratsbefugnissen allgemein Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 64; und Orakhelashvili, Virginia JIL 43 (2003), 485 (507). 952 Da ein diesbezügliches Eingreifen des Sicherheitsrates in der Praxis selten ist, kommt der Auslegung des Generalsekretärs entscheidende Bedeutung zu. Auch er ist aber daran gehalten, ihn ermächtigende Resolutionen restriktiv auszulegen. Ausführlich dazu Sarooshi, The UN and the Development of Collective Security (1999), S. 57 f. 953 Siehe dazu oben 3.Kp. D.III. Es gilt insoweit das Madeleine Albright zugeschriebene Diktum „The stress is on secretary, not general.“ 954 183 auch ihre politische Legitimität wahren oder sogar verstärken. 2. Die Ermächtigung regionaler Organisationen Etwas anders liegen die Dinge bei der Ermächtigung regionaler Organisationen, einzelner Staaten oder ad hoc-Koalitionen von Mitgliedstaaten. Sie würde die grundsätzliche Neutralität der Krisengebietsverwaltung in Frage stellen und so ihre Legitimität als Maßnahme der internationalen Gemeinschaft beeinträchtigen.955 Während in der UN alle geopolitischen Kräfte in irgendeiner Form repräsentiert sind, sind regionale Organisationen politisch homogener und oft von regionalen Mächten dominiert.956 Rechtlich ist zu bedenken, dass die Ermächtigung Dritter die Möglichkeiten des Sicherheitsrates, auf das Tagesgeschäft Einfluss zu nehmen, erheblich einschränkt.957 Andererseit verfügen Mitgliedstaaten und regionale Organisationen oft über finanzielle und personelle Ressourcen, die denen der Vereinten Nationen weit überlegen sind.958 Auch ihre politische Bedeutung oder ihr Ansehen in der Region kann es im Einzelfall sinnvoll erscheinen lassen, regionale internationale Organisationen oder einzelne Staaten mit der Verwaltung eines Krisengebietes zu betrauen.959 955 Besonders deutlich wird dies bei der Verwaltung des Irak durch eine Staatenkoalition unter der Leitung der Vereinigten Staaten. Siehe dazu oben 2.Kp. P. Andererseits machen White/Ülgen, NILR 44 (1997), 378 (383), zu Recht darauf aufmerksam, dass fehlende Legitimität allein eine Autorisierung noch nicht unzulässig werden lässt. 956 Orakhelashvili, Virginia JIL 43 (2003), 485 (515). 957 Orakhelashvili, Virginia JIL 43 (2003), 485 (515). 958 Boutros-Ghali, Suppl. to an Agenda for Peace (1995), A/50/60 - S/1995/1, § 80; Wolfrum, ZaöRV 53 (1993), 576 (598). Morrison, in: Delbrück (Hrsg.), Allocation of Authority (1995), S. 55, verweist in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung etablierter (militärischer) Strukturen auf seiten der Mitgliedstaaten und regionaler Organisationen, die der UN fehlen. Bei der Planung von UNMIK und UNTAET wurde zeitweise erwogen, Aufgabenbereiche (sectors) der Verwaltung geschlossen in die Verantwortung einzelner Mitgliedstaaten zu geben. Dies wurde lediglich deshalb verworfen, weil die Planungen bereits zu weit fortgeschritten waren (siehe UN, Brahimi-Report (2000), § 129). Ansätze dieses Konzepts finden sich in Afghanistan, wo einzelne Staaten als lead nations die afghanische Regierung in bestimmten Sektoren unterstützt (Deutschland beispielsweise beim Wiederaufbau der Polizei). 959 § 70 des Report of the Spec.Com. on Peacekeeping Operations 2004, A/58/19 vom 26.4.2004, spricht insoweit von den „unique capacities“ regionaler Organisationen. Ausführlicher zu den möglichen Vorteilen insbesondere regionaler Organisationen gegenüber der UN Orakhelashvili, Virginia JIL 43 (2003), 485 (514 f.). Die stärkere Einbindung regionaler Organisationen bei der Friedenswahrung befürwortet auch jüngst UN, Threats, Challenges and Change (2004), § 270. 184 Die zunehmende Bedeutung regionaler Organisationen bei der Konfliktlösung und beim Wiederaufbau kriegszerstörter Gebiete zeigt sich insbesondere auf dem Gebiet der früheren Volksrepublik Jugoslawien.960 Schon jetzt sind die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und die Europäischen Union (EU) in erheblichem Maße an der UN-Verwaltung im Kosovo beteiligt.961 Mit der Übernahme der internationalen Polizeimission in Bosnien-Herzegowina von den Vereinten Nationen962 und der Operation Concordia in Mazedonien963 hat die Europäische Union erstmals eigenständige Aufgaben in Krisengebieten übernommen, auch wenn beide Missionen ihre Rechtsgrundlage nicht in einer Sicherheitsratsresolution, sondern in völkerrechtlichen Verträgen finden.964 Auf einer Sicherheitsratsresolution basiert dagegen das Mandat der Friedenstruppe SFOR in Bosnien, dass die EU seit dem 1. Januar 2005 von der NATO übernommen hat.965 960 Informationen zum Engagement der EU auf dem westlichen Balkan finden sich unter <www.europa.eu.int/comm/external_relations/see/index.htm>. Zur Tätigkeit der OSZE ebendort siehe <www.osce.org/regions/13006.html>. Weiteres Beispiel für die zunehmende Rolle regionaler Organisationen bei der Friedenssicherung ist das Engagement der AU im Sudan. Siehe dazu § 2 S/RES/1556 (2004) vom 30.7.2004 und § 13 S/RES/1574 (2004) vom 19.11.2004 sowie aus den Berichten des Generalsekretärs beispielsweise §§ 49-53 S/2005/10 vom 7.1.2005 und §§ 37-42 S/2005/68 vom 4.2.2005. 961 Korhonen, Leiden JIL 14 (2001), 495 (495) zählt das Engagement in Krisengebieten sogar zu den wesentlichen Aufgaben von EU und OSCE. 962 Die EU Polizeimission (EUPM) trat an die Stelle der von den Vereinten Nationen gestellten International Police Task Force. Siehe dazu § 19 S/RES/1491 (2003) vom 11.7.2003, ferner ausf. Nowak, L’Union en action (2003). Weitere Informationen auf der Internetseite des Europäischen Rates unter <http://ue.eu.int/cms3_fo/showPage.asp?lang=de&id=585&mode=g&name=> sowie der Mission selbst unter <www.eupm.org>. 963 Siehe die Gemeinsame Aktion 2003/92/GASP vom 27.1.2003 über die militärische Operation der Europäischen Union in der früheren jugoslawischen Republik Mazedonien, EU ABl. L 34 vom 11.2.2003, S. 26-29. Operation Concordia löste am 31.3.2002 die NATO Operation Amber Fox ab und dauerte bis zum 15.12.2003. Weitere Informationen zu dieser militärischen Operation der EU finden sich auf der Internetseite des Europäischen Rates unter <http://ue.eu.int/cms3_fo/showPage.asp?lang=de&id=594&mode=g&name=> sowie auf der Seite der Mission selbst unter <www.delmkd.cec.eu.int/en/Concordia/main.htm>. 964 Der EUPM liegt Annex 11 des Vertrages von Dayton zugrunde, der Sicherheitsrat hat die Übernahme der Verantwortung durch die EU in § 20 S/RES/1423 (2002) vom 12.7.2002 lediglich wohlwollend zur Kenntnis genommen. Operation Concordia liegt das sog. Ohrid-Abkommen vom 13.8.2001, bestätigt durch den Sicherheitsrat mit S/RES/1371 (2001) vom 29.9.2001, und ein Briefwechsel mit der Regierung in Skopje zugrunde (siehe Präambel-§ 5 der Gemeinsamen Aktion 2003/92/GASP vom 27.1.2003, EU-ABl. L 34 vom 11.2.2003, S. 26). 965 Rechtliche Grundlage der EUFOR ist S/RES/1575 (2004) vom 22.11.2004. Weitere Hintergründe und Dokumente zu der von der EU „Operation Althea“ getauften Mission auf der Internetseite des Europäischen Rates unter <http://ue.eu.int/cms3_fo/showPage.asp?id=745&lang=EN> sowie der EUFOR selbst unter <www.euforbih.org>. 185 Mit der Verwaltung der bosnischen Stadt Mostar in den Jahren 1994 bis 1995 hat die EU zudem bereits Verantwortung für die Administration eines Krisengebietes übernommen.966 Darüber hinaus wird teilweise wird gefordert, dass die EU in einer dritten und letzten Phase des Engagements der internationalen Gemeinschaft im Kosovo den Stab von der UNMIK übernehme solle.967 Sollten sich die bisherigen EU-Missionen als Erfolg erweisen, scheint ein weitergehende Beauftragung der EU durch den Sicherheitsrat zumindest nicht ausgeschlossen.968 Auch die Generalversammlung hat die erhebliche Rolle betont, die regionale Abmachungen und Einrichtungen beim Wiederaufbau kriegszerstörter Staaten und Gebiete spielen können.969 Dass eine Delegation von Zwangsbefugnissen an regionale Organisationen grundsätzlich zulässig ist, ergibt sich unmittelbar aus der Charta. Zumindest soweit es sich bei ihnen um regionale Abmachungen und Einrichtungen im Sinne des Kapitels VIII der Charta handelt, sieht Art. 53 Abs. 1 Satz 1 SVN ausdrücklich vor, dass der Sicherheitsrat sie zur Ausführung von Zwangsmaßnahmen autorisieren kann. Art. 52 Abs. 1 und Art. 53 Abs. 1 SVN sind bewusst weit gefasst und erfassen 966 Siehe dazu Pagani, AFDI 42 (1996), 234-254; Reichel, Transitional Administrations (2000); sowie Korhonen, Leiden JIL 14 (2001), 495 (519-522). Allerdings basierte diese Verwaltung nicht auf einem UN-Mandat, sonder auf einer Vereinbarung mit den Parteien. 967 So der Sondergesandte und damalige Leiter der UNMIK, Michael Steiner, in einer Rede im November 2002 an der Humboldt-Universität zu Berlin, abrufbar unter <www.rewi.huberlin.de/jura/inst/int/vw_vortragsreihe.html>. Allerdings sollten die Institutionen des Kosovos dann bereits selbständig und und eigenverantwortlich arbeiten, so dass es sich nicht mehr um die Verwaltung eines Krisengebietes handeln würde. 968 Auch wenn die EU angesichts der Kosten der European Administration Mission for Mostar (EUAM) feststellte, dass eine direkte Verwaltung von Gebieten durch die EU nicht zum Regelfall werden sollte (EU-Doc. 95/021 vom 17.1.1995, ferner Korhonen, Leiden JIL 14 (2001), 495 (522)). Ausführlich zum Peacekeeping durch die EU Herbst, in: Bodnar, Emerging EU Constitutional Law (2003). 969 Siehe § 2 der Declaration on the Enhancement of Cooperation between the United Nations and Regional Arrangements or Agencies in the Maintenance of Peace, Annex zu A/RES/49/57 vom 9.12.1994 (abgedr. in UNYB 1994, 125 f.). Allgemein für einen Ausbau der Zusammenarbeit mit regionalen Organisationen auch § 9 Abs. 3 der sog. Milleniums-Erklärung (A/RES/55/2 vom 8.9.2000) und § 2 A/RES/ 58/315 vom 16.7.2004 i.V.m. §§ 67 ff. des Report of the Spec.Com. on Peacekeeping Operations 2004, A/58/19 vom 26.4.2004. Ähnlich zuvor schon Boutros-Ghali, Agenda for Peace (1992), §§ 64 f. und jüngst UN, Threats, Challenges and Change (2004), § 272. Auch in der Literatur hat die Beteiligung von Regionalorganisationen an Friedensoperationen ausführliche Beachtung gefunden. Siehe beispielsweise Körbs, Friedenssicherung und Regionalorganisationen (1997); Kühne, Friedenssicherung (1998) und zur Rolle regionaler Organisationen bei der Friedenssicherung allgemein Abass, Regional Organisations (2004). 186 deshalb auch regionale Zusammenschlüsse, die keine eigene Rechtsfähigkeit besitzen.970 Voraussetzung ist nach Art. 52 Abs. 1 SVN lediglich, dass die Wahrung von Frieden und Sicherheit in der Region zumindest auch zu ihren Aufgaben gehört.971 Beispiel hierfür ist die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die sich 1992 – noch in Gestalt ihrer Vorgängerin KSZE – selbst zu einer regionalen Abmachung im Sinne des Kapitels VIII der Charta erklärt hat972 und als solche von den Vereinten Nationen anerkannt wurde.973 Auch OAS, OAU, die GUS und ECOWAS haben sich zu regionalen Organisationen erklärt.974 Auch die Europäische Union (EU) wird man als regionale Abmachung im Sinne des Art. 53 Abs. 1 Satz 1 SVN einstufen können, seit sie im Jahre 1999 die Kompetenzen zur Konfliktprävention und zum Krisenmanagement975 von der Westeuropäischen Union (WEU) übernommen hat.976 Nicht unter Kapitel VIII fallen nach herrschender Ansicht Organisationen, die allein der kollektiven Selbstverteidigung dienen.977 Solche finden ihre Handlungsgrundlage vielmehr in Art. 51 SVN. Ihre Beauftragung durch den Sicherheitsrat kann nicht auf Art. 53 Abs. 1 Satz 1 SVN gestützt werden, sondern richtet sich nach den 970 Wolfrum, ZaöRV 53 (1993), 576 (577); Gioia, in: Bothe (Hrsg.), OSCE in the Mainenance of Peace (1997), S. 198 f. Für eine weite Auslegung der genannten Charta-Artikel auch Boutros-Ghali, Agenda for Peace (1992), § 61. 971 Ausf. Hummer/Schweitzer, Art. 52 (2002), Rn. 32-45. 972 Siehe § 25 der sog. Helsinki-Deklaration 10.7.1992, abgedruckt in ILM 31 (1992), 1390 (1392). Zur Rolle der OSZE bei Peacekeeping-Operationen und ihrer Durchführung innerhalb der OSZE ausführlich Ronzitti, in: Bothe (Hrsg.), OSCE in the Maintenance of Peace (1997), S. 237-265. 973 Ausführlich zum Status der OSZE als regionale Einrichtung im Sinne des Kapitels VIII der Charta Kühne, Friedenssicherung (1998), S. 115-153 (119 f.), und Hummer/Schweitzer, Art. 52 (2002), Rn.78-88. Für ihre Einstufung als Einrichtung im o.g. Sinne auch Gioia, in: Bothe (Hrsg.), OSCE in the Mainenance of Peace (1997) 198 f. Zum Verhältnis zwischen UN und OSCE im Bereich Peacekeeping siehe Burci, in: Bothe (Hrsg.), OSCE in the Maintenance of Peace (1997), S. 289-313. 974 Siehe die Nachweise bei Abass, Regional Organisations (2004), S. 35. Zur Tätigkeit der GUS in diesem Rahmen siehe auch Nasyrova, ZaöRV 64 (2004), 1077 (1099-1103). 975 Art. 17 Abs. 2 EUV i.d.F. des Vertrages von Nizza vom 26. Februar 2001. Zur Entwicklung der EU in diesem Bereich siehe Herbst, in: Bodnar, Emerging EU Constitutional Law (2003), S. 416-429. 976 Siehe dazu Hummer/Schweitzer, Art. 52 (2002), Rn. 90. Dort finden sich auch Angaben zu weiteren Regionalorganisationen (Rn. 91-96). Zur Rolle von EU und WEU vor 1999 siehe Kühne, Friedenssicherung (1998), S. 154-175 (EU) bzw. S. 208-220 (WEU). 977 Körbs, Friedenssicherung und Regionalorganisationen (1997), S. 189 f.; Hummer/Schweitzer, Art. 52 (2002), Rn. 42; a. A. Gioia, in: Bothe (Hrsg.), OSCE in the Mainenance of Peace (1997), S. 201 f. 187 Grundsätzen über die Beauftragung von Einzelstaaten und ad hoc-Koalitionen.978 Letztlich ist eine genaue Unterscheidung zwischen Regional- und Verteidigungsorganisationen schwierig, da die Übergänge fließend sind.979 Ein Beispiel dafür ist die NATO. Zunächst reines Verteidigungsbündnis im Sinne des Art. 51 SVN, wird sie heute aufgrund ihrer zunehmenden Bereitschaft zu „out-ofarea“-Einsätzen unter UN-Mandat auch als Regionalorganisation nach Kapitel VIII der Charta eingestuft.980 Strittig sind die geographischen Einsatzmöglichkeiten regionaler Organisationen. Teilweise wird unter Verweis auf Art. 52 SVN vertreten, dass sie nur zu Maßnahmen gegenüber ihren eigenen Mitgliedstaaten und nur zu solchen innerhalb des Gebietes ihrer Mitgliedstaaten ermächtigt werden können.981 Dieser spreche lediglich von Maßnahmen regionaler Art („regional action“) beziehungsweise örtlich begrenzten Streitigkeiten („local disputes“), und auch nur bei diesen besäßen regionale Organisationen besondere Legitimität und Sachnähe.982 Dieser enge Begriff der Regionalorganisation gelte auch für Art. 53 Abs. 1 SVN. Dessen Wortlaut, insbesondere die Formulierung „where appropriate“ deutet indes eher einen erheblichen Beurteilungsspielraum seitens des Sicherheitsrates an.983 Auch sind die besonderen Fähigkeiten und Ressourcen regionaler Abmachungen und Einrichtungen nicht notwendig regional beschränkt. Unter Effektivitätsgesichtspunkten erscheint es daher sinnvoller, Regionalorganisationen dem zu Sicherheitsrat ermöglichen, stets wenn einen er dies Rückgriff für auf angebracht („appropriate“) hält.984 Die Rechtmäßigkeit eines solchen out-of-area-Einsatz einer 978 Siehe dazu unten 3.Kp. D.IV.3 im Anschluss. 979 In diese Richtung auch Körbs, Friedenssicherung und Regionalorganisationen (1997), S. 192, und Kühne, Friedenssicherung (1998), S. 39. 980 Wolfrum, ZaöRV 53 (1993), 576 (578 f. u. 592 f.); Kühne, Friedenssicherung (1998), S. 39 f. u. 176-207; Ress/Bröhmer, Art. 53 (2002), Rn. 9. In diese Richtung auch UN, Threats, Challenges and Change (2004), § 273; dagegen Higgins, in: FS Boutros-Ghali (1998), S. 512. 981 Wolfrum, ZaöRV 53 (1993), 576 (580); Gaja, in: Tomuschat (Hrsg.) UN at Age Fifty (1995), S. 44; Hummer/Schweitzer, Art. 52 (2002), Rn. 33 f. 982 Wolfrum, ZaöRV 53 (1993), 576 (577). 983 Böhmer, Ermächtigung zu militärischer Gewaltanwendung (1997), S. 64. 984 So auch Morrison, in: Delbrück (Hrsg.), Allocation of Authority (1995), S. 52. Gegen die 188 Regionalorganisation ist daher im Einzelfall allein an der Satzung der betroffenen Regionalorganisation zu messen.985 Indes würde auch ein Festhalten an der restriktiven Auslegung des Art. 53 Abs. 1 SVN ein Tätigwerden regionaler Organisationen bei der Verwaltung von Krisengebieten nicht verhindern. Der Sicherheitsrat könnte sie zwar nicht unmittelbar zur Gebietsverwaltung ermächtigen, sondern müsste den Umweg über die Autorisierung der Mitgliedstaaten wählen. Denn Letztere können sich gemäß Art. 48 Abs. 2 SVN der Regionalorganisationen bedienen, deren Mitglied sie sind, um die ihnen delegierten Befugnisse auszuüben. Art. 48 Abs. 2 SVN stellt den UNMitgliedstaaten ein solches multilaterales Tätigwerden grundsätzlich frei und stellt so eine explizite Befugnis der Mitgliedstaaten zur Subdelegation der ihnen vom Sicherheitsrat übertragenen Kompetenzen dar. Indes kann der Sicherheitsrat eine regionale Organisation nicht zur Teilnahme an militärischen Zwangsmaßnahmen in einem Krisengebiet verpflichten.986 Ohne ein Abkommen nach Art. 43 SVN ist kein Mitgliedstaat verpflichtet, dem Sicherheitsrat Personal für die Ausführung von Zwangsmaßnahmen zur Verfügung zu stellen. Diese Voraussetzung kann nicht dadurch umgangen werden, dass der Sicherheitsrat auf eine regionale Organisation zugreift.987 Denn letztlich verfügt diese auch nur über Personal, dass ihr ihre Mitgliedstaaten gestellt haben. Art. 53 Abs. 1 Satz 1 SVN enthält keine ausdrücklichen Hinweise darauf, in welcher Beschränkung des Einsatzes regionaler Abmachungen und Einrichtungen auf Friedensbedrohungen innerhalb ihres Territoriums Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 327. 985 Frowein, in: FS Bernhardt (1995), S. 61; Gioia, in: Bothe (Hrsg.), OSCE in the Mainenance of Peace (1997) 209 f. Siehe Morrison, in: Delbrück (Hrsg.), Allocation of Authority (1995), S. 53, zur Frage, inwiefern der Sicherheitsrat eine regionaler Organisation mit einer Aufgabe beauftragen kann, welche die Grenzen ihrer Satzung übersteigt, und Wolfrum, ZaöRV 53 (1993), 576 (593 f.), zur Frage der Zulässigkeit von out-of area-Einsätzen nach dem NATO-Vertrag. 986 Frowein, in: FS Bernhardt (1995), S. 59 f; Gioia, in: Bothe (Hrsg.), OSCE in the Mainenance of Peace (1997) 211 f. 987 Ähnlich Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 327, der eine Verwendung regionaler Organisationen als indirekten Rückgriff auf ihre Mitgliedstaaten ansieht und daher verlangt, dass diese bereits aus anderen Gründen (Art. 25, 48 oder 49 SVN) zu einer Ausführung der Beschlüsse des Sicherheitsrates verpflichtet sein müssen. Einer Verpflichtung zu militärischen Maßnahmen steht aber dann Art. 43 SVN entgegen. 189 Form eine Autorisierung erfolgen muss und welchen Umfang die delegierten Kompetenzen haben dürfen. Aus Art. 53 Abs. 1 Satz 2 SVN folgt indes, dass die Autorisierung der Zwangsmaßnahme zeitlich vorgehen muss.988 Wegen der Umfangs der Befugnisse, welche die Kompetenz zur Verwaltung eines Gebietes mit sich bringt, und ihrer Bedeutung für die Entwicklung des betroffenen Gebietes ist ferner eine explizite Autorisierung erforderlich, wie dies auch bei der Ermächtigung zur militärischen Gewaltanwendung gängige Praxis des Sicherheitsrates ist. Dabei sollte die ermächtigte Regionalorganisation konkret benannt werden. Im Übrigen gelten die oben genannten allgemeinen Bedingungen und Grenzen einer Kompetenzdelegation des Sicherheitsrates989 auch für die Autorisierung von regionalen Abmachungen und Einrichtungen. Eine Besonderheit ist lediglich Art. 54 SVN, der explizit eine Pflicht zur Berichterstattung an den Sicherheitsrat festlegt, so dass es insoweit keines Rückgriffs auf das allgemeine Erfordernis eine effektiven Kontrolle durch den Sicherheitsrat bedarf. Im Ergebnis bestehen somit rechtlich keine Bedenken gegen die Ermächtigung regionaler Organisationen zur Verwaltung von Krisengebieten. Letztlich handelt es sich somit primär um eine Frage der politischen Opportunität. 3. Autorisierung einzelner Staaten und Koalitionen von Staaten Etwas schwieriger gestaltet sich die Beurteilung der Frage, inwieweit der Sicherheitsrat seine Kompetenz zur zwangsweisen Verwaltung eines Krisengebietes an einzelne Staaten oder ad hoc gebildete Koalitonen von Staaten delegieren darf. So war lange Zeit umstritten, ob er überhaupt die Ausübung seiner Befugnisse aus Kapitel VII der Satzung auf Mitgliedstaaten übertragen darf.990 Entzündet hatte sich der Streit an der Praxis des Sicherheitsrates, Mitgliedstaaten zu militärischen Zwangsmaßnahmen zu ermächtigen.991 Seine wesentlichen Argumente lassen sich 988 Frowein, in: FS Bernhardt (1995), S. 65. 989 Siehe oben 3.Kp. D.I.4. 990 Ausführlich dazu Böhmer, Ermächtigung zu militärischer Gewaltanwendung (1997); ferner White/Ülgen, NILR 44 (1997), 378-413; und Blokker, EJIL 11 (2000), 541-568, jeweils mit weiteren Nachweisen. 991 Eine Übersicht über die wichtigsten Ermächtigungsresolutionen bis 1999 findet sich bei Blokker, 190 jedoch auch auf die Delegation der Verwaltungskompetenz unter Kapitel VII der Charta anwenden. Auch in ihrem Falle handelt es sich um eine Zwangsmaßnahme, die zudem regelmäßig mit der Verdrängung der bisherigen Hoheitsgewalt aus dem betroffenen Gebiet einhergeht. Das ursprüngliche Konzept der Charta sah eine zentralisierte Ausführung militärischer Zwangsmaßnahmen vor. Die von den Mitgliedstaaten gemäß Art. 43 SVN zu stellenden Truppen sollten unter der unmittelbaren Leitung des Sicherheitsrates – unterstützt von einem Generalstabsausschuss – eingesetzt werden.992 Dieses Modell scheiterte jedoch daran, dass es nie zum Abschluss der von Art. 43 SVN vorgesehenen Truppenabkommen kam.993 In der Folge bildete sich ein Modell dezentralisierter Ausübung militärischer Zwangsmaßnahmen heraus. Der Sicherheitsrat autorisierte nurmehr einzelne Mitgliedstaaten oder Gruppen von Mitgliedstaaten, militärische Gewalt zur Beseitigung einer Friedensbedrohung anzuwenden.994 Dagegen bestehen keine grundsätzlichen Bedenken.995 So sehen Art. 42 Satz 2 und Art. 48 SVN eine Beteiligung von Mitgliedstaaten bei militärischen Zwangsmaßnahmen auch außerhalb des zentralisierten Modells der Art. 43 bis 47 SVN vor.996 Auch Art. 53 Abs. 1 Satz 1 SVN lässt erkennen, dass eine Autorisierung EJIL 11 (2000), 541 (543 f.). Jüngere Beispiele sind § 3 S/RES/1264 (1999) – INTERFET in Osttimor, § 7 S/RES/1244 (1999) – KFOR im Kosovo, § 3 S/RES/1386 (2001) vom 20.12.2001 – ISAF in Afghanistan, § 1 S/RES/1484 vom 30.5.2003 – Operation Artemis in der Demokratischen Republik Kongo; § 13 S/RES/1511 (2003) – multinational force im Irak. 992 Siehe Art. 42 Satz 1, 46 und 47 Abs. 1 SVN. Da der Generalstabsausschuss nie realisiert wurde, schlägt UN, Threats, Challenges and Change (2004), § 300, vor, Art. 47 SVN und die Verweise auf den Ausschuss in den Art. 26, 45 u. 46 SVN zu streichen. 993 Zu den Hintergründen White, Keeping the Peace (1997), S. 115 f. 994 Den Anfang bildete S/RES/678 (1990) vom 29.11.1990, in dem der Sicherheitsrat die Mitgliedstaaten autorisierte, mit allen erforderlichen Mitteln („by all necessary means“) Kuwait von der irakischen Besetzung zu befreien. Kritisch dazu insbesondere Quigley, Michigan JIL 17 (1996), 249 (250). 995 Wie Frowein/Krisch, Art. 42 (2002), Rn. 24, zu Recht anmerken, richtete sich die Kritik weniger gegen die Zulässigkeit der Autorisierung als solcher, als vielmehr gegen die mangelnden Kontrolle der Autorisierten durch den Sicherheitsrat. 996 Frowein/Krisch, Art. 42 (2002), Rn. 20. 191 Dritter der Charta nicht fremd ist.997 Da dem Sicherheitsrat ohne die Möglichkeit zur Autorisierung Dritte ein militärisches Eingreifen unmöglich wäre und er so seiner Verantwortung für Frieden und Sicherheit in der Welt nicht gerecht werden kann, ist eine in Art. 42 SVN enthaltene, ungeschriebene Befugnis zur Delegation anzunehmen.998 So hat der IGH festgestellt, dass das Fehlen von Sonderabkommen im Sinne des Art. 43 SVN den Sicherheitsrat nicht schlechthin zur Untätigkeit verdammt.999 Diese für das klassische Peacekeeping getroffene Entscheidung gilt sinngemäß auch für Autorisierungen unter Art. 42 SVN.1000 Jedoch verlangt die Charta eine adäquate Beaufsichtigung der Bevollmächtigten seitens des Sicherheitsrates. Zunächst lassen Art. 46 und 47 Abs. 3 SVN eine entsprechende Präferenz erkennen.1001 Die Forderung nach einem Mindestmaß effektiver Kontrolle ergibt sich ferner aus der Rolle des Sicherheitsrates als Hauptverantwortlicher für die Sicherung des Weltfriedens (Art. 24 Abs. 1 SVN).1002 Art. 54 SVN legt ermächtigten Regionalorganisationen eine Berichtspflicht auf. Es ist nicht ersichtlich, warum an die Ermächtigung von Einzelstaaten geringere Anforderungen zu stellen wären. Auch die zeitliche Begrenzung einer Ermächtigung trägt entscheidend zu ihrer Rechtmäßigkeit bei. In dem Maße, wie der Rat diesen Anforderungen gerecht wurde1003 und von Blankettermächtigungen absah, ist auch die Kritik verstummt, so dass die Autorisierung von Mitgliedstaaten zur Anwendung 997 Blokker, EJIL 11 (2000), 541 (551). 998 Blokker, EJIL 11 (2000), 541 (552 u. 554). Ähnlich auch Gill, NYIL 26 (1995), 33 (57). 999 IGH, Certain Expenses-Gutachten, ICJ-Rep. 1962, 151 (167). 1000 Frowein/Krisch, Art. 42 (2002), Rn. 20. 1001 White/Ülgen, NILR 44 (1997), 378 (387). 1002 Blokker, EJIL 11 (2000), 541 (551 f.). 1003 Ein gutes Beispiel hierfür bietet § 1 S/RES/1484 (2002), mit der im Mai 2003 ein Eingreifen einer von Frankreich geleiteten EU-Truppe im Osten der DR Kongo autorisiert wurde: „Authorizes the deployment until 1 September 2003 of an Interim Emergency Multinational Force in Bunia in close coordination with MONUC (...) to contribute to the stabilization of the security conditions and the improvement of the humanitarian situation in Bunia, to ensure protection of the airport, the internally displaced persons in the camps in Bunia and, if the situation requires it, to contribute toe the safety of the civilian population, United Nations personnel and the humanitarian presence in town”. Dagegen fehlt bei der Autorisierung einer multinationalen Schutztruppe für das Gebiet des Iraks durch § 13 S/RES/1510 (2003) vom 16.10.2003 eine solche zeitliche Begrenzung. 192 militärischer Gewalt inzwischen als allgemein anerkannte und rechtlich unstrittige Praxis einzustufen ist.1004 Ist es dem Sicherheitsrat somit gestattet, Mitgliedstaaten zu einem militärischen Angriff auf einen Staat zu autorisieren, muss es ihm grundsätzlich auch erlaubt sein, sie mit dem Wiederaufbau zu betrauen. Allerdings ist hier die Parallele zum Treuhandsystem des Kapitels XII der Charta zu beachten. Zwar steht dieses aufgrund der unterschiedlichen internationalen Ziele Sicherheit der einerseits beiden und Kapitel (Wiederherstellung Heranführung an die der staatliche Unabhängigkeit andererseits) einer Zwangsverwaltung auf der Grundlage von Art. 41 und Art. 42 SVN nicht entgegen.1005 Der Grad an Kontrolle, den die UN über den Treuhandrat über ein Treuhandgebiet ausübt (Art. 87 und Art. 88 SVN), sollte jedoch gleichsam als Mindeststandard auch auf die hier in Frage stehende mitgliedstaatliche Gebietsverwaltung auf der Grundlage von Kapitel VII Anwendung finden. Im Übrigen gelten die allgemeinen Bedingungen und Grenzen einer Delegation von Kapitel VII-Befugnissen1006 auch für die Übertragung der Verwaltungsbefugnis auf einzelne Mitgliedstaaten. Insbesondere ist wegen des Umfangs der Befugnisse, welche die Kompetenz zur Verwaltung eines Gebietes mit sich bringt, und ihrer Bedeutung für die Entwicklung des betroffenen Gebietes eine explizite Autorisierung erforderlich, wie dies auch bei der Ermächtigung zur militärischen Gewaltanwendung gängige Praxis des Sicherheitsrates ist. Der Sicherheitsrat kann somit einzelne Staaten oder Gruppen von Staaten zur Verwaltung eines Gebietes ermächtigen. Indes hat das Fehlen von Sonderabkommen im Sinne des Art. 43 SVN zur Folge, dass er sie nicht dazu verpflichten kann. Dies gilt zunächst für militärische Zwangsmaßnahmen im klassischen Sinne,1007 da erst die Sonderabkommen nach Art. 43 SVN die genauen Modalitäten eines Truppeneinsatzes durch den Sicherheitsrat klären sollen. Durch Art. 43 Abs. 1 SVN 1004 Frowein/Krisch, Art. 42 (2002), Rn. 24. 1005 Siehe dazu auch unten 4.Kp. A.IV. 1006 Siehe dazu oben 3.Kp. D.I.4. 1007 Schachter, AJIL 85 (1991), 452 (464 f.); Higgins, in: FS Boutros-Ghali (1998), S. 515; Frowein/Krisch, Art. 43 (2002), Rn. 6 und 9. 193 sollte somit eine wesentliche Beteiligung der Mitgliedstaaten bei der Verwendung der von ihnen gestellten Truppen sichergestellt werden.1008 Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Unterzeichner der Charta an den Einsatz ihrer Polizeikräfte und Verwaltungsbeamten in einem Krisengebiet geringere Bedingungen stellen wollten.1009 Mitgliedstaaten können daher nicht gezwungen werden, an einer Krisengebietsverwaltung teilzunehmen oder sie gar ganz zu übernehmen. Dem entspricht die ständige Praxis des Sicherheitsrates, die Mitgliedstaaten in seinen Resolutionen lediglich dazu auffordern, sich an Friedensmissionen zu beteiligen.1010 Werden die genannten Bedingungen gewahrt, begegnet die Ermächtigung von Mitgliedstaaten zur Gebietsverwaltung keinen rechtlichen Bedenken. Als vorteilhaft erweist sich zudem, dass die Kosten der delegierten Militäroperationen bisher stets von den dazu autorisierten Staaten getragen wurden und nicht von den Vereinten Nationen.1011 Umgekehrt führt dies jedoch auch dazu, dass nur eine geringe Anzahl von Staaten in der Lage ist, aufgrund einer solchen Ermächtigung tätig zu werden.1012 Bedenken ergeben sich ferner aus politischen Gesichtspunkten. So würden die bevollmächtigten Staaten über einen wohl zu großen Einfluss auf das verwaltete Gebiet verfügen und so die gesamte Praxis in die Nähe des Kolonialsystems rücken.1013 1008 Das zeigt auch Art. 44 SVN, der den Sicherheitsrat selbst bei Abschluss von Abkommen nach Art. 43 SVN verpflichtet, den truppenstellenden Staat zu konsultieren, bevor er über einen Einsatz entscheidet. 1009 Etwas anderes gilt für die gleichsam passive Beteiligung an einer UN-Verwaltung, dass heißt insbesondere die Anerkennung ihrer Befugnisse und die Beachtung bzw. Ausführung ihrer Beschlüsse, soweit dies keine Bereitstellung von Personal erfordert. Hierzu bleiben die Mitgliedstaaten gemäß Art. 2 Abs. 5, Art. 25 und Art. 48 Abs. 2 SVN verpflichtet. Siehe dazu oben 3.Kp. D.2.2. So beispielsweise § 7 S/RES/1244 (1999) – KFOR, § 6 S/RES/1264 (1999) – INTERFET, § 2 S/RES/1386 (2001) – ISAF – und § 14 S/RES/1511 (2003) – Multinational Force (Irak). 1010 1011 Gaja, in: Tomuschat (Hrsg.) UN at Age Fifty (1995), S. 42 f. Dies stellt beispielsweise § 8 S/RES/1386 (2001) zur ISAF in Afghanistan ausdrücklich fest. 1012 Gaja, in: Tomuschat (Hrsg.) UN at Age Fifty (1995), S. 43. 1013 Tatsächlich zieht Grant, AJIL 97 (2003), 823 (841 f.), Parallelen zwischen dem UNTreuhandsystem und der Verwaltung des Irak durch Großbritannien und die USA. 194 4. Die Rechtsgrundlage der Verwaltung des Irak durch die CPA – Beispiel einer Delegation der Verwaltungsbefugnis an einzelne Mitgliedstaaten? Alle diese Vor- und Nachteile zeigten sich bei der gut einjährigen Verwaltung des Iraks durch die Coalition Provisional Authority (CPA).1014 Unklar ist, ob ihre Rechtsgrundlage allein im humanitären Völkerrecht zu suchen ist, oder ob sich die CPA zumindest auch auf die nachfolgend ergangenen Sicherheitsratsresolutionen stützen konnte. Letzterenfalls hätte es sich um ein Beispiel für die Delegation von Verwaltungsbefugnissen durch den Sicherheitsrat gehandelt. In seiner ersten Resolution nach der militärischen Eroberung des Iraks bezeichnete er Großbritannien und die USA als Besatzungsmächte mit spezifischen Rechten und Pflichten nach anwendbarem Völkerrecht.1015 Das spricht dafür, dass nach Ansicht des Sicherheitsrates die Rechtsgrundlage für die CPA allein das Recht der kriegerischen Besetzung ist und er den Besatzungsmächten keine darüberhinausgehende Befugnisse übertragen wollte. Dafür sprechen auch §§ 4 und 5 der Resolution 1483 (2003): „4. Calls upon the Authority, consistent with the Charter of the United Nations and other relevant international law, to promote the welfare of the Iraqi people through effective administration of the territory, including in particular working towards the restoration of conditions of security and stability and the creation of conditions in which the Iraqi people can freely detemine their own political future; 5. Calls upon all concerned to comply fully with their obligations under international law including in particular the Geneva Conventions of 1949 and the Hague Regulations of 1907“. Obschon der Sicherheitsrat explizit auf der Grundlage von Kapitel VII der Charta tätig wurde,1016 hat er die Besatzungsmacht – vom Sicherheitsrat Authority genannt – 1014 Zum tatsächlichen Ablauf der CPA-Verwaltung des Irak siehe bereits oben 2.Kp. P. S/RES/1483 (2003) vom 22.5.2003. Ihr Präambel-§ 13 lautet in seinem relevanten Teil: „(...) and recognizing the specific authorities, responsibilities, and obligations under applicable international law of these states [Großbritannien und die USA – der Verf.] as occupying powers under unified command (‚the Authority’)“. Für die grundsätzliche Anwendbarkeit des Besatzungsrechs auf die CPA auch Grant, ASIL insights (Juni 2003), 2, Scheffer, AJIL 97 (2003), 842 (842), Froissart, FS Fleck (2004), S. 105-107; Zwanenburg, IRRC 86 (2004), 745 (748); und Roberts, ICLQ 54 (2005), 27 (32). 1015 1016 Siehe Präambel-§ 18 S/RES/1483 (2003). 195 lediglich dazu aufgerufen, nicht dazu ermächtigt oder verpflichtet, für das Wohlergehen der irakischen Bevölkerung zu sorgen. Als völkerrechtliche Handlungsmaßstäbe werden explizit die Genfer Konventionen von 1949 und die Haager Landkriegsordnung genannt, und damit implizit auf das darin enthaltene Recht der kriegerischen Besetzung verwiesen.1017 Grundlegendes Prinzip des Rechts der kriegerischen Besetzung ist indes die weitestmögliche Aufrechterhaltung des status quo ante, mithin des (Rechts)Zustandes, wie er vor der Eroberung bestand.1018 Demzufolge darf eine Besatzungsmacht nicht das Regierungssystem eines besetzten Landes ändern oder sein Polizei- und Justizsystem umfassend reformieren.1019 Derartige grundlegenden Änderungen im Staatswesen des Irak unterstützt der Sicherheitsrat jedoch in der Resolution ausdrücklich.1020 So beauftragt er in § 8 (c) der Resolution 1483 (2003) den Sondergesandten des Generalsekretärs (SRSG), in intensiver Zusammenarbeit mit der Besatzungsmacht an der Bildung repräsentativer Regierungsstrukturen mitzuwirken: „working intensively with the Authority, the people of Iraq, and others concerned to advance efforts to restore and establish national and local institutions for representative governance, including by working together to facilitate a process leading to an internationally recognized, representative government of Iraq”. Eine repräsentative Regierung entsprach im Irak gerade nicht dem status quo ante. 1017 Das Recht der kriegerischen Besetzung ist niedergelegt in der Haager Landkriegsordnung von 1907 (HLKO), in der vierten Genfer Konvention von 1949 (GK IV) und in ihrem ersten Zusatzprotokoll von 1977 (GK-ZP I). Eine Übersicht der relevanten Normen findet sich bei Heintschel von Heinegg, AVR 41 (2003), 272 (290). Zu den wesentlichen Pflichten der Besatzungsmacht siehe Nguyen-Rouault, RGDIP 107 (2003), 835 (855-861), und Froissart, FS Fleck (2004), S. 104-109. Zu verschiedenen Schwierigkeiten, die sich im Irak aus der Anwendung des Besatzungsrechts ergaben, siehe Roberts, ICLQ 54 (2005), 27 (32-36). Zur Frage der Anwendbarkeit des Rechts der kriegerischen Besetzung auf UN-Übergangsverwaltungen siehe ausf. unten 4.Kp. E.I. 1018 Froissart, FS Fleck (2004), S. 107. Dieser Grundsatz ist insbesondere in Art. 43 u. 55 HLKO sowie in Art. 54 und 64 GK IV niedergelegt. Siehe dazu ausführlicher unten 4.Kp. E.I.1 m.w.N. 1019 Ausführlich zur Ungeeignetheit des Rechts der kriegerischen Besetzung zur demokratischen Umgestaltung eines Staates siehe unten 4.Kp. E.I.1 sowie – speziell im Kontext der CPA-Verwaltung des Iraks – Scheffer, AJIL 97 (2003), 842 (847-850), und Roberts, ICLQ 54 (2005), 27 (36). 1020 So auch Grant, ASIL insights (Juni 2003), 1. Zur Unvereinbarkeit der Maßnahmen der CPA mit dem Recht der kriegerischen Besetzung ausf. Starita, RGDIP 108 (2004), 883 (886-889). 196 Dass der SRSG dabei intensiv mit der Besatzungsmacht zusammenarbeiten sollte, impliziert, dass diese ebenfalls bei der Entwicklung repräsentativer Strukturen mitwirken sollte. Noch deutlicher wurde dies in der Folgeresolution 1511 (2003), die ausdrücklich begrüßte, dass der unter der Verantwortung der Besatzungsmacht eingerichtete und arbeitende irakische Regierungsrat Vorbereitungen für den Entwurf einer neuen Verfassung traf und diesen weiter aufforderte, mit der Besatzungsmacht einen Zeitplan und ein Programm für den Verfassungsentwurf und die Abhaltung demokratischer Wahlen vorzulegen.1021 Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass der Sicherheitsrat dabei stets die maßgebliche Rolle des irakischen Volkes oder des irakischen Regierungsrates betonte. Denn solange die Besatzung besteht, ist die Besatzungsmacht, nicht das betroffene Volk oder seine Vertreter, für das Gebiet letztverantwortlich. Die irakische Regierung, an welche die souveränen Rechte des Iraks baldmöglichst zurückgegeben werden sollten, sollte nicht auf derselben Rechtsgrundlage wie das frühere irakische Regime gebildet werden und schon gar nicht mit diesem identisch sein.1022 Die genannten Beispiele machen deutlich, dass der Sicherheitsrat tiefgreifende Änderungen des irakischen Staatswesens während der Besatzungszeit erwartete und diese guthieß. Es handelte sich dabei um Veränderungen, die nicht mit den engen Ausnahmen des Besatzungsrechts vereinbar waren.1023 Da er die Besatzungsmacht ausdrücklich und wiederholt zur Einhaltung humanitären Völkerrechts aufforderte, kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Sicherheitsrat hier einen Bruch des Präambel-§ 4 lautet: „Welcoming the decision of the Governing Council of Iraq to form a preparatory constitutional committee to prepare for a constitutional conference that will draft a constitution to ambody the aspirations of the Iraqi people, and urging it to complete this programme quickly”. § 7 S/RES/1511 (2003) lautet: „Invites the Governing Council to provide the Security Council, for its review, no later than 15 December 2003, in cooperation with the Authority (…) a timetable and a programme for the drafting of an new constitution for Iraq and for the holding of democratic elections”. 1021 Siehe nur Präambel-§ 1 S/RES/1546 (2004) vom 8.6.2004: „Welcoming the beginning of a new phase in Iraq’s transition to a democratically elected government, and looking forward to the end of the occupation and the assumption of full responsibility and authority by a fully sovereign and independent Interim Government of Iraq by 30 June 2004”. Wie hier auch Benvenisti, AJIL 97 (2003), 860 (862). 1022 1023 Grant, ASIL insights (Juni 2003), 2; Starita, RGDIP 108 (2004), 883 (884); Roberts, ICLQ 54 (2005), 27 (36). Hmoud, Cornell ILJ 36 (2004), 435 (448), spricht etwas unklar von einem „special occupation regime [that] goes beyond the rights and obligations of the occupying power as provided for in the 1907 Hague Resolutions and the 1949 Geneva Conventions.“ 197 Besatzungsrechts in Kauf nehmen wollte.1024 Vielmehr ist von einer in den Resolutionen 1483, 1500 und 1511 (2003) enthaltenen impliziten Befugnis auszugehen, in dieser Hinsicht – und nur in dieser Hinsicht – von den Vorgaben des humanitären Völkerrechts abzuweichen.1025 Darin ist indes keine Delegation der Befugnis des Sicherheitsrates zu sehen, ein Krisengebiet auf der Grundlage von Kapitel VII der Charta zu verwalten.1026 So sind einerseits die formalen Voraussetzungen nicht gegeben, da es an einem expliziten Delegationsakt fehlt. Auch hätte sich der Sicherheitsrat seiner Kontrollmöglichkeiten weitgehend begeben, da er Großbritannien und den USA zunächst weder Berichtspflichten auferlegt hatte, noch das Mandat – so es sich den um ein solches gehandelt hätte – zeitlich begrenzte.1027 Aber auch inhaltlich machen die fraglichen Resolutionen keinen dahingehenden Willen des Sicherheitsrates deutlich, dass die Besatzungsmacht bestimmte Befugnisse an seiner Statt ausüben sollte. Dies hätte auch nicht dem Willen vieler Sicherheitsratsmitglieder entsprochen, die entweder grundsätzlich jede Befugnis der UN bei der Verwaltung des Iraks ablehnten, oder aber jeden Eindruck einer nachträglichen Billigung des Angriffs auf den Irak und seiner Folgen durch die UN vermeiden wollten. Rechtsgrundlage für die Übergangsverwaltung des Iraks ist daher tatsächlich das humanitäre Völkerrecht, dessen Geltung der Sicherheitsrat lediglich in engen Teilbereichen implizit 1024 Starita, RGDIP 108 (2004), 883 (896), folgend ist vielmehr davon auszugehen, dass der Sicherheitsrat damit deutlich machen wollte, dass die Besatzungsmächte im Übrigen vollumfänglich an das humanitäre Völkerrecht gebunden blieben. 1025 Grant, ASIL insights (Juni 2003), 3; ähnlich auch Starita, RGDIP 108 (2004), 883 (896); ablehnend Scheffer, AJIL 97 (2003), 842 (850); dies offenlassend Zwanenburg, IRRC 86 (2004), 745 (767). Zu einem solchen Dispens ist der Sicherheitsrat auf der Grundlage von Kapitel VII der Charta berechtigt. Siehe dazu ausf. unten 4.Kp. E.I.3. 1026 Anders de Wet, Chapter VII Powers (2004), S. 313 (Autorisierung zur Gebietsverwaltung durch den Sicherheitsrat), und der pakistanische Vertreter Munir Akram, der als einziger Ländervertreter bei Verabschiedung der S/RES/1483 (2003) von einer „delegation of certain powers by the Security Council to the (...) Authority“ spricht. (Siehe S.C.O.R., 58th year, 4761st mtg. vom 22.5.2003, abgedr. als S/PV.4761). Auch Benvenisti, AJIL 97 (2003), 860 (862), spricht von einem „mandate to the occupants“, ohne aber auf die Frage einer Delegation von Kompetenzen einzugehen. 1027 Ähnlich Hmoud, Cornell ILJ 36 (2004), 435 (448). Eine Berichtspflicht wurde der Besatzungsmacht erst mit § 6 S/RES/1511 (2003) auferlegt („requests“), in § 24 S/RES/1483 (2003) wurde sie lediglich dazu ermutigt („encourages“). Eine kritische Analyse der geringen Einwirkungsmöglichkeiten des Sicherheitsrates findet sich bei Starita, RGDIP 108 (2004), 883 (899902), der infolgedessen sogar die Rechtmäßigkeit der Resolutionen in Frage stellt (ebenda, 912-915). 198 eingeschränkt hat. 199 E. Krisengebietsverwaltung durch die Generalversammlung Eine Verwaltung von Krisengebieten durch die UN-Generalversammlung sieht sich zwei grundsätzlichen Bedenken ausgesetzt: Einerseits ist die Generalversammlung nach der Charta lediglich zu rechtlich unverbindlichen Empfehlungen berechtigt,1028 andererseits hat sie den grundsätzlichen Vorrang des Sicherheitsrates bei der Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu wahren. Die Charta lässt der Generalversammlung mithin wenig Raum zur Verwaltung von Krisengebieten. Dies mag erklären, warum es seit über vierzig Jahren nicht mehr zu einer Gebietsverwaltung durch die Generalversammlung gekommen ist. Da sie jedoch tatsächlich einmal ein Territorium verwaltet hat,1029 erscheint eine Untersuchung ihrer Verwaltungskompetenz gerechtfertigt. Dabei wird zunächst die in Frage kommende Rechtsgrundlage untersucht (I.), bevor auf die organisatorische Durchführung einer solchen Verwaltung (II.) und den bisher einzigen Beispielsfall (III.) eingegangen wird. I. Rechtsgrundlage für eine Verwaltungskompetenz der Generalversammlung Bei der Untersuchung der Verwaltungskompetenz der Generalversammlung ist zunächst im Innenverhältnis der Kompetenzbereich der Generalversammlung von dem des Sicherheitrates abzugrenzen (1.). Aufgrund des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung ist ferner erforderlich, dass die Charta ihr die Durchführung einer solchen Maßnahme gestattet (2.).1030 Drittens bedarf der mit der Einrichtung einer Gebietsverwaltung verbundene Eingriff in die territoriale Souveränität des betroffenen Mitgliedstaates im Hinblick auf Art. 2 Ziff. 7 SVN einer Rechtfertigung im Außenverhältnis (3.).1031 1028 Tomuschat, in: Wolfrum (Hrsg.), United Nations (1995), § 54 Rn. 17 1029 Es handelt sich um die Verwaltung West-Neuguineas durch die United Nations Temporary Executive Authority (UNTEA) in den Jahren 1962 bis 1963. Siehe dazu bereits oben 2.Kp. F. sowie unten 3.Kp. E.III. 1030 Dazu allgemein bereits oben 3.Kp. A.I. 1031 Dazu allgemein bereits oben 3.Kp. A.II. 200 1. Zuständigkeit der Generalversammlung in Abgrenzung zum Sicherheitsrat Art. 10 SVN gibt der Generalversammlung das Recht, alle Themen, Vorgänge und Sachlagen zu diskutieren, die in die Zuständigkeit der Vereinten Nationen fallen.1032 Ebenso darf sie grundsätzlich auch in allen diesen Angelegenheiten Empfehlungen an die Mitgliedstaaten richten. Begrenzt wird diese Allzuständigkeit ratione personae nur durch die in Art. 24 Abs. 1 SVN niedergelegte vorrangige Verantwortung des Sicherheitsrates für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit. Art. 12 Abs. 1 SVN beschränkt sie für den Fall, dass „der Sicherheitsrat in einer Streitigkeit oder Situation die ihm in dieser Charta zugewiesenen Aufgaben wahrnimmt“,1033 auf ein reines Erörterungsrecht. In einer solchen Angelegenheit darf sie die friedensgefährdende Situation zwar diskutieren, aber keine Empfehlungen verabschieden. Diese Beschränkung auf ein reines Erörterungsrecht schließt indes aus, dass die Generalversammlung in einer solchen Situation berechtigt sein könnte, eine Gebietsverwaltung einzurichten. Denn diese Beschränkung soll die Generalversammlung gerade daran hindern, mit rechtlicher Außenwirkung tätig zu werden. Vielmehr soll ein solches Tätigwerden in dieser Situation allein dem Sicherheitsrat vorbehalten bleiben. Die Einrichtung einer UN-Gebietsverwaltung entfaltet aber ohne Zweifel eine rechtliche Außenwirkung. Zumindest sofern sie friedenswahrenden Charakter besitzt, ist sie daher unzulässig, wenn und soweit der Sicherheitsrat „seine ihm (...) zugewiesenen Aufgaben wahrnimmt“ (Art. 12 Abs. 1 SVN). Eine Befugnis zur Einrichtung einer Verwaltungskompetenz kann die Generalversammlung daher nur besitzen, wenn sie wenigstens zur Abgabe von Empfehlungen befugt ist. Ob die ein Empfehlungsrecht ausschließende Sperrwirkung des Art. 12 Abs. 1 SVN bereits dann einsetzt, wenn die Situation, die der geplanten Verwaltung zugrunde 1032 Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 198; Tomuschat, in: Wolfrum (Hrsg.), United Nations (1995), § 54 Rn. 12. Art. 12 Abs. 1 SVN, im englischen Original: „While the Security Council is exercising in respect of any dispute or situation the functions assigned to it in the present Charta, the General Assembly shall not make any recommendation with regard to that dispute or situation unless the Security Council so requests.” 1033 201 liegt, auf der Tagesordnung des Sicherheitsrates steht,1034 oder ob dieser daraufhin auch aktiv Resolutionen erlassen muss, ist seit der Frühzeit der Organisation umstritten.1035 Mit Verabschiedung der Resolution 377 A (V) Uniting for Peace am 3. November 19501036 hat sich die Generalversammlung für die zweite Alternative entschieden.1037 Diese Auslegung ist mit dem Wortlaut des Art. 12 Abs. 1 SVN vereinbar, dem zufolge der Sicherheitsrat die ihm übertragenen Funktionen ausüben muss, um das Empfehlungsrecht der Generalversammlung zu sperren,1038 und lässt sich auch mit der effet-utile-Regel begründen.1039 Zumindest wenn der Sicherheitsrat erkennbar jegliches Bemühen um eine Einigung aufgegeben hat, wird man der Generalversammlung daher zugestehen können, im Sinne des § 1 der Resolution 377 A (V) tätig zu werden.1040 Ohnehin hat sich die Generalversammlung in der Praxis zunehmend über die Sperre des Art. 12 Abs. 1 SVN hinweggesetzt und trotz Behandlung einer Friedensbedrohung durch den Sicherheitsrat Empfehlungen erlassen.1041 Da diese 1034 Darauf deutet Art. 12 Abs. 2 SVN hin, der den Generalsekretär damit betraut, der Generalversammlung mitzuteilen, welche Situationen und Streitigkeiten der Sicherheitsrat behandelt („being dealt with“). 1035 Ausführlich dazu White, Keeping the Peace (1997), S. 150-155 u. 161-178. 1036 Abgedr. in UNYB 1950, 193-195. § 1 der Resolution 377 A (V) lautet: „Resolves that if the Security Council, because of lack of unanimity of the permanent members, fails to exercise its primary responsibility for the maintenance of international peace and security in any case where there appears to be a threat to the peace, breach of the peace, or act of aggression, the General Assembly shall consider the matter immediately with a view to making appropriate recommendations to Members for collective measures (…) to maintain or restore international peace and security.” Ausführlich zur dieser Resolution White, Keeping the Peace (1997), S. 173-178. 1037 Der relevante Teil des Art. 12 Abs. 1 SVN lautet „While the Security Council is exercising (...) the functions assigned to it…“ 1038 1039 Die effet utile-Regel besagt, dass die konstituierenden Normen einer Organisation so auszulegen sind, dass der von den Vertragsparteien angestrebte Zweck – hier die Wahrung des Weltfriedens – bestmöglich erreicht wird (Seidl-Hohenveldern/Loibl, Internationale Organisationen (2000), Rn. 1602). 1040 Schaefer, Funktionsfähigkeit (1981), S. 52 f.; Suy, General Assembly (1997), S. 67; Hailbronner/Klein, Art. 12 (2002), Rn. 15. An diesen Voraussetzungen formal festhaltend, wenn auch im Ergebnis deutlich darüber hinausgehend IGH, Legal consequences of the wall (Gutachten 2004), §§ 30 f.; mit ablehnender Besprechung Khan, FW 79 (2004), 345 (354 f.). 1041 So aus jüngerer Zeit beispielsweise A/RES/54/183 vom 29.2.2000 zum Kosovo oder A/RES/57/135 vom 25.2.2003 zur West-Sahara-Frage. Weitere Beispiele bei Hailbronner/Klein, Art. 202 vielfach mit Zustimmung der Sicherheitsratsmitglieder oder sogar einstimmig ergingen,1042 kann insoweit von einer gefestigten und von der Rechtsüberzeugung ihrer Mitglieder getragenen Praxis der Generalversammlung ausgegangen werden, die zu einer Erosion des Art. 12 Abs. 1 SVN geführt hat. 1043 Diese Praxis hat auch der IGH jüngst als mit der Charta vereinbar eingestuft. 1044 Dabei ist jedoch zu bedenken, dass sich die Generalversammlung bisher nocht nicht in einen offenen Widerspruch zu einem Beschluss des Sicherheitsrates gesetzt hat, ihre parallel verabschiedeten Resolutionen vielmehr flankierenden Charakter haben. Soweit sich die Generalversammlung aber in diesem Rahmen bewegt, ist Art. 12 Abs. 1 SVN als Grenze ihrer Befugnisse praktisch bedeutungslos geworden.1045 Hinsichtlich der Zuständigkeit der Generalversammlung bleibt somit festzuhalten, dass eine Befugnis zur Einrichtung einer Gebietsverwaltung jedenfalls dann ausgeschlossen ist, wenn die Charta ihr lediglich erlaubt, ein Thema zu erörtern. Ein Recht, zu konkreten Streitigkeiten und Krisensituationen Empfehlungen abzugeben, besteht indes nur, sofern der Sicherheitsrat noch nicht mit der Angelegenheit befasst ist, seine Bemühungen am Veto eines seiner Mitglieder gescheitert sind oder er die Generalversammlung zu einer Empfehlung auffordert (Art. 12 Abs. 1 SVN a.E.). Befasst sich der Sicherheitsrat aktiv mit einer friedensgefährdenden Situation, ist die Generalversammlung darüber hinaus gewohnheitsrechtlich zur Abgabe flankierender Empfehlungen berechtigt. Diese dürfen die Bemühungen des Sicherheitsrates jedoch nicht behindern oder konterkarieren.1046 12 (2002), Rn. 8-11. Ausführlich zur diesbezüglichen Praxis der Generalversammlung auch White, Keeping the Peace (1997), S. 161-169. 1042 Beispielhaft seien hier nur die folgenden Resolutionen der Generalversammlung zu Afghanistan genannt, die alle im Konsenverfahren verabschiedet wurden und in ihrem Teil A explizit Fragen der Friedenssicherung behandeln: A/RES/56/220 A vom 21.12.2001, A/RES/57/113 A-B vom 6.12.2002, A/RES/58/27 A-B vom 5.12.2003 und A/RES/59/161 A-B vom 20.12.2004. 1043 White, Keeping the Peace (1997), S. 160. 1044 IGH, Legal consequences of the wall (Gutachten 2004), §§ 27 f. 1045 Tomuschat, in: Wolfrum (Hrsg.), United Nations (1995), § 54 Rn. 19. 1046 I.E. wohl weitergehend IGH, Legal consequences of the wall (Gutachten 2004), § 28, der die Gutachtenanfrage der Generalversammlung hinsichtlich der Völkerrechtskonformität der von Israel in den besetzten palästinensischen Gebieten gebauten Sperranlage im Hinblick auf Art. 12 SVN für zulässig erachtete, obwohl durchaus umstritten war, inwieweit dieses mit den aktiven Bemühungen 203 Ein Empfehlungsrecht besteht nach Art. 10 SVN weiterhin, sofern die Angelegenheit sonstige Aufgabenbereiche der Vereinten Nationen betrifft, insbesondere die Wahrung der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts der Völker im Sinne des Art. 1 Abs. 2 und 3 SVN.1047 Sofern eine konkrete, geographisch verortete Situation, bei der es um das Selbstbestimmungsrecht oder um die Einhaltung der Menschenrechte geht, zugleich eine Friedensbedrohung darstellt, greift wiederum der Vorrang des Sicherheitsrates. Wann eine solche Situation eine Friedensbedrohung darstellt, liegt wiederum allein im Ermessen des Sicherheitsrates.1048 Zu prüfen bleibt indes, ob dass in den übrigen Fällen bestehende Empfehlungsrecht der Generalversammlung Rechtsgrundlage für die Einrichtung einer UN-Verwaltung über ein Krisengebiet sein kann. 2. Befugnis zur Gebietsverwaltung Rechtsgrundlage für die Einrichtung einer Gebietsverwaltung durch die Generalversammlung kann entweder ihr in den Art. 10, Art. 11 Abs. 2 Satz 1 und Art. 14 SVN niedergelegtes Recht sein, Empfehlungen an die Mitgliedstaaten zu richten, oder aber eine ungeschriebene implied power. Darüber hinaus sind Gebietsverwaltungen, die primär der Wahrung des Weltfriedens dienen, von solchen zu unterscheiden, die in erster Linie andere Zwecke verfolgen. Nur im Falle des ersteren greift Art. 11 Abs. 2 Satz 2 SVN, der die Generalversammlung verpflichtet, die Angelegenheit an den Sicherheitsrat zu verweisen, falls Maßnahmen („actions“) erforderlich erscheinen. Da die Einrichtung einer UN-Übergangsverwaltung indes außer zu Zwecken der Friedenssicherung wenig wahrscheinlich erscheint, soll zunächst mit dieser Alternative begonnen werden. Sie stellt sich wie im Falle des Sicherheitsrates als eine erweiterte Peacekeeping-Operation dar.1049 Teilweise wird vertreten, die des Sicherheitsrates vereinbar war, eine politische Lösung des Konflikts auf der Grundlage der sog. Roadmap (siehe S/RES/1515 (2003) vom 19.11.2003) vereinbar war. Zum Ganzen auch Khan, FW 79 (2004), 345 (354 f.). 1047 White, Keeping the Peace (1997), S. 150. 1048 Siehe dazu oben 3.Kp. C.II.1. 1049 Bowett, UN Forces (1964), S. 256, über die UNTEA-Mission in West-Neuguinea. 204 Einrichtung einer Friedensmission durch die Generalversammlung sei entweder als Empfehlung einer geeigneten Maßnahme zur friedlichen Streitbeilegung im Sinne des Art. 14 SVN1050 oder aber allgemein als Empfehlung im Sinne des Art. 11 Abs. 2 SVN einzustufen.1051 Die Befugnis zur Aufstellung der Verwaltungsmission als organisatorische Einheit ergibt sich dann aus der Befugnis, Nebenorgane einzusetzen (Art. 22 SVN). Eine Empfehlung („recommendation“) ist ihrem Wortsinn nach aber ein Vorschlag, ein zunächst theoretischer Lösungsansatz, der von seinem Adressaten umzusetzen ist. Bei der Einrichtung einer Peacekeeping-Mission wird die Generalversammlung dagegen selbst tätig, setzt ihre Empfehlung quasi selbst um. Dies gilt in besonderem Maße für Verwaltungsmissionen, die für eine Übergangszeit Hoheitsgewalt über ein Gebiet ausüben. Eine solche lässt sich schwerlich als bloße Empfehlung begreifen. Es spricht daher einiges dafür, wenn überhaupt eine ungeschriebene Befugnis der Generalversammlung zur Gebietsverwaltung nach den Grundsätzen der implied powers-Lehre anzunehmen. Dies setzt voraus, dass eine derartige Befugnis zur effektiven Ausführung der Aufgaben der Vereinten Nationen erforderlich ist und sie nicht der Kompetenzordnung der Charta widerspricht.1052 Zumindest in Zeiten einer dauerhaften Blockade des Sicherheitsrates ist eine entsprechende Notwendigkeit zu bejahen, da ein Tätigwerden der Vereinten Nationen sonst nur sehr eingeschränkt möglich wäre.1053 Die Befugnis der Generalversammlung, Empfehlungen an die Streitparteien zu richten (Art. 11 Abs. 2 Satz 1, Art. 14 SVN), kann nicht als ausreichend oder gar gleichwertig angesehen werden. Die Entsendung neutralen UN- Higgins, UN Peacekeeping (II) – Asia (1970), S. 120, im Hinblick auf die UNVerwaltungsmission in West-Neuguinea UNTEA. 1050 1051 IGH, Certain Expenses-Gutachten, ICJ-Rep. 1962, 151 (164); White, Keeping the Peace (1997), S. 225 f.; Orakhelashvili, Virginia JIL 43 (2003), 485 (506). 1052 IGH, Reparations for Injuries, ICJ-Rep. 1949, 174 (182); ferner Campbell, ICLQ 32 (1983), 523 (529 u. 32 f.); Blokker, EJIL 11 (2000), 541 (548), ferner oben 3.Kp. B.II. 1053 Dies ist mit der Auffassung von Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 23, vereinbar, der eine Zuständigkeit der Generalversammlung zumindest für die seit dem Ende des Kalten Krieges andauernde Zeit politischer Handlungsfähigkeit des Sicherheitsrates ausschließt. 205 Personals zur Wahrnehmung der Verwaltungshoheit über ein Krisengebiet stellt ein wesentlich weitreichenderes und unter Umständen effektiveres Mittel der Streitschlichtung dar. Auch wird die Bereitschaft anderer Staaten, sich an einer solchen Mission zu beteiligen, regelmäßig deutlich größer sein, wenn diese von den Vereinten Nationen geleitet wird.1054 Ist der Sicherheitsrat aber handlungsbereit, fehlt es bereits an der Erforderlichkeit einer solchen implied power der Generalversammlung. Nicht nur aus diesem Grund ist Art. 12 Abs. 1 SVN zu beachten. Seine entsprechende Anwendung auf die ungeschriebene Befugnis der Generalversammlung ist ferner Voraussetzung dafür, dass die Kompetenzordnung der Charta, genauer das Primat des Sicherheitsrates, gewahrt bleibt. Aus dem selben Grund ist auch Art. 11 Abs. 2 Satz 2 SVN zu beachten. Die Annahme der hier in Frage stehenden implied power ist daher nur zulässig, wenn die Einrichtung einer Gebietsverwaltung nicht als Maßnahme im Sinne des genannten Artikels einzustufen wäre. In seinem Certain expenses-Gutachten vom 20. Juli 1962 legte der IGH den Begriff Maßnahmen („actions“) in Art. 11 Abs. 2 Satz 2 SVN dahingehend eng aus, dass er nur Zwangsmaßnahmen („coercive or enforcement action“) erfasse.1055 Nur diese fielen in den exklusiven Kompetenzbereich des Sicherheitsrates. Dagegen verfüge auch die Generalversammlung über das Recht, konkrete Empfehlungen zu konkreten Situationen abzugeben. Anders sei Art. 12 Abs. 1 SVN a.E. nicht zu erklären, welcher derartige Empfehlungen der Generalversammlung erlaube, wenn der Sicherheitsrat sie anfordere.1056 Wendet man diese Rechtsprechung auf die hier diskutierte ungeschriebene Befugnis zur Gebietsverwaltung an, so wird sie durch Art. 11 Abs. 2 Satz 2 SVN nur insoweit ausgeschlossen, als sie auch eine UN-Verwaltung gegen den Willen des betroffenen Staates, mithin als Zwangsmaßnahme erlaubt. Der Einrichtung einer UNVerwaltung, die sich auf die Zustimmung der Betroffenen stützen kann, steht Art. 11 Abs. 2 Satz 2 SVN aber nicht entgegen. Die Kompetenzverteilung zwischen 1054 Besonders deutlich wurde dies im Umfeld der Diskussion um die Resolution 1511 (2003), die aus der Sicht vieler Mitgliedsstaaten der UN eine zu geringe Rolle zugedachte, um sie (die Staaten) zu einer personellen Beteiligung an der Besatzung und dem Wiederaufbau des Irak zu bewegen. 1055 IGH, Certain Expenses-Gutachten, ICJ-Rep. 1962, 151 (164-5). 1056 IGH, Certain Expenses-Gutachten, ICJ-Rep. 1962, 151 (165). 206 Sicherheitsrat und Generalversammlung bleibt so gewahrt. Als Zwischenergebnis kann daher festgestellt werden, dass die Generalversammlung zum Zwecke der Friedenssicherung über eine ungeschriebene, implizite Befugnis zur Verwaltung eines Gebietes besitzt, sofern und soweit diese von der Einwilligung des betroffenen Völkerrechtssubjekts gedeckt ist. Fraglich bleibt, auf welche Rechtsgrundlage sich die Generalversammlung stützen kann, wenn sie eine Gebietsverwaltung einrichten möchte, die nicht primär der Friedenserhaltung dient. In diesen Fällen besteht kein Kompetenzkonflikt mit dem Sicherheitsrat. Auch hier ist eine implied power anzunehmen, sofern die Einrichtung einer UN-Verwaltung tatsächlich ein im Einzelfall geeignetes und erforderliches Mittel darstellt. Als Übergangsmaßnahme bis zur Erreichung staatlicher Unabhängigkeit als Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts (Art. 1 Abs. 2 SVN) mag dies der Fall sein. Andererseits ist zu beachten, dass die UN in Gestalt des Treuhandsystems des Kapitels XII der Charta bereits über ein System zur Gebietsverwaltung verfügt, dessen Zweck unter anderem die Vorbereitung eines Territoriums auf seine eigene Staatlichkeit ist1057 und das auch eine Verwaltung durch die Organisation selbst erlaubt.1058 Sofern im Einzelfall eine Unterstellung unter das Treuhandsystem möglich ist,1059 fehlt es damit an der für die Annahme einer ungeschriebenen Kompetenz gebotenen Erforderlichkeit. Im Übrigen ist eine Befugnis der Generalversammlung zur Gebietsverwaltung denkbar, auch wenn es höchst fraglich erscheint, ob ihre tatsächlichen Voraussetzungen jemals vorliegen werden. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Generalversammlung der Vereinten Nationen eine ungeschriebene Befugnis zur Einrichtung einer Gebietsverwaltung besitzt, wenn dies zur Erreichung eines der Ziele der Charta erforderlich ist. Dabei ist der Vorrang des Sicherheitsrates gemäß Art. 12 Abs. 1 SVN zu wahren. 1057 Siehe Art. 76 lit. b) SVN. 1058 Siehe Art. 81 Satz 2 SVN. 1059 Siehe dazu ausführlich unten 3.Kp. F. 207 3. Die Bedeutung staatlicher Zustimmung für die Verwaltungskompetenz der Generalversammlung Wie bereits ausgeführt hindert Art. 11 Abs. 2 Satz 2 SVN die Annahme einer implied power der Generalversammlung zu Zwangsmaßnahmen auf dem Gebiet der Friedenssicherung. Diese obliegen allein dem Sicherheitsrat.1060 Aus diesem Grund benötigt die Generalversammlung die Zustimmung des betroffenen Staates, um eine Gebietsverwaltung einzurichten, die maßgeblich der Friedenswahrung dient. Doch auch für die Einrichtung von Gebietsverwaltungen, die primär anderen Zwecken dienen, benötigt die Generalsversammlung aus drei Gesichtspunkten die Einwilligung des Territorialstaates. Sie ergeben sich aus dem Charakter von Zwangsbefugnissen als Eingriffsnorm und aus einer Gesamtschau der Chartabestimmungen, welche die Rolle der Generalversammlung betreffen. Die Einrichtung einer UN-Verwaltung greift in erheblichem Maße in die inneren Angelegenheiten eines Staates ein.1061 Sie ist den Vereinten Nationen daher durch Art. 2 Ziff. 7 SVN grundsätzlich verwehrt. Da die Ausnahmeregelung für Kapitel VII-Maßnahmen vorliegend nicht einschlägig ist, muss der betroffene Staat zunächst auf sein Schutzrecht aus Art. 2 Ziff. 7 SVN verzichten, bevor die Generalversammlung eine Gebietsverwaltung einrichten kann. Weiter kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Mitgliedstaaten der Generalversammlung weitreichende, aber ungeschriebene Befugnisse zu übertragen, die ihre staatliche Souveränität in erheblichem Maße einschränken. Es sind dies dieselben Erwägungen, die eine Zustimmungsbedürftigkeit jener Maßnahmen begründen, die der Sicherheitsrat aufgrund seiner ungeschriebenen Peacekeeping-Befugnis ergreift.1062 Vorliegend ergibt sich die Zustimmungsbedürftigkeit aber auch daraus, dass die 1060 IGH, Certain Expenses-Gutachten, ICJ-Rep. 1962, 151 (165). Zwar kann die Generalversammlung Zwangsmaßnahmen empfehlen. Anders als der Sicherheitsrat kann sie diese aber nicht autorisieren, weil ihr selbst eine Befugnis zu Zwangsmaßnahmen fehlt. Da es sich bei einer Autorisierung rechtlich um eine Delegation von Kompetenzen handelt, verstieße die entsprechende Autorisierung der Generalversammlung gegen den Grundsatz nemo dat quod non habet. Eine bloße Empfehlung an die Mitgliedstaaten, Zwangsmaßnahmen zu ergreifen, entfaltet aber keine rechtfertigende Wirkung. Dies übersieht White, Keeping the Peace (1997), S. 174 f. 1061 Siehe oben 3.Kp. A.II. 1062 Siehe dazu bereits oben 3.Kp. B.I. 208 Generalversammlung nach der Charta nicht als exekutives Organ konzipiert worden ist.1063 So ist sie zumeist nur befugt, rechtlich unverbindliche Empfehlungen abzugeben.1064 Sofern ihr rechtserhebliche Entscheidungen zugestanden werden, betreffen diese organisationsinterne Angelegenheiten1065 wie die Genehmigung des Haushalts (Art. 17 Abs.1 SVN) oder die Wahl der Mitglieder diverser UNGremien1066. Die Charta kennt kein Recht der Generalversammlung, Mitgliedstaaten einseitig zu einem Tun, Dulden oder Unterlassen zu verpflichten oder auf andere Weise auf deren Rechtsposition nach allgemeinem Völkerrecht einzuwirken. Auch deshalb ist für die Einrichtung einer Gebietsverwaltung durch die Generalversammlung die Zustimmung des betroffenen Staates, mithin die Einschränkung des eigenen Rechtskreises zugunsten desjenigen der Generalversammlung, erforderlich. Wie im Falle einer Konsensverwaltung des Sicherheitsrates umfasst auch die Verwaltungskompetenz der Generalversammlung die Befugnis, alle jene im Rahmen einer effektiven Gebietsverwaltung erforderlichen Entscheidungen zu treffen und auszuführen.1067 Voraussetzung ist aber auch hier, dass die Zustimmung des betroffenen Territorialstaats das gesamte Mandat der UN-Verwaltung deckt. Es gelten die gleichen Grundsätze wie bei einer konsensgestützten Gebietsverwaltung durch den Sicherheitsrat.1068 Jegliche Tätigkeit der UN-Verwaltung auf dem Gebiet muss grundsätzlich in sachlicher, personeller und zeitlicher Hinsicht von der Zustimmung des Territorialstaates gedeckt sein. Ob dies der Fall ist, muss im Einzelfall durch Auslegung der Rechtsakte ermittelt werden, die der Mission 1063 Aus diesem Grund lehnt Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 23, PeacekeepingOperationen durch die Generalversammlung generell ab. 1064 Art. 10, Art. 11 Abs. 1 und 2, Art. 13 und Art. 14 SVN. 1065 Tomuschat, in: Wolfrum (Hrsg.), United Nations (1995), § 54 Rn. 13. 1066 Siehe Art. 23 Abs. 1 Satz 2 SVN (Sicherheitsrat), Art. 61 Abs. 1 SVN (ECOSOC) und Art. 86 Abs. 1 lit. c) SVN (Treuhandrat). Auch der zeitweilige Entzug von Mitgliedsrechten nach Art. 5 SVN oder der Auschluss von der Mitgliedschaft nach Art. 6 SVN ist ein rein binnenrechtlicher Vorgang, eine organisationsinterne Sanktion, weil lediglich die Rechte des betroffenen Staates eingeschränkt werden, die aus dessen Mitgliedschaft fließen. 1067 Siehe dazu bereits oben 3.Kp. B.II.2.c. 1068 Siehe dazu oben 3.Kp. B.II.2. 209 zugrunde liegen. In aller Regel wird es sich dabei um Verträge der oder mit den betroffenen Staaten handeln,1069 aber auch ein Notenwechsel1070 oder einseitige Rechtsakte sind denkbar. II. Durchführung einer Gebietsverwaltung der Generalversammlung (Art. 22 SVN) Da die Generalversammlung in noch stärkerem Maße als der Sicherheitsrat ein Kollektivorgan ist, ist es ihr kaum möglich, die Verwaltungshoheit über ein Gebiet unmittelbar selbst auszuüben. Es bietet sich daher auch in ihrem Fall an, auf der Grundlage von Art. 22 SVN ein Nebenorgan ins Leben zu rufen, welches mit der eigentlichen Verwaltungstätigkeit betraut wird.1071 Zu diesem Zweck kann die Generalversammlung in gleicher Weise auf den Generalsekretär zurückgreifen wie der Sicherheitsrat. Insofern wird auf die obigen Ausführungen verwiesen.1072 Da es sich bei einer Gebietsverwaltung durch die Generalversammlung immer um eine konsensgestützte Operation handeln muss, hängt es wesentlich von der Zustimmung des betroffenen Staates ab, inwieweit die Generalversammlung ihre Kompetenzen auf andere UN-Organe übertragen oder Dritte in die Verwaltung einbeziehen darf. Regelmäßig werden der oder die betroffenen Staaten derartige Aspekte explizit mit der Generalversammlung regeln. So legte der Vertrag zwischen den Niederlanden und Indonesien vom 15. August 19621073 die umfangreiche Rolle fest, die der Generalsekretär bei der Verwaltung des Gebiets von West-Neuguinea spielen sollte. Bei der Delegation der Befugnis der Generalversammlung zur einvernehmlichen Verwaltung eines Krisengebietes gilt zunächst der allgemeine 1069 So lag der UN-Verwaltung West-Neuguinea (UNTEA) ein Vertrag zwischen den Niederlanden und Indonesien zugrunde. Siehe dazu oben 2.Kp. F. und unten 3.Kp. E.III. 1070 Orakhelashvili, Virginia JIL 43 (2003), 485 (520). 1071 So für Peacekeeping-Missionen allgemein Orakhelashvili, Virginia JIL 43 (2003), 485 (507). 1072 Siehe 3.Kp. D. 1073 Übereinkommen zwischen dem Königreich der Niederlande und der Republik Indonesien betreffend West-Neuguinea vom 15. August 1962 (im Folgenden: West-Neuguinea-Abkommen), U.N.T.S. 437, S. 273-291, abgedruckt in Higgins, UN Peacekeeping (II) – Asia (1970), S. 101-106, und AVR 10 (1962/63), 350-355. Eine deutsche Übersetzung findet sich in EA 17 (1962), D445 – D450. 210 Grundsatz des nemo dat quod non habet. Auch sollte eine derartige Delegation grundsätzlich explizit erfolgen. Im Übrigen sind die Voraussetzung und Grenzen einer Übertragung weniger streng als im Falle der Kapitel VII-Befugnisse des Sicherheitsrates. So trägt die Generalversammlung weder die „Hauptverantwortung“ (Art. 24 Abs. 1 SVN), noch gibt es den Art. 43-47 SVN vergleichbare Normen, die eine deutliche Präferenz der Charta für ein zentralisiertes Vorgehen der Generalversammlung erkennen lassen. Es ist daher zulässig, dem beauftragten Organ oder Völkerrechtssubjekt einen größeren Freiraum bei der Wahrnehmung seines Mandates zu gewähren. Eine Pflicht zur regelmäßigen Berichterstattung ist jedoch analog Art. 73 lit. e) SVN zu fordern, da sie Mindestvoraussetzung für eine Aufsichtstätigkeit der Generalversammlung ist. Auch sollte eine Gebietsverwaltung unmittelbar durch die Generalversammlung selbst nicht hinter die Voraussetzungen zurückfallen, welche die Charta für die Gebietsverwaltung durch Dritte aufstellt.1074 III. Fallbeispiel: West-Neuguinea Der wichtigste Beispielfall für die Verwaltung eines Krisengebietes unter der Schirmherrschaft der Generalversammlung ist die United Nations Temporary Executive Authority (UNTEA), die vom 1. Oktober 1962 bis zum 1. Mai 1963 das Gebiet der holländischen Kolonie West-Neuguinea1075 verwaltete, bevor dieses an die Republik Indonesien übertragen wurde.1076 Grundlage war die Resolution 1752 (XVII) vom 21. September 1962,1077 mit der die Generalversammlung ein niederländisch-indonesisches Abkommen bestätigte, in dem den Vereinten Nationen die übergangsweise Verwaltung des Gebietes angetragen wurde.1078 Die besondere 1074 Für eine derartige Vorbildwirkung zumindest des Art. 76 SVN auch Stahn, ZaöRV 61 (2001), 107 (138), und von Carlowitz, AVR 41 (2003), 336 (365). 1075 Von indonesischer Seite wurde das Gebiet West Irian oder Irian Barat genannt. Hier wird wie im niederländisch-indonesischen Abkommen der Begriff West-Neuguinea verwendet. 1076 Zum historischen Hintergrund der UNTEA siehe oben 2.Kp. F. 1077 Abgedruckt bei Higgins, UN Peacekeeping (II) – Asia (1970), S. 110. 1078 Siehe oben Fußnote 1060. 211 Bedeutung der UNTEA liegt in ihrer allgemeinen Akzeptanz durch die Mitgliedstaaten. Während im Falle der Diskussion um die Errichtung des Freien Territorium Triest die Befugnis des Sicherheitsrates zur Verwaltung eines Gebiets ernsthaft in Frage gestellt wurde,1079 wurden entsprechende Bedenken im Hinblick auf die Generalversammlung von keinem Mitgliedstaat erhoben1080. Resolution 1752 (XVII) wurde von der Generalversammlung ohne Gegenstimmen gebilligt.1081 Von den vierzehn Staaten, die sich ihrer Stimme enthielten, deutete keiner an, dass seinem Abstimmungsverhalten derartige Bedenken zugrunde lagen.1082 Insofern ist die UNTEA ein wichtiger Präzedenzfall.1083 Im Übrigen erfüllt die UNTEA-Mission die oben dargelegten Voraussetzungen einer Gebietsverwaltung durch die Generalversammlung. So lag zwar eine friedensbedrohende Situation vor1084 – Indonesien hatte Truppen per Fallschirm in West-Neuguinea abgesetzt, und es war zu mehrern bewaffneten Zwischenfällen mit niederländischen Einheiten gekommen.1085 Trotz mehrfacher Hinweise der Niederlande1086 war der Sicherheitsrat jedoch nicht eingeschritten und hatte keine einzige Resolution zur Lage in Neuguinea erlassen. Die Voraussetzungen für ein Tätigwerden der Generalversammlung waren somit gegeben.1087 Mit dem WestNeuguinea-Abkommen vom 15. August 1962 lag auch die Zustimmung der 1079 Siehe dazu oben 3.Kp. B. 1080 Higgins, UN Peacekeeping (II) – Asia (1970), S.120 f. Higgins, UN Peacekeeping (II) – Asia (1970), S. 111. Senegal bat aber drei Tage später darum, dass seine Stimme nunmehr als Ablehnung verzeichnet werden sollte (ebenda, S. 114.). 1081 1082 Higgins, UN Peacekeeping (II) – Asia (1970), S. 113 f. u. 120 f. 1083 Bowett, UN Forces (1964), S. 261. 1084 Bowett, UN Forces (1964), S. 257; Dicke-Rengeling, Sicherung des Weltfriedens (1975), S. 157. 1085 Leyser, AVR 10 (1962/63), 257 (257 f.); Higgins, UN Peacekeeping (II) – Asia (1970), S. 98-100. 1086 Siehe beispielsweise die niederländischen Schreiben aus dem Jahre 1962, abgedr. als UN-Doc. S/5123 vom 21.5.; S/5126 vom 24.5., S/5155 vom 10.8. und S/5157 vom 14.8. 1087 Von Interesse ist, dass vier von fünf ständigen Sicherheitsratsmitgliedern der Resolution 1752 (XVII) in der Generalversammlung zustimmten, Frankreich enthielt sich der Stimme. Da dies aber nach der ständigen Praxis des Sicherheitsrates nicht im Sinne des Art. 27 Abs. 3 SVN als Veto ausgelegt worden wäre, hätte die Resolution wohl auch im Sicherheitsrat eine Mehrheit gefunden. Warum dennoch der Weg über die Generalversammlung gewählt wurde, ist nicht klar. Kritisch zur Rolle des Sicherheitsrates Dicke-Rengeling, Sicherung des Weltfriedens (1975), S. 158 f. 212 betroffenen Staaten vor.1088 Lediglich bei der Ausführung der Mission weicht UNTEA vom oben beschriebenen Idealbild ab, da die Generalversammlung dabei eine nur sehr geringe Rolle spielte. Sie beschränkte sich im Wesentlichen darauf, das niederländisch-indonesische Abkommen wohlwollend zur Kenntnis zu nehmen und den Generalsekretärs zu autorisieren, die ihm in diesem Übereinkommen angetragenen Aufgaben auszuführen. Der Sache nach wird der Generalsekretär von den Parteien beauftragt. Die Generalversammlung gibt lediglich ihr Einverständnis dazu, dass das Sekretariat der Vereinten Nationen in dieser Art und Weise tätig werden darf. So soll UNTEA nach Art. II des West-Neuguinea-Abkommens durch den Generalsekretär und unter dessen Zuständigkeit eingerichtet werden.1089 Nach Art. V soll der Übergangsverwalter gegenüber dem Generalsekretär weisungsgebunden sein.1090 Von einem Weisungsrecht der Generalversammlung ist nicht die Rede. Der Generalsekretär wird in Art. VIII des Abkommens nicht einmal verpflichtet, der Generalversammlung Bericht zu erstatten.1091 Es ist der Generalsekretär, der im Einvernehmen mit den Parteien den Übergangsverwalter benennt1092 und der UNTEA die nötigen Sicherheitskräfte zur Seite stellt1093. Ein Tätigwerden der Generalversammlung ist nicht vorgesehen. Diese Vorgaben hat die Generalversammlung durch die Verabschiedung der Resolution 1752 (XVII) am 21.9.1962 unverändert übernommen. Sie ließen der Generalversammlung keine Möglichkeit, die Arbeit des Generalsekretärs im Rahmen 1088 Die Zustimmung beider Staaten war erforderlich, da der völkerrechtliche Status West-Neuguineas unklar war. Siehe dazu ausführlich Leyser, AVR 10 (1962/63), 257 (258-264). Der entsprechende Passus in Art. II des West-Neuguinea-Abkommens lautet: „(...) established by and under the jurisdiction of the Secretary-General (...)“. 1089 Art. V West-Neuguinea-Abkommen: „The United Nations Administrator (...) will have full authority under the direction of the Secretary-General to administer the territory (…).” 1090 Art. VIII Satz 2 West-Neuguinea-Abkommen: „The Secretary-General will submit full reports to the Netherlands and Indonesia and may submit, at his discretion, reports to the General Assembly or to all United Nations Members” (Hervorhebung durch den Verfasser). 1091 1092 Art. IV des West-Neuguinea-Abkommens. 1093 Art. VII des West-Neuguinea-Abkommens. 213 der UNTEA zu kontrollieren. Nach den oben dargelegten Grundsätzen einer Delegation von Kapitel VII-Kompetenzen durch den Sicherheitsrat1094 wäre dies nicht zulässig. Vorliegend begegnen sie jedoch aus den oben genannten Gründen geringeren Bedenken.1095 Hier ist die Notwendigkeit einer Kontrolle durch die Generalversammlung auch insofern geringer, als die Verwaltung von vornherein nur für eine kurzen Zeitraum eingerichtet werden sollte.1096 Zudem hatten die Niederlande und Indonesien die Kosten der Mission vollständig übernommen,1097 so dass auch das Budgetrecht der Generalversammlung (Art. 17 SVN) durch UNTEA nicht berührt wurde. Eine derartig große Ermessensfreiheit des Generalsekretärs entsprach ferner dem Willen der Vertragsparteien, in deren inneren Kompetenzbereich UNTEA tätig wurde. Dennoch ist zumindest eine Berichtspflicht des Generalsekretärs gegenüber dem autorisierenden Organ geboten. In dieser Hinsicht taugt UNTEA nur bedingt als Modellfall für die Verwaltung eines Krisengebietes durch die Generalversammlung. IV. Ausblick Das Beispiel der UNTEA zeigt, dass es sich bei der Verwaltung von Krisengebieten durch die Generalversammlung nicht um eine rein theoretische Befugnis der Generalversammlung handelt.1098 Ihre Verwaltungskompetenz hat sie nicht dadurch verloren, dass sie seit 1962 keine derartige Mission mehr ins Leben gerufen hat.1099 In der Tat hat die Generalversammlung die sich selbst in der Uniting for PeaceResolution zugebilligten Befugnisse nie genutzt und schon seit langem keine eigenen Peacekeeping-Missionen mehr initiiert. Der Grund hierfür ist weniger in rechtlichen 1094 Siehe oben 3.Kp. D.I.4. 1095 Siehe oben 3.Kp. E.II. 1096 Art. IX West-Neuguinea-Abkommen nennt den 1.5.1963 als Zeitpunkt der Übergabe der Verwaltungshoheit an Indonesien. UNTEA nahm 1.10.1962, zehn Tage nach Verabschiedung der Resolution 1752 (XVII), ihre Arbeit auf, so dass sie insgesamt sechs Monate tätig war. 1097 Art. XXIV Abs. 3 Satz 1 West-Neuguinea-Abkommen. 1098 Lagrange, AFDI 45 (1999), 335 (338). 1099 So aber Bothe, Peace-keeping (2002), Rn. 91. In diese Richtung auch Hufnagel, UNFriedensoperationen (1996), S. 23. 214 Bedenken der UN-Mitglieder zu sehen als vielmehr in den historischen Umständen, insbesondere der weitgehenden Handlungsfähigkeit des Sicherheitsrates seit 1990. Das Beispiel der UNTEA zeigt aber auch, dass es besonderer tatsächlicher Umstände bedarf, damit zu diesem Zweck auf die Generalversammlung zurückgegriffen wird. In Zeiten, in denen Staaten zu unilateralem Vorgehen tendieren, wenn es ihnen nicht gelingt, im Sicherheitsrat das gewünschte Ergebnis zu erzielen, sind solche Umstände nicht wahrscheinlicher geworden. Es ist daher nicht anzunehmen, dass es in absehbarer Zeit zu einer Gebietsverwaltung unter der Ägide der Generalversammlung kommen wird. 215 F. Krisengebietsverwaltung unter dem Regime des Treuhandrates (Kapitel XII und XIII der Charta) Ähnlich unwahrscheinlich erscheint eine UN-Gebietsverwaltung unter der Ägide des Treuhandrates. Dass diese hier dennoch kurz angesprochen werden soll, ist dem Umstand geschuldet, dass Art. 81 SVN als einzige Norm der Charta die Vereinten Nationen explizit zur Verwaltung eines Territoriums befugt. Art. 81 Satz 2, 3. Var. SVN erlaubt es, nicht nur Staaten, sondern auch die UN selbst als Verwaltungsmacht eines Treuhandgebietes einzusetzen.1100 Warum die Vereinten Nationen bei ihren verschiedenen Gebietsverwaltungen nie auf dieser Rechtsgrundlage zurückgriffen, soll im Folgenden geklärt werden.1101 Das in den Kapiteln XII und XIII der Charta niedergelegte UN-Treuhandsystem war zur Verwaltung sich noch nicht selbst regierender Gebiete unter der Aufsicht der Vereinten Nationen entworfen worden und hatte primär zum Ziel, diese auf ihre Unabhängigkeit vorzubereiten.1102 Nach dem weitgehenden Abschluss des Dekolonialisierungsprozesses wird das Treuhandsystem deshalb vielfach als nur noch von historischem Interesse angesehen.1103 In der Tat hat der Treuhandrat seine Sitzungen eingestellt, seit 1994 die Insel Palau als letztes Treuhandgebiet unabhängig wurde.1104 Vorschläge, ihn beispielsweise zur Verwaltung von Krisengebieten zu 1100 Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 651, bemerkt indes, dass diese Norm innerhalb des Treuhandsystems der Charta insofern einen Fremdkörper darstellt, als dessen übrige Regelungen auf Staaten als Verwaltungsmächte zugeschnitten sind. 1101 1949 hatte Indien vorgschlagen, die ehemaligen italienischen Kolonien Libyen und Somalia für einen Zeitraum von 20 Jahren als Treuhandgebiet durch die UN verwalten zu lassen, konnte sich damit aber nicht durchsetzen (siehe UNYB 1948/49, S. 258 f.). Zur Treuhandverwaltung des früher italienischen Somaliland siehe auch Murray, UN Trusteeship System (1957), S. 79-116. Der Vorschlag, die Stadt Jerusalem zu internationalisieren und unter der Aufsicht des Treuhandrates verwalten zu lassen, konnte ebenfalls nicht verwirklicht werden. Siehe dazu oben 2.Kp. C (Jerusalem) und D. (Libyen). 1102 Zum Treuhandsystem und seiner Geschichte allgemein siehe Rauschning, Article 75 (2002), oder Pambou Tchivounda, Article 75 (1991), 1101-1111, sowie ausführlich Murray, UN Trusteeship System (1957). 1103 Rauschning, Article 75 (2002), Rn. 1. 1104 Siehe S/RES 956 (1994) vom 10.11.1994, abgedr. in UNYB 1994, 215; ferner Rauschning, Artikel 83 (2002), Rn. 9. 216 reaktivieren, sind bisher nicht aufgegriffen worden.1105 Andereseits ist der Treuhandrat nicht aufgelöst worden, sondern ruht lediglich, so dass seine Reaktivierung nicht gänzlich ausgeschlossen erscheint.1106 Die Verwaltung von failed states und anderen Krisengebieten ließe sich auch grundsätzlich mit den in Art. 76 der Charta niedergelegten Zielen des Treuhandsystems vereinbaren.1107 Als Mittel zur Stabilisierung von Krisengebieten trüge sie zur internationalen Sicherheit bei (Art. 76 (a) SVN). Sofern die Verwaltung mit dem Aufbau staatlicher und rechtsstaatlicher Institutionen betraut ist, förderte sie die Entwicklung der Bevölkerung des Territoriums (Art. 76 (b) SVN) und die Wahrung der Menschenrechte (Art. 76 (c) SVN). Die Wahl der UN statt eines Einzelstaates als Verwaltungsmacht trüge auch dazu bei, Ängste vor einer Rekolonialisierung zu reduzieren.1108 I. Die Rolle des Sicherheitsrates Ein Grund dafür, dass zur Verwaltung von Krisengebieten bisher nicht auf Art. 81 SVN zurückgegriffen wurde, mag darin liegen, dass Art. 85 Abs. 1 SVN das Treuhandsystem in den Verantwortungsbereich der Generalversammlung verweist. Unter ihrer Aufsicht, nicht unter der des Sicherheitsrat, wird der Treuhandrat tätig.1109 Entscheidungen können so mit Zwei-Drittel-Mehrheit in der Generalversammlung und mit einfacher Mehrheit im Treuhandrat selbst gefällt 1105 Zu diesen Vorschlägen siehe Helman/Ratner, Foreign Policy 89 (1992/93), 3 (12-18); Thürer, BdDGVR 34 (1996), 9 (38); Delbrück, in: FS Rauschning (2001), S. 427-439; Ruffert, ICLQ 50 (2001), 613 (631). 1106 Kurz vor der Unabhängigkeit Palaus beschloss der Treuhandrat im Mai 1994, seine jährlichen Treffen einzustellen und nur noch im Bedarfsfall zu tagen (siehe T/RES/2200 (LXI) vom 24.5.1994, abgedr. in UNYB 1994, p. 216). Siehe auch Nachweise bei Geiger, Article 86 (2002), Rn. 1 f. Mittlerweile schlägt UN, Threats, Challenges and Change (2004), § 299, allerdings vor, den Treuhandrat zusammen mit dem gesamten Kapitel XIII aus der Charta zu entfernen. 1107 So auch Delbrück, in: FS Rauschning (2001), S. 438. So sieht Gordon, Am.Univ.J.I.L.&P. 12 (1997), 903 (926), den Treuhandgedanken als „rooted in colonialism and always rationalized by notions of cultural superiority, if not pure and simple racism” an. 1108 1109 Art. 85 Abs. 2 SVN. 217 werden, es gibt kein Vetorecht der fünf ständigen Sicherheitsratsmitglieder.1110 Sofern die Krisengebietsverwaltung der Wahrung oder Wiederherstellung der internationalen Sicherheit dienen soll, könnte ihre Ausführung auf der Grundlage von Art. 81 SVN zudem den Vorrang des Sicherheitsrates nach Art. 24 Abs. 1 SVN in Frage stellen. Der Vorrang des Sicherheitsrates ließe sich jedoch wieder herstellen, wenn man das Gebiet als strategisches Gebiet (strategic area) im Sinne des Art. 82 einstufte.1111 Für diese ist gemäß Art. 83 Abs. 1 SVN der Sicherheitsrat anstelle der Generalversammlung zuständig. Zwar sind die strategischen Gebiete im Sinne der Art. 82 ff. SVN nicht für größere Teile von Staaten oder ganze Staaten konzipiert worden.1112 Andererseits war das Phänomen der failed states zur Zeit der Gründung der Vereinten Nationen noch unbekannt. Bei der gebotenen dynamischen Auslegung der Charta ließe sich ihre Verwaltung als strategisches Gebiet ohne weiteres mit Art. 82 SVN vereinbaren, zumal sie sich zudem im Rahmen der materiellen Ziele des Treuhandsystems bewegte. II. Die formalen Voraussetzungen einer Treuhandverwaltung Es sind jedoch die formalen Voraussetzungen der Kapitel XII und XIII der Charta, die eine Krisengebietsverwaltung durch den Treuhandrat rechtlich schwierig erscheinen lassen. So sieht Art. 77 SVN drei Kategorien von Gebieten vor, die unter Treuhandverwaltung gestellt werden können. Nicht alle bisher von den Vereinten Nationen verwalteten Gebiete lassen sich ohne Weiteres unter eine dieser Kategorien subsumieren.1113 Ferner untersagt es Art. 78 SVN ausdrücklich, Mitgliedstaaten der Art. 18 Abs. 2 („questions relating to the operation of the trusteeship system“) und Art. 89 Abs. 2 SVN. 1110 1111 Tatsächlich nannte der syrische Delegierte Kapitel XII und die dort geregelten strategischen Gebiete als seiner Ansicht nach einzig denkbare Rechtsgrundlage für eine Gebietsverwaltung durch den Sicherheitsrat. Siehe seine Bemerkungen in der Debatte zum Freien Territorium Triest, abgedr. in: United Nations, Répertoire de la pratique du Conseil de sécurité (RPCS) 1946-1951, 514. 1112 Zur Entstehungsgeschichte siehe Gautron, Article 82 (1991), 1169 . (1170). Zum Verhältnis zwischen Sicherheitsrat und Treuhandrat bei der Verwaltung strategischer Gebiete siehe Murray, UN Trusteeship System (1957), S. 203 f. 1113 Da das Kosovo in keine der in Art. 77 SVN genannten Kategorien fällt, lehnen Zimmer- 218 Vereinten Nationen dem Treuhandsystem zu unterstellen. Das Kosovo, so wird vielfach vertreten, könne als Teil des UN-Mitglieds Jugoslawien deshalb nicht als Treuhandgebiet verwaltet werden.1114 Art. 78 SVN stünde bei strikter Anwendung auch einer Treuhandverwaltung Afghanistans und des Iraks entgegen.1115 Indes erscheint eine solche enge Auslegung nicht zwingend. Art. 78 SVN ist speziell aufgrund der Befürchtungen des Libanons und Syriens in die UN-Charta aufgenommen worden.1116 Beide Gründungsmitglieder der Vereinten Nationen waren bis 1939 Völkerbundsmandatsgebiete Frankreichs, deren Unabhängigkeit infolge des Ausbruchs des zweiten Weltkriegs aber nicht mehr von Frankreich und vom Völkerbund förmlich bestätigt worden waren.1117 Art. 78 SVN sollte klarstellen, dass das französische Mandat nicht wiederhergestellt werden konnte.1118 Art. 78 SVN soll somit die Souveränität der Mitgliedstaaten schützen. Wie bereits ausgeführt kann ein Staat aber auch auf seine Verwaltungsmacht ganz oder teilweise verzichten.1119 In einem solche Fall wäre der Schutzzweck nicht erfüllt, so dass Art. 78 SVN einer Treuhandverwaltung nicht entgegenstünde.1120 Ferner betrifft Art. 78 SVN ohnehin eher den Fall einer Treuhandverwaltung durch einen Einzelstaat als eine durch die Vereinten Nationen. Denn das von Art. 78 zweiter Halbsatz SVN genannte Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten kann mann/Stahn, Nordic JIL 70 (2001), 423 (436), bereits aus diesem Grund eine Treuhandverwaltung des Gebietes nach Kapitel XII der Charta ab. Ähnlich für Staaten als Treuhandgebiete allgemein Gordon, Cornell I.L.J. 28 (1995), 301 (311 f.). 1114 Ruffert, ICLQ 50 (2001), 613 (630); Zimmermann/Stahn, Nordic JIL 70 (2001), 423 (436). 1115 So für UN-Mitgliedstaaten allgemein auch Yannis, EJIL 13 (2002), 1037 (1041). Gordon, Cornell I.L.J. 28 (1995), 301 (345) schlägt daher vor, failed states zunächst aus der UN auszuschließen, bevor man sie dem Treuhandsystem unterstellt. 1116 Zur Entstehungsgeschichte siehe Lamouri, Article 78 (1991), 1139 .. 1117 Lamouri, Article 78 (1991), 1139 .-1142. 1118 Rauschning, Article 78 (2002), Rn. 1. Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 574, weist daraufhin, dass Art. 78 SVN insofern überflüssig ist, als dass ein Gebiet nur mit Zustimmung des verfügungsberechtigten Staates in das Treuhandsystem eingebracht werden kann. Da Libanon und Syrien – als UN Gründungsmitglieder – selbständige Staaten waren, wäre eine solche Unterstellung ohnehin nur mit ihrer Zustimmung möglich gewesen. 1119 Siehe oben 3.Kp. A.II. 1120 Stahn, ZaöRV 61 (2001), 107 (119). 219 nur im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten untereinander, nicht in ihrem Verhältnis zur Organisation gelten. Sofern die Verwaltung eines Krisengebietes im Übrigen der Wahrung des Weltfriedens dient, erfüllen die Vereinten Nationen damit eine ihrer wichtigsten satzungsmäßigen Aufgaben (vgl. Art. 1 I, 11 und 24 I der Charta). Im Hinblick darauf sollte Art. 78 nicht so ausgelegt werden, dass die UN an der effektiven Wahrnehmung ihrer Aufgaben gehindert würde1121. Eine weitere Hürde stellte Art. 75 SVN auf, der die Unterstellung eines Gebietes unter das Treuhandsystem vom Abschluss eines Treuhandvertrages abhängig macht.1122 Da ein Staat auf die Ausübung ihm zustehender Rechte verzichten kann, wäre es völkerrechtlich grundsätzlich möglich, dass ein Staat sich selbst ganz oder teilweise dem Treuhandregime unterstellt.1123 Schwieriger würde es jedoch, wenn die Vertreter des betroffenen Gebietes den Abschluss eines solchen Abkommens verweigerten oder es im Falle eines failed state ganz an hinreichend legitimierten Vertretern fehlte. Möglicherweise könnte der Sicherheitsrat deren Zustimmung durch eine Resolution auf der Grundlage von Kapitel VII der Charta ersetzen.1124 Rechtsgrundlage einer solchen Verwaltung wäre dann aber in erster Linie Kapitel VII der Charta, Kapitel XII und XIII regelten lediglich die Art und Weise der UNGebietsverwaltung. III. Ergebnis Im Ergebnis bietet das Treuhandsystem der Charta nur für eine UNGebietsverwaltung mit Zustimmung des betroffenen Staates eine hinreichende Rechtsgrundlage, und auch diese nur mit einem nicht unerheblichen Auslegungsaufwand. Letztlich sind die Kapitel XII und XIII der Charta auf ein 1121 Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 304 f. 1122 Seinen notwendigen Inhalt legt Art. 81 SVN fest. 1123 Gordon, Cornell I.L.J. 28 (1995), 301 (324). Staaten können grundsätzlich vollständig auf ihre Souveränität verzichten und ihren Beitritt zu einem anderen Staat erklären. Siehe dazu Anzelotti (Sep. Op.), StIGH, Customs Régime between Germany and Austria (Protocol of March 19th, 1931), Gutachten vom 5.9.1931, PCIJ Series A/B, Bd. I, Fall Nr. 41, 55 (59). 1124 Ablehnend aufgrund der von ihr vertretenen engen Auslegung der Art. 77 und 78 SVN Gordon, Cornell I.L.J. 28 (1995), 301 (326). 220 bestimmtes historisches Phänomen zugeschnitten. Mit dem Abschluss der Dekolonialisierung haben sie ihren Anwendungsbereich verloren. Da sie nicht flexibel genug gefasst sind, erscheint es schwierig, ihnen de lege lata neue Anwendungsbereiche zu erschließen.1125 Mit Verweis auf seinen kolonialen Kontext hat sich daher jüngst der von UN-Generalsekretär Kofi Annan eingesetzte High Level Panel on Threats, Challenges and Change für eine Abschaffung des Treuhandrates ausgesprochen.1126 Rechtlich wäre es allerdings aufgrund ihrer kolonialen Vergangenheit ohne weiteres möglich gewesen, Libyen, Namibia und Osttimor einer UN-Treuhandverwaltung zu unterstellen. Das die UN diesen Weg nicht gewählt hat, mag aber eher tatsächliche denn rechtliche Gründe haben: Das Treuhandsystem mit seinen jährlichen Berichtspflichten und Sitzungen ist auf einen längeren Verwaltungszeitraum angelegt.1127 Die genannten Gebiete sollten aber möglichst zügig in die Unabhängigkeit geführt werden. Umgekehrt sollte die freie Stadt Jerusalem als corpus separatum und nicht als Treuhandgebiet durch den Treuhandrat verwaltet werden, weil ihr Regime auf Dauer angelegt war, Jerusalem mithin entgegen Art. 76 (b) SVN nicht auf Selbstverwaltung oder gar Unabhängigkeit vorbereitet werden sollte.1128 1125 Zweifelnd auch Gordon, Cornell I.L.J. 28 (1995), 301 (346). UN, Threats, Challenges and Change (2004), § 299: „Chapter 13 [of the Charter] (The Trusteeship Council) should be deleted. (…) The United Nations should turn its back on any attempt to return to the mentalities and forms of colonialism.” Zur Diskussion um eine Wiederbelebung des Treuhandrates mit neuen Aufgaben aus dem Umweltvölkerrecht siehe Schroeder, Schutz der Umwelt (2005), S. 264-273. 1126 1127 Zu den Berichtspflichten siehe Art. 88 SVN. 1128 Zum Projekt einer freien Stadt Jerusalem siehe bereits oben 2.Kp. C. 221 4. Kapitel: D i e G r e n z e n d e r Ve r w a l t u n g s kompetenz unter Kapitel VII der Charta Wurden im vorangegangenen Teil die in Frage kommenden Rechtsgrundlagen einer Gebietsverwaltung durch die Vereinten Nationen behandelt, sollen im Folgenden die Grenzen ihrer Verwaltungskompetenz näher untersucht werden. Ging es zunächst um das „Ob“ einer solchen Verwaltung, wird es nun um das „Wie“ ihrer Ausführung gehen. Mit der Übernahme der Verwaltungshoheit über ein Krisengebiet setzen sich die Vereinten Nationen gleichsam an die Stelle des für das Gebiet zuständigen Staates und üben selbst die territoriale Staatsgewalt aus. Neben personellen und logistischen Problemen, welche die Übernahme der Verantwortung für ein Krisengebiet den Vereinten Nationen bereitet, betreten sie mit der Ausübung territorialer Hoheitsgewalt auch rechtlich Neuland. Anders als sonst handelt die UN nicht mehr auf interstaatlicher Ebene, sondern trägt unmittelbar und allein die Verantwortung für Wohl und Wehe der Menschen in den verwalteten Gebieten. Ihr Gegenüber sind nicht mehr Staaten, sondern Individuen und Gruppen. Dass ihnen dieser Schritt rechtlich gestattet ist, wurde im vorangegangenen Kapitel dargelegt. Es bleibt zu klären, welche materiellen Grenzen den Vereinten Nationen bei der Verwaltung eines Krisengebietes gesetzt sind. Solche können sich aus Völkervertragsrecht ergeben, beispielsweise aus den unter dem Dach der UN geschlossenen Menschenrechtspakten. Sie können sich aber auch aus Völkergewohnheitsrecht und den Grundprinzipien des allgemeinen Völkerrechts ergeben. Dazu gehören die Menschenrechte, soweit sie gewohnheitsrechtlich verbürgt sind, der Grundsatz der Staatensouveränität und das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Grenzen und begrenzende Rechte können sich aber auch unmittelbar aus der Charta selbst ergeben. Ferner ist zwischen den einzelnen in Frage kommenden Rechtsgrundlagen zu unterscheiden. So ist bei konsensgestützten Operationen des Sicherheitsrates (Art. 24 Abs. 1 SVN) oder der Generalversammlung die Zustimmung des betroffenen Staates von großer Bedeutung und entscheidet mit über Umfang und Grenzen des 222 Verwaltungsmandats der Vereinten Nationen.1129 Dagegen handelt es sich bei der Gebietsverwaltung auf der Grundlage von Kapitel VII der Charta um eine gleichsam unilaterale Befugnis des Sicherheitsrates, deren Grenzen mithin autonom, d.h. unabhängig vom Willen der betroffenen Staaten, zu bestimmen sind. Es bietet sich daher an, bei der Bestimmung der inhaltlichen Grenzen der UNVerwaltungsmacht zwischen konsensgestützten Missionen und Kapitel-VII- Operationen zu unterscheiden. Da zumindest gegenwärtig allein letztere von praktischer Bedeutung sind, soll hier mit der Bestimmung ihrer Grenzen begonnen werden. Die rechtlichen Grenzen konsensgestützter Verwaltungsmissionen werden im anschließenden fünften Kapitel dargelegt, wenn und soweit sie sich von denen einer Zwangsverwaltung unterscheiden. Während der Sicherheitsrat zumindest im Rahmen von Kapitel VII der Charta von einigen seiner „Väter“ als ein über Recht und Gesetz stehendes Organ der internationalen Gemeinschaft gesehen wurde,1130 hat sich heute allgemein die Auffassung durchgesetzt, dass auch er in der Wahrnehmung seiner Befugnisse aus Kapitel VII rechtlichen Bindungen unterliegt.1131 Weitgehend unklar und nach wie vor strittig sind dagegen Umfang und Reichweite dieser Bindungen. Die Schwierigkeiten bestehen darin, dass die Charta selbst keine genaueren Regelungen enthält1132 und detailliertere multilaterale Verträge nicht unmittelbar anwendbar sind, da die Vereinten Nationen diese nicht unterzeichnet haben. Auch ist noch immer 1129 Siehe dazu oben 3.Kp. B.II.2 (Sicherheitsrat) und E.I.3 (Generalversammlung). 1130 Verwiesen sei hier nur auf das berühmte Zitat des damaligen amerikanischen Außenministers John Foster Dulles: „The Security Council is not a body that merely enforces agreed law. It is a law unto itself. (…) No principles of law are laid down to guide it; it can decide in accordance with what it thinks is expedient” (Dulles, War or Peace (1950), S. 194 f.). In diese Richtung auch Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 294, ferner Schwebel, Diss. Op., IGH, Nicaragua (merits), ICJ-Rep. 1986, 259 (290 § 60), und Pellet, in: Stern (Hrsg.), La crise du Golfe (1991), S. 490. 1131 Siehe beispielsweise Jennings, Diss. Op., IGH, 1971 Montreal Convention (prelim. obj.), ICJ-Rep. 1998, 99 (110): „The first principle of the applicable law is this: that all discretionary powers of lawful decision-making are necessarily derived from the law, and are therefore governed and qualified by the law. This must be so if only because the sole authority of such decisions flows itself from the law. It is not logically possible to claim to represent the power of authority of the law, and at the same time, claim to be above the law.” Ablehnend nur der bewusst als provozierende Polemik gefasste Aufsatz Oosthuizen, Leiden JIL 12 (1999), 549-563 und die in der vorangegangenen Fußnote Genannten. 223 umstritten, inwieweit der Sicherheitsrat an Völkergewohnheitsrecht gebunden ist. Entzündet hat sich die jüngste Debatte an dem hier behandelten Phänomen der vom Sicherheitsrat angeordneten UN-Verwaltung von Krisengebieten.1133 Bereits zuvor ausführlich behandelt wurde die Frage der Bindung des Sicherheitsrates an das allgemeine Völkerrecht aus Anlass der Verhängung weitreichender Wirtschaftssanktionen gegen den Irak und andere Staaten in der ersten Hälfte der neunziger Jahre.1134 Grundsätzlich kann eine Rechtsbindung des Sicherheitsrates auf drei verschiedene Arten begründet werden: intern (A.), extern (B) und mittelbar (C).1135 Eine interne Bindung besteht insoweit, als das Binnenrecht der Vereinten Nationen selbst dem Sicherheitsrat gewisse Beschränkungen auferlegt. In Betracht kommt dabei neben Primärrecht der Charta auch eine Selbstbindung der UN durch eigenes Handeln. Extern ist eine Rechtsbindung, die auf der Völkerrechtssubjektivität der Vereinten Nationen beruht. Als Völkerrechtssubjekt können die UN und der Sicherheitsrat als ihr Organ grundsätzlich auch Adressaten völkerrechtlicher Pflichten sein. Mittelbar ließe sich eine Beschränkung der Rechte und Pflichten des Sicherheitsrates damit begründen, dass er keine originären Kompetenzen besitzt. Seine Befugnisse leiten sich vielmehr von den Mitgliedstaaten ab.1136 Nach dem bereits erörterten nemo transferre-Grundsatz1137 könnten diese ihm jedoch nicht mehr Rechte zuweisen, als sie selbst besitzen. Die den Mitgliedstaaten durch das Völkerrecht auferlegten 1132 Schweigman, Authority (2001), S. 166. 1133 Siehe die ansatzweise Diskussion bei Irmscher, GYIL 44 (2001), 353-395; Kondoch, JC&SL 6 (2001), 245 (257-265); Stahn, MP-UNYB 5 (2001), 105 (148-170); Stahn, ZaöRV 61 (2001), 107 (137-165); Zimmermann/Stahn, Nordic JIL 70 (2001), 423 (444-448); Mégret/Hoffmann, HRQ 25 (2003), 314 (316); von Carlowitz, AVR 41 (2003), 336 (362-374); Zygojannis, Die Staatengemeinschaft und das Kosovo (2003), S. 239-246; de Wet, MP-UNYB 8 (2004), 291 (318329). 1134 Siehe dazu beispielsweise Reisman/Stevick, EJIL 9 (1998), 86-141; Reinisch, AJIL 95 (2001), 851-872, und Lysen, Nordic JIL 72 (2003), 291-304. Ausführlicher Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), Gowlland-Debbas, in: dies. (Hrsg.), UN Sanctions (2001), und Oette, Wirtschaftssanktionen (2003), jeweils mit weiteren Nachweisen zur Literatur. 1135 Diese Unterscheidung geht zurück auf Mégret/Hoffmann, HRQ 25 (2003), 314 (317 f.). 1136 Besonders deutlich macht dies Art. 24 Abs. 1 SVN. 1137 Sie oben 3.Kp. D.I.4. 224 Beschränkungen entfalteten so ihre Wirkung mittelbar auch gegenüber dem Sicherheitsrat.1138 Im Folgenden werden diese drei möglichen Quellen einer Rechtsbindung des Sicherheitsrates jeweils getrennt untersucht (A.-C.). Anhand der so gewonnenen Erkentnisse wird sodann abstrakt dargelegt, welchen rechtlichen Beschränkungen der Sicherheitsrat bei der Verwaltung von Krisengebieten auf der Grundlage von Kapitel VII der Charta unterliegt (D.). Auf der Grundlage dieser Überlegungen werden sodann eine Reihe exemplarischer Rechtsfragen untersucht, die sich in der Praxis einer UN-Gebietsverwaltung als problematisch erwiesen haben (E.) A. Organisationsinterne Grenzen der Verwaltungskompetenz des Sicherheitsrates Grenzen der Befugnisse des Sicherheitsrates können sich zunächst aus dem Recht der Organisation selbst ergeben. Erster Ansatzpunkt für eine rechtliche Analyse ist die Charta, die den Sicherheitsrat ins Leben gerufen und ihm seine Aufgaben und Befugnisse zugewiesen hat (I.-IV.). Dass der Sicherheitsrat grundsätzlich an die Charta gebunden ist, darf heute als gesicherte Erkenntnis gelten.1139 Neben dieser primärrechtlichen Bindungen ist aber auch zu untersuchen, inwiefern er durch Sekundärrechtsakte der Vereinten Nationen in seinen Befugnissen eingeschränkt wird (V.). Zu diesen gehören sowohl eigene Rechtsakte des Sicherheitsrates und anderer UN-Organe, als auch Erklärungen und tatsächliche Handlungen der 1138 Schermers/Blokker, International Institutional Law (1995), § 1574. Dagegen geht es nicht um jene Beschränkungen, welche die jeweiligen nationalen Verfassungen den einzelnen Mitgliedstaaten etwa in Gestalt nationaler Grundrechte auferlegen. Für eine internationale Organisation mit universeller Mitgliedschaft können nur die allen Mitgliedstaaten gemeinsamen völkerrechtlichen Beschränkungen von Bedeutung sein, nicht aber individuelle nationale Sonderregeln. Zur vergleichbaren Diskussion einer Bindung der EG an nationale Grundrechte siehe die Nachweise unten in Fn. 1404. IGH, Conditions of Admission (Gutachten), ICJ-Rep. 1947/48, 57 (64); ICTY, Tadič-Fall (Entscheidung v. 2.10.1995), abgedr. in: ILM 35 (1996), 32 (42 § 28); ICTR, Kanyabashi-Fall (Entscheidung v. 18.6.1997), § 20; Fitzmaurice, Diss. Op., IGH, Namibia-Gutachten, ICJ-Rep. 1971, 220 (280 §90); Skubiszewski, in: FS Jennings (1996), S. 627; Martenczuk, Rechtsbindung und Rechtskontrolle (1996), S. 163; Bauer, Effektivität und Legitimität (1996), S. 209-213; Herbst, Rechtskontrolle (1999), S. 292-304; Martenczuk, EJIL 10 (1999), 517 (534-539); Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 139 f., Schweigman, Authority (2001), S. 165; Delbrück, Art. 24 SVN (2002), Rn. 3; Oette, Wirtschaftssanktionen (2003), S. 216-220; Shaw, Int’l. Law (2003), S. 1148; jeweils m.w.N. 1139 225 Organisation, Selbstbindung die unter der Umständen Organisation nach führen estoppel-Grundsätzen können. Diesen zu einer primär- und sekundärrechtlichen Bindungen soll im Folgenden nachgegangen werden. I. Funktionale Grenze aus Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen Die naheliegendsten internen Beschränkungen der Verwaltungsmacht des Sicherheitsrates sind jene, die sich unmittelbar aus der gewählten Rechtsgrundlage ergeben. Kapitel VII der Charta setzt dem Sicherheitsrat bei der zwangsweisen Verwaltung von Krisengebieten funktionale Grenzen. Aus Art. 39, 2. Halbsatz und Art. 42 Satz 1 SVN folgt, dass nur solche Maßnahmen auf Grundlage von Art. 41 und 42 SVN ergriffen werden dürfen, die der Wiederherstellung oder Wahrung des Weltfriedens dienen.1140 Nur zu diesem Zweck ist der Eingriff in die Souveränität des betroffenen Staates gerechtfertigt.1141 Nicht nur die Einrichtung, sondern auch die Aufrechterhaltung einer auf Kapitel VII gestützten Gebietsverwaltung setzt daher voraus, dass sie zur Friedenserhaltung in irgendeiner Weise beiträgt. Ist das Gebiet so stabilisiert, dass von ihm keine Bedrohung des Weltfriedens mehr ausgeht, kann eine UN-Verwaltung nicht mehr auf die Art. 41 und 42 der Charta gestützt werden.1142 Dies bedeutet jedoch nicht, dass Kapitel VII der Charta nur solche Maßnahmen zuließe, die der kurzfristigen Befriedung des Gebietes dienten, während die eigentliche Verwaltung und der staatliche Wiederaufbau allein auf die PeacekeepingBefugnis und die Zustimmung des betroffenen Territorialstaates gestützt werden könnte. Wie bereits ausgeführt, umfasst die Befugnis aus Art. 41 und 42 SVN grundsätzlich alle Maßnahmen territorialer Verwaltung, sofern diese für die effektive und nachhaltige Beseitigung der Friedensbedrohung erforderlich sind. 1143 Eine wie 1140 Angelet, in: Gowlland-Debbas (Hrsg.), United Nations Sanctions (2001), 72; Tomuschat, in: FS Kooijmans (2002), S. 340. 1141 Herdegen, Autoritative Konkretisierung (1995), S. 103 u. 107. 1142 Kondoch, JC&SL 6 (2001), 245 (261); Bothe/Marauhn, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the International Community (2002), S. 236; Marauhn, AVR 40 (2002), 480 (506). 1143 Siehe dazu oben 3.Kp. C.I.2.b. 226 auch immer geartete Zustimmung des Territorialstaats ist nicht erforderlich.1144 Als actus contrarius zur Feststellung einer Friedensbedrohung obliegt auch die Feststellung ihres Wegfalls in erster Linie dem Sicherheitsrat, der auch in diesem Fall über ein weites Ermessen verfügt. Nichtsdestotrotz ist er nicht berechtigt, eine UN-Verwaltung aufrechtzuerhalten, wenn von dem verwalteten Gebiet objektiv keine Bedrohung für den Weltfrieden mehr ausgeht. Daraus folgt, dass eine auf Art. 41 und 42 SVN gestützte internationale Verwaltung kein Selbstzweck sein kann, sondern darauf abzielen muss, sich selbst überflüssig zu machen. Sie muss prinzipiell einen transitorischen Charakter haben und darf nicht als dauerhafte Einrichtung konzipiert sein.1145 Sie kann aber von einiger Dauer sein. Kapitel VII setzt ihr keine unmittelbaren zeitlichen Grenzen, sondern schreibt lediglich ihren Zweck vor. Kann dieser nur durch eine dauerhafte internationale Verwaltung erreicht werden, steht zumindest Kapitel VII dem nicht im Weg.1146 Dessen ungeachtet kann sich eine absolute zeitliche Grenze unter Umständen aus anderen völkerrechtlichen Normen ergeben. In Betracht kommen insbesondere der auch von den Vereinten Nationen zu beachtende Grundsatz der Staatensouveränität (Art. 2 Ziff. 7 SVN) oder das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Art. 1 Ziff. 2 SVN).1147 II. Die Bindung des Sicherheitsrates an die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen (Art. 24 Abs. 2 Satz 1 SVN) Art. 24 Abs. 2 Satz 1 der Charta verpflichtet den Sicherheitsrat zur Beachtung der Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen.1148 Aus dem Wortlaut, insbesondere 1144 Siehe dazu bereits oben 3.Kp. C.III. 1145 Bothe/Marauhn, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the International Community (2002), S. 236. 1146 So allgemein für Maßnahmen auf der Grundlage von Art. 41 SVN Tomuschat, in: FS ArangioRuiz (2004), S. 1759. Allerdings handelt es sich um eine eher theoretische Frage, da kaum denkbar erscheint, dass die Verwaltung eines Krisengebietes durch die UN dauerhaft die einzige Möglichkeit bleibt, die von dem Gebiet ausgehende Friedensbedrohung zu beseitigen. Dies zeigt nicht zuletzt der Umstand, dass es einen solchen Fall dauerhafter internationaler Verwaltung bisher nicht gegeben hat und sich auch im Falle des auf Dauer angelegten Freien Territoriums Triest im Ergebnis nicht als erforderlich erwiesen hat. 1147 Siehe dazu unten 4.Kp. E.II und III. 1148 Zur Frage, ob diese Norm lediglich deklaratorischen Charakters ist, weil sich eine entsprechende Bindung bereits aus der Eigenschaft des Sicherheitsrates als Organ der Organisation ergibt, siehe 227 der Großschreibung von „Ziele und Grundsätze“ im englischen, französischen und spanischen Original, ergibt sich, dass es sich hierbei um einen direkten Verweis auf die ersten beiden Artikel der Charta handelt.1149 Auch die Präambel wird man zur näheren Bestimmung der Ziele und Grundsätze heranziehen dürfen.1150 Dass Art. 1 und 2 SVN sehr offen und unpräzise formuliert sind,1151 hindert sie nicht daran, einen rechtlichen Maßstab und eine Grenze für die Handlungen des Sicherheitsrates zu bilden.1152 So geht auch der IGH davon aus, dass die Ziele und Grundsätze der Organisation justiziable Normen enthalten. Er stellte beispielsweise fest, dass der durch die Errichtung eines Apartheidssystems in Namibia bedingte Entzug fundamentaler Menschenrechte einen schwerwiegenden Verstoß Südafrikas gegen die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen bedeutete.1153 Gleiches stellte der IGH hinsichtlich der Geiselnahme amerikanischer Diplomaten im befürwortend Martenczuk, Rechtsbindung und Rechtskontrolle (1996), S. 157 f., sowie ablehnend Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 142 f., und Schweigman, Authority (2001), S. 168 (jeweils m.w.N.). 1149 Goodrich/Hambro, UN Charter (1949), S. 207; Dicke-Rengeling, Sicherung des Weltfriedens (1975), S. 58; diesen folgend Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 144; Tomuschat, in: FS Kooijmans (2002), S. 340. Im Ergebnis auch Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 287 f.; Degni-Segui, Article 24 (1991), 447 (462); Herbst, Rechtskontrolle (1999), S. 298;Schweigman, Authority (2001), S. 167. 1150 Fassbender, UN Security Council Reform and the Right of Veto (1998), S. 316; Schweigman, Authority (2001), S. 169. Gill, NYIL 26 (1995), 33 (73). Allgemein zur Charta Watson, Harvard ILJ 34 (1993), 1 (34): „The Bill of Rights may seem hopelessly vague to students of the U.S. Constitution, but it is a model of clarity and detail compared with the corresponding provisions of the U.N. Charter.” 1151 1152 So aber Randelzhofer, in: Wolfrum (Hrsg.), United Nations (1995), S. 996 Rn. 7; Martenczuk, Rechtsbindung und Rechtskontrolle (1996), S. 208-213, Martenczuk, EJIL 10 (1999), 517 (537). Zweifelnd auch Koskenniemi, EJIL 6 (1995), 325 (327): „Textual constraint is practically nonexistent”, und Frowein/Krisch, Introduction to Chapter VII (2002), Rn. 26: „guidelines rather than concrete limits”. Für eine rechtlich begrenzende Wirkung dagegen Gowlland-Debbas, AJIL 88 (1994), 643 (663); Akande, ICLQ 46 (1997), 309 (317); Fassbender, UN Security Council Reform and the Right of Veto (1998), S. 316; Schweigman, Authority (2001), S. 168; Doehring, SelfDetermination (2002), Rn. 1; Shaw, Int’l. Law (2003), S. 1148; de Wet, Chapter VII Powers (2004), S. 191. Richter Weeramantry führt dazu in seinem Sondervotum im Lockerbie-Fall aus: „The duty is imperative and the limits are categorically stated.“ (Weeramantry, Diss. Op., IGH, 1971 Montreal Convention (prov. measures ), ICJ-Rep. 1992, 169 [171]). IGH, Namibia-Gutachten, ICJ-Rep. 1971, 16 (57, § 131): „To establish (...), and to enforce, distinctions, exclusions, restrictions and limitations exclusively based on grounds of race, color, descent or national or ethnic origin which constitute a denial of fundamental human rights is a flagrant violation of the purposes and principles of the Charter.“ 1153 228 Teheraner-Geisel-Fall fest.1154 Art. 1 Ziff. 3 SVN enthält somit trotz seines vagen Wortlauts menschenrechtliche Verpflichtungen,1155 die nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern gemäß Art. 24 Abs. 2 Satz 1 SVN auch den Sicherheitsrat treffen. Gleiches muss auch für Art. 1 Ziff. 2 SVN im Hinblick auf das dort angesprochene Selbstbestimmungsrecht gelten.1156 Auch der Sicherheitsrat selbst hat sich regelmäßig zu der Verpflichtung auf die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen bekannt.1157 Innerhalb des ihm von der Charta gegebenen weiten Ermessens- oder Beurteilungsspielraumes sollte die Bindung an die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen nach dem Willen der Gründungsstaaten die einzige Grenze der Sicherheitsratsbefugnisse unter Kapitel VII der Charta sein.1158 Damit ist noch nichts zum genauen Umfang dieser Verpflichtungen gesagt.1159 Zunächst reicht aber die Feststellung aus, dass sich grundsätzlich solche Verpflichtungen aus den Zielen und Grundsätzen der Organisation ergeben können. 1. Die relevanten Ziele und Grundsätze Während sich die Ziele des Art. 1 SVN allein auf die Vereinten Nationen beziehen, richten sich die in Art. 2 SVN niedergelegten Grundsätze in erster Linie an die IGH, Diplomatic and Consular Staff (Judgment), ICJ-Rep. 1980, 3 (42, § 91): „Wrongfully to deprive human beings of their freedom and to subject them to physical constraint in conditions of hardship is in itself manifestly incompatible with the principles of the Charter of the United Nations (…).” 1154 1155 Schwelb, Human Rights Clauses, AJIL 66 (1972), 337 (348 f.), ihm folgend Schwebel, Human Rights (1996), S. 336. 1156 Doehring, Self-Determination (2002), Rn. 1. 1157 Siehe beispielsweise Annex I, S/RES/1318 (2000) vom 7.9.2000 oder Präambel-§ 6 S/RES/1296 (2000) vom 19.4.2000. Weitere Nachweise bei Herbst, Rechtskontrolle (1999), S. 303; und Oette, Wirtschaftssanktionen (2003), S. 219. 1158 Akande, ICLQ 46 (1997), 309 (316). Siehe auch Degni-Segui, Article 24 (1991), 447 (467); und Ratner, in: Malone (Hrsg.), Security Council (2004), S. 592 f. Dass Art. 24 Abs. 2 Satz 1 SVN dem Sicherheitsrat nicht erlaubt, die in anderen als Art. 1 und 2 SVN niedergelegten Voraussetzungen seines Tätigwerdens zu ignorieren, hat der IGH bereits in seinem Gutachten betreffend der Zulassung von Staaten zu den Vereinten Nationen festgestellt (IGH, Conditions of Admission (Gutachten), ICJRep. 1947/48, 57 [64]). 1159 Konkret zu den Grenzen, die sich aus einzelnen Menschenrechten, dem Selbstbestimmungsrecht und dem Recht der Staaten auf Achtung ihrer territorialen Integrität ergeben können, siehe unten 4.Kp. E. 229 Mitgliedstaaten. Aus Art. 2 SVN lassen sich daher materielle Grenzen für die Befugnisse des Sicherheitsrates nur aus seiner Ziffer 1 (souveräne Gleichheit der Staaten) und seiner Ziffer 7 (innere Angelegenheiten der Mitgliedstaaten) herleiten.1160 Im Kontext einer durch den Sicherheitsrat eingerichteten Zwangsverwaltung eines Krisengebietes sind dabei vor allem jene Ziele und Grundsätze von Bedeutung, die Rechte der Staaten gegenüber der UN (Art. 1 Ziff. 1 sowie Art. 2 Ziff. 1 und Ziff. 7 SVN), das Selbstbestimmungsrecht (Art. 1 Ziff. 2 SVN) und die Wahrung der Menschenrechte (Art. 1 Ziff. 3 SVN) betreffen. a. Friedenssicherung Als erstes Ziel nennt Art. 1 Ziff. 1 SVN die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit, dessen Erreichen gemäß Art. 24 Abs. 1 SVN die Hauptaufgabe des Sicherheitsrates ist und der sich zu diesem Zweck unter Anderem der ihm in Kapitel VII der Charta eingeräumten Befugnisse bedienen darf. Die Verwaltungskompetenz des Sicherheitsrates begrenzt das in Art. 1 Ziff. 1 SVN genannte Ziel jedoch zunächst nur insoweit, als eine Gebietsverwaltung die Wahrung des Weltfriedens nicht beeinträchtigen darf. Eine entsprechende Beschränkung der Verwaltungskompetenz ergibt sich aber bereits aus Art. 24 Abs. 1 und Art. 39 SVN, sodass Art. 1 Ziff. 1 SVN insofern als Befugnisschranke unergiebig ist.1161 b. Selbstbestimmungsrecht der Völker und Menschenrechte Eine Begrenzung der Verwaltungskompetenz könnten jedoch das in Art. 1 Ziff. 2 SVN genannte Selbstbestimmungsrecht und die in Art. 1 Ziff. 3 SVN aufgeführten Menschenrechte und Grundfreiheiten darstellen.1162 Indes lässt sich dem Wortlaut der Normen noch keine unmittelbare Bindung des Sicherheitsrates an diese Rechtssätze entnehmen. Denn Art. 1 Ziff. 2 SVN ist lediglich als Zielbestimmung 1160 Art. 2 Ziff. 6 SVN richtet sich zwar an die Organisation, enthält aber eine Aufgabenzuweisung, keine Kompetenzbegrenzung. Siehe hierzu Vitzthum, Art. 2 Ziff. 6 SVN (2002), Rn. 23. 1161 Siehe aber nachfolgend (4.Kp. A.III und B.III) die Diskussion der Frage, welche Auswirkungen die in Art. 1 Ziff. 1 SVN getroffene Unterscheidung zwischen kollektiven Maßnahmen und friedlicher Streitbeilegung für die Bindung des Sicherheitsrates an allgemeines Völkerrecht hat. 1162 Zu Recht weist jedoch Tomuschat, Human Rights (2003), S. 128, darauf hin, dass der Sicherheitsrat ursprünglich nicht als Organ zum Schutz der Menschenrechte konzipiert wurde. 230 formuliert:1163 „2. To develop friendly relations among nations based on the respect for the principal of equal rights and self-determination of peoples (...).“ Die eigentliche Pflicht zur Beachtung des Selbstbestimmungsrechts obliegt dem Wortlaut nach nicht den Vereinten Nationen, sondern Mitgliedstaaten, die es in ihren Beziehungen untereinander beachten sollen. Dagegen ist die Organisation nur damit beauftragt, für die Entwicklung derartiger zwischenstaatlicher Beziehungen zu sorgen. Ähnliches gilt gemäß Art. 1 Ziff. 3 SVN für die Förderung der Menschenrechte: „3. To achieve international co-operation in (…) promoting and encouraging respect for human rights and for fundamental freedoms for all without distinction as to race, sex, language, or religion (…).” Auch hier sollen die Vereinten Nationen lediglich eine internationale Zusammenarbeit bei der weltweiten Förderung der Einhaltung der Menschenrechte sicherstellen.1164 Dennoch erstarken diese Zielbestimmungen im Kontext einer unmittelbaren Gebietsverwaltung durch die UN zu einer Rechtspflicht zur Beachtung und zum Schutz der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts. Für die Menschenrechte ergibt sich dies bereits aus Art. 55 lit.c) SVN, der den Vereinten Nationen die Förderung der universellen Beachtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten auferlegt. Universell kann in diesem Zusammenhang letztlich aber nur eine Beachtung dieser Normen durch alle relevanten Akteure sein, mithin auch 1163 Cassese, Political Self-Determination (1979), S. 138. 1164 Kritisch daher zur Gleichstellung der Pflicht zur Förderung mit einer Pflicht zur Gewährleistung von Menschenrechten Mégret/Hoffmann, HRQ 25 (2003), 314 (324). Wie hier auch Goodrich/Hambro/Simons, UN Charter (1969), S. 35. Partsch, in: Wolfrum (Hrsg.), United Nations (1995), S. 606 Rn. 14, beschreibt die Verankerung der Menschenrechte in der Charta als „a programme for further action [which] leaves wide discretion to UN organs to determine which human rights shall be protected and how this protection shall be organized.“ Die vom ECOSOC eingesetzte UN Menschenrechtskommission vertrat bis in die späten 1960er Jahre eine sehr zurückhaltende „no power to take action“-Doktrin, weil den UN eben nur die Förderung (promotion), nicht aber der Schutz (protection) der Menschenrechte aufgetragen sei (Nowak, Human Rights Regime (2003), S. 106). 231 durch die Organisation selbst und ihre Organe.1165 Ferner agieren die Vereinten Nationen als Verwaltungsmacht nicht mehr rein zwischenstaatlich auf internationaler Ebene, sondern üben unmittelbare Hoheitsbefugnisse gegenüber der Bevölkerung eines Gebietes aus. Somit hat die UN selbst die Möglichkeit, unmittelbar auf die völkerrechtlich geschützten Rechtspositionen der Bewohner einzuwirken. Es fehlt insoweit an einem zwischengeschalteten Staat, den die UN durch die Entwicklung und Förderung entsprechender internationaler Zusammenarbeit zu einer Achtung der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts veranlassen könnte.1166 Ihrem Auftrag aus Art. 1 Ziff. 2 und 3 SVN werden die Vereinten Nationen im Falle einer UN-Verwaltung eines Krisengebietes daher nur gerecht, wenn sie selbst die Menschenrechte und das Selbstbestimmungsrecht der Gebietsbewohner schützen und achten.1167 Zwar ließe sich streng am Wortlaut argumentieren, dass Art. 1 Ziff. 2 und Ziff. 3 SVN den Vereinten Nationen nicht auferlegt, unmittelbar die Beachtung der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts zu fördern, sondern sie lediglich dazu verpflichtet, die Entwicklung dahingehender internationaler Beziehungen zu unterstützen. Doch kann die UN die Entwicklung solcher Beziehungen nur dann wirksam fördern, wenn sie das Selbstbestimmungsrecht und die Menschenrechte selbst in jenen Situationen wahrt, in denen sie dazu in der Lage ist, weil sie selbst unmittelbar Hoheitsbefugnisse gegenüber Einzelnen und Gruppen ausübt.1168 Ihrer Förderpflicht aus Art. 1 Ziff. 2 und 3 SVN kommt die UN nur dann nach, wenn sie ihrer Vorbildfunktion in der internationalen Gemeinschaft gerecht wird, da sie nur dann auch von anderen wirksam und glaubhaft die Einhaltung menschenrechtlicher 1165 So für den Sicherheitsrat Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 155. 1166 Auf das Fehlen eines zwischengeschalteten Staates verweist auch Tomuschat, Human Rights (2003), S. 87. 1167 Für die Tätigkeit des Sicherheitsrates allgemein Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 155, und konkret für das humanitäre Völkerrecht Gasser, SZIER 4 (1994), 443 (463). 1168 Reinisch, AJIL 95 (2001), 851 (875). Ähnlich Akande, ICLQ 46 (1997), 309 (323), und Schreuer, in: FS Zemanek (1994), S. 243. 232 Standards verlangen kann.1169 Art. 24 Abs. 2 Satz 1 SVN in Verbindung mit Art. 1 Ziff. 2 und 3 SVN verpflichtet den Sicherheitsrat daher grundsätzlich, bei der Ausübung seiner Verwaltungskompetenz das Selbsbestimmungsrecht und die Menschenrechte der Bewohner des Gebiets zu beachten. Art. 1 Ziff. 2 und 3 SVN lassen offen, welchen Gehalts die vom Sicherheitsrat zu beachtenden Rechte der Gebietsbewohner sind. Lediglich das in Art. 1 Ziff. 3 SVN a.E. niedergelegte Diskriminierungsverbot wird man als hinreichend bestimmt ansehen können, um unmittelbar anwendbar zu sein. c. Souveränität der Mitgliedstaaten Deutlich schwächer ist in der Charta der Schutz der staatlichen Souveränität der Mitgliedstaaten gegenüber Zwangsmaßnahmen des Sicherheitsrates ausgestaltet. So ist der Schutz der mitgliedstaatlichen Souveränität keines der in Art. 1 SVN explizit genannten Ziele der Organisation. Die in Art. 1 Ziff. 2 und Ziff. 4 enthaltenen Verweise auf „friendly relations among nations“ und „actions of nations in the attainment of the common ends“ zeigen lediglich, dass die Charta grundsätzlich von einem Fortbestehen organisatorischer Einheiten unterhalb der Ebene der Vereinten Nationen ausgeht. Dabei spricht die Charta nur von „nations“, nicht von „states“, so dass die Erhaltung der Mitgliedstaaten und ihrer Souveränität1170 jedenfalls nicht zu den Primärzielen der Organisation gehört.1171 Explizite Verweise auf die Souveränität der Mitgliedstaaten finden sich dagegen in den Grundsätzen 1169 Ähnlich Gardam, Michigan JIL 17 (1996), 285 (322), für militärische Zwangsmaßnahmen des Sicherheitsrates. Eine vergleichbare Argumentation findet sich bei IGH, Awards of Admin. Tribunal, ICJ-Rep. 1954, 47 (57) hinsichtlich der Einrichtung eines UN-Verwaltungsgerichts für Streitigkeiten zwischen der Organisation und ihren Mitarbeitern: „It would, in the opinion of the Court, hardly be cosistent with the expressed aim of the Charter to promote freedom and justice for individuals and with the constant preoccupation of the United Nations Organization to promote this aim that it should afford no judicial or arbitral remedy to its own staff for the settlement of any disputes that may arise between it and them.“ 1170 Kelsen, Principles (1952), S. 156 f., und Fassbender/Bleckmann, Art. 2 Ziff. 1 SVN (2002), Rn. 48, folgend wird Souveränität vorliegend als Sammelbegriff für alle Rechte und Pflichten verwendet, die das gegenwärtige Völkerrecht den Staaten zugesteht. Dazu gehört insbesondere ihr Recht auf politische Unabhängigkeit und territoriale Integrität. So wandte Australien gegen das Projekt „Freies Territorium Triest“ ein, dass die Charta dem Sicherheitsrat keine Befugnis gäbe, das Fortbestehen eines Staatswesens zu garantieren (S.C.O.R., 91st mtg., 10.1.1047, S/P.V./91, 62 [63]). Zum Triest siehe bereits oben 2.Kp.B. 1171 233 („Principles“) der Vereinten Nationen. So erklärt Art. 2 Ziff. 1 SVN, dass die Organisation auf der souveränen Gleichheit ihrer Mitglieder beruht, während Art. 2 Ziff. 7 SVN der UN einen Zugriff auf den sog. domaine réservé ihrer Mitgliedstaaten untersagt. Von diesem Verbot nimmt Art. 2 Ziff. 7 SVN indes Zwangsmaßnahmen des Sicherheitsrates explizit aus.1172 Dennoch ist die Souveränität der Staaten gegenüber Zwangsmaßnahmen nicht gänzlich ungeschützt. Art. 2 Ziff. 7 SVN a.E. schneidet den Mitgliedstaaten lediglich den Einwand ab, eine Zwangsmaßnahme des Sicherheitsrates sei eine unzulässige Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten.1173 Gerade die Ausnahme des Art. 2 Ziff. 7 SVN macht aber deutlich, dass auch der Sicherheitsrat grundsätzlich zur Beachtung der Souveränität der UN-Mitglieder verpflichtet ist.1174 Die eigentliche Verpflichtung folgt jedoch aus Art. 2 Ziff. 1 SVN, der die souveräne Gleichheit der Staaten insgesamt zum Grundprinzip der Vereinten Nationen erhebt. 1175 Wie sich aus dem Wortlaut des Art. 2 SVN ergibt, bindet dieses nicht nur die Mitglieder in ihrem Verhältnis untereinander, sondern auch die Organisation selbst im Verhältnis zu ihren Mitgliedstaaten.1176 Zu Recht hat sich der Sicherheitsrat daher regelmäßig zum Schutz der staatlichen Souveränität bekannt.1177 1172 Zu Recht stellt Gill, NYIL 26 (1995), 33 (73), daher fest, dass das Interventionsverbot die Mitgliedstaaten untereinander sehr viel stärker bindet als die Organisation. 1173 In diesem Sinne auch Schweigman, Authority (2001), S. 178. Schachter, Int’l. Law (1991), S. 399; beschränkt auf den Kernbereich auch Schweigman, Authority (2001), S. 173, und de Wet, Chapter VII Powers (2004), S. 194 f. 1174 1175 Gill, NYIL 26 (1995), 33 (85). 1176 Fassbender/Bleckmann, Art. 2 Ziff. 1 SVN (2002), Rn. 47. Auch die in der Generalversammlung vereinigten UN-Mitliedstaaten bekannten sich in der Milleniums-Erklärung zur Staatensouveränität: „(...) We rededicate ourselves to support all efforts to uphold the sovereign equality of all States, respect for their territorial integrity and political independence (...)” (§ 5 A/RES/55/2 vom 8.9.2000, abgedr. in UNYB 2000, 49-54). Ähnlich auch Boutros-Ghali, Agenda for Peace (1992), § 17 u. § 30: „In these situations of internal crisis the United Nations will need to respect the sovereignty of the State; to do otherwise would not be in accordance with the understanding of Member States in accepting the principles of the Charter.” 1177 Siehe beispielsweise die Erklärung des Sicherheitsratspräsidenten S/PRST/1999/34 vom 30.11.1999; Art. I § 1 der Millenium Summit Declaration des Sicherheitsrates, S/RES/1318 (2000) Annex vom 7.9.2000 (abgedr. in UNYB 2000, 64 f.); Präambel-§ 4 S/RES/1353 (2001) vom 13.6.2001; Präambel-§ 4 S/RES/1366 (2001) vom 30.8.2001. Für die Organisation insgesamt siehe § 4 der Milleniums Declaration der Generalversammlung, einstimmig verabschiedet als A/RES/55/2 am 8.9.2000 (abgedr. in UNYB 2000, 49-54). 234 Auch wenn der Schutz der mitgliedstaatlichen Souveränitätsrechte somit nicht zu den vorgegebenen Zielen des Sicherheitsrates gehört, so ist dieser dennoch nach Art. 24 Abs. 2 Satz 1 SVN in Verbindung mit Art. 2 Ziff. 1 SVN verpflichtet, sie bei der Ausübung von Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII zu berücksichtigen,1178 wenn auch nicht zu wahren. Denn die Ausnahmeregelung des Art. 2 Ziff. 7 SVN a.E. ordnet den Schutz der mitgliedstaatlichen Souveränität klar dem Ziel der Friedenswahrung unter. Aus Art. 24 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 2 Ziff. 1 und Ziff. 7 SVN folgt daher nur, dass der Sicherheitsrat bei und durch die Einrichtung einer Zwangsverwaltung nicht weiter in die Souveränität des betroffenen Staates eingreifen darf, als dies zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlich ist. Diese Grenze wird dem Sicherheitsrat letztlich aber bereits durch Art. 39 SVN gezogen.1179 Der Grundsatz der Staatensouveränität bewirkt daher für sich genommen keine weiter gehende Beschränkungen der Befugnis des Sicherheitsrates, ein Krisengebiet auf der Grundlage von Kapitel VII der Charta auch gegen den Willen des betroffenen Staates zu verwalten.1180 2. Einschränkung der Bindung durch eine Hierarchie der Ziele? Fraglich ist, ob der Sicherheitsrat an alle Ziele und Grundsätze mit gleicher Intensität gebunden ist oder ob einem oder einigen von ihnen Vorrang gebührt. Nicht immer wird dem Sicherheitsrat eine gleichmäßige Beachtung aller Ziele und Grundsätze möglich sein. Gerade die den UN-Verwaltungen in Ostslavonien und im Kosovo zugrunde liegenden Krisen zeigen, dass Staatensouveränität und Selbstbestimmungsrecht in Konflikt geraten können. Umgekehrt mag es dem Sicherheitsrat mangels Ressourcen schwerfallen, die zu einer Krisenbeseitigung gebotene Einrichtung einer UN-Verwaltung kurzfristig so zustande zu bringen, dass die Menschenrechte der Betroffenen uneingeschränkt gewahrt bleiben. In diesen 1178 Gading, Souveränität (1996), S. 220 f., und die oben in Fn. 1174 Genannten. 1179 Siehe oben 4.Kp. A.I. 1180 Weitergehend Schweigman, Authority (2001), S. 173, der den Sicherheitsrat durch Art. 2 Ziff. 1 SVN daran gehindert sieht, dauerhafte Souveränitätseinschränkungen eines Staates anzuordnen. Ausführlicher zu den Auswirkungen des Anspruchs der Staaten auf Achtung ihrer territorialen Souveränität auf die Verwaltungskompetenz des Sicherheitsrates unten 4.Kp. E.VI. 235 Fällen muss die Verfolgung eines Zieles oder Grundsatzes zugunsten eines anderen zurückgestellt werden. Art. 24 Abs. 2 Satz 1 der Charta sieht keine abgestufte oder unterschiedlich starke Bindung des Rates an die verschiedenen Ziele und Grundsätze der Organisation vor. Eine unterschiedliche Bedeutung der Ziele und Grundsätze in Form einer Hierarchie könnte sich jedoch aus dem Wortlaut der Art. 1 und 2 SVN und der Aufgabenteilung innerhalb der Vereinten Nationen ergeben. a. Die Grundentscheidung der Charta für den Vorrang der Friedenssicherung Für eine solche Hierarchie spricht zunächst einmal die Reihenfolge der Ziele und Grundsätze in der Charta, welche die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit an die erste Stelle setzt.1181 Das entspricht der zentralen Bedeutung, welche die Gründerstaaten – erkennbar am Wortlaut der Präambel1182 – der Friedenswahrung durch die Vereinten Nationen zumaßen.1183 Auch der Umstand, dass die Charta allein für das Ziel der Friedenswahrung einen zentralen Durchsetzungsmechanismus geschaffen hat, unterstreicht ihren besonderen Stellenwert innerhalb des UN-Systems.1184 Für einen Vorrang der Friedenswahrung spricht ferner, dass allein diese nach der Charta die spezifische Aufgabe des Sicherheitsrates ist, der anders als die Generalversammlung nicht als allzuständiges Organ konzipiert ist.1185 Die Förderung der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts weist die Charta dagegen in den Art. 60, Art. 62 Abs. 2 und Art. 68 SVN explizit der Generalversammlung und dem ihr unterstellten ECOSOC zu. Ebenso betraut sie in Art. 87 f. i.V.m. Art. 76 1181 Gowlland-Debbas, AJIL 88 (1994), 643 (677); Randelzhofer, in: Wolfrum (Hrsg.), United Nations (1995), S. 996 Rn. 8; Oette, Wirtschaftssanktionen (2003), S. 241 f. Für den Vorrang der Friedenswahrung auch Dahm, Völkerrecht II (1961), S. 151. Sie beginnt mit: „We the people of the United Nations determined to save succeeding generations from the scourge of war, which twice in our lifetime has brought untold sorrow to mankind, (...).” 1182 1183 Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 14; Koskenniemi, EJIL 6 (1995), 325 (334 f.); Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 169; jeweils m.w.N. 1184 Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 170. 1185 Zur Dichotomie in der Aufgabenverteilung innerhalb der Vereinten Nationen zwischen Sicherheitsrat (Sicherheitspolitik) und den übrigen Organen, insbes. der Generalversammlung (wirtschaftliche, soziale und humanitäre Entwicklung) siehe Koskenniemi, EJIL 6 (1995), 325 (335 f.). 236 SVN den Treuhandrat mit der Förderung und Sicherung der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts in den Treuhandgebieten.1186 Doch auch der Wortlaut der Art. 1 Ziff. 1, Ziff. 2 und Ziff. 3 SVN lässt einen Vorrang der Friedenssicherung erkennen: „The Purposes of the United Nations are: 1. To maintain international peace and security, and to that end: to take effective measures for the prevention and removal of threats to the peace (…).” Art. 1 Ziff. 1 SVN enthält geradezu eine Erfolgsverpflichtung der Vereinten Nationen. Insbesondere sind sie angehalten, konkrete und effektive Maßnahmen zu diesem Zweck zu ergreifen. Demgegenüber ist die Bindung an das Selbstbestimmungsrecht und die Menschenrechte dem Wortlaut nach nur eine indirekte. Wie bereits ausgeführt1187 sind Art. 1 Ziff. 2 und 3 SVN lediglich als Förderziele formuliert, wobei nicht einmal unmittelbar die Menschenrechte und das Selbsbestimmungsrecht, sondern lediglich eine diese Rechte beachtende internationale Zusammenarbeit gefördert werden soll. Zwar wird man zu Recht sagen können, dass eine klare Missachtung der Menschenrechte oder des Selbstbestimmungsrechts seitens der Vereinten Nationen der Förderung entsprechender zwischenstaatlicher Beziehungen beziehungsweise Kooperationen kaum dienlich sein dürfte. Dennoch besteht dem Wortlaut nach ein klarer Unterschied zwischen den in Art. 1 Ziff. 2 und 3 SVN postulierten indirekten Förderpflichten und der in Art. 1 Ziff. 1 SVN niedergelegten Verpflichtung, effektive Maßnahmen zur Erreichung beziehungsweise Erhaltung des Rechtsgutes selbst zu ergreifen. Es spricht daher einiges dafür, dem Ziel der Friedenswahrung im Falle einer Kollision Vorrang zu gewähren vor der Beachtung des 1186 Eine Rückausnahme muss insofern für die sog. strategischen Gebiete i.S.d. Art. 82 SVN gemacht werden, für die der Sicherheitsrat gemäß Art. 83 Abs. 1 SVN die Aufgaben des Treuhandrates übernimmt. Für diese gelten gemäß Art. 83 Abs. 2 SVN auch die Ziele des Art. 76 SVN, so dass der Sicherheitsrat in diesen Gebieten ebenfalls mit der Überwachung der Einhaltung der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts betraut ist. Andererseits unterstreicht gerade die Herausnahme dieser Gebiete aus dem allgemeinen Treuhandsystem die grundsätzliche Vorrangstellung der Friedenssicherung innerhalb der Vereinten Nationen. Zum Treuhandsystem insgesamt und den strategischen Gebieten siehe oben 3.Kp. F. 1187 Siehe oben 4.Kp. A.II.1.b. 237 Selbstbestimmungsrechts und der Menschenrechte.1188 Einem grundsätzlichen Vorrang des Ziels der Friedenssicherung wird nicht zu Unrecht entgegengehalten, Menschenrechte und Selbstbestimmungsrecht hätten seit dem Inkrafttreten der Charta erheblich an Bedeutung gewonnen und gehörten nunmehr zu den Kernaufgaben der Organisation.1189 Auch wird diesen Rechten teilweise ius cogens-Status zugebilligt,1190 so dass sie für die Mitgliedstaaten in gleicher Weise verpflichtend sind wie das Aggressionsverbot des Art. 2 Ziff. 4 SVN, das Grundlage des Friedenssicherungssystems der UN ist.1191 Daher, so wird vertreten, gebe Art. 1 SVN nicht mehr den wirklichen Rang dieser Rechtsgüter innerhalb der Vereinten Nationen wieder. Auch dürfe der ursprüngliche Wille der Gründerstaaten nicht überbewertet werden.1192 Die Charta sei ein lebendes Rechtsinstrument und müsse vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Rechtsauffassungen der zu ihrer Anwendung berufenen Organe und ihrer Unterzeichnerstaaten ausgelegt werden.1193 Dann komme man aber zu dem Ergebnis, dass Friedenswahrung, Selbstbestimmungsrecht und Menschenrechte gleichrangige 1188 Wolfrum, Article 1 (2002), Rn. 5; Starita, RGDIP 108 (2004), 883 (908). Degni-Segui, Article 24 (1991), 447 (463), spricht von der Friedenswahrung als dem „but principal auquel le Conseil tend à subordonner tous les autres buts et principes (...). Dès lors tous se ramène à ce but et ce but justifie tout.“ Für eine solche Hierarchie der Ziele auch Goodrich/Hambro/Simons, UN Charter (1969), S. 26. Noch weitergehend Zwanenburg, Accountability (2004), S. 154 f. u. 218, der jegliche Bindung des Sicherheitsrates aus Art. 1 Ziff. 3 SVN für den Fall verneint, dass der Rat auf der Grundlage von Kapitel VII der Charta tätig wird. 1189 Koskenniemi, EJIL 6 (1995), 325 (337); Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 171, ähnlich Gardam, Michigan JIL 17 (1996), 285 (304). Für den Schutz der Menschenrechte als Aufgabe des Sicherheitsrates auch ICTR, Kanyabashi-Fall (Entscheidung v. 18.6.1997), § 29. Für das Selbstbestimmungsrecht als einen von der Friedenswahrung unabhängigen und absoluten Wert auch Cassese, Political Self-Determination (1979), S. 147. Einen Überblick über die zunehmende Bedeutung der Menschenrechte für die Tätigkeit des Sicherheitsrates geben Bailey, Security Council and Human Rights (1994) und Ramcharan, Protection of Human Rights (2002). ILC, Commentary on Art. 33 DASR, ILCYB 1980 II 2, 34 (46) – zu humanitärem Völkerrecht; American Law Inst., Restatement III (1987), § 702 (n) – zu einzelnen Menschenrechten; Hannikainen, Peremptory Norms (1988), S. 421 u. 519; Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht (1992), S. 273 u. 314; Frowein, Jus Cogens, EPIL III (1997), 65 (67); Schweigman, Authority (2001), S. 200; Reinisch, AJIL 95 (2001), 851 (860), jeweils m.w.N. Zur Bindung des Sicherheitsrates an ius cogens siehe unten 4.Kp. B.III. und C.II. 1190 1191 Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 171. 1192 Doehring, Self-Determination (2002), Rn. 1; Tomuschat, in: FS Arangio-Ruiz (2004), S. 1754. 1193 Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 172; Gowlland-Debbas, in: dies. (Hrsg.), UN Sanctions (2001), S. 15; Tomuschat, in: FS Arangio-Ruiz (2004), S. 1752 f. 238 Ziele der Vereinten Nationen seien und der Sicherheitsrat sie deshalb gleichwertig berücksichtigen müsse.1194 Dieser Ansatz berücksichtigt indes die unterschiedlichen zeitlichen Dimensionen der in Art. 1 SVN aufgeführten Ziele nicht ausreichend. Art. 1 Ziff. 2 und 3 SVN sind langfristige Ziele. Sie setzen es der Organisation zur Aufgabe, die genannten Werte dauerhaft in der Staatengemeinschaft zu verankern und so zur langfristigen Erhaltung des Weltfriedens beizutragen.1195 Dagegen zielt Art. 1 Ziff. 1 SVN darauf ab, konkrete Bedrohungen des Weltfriedens durch Ergreifen effektiver Maßnahmen einzudämmen und zu beseitigen. Dies ist die originäre Polizeifunktion des Sicherheitsrates.1196 Daneben hat die Friedenswahrung selbstverständlich auch eine langfristige Komponente. Diese wird aber weitgehend von Art. 1 Ziff. 2 SVN abgedeckt, dessen Ziel, die Entwicklung guter zwischenstaatlicher Beziehungen, eben der (langfristigen) Stärkung des Weltfriedens dienen soll.1197 Handelt es sich bei der Förderung des Selbstbestimmungsrechts und der Menschenrechte aber um langfristige Ziele, so kann es nach dem ursprünglichen Konzept der Charta nur in zwei Fällen zu einem echten Zielkonflikt kommen: erstens durch eine konkrete Intervention des Sicherheitsrates mit derart desaströsen Folgen, dass die langfristige Verankerung der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts in der Staatengemeinschaft durch sie gefährdet wird, zweitens durch eine Intervention des 1194 Gowlland-Debbas, ICLQ 43 (1994), 55 (91). Keine Unterschiede in der Bindung an die genannten Ziele macht auch Gill, NYIL 26 (1995), 33 (72-79). Für eine Gleichrangigkeit aller Ziele und Grundsätze auch Schweigman, Authority (2001), S. 167-182. In diese Richtung auch Tomuschat, in: FS Arangio-Ruiz (2004), S. 1764. Zurückhaltender de Wet, Chapter VII Powers (2004), S. 193, die nur den Kernbereich des Selbstbestimmungsrechts und der grundlegenden Menschenrechte als gegenüber Kapitel-VII-Maßnahmen geschützt ansieht. 1195 Randelzhofer, in: Wolfrum (Hrsg.), United Nations (1995), S. 997 Rn. 11. Dass dies auch der Intention der Gründungsstaaten entspricht, belegt Koskenniemi, EJIL 6 (1995), 325 (336 f.). „It is our view that the people of the world wish to establish a Security Council, that is, a policeman who will say, when anyone starts to fight, ‚Stop fightin’ Period. (…) That is the function of a policeman, and it must be just that short and that abrupt (…)” – Ausführungen des US-Delegierten Stassen bei der Konferenz von San Francisco 1945, UNCIO-Doc. 1006/I/6 vom 15.6.1945, abgedr. in UNCIO VI, 12 (29). Zu dieser Polizeifunktion auch Frowein/Krisch, Introduction to Chapter VII (2002), Rn. 12 f. 1196 „(...) to strengthen universal peace“, Art. 1 Ziff. 2 SVN a.E. Diesen langfristigen Zusammenhang betont auch Art. 55 SVN: „With a view to the creation of conditions of stability and well-being which are necessary for peaceful and friendly relations among nations (...).“ 1197 239 Sicherheitsrates zur Friedenssicherung von großer zeitlicher Dauer.1198 Die Charta trifft somit eine Grundentscheidung dahingehend, dass der Friedenssicherung im Falle eines konkreten Zielkonflikts der Vorrang gegenüber den übrigen Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen einzuräumen ist. Die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit war vor dem Hintergrund beider Weltkriege wesentliches Motiv der Gründung der Organisation und ist bis heute ihre bestimmende Aufgabe geblieben. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass Förderung und Schutz des Selbstbestimmungsrechts und der Menschenrechte mittlerweile eine wesentlich bedeutendere Rolle in der Arbeit der UN spielen, als dies das ursprüngliche Konzept der Charta vorgesehen hatte.1199 Nach wie vor darf der Sicherheitsrat zum Zwecke der Friedenssicherung kollektive Maßnahmen ergreifen, die wie die Verhängung von Wirtschaftssanktionen oder die Autorisierung militärischer Bombardements in menschenrechtlich geschützte Positionen Einzelner eingreifen. b. Einschränkungen des Vorrangs in der Praxis Dieser grundsätzliche Vorrang der Friedenssicherung sieht sich jedoch einer Reihe von Einschränkungen ausgesetzt, die seine Bedeutung in der praktischen Arbeit des Sicherheitsrates erheblich mindern. So besteht er nur im Falle eines konkreten Zielkonflikts, d.h. nur insoweit, als es dem Sicherheitsrat im Einzelfall nicht möglich ist, alle von Art. 1 SVN genannten Ziele der Organisation mit gleicher Effektivität zu verfolgen. Soweit er dadurch nicht im Einzelfall die Friedenssicherung gefährdet, bleibt der Sicherheitsrat uneingeschränkt zur Förderung der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts verpflichtet.1200 Im Umkehrschluss ergibt sich daraus die Pflicht des Rates, seine Maßnahmen so zu 1198 A.A. Oette, Wirtschaftssanktionen (2003), S. 240 f., der einen Zielkonflikt schon dann für gegeben hält, wenn bei der Verhängung von Zwangsmaßnahmen auch nur die Möglichkeit besteht, dass diese Menschenrechte verletzen könnten. Dies entspricht aber nicht der Konzeption des Art. 1 SVN. 1199 Siehe dazu auch unten 4.Kp. A.V. 1200 Ähnlich i.E. Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 174 f., die allerdings den Vorrang der Friedenssicherung durch ius cogens-Normen begrenzt sieht. Zur Bindung des Sicherheitsrates an ius cogens siehe unten 4.Kp. B.III. und C.II. 240 wählen, dass Menschenrechte und Selbstbestimmungsrecht soweit gewahrt bleiben, wie dies ohne Beeinträchtung ihrer friedenswahrenden Effektivität möglich ist.1201 Wo mehrere Maßnahmen gleicher Wirksamkeit zur Beseitigung einer Friedensbedrohung in Frage kommen, hat der Sicherheitsrat mithin jene zu wählen, die den übrigen Zielen der Organisation am weitesten gerecht wird.1202 Die Bedeutung des grundsätzlichen Vorrangs der Friedenssicherung wird weiter eingeschränkt durch die faktische und normative Interdependenz des Ziels der Friedenswahrung einerseits und der Achtung der Menschenrechte und des Selbsbestimmungsrechts andererseits. Rein tatsächlich besteht ein engerer Zusammenhang zwischen dem in Art. 1 Ziff. 1 SVN und den in Art. 1 Ziff. 2 und 3 SVN genanten Zielen, als dies die Gründer der Vereinten Nationen vielleicht gesehen haben. So haben zahlreiche friedensbedrohende Konflikte ihre Ursache auch in einer Missachtung des Selbstbestimmungsrechts oder fortgesetzten schweren Menschenrechtsverletzungen. Ein dauerhafter Friede ist ohne eine Beachtung der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts kaum denkbar.1203 Auch die Vereinten Nationen haben diese Interdependenz seit langem anerkannt.1204 Normativ findet dieser tatsächliche Zusammenhang seinen Niederschlag in der jüngeren Praxis des Sicherheitsrates, bei der Feststellung einer Friedensbedrohung nach Art. 39 SVN 1201 Weitergehend Oette, Wirtschaftssanktionen (2003), S. 242, der aus dem Gebot der harmonischen Auslegung folgert, dass keines der genannten Ziele zum Zwecke der Friedenswahrung gänzlich missachtet werden dürfe. In diese Richtung auch de Wet, Chapter VII Powers (2004), S. 193. Der Charta lässt sich ein solches Abwägungsgebot jedoch nicht entnehmen. Siehe dazu auch unten 4.Kp. D. 1202 Daher ist beispielsweise bei gleicher Effektivität gezielten Sanktionen der Vorrang vor einem allgemeinen Handelsembargo zu geben bzw. ein Handelsembargo so auszugestalten, dass von der Bevölkerung dringend benötigte humanitäre Güter nicht erfasst werden. Ausführlich zu den Kriterien für die Annahme eines Vorrangs der Friedenssicherung im konkreten Einzelfall unten 4.Kp. D.III.3. Schachter, Int’l. Law (1991), S. 331; Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 173; Irmscher, GYIL 44 (2001), 353 (369); Weschler, in: Malone (Hrsg.), Security Council (2004), S. 55. Wilde, Yale HR&DLJ 1 (1998), 107 (118), begründet u.a. mit diesem Argument die Verpflichtung des UNHCR, bei der Verwaltung von Flüchtlingslagern Menschenrechte zu beachten. 1203 Siehe beispielsweise § 6 S/RES/1031 (1995) vom 15.12.1995: „Welcomes also the parties’ commitment, as specified in the [Dayton] Peace Agreement, to securing to all persons within their jurisdiction the highest level of internationally recognized human rights and fundamental freedoms, stresses that compliance with this commitment is of vital importance in achieving a lasting peace (…).” Genereller Boutros-Ghali, Agenda for Peace (1992), § 5, und UN, Brahimi-Report (2000), §§ 6 (e), 13 u. § 30. Neuhold, Peace, Threat to, EPIL III (1997), 935 (937) führt ferner Art. 55 SVN selbst als Anerkenntnis dieser Interdependenz an. 1204 241 das Vorliegen schwerer Menschenrechtsverletzungen als wesentliches Kriterium heranzuziehen.1205 Es sind daher immer weniger Situationen denkbar, in denen eine Maßnahme, die gegen fundamentale Menschenrechte oder das Selbstbestimmungsrecht verstößt, geeignet erschiene, einen effektiven Beitrag zur Beseitigung einer Friedensbedrohung zu leisten. 3. Zwischenergebnis Im Ergebnis ist der Charta nichtsdestoweniger ein noch heute im Grundsatz gültiger Vorrang der Friedenssicherung vor den übrigen Zielen des Art. 1 SVN zu entnehmen. Die Friedenswahrung und die Förderung von Selbstbestimmungsrecht und Menschenrechten stehen nach der Konzeption des Art. 1 SVN in einem Stufenverhältnis zueinander: Die Sekundärziele sind zu beachten, soweit und solange dies die effektive Erreichung des Primärziels nicht ausschließt. Die Nachrangigkeit dieser Rechte gegenüber dem Ziel der Friedenssicherung beruht auf dem Wortlaut der Art. 1 und 2 SVN und entspricht im Grundsatz auch der bisherigen Praxis des Sicherheitsrates. Zwischen Selbstbestimmungsrecht (Art. 1 Ziff. 2 SVN) und Menschenrechten (Art. 1 Ziff. 3 SVN) ist ein solches Stufenverhältnis dagegen nicht erkennbar. Beide sind vom Sicherheitsrat gemäß Art. 24 Abs. 2 Satz 1 SVN gleichwertig zu fördern. Etwas schwächer ist auf Grund der expliziten Ausnahme des Art. 2 Ziff. 7 SVN der Schutz der mitgliedstaatlichen Souveränitätsrechte ausgestaltet. Als Zwischenbilanz lässt sich daher festhalten, dass die Verwaltungsbefugnisse des Sicherheitsrates intern durch seine Bindung an die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen begrenzt wird. Zu den Grenzen gehören in einem noch genauer zu bestimmenden Umfang die Menschenrechte, das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die Souveränität der Staaten (Art. 2 Ziff. 1 SVN).1206 Aufgrund des grundsätzlichen Vorrangs der Friedenswahrung können diese im Einzelfall beeinträchtigt werden, sofern dies zur Erreichung des Primärzieles erforderlich ist. 1205 Siehe dazu oben 3.Kp. C.II. und aus jüngerer Zeit die Resolutionen zur Lage in der sudanesischen Provinz Darfur (z.B. Präambel-§§ 13 f. S/RES/1564 (2004) vom 18.9.2004). 1206 Siehe dazu unten 4.Kp. E. 242 III. Interne Bindung an allgemeines Völkerrecht durch Art. 1 Ziff. 1 SVN? Art. 1 Ziff. 1 SVN enthält indes nicht nur das vorrangige Ziel der Friedenssicherung, sondern trifft auch eine nicht unbedeutende Unterscheidung zwischen der Verhinderung und Beseitigung akuter Friedensbedrohungen einerseits und der friedlichen Beilegung zwischenstaatlicher Streitigkeiten und bloß potentieller Friedensbedrohungen andererseits.1207 Aus dem Umstand, dass Art. 1 Ziff. 1 SVN nur in seinem zweiten Halbsatz, betreffend die friedliche Streitbeilegung, eine Verpflichtung zur Beachtung des Völkerrechts enthält, wird vielfach geschlossen, dass der Sicherheitsrat bei der Bekämpfung von Friedensbedrohungen ohne Rücksicht auf das allgemeine Völkerrecht handeln darf.1208 Dieser Schluss ist insoweit richtig, als Art. 1 Ziff. 1 SVN nicht nur zwischen zwei verschiedenen Handlungsweisen des Sicherheitsrates unterscheidet, sondern auch zwischen den ihnen zugrunde liegenden Rechtsgrundlagen, genauer: zwischen Kapitel VI und Kapitel VII der Charta.1209 Die von Art. 1 Ziff. 1, 1. Halbsatz SVN verwendete Formulierung „measures for the prevention and removal of threats to the peace, and for the supression of acts of aggression or other breaches of the peace“ bezieht sich auf Kapitel VII, das mit „Action with Respect to Threats to the Peace, Breaches of the Peace, and Acts of Aggression” überschrieben ist. Auch Art. 39 SVN nimmt die Terminologie des Art. 1 Ziff. 1, 1. Halbsatz SVN wieder auf. Unter „collective measures“ im Sinne des ersten Halbsatzes sind daher Maßnahmen auf der Grundlage der Art. 41 bis 50 SVN zu verstehen. 1210 Umgekehrt verweist die von Art. 1 Ziff. 1, 2. Halbsatz SVN verwendete Formulierung „settlement of disputes“ Art. 1 Ziff. 1 SVN lautet: „The Purposes of the United Nations are: 1. To maintain international peace and security, and to that end: to take effective collective measures for the prevention and removal of threats to the peace, and for the suppression of acts of aggression or other breaches of the peace, and to bring about by peaceful means, and in conformity with the principles of justice and international law, adjustment or settlement of international disputes or situations which might lead to a breach of the peace” (Hervorhebung durch den Verfasser). 1207 1208 Gill, NYIL 26 (1995), 33 (65); Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 146; Frowein/Krisch, Introduction to Chapter VII (2002), Rn. 27; Zwanenburg, IRRC 86 (2004), 745 (760); einschränkend Gardam, Michigan JIL 17 (1996), 285 (297 ff.). 1209 Auf diese Unterscheidung zwischen den Rechtsgrundlagen verweisen auch Gading, Souveränität (1996), S. 46, und Bauer, Effektivität und Legitimität (1996), S. 217. 1210 Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 14; ihm folgend Gading, Souveränität (1996), S. 46. 243 „by peaceful means“ auf das mit „Pacific Settlement of Disputes“ überschriebene Kapitel VI der Charta. Angewendet auf die Verwaltung von Krisengebieten durch den Sicherheitsrat ergibt sich Folgendes: Soweit sie in zulässiger Weise auf der Grundlage der Art. 41 und 42 SVN eingerichtet wurde, handelt es sich bei ihr um eine kollektive Maßnahme im Sinne des Art. 1 Ziff. 1, 1. Halbsatz SVN, und eben nicht um eine Maßnahme der friedlichen Streitbeilegung nach Kapitel VI. Nach der von Art. 1 Ziff. 1 SVN getroffenen Unterscheidung ist der Sicherheitsrat daher bei ihrer Einrichtung und Durchführung seitens der Charta nicht zur Beachtung allgemeinen Völkerrechts1211 verpflichtet.1212 Eine solche Pflicht kann sich jedoch aus anderen Rechtsgründen ergeben, was zu einem späteren Zeitpunkt untersucht werden soll.1213 Umgekehrt lässt sich aus Art. 1 Ziff. 1 SVN mit gewissen Einschränkungen der Umkehrschluss ziehen, dass alle nicht auf Kapitel VII gestützten Territorialverwaltungen der Vereinten Nationen bereits intern durch die Charta zur Beachtung allgemeinen Völkerrechts verpflichtet sind. Zwar trifft Art. 1 Ziff. 1 SVN diese Entscheidung nur für Gebietsverwaltungen, die der friedlichen Bereinigung eines Streitfalls dienen.1214 Allerdings dürfte dies außerhalb der Fälle der Zwangsverwaltung der Regelfall sein. UN-Verwaltungen, die aufgrund der Peacekeeping-Kompetenz des Sicherheitsrates eingerichet wurden, sind daher grundsätzlich an die Prinzipien des Völkerrechts gebunden, wobei fraglich ist, ob 1211 Als allgemeines Völkerrecht werden vorliegend all jene völkerrechtlichen Normen bezeichnet, deren Geltungsgrund nicht in der UN-Charta liegt, die also nicht als Primär- oder Sekundärrecht der Vereinten Nationen einzustufen sind. 1212 So für die Anwendung militärischer Gewalt unter Kapitel VII SVN allgemein Gardam, Michigan JIL 17 (1996), 285 (297). 1213 Siehe dazu unten 4.Kp. B. (externe Bindungen) und C. (mittelbare Bindungen). Zur Frage, inwieweit die von Art. 1 Ziff. 1 SVN getroffene Unterscheidung zwischen „rechtsfreier“ akuter Friedensbedrohung und „rechtskonformer“ dauerhafter Streitschlichtung die Befugnisse des Sicherheitsrates unter Kapitel VII der Charta beschränkt, siehe unten 4.Kp. E.VI. 1214 Teilweise wird aus Art. 1 Ziff. 1 SVN allerdings auch eine generelle Bindung der Vereinten Nationen an die Prinzipien des Völkerrechts abgeleitet. So beispielsweise Bedjaoui, New World Order (1994), S. 31; Weeramantry, Diss. Op., IGH, 1971 Montreal Convention (prov. measures ), ICJ-Rep. 1992, 169 (175); Watson, Harvard ILJ 34 (1993), 1 (4 f.); und Gading, Souveränität (1996), S. 48, die sogar den Sicherheitsrat unter Kapitel VII als gebunden ansieht, soweit er dadurch „nicht zu sehr eingeschränkt“ werde. Ablehnend Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 16 u. 294 f. 244 damit das gesamte Völkerrecht gemeint ist.1215 Für die Einrichtung einer Zwangsverwaltung zur Bekämpfung akuter Friedensbedrohungen lässt Art. 1 Ziff. 1 SVN dagegen dem Sicherheitsrat freie Hand. IV. Interne Bindung an das Treuhandprinzip der Kapitel XI bis XIII der Charta Grenzen der sicherheitsratlichen Gebietsverwaltung könnten sich ferner aus den Kapiteln XI bis XIII der Charta, insbesondere aus dem dort niedergelegten Treuhandgedanken ergeben.1216 Diese behandeln die Verwaltung nicht-selbstregierter Territorien, sei es allein durch Mitgliedstaaten, sei es im Rahmen des Treuhandsystems der Charta. Mit der Verwaltung von Krisengebieten auf der Grundlage von Kapitel VII hat das Treuhandsystem gemeinsam, dass es sich in beiden Fällen regelmäßig um Gebiete handeln wird, in denen ein effektives Staatswesen erst aufgebaut werden muss, die mithin nicht zur Selbstregierung in der Lage sind.1217 Insofern könnte man die Kapitel XI bis XII SVN gleichsam als Chartainterne lex specialis für die Ausführung einer Gebietsverwaltung betrachten.1218 Neben einer ähnlichen Sachlage spricht auch Art. 81 SVN für eine Bindung des Sicherheitsrates an die Grundsätze des Treuhandsystems. Denn nach dieser Norm kann auch die Organisation selbst Verwaltungsmacht eines Treuhandgebietes werden und unterläge dann ebenfalls den Voraussetzungen und Zielen des Kapitels XII.1219 1215 Für eine umfassendere Bindung Akande, ICLQ 46 (1997), 309 (317-320) mit umfangreichen Nachweisen aus der Entstehungsgeschichte der Charta; ablehnend Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 145. 1216 Ausführlich zu gebietsverwaltenden UN-Missionen als neue Form der Treuhandverwaltung Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 212-216; Stahn, ZaöRV 61 (2001), 107 (132 f.); Bothe/Marauhn, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the International Community (2002), S. 222-230; und Muharremi, Treuhandverwaltung (2005), S. 128-150. 1217 Hufnagel, UN-Friedensoperationen (1996), S. 213; Ruffert, ICLQ 50 (2001), 613 (629); Stahn, ZaöRV 61 (2001), 107 (133). 1218 Dass sie als solches nicht die Übernahme der Verwaltungshoheit durch den Sicherheitsrat als Maßnahme zur Bekämpfung einer Friedensbedrohung ausschließen, liegt an ihrer fehlenden Eignung zur Verwaltung von Krisengebieten. Siehe dazu bereits oben 3.Kp. F., ferner Bothe/Marauhn, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the International Community (2002), S. 233-235. 1219 Ähnlich Stahn, ZaöRV 61 (2001), 107 (133 Fn. 126), der die Minimalstandards des Art. 76 SVN a fortiori für auf den Sicherheitsrat anwendbar hält, wenn dieser treuhandähnhliche Aufgaben übernimmt. 245 Inhaltlich schreiben die Art. 73 und 76 SVN den Verwaltungsmächten vor, dass sie das Gebiet nur treuhänderisch verwalten dürfen, mithin allein im Interesse der Bewohner und zum Zwecke ihrer Förderung und Entwicklung. Art. 73 SVN spricht diesbezüglich von einem „sacred trust“, den die Verwaltungsmacht übernimmt. Dieser Grundsatz ließe sich ohne Weiteres auf die Verwaltung sog. failed states unter Kapitel VII übertragen.1220 Auch die aus Art. 88 SVN hervorgehenden detaillierten Berichts- und Auskunftspflichten der Verwaltungsmacht ließen sich entsprechend auf eine Verwaltung durch ein vom Sicherheitsrat beauftragtes Nebenorgan übertragen. Die deutlichen inhaltlichen Parallelen zwischen Treuhandsystem und Gebietsverwaltung nach Kapitel VII dürfen indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass beide Rechtsregime unterschiedliche Ausgangspunkte haben. So dient das Treuhandsystem in erster Linie dem Schutz der Bevölkerung der betroffenen Gebiete. Ihr politischer, wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt soll gefördert und ihre schließliche Selbstverwaltung gesichert werden.1221 Die Kapitel XI bis XIII der Charta dienen mithin primär den Interessen der betroffenen Bevölkerung eines nicht selbstverwalteten Gebietes. Demgegenüber dient Kapitel VII der Charta primär dem Interesse aller Mitgliedstaaten an der Verhinderung oder Beseitigung von Friedensbrüchen.1222 Die dazu ergriffenen Maßnahmen – exemplarisch sei hier das Handelsembargo des Art. 41 Satz 2 SVN genannt – dürfen dabei grundsätzlich durchaus zu Lasten der betroffenen Bevölkerungen gehen. Seine Verwaltungsbefugnisse aus Kapitel VII übt der Sicherheitsrat daher zunächst gerade nicht treuhänderisch für die betroffene Bevölkerung aus, sondern als Mittel zur Friedenssicherung im kollektiven Interesse 1220 Stahn, ZaöRV 61 (2001), 107 (138). Für eine analoge Anwendung der Art. 76 und Art. 83 Abs. 1 und 2 SVN plädieren ferner Frowein/Krisch, Art. 41 (2002), Rn. 21. Für den Treuhandgedanken als Grundprinzip einer gebietsverwaltenden UN-Friedensmission auch Hufnagel, UNFriedensoperationen (1996), S. 216. 1221 Art. 73 u. 76 SVN. 1222 Bothe/Marauhn, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the International Community (2002), S. 230 f., sprechen deshalb von einer neuen Form der Treuhandverwaltung, deren Ziele und Grenzen in Art. 24 und 39 SVN zu suchen seien – und damit nicht in den Treuhandkapiteln der Charta. Siehe aber auch S. 236 (Vorrang der Interessen der Bewohner des verwalteten Gebietes). 246 der Mitgliedstaaten.1223 Ein weiterer Unterschied besteht im Regelfall in der Dauer der jeweiligen Maßnahme. Nach dem Konzept der Kapitel XI bis XIII der Charta ist eine Treuhandverwaltung längerfristig angelegt mit einer Dauer von zumindest etlichen Jahren, wenn nicht Jahrzehnten.1224 Dagegen bezwecken Maßnahmen nach Kapitel VII der Charta nach der in Art. 1 Ziff. 1 SVN niedergelegten Konzeption der Charta lediglich die eher kurzfristige Beseitigung akuter Friedensbedrohungen.1225 Diese unterschiedlichen Ansätze des Treuhandregimes einerseits und des Kapitels VII der Charta andererseits bedeuten nicht, dass der Treuhandgedanke bei einer UNZwangsverwaltung keine Rolle spielen kann. So ist die Friedenssicherung kein Selbstzweck, sondert dient dem Schutz und dem Wohl der in den Mitgliedstaaten verfassten Weltbevölkerung.1226 Gerade wenn – wie im Kosovo oder in Osttimor – die Friedensbedrohung ihre Ursache in der groben Missachtung der völkerrechtlich geschützten Rechte der Bewohner durch die bisherigen Machthaber hatte, dient eine UN-Verwaltung rein faktisch primär dem Schutz der Gebietsbevölkerung. Ferner ist kaum vorstellbar, dass eine Zwangsverwaltung, die sich eigennützig über die wohlverstandenen Interessen der Gebietsbewohner hinwegsetzt, in der Lage wäre, ein Krisengebiet langfristig zu befrieden, und so friedenssichernd wirken könnte. Gerade die Erfahrungen in Osttimor einerseits und Somalia andererseits 1223 Dies übersehen Stahn, ZaöRV 61 (2001), 107 (138), und ihm folgend Bothe/Marauhn, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the International Community (2002), S. 236. Zu Recht weist Oeter, in: FS Fleck (2004), S. 448, darauf hin, dass die politischen Interessen der Staatengemeinschaft und der mehrheitlich albanischen Bevölkerung im Kosovo „alles andere als deckungsgleich (...) waren und sind.“ Auf die unterschiedlichen Interessenlagen unter Kapitel VII und Kapitel XII der Charta verweist auch Muharremi, Treuhandverwaltung (2005), S. 134. 1224 So wurde das Gebiet des späteren Libyens von der Generalversammlung 1949 bewusst nicht dem Treuhandsystem unterstellt, weil es nach Ansicht der Mehrheit der Mitgliedstaaten innerhalb von zwei Jahren zur Unabhängigkeit geführt werden sollte. Siehe dazu bereits oben 2.Kp. D. 1225 Mit Tomuschat, in: FS Arangio-Ruiz (2004), S. 1759, ist aber darauf hinzuweisen, dass sich aus der Charta keine feste zeitliche Grenze für Maßnahmen nach Kapitel VII herauslesen lässt. Siehe dazu bereits oben 4.Kp. A.I. 1226 Tomuschat, in: FS Arangio-Ruiz (2004), S. 1767. Dies macht die Präambel der Charta deutlich, wenn sie mit „We the Peoples of the United Nations determined to save succeeding generations from the scourge of war (...)“ anhebt. 247 zeigen, dass eine internationale Verwaltung nur dann zur Beseitigung der von einem Krisengebiet ausgehenden Friedensbedrohung beitragen kann, wenn sie die politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Bewohner fördert und effektive Selbstverwaltungsstrukturen aufbaut.1227 Treuhänderische Beschützung und Förderung des Krisengebietes und seiner Bewohner werden somit regelmäßig notwendige Mittel einer effektiven und langfristig erfolgreichen Friedenssicherung sein. Dennoch ist dies eher eine faktische Reflexwirkung. Normativer Zweck einer auf Kapitel VII gestützten Zwangsverwaltung bleibt die Beseitigung einer Friedensbedrohung im Interesse der internationalen Gemeinschaft. Die für eine Treuhand charakteristische Verwaltung im Interesse der Bewohner ist dagegen nur insoweit Normzweck, als sie die Erreichung des Primärziels bedingt. Dies dürfte zwar der Regelfall sein. Dennoch ist – rein rechtlich gesehen – das Treuhandprinzip im Falle einer Kapitel VII-Zwangsverwaltung dem Ziel der Friedenssicherung untergeordnet. Letztlich ergibt sich aber auch aus einer analogen Anwendung der Kapitel XI bis XIII nichts Anderes. Sowohl Art. 73 wie Art. 76 SVN nennen die Förderung des Weltfriedens als wesentliche Aufgabe einer treuhänderischen Verwaltung. Beide Artikel stellen ferner ihre Aufgabenkataloge unter den Vorbehalt ihrer Vereinbarkeit im Einzelfall mit den in Art. 1 SVN niedergelegten Zielen der Organisation1228 bzw. dem von der Charta eingerichteten System der Friedenssicherung.1229 Auch eine echte Treuhandverwaltung nach Kapitel XII und XIII der Charta hätte somit den grundsätzlichen Vorrang der Friedenssicherung zu beachten. Aus den Kapiteln XI bis XIII ergeben sich daher keine unmittelbaren Charta-internen 1227 Zu Osttimor siehe oben 2.Kp. M, zu Somalia 2.Kp. I. Art. 76 SVN: „The basic objectives of the trusteeship system, in accordance with the Purposes of the United Nations laid down in Article 1 of the present Charter, shall be (...)“ (Hervorhebung durch den Verfasser). 1228 Art. 73 SVN: „Members of the United Nations (...) accept as a sacred trust the obligation to promote to the utmost, within the system of peace and security established by the present Charter, the well-being of the inhabitants of these territories (…)” (Hervorhebung durch den Verfasser). 1229 248 Grenzen für die Befugnis des Sicherheitsrates, ein Krisengebiet auf der Grundlage von Kapitel VII der Charta zu verwalten. Soweit eine treuhänderische Verwaltung jedoch nicht bereits zur Friedenssicherung geboten erscheint und es die friedenssichernde Effektivität der Zwangsverwaltung nicht beeinträchtigt, können die Kapitel XI bis XIII SVN als Richtlinien herangezogen werden, wo konkretere Vorgaben fehlen. Eine Verpflichtung des Sicherheitsrates, zum Wohle der Bevölkerung zu handeln, kann sich ferner auch noch aus anderen rechtlichen Gesichtspunkten ergeben, beispielsweise aus Völkergewohnheitsrecht. V. Bindung durch Handeln der Vereinten Nationen Die bisherige, im Wesentlichen auf der Analyse der Charta fußende Untersuchung hat ergeben, dass der Sicherheitsrat zuvörderst verpflichtet ist, den Weltfrieden zu wahren. Aus der Rangordnung der Ziele und Grundsätze in Art. 1 und Art. 2 SVN folgt, dass Staatensouveränität, Selbstbestimmungs- und Menschenrechte sowie das Treuhandprinzip im Kollisionsfall nur soweit zu beachten sind, als dadurch eine effektive Friedenswahrung nicht in Frage gestellt wird. Dieser Befund entspricht dem ursprünglichen Konzept der Gründerstaaten, berücksichtigt aber noch nicht hinreichend die nachfolgende Praxis der Vereinten Nationen. So spielte die UN bei der Entwicklung und Förderung des Selbstbestimmungsrechts und der Menschenrechte eine weit umfangreichere und bedeutendere Rolle, als dies 1945 vorausgesehen wurde. Bei der Entstehung, Ausformulierung und Festigung dieser Rechte wirkten die Vereinten Nationen entscheidend mit und entfalteten hier einen weiteren Schwerpunkt ihrer Tätigkeit.1230 Zu nennen sind insbesondere der Abschluss der internationalen Pakte unter dem Dach der UN und die Verabschiedung der Declaration on the Granting of Independence to Colonial Countries and Peoples durch die Generalversammlung im Jahre 1960.1231 Daher ist zu prüfen, ob durch diese und andere Handlungen der Vereinten Nationen Bindungen eingetreten sind, 1230 Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 171 f. Allgemein zur Arbeit der UN im Bereich der Menschenrechte beispielsweise Tomuschat, Human Rights (2003), S. 112-131. 1231 A/RES/1514 (XV) vom 14.12.1960, konkretisiert durch A/RES/1541 (XV) vom 15.12.1960. Auch die Friendly Relations Declaration (A/RES/2625 (XXV) vom 24.10.1970) wird man zu diesen grundlegenden Arbeiten der Generalversammlung zählen können. 249 die auch den Sicherheitsrat bei der Gebietsverwaltung auf der Grundlage von Kapitel VII der Charta treffen. 1. Konkretisierung der in Art. 1 Ziff. 2 und 3 SVN niedergelegten Ziele Dabei ist von dem Grundsatz auszugehen, dass die Organe der Vereinten Nationen über jeweils eigenständige Kompetenzbereiche verfügen und verbindliche Vorgaben für andere Organe nur insoweit verabschieden können, als dies in der Charta niedergelegt ist.1232 Insbesondere für den Sicherheitsrat fehlt eine solche Vorgabe. Er ist nach Art. 24 Abs. 3 SVN lediglich verpflichtet, der Generalversammlung einen jährlichen Bericht zu erstatten, den diese erörtern kann. Daraus folgt zunächst, dass der Sicherheitsrat nach dem Recht der Charta nicht durch die Handlungen anderer Organe gebunden werden kann, diese mithin für den Sicherheitsrat keine rechtliche Bedeutung haben.1233 Im Hinblick auf die nahezu universelle Mitgliedschaft in der UN ist diese interne Kompetenzverteilung auch für Staaten und andere internationale Organisationen beachtlich. Diese prinzipielle wechselseitige Autonomie der UN-Organe könnte jedoch dort eingeschränkt sein, wo die Charta bestimmte Organe explizit mit der Entwicklung und Ausformung einzelner Ziele und Grundsätze betraut hat. Deren Tätigkeit wäre dann als autoritative Konkretisierung der Art. 1 und 2 SVN zu verstehen, die auch für den Sicherheitsrat verbindlich wäre. Von besonderer Bedeutung ist dabei Art. 60 SVN, der die Umsetzung der in Art. 55 SVN genannten Aufgaben, insbesondere die Förderung der Menschenrechte nach Art. 55 lit. c) SVN, zur alleinigen Aufgabe der Generalversammlung und des ihr unterstellten ECOSOC macht. Dies entspricht der Intention der Gründerstaaten, die Vorschläge zurückwiesen, bereits in die Charta einen Katalog von Grundrechten aufzunehmen. Vielmehr sollte die Ausformulierung 1232 So legt beispielsweise Art. 66 Abs. 3 SVN fest, dass die Generalversammlung dem ECOSOC neue Aufgaben und Funktionen zuweisen darf. Deutlicher ist Art. 87 SVN, der den Treuhandrat ausdrücklich der Generalversammlung unterordnet. 1233 In diese Richtung auch Oette, Wirtschaftssanktionen (2003), S. 247, der eine Befugnis der übrigen UN-Organe verneint, bindende Auslegungen derjenigen Normen der Charta zu treffen, welche die Befugnisse des Sicherheitsrates regeln. Wie sogleich dargelegt wird, kann dies indes nicht für die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen (Art. 1 u. 2 SVN) gelten, die für alle Organe gleicher Maßen verbindlich sind. 250 eines solchen Menschenrechtskatalogs Aufgabe der Generalversammlung sein.1234 Die Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrecht im Jahre 1948 könnte deshalb als Konkretisierung des in Art. 1 Ziff. 3 SVN niedergelegten Zieles der Organisation zu verstehen sein, die – da sie durch das dazu bevollmächtigte Organ vorgenommen wurde – für die gesamte Organisation verbindlich ist.1235 In gleicher Weise ließe sich auch eine Bindung des Sicherheitsrates an die unter der Ägide der Generalversammlung ausgearbeiteten Internationalen Pakte und Konventionen begründen.1236 Diese Erklärungen und Rechtsakte der Generalversammlung wären dann als – nicht notwendig abschließender – Katalog der von der gesamten Organisation nach Art. 1 Ziff. 3 SVN zu fördernden Menschenrechte zu verstehen.1237 Dem steht nicht entgegen, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte in einer für die Mitgliedstaaten unverbindlichen Form verabschiedet wurde und auch die genannten Konventionen der Ratifikation bedurften, um für die UN-Mitglieder 1234 Doc. 343, I/1/16 vom 16.5.1945, abgedr. in UNCIO VI, 296 (296); ferner Wolfrum, Preamble (2002), Rn. 6 m.w.N. 1235 Bossuyt (UNCHR), Economic sanctions (2000), §§ 29 f.; Marie/Questiaux, Article 55: alinea c (1991), S. 873; Riedel, Article 55 (c) (2002), Rn. 30; Nowak, Human Rights Regime (2003), S. 76. Zurückhaltender Carrillo Salcedo, Universal Declaration, EPIL II (1995), S. 925: „(...) [I]t constitutes evidence of the interpretation and application of the UN Charter.“ Weitergehend Bleicher, AJIL 63 (1969), 444 (464 f.), und Sohn, Georgia JI&CL 8 (1978), 1 (19), die die AEMR als auch für die Mitgliedstaaten verbindliche Konkretisierung der Charta ansehen. 1236 Pape, Humanitäre Intervention (1997), S. 140; Bossuyt (UNCHR), Economic sanctions (2000), § 31; Gowlland-Debbas, in: dies. (Hrsg.), UN Sanctions (2001), S. 16; Reinisch, AJIL 95 (2001), 851 (862); Doehring, Self-Determination (2002), Rn. 19; Oette, Wirtschaftssanktionen (2003), S. 238. Für die Einstufung der beiden Pakte als autoritative Konkretisierung der menschenrechtlichen Normen der Charta auch Sohn, Texas ILJ 12 (1977), 129 (135); ferner de Wet, Chapter VII Powers (2004), S. 199 f., die als weiteres Argument das aus dem in Art. 2 Ziff. 2 SVN niedergelegten good faith-Grundsatz abgeleitete estoppel-Prinzip nennt: Durch ihr menschenrechtliches Engagement habe die UN bei ihren Mitgliedstaaten die schutzwürdige Erwartungshaltung begründet, auch die Organisation selbst werde die unter ihrem Dach vereinbarten Menschenrechtsinstrumente einhalten. Zurückhaltender Tomuschat, Human Rights (2003), S. 89, der eine entsprechende Verpflichtungserklärung des Sicherheitsrates für erforderlich hält. Zur Entstehungsgeschichte der beiden Pakte siehe Cohen Jonathan, Covenants, EPIL II (1995), S. 915 f. 1237 I.E. auch Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), 155, die allerdings den gesamten gewohnheitswie vertragsrechtlichen Standard der Menschenrechte zur Definition des Art. 1 Ziff. 3 SVN heranzieht. Ähnlich auch Gardam, Michigan JIL 17 (1996), 285 (300), und Gasser, ZaöRV 56 (1996), 871 (880). Anklänge finden sich auch in Präambel-§ 8 der Abschlusserklärung der Wiener Menschenrechtskonferenz von 1993, der die AEMR als „basis for the United Nations“ bezeichnet. (Siehe UN World Conference on Human Rights, Vienna Declaration and Programme of Action (25.6.1993), abgedr. als A/Conf.157/24 (Part I) vom 13.10.1993, 20-46; ferner in ILM 32 (1993), 1661-1687.) 251 rechtsverbindlich zu werden1238. Denn Mitgliedstaaten und UN-Organe werden nicht in gleicher Weise von den Zielen und Grundsätzen der Organisation in die Pflicht genommen. Während der Sicherheitsrat gemäß Art. 24 Abs. 2 Satz 1 SVN unmittelbar gebunden ist, verpflichtet Art. 56 SVN, der die Pflichten der UNMitglieder aus Art. 2 Ziff. 2 SVN hinsichtlich der Förderung der Menschenrechte konkretisiert, die Mitgliedstaaten lediglich dazu, auf diesem Gebiet mit den Vereinten Nationen zu kooperieren, ohne ihnen bestimmte Mittel und Wege vorzugeben.1239 Auch erlaubt Art. 56 SVN den Vereinten Nationen nicht, den Mitgliedern die innerstaatliche Umsetzung der Maßnahmen zu verordnen, die von der Generalversammlung gemäß Art. 55 lit. c) in Verbindung mit Art. 60 SVN beschlossen wurden.1240 Letztlich folgt aus Art. 56 SVN vor allem ein Verbot der Obstruktion, d.h. die Mitgliedstaaten dürfen die Arbeit der UN zur Förderung der in Art. 55 SVN genannten Ziele nicht behindern.1241 Eine Auslegung des Art. 56 SVN dahingehend, dass auch die Mitgliedstaaten zur Einhaltung der nach Art. 1 Ziff. 3 und Art. 55 lit. c) SVN zu fördernden Menschenrechte verpflichtet sind, ließe sich zwar mit dem Wortlaut vereinbaren und unter Effektivitätsgesichtspunkten vertreten. Indes entspräche sie weder der Rechtsauffassung noch der Praxis der zur Auslegung dieser Normen berufenen UN-Organe, noch der der Mitgliedstaaten. Dagegen gibt es für den Sicherheitsrat keine Norm, die – wie Art. 56 SVN für die Mitgliedstaaten – die Pflicht zur Förderung der Menschenrechte und Grundfreiheiten abschwächt. Vielmehr ist er aus Art. 24 Abs. 2 Satz 1 SVN unmittelbar zu ihrer Förderung verpflichtet. Es erschiene auch widersprüchlich, wenn gerade ein UNOrgan dazu befugt sein sollte, die von den Vereinten Nationen erreichten menschenrechtlichen Standards zu ignorieren.1242 Dies ändert indes nichts an der oben beschriebenen grundsätzlichen Nachrangigkeit des Zieles des Art. 1 Ziff. 3 1238 Nowak, CCPR Commentary (1993), Introduction Rn. 2. 1239 Wolfrum, Article 56 (2002), Rn. 2. 1240 Wolfrum, Article 56 (2002), Rn. 3. 1241 Goodrich/Hambro/Simons, UN Charter (1969), S. 381; Bouony, Article 56 (1991), S. 888; Wolfrum, Article 56 (2002), Rn. 3. 1242 Akande, ICLQ 46 (1997), 309 (323); Oette, Wirtschaftssanktionen (2003), S. 238. 252 SVN, da diese sich unmittelbar aus Art. 1 SVN ergibt. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die unter der Ägide der Generalversammlung ausgearbeiteten und verabschiedeten menschenrechtlichen Vertragswerke ergeben einen detaillierten Normenkatalog, den der Sicherheitsrat bei der Verwaltung eines Krisengebietes zu beachten hat, wenn und soweit dem nicht im Einzelfall die Pflicht zur Friedenswahrung entgegensteht. Diesen Vorrang der Friedenssicherung reflektiert auch Art. 29 Ziff. 3 AEMR, demzufolge die in der AEMR enthaltenen Rechte und Freiheiten nicht im Widerspruch zu den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen ausgeübt werden dürfen. Ferner sind die einzelnen menschenrechtlichen Vorschriften auch nur dann auf den Sicherheitsrat anwendbar, wenn sie ihrem Tatbestand und ihrem Schutzzweck nach einschlägig sind. Beispielhaft soll dies unten in Abschnitt E untersucht werden. Zunächst reicht die Feststellung aus, dass die unter dem Dach der Vereinten Nationen verabschiedete Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die menschenrechtlichen Konventionen und Verträge als autoritative Konkretisierung des in Art. 1 Ziff. 3 SVN niedergelegten Zieles auch für den Sicherheitsrat verbindlich sind, soweit dadurch die Friedenssicherung nicht beeinträchtigt wird. Die hier zu den Menschenrechten getroffenen Aussagen gelten entsprechend für das in Art. 1 Ziff. 2 und in Art. 55 SVN genannte Ziel der Förderung zwischenstaatlicher Beziehungen, die auf dem Respekt vor der Gleichheit und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker basieren. Auch für diesen Bereich sind Generalversammlung und ECOSOC nach Art. 60 SVN zuständig, so dass ihre diesbezüglichen Handlungen als autoritative Konkretisierung zu verstehen sind, soweit sie eine entsprechende Absicht erkennen lassen. Zu Recht hat der IGH daher beispielsweise sowohl im Namibia-Gutachten1243 als auch in jenem zur West Sahara1244 die Generalversammlungsresolutionen 1514 (XV)1245, 1541 (XV)1246 und 1243 IGH, Namibia-Gutachten, ICJ-Rep. 1971, 16 (31 § 52) – nur hinsichtlich A/RES/1514 (XV). 1244 IGH, West Sahara-Gutachten, ICJ-Rep. 1975, 12 (31-33, §§ 54-59). 1245 Declaration on the Granting of Independence to Colonial Countries and People vom 14.12.1960. 1246 A/RES/1541 (XV) vom 15.12.1960. 253 2625 (XXV)1247 zur näheren Bestimmung des Gehalts des Selbstbestimmungsrechts aus Art. 1 Ziff. 2 SVN herangezogen. Ohnehin bedarf das Selbstbestimmungsrecht in geringerem Umfang als die vielgestaltigen Menschenrechte einer Konkretisierung. Zwar mag es in seinen Einzelheiten und hinsichtlich der aus ihm abzuleitenden Rechte unklar sein. Das Grundprinzip, dem zufolge alle Völker das Recht haben, frei über ihren politischen Status zu entscheiden und sich frei von äußeren Einflüssen zu entwickeln, dürfte jedoch weitgehend unstrittig sein.1248 2. Selbstbindung durch eigene Handlungen des Sicherheitsrates Jedoch waren nicht nur Generalversammlung und ECOSOC auf den Gebieten des Selbstbestimmungsrechts und der Menschenrechte aktiv. Auch der Sicherheitsrat hat sich zur Bedeutung dieser Normen bekannt.1249 Fraglich ist, ob diese Handlungen zu einer Selbstbindung des Sicherheitsrates geführt haben.1250 Wenn und soweit dies der Fall ist, bliebe zu untersuchen, inwieweit dadurch die von Art. 1 SVN vorgegebene Hierarchie der Ziele irrelevant geworden ist, weil der Sicherheitsrat sich selbst zu einer absoluten Beachtung von Staaten-, Gruppen- oder Menschenrechten 1247 Declaration on Principles of International Law Concerning Friendly Relations and Co-operation Among States in Accordance with the Charter of the United Nations vom 24.10.1970, abgedr. in UNYB 1970, 788-792 (im Folgenden: Friendly Relations Declaration). 1248 Siehe das 5. Prinzip der Friendly Relations Declaration, von der Generalversammlung im Konsensverfahren angenommen als A/RES/2625 (XXV) vom 24.10.1970. Ausführlicher zum Selbstbestimmungsrecht unten 4.Kp. E.II. 1249 Siehe beispielsweise Präambel-§ 6 S/RES/1325 (2000) vom 31.10.2000 (Rechte zum Schutze von Frauen und Mädchen), Präambel-§ 4 S/RES/1483 (2003) vom 22.5.2003 und Präambel-§ 4 S/RES/1546 (2004) vom 8.6.2004 (Selbstbestimmungsrecht der Iraker); sowie Art. I § 1 der Millenium Summit Declaration des Sicherheitsrates, S/RES/1318 (2000) Annex vom 7.9.2000 (Bekenntnisse zur Staatensouveränität). Siehe ferner das generelle Bekenntnis zum Völkerrecht in der Erklärung des Sicherheitsratspräsidenten vom 31.1.1992: „The members of the Council pledge their commitment to international law“ (UN-Doc. S/23500, S. 3). Allerdings finden sich häufigere und generelle Bekenntnisse des Sicherheitsrates nur zur Staatensouveränität, auffallend wenige dagegen zu den Menschenrechten und dem Selbstbestimmungsrecht. So enthält die Zusammenstellung menschenrechtsrelevanter Äußerungen des Sicherheitsrates bei Ramcharan, Protection of Human Rights (2002), S. 217-369, kein einziges Dokument, in dem sich der Sicherheitsrat selbst zur Einhaltung der Menschenrechte bekennt. In § 15 S/RES/1325 (2000) „on women, peace, and security“ vom 31.10.2000 äußert er beispielsweise lediglich seine Bereitschaft, künftig sicherzustellen, dass vom ihm autorisierte Missionen die Rechte der Frau berücksichtigen („take into account“). 1250 In diese Richtung Gowlland-Debbas, in: dies. (Hrsg.), UN Sanctions (2001), S. 28, hinsichtlich der Versuche des Sicherheitsrates, beim Erlass von Wirtschaftssanktionen humanitäre Ausnahmeregelungen vorzusehen. 254 verpflichtet hat. Neben allgemeinen Erklärungen betreffend eines oder mehrerer dieser Rechte sind auch solche Äußerungen des Rates relevant, die nur einen bestimmte Fall oder eine bestimmte Tätigkeit des Sicherheitsrates erfassen. Zu diesen sind insbesondere die Resolutionen 1244 (1999) und 1272 (1999) zu rechnen.1251 Auch die Dekrete („regulations“) der UN-Sondergesandten vor Ort, die bestimmte menschenrechtliche Verträge ihrem Inhalt nach für anwendbar erklären,1252 gehören zu diesen fallspezifischen Selbstverpflichtungsakten. Bei den weitaus überwiegenden Handlungen des Sicherheitsrates, die für eine Selbstbindung in Frage kommen, wird es sich um einseitige Akte handeln.1253 Dass auch internationale Organisationen durch einseitige Akte Rechtsfolgen zeitigen können, ist allgemein anerkannt.1254 Maßgeblich für die rechtliche Verbindlichkeit einer einseitigen Handlung oder Erklärung ist, dass das handelnde Völkerrechtssubjekt mit ihr erkennbar bestimmte Rechtsfolgen herbeiführen wollte.1255 Dabei kommte es nicht nur auf die Intention des Handelnden oder den objektiven Gehalt der Erklärung an, sondern auch auf die tatsächlichen Umstände, in denen die Handlung vorgenommen beziehungsweise die Erklärung abgeben wurde.1256 Entscheidend ist, dass schutzwürdiges Vertrauen in die Rechtserheblichkeit, genauer: in die Verbindlichkeit der Erklärung, begründet wurde.1257 Insoweit finden einseitige Rechtsakte ihren Geltungsgrund im Grundsatz 1251 So verpflichtet beispielsweise Art. 11 lit. j) S/RES/1244 (1999) die Zivilverwaltung dazu, die Menschenrechte zu schützen und zu fördern, während Art. 8 S/RES/1272 (1999) UNTAET zu Konsultationen und enger Zusammenarbeit mit der Bevölkerung anhält. 1252 Siehe beispielsweise UNTAET/REG/1999/1 vom 27.11.1999 und UNMIK/REG/1999/24 vom 12.12.1999. 1253 Selbst wenn der Sicherheitsrat Verträge schließen sollte, in denen er sich zur Einhaltung bestimmter Standards verpflichtete, so ließe sich aus diesen eine generelle, über die inter partesWirkung von Verträgen hinausgehende Bindung nur dann ableiten, wenn die Verträge einen nahezu universellen Charakter hätten. 1254 Schreuer, in: FS Zemanek (1994), S. 248; Ipsen, Völkerrecht (1999), § 18 Rn. 18, Fiedler, Unilateral Acts, in EPIL IV (2000), S. 1018, und Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht I/3 (2002), S. 764. 1255 IGH, Nuclear Tests Case, ICJ-Rep. 1974, 253 (267 § 43) bzw. 457 (472 § 46); Dupuy, Droit international public (2000), S. 328 (§ 349). 1256 IGH, Frontier Dispute, ICJ-Rep. 1986, 554 (574 § 40); Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht I/3 (2002), S. 766; Brownlie, Principles (2003), S. 613. 1257 IGH, Nuclear Tests Case, ICJ-Rep. 1974, 253 (268 § 46) und 457 (473 § 49). 255 von Treu und Glauben (good faith).1258 Dieser Grundsatz ist zumindest mittelbar auch für die UN verbindlich, da ihre Mitglieder ihn gemäß Art. 2 Ziff. 2 SVN bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben und Pflichten aus der Charta zu beachten haben – mithin auch bei der Beschlussfassung als Teil eines UN-Organs.1259 Dieser Umstand führt zu einer Besonderheit bei einseitigen Rechtsakten des Sicherheitsrates. Als Organ einer internationalen Organisation besitzt er nur die Handlungsmöglichkeiten, die ihm die Charta als sein konstituierendes Dokument gewährt. Sie beschränkt sein rechtliches Dürfen nach innen. Die Charta ist aber auch für die Mitglieder verbindlich. Sie regelt abschließend das Verhältnis zwischen ihnen und der Organisation. Aufgrund der faktisch universellen Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen fehlt es insofern an einem „Außenverhältnis“ der Vereinten Nationen. Die Staaten müssen sich in ihren rechtlichen Beziehungen zu den UN im Allgemeinen und zum Sicherheitsrat im Besonderen die Charta entgegenhalten lassen. Ein schutzwürdiges Vertrauen in den (selbst-) verpflichtenden Charakter eines einseitigen Aktes des Sicherheitsrates kann daher nur entstehen, wenn sich die fragliche Handlung oder Erklärung im Rahmen der Kompetenzen dieses Organs bewegt. Staaten1260 können nicht darauf vertrauen, dass sich der Sicherheitsrat zu einem chartawidrigen Verhalten verpflichten will.1261 Angewandt auf die hier in Frage stehenden Handlungen und Erklärungen des Sicherheitsrates zu Menschen-, Gruppen- und Staatenrechten folgt daraus, dass 1258 Fiedler, Unilateral Acts, in EPIL IV (2000), S. 1020. Ausführlicher Ipsen, Völkerrecht (1999), § 18 Rn. 5-7. Dupuy, Droit international public (2000), S. 328 (§ 349), stellt insoweit auf das Gebot der Rechtssicherheit in den internationalen Beziehungen ab. 1259 So de Wet, Chapter VII Powers (2004), S. 195 m.w.N. 1260 Dieser Grundsatz gilt mittelbar auch für dritte internationale Organisationen, da auch ihre Mitglieder zugleich Mitglieder der UN sind und als solche durch Art. 103 SVN zur vorrangigen Beachtung der Charta verpflichtet sind. Die UN-Mitgliedstaaten sind daher zumindest verpflichtet, in den Gremien anderer Organisationen, deren Mitglieder sie ebenfalls sind, entsprechend Einfluss zu nehmen. 1261 Zugegestandenermaßen handelt es sich dabei eher um eine theoretische Frage. Eine chartawidrige Selbstverpflichtung wäre etwa die Erklärung des Sicherheitsrates, künftig nur noch dann bei Friedensbedrohungen einzugreifen, wenn sichergestellt sei, dass die geplanten Maßnahmen die territoriale Souveränität der betroffenen Staaten unangetastet lasse. Aus Art. 1 Ziff. 1 und Art. 2 Ziff. 7 SVN folgt aber gerade, dass der Sicherheitsrat unter Kapitel VII der Charta diese Rechte im Interesse der Effektivität nicht beachten muss. 256 jedenfalls diejenigen von ihnen, die im Widerspruch zu den Regelungen der Charta stehen, mangels schutzwürdigen Vertrauens der Empfänger keine Rechtsfolgen zeitigen. Einseitige Rechtsakte können mithin nicht weiter gehen, als es die Charta zulässt. Dies gilt insbesondere für solche allgemeinen oder abstrakten Erklärungen, die generelle Leitlinien zukünftigen sicherheitsratlichen Handelns festlegen. Sie sind als abstrakte ex ante-Konkretisierungen der dem Sicherheitsrat von der Charta gewährten Handlungs- und Entscheidungsspielräume zu verstehen. Als solche müssen sie sich aber innerhalb der von der Charta vorgegebenen Leitlinien bewegen und insbesondere den Vorrang der Friedenssicherung beachten. Soweit dies nicht der Fall ist, kann seitens der (Mitglied-) Staaten kein schutzwürdiges Vertrauen bestehen, so dass derartige einseitige Akte keine selbstverpflichtende Wirkung haben können.1262 Etwas Anderes mag für einzelfallbezogene Erklärungen gelten. Sie können zulässiger Weise als autoritative Konkretisierung der von Art. 1 SVN vorgegebenen Zielhierarchie verstanden werden. Wie bereits ausgeführt, verpflichtet Art. 1 SVN den Sicherheitsrat auch zur Beachtung der Souveränität der Mitgliedstaaten, des Selbstbestimmungsrechts und der Menschenrechte, soweit dadurch die Erhaltung oder Wiederherstellung der internationalen Sicherheit nicht beeinträchtigt wird. Erklärt der Sicherheitsrat nun wie im Falle des § 11 lit. j) der Resolution 1244 (1999), dass die Menschenrechte durch ihn oder das von ihm geschaffene Nebenorgan zu schützen und zu fördern seien, so kann dies als dahingehende Feststellung verstanden werden, dass in diesem konkreten Einzelfall dadurch die Effektivität der Friedenssicherung nicht beeinträchtigt wird. Auf die Rechtsverbindlichkeit einer solchen einzelfallbezogenen Erklärung dürfen Staaten daher grundsätzlich vertrauen. Aber auch hier entfällt ein schutzwürdiges Vertrauen bei einer erheblichen Änderung der Umstände, da mit ihr die einzelfallbezogene Konkretisierung der Zielvorgaben des Art. 1 SVN hinfällig wird. Auch diese konkreten einseitigen Rechtsakte sind mithin grundsätzlich reversibel. 1262 Weitergehend Herbst, Rechtskontrolle (1999), S. 363, der unter Berufung auf Tomuschat, ZaöRV 36 (1976), 444 (479), ein schutzwürdiges Vertrauen in abstrakte, auf die Zukunf bezogene Verpflichtungserklärungen des Sicherheitsrates generell ausschließt. 257 Eine stärkere Selbstbindung verursachen grundsätzlich Verordnungen einer UNVerwaltung, mit denen die Beachtung bestimmter Menschenrechte angeordnet wird.1263 Sie beinhalten eine noch konkretere und sachnähere Einschätzung der Situation. Auch erfolgen sie unmittelbar gegenüber der Bevölkerung eines Gebietes, welche sich die Regelungen der Charta weit weniger entgegenhalten lassen muss als die Mitgliedstaaten. Ihr Vertrauen in die Verbindlichkeit der Verordnung ist daher grundsätzlich besonders schutzwürdig, so dass an eine Rücknahme oder Einschränkung der Selbstbindung hohe Anforderungen zu stellen sind. VI. Zwischenergebnis: Die internen Bindungen des Sicherheitsrates Die Charta begrenzt die Befugnisse des Sicherheitsrates zur zwangsweisen Verwaltung eines Krisengebiets in erster Linie durch seine Bindung an die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen. Art. 24 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 SVN verpflichtet den Sicherheitsrat dazu, bei der Wahrnehmung seiner Kernkompetenz, der kollektiven Friedenssicherung, auch das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die Menschenrechte zu fördern und mithin zu beachten. Dies gilt – wegen Art. 2 Ziff. 7 SVN in geringerem Maße – auch für die Beachtung der Souveränität der Staaten. Allerdings ergibt sich aus dem Wortlaut des Art. 1 SVN ein klarer Vorrang der Friedenssicherung vor den übrigen Zielen der UN. Der Sicherheitsrat ist daher nur insoweit zur Förderung und Beachtung von Staaten-, Gruppen- und Menschenrechten verpflichtet, als er dadurch die Sicherung des Weltfriedens nicht gefährdet. Zwar sind nur wenige Situationen vorstellbar, in denen die Wahrung der internationalen Sicherheit mehr als nur kurzfristige Beeinträchtigungen der Rechte der Betroffenen erforderlich werden lässt. Eine solche Beeinträchtigung ist aber nach dem Recht der Charta zur Wahrung des Weltfriedens zulässig und im Kollisionsfall sogar geboten. Unter Berücksichtigung dieses Vorranges der Friedenssicherung ist der Sicherheitsrat ferner an die von der Generalversammlung verabschiedete Allgemeine 1263 Siehe oben Fn. 1252. 258 Erklärung der Menschenrechte und an die unter dem Dach der Generalversammlung ausgearbeiteten Menschenrechtsverträge gebunden. Auch die Resolutionen der Generalversammlung zum Selbstbestimmungsrecht sind für den Sicherheitsrat beachtlich, da sie ebenso wie die genannten Menschenrechtsinstrumente autoritative Konkretisierungen der in Art. 1 SVN genannten Ziele der Vereinten Nationen sind. Des Weiteren kann der Sicherheitsrat seine Befugnisse auch durch selbstverpflichtendes Handeln begrenzen. Als einseitige Akte sind entsprechende Handlungen und Erklärungen jedoch nur dann rechtsverbindlich, wenn sie sich in dem von der Charta gesetzten Rahmen bewegen. Dies bedeutet insbesondere, dass auch sie dem Vorrang der Friedenssicherung gerecht werden müssen. Die Handlungen der UN-Organe stellen lediglich Konkretisierungen des Rechts der Charta dar, können von diesem aber nicht abweichen. 259 B. Externe Grenzen der Verwaltungsmacht des Sicherheitsrates Bereits in seinem Grundsatzurteil zur Völkerrechtssubjektivität der Organisation hat der IGH festgestellt, dass die Vereinten Nationen neben Inhabern von Rechten auch Träger von Pflichten sein können.1264 Dass mit völkerrechtlichen Rechten auch völkerrechtliche Pflichten in Form der grundsätzlichen Bindung an das Völkerrecht einhergehen, scheint zumindest im Grundsatz unstrittig zu sein und wird selten weiter begründet.1265 So stellt der IGH in seinem Gutachten zum Abkommen der WTO mit Ägypten lediglich fest: „[T]here is nothing in the character of international organizations that justify their being considered as some form of ‚super state’ (...). International organizations are subjects of international law and, as such, are bound by any obligation incumbent upon them under general rules of international law (…).”1266 Zwar werden auch hier die Verpflichtungen, denen internationale Organisationen und, als eine solche, auch die Vereinten Nationen unterliegen, nicht weiter präzisiert. Vielmehr sind diese nach den allgemeinen Regeln des Völkerrechts zu bestimmen. Allein aus der Völkerrechtssubjektivität der UN lässt sich damit noch keine abschließende Aussage über die Bindung des Sicherheitsrates an das allgemeine Völkerrecht treffen.1267 Doch belegt dieser Richterspruch einen bestehenden Konsens dahingehend, dass aufgrund ihrer Völkerrechtssubjektivität eben jene allgemeinen Regeln des Völkerrechts auch auf die Vereinten Nationen anzuwenden sind.1268 Zu diesen Regeln gehört, gleichsam als Ur-Norm, die grundsätzliche Bindung an das „What is does mean is that it [the UN] is a subject of international law and capable of possessing international rights and duties (…).” – IGH, Reparations for Injuries, ICJ-Rep. 1949, 174 (179). 1264 1265 Morgenstern, International Organizations (1986), S. 32; Gowlland-Debbas, AJIL 88 (1994), 643 (662); Ipsen, Völkerrecht (2004), § 6 Rn. 5; Clapham, in: Gowlland-Debbas (Hrsg.), United Nations Sanctions (2001), S. 133; Reinisch, GYIL 44 (2001), 270 (281 f.); Bruha, AVR 41 (2003), 295 (301). 1266 IGH, Interpretation of Agreement, ICJ-Reports 1980, 73 (89 f. § 37). 1267 Insoweit zu Recht Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 191. 1268 Fitzmaurice, Diss. Op., IGH, Namibia-Gutachten, ICJ-Rep. 1971, 220 (294 § 115). Jeweils auf den Sicherheitsrat bezogen Skubiszewski, in: FS Jennings (1996), S. 627; Doehring, MP-UNYB 1 (1997), 91 (92); Akande, ICLQ 46 (1997), 309 (320); Tomuschat, RdC 281 (1999), 1 (134); Gowlland-Debbas, in: dies. (Hrsg.), UN Sanctions (2001), S. 14; Reinisch, AJIL 95 (2001), 851 (858). Ausführlich zur Völkerrechtssubjektivität internationaler Organisationen allgemein Fassbender, ÖZöRV 37 (1986), 17-47. 260 Völkerrecht, wie es aus den drei in Art. 38 Abs. 1 des IGH-Statuts genannten Quellen fließt. Diese Verpflichtung zur Beachtung des Völkerrechts ist dabei lediglich der Grundsatz. Er besagt noch nicht, dass jede einzelne Norm des Völkerrechts auf den Sicherheitsrat anwendbar ist. Die Völkerrechtssubjektivität und das Prinzip der Korrelation von Rechten und Pflichten begründen aber eine widerlegliche Vermutung der Rechtsbindung, die im Einzelfall unter Anwendung der völkerrechtlichen Auslegungsgrundsätze entkräftet werden kann. Der weitaus umfassendste der in Frage stehenden Rechtsbereiche ist das Völkergewohnheitsrecht. Vorbehaltlich des Gegenbeweises ist es auf die Vereinten Nationen und den Sicherheitsrat als ihr Organ in gleicher Weise anzuwenden wie auf Staaten.1269 Sofern nicht im Folgenden noch näher zu untersuchende rechtliche Erwägungen dagegen sprächen, müsste der Sicherheitsrat mithin grundsätzlich all jene Individual-, Gruppen- und Staatenrechte beachten, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt gewohnheitsrechtlich verbürgt sind.1270 Dagegen kann allein aus ihrer Völkerrechtssubjektivität noch keine Bindung der Vereinten Nationen an vertraglich garantierte Rechte begründet werden. Denn die UN ist den Internationalen Pakten, der Kinderrechtekonvention oder anderen relevanten völkerrechtlichen Vertragswerken nicht selbst als Partei beigetreten, ist also nicht vertragsrechtlich an sie gebunden. Wie bereits ausgeführt folgt allerdings aus Art. 24 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Art. 1 Ziff. 3 SVN eine (interne) Verpflichtung zur Beachtung der in ihrer Gesamtheit oft als international bill of rights1271 bezeichneten Konventionen.1272 Als Völkerrechtssubjekt sind die Vereinten Nationen und ihre Organe aber 1269 Schermers/Blokker, International Institutional Law (1995), § 1579; Seidl-Hohenveldern/Loibl, Internationale Organisationen (2000), Rn. 1512; i.E. auch Bleckmann, ZaöRV 37 (1977), 107 (112 f.), der allerdings eine direkte Anwendbarkeit ablehnt und stattdessen für eine analoge Anwendung plädiert; einschränkend Oette, Wirtschaftssanktionen (2003), S. 226 u. 230. Ablehnend Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 191. Zu den Einwänden siehe ausführlich 4.Kp. B.I.1. 1270 So für Menschenrechte allgemein Clapham, in: Gowlland-Debbas (Hrsg.), United Nations Sanctions (2001), S. 134. In diese Richtung bereits Fitzmaurice, Diss. Op., IGH, Namibia-Gutachten, ICJRep. 1971, 220 (294 § 115). 1271 Nowak, CCPR Commentary (1993), Introduction Rn. 1; Partsch, in: Wolfrum (Hrsg.), United Nations (1995), S. 606 Rn. 18; Oette, Wirtschaftssanktionen (2003), S. 238. Zur Entwicklung dieses Begriffs siehe das Vorwort zu Henkin (Hrsg.), Int’l. Bill of Rights (1981). 1272 Siehe dazu oben 4.Kp. A.V.1. 261 vertragsrechtlich nur an jene Verträge gebunden, die sie selbst abgeschlossen haben.1273 Die Völkerrechtssubjektivität der Vereinten Nationen kann daher nur zur Begründung einer Bindung an allgemeine Rechtsgrundsätze und an Völkergewohnheitsrecht herangezogen werden. Da unter diesen beiden das Gewohnheitsrecht den inhaltlich umfangreicheren Teil bildet, wird es den wesentlichen Gegenstand der folgenden Ausführungen bilden. Der Grundsatz der externen Bindung des Sicherheitsrates an das allgemeine Völkerrecht ist in der Literatur nicht unumstritten. Bedenken betreffen nicht nur die Bindung an einzelne Rechtssätze, sondern richten sich auch gegen das Prinzip als solches. So wird eine unmittelbare Bindung des Sicherheitsrates mit Verweis auf einen prinzipiellen Vorrang der Charta verneint (I). Andere halten Völkergewohnheitsrecht aus dogmatischen Gründen für unanwendbar (II). Diesen grundsätzlichen Einwänden gegen eine externe Bindung des Sicherheitsrates wird im Folgenden nachgegangen. I. Prinzipieller Vorrang der Charta vor allgemeinem Völkerrecht Gegen den Grundsatz der externen Bindung des Sicherheitsrates insgesamt wenden sich Auffassungen, die einen prinzipiellen Vorrang der Charta vor allgemeinem Völkerrecht vertreten. Zur Begründung werden entweder der konstitutionelle Charakter der Satzung der Vereinten Nationen (1.) oder die lex specialisbeziehungsweise lex posterior-Regeln aufgeführt (2.). Beide Auffassungen hätten zur Folge, dass der Sicherheitsrat als ein durch die Charta ins Leben gerufenes Organ deren Vorrangposition teilte. Er wäre mithin allein an die Charta gebunden,1274 an allgemeines Völkerrecht und Völkergewohnheitsrecht dagegen nur insoweit, als er durch die Satzung der Vereinten Nationen dazu verpflichtet würde. Grenzen der Verwaltungsmacht des Sicherheitsrates ließen sich dann nur organisationsintern 1273 Lysen, Nordic JIL 72 (2003), 291 (293); Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 187. Auf die unbefriedigenden Folgen dieses Umstands verweist Schreuer, in: FS Zemanek (1994), S. 226 f. 1274 So explizit Fassbender, EJIL 11 (2000), 219 (227), der die konstitutionelle Theorie vertritt. 262 begründen.1275 1. UN-Charta als Weltverfassung mit Geltungsvorrang Die Vertreter der hier als konstitutionelle Theorie bezeichneten Auffassung gehen davon aus, dass die Gründer der Vereinten Nationen mehr als nur eine internationale Organisation schaffen wollten. Vielmehr sei vor dem Hintergrund der Erfahrungen des zweiten Weltkriegs eine grundlegende Wandlung der internationalen Beziehungen angestrebt worden, was auch die Präambel der Charta deutlich mache.1276 Die Charta sei daher als Grundordnung der internationalen Gemeinschaft konzipiert worden, die dieser neben handlungsfähigen Organen mit Ansätzen aller drei Gewalten1277 auch einen gemeinsamen Wertekatalog gebe. Die Charta habe damit das zu diesem Zeitpunkt bestehende allgemeine Völkerrecht – soweit es fortgelten sollte – bestätigt und inkorporiert.1278 Neben der Charta verbleibe kein Raum mehr für ein unabhängiges Völkerrecht, vielmehr nehme diese die höchste Stufe in der völkerrechtlichen Normenhierarchie ein und setze den Rahmen für das übrige Völkerrecht.1279 Auch das nach Gründung der Vereinten Nationen entstandene Völkerrecht finde seinen Geltungsgrund in den in der Charta niedergelegten Prinzipien,1280 insbesondere in ihrem ersten und zweiten Artikel. Durch die nunmehr nahezu universelle Mitgliedschaft der Staaten in den Vereinten Nationen habe diese 1275 Zum Umfang der internen Bindung des Sicherheitsrates an allgemeines Völkerrecht siehe bereits oben 4.Kp. A. 1276 Fassbender, UN Security Council Reform and the Right of Veto (1998), S. 98. 1277 Zu den drei Gewalten in der internationalen Gemeinschaft siehe Tomuschat, AVR 33 (1995), 1 (818). 1278 Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht (1984), § 91 u. § 374; Fassbender, UN Security Council Reform and the Right of Veto (1998), S. 99 u. 118 f. 1279 Fassbender, UN Security Council Reform and the Right of Veto (1998), S. 117 f. Insofern unterscheidet sich diese Auffassung von gemäßigten Konstitutionalisten, welche die Charta zwar auch als Verfassung der internationalen Gemeinschaft begreifen, aber keine vollständige Verdrängung des übrigen Völkerrechts annehmen. In diese Richtung beispielsweise Tomuschat, in: ders. (Hrsg.), UN at Age Fifty (1995), S. ix, und Dupuy, MP-UNYB 1 (1997), 1 (30). Für einen Geltungsvorrang der UNCharta als formeller Verfassungsurkunde der internationalen Gemeinschaft dagegen auch Köck, in: FS Zemanek (1994), S. 88 f. u. 91. 1280 Fassbender, UN Security Council Reform and the Right of Veto (1998), S. 119 f., zurückhaltender Dupuy, MP-UNYB 1 (1997), 1 (11), der lediglich von einem „substantial link“ zwischen Charta und ius cogens-Normen spricht, aber von einer unabhängigen Existenz beider Rechtsformen ausgeht. 263 so angestrebte grundlegende Umgestaltung der Weltordnung ihren Abschluss gefunden.1281 Für die Vertreter der konstitutionellen Theorie machen insbesondere Art. 2 Ziff. 6 und Art. 103 SVN den Verfassungscharakter der Charta deutlich. Während ersterer auch Nichtmitgliedstaaten in den Adressatenkreis der Ziele und Grundsätze der Organisation einbeziehe,1282 begründe letzterer eine Normenhierarchie, indem er der Charta Geltungsvorrang vor allen anderen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten gewähre.1283 Der konstitutionellen Theorie ist zuzubilligen, dass die Charta tatsächlich Ansätze eines universalen Geltungsanspruchs aufweist. So ist der Sicherheitsrat nach Art. 39 SVN befugt, jede („any“) Bedrohung des Weltfriedens zu bekämpfen, mithin auch solche, die sich außerhalb der Mitgliedstaaten der Organisation ereignen.1284 Auch Art. 52 SVN, der die Zulässigkeit regionaler Abmachungen und Einrichtungen regelt, beschränkt sich nicht auf solche, denen UNMitglieder angehören.1285 Indes scheinen die Prämissen dieser These fraglich.1286 Zwar mögen die Gründerstaaten der Vereinten Nationen eine universelle Organisation angestrebt haben, welche die Beziehungen der Staaten untereinander auf eine neue oder doch zumindest modifizierte rechtliche Grundlage stellen sollte.1287 Doch waren auch sie 1281 Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht (1984), § 91. 1282 Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 85 f. 1283 Fassbender, UN Security Council Reform and the Right of Veto (1998), S. 104 u. 120; ferner Köck, in: FS Zemanek (1994), S. 86. In diese Richtung auch Rolin, RdC 77 (1950), 309 (434). 1284 Verdross, AJIL 60 (1966), 55 (62); ähnlich auch Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 106 f. 1285 Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht (1992), S. 70, der sich aber gegen die Theorie vom materiellen Verfassungscharakter der Charta wendet (ebenda, S. 29 f.). 1286 Kritisch auch Crawford, Constitution (1997), S. 10-16, der auf die fehlende Gewaltenteilung und die immer noch im Verhältnis zu staatlichen Verfassungen vergleichsweise schwach ausgebildeten Individualrechte verweist. 1287 Zu Recht weist allerdings Abi-Saab, in: Fox (Hrsg.), Constitution (1997), S. 20 f., darauf hin, dass die Charta zunächst nur eine qualifizierte Universalität der Mitgliedschaft anstrebte, die insbesondere die ehemaligen Feindstaaten ausschloss. 264 insbesondere im Hinblick auf ihre vergleichsweise geringe Anzahl1288 nicht in der Lage, das allgemeine Rechtsprinzip pacta tertiis nec nocent nec prosunt1289 außer Kraft zu setzen und für unbeteiligte Staaten neue Verpflichtungen zu schaffen.1290 Auch lässt die Charta selbst in wesentlichen Normen nicht erkennen, dass sie einen derartigen universellen Vorrang beansprucht. Art. 2 Ziff. 6 SVN verpflichtet weniger Nichtmitgliedstaaten als vielmehr die Organisation selbst.1291 Art. 103 SVN enthält lediglich einen grundsätzlichen Vorrang der Charta vor anderen vertraglichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, betrifft mithin nicht ihre gewohnheitsrechtlichen Pflichten.1292 Er legt ferner nur fest, wie sich die Mitgliedstaaten im Falle einer Kollision von Pflichten aus der Charta mit solchen aus anderen völkerrechtlichen Verträgen zu verhalten haben: Sie haben die aus der Charta fließenden Pflichten zu befolgen.1293 Dagegen trifft Art. 103 SVN keine Aussage über Gültigkeit der entgegenstehenden Verträge oder über die mögliche 1288 Nur 51 Staaten waren ursprüngliche Mitglieder i.S.d. Art. 3 SVN. 21 Staaten wurde in den ersten zehn Jahren der Organisation der Beitritt verwehrt. Siehe dazu Vitzthum, Art. 2 Ziff. 6 SVN (2002), Rn. 2, m.w.N. 1289 Allgemein zu diesem in Art. 34 WVK (1969) wiedergegebenen allgemeinen Grundsatz des Völkerrechts siehe Shaw, Int’l. Law (2003), S. 834 f.; Dupuy, Droit int’l. public (2004), Rn. 286; Ipsen, Völkerrecht (2004), § 12 Rn. 23. 1290 Dahm, Völkerrecht II (1961), S. 182 f.; Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht (1992), S. 30; Herbst, Rechtskontrolle (1999), S. 372; Schweigman, Authority (2001), S. 195; Randelzhofer, Art. 2 SVN (2002), Rn. 20 (die letzten beiden zu Art. 2 Ziff. 6 SVN). Anders Tomuschat, in: FS Kooijmans (2002), S. 335 f., der in Art. 2 Ziff. 6 SVN eine mittlerweile gewohnheitsrechtlich anerkannten Ausnahme vom pacta tertiis-Grundsatz sieht. 1291 Zu Recht sieht Vitzthum, Art. 2 Ziff. 6 SVN (2002), Rn. 23, daher die Norm als eine Verpflichtung der Organisation und ihrer Mitgliedstaaten an, bei der Wahrung des Weltfriedens auch relevantes Verhalten von Nichtmitgliedstaaten zu beachten, ohne dass so unmittelbar in deren Rechtsposition eingegriffen würde. 1292 Watson, Harvard ILJ 34 (1993), 1 (25); Oette, Wirtschaftssanktionen (2003), S. 222; ferner Dupuy, MP-UNYB 1 (1997), 1 (13), der darauf verweist, dass ein entsprechender Ergänzungsvorschlag, der den Anwendungsbereich des Art. 103 SVN auch auf gewohnheitsrechtliche Verpflichtungen der Mitgliedstaaten ausgedehnt hätte, bei der Gründungskonferenz in San Francisco keine Mehrheit fand. Für eine solche erweiternde Auslegung des Art. 103 SVN auf der Grundlage des materiellen Verfassungscharakters der Charta plädieren dagegen Köck, in: FS Zemanek (1994), S. 86, und Bernhardt, Art. 103 SVN (2002), Rn. 21. Ebenso Schweigman, Authority (2001), S. 196, der allerdings das gewohnheitsrechtliche Recht der Verträge und ius cogens vom Vorrang der Charta nach Art. 103 SVN ausnimmt. 1293 Dafür, dass Art. 103 SVN lediglich einen Anwendungsvorrang der Charta gegenüber entgegenstehendem Vertragsrecht begründet, auch Gowlland-Debbas, ICLQ 43 (1994), 55 (88). 265 Haftung der Mitgliedstaaten aufgrund der Mißachtung dieser Verträge.1294 Auch lassen die Materialien zur Konferenz von San Francisco nicht erkennen, dass ein solcher verfassungsrechtlicher Geltungsvorrang von den Gründerstaaten gewollt war.1295 Zu Recht hat der IGH daher im Nicaragua-Urteil festgestellt, dass die Charta das Bestehen parallelen Völkergewohnheitsrechts nicht ausschließt.1296 Umso mehr gilt dies für Völkergewohnheitsrecht, das wie die Menschenrechte keine konkrete Ausprägung in der Charta gefunden hat. Die Charta und das auf ihr basierende Sekundärrecht der Vereinten Nationen sind Teil des Völkerrechts und nach völkerrechtlichen Maßstäben zu beurteilen, nicht umgekehrt.1297 2. Vorrang der Charta nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen Das schließt indes nicht aus, dass man bei der Anwendung herkömmlicher völkerrechtlicher Auslegungsmethoden zu ähnlichen Ergebnissen kommt wie bei Anwendung der Lehre vom Verfassungscharakter der Charta. Aufgrund der nahezu universellen Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen1298 ist die UN-Charta in der Tat ein für alle relevanten Staaten verbindliches Vertragswerk geworden.1299 Als solche könnte sie nach den Grundsätzen lex specialis derogat legi generali und lex posterior derogat legi priori Geltungsvorrang gegenüber allgemeinem 1294 Bernhardt, Art. 103 SVN (2002), Rn. 6. Bernhardt nimmt allerdings an, dass auch Nichtmitgliedstaaten aufgrund des Verfassungscharakters der Charta verpflichtet seien, die aus Art. 103 SVN folgende Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur vorrangigen Befolgung der Charta-Pflichten gegen sich gelten zu lassen (ebenda, Rn. 18). Noch weitergehend Schreuer, in: FS Zemanek (1994), S. 237, der aufgrund ihres materiellen Verfassungscharakters eine Bindung „aller internationalen Akteure an die Charta einschließlich internationaler Organisationen“ annimmt. 1295 Bernhardt, Art. 103 SVN (2002), Rn. 2, m.w.N. 1296 IGH, Nicaragua (merits), ICJ-Rep. 1986, 14 (95 § 178), ihm folgend Dupuy, MP-UNYB 1 (1997), 1 (15). Kritisch Fassbender, UN Security Council Reform and the Right of Veto (1998), S. 120 f. 1297 Ranjeva, Diss. Op., IGH, 1971 Montreal Convention (prov. measures), ICJ-Rep. 1992, 72 (73 § 6); Oette, Wirtschaftssanktionen (2003), S. 221. Zum rechtsphilosophischen Hintergrund der Idee einer Weltverfassung siehe Fischer-Lescano, ZaöRV 63 (2003), 717-760. 1298 Derzeit sind der Vatikan und Taiwan als einzige Staaten nicht UN-Mitglieder (Vitzthum, Art. 2 Ziff. 6 SVN (2002), Rn. 2). 1299 Tomuschat, in: ders. (Hrsg.), UN at Age Fifty (1995), S. ix. 266 Völkergewohnheitsrecht beanspruchen.1300 Dies wäre jedoch nur unter zwei Voraussetzungen der Fall: Die Charta müsste den fraglichen Sachverhalt tatsächlich regeln, um spezieller sein zu können, und das entgegenstehende Gewohnheitsrecht müsste vor Inkrafttreten der Charta entstanden sein.1301 Das unter Beteiligung der Mitgliedstaaten nach Gründung der Organisation entstandene Gewohnheitsrecht kann dagegen seinerseits nach der lex posterior-Regel Vorrang gegenüber der Charta beanspruchen. Insoweit handelt es sich dann um satzungsänderndes Gewohnheitsrecht, dessen grundsätzliche Zulässigkeit weitgehend unbestritten ist.1302 Dieses Wechselspiel zwischen Charta und Staatenpraxis wird zusätzlich durch das Handeln der Organisation selbst beeinflusst. Einerseits sind die Vereinten Nationen dabei Medium der durch sie handelnden Staaten, so dass ihre Tätigkeit auch Ausfluss von Staatenpraxis ist. Andererseits kann die UN als völkerrechtlicher Akteur selbst zur Ausbildung neuen Gewohnheitsrechts beitragen.1303 Es kann an dieser Stelle nicht ausführlich auf die Rolle der Vereinten Nationen bei der Herausbildung neuer völkerrechtlicher Normen eingegangen werden. Vielmehr reicht die Feststellung, dass die Entwicklung von Gewohnheitsrecht auch nach Gründung der UN angehalten hat, so dass die Charta heute nur noch eingeschränkt Vorrang nach der lex posterior-Regel besitzt. Ob dies der Fall ist, kann nur anhand der konkreten gewohnheitsrechtlichen Norm und ihres Entstehungszeitpunkts bestimmt werden. Im Falle der vorliegend als Grenzen der Verwaltungsmacht des Sicherheitsrates in Frage kommenden Grundsätze der Staatensouveränität, des Selbstbestimmungsrechts der Völker und der Menschenrechte kann ein lex posterior-Vorrang der Charta nur 1300 Köck, in: FS Zemanek (1994), S. 90; ihm folgend Oette, Wirtschaftssanktionen (2003), S. 221. Ähnlich Brownlie, Principles (2003), S. 659. 1301 Zu Letzterem Köck, in: FS Zemanek (1994), S. 90. 1302 Köck, in: FS Zemanek (1994), S. 90; Seidl-Hohenveldern/Loibl, Internationale Organisationen (2000), Rn. 1513. Ein Beispiel ist die Regel, die Enthaltung eines ständigen Sicherheitsratsmitgliedes entgegen dem Wortlaut des Art. 27 Abs. 3 SVN nicht als Veto zu bewerten. 1303 § 78 des Berichts A/1316 der ILC an die Generalversammlung vom 29.7.1950, abgedr. in ILCYB 1950 II, 364 (372). Für internationale Organisationen allgemein bereits Virally, in: Sørensen (Hrsg.), Manual of Public Int’l. Law (1968), S. 139 f; ferner Shaw, Int’l. Law (2003), S. 78 f. 267 gegenüber dem Prinzip der Souveränität der Staaten angenommen werden. Dagegen haben sich das Selbstbestimmungsrecht und die Menschenrechte in ihrer gegenwärtigen Form im Wesentlichen nach der Gründung der Vereinten Nationen entwickelt. In den allgemeinen Teilen der Charta sind beide zudem nur sehr grundsätzlich geregelt.1304 Nur für den Sonderfall der nicht-selbstregierten Territorien und der Treuhandgebiete hat zumindest das Selbstbestimmungsrecht eine etwas genauere Ausprägung gefunden.1305 Die Menschenrechte und Grundfreiheiten sind in der Charta zunächst nur als Diskriminierungsverbote ausgestaltet, verbunden mit einem Appell zur Wahrung der Menschenwürde in der Präambel. Insofern erscheint auch die lex specialis-Regel im Falle des Selbstbestimmungsrechts nur bedingt, im Falle einzelner Menschenrechte kaum geeignet, einen Geltungsvorrang der Charta zu begründen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Charta aufgrund der lex specialisRegel nur im Falle der Souveränitätsrechte der Mitgliedstaaten eine Vorrangstellung gegenüber allgemeinem Völkergewohnheitsrecht zukommt. Dagegen ist aufgrund ihrer vergleichsweise schemenhaften Ausbildung in der Charta zu vermuten, dass im Falle der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts dem in dieser Hinsicht mittlerweile detaillierteren Völkergewohnheitsrecht der Vorrang gebührt. Ähnliche Ergebnisse sind aufgrund des vergleichsweise niedrigen Alters der genannten Rechte auch bei einer Anwendung des lex posterior-Grundsatzes auf die Charta anzunehmen. Ein grundsätzlicher Vorrang vor Völkergewohnheitsrecht kommt der Charta nach den hier angewendeten Rechtsgrundsätzen damit nicht zu. Allein im Falle der gewohnheitsrechtlich verbürgten Rechte der Staatensouveränität ist ein weitreichender Vorrang der in der Charta getroffenen Regelungen zu vermuten. II. Gegen Dogmatische Bedenken gegen eine Bindung des Sicherheitsrates an Völkergewohnheitsrecht eine vollumfänglich externe Bindung des Sicherheitsrates an 1304 Siehe Art. 1 Ziff. 2 und Art. 55 SVN für das Selbstbestimmungsrecht sowie die Präambel, Art. 1 Ziff. 3 und Art. 55 lit. c) SVN für die Menschenrechte. 1305 Siehe Art. 73 lit. b) und Art. 76 lit. b) SVN. Allerdings sind diese auch einige der wichtigsten Anwendungsbereiche des Selbstbestimmungsrechts. 268 Völkergewohnheitsrecht werden des Weiteren dogmatische Bedenken vorgebracht. Die hier diskutierte externe Bindung setzt voraus, dass allein der Umfang der Völkerrechtssubjektivität über den Umfang der Rechtsbindung entscheidet. Dagegen muss das Gewohnheitsrecht selbst adressatenunabhängig gelten, mithin lediglich verbindlich einen bestimmten Tatbestand regeln, unabhängig davon, durch wen er in der Praxis verwirklicht wird. Den Bedenken gegen diese Prämisse1306 soll im Folgenden nachgegangen werden. 1. Die Adressatenbezogenheit des Völkergewohnheitsrechts und die daraus folgende Notwendigkeit einer Einwilligung der Vereinten Nationen Der Adressatenunabhängigkeit des Völkergewohnheitsrechtes wird in der Literatur teilweise widersprochen. Aus der Völkerrechtssubjektivität folge lediglich, dass eine bestimmte völkerrechtliche Einheit Trägerin von Rechten und Pflichten sein könne.1307 Trägerin welcher Rechte und Pflichten sie tatsächlich sei, richte sich danach, ob sie zum Adressatenkreis der fraglichen Rechtsnorm gehöre.1308 Der Sicherheitsrat wäre mithin an Gewohnheitsrecht nur dann gebunden, wenn er beziehungsweise die Vereinten Nationen zu dessen Adressatenkreis gehörten. Den Kritikern einer externen Bindung zufolge hat das Völkergewohnheitsrecht aber gerade keinen offenen Adressatenkreis. Vielmehr folge aus den Entstehungsvoraussetzungen des Gewohnheitsrechts, dass der Adressat des Rechtssatzes notwendiger Bestandteil der Norm sei und diese sich eben nicht unterschiedslos an alle Völkerrechtssubjekte wende.1309 Gewohnheitsrecht entsteht durch eine im Verhältnis der Rechtssubjekte untereinander praktizierte Übung, die von diesen als rechtsverbindlich angesehen werde. Daraus folge, dass nur jene Rechtssubjekte an eine gewohnheitsrechtliche Norm gebunden seien, die an der ihr zugrunde liegenden Übung teilgenommen und so an der Entstehung dieses 1306 Ausführlich dazu Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 188-217. 1307 Bleckmann, ZaöRV 37 (1977), 107 (112); Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 191. 1308 Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 191. 1309 Bleckmann, ZaöRV 37 (1977), 107 (110). 269 Rechtssatzes mitgewirkt hätten.1310 Unbeteiligte Rechtssubjekte seien nur insoweit gebunden, als sie der enstandenen Norm entweder explizit oder stillschweigend (aquiescene) zugestimmt hätten.1311 Die Vereinten Nationen wären in der Folge nur an jene gewohnheitsrechtlichen Normen gebunden, zu deren Entstehung sie als autonomes Völkerrechtssubjekt innerhalb ihres Kompetenzbereiches teilgenommen hätten,1312 oder dem sie zugestimmt hätten. Dabei seien an die Annahme einer stillschweigenden Zustimmung hohe Anforderungen zu stellen. So setze das allgemeine Rechtsprinzip der aquiescence voraus, dass die übrigen Teilnehmer des Völkerrechtsverkehrs darauf vertrauen durften, dass die Vereinten Nationen gegebenenfalls dem Bestehen der fraglichen Norm explizit widersprochen hätten.1313 Nur dann könne ihr Schweigen als Zustimmung gewertet werden. Im Gegensatz zu den völkerrechtlich prinzipiell omnipotenten Staaten sei aber der Tätigkeitsbereich der Vereinten Nationen deutlich beschränkter. Schutzwürdiges Vertrauen könne daher nur dort entstehen, wo die Organisation nach der herrschenden Auffassung im Moment der Entstehung der Norm Befugnisse besitze und diese auch aktiv wahrnehme.1314 Erweitere die Organisation dagegen ihren Tätigkeitsbereich, etwa weil sich tatsächliche Umstände oder die herrschende Auslegung ihrer Satzung geändert haben, seien die Vereinten Nationen nicht an das diesen Bereich regelnde Völkergewohnheitsrecht gebunden. Denn die übrigen Völkerrechtssubjekte könnten nicht darauf vertrauen, dass die UN sich gleichsam präventiv gegen gewohnheitsrechtliche Normen ausspräche, die in 1310 Bleckmann, ZaöRV 37 (1977), 107 (111); Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 190, unter Berufung auf Virally, in: Sørensen (Hrsg.), Manual of Public Int’l. Law (1968), S. 130. Ablehnend dagegen Ipsen, Völkerrecht (2004), § 16 Rn. 25. 1311 Ablehnend Tomuschat, RdC 241 (1993), 195 (277 u. 290). 1312 Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 192. Bleckmann, ZaöRV 37 (1977), 107 (113), hält den auf diese Weise anwendbaren Kreis von Normen für sehr gering. Das kann allerdings angesichts der wesentlichen Rolle, welche die Organisation bei der Entwicklung und Förderung der Menschenrechte gespielt hat, für die Vereinten Nationen nicht gelten. 1313 Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 194 f. Dagegen fordert beispielsweise Ipsen, Völkerrecht (2004), § 16 Rn. 27, einen ausdrücklichen und wiederholten („beharrlichen“) Widerspruch, um eine Bindung des betreffenden Völkerrechtssubjekts an neu entstandenes Gewohnheitsrecht zu verhindern. In diese Richtung auch Shaw, Int’l. Law (2003), S. 86. 1314 Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 198 f. 270 Bereichen entstünden, in denen sie selbst bislang nicht tätig geworden sei, die sie mithin zum Zeitpunkt der Normentstehung noch nicht betroffen hätten.1315 Dies gelte umso mehr für Normen, die bereits vor dem Inkrafttreten der UN-Charta entstanden seien. Auch diese seien auf die Vereinten Nationen und damit auf den Sicherheitsrat nur insoweit anwendbar, als diese ihnen nach den hier dargelegten Grundsätzen zugestimmt hätten.1316 Diese Auffassung beschränkt eine externe Bindung des Sicherheitsrates auf Gewohnheitsrecht, in dessen Geltung die Vereinten Nationen entweder eingewilligt haben oder an dessen Entstehung sie im Rahmen ihrer autonomen Zuständigkeiten selbst mitgewirkt haben. Im Ergebnis hat dies zur Folge, dass der Sicherheitsrat nur insoweit durch Normen des Gewohnheitsrechts begrenzt ist, als er oder die Vereinten Nationen dies zugelassen haben. Die externe Bindung wäre somit grundsätzlich auf eine freiwillige Selbstbindung beschränkt, die allerdings, einmal gegeben, nicht wieder rückgängig zu machen wäre. Angewendet auf die Übernahme der Verwaltungshoheit über ein Krisengebiet hieße dies zunächst, dass die Ausübung staatsgleicher territorialer Hoheitsbefugnisse allein den Sicherheitsrat keinen gewohnheitsrechtlichen Verpflichtungen aussetzt. Da zumindest die eigenbestimmte Verwaltung ein relativ junges Phänomen ist, wären auch der Annahme von Bindungen im Wege der aquiescence Grenzen gesetzt.1317 Anders als Staaten wäre der Sicherheitsrat bei der Ausübung von Territorialgewalt zunächst nicht an gewohnheitsrechtliche Menschenrechte und Ähnliches gebunden. Allerdings könnte man in den Anordnungen des Sicherheitsrates, bestimmte menschenrechtliche Verträge in den verwalteten Gebieten anzuwenden,1318 eine konstitutive Anerkennung gleichlautenden Gewohnheitsrechtes erkennen. 1315 Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 199. 1316 Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 200-205, insbes. S. 202. Anders Bleckmann, ZaöRV 37 (1977), 107 (113-116), der aus dem jeder Rechtsordnung inhärenten Gebot der konsequenten und gleichen Rechtsanwendung heraus eine analoge Anwendung des Gewohnheitsrechts befürwortet. Ablehnend Starck, a.a.O., S. 205-207, die zumindest auf die Vereinten Nationen bezogen das Bestehen einer Regelungslücke verneint. 1317 Bei den UN-Missionen in West-Neuguinea, Namibia und Kambodscha waren den Vereinten Nationen durch die ihrer dortigen Tätigkeit zugrunde liegenden Verträge Grenzen gesetzt. Siehe oben 2.Kp. F.-H. 271 2. Stellungnahme Der These von der Adressatenbeschränktheit des Völkergewohnheitsrechtes kann nicht uneingeschränkt zugestimmt werden. Völkergewohnheitsrecht bindet auch Staaten, die an seiner Entwicklung nicht beteiligt waren und die ihm nicht in irgendeiner Form zugestimmt haben.1319 So sind nach herrschender Auffassung auch neu entstandene Staaten an bestehendes Völkergewohnheitsrecht gebunden.1320 Denn Völkergewohnheitsrecht enthält Ordnungsnormen, welche den maßgeblichen Rahmen für die Beziehungen der Staaten untereinander setzen.1321 So kann ein neuer Staat beispielsweise nicht mit dem Argument innerhalb der zwölf-Seemeilen-Zone eines anderen Staates nach Öl bohren, er habe dieser Regel nicht zugestimmt, und sie könne ihm deshalb nicht entgegengehalten werden.1322 Das Völkergewohnheitsrecht schafft eine objektive Rechtsordnung, die von allen Teilnehmern im völkerrechtlichen Verkehr zu beachten ist.1323 Die Objektivität der Rechtsordnung beruht indes nicht nur darauf, dass sie einen Ordnungsrahmen für die Beziehungen der Staaten untereinander schafft. Sie beruht auch darauf, dass Völkergewohnheitsrecht nicht mehr allein zwischenstaatliches Recht ist. Vielmehr fallen gerade bei den Menschenrechten und dem Selbstbestimmungsrecht Verpflichtete und Berechtigte auseinander. Ein auf 1318 Siehe UNTAET/REG/1999/1 vom 27.11.1999 und UNMIK/REG/1999/24 vom 12.12.1999. 1319 Ipsen, Völkerrecht (2004), § 16 Rn. 25. Tomuschat, RdC 281 (1999), 1, S. 329, verweist zu Recht darauf, dass Südafrikas Apartheidspolitik konsequent von der gesamten Staatengemeinschaft als Völkerrechtsverstoß verurteilt wurde, obwohl Südafrika einem gewohnheitsrechtlichen Apartheidsverbot stets widersprochen hatte. Tomuschat, RdC 241 (1993), 195 (305 f.); Shaw, Int’l. Law (2003), S. 86; Ipsen, Völkerrecht (2004), § 16 Rn. 29 (jeweils m.w.N.). Der UN-Menschenrechtsausschuss hat dieses Prinzip in seinem General Comment No. 26 vom 29.10.1997 (abgedr. als A/53/40, Annex VII, 102) sogar auf menschenrechtliche Verträge ausgeweitet. Träger dieser Rechte seien die Bewohner eines Gebietes, nicht der Territorialstaat. Die Verpflichtung zur Garantie dieser Rechte treffe auch nachfolgende Inhaber territorialer Hoheitsbefugnisse, unabhängig von ihrer Zustimmung. Nach der hier vertretenen Ansicht kann dies zumindest für den Sicherheitsrat unter Kapitel VII der Charta nicht gelten. 1320 Vgl. StIGH, Lotus-Fall (1927), PCIJ Ser. A, No. 10, 1 (18): „(...) as expressed in (…) usages generally accepted as expressing principles of law and established in order to regulate the relations between these co-existing independent communities or with a view to the achievement of common aims.” 1321 1322 Zu den Kompetenzabgrenzungen im Seerecht als objektive, allgemeingültige Normen des Völkergewohnheitsrechts Tomuschat, RdC 281 (1999), 1, (135 f.). 1323 Doehring, MP-UNYB 1 (1997), 91 (93); Tomuschat, RdC 281 (1999), 1 (134 f.). 272 reziprokem Staatenverhalten und stillschweigender Zustimmung basierendes Verständnis des Gewohnheitrechts vermag diese Phänomene nicht mehr zu erfassen. Dies gilt erst recht für internationale Organisationen, die anders als Staaten keine originären, sondern derivative Völkerrechtssubjekte sind und ihre rechtliche Existenz und ihre Befugnisse allein von ihren Mitgliedstaaten ableiten. Von diesen wurden sie gegründet, um bestimmte Ziele besser verfolgen und bestimmte Aufgaben effektiver wahrnehmen zu können. Der Sache nach sind internationale Organisationen somit nichts Anderes als eine Zusammenlegung bestehender Staatenrechte auf der Grundlage der bestehenden Völkerrechtsordnung.1324 Das schließt nicht aus, dass die in der UN zusammengefasste Staatengesamtheit als solche den bestehenden gewohnheitsrechtlichen Rahmen verändern kann.1325 Dass aber allein die Gründung einer internationalen Organisation, unabhängig von ihrer Mitgliederzahl, dazu ausreichen soll, dass sich Staaten, sofern sie nur gemeinsam handeln, ihrer Verpflichtungen aus Völkergewohnheitsrecht entziehen können, erscheint merkwürdig.1326 In der Tat hat bisher keine internationale Organisation eine derartige rechtliche Freiheit für sich beansprucht.1327 So hat im Gegenteil der UNGeneralsekretär bei der Errichtung des Jugoslawientribunals der Vereinten Nationen ausdrücklich betont, dass dieses die allgemein anerkannten Rechte des Beschuldigten unter allen Umstände beachten müsse.1328 Es ist daher davon auszugehen, dass auch internationale Organisationen an die zwischen Staaten anwendbaren allgemeinen Regeln des Gewohnheitsrechts gebunden sind, sofern diese nicht aus faktischen 1324 Zur Frage einer durch diesen Übertragungsakt bedingten mittelbaren Bindung des Sicherheitsrates an allgemeines Völkerrecht siehe unten 4.Kp. C. 1325 Crawford, Constitution (1997), S. 15. 1326 Crawford, Constitution (1997), S. 15. Ablehnend auch Tomuschat, RdC 281 (1999), 1 (135). 1327 Morgenstern, International Organizations (1986), S. 34. Umgekehrt bekannten sich die Sicherheitsratsmitglieder ausdrücklich in der Erklärung des Sicherheitsratspräsidenten vom 31.1.1992 zur Verpflichtung auf das Völkerrecht: „The members of the Council pledge their commitment to international law“ (UN-Doc. S/23500, S. 3). „It is axiomatic that the International Tribunal must fully respect internationally recognized standards regarding the rights of the accused at all stages of its proceedings.” Siehe § 106 des Berichts S/25704 vom 3.5.1993, abgedr. in ILM 32 (1993), 1159 (1185). 1328 273 Gründen auf Organisationen unanwendbar sind.1329 Doch selbst wenn man die These von der adressatenunabhängigen, weil objektiven Gewohnheitsrechtsordnung im Völkerrecht ablehnt und eine wie auch immer geartete Zustimmung der internationalen Organisation zu ihrer Bindung an eine Norm des Gewohnheitsrechts verlangt, wären an diese keine allzu strengen Anforderungen zu stellen. Wird eine Organisation ihrer Bestimmung gemäß innerhalb eines bestimmten Rechtsgebietes tätig, so kann zulässigerweise darauf vertraut werden, dass sie den dafür bestehenden gewohnheitsrechtlichen Rechtsrahmen anerkennt, sofern nichts Gegenteiliges deutlich erkennbar wird. Insofern gelten innerhalb dieses Rechtsbereiches zumindest dieselben Grundsätze wie bei der stillschweigenden Bindung durch Staaten.1330 Schließen die Vereinten Nationen Verträge mit Staaten, so dürfen die übrigen Staaten mangels gegenteiliger Anzeichen davon ausgehen, dass die UN in das bestehende gewohnheitsrechtliche Vertragsregime einwilligt. Fordern sie die Einhaltung gewohnheitsrechtlicher Menschenrechte oder des Selbstbestimmungsrechts der Völker, so fällt es schwer, sie diesbezüglich als einen persistent objector einzustufen. Ohnehin sind internationale Organisationen zumindest an jene Normen des Gewohnheitsrechts gebunden, zu deren Entwicklung sie selbst durch entsprechende rechtserhebliche Akte ihrer Organe beigetragen haben.1331 Der Umfang der so erzeugten Rechtsbindungen darf angesichts der Bedeutung der Vereinten Nationen bei der Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts und der Menschenrechte nicht unterschätzt werden. Aus ihrer Eigenschaft als gekorenes Rechtssubjekt folgt im Übrigen, dass ihre Kompetenzen grundsätzlich nicht umfangreicher oder weitreichender sein können als die Summe der Kompetenzen ihrer 1329 Morgenstern, International Organizations (1986), S. 32; Tomuschat, RdC 281 (1999), 1, S. 135. So wird beispielsweise ohne Weiteres von einer Bindung der EG/EU an Völkergewohnheitsrecht ausgegangen: EuGH, Racke/Hauptzollamt Mainz, Slg. 1998, I-3655 (I-3704 § 44); ferner aus der Literatur: Bothe, ZaöRV 37 (1977), 122 (137); Jacobs, EC Law and Intl. Law (1983), S. 24 f.; Oppermann, Europarecht (1999), S. 223 f. (Rn. 595 f.); Gautron/Grard, in: S.F.D.I. (Hrsg.), Droit international et droit communautaire (2000), S. 117; Tomuschat, Artikel 281 EGV (2004), Rn. 39 f. 1330 Zu diesen siehe Ipsen, Völkerrecht (2004), § 16 Rn. 25-27; sowie ausführlich Tomuschat, RdC 241 (1993), 195 (275-291). 1331 So auch Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 192. 274 Mitgliedstaaten.1332 Insofern gelten die Beschränkungen, denen die Mitglieder unterliegen, zumindest mittelbar auch für die Vereinten Nationen. Auf diese mittelbare oder übertragene Rechtsbindung des Sicherheitsrates soll allerdings zu einem späteren Zeitpunkt zurückgekommen werden.1333 III. Eingeschränkte Rechtsbindung durch Art. 1 Ziff. 1 SVN? Wie bereits ausgeführt, trifft Art. 1 Ziff. 1 SVN eine Unterscheidung zwischen Maßnahmen der friedlichen Streitbeilegung (Kapitel VI der Charta) und solchen zur Beseitigung von Friedensbedrohungen (Kapitel VII der Charta).1334 Nur hinsichtlich der friedlichen Lösung internationaler Streitigkeiten hält Art. 1 Ziff. 1 SVN die Vereinten Nationen dazu an, die Grundsätze der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu beachten. Daraus lässt sich der Umkehrschluss ziehen, bei Maßnahmen auf der Grundlage von Kapitel VII der Charta sei der Sicherheitsrat von der Beachtung allgemeinen Völkerrechts freigestellt.1335 Aus allgemeinem Völkergewohnheitsrecht könnten sich dem zufolge keine Grenzen für die Befugnisse des Sicherheitsrates ergeben, ein Krisengebiet zu verwalten. Während den Gründungsstaaten eine derartige Intention angesichts der angestrebten Polizeifunktion des Sicherheitsrates durchaus unterstellt werden kann, bleibt zu klären, ob und in welchem Umfang die UN-Charta rechtstechnisch eine solche Freistellung von der Geltung des allgemeinen Völkerrechts bewirken kann. Das gilt insbesondere dann, wenn ihr – wie hier geschehen1336 – der materielle (Vor-) Rang einer Verfassung der internationalen Gemeinschaft abgesprochen wird. 1. Art. 1 Ziff. 1 SVN als Verzicht der Mitgliedstaaten auf Rechtspositionen aus allgemeinem Völkerrecht Am sinnvollsten erscheint es, in Art. 1 Ziff. 1 SVN eine Art Verzichtserklärung der 1332 Tomuschat, RdC 281 (1999), 1 (135). 1333 Siehe unten 4.Kp. C. 1334 Siehe oben 4.Kp. A.III. 1335 Siehe die Nachweise oben in Fußnote 1208. 1336 Siehe dazu oben 4.Kp. B.I.1. 275 Mitgliedstaaten zu sehen: Mit der Ratifikation der Charta verzichteten diese abstrakt und ex ante gegenüber dem Sicherheitsrat auf ihre Rechtspositionen aus allgemeinem Völkerrecht. Dabei ist der Verzicht beschränkt auf die Fälle einer Bekämpfung von Friedensbedrohungen unter Kapitel VII der Charta und hat den Zweck, dem Sicherheitsrat hierbei größtmögliche Handlungsfreiheit zu geben1337. Aufgrund der mittlerweile nahezu universellen Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen kommt ein derartiger Verzicht einer echten Freistellung von der Pflicht zur Beachtung des Völkerrechts im Allgemeinen und des Völkergewohnheitsrechts im Besonderen gleich. Keinen Bedenken begegnet diese Auslegung des Art. 1 Ziff. 1 SVN, soweit es sich um den Verzicht auf staatsbezogene Rechtspositionen aus allgemeinem Völkerrecht handelt. Bei diesen wird es sich regelmäßig um Rechte handeln, die aus dem Grundsatz der Staatensouveränität fließen, insbesondere um den Anspruch eines Staates auf Achtung seiner territorialen Souveränität und Integrität. Wie bereits zu Beginn dieser Arbeit festgestellt, können Staaten in toto auf ihre Souveränität verzichten, indem sie sich beispielsweise dazu entschließen, sich einem anderen Staat anzuschließen und in diesem aufzugehen.1338 De maiore ad minus ist auch ein Verzicht auf Teilaspekte der Souveränität, wie beispielsweise das Recht auf territoriale Unversehrtheit oder die exklusive Hoheitsausübung über oder innerhalb eines bestimmten Gebietes, völkerrechtlich unbedenklich. Bestätigt wird dieser Befund durch Art. 2 Ziff. 7 SVN, der den an sich geschützten domaine réservé der Mitgliedstaaten ausdrücklich für Zwangmaßnahmen nach Kapitel VII der Charta öffnet. Während also die Annahme eines Verzichts auf Souveränitätsrechte auch nach dem heutigen Stand des Völkerrechts keinen Bedenken begegnet, erscheint die Annahme einer völligen Freistellung des Sicherheitsrates von der Pflicht zur Beachtung gewohnheitsrechtlicher Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts 1337 Goodrich/Hambro/Simons, UN Charter (1969), S. 28; Martenczuk, Rechtsbindung und Rechtskontrolle (1996), S. 222; Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 146; Krisch, Selbstverteidigung (2001), S. 47. In diese Richtung auch Shaw, Int’l. Law (2003), S. 1150 f. 1338 Siehe oben 3.Kp. A.II.2. 276 problematisch. So stellt sich einerseits die Frage, inwieweit Staaten rechtlich in der Lage waren und sind, gegenüber Dritten auf die Beachtung der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts ihrer Bürger zu verzichten, und ob dies von der Charta gewollt ist (2). Andererseits ist zu prüfen, ob eine solche Freistellung angesichts der stark gestiegenen Bedeutung der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts im gegenwärtigen Völkerrecht noch wirksam ist (3). 2. Beschränkung der Freistellung nach Art. 1 Ziff. 1 SVN auf staatsbezogene Rechtspositionen? Aus systematischen und normhistorischen Gründen ist zunächst denkbar, Art. 1 Ziff. 1 SVN dahingehend restriktiv auszulegen, dass er den Sicherheitsrat nur von der Pflicht zur Beachtung staatsbezogener Rechtspositionen des allgemeinen Völkerrechts freistellen soll. Normgeschichtlich stellt die in Art. 1 Ziff. 1 SVN getroffene Unterscheidung zwischen Beseitigung einer Friedensbedrohung einerseits und friedlicher Streitbeilegung unter Beachtung der Prinzipien des Völkerrechts andererseits einen Kompromiss zwischen zwei sich widersprechenden Zielen der Gründungsmitglieder dar. Einerseits sollte dem Sicherheitsrat bei der Wahrung des Weltfriedens größtmögliche Handlungsfreiheit gewährt werden, andererseits befürchteten insbesondere kleinere Staaten ein „zweites München“, d.h. die Bereinigung eines internationalen Konfliktes auf Kosten ihrer territorialen Integrität.1339 Zwar konnten sich diese Staaten mit ihrer Forderung, die Tätigkeit des Sicherheitsrates insgesamt unter die Kuratel des allgemeinen Völkerrechts zu stellen, nicht durchsetzen, doch willigten die Großmächte in eine entsprechende Verpflichtung im Falle der friedlichen Streitbeilegung ein.1340 Gegenstand der Kontroverse um Art. 1 Ziff. 1 1339 Bei der Münchner Konferenz von 1938 hatten Frankreich und Großbritannien dem Drängen und Drohen Adolf Hitlers nachgegeben und dem Deutschen Reich die Einverleibung der Tschecheslowakei gestattet, mithin einen souveränen Staat gleichsam von der Landkarte getilgt. Ausführlicher zum historischen Hintergrund des Art. 1 Ziff. 1 SVN Russel/Muther, History of the UN Charter (1958), S. 655-657; Gill, NYIL 26 (1995), 33 (66 Fn. 90) und Martenczuk, Rechtsbindung und Rechtskontrolle (1996), S. 221 f. Siehe auch die Erklärung des Vorsitzenden der Kommission I der Konferenz von San Francisco vom 14.6.1945, Doc. 1006 I/6 vom 15.6.1945, abgedr. in UNCIO VI, 12-34 (13 f.) (auszugsweise wiedergegeben bei Krisch, Selbstverteidigung (2001), S. 256). 1340 Siehe Report of the Rapporteur of Committee 1 to Commission I, Doc. 944 I/1/34 (1) vom 13.6.1945, abgedr. in UNCIO VI, 446-460 (453), in Auszügen auch bei Gill, NYIL 26 (1995), 33 (66 277 SVN waren somit nicht individualschützende Menschenrechte, sondern in erster Linie der Umfang, in dem territoriale Souveränität und Integrität der Mitgliedstaaten vor einem Eingreifen des Sicherheitsrates geschützt sein sollten. Es ließe sich daher vertreten, dass Art. 1 Ziff. 1 SVN insoweit – ähnlich Art. 2 Ziff. 7 SVN – nur die Beachtung staatlicher Souveränitätsrechte regelt, nicht aber dem Sicherheitsrat Zugriff auf völkerrechtlich geschützte Rechtsgüter des individuellen Staatsbürgers geben will. Dies hätte zur Folge, dass der Sicherheitsrat auch bei Maßnahmen nach Kapitel VII der Charta aufgrund seiner Eigenschaft als Organ eines Völkerrechtssubjekts vollumfänglich an individualschützendes allgemeines Völkerrecht gebunden wäre. Für eine solche externe Bindung an gewohnheitsrechtliche Menschenrechte spricht auch der in der Präambel der Charta betonte Glaube der Mitgliedstaaten an die insoweit als bestehend vorausgesetzten grundlegenden Menschenrechte.1341 Dieser Glaube lässt es unwahrscheinlich erscheinen, dass die Unterzeichnerstaaten ausgerechnet dem Exekutivorgan der von ihnen unter dieser Prämisse ins Leben gerufenen Organisation erlauben wollten, diese Rechte zu missachten. Jedoch sprechen auch gewichtige Gründe gegen eine einschränkende Auslegung des Art. 1 Ziff. 1 SVN. So gibt der Wortlaut der Norm keinerlei Anhaltspunkte für eine derartige Beschränkung. Wichtiger aber ist, dass Art. 1 Ziff. 1 SVN eine Grundentscheidung der Charta reflektiert – die für eine weitestmögliche Handlungsfreiheit des Sicherheitsrates bei der Bekämpfung von Friedensbedrohungen.1342 Auch eine Pflicht, die gewohnheitsrechtlich verbürgten Menschenrechte und das Selbstbestimmungsrecht vollumfänglich zu wahren, schränkte diese Handlungsfreiheit nicht unerheblich ein. Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, müsste der Sicherheitsrat vor einem Eingreifen zunächst prüfen, welche Auswirkungen die geplante Maßnahme auf diese geschützten f.); ferner Goodrich/Hambro/Simons, UN Charter (1969), S. 28. Eine Zusammenfassung der Debatte während der Konferenz von San Francisco findet sich bei Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 16 f., Fn. 3; und bei Gill, NYIL 26 (1995), 33 (66 Fn. 90). Der relevante Passus der Präambel lautet: „We the Peoples of the United Nations determined (…) to reaffirm faith in fundamental human rights (…)”. 1341 1342 Siehe oben Fn. 1337. 278 Rechtspositionen haben könnte. Gerade das aber soll durch die von Art. 1 Ziff. 1 SVN getroffene Unterscheidung im Interesse eines schnellen und effektiven Eingreifens vermieden werden.1343 Auch der bereits festgestellte grundsätzliche Vorrang des Ziels der Friedenssicherung vor den übrigen Zielen der Organisation1344 spricht dafür, eine Freistellung des Sicherheitsrates unter Kapitel völkergewohnheitsrechtlich VII verbürgte auch von der Pflicht Rechtspositionen im anzunehmen, Bereich der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts zu beachten. Dem lässt sich auch nicht entgegenhalten, dass Staaten nicht über die völkerrechtlichen Rechtspositionen ihrer Bürger verfügen könnten.1345 Zwar ist richtig, dass Selbstbestimmungsrecht und Menschenrechte nicht die Staaten begünstigen, sondern im Gegenteil deren Rechte beschränken. Begünstigt werden vielmehr die Bürger eines Staates, in dem ihnen – zumindest mittelbar1346 – Abwehrbzw. Leistungsrechte eingeräumt werden. Dadurch werden Individuen aber noch nicht zu handlungsfähigen Völkerrechtssubjekten. Vielmehr werden sie auf der Ebene des Völkerrechts grundsätzlich durch ihre Staaten mediatisiert.1347 Selbst wenn man nicht der Ansicht folgt, dass völkerrechtliche Menschenrechte lediglich drittbegünstigendes zwischenstaatliches Recht sind, muss man daher davon ausgehen, dass Staaten jedenfalls in aller Regel hinreichend legitimiert sind, um auf 1343 Siehe z.B. die Ausführungen des englischen Delegierten Lord Halifax bei der Konferenz von San Francisco, Doc. 81/I/2 vom 4.5.1945, abgedr. in UNCIO VI, 5 (25), sowie die des amerikanischen Delegierten Stassen, ebenda S. 29 f. Siehe auch Gill, NYIL 26 (1995), 33 (67 f. u. Fn. 90), und Wolfrum, Article 1 (2002), Rn. 19 (jeweils m.w.N.). 1344 Siehe dazu oben 4.Kp. A.II.2. 1345 In diese Richtung HRC, General Comment No. 26 (1997), § 4, das von einem Fortbestand menschenrechtlicher Verpflichtungen auch bei einem Wechsel des Hoheitsträgers ausgeht, da die Rechte des IPbürgR nicht den Staaten, sondern ihren Bewohnern zustünden. Im Umkehrschluss könnte ein Hoheitsträger die seinen Bürgern einmal durch Ratifikation des IPbürgR gewährten Rechte nicht mehr entziehen. 1346 Formal berechtigen völkergewohnheitsrechtlich verbürgte Menschenrechte nicht unmittelbar das Individuum oder die Gruppe selbst, sondern verpflichten lediglich den jeweiligen Staat, einen entsprechenden Schutz zu gewährleisten. Etwas Anderes gilt nur für jene menschenrechtlichen Verträge wie die EMRK, die dem Einzelnen die Möglichkeit einräumen, eine erlittene Rechtsverletzung unabhängig vom Willen eines Staates in einem geordneten Verfahren geltend zu machen (Tomuschat, RdC 281 (1999), 1 (149 f.). 279 der völkerrechtlichen Ebene für ihre Bevölkerung zu handeln. Dann waren und sind sie aber auch grundsätzlich in der Lage, über nicht-staatsbezogene Rechtspositionen ihrer Bevölkerung zu verfügen. Dass auch die UN-Charta von einer Mediatisierung der Bevölkerungen durch „ihre“ jeweiligen Staaten ausgeht, zeigt bereits die Präambel: „We the Peoples of the United Nations (...) have resolved to combine our efforts to accomplish these aims. Accordingly, our respective Governments (…) have agreed to the present Charter of the United Nations and do hereby establish an international organization to be known as the United Nations.” (Hervorhebungen durch den Verfasser) Ihr lässt sich auch entnehmen, dass die Unterzeichner der Charta die Vereinten Nationen nicht nur als ein Projekt der Staaten, sondern wesentlich auch als eines der in ihnen verfassten Völker und Individuen sehen.1348 Dann erscheint es aber nicht falsch, im Einzelfall auch eine Einschränkung ihrer Rechte zum Zwecke der Friedenssicherung zuzulassen. Art. 1 Ziff. 1 SVN ist daher nicht einschränkend dahingehend auszulegen, dass er den Sicherheitsrat bei der Bekämpfung von Friedensbedrohungen nur von der Beachtung staatsbezogenen Völkergewohnheitsrechts freistellt, er im Übrigen aber als Organ eines Völkerrechtssubjekts vollumfänglich an gewohnheitsrechtlich verbürgte Menschenrechte und das Selbstbestimmungrecht gebunden bliebe. 3. Beschränkung der Freistellung auf abdingbare Normen des allgemeinen Völkerrechts? Fraglich ist jedoch, ob eine derart umfassende Freistellung von der Geltung allgemeinen Völkerrechts heute noch rechtlich zulässig ist oder ob nicht vielmehr von einer mittlerweile eingetretenen gewohnheitsrechtlichen Einschränkung des Art. 1 Ziff. 1 SVN auszugehen ist. 1347 Dupuy, Droit int’l. public (2004), Rn. 191; Ipsen, Völkerrecht (2004), § 7 Rn. 1-3. 1348 Zum historischen Hintergrund dieser die amerikanische Verfassung von 1776 zitierenden Bezugnahme auf die Völker siehe die Ausführungen der amerikanischen Delegierten Gildersleeve in San Francisco, Doc. 1006, I/6, abgedr. in UNCIO VI, 12 (19 f.); ferner Russel/Muther, History of the 280 a. Das Konzept zwingender Grundwerte (ius cogens) So war zwar das Völkerrecht jedenfalls bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts allein ein Recht der Staaten, das auf Basis von Reziprozität ihr Verhalten untereinander regelte.1349 Auch Verträge zum Schutze Einzelner wie die Haager Landkriegsordnung von 1907 waren rein zwischenstaatliche Übereinkommen, deren Geltung im Einzelfall von der Gegenseitigkeit ihrer Anwendung abhing.1350 Heute ist dagegen weitgehend unstrittig, dass es einen begrenzten Kreis völkerrechtlicher Normen gibt, die als Ausdruck der grundlegenden Werte der internationalen Gemeinschaft nicht zur Disposition einzelner Staaten stehen und nicht dem Reziprozitätsprinzip unterliegen.1351 Sie zu beachten, ist, wie der IGH im Barcelona Traction-Urteil 1970 ausgeführt hat, Pflicht eines jeden Staates gegenüber der internationalen Gemeinschaft insgesamt, da aufgrund ihrer Bedeutung alle Staaten ein Interesse an der Einhaltung dieser Normen haben.1352 Das Konzept zwingender Grundwerte fußt im Naturrecht1353 und gewann vor allem durch die furchtbaren Erfahrungen des zweiten Weltkriegs neue Aktualität und Legitimation.1354 Im internationalen Vertragsrecht ist dieses Konzept in den UN Charter (1958), S. 910-918. Kritisch zu diesem Konzept Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 6 f. („political fiction“). 1349 Fassbender, EuGRZ 30 (2003), 1 (2); Cassese, Int’l. Law (2005), S. 14 (jeweils m.w.N.). 1350 Zur Entwicklung der Menschenrechte bis zur Gründung der Vereinten Nationen siehe Tomuschat, Human Rights (2003), S. 6-22. 1351 Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht (1984), § 524; Tomuschat, RdC 281 (1999), 1 (81); Fassbender, EuGRZ 30 (2003), 1 (6); Meron, RdC 301 (2003), 9 (206 u. 421 f.); Ipsen, Völkerrecht (2004), § 15 Rn. 36; zurückhaltender Dupuy, Droit int’l. public (2004), Rn. 404-406. 1352 IGH, Barcelona Traction, ICJ-Rep. 1970, 3 (33 § 33). Als Beispiel für solche Normen nannte der IGH „the outlawing of acts of aggression, and of genocide“ sowie die „basic rights of the human person, including protection from slavery and racial discrimination“ (ebenda, 33 § 34). Die Konzepte eines Rechts erga omnes und einer Norm iuris cogentis sind zwar nicht deckungsgleich, beruhen aber auf derselben Prämisse, nämlich der Existenz von allseits verpflichtenden Grundwerten der internationalen Gemeinschaft. Siehe dazu ausführlicher Hannikainen, Peremptory Norms (1988), S. 46; Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht (1992), S. 32 f.; Tomuschat, RdC 281 (1999), 1 (81-85); Fassbender, EuGRZ 30 (2003), 1 (5-10); Meron, RdC 301 (2003), 9 (415-423). So ausdrücklich Fassbender, EuGRZ 30 (2003), 1 (12); ähnlich auch Shaw, Int’l. Law (2003), S. 117. Zum Ursprung des Naturrechts und seiner fortdauernden Bedeutung im heutigen Völkerrecht siehe auch Hall, EJIL 12 (2001), 269-307. 1353 1354 Zur Entstehungsgeschichte des ius cogens siehe ausführlich Hannikainen, Peremptory Norms (1988), S. 23-184. Zum Konzept des ius cogens und seinen dogmatischen Begründungen siehe ferner ausführlich Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht (1992), S. 26-209; Ragazzi, Erga Omnes (1997), S. 281 gleichlautenden Art. 53 der Wiener Vertragsrechtskonvention von 1969 (WVK) und der Wiener Konvention über das Recht der Verträge mit internationalen Organisationen (WVKIO)1355 umgesetzt worden. Er besagt, dass Verträge, die gegen eine zwingende Norm des allgemeinen Völkerrechts (sog. ius cogens) verstoßen, nichtig sind. Gleiches gilt nach wohl überwiegender Ansicht auch für einseitige völkerrechtliche Akte.1356 Auch wenn Art und Umfang der Normen, die das corpus iuris des ius cogens ausmachen, im Einzelnen noch höchst umstritten sind, ist doch das Konzept eines für alle Völkerrechtssubjekte zwingenden Rechts weitgehend anerkannt.1357 Art. 53 WVK und Art. 53 WVKIO geben insoweit bestehendes Völkergewohnheitsrecht wieder.1358 Unabhängig von seinen verschiedenen Ausprägungen im Völkerrecht1359 und den damit verbundenen Kontroversen ist vorliegend entscheidend, dass es in der Staatengemeinschaft einen Konsens dahingehend gibt, dass die Missachtung bestimmter Kernnormen, insbesondere – aber nicht ausschließlich – im Bereich der Menschenrechte, generell unzulässig ist und ihr Schutz und ihre Beachtung im Interesse aller Staaten sind. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Verstoß auf einem Völkerrechtsakt oder auf einer sonstigen einem Staat zurechenbaren Handlung 43-73; und mit einem neuen Ansatz Kolb, Théorie du ius cogens (2001). Insbesondere zu den Quellen des zwingenden Rechts Byers, Nordic JIL 66 (1997), 211-239. 1355 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge zwischen Staaten und internationalen Organisationen oder zwischen internationalen Organisationen vom 21. März 1986, abgedr. als UNDoc. A/Conf.129/15 vom 20.3.1986 und in ILM 25 (1986), 543-592. 1356 Meron, AJIL 80 (1986), 1 (19); Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht (1992); S. 335-339 (m.w.N.); Tomuschat, RdC 281 (1999), 1 (82); Fassbender, EuGRZ 30 (2003), 1 (6). 1357 Frowein, Jus Cogens, EPIL III (1997), 65 (66), Byers, Nordic JIL 66 (1997), 211 (213 u. 239); Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 222; Reinisch, AJIL 95 (2001), 851 (859); Shaw, Int’l. Law (2003), S. 849; Klein, in: FS Ress (2005), S. 151. 1358 Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht (1992), S. 127 f.; Scott (u.a.), Michigan JIL 16 (1994), 1 (118); Ragazzi, Erga Omnes (1997), S. 47; Tomuschat, RdC 281 (1999), 1 (81); Brownlie, Principles (2003), S. 488-90; Oette, Wirtschaftssanktionen (2003), S. 231; Shaw, Int’l. Law (2003), S. 117 Ipsen, Völkerrecht (2004) § 15 Rn. 36 (jeweils m.w.N.). 1359 Zu nennen sind neben den Konzepten der Verpflichtungen erga omnes und des ius cogens auch zeitweise diskutierte Abstufungen im Recht der Staatenverantwortlichkeit sowie das Völkerstrafrecht. Siehe dazu Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht (1992), S. 26-34; Fassbender, EuGRZ 30 (2003), 1 (5-10); zum Verhältnis der beiden erstgenannten Konzepte im Bereich der Menschenrechte: Meron, AJIL 80 (1986), 1-23 (inbes. 10 ff.); Teraya, EJIL 12 (2001), 917-941 (insbes. 927-936), jeweils m.w.N. 282 basiert.1360 An diese Grundnormen sind ferner nicht nur Staaten, sondern grundsätzlich auch internationale Organisationen gebunden, soweit die fraglichen Normen der Sache nach auf sie anwendbar sind.1361 Über das Völkerstrafrecht sind in entsprechender Weise auch Individuen an diese Grundnormen gebunden.1362 Ferner wird vielfach die tatsächliche Einwirkungsmöglichkeit auf die geschützten Rechtspositionen für ausreichend angesehen, um etwa Aufständigenbewegungen und transnationale Unternehmen als verpflichtet anzusehen, bestimmte Menschenrechte zu beachten.1363 Im Falle einer von jeder staatlichen Zustimmung unabhängigen Gebietsverwaltung unter Kapitel VII der Charta übt der Sicherheitsrat sogar exklusive Kontrolle über ein Gebiet und seiner Bewohner aus. Zumindest aber können fehlende tatsächliche Einwirkungsmöglichkeiten auf Menschenrechte und Selbstbestimmungsrecht nicht mehr als Argumente gegen eine Bindung des Sicherheitsrates angeführt werden.1364 b. Bedenken gegen eine starre Bindung des Sicherheitsrates an ius cogens Dennoch erscheint fraglich, ob sich dieser Befund einer universellen Bindung aller völkerrechtlich relevanten Akteure an zwingende Grundwerte der internationalen Gemeinschaft ohne Weiteres auch auf den Sicherheitsrat übertragen lässt. So ist die internationale Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit in den Vereinten Nationen versammelt und kann auf diesem Wege bestehendes ius cogens abändern oder neues erzeugen.1365 Die Arbeit der Vereinten Nationen, genauer: die Tätigkeit der Mosler, Int’l. Society (1980), S. 18; Hannikainen, Peremptory Norms (1988), S. 6 f. (m.w.N.). In diese Richtung auch Gaja, RdC 172 (1981 II), 271 (295); zurückhaltender Meron, AJIL 80 (1986), 1 (21): Bei rein nationalen Rechtsakten nur Wirkungslosigkeit auf der Ebene des Völkerrechts. 1360 1361 So beispielsweise ohne Weiteres für eine unmittelbare Bindung der EG/EU an ius cogens Oppermann, Europarecht (1999), S. 224 f. (Rn. 598 u. 600); Tomuschat, Artikel 281 EGV (2004), Rn. 40 u. 43. 1362 Vgl. Tomuschat, in: FS Arangio-Ruiz (2004), S. 1767 f. 1363 Mégret/Hoffmann, HRQ 25 (2003), 314 (322 f.) m.w.N. 1364 Mit diesem Argument lehnten die Vereinten Nationen lange eine Bindung an die Genfer Konventionen ab. Siehe dazu die § 3 der Legal Opinion of the Secretariat of the United Nations vom 15.6.1972, abgedr. im UNJYB 1972, 153 (153). 1365 Vgl. Art. 53 S.2 WVK (1969)/WVKIO (1986) a.E. Siehe dazu auch Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht (1992), S. 188. 283 Mitgliedstaaten innerhalb der Vereinten Nationen hat so unmittelbaren Einfluss auf den gegenwärtigen Stand des ius cogens. Dann muss aber bei der Bestimmung des Umfangs und der Reichweite des gegenwärtigen ius cogens grundsätzlich berücksichtigt werden, dass die internationale Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit den Sicherheitsrat mit der Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens betraut hat (Art. 24 Abs. 1 SVN). Dieser besitzt damit eine völlig andere Stellung im Gefüge der internationalen Gemeinschaft als etwa Einzelstaaten oder Regionalorganisationen. Im Interesse einer effektiven und schnellen Bekämpfung von Friedensbedrohungen soll der Sicherheitsrat gemäß Art. 1 Ziff. 1 SVN ohne Rücksicht auf die Grundsätze der Gerechtigkeit und des Völkerrechts handeln dürfen. Bewusst wurde daher auch der Schutz vor einem Missbrauch dieser Befugnisse auf Anforderungen an die Zusammensetzung des Rates (Art. 23 Abs. 1 SVN), das Mehrheitserfordernis und das Vetorecht der ständigen Mitglieder beschränkt (Art. 27 Abs. 3 SVN). Diese Grundentscheidung, die mittlerweile fast alle Staaten der Welt durch ihren Beitritt zur UN mittragen,1366 unterscheidet den Sicherheitsrat von allen anderen völkerrechtlichen Akteuren. Daraus folgt, dass das, was einzelnen Staaten nach der Auffassung der internationalen Gemeinschaft verboten sein sollte, noch nicht notwendig auch für den Sicherheitsrat verboten sein muss. Diesen Umstand illustriert insbesondere das völkerrechtliche Gewaltverbot: Staaten sind nicht nur aus Art. 2 Ziff. 4 SVN, sondern auch gewohnheitsrechtlich verpflichtet, in ihren internationalen Beziehungen auf jegliche Form von Gewaltanwendung zu verzichten, die weder der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung dient (Art. 51 SVN) noch in sonstiger Weise mit den Zielen der UN in Einklang zu bringen ist. Den Staaten fehlt – mit Ausnahme des umstrittenen Rechts der humanitären Intervention – jegliches eigenständiges ius ad bellum. Zumindest dieses eng verstandene Gewaltverbot ist als 1366 Einzige wesentliche Ausnahmen sind aus religiösen und kirchenpolitischen Gründen der Vatikanstaat, sowie aufgrund der „Ein-China-Doktrin“ die Republik China (Taiwan). Siehe hierzu Fassbender, in: Volger, Lexikon der VN (2000), 572-574. 284 Aggressionsverbot unstrittig zwingenden Charakters, mithin ius cogens.1367 Auch internationale Organisationen sind daran gebunden. NATO und EU sind in gleicher Weise zu seiner Beachtung verpflichtet wie Deutschland oder Frankreich.1368 Dagegen ist es geradezu rechtliches Charakteristikum des Sicherheitsrates, dass er zur Bekämpfung von Friedensbedrohungen militärische Gewalt anwenden darf, lange bevor Staaten ihrerseits auf der Grundlage des Selbstverteidigungsrechts tätig werden dürften. Anders als andere Völkerrechtssubjekte ist der Sicherheitsrat somit nicht auf rein defensive Gewaltausübung beschränkt, sondern kann und soll auch präventiv tätig werden.1369 Das heißt noch nicht, dass der Sicherheitsrat nicht an das zwingende völkergewohnheitsrechtliche Aggressionsverbot gebunden wäre. Es schränkt ihn jedoch weit weniger ein, da es nur chartawidrige militärische Angriffe erfasst1370. Anders als Staaten kann der Sicherheitsrat als Träger der Hauptverantwortung für den Weltfrieden auf der Grundlage von Kapitel VII der Charta aber auch chartakonform präventiv militärische Zwangsmaßnahmen anordnen. Aus der nahezu universellen Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen und der besonderen Rolle, welche die so verfasste internationale Gemeinschaft dem Sicherheitsrat zugedacht hat, folgt somit, dass der Grundsatz der zwingenden Verpflichtung einzelner Staaten an die Grundwerte der internationalen Gemeinschaft nicht unterschiedslos und gleichsam schematisch auf den Sicherheitsrat übertragen werden kann.1371 Andererseits ist der bisherigen Staatenpraxis innerhalb und außerhalb der Vereinten Nationen nicht zu entnehmen, dass der Sicherheitsrat grundsätzlich von einer Bindung an die zwingenden Grundwerte ausgenommen sein 1367 Hannikainen, Peremptory Norms (1988), S. 356; Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht (1992), S. 234 f., jeweils m.w.N.; Ipsen, Völkerrecht (2004), § 15 Rn. 59. 1368 Tomuschat, RdC 281 (1999), 1 (135). Siehe auch Art. 53 Abs. 1 Satz 2 SVN, der Zwangsmaßnahmen seitens regionaler Organisation ausdrücklich von einer Ermächtigung durch den Sicherheitsrat abhängig macht. 1369 So auch Tomuschat, in: FS Arangio-Ruiz (2004), S. 1767. 1370 So Hannikainen, Peremptory Norms (1988), S. 356, und Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht (1992), S. 236, mit jeweils ausführlicher Begründung anhand der Staatenpraxis. 1371 Tomuschat, in: FS Arangio-Ruiz (2004), S. 1767. 285 soll.1372 Dies widerspräche auch der Idee zwingender Grundwerte als einem für alle Völkerrechtssubjekte verbindlichen Mindeststandard.1373 Eine entsprechende Abänderung geltenden ius cogens zugunsten einer umfassenden Ausnahme des Sicherheitsrates ist mithin nicht anzunehmen.1374 Somit kann weder von einer grundsätzlichen Unanwendbarkeit des corpus iuris cogentis auf den Sicherheitsrat,1375 noch von seiner flächendeckenden Anwendbarkeit ausgegangen werden1376. Vielmehr ist grundsätzlich bei jeder zwingenden Norm des Völkerrechts individuell zu prüfen, inwieweit diese auf den Sicherheitsrat unter Kapitel VII der Charta anwendbar ist. Vor diesem Hintergrund sollen im Folgenden einige erste Überlegungen zur Bindung des Sicherheitsrates an staats-, gruppen- und individualschützende Normen des zwingenden Rechts angestellt werden. Der noch immer höchst umstrittene genaue Gehalt dieser zwingenden Grundwerte macht es dabei schwierig, diesbezüglich generelle Aussagen zu treffen, weshalb die folgenden Ausführungen eher skizzenhaft gehalten sind. Sie sollen zu einem späteren Zeitpunkt anhand spezifischer Beispiele konkretisiert werden.1377 c. Bindung an zwingende Staatenrechte Aus der Grundentscheidung der Mitgliedstaaten für eine weitgehende 1372 Aufgrund der Bedeutung des zwingenden Völkerrechts in der Rechtsordnung der Staatengemeinschaft müsste ein solcher Wille der internationalen Gemeinschaft jedenfalls klar hervortreten (so zu Recht Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 225 (Fn. 289)). Ein solcher Wille ist indes weder bei der Ausarbeitung und Ratifikation der WVK (1969) und der WVKIO (1986) noch danach deutlich geworden. 1373 Zu diesem Begründungsstrang des ius cogens siehe beispielsweise Kolb, Théorie du ius cogens (2001), S. 156-163 m.w.N. und krit. Anmerkungen. 1374 Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 225 (Fn. 289). 1375 So aber Martenczuk, Rechtsbindung und Rechtskontrolle (1996), S.273 f., und Oosthuizen, Leiden JIL 12 (1999), 549 (559). 1376 So aber Judge Lauterpacht, Sep. Op., Application of Genocide Convention, ICJ-Rep. 1993, 407 (440 § 100); Klein, in: FS Mosler (1983), S. 488; Gowlland-Debbas, AJIL 88 (1994), 643 (667); Herdegen, Vanderbilt JTL 27 (1994), 135 (156); Scott (u.a.), Michigan JIL 16 (1994), 1 (118); Watson, Harvard ILJ 34 (1993), 1 (37); Gill, NYIL 26 (1995), 33 (79); Gasser, ZaöRV 56 (1996), 871 (881); Akande, ICLQ 46 (1997), 309 (322); Reinisch, AJIL 95 (2001), 851 (859); Oette, Wirtschaftssanktionen (2003), S. 232. Dies offenlassend Byers, Nordic JIL 66 (1997), 211 (217). 1377 Siehe dazu unten 4.Kp. E. 286 Handlungsfreiheit des Sicherheitsrates folgt zunächst, dass dieser bei einem Tätigwerden unter Kapitel VII der Charta keine Rücksicht auf jene völkerrechtlichen Grundnormen nehmen muss, die primär Staaten schützen. Sofern es überhaupt zwingende Staatenrechte gibt,1378 ist jedenfalls von einer grundsätzlichen Unterordnung aller einzelstaatlicher Interessen unter das gemeinsame Ziel der Friedenssicherung auszugehen. Ein entsprechender Wille der Staatengemeinschaft ergibt sich aus Art. 2 Ziff. 7 SVN a.E. und aus dem Umstand, dass der Schutz staatlicher Souveränität nicht explizit als Ziel und Aufgabe der Organisation genannt wird. Der Unterscheidung zwischen wirksamen Kollektivmaßnahmen gegen Friedensbedrohungen einerseits und Maßnahmen zur friedlichen Streitbeilegung andererseits (Art. 1 Ziff. 1 SVN) wird man lediglich eine zeitliche Grenze dahingehend entnehmen können, dass nur dauerhafte Beeinträchtigungen staatlicher Rechte unzulässig sind.1379 d. Bindung an den zwingenden Kerngehalt des Selbstbestimmungsrechts Schwieriger erscheint die Beurteilung der Frage, inwieweit der Sicherheitsrat bei der Bekämpfung von Friedensbedrohungen an einen möglichen zwingenden Kerngehalt des Selbstbestimmungsrechts gebunden ist. Zwar ist seine Beachtung vom IGH im Osttimor-Fall zu einer völkerrichtlichen Verpflichtung erga omnes erklärt worden1380 und es wird zumindest in Teilbereichen als zwingendes Recht angesehen.1381 Es ließe sich jedoch argumentieren, dass das Selbstbestimmungsrecht, zumindest soweit es auf Verwirklichung in einem eigenen Staat gerichtet ist,1382 nicht weiter gehen könne 1378 Zur Frage, inwiefern Rechte der Staaten zum Bestand des zwingenden Rechts gehört, siehe Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht (1992), S. 210-255 (nur „Rechtspositionen, welche die Selbstbestimmtheit des Staatsvolkes nach außen absichern“). 1379 Siehe im Einzelnen dazu unten 4.Kp. E.VI und VIII. 1380 IGH, East Timor (Portugal v. Australia), ICJ-Rep. 1995, 90 (102 § 29). 1381 Hannikainen, Peremptory Norms (1988), S. 421, Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht (1992), S. 264, und Ipsen, Völkerrecht (2004), § 27 Rn. 9, messen nur dem Selbstbestimmungsrecht der Kolonialvölker zwingenden Charakter bei. Weitergehend Frowein, Jus Cogens, EPIL III (1997), 65, S. 67; Wodarz, Kosovo-Konflikt (2002), S.166 f.; Doehring, Völkerrecht (2004), Rn. 800; Mett, Selbstbestimmungsrecht (2004), S. 194 f. Ablehnend noch Cristescu, Self-Determination (UN Studie 1981), § 154. 1382 Siehe die Nachweise zum Selbstbestimmungsrecht unten im 4.Kp. E.V. 287 als die Rechte eines bereits bestehenden Staates. Mithin wäre es der Friedenssicherung unterzuordnen, der Sicherheitsrat wäre auf externem Wege nicht zu seiner Beachtung verpflichtet.1383 Auch der Umstand, dass gerade bei ethnischen Konflikten oft Fragen der Selbstbestimmung eng mit den Ursachen der Friedensbedrohung verknüpft sind, gebietet Zurückhaltung bei der Annahme einer uneingeschränkten externen Bindung des Sicherheitsrates an das Selbstbestimmungsrecht. Indes ist die Förderung des Selbstbestimmungsrechts in Art. 1 Ziff. 2 SVN als Ziel der Vereinten Nationen genannt. Auch fehlt es an einer dem Art. 2 Ziff. 7 SVN a.E. vergleichbaren expliziten Unterordnung des Selbstbestimmungsrechts unter das Ziel der Friedenssicherung. Es spricht daher einiges dafür, eine Bindung des Sicherheitsrates an den zwingenden Kernbestand des Selbstbestimmungsrechts anzunehmen.1384 Jedoch erscheint fraglich, ob eine zeitlich begrenzte Missachtung des Selbstbestimmungsrechts im Kontext einer Übergangsverwaltung bereits als Verstoß gegen grundlegende Werte der internationalen Gemeinschaft angesehen werden kann.1385 Einer dauerhaften Missachtung steht aber ohnehin die in Art. 1 Ziff. 1 SVN a.E. niedergelegte Verpflichtung entgegen, bei der auf Dauer angelegten Lösung eines Streitfalles die Grundsätze der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu beachten. e. Bindung an individualschützende zwingende Menschenrechte Dagegen fällt es leichter, eine Bindung des Sicherheitsrates an den zwingenden Kernbestand der Menschenrechte auch bei der Bekämpfung von Friedensbedrohungen unter Kapitel VII der Charta zu bejahen. 1386 Zu diesem eng 1383 Zur Frage einer durch die Charta bewirkten internen Bindung des Sicherheitsrates siehe bereits oben 4.Kp. A.II.1.b. 1384 So auch Schweigman, Authority (2001), S. 169; de Wet, Chapter VII Powers (2004), S. 326; i.E. auch Gill, NYIL 26 (1995), 33 (74 f.). Dem Grunde nach für eine Bindung auch Oette, Wirtschaftssanktionen (2003), S. 324 f., der dem Selbstbestimmungsrecht im Kontext der von ihm behandelten UN-Wirtschaftssanktionen jedoch keine Bedeutung zumisst (ebenda, S. 327). 1385 Ausführlicher dazu unten 4.Kp. E.V. 1386 Für eine uneingeschränkte Bindung an individualschützende Menschenrechte Tomuschat, in: FS Kooijmans (2002), S. 340. 288 begrenzten Kreis unabdingbarer Menschenrechte wird man wenigstens das Verbot willkürlicher Tötung, der Folter, der Sklaverei und des Genozids zählen können, ferner den im gemeinsamen Artikel 3 der Genfer Konventionen niedergelegten humanitären Mindeststandard.1387 Anders als das Selbstbestimmungsrecht und die Staatensouveränität schützen die genannten Normen nicht rechtliche Konstrukte1388, sondern unmittelbar das real existierende, quasi vorrechtliche Individuum.1389 Sie bilden gleichsam einen völkerrechtlich gebotenen Minimalverhaltensstandard dem einzelnen Menschen gegenüber, der unter keinen Umständen unterschritten werden darf. Für ihre Verbindlichkeit ist nicht der formale völkerrechtliche Status des potentiell Verpflichteten, sondern vielmehr allein dessen tatsächliche Einwirkungsmöglichkeit auf die geschützte Rechtsposition entscheidend. Das zeigt sich insbesondere daran, dass diese Normen vielfach im Rahmen des gewohnheitsrechtlichen Völkerstrafrechts auch für das unmittelbar handelnde Individuum strafbewehrt sind, obwohl der einzelne Mensch im Übrigen nur sehr eingeschränkt – wenn überhaupt – Völkerrechtssubjektivität besitzt.1390 Dieser Umstand macht deutlich, dass das gegenwärtige Völkerrecht einen möglichst umfassenden Schutz dieser Rechte unabhängig von der formalen Rechtsposition des Verpflichteten anstrebt. Wie die Förderung des Selbstbestimmungsrechts gehört auch die Förderung der Menschenrechte zu den Zielen der Vereinten Nationen.1391 Aber stärker noch als im Falle des Selbstbestimmungsrechts entspricht der Schutz grundlegender Menschenrechte auch dem ursprünglichen Sinn und Zweck der Vereinten Nationen. 1387 Siehe z.B. Fassbender, EuGRZ 30 (2003), 1 (6). Siehe auch die Aufzählung in HRC, General Comment No. 29 (2001), §§ 11-13; und bei Meron, RdC 301 (2003), 9 (204 f.). 1388 Auch der Begriff des Volkes als Träger des Selbstbestimmungsrechts ist, wenn man ihn nicht nur auf rein ethnisch definierte Gruppen bezieht, ein auslegungsbedürftiger Rechtsbegriff. Siehe dazu etwa Doehring, Self-Determination (2002), Rn. 27-31. 1389 Für den Individualschutz als wesentliches Merkmal zwingender Grundwerte der internationalen Gemeinschaft Fassbender, EuGRZ 30 (2003), 1 (11). 1390 Siehe dazu beispielsweise Arnold, YBIHL 5 (2002), 344-359, und Tomuschat, Human Rights (2003), S. 267-292. Eine ähnliche Argumentation findet sich auch bei HRC, General Comment No. 29 (2001), § 12. 1391 Art. 1 Ziff. 3 SVN. Siehe dazu bereits oben 4.Kp. A.II.1.b. 289 Die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit als Hauptaufgabe der Vereinten Nationen ist kein Selbstzweck, sondern dient dazu, wie es die Präambel der Charta ausdrückt, künftige Geschlechter vor unsäglichem Leid zu bewahren.1392 Damit ist letztlich der Schutz der in den Mitgliedstaaten verfassten Menschheit Leitmotiv der Organisation und raison d’être der mit ihr geschaffenen Weltfriedensordnung, wie unvollständig sie auch sein mag.1393 Gerade der Umstand, dass die Mitgliedstaaten den Sicherheitsrat mit Art. 24 Abs. 1 SVN als Garanten für diese Friedensordnung eingesetzt haben, spricht dafür, ihn selbst unter allen Umständen zur Wahrung dieser individualschützenden Grundwerte zu verpflichten.1394 Umgekehrt wird der Sicherheitsrat durch die Annahme einer solchen unbedingten Beachtungspflicht nur geringfügig eingeschränkt. Es ist kaum denkbar, dass etwa ein Verzicht auf die Misshandlung von Zivilpersonen (Art. 3 Ziff. 1 der Genfer Konventionen) oder auf die Versklavung eines Teils der Bevölkerung die Fähigkeit des Sicherheitsrates zur Bekämpfung von Friedensbedrohungen unter Kapitel VII der Charta in irgendeiner Weise beeinträchtigen würde. Wo es aber im Einzelfall doch zu einem Konflikt kommt, ist aufgrund der hohen Bedeutung, welche die Mehrzahl der Staaten diesen Rechten beimisst, davon auszugehen, dass es dem Willen der Staaten entspricht, eine geringere Effizienz der Friedenserhaltung in Kauf zu nehmen. IV. Zwischenergebnis: Die externe Bindung des Sicherheitsrates Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Vereinten Nationen als Völkerrechtssubjekt grundsätzlich an Völkergewohnheitsrecht gebunden sind. Dies schließt den Sicherheitsrat als eines ihrer Organe ein. Dabei kann weder aus ihrem Verfassungscharakter noch aus der universellen Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen auf einen generellen Vorrang der Charta vor gewohnheitsrechtlichen Der relevante Passus der Präambel lautet: „(…) to save succeeding generations from the scourge of war, which twice in our lifetime has brought untold sorrow to mankind (…)”. 1392 1393 In diese Richtung bereits Tomuschat, in: FS Arangio-Ruiz (2004), S. 1767. 1394 Für eine externe Bindung des Sicherheitsrates an zwingende Menschenrechte auch Klein, in: FS Ress (2005), S. 160. 290 Normen geschlossen werden. Als Teil einer objektiven Rechtsordnung entfaltet das Gewohnheitsrecht auch für die Vereinten Nationen Geltung, ohne dass diese ihm stillschweigend oder explizit zustimmen müssten. Indes trifft Art. 1 Ziff. 1 SVN eine Unterscheidung zwischen Maßnahmen zur Bekämpfung von Friedensbedrohungen einerseits und solchen zur friedlichen Beilegung internationaler Streitigkeiten andererseits, und verpflichtet den Sicherheitsrat nur in dem letztgenannten Fall, die Grundsätze des Völkerrechts zu beachten. Daraus folgt im Umkehrschluss, dass der Sicherheitsrat bei der Bekämpfung von Friedensbedrohungen auf der Grundlage von Kapitel VII der Charta allgemeines Völkerrecht nicht beachten muss. Art. 1 Ziff. 1 SVN stellt sich so als Verzicht der Mitgliedstaaten auf ihre aus allgemeinem Völkerrecht fließenden Rechtspositionen dar. Aufgrund der universellen Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen kommt dieser Verzicht einer echten, umfassenden Freistellung von allgemeinem Völkerrecht gleich. Jedoch erfährt diese Freistellung eine Einschränkung durch die Entstehung eines begrenzten Kreises zwingender Normen des Völkerrechts, die dem Schutz der wesentlichen Werte der internationalen Gemeinschaft dienen. Von der Beachtung dieser Normen ist der Sicherheitsrat nur insoweit freigestellt, als sie allein Rechte der Staaten schützen. Dagegen ist er auch bei Maßnahmen der Friedenssicherung nach Kapitel VII der Charta gehalten, den im Einzelnen noch zu bestimmenden zwingenden Kernbestand des Selbstbestimmungsrechts und der individualschützenden Menschenrechte zu beachten. Insoweit ist von einer Reduktion des Art. 1 Ziff. 1 SVN durch späteres Völkergewohnheitsrecht auszugehen. Im Ergebnis beschränkt sich daher die externe Bindung des Sicherheitsrates auf die Verpflichtung, die wesentlichen, grundlegenden Normen der Völkergemeinschaft zu beachten. Insofern ist die UN-Verwaltung eines Krisengebietes nur in sehr beschränktem Umfang gehalten, allgemeines Völkerrecht, insbesondere Völkergewohnheitsrecht, zu beachten. 291 C. Mittelbare Bindung des Sicherheitsrates Als weiterer Bindungsmechanismus kommt eine übertragene oder mittelbare Bindung des Sicherheitsrates in der Form in Betracht, dass der Sicherheitsrat an jene rechtlichen Standards gebunden ist, denen die Mitglieder der Vereinten Nationen selbst unterliegen.1395 Der Annahme einer solchen Bindung liegt der Gedanke der Funktionsnachfolge zugrunde: Übernimmt der Sicherheitsrat Aufgaben, die normalerweise von Staaten zu erfüllen sind, muss er auch die Standards und Normen beachten, die staatliches Handeln in diesem Bereich regulieren.1396 Dieser Ansatz ist gerade im Falle einer Gebietsverwaltung durch den Sicherheitsrat attraktiv. Die Ausübung territorialer und personaler Hoheitsgewalt ist eine ureigene Funktion der Staaten, die bei ihrer Ausübung gegenwärtig einer Vielzahl völkerrechtlicher Regeln unterworfen sind. Es erscheint kaum vertretbar, dass sich Staaten dieser Verpflichtungen sollen entledigen können, indem sie eine internationale Organisation gründen, die statt ihrer dieselbe Funktion wahrnimmt.1397 Indes handelt es sich dabei in erster Linie um ein rechtspolitisches Argument.1398 Dass ein solches Ergebnis höchst unbefriedigend wäre, reicht allein nicht aus, um den Sicherheitsrat rechtlich zu binden. Eine Bindung kraft Funktionsnachfolge kann jedoch auch auf rechtliche Argumente gestützt werden. Ansatzpunkt dabei ist, dass es sich bei den Vereinten Nationen nicht um ein originäres, sondern um ein von ihren 1395 So etwa de Hoogh, Obligations erga omnes (1996), S. 263; Mégret/Hoffmann, HRQ 25 (2003), 314 (318). 1396 Ähnlich für die Tätigkeit internationaler Organisationen allgemein Bleckmann, ZaöRV 37 (1977), 107 (119), und Tomuschat, RdC 281 (1999), 1 (135). In diese Richtung auch Klein, in: FS Mosler (1983), S. 487, der im Hinblick auf Maßnahmen der friedlichen Streitbeilegung vertritt, diese dürften „nichts beinhalten, was die Parteien nicht selbst vereinbaren könn[t]en.“ Gasser, ZaöRV 56 (1996), 871 (881) folgert aus Art. 103 SVN, dass die Charta dem Sicherheitsrat nur erlaube, vertragliche, nicht aber auch gewohnheitsrechtliche Verpflichtungen der Mitgliedstaaten zu ignorieren. 1397 So für völkerrechtliche Verpflichtungen der Staaten im Allgemeinen Bleckmann, ZaöRV 37 (1977), 107 (118); Gowlland-Debbas, ICLQ 43 (1994), 55 (91); Schreuer, in: FS Zemanek (1994), S. 227 (im Hinblick auf vertragliche Bindungen der Staaten); Bauer, Effektivität und Legitimität (1996), S. 223; Reinisch, AJIL 95 (2001), 851 (858). Für „weniger bedrohlich“ hält diese Situation Oette, Wirtschaftssanktionen (2003), S. 245. 1398 Bleckmann, ZaöRV 37 (1977), 107 (119), zufolge begründet die Nachfolge internationaler Organisationen in staatliche Funktionen lediglich einen Anpassungsdruck auf die Völkerrechtsordnung, ohne diese Anpassung rechtlich zu bewirken. 292 Mitgliedern geschaffenes Völkerrechtssubjekt handelt. Ihre Befugnisse leiten sich daher sämtlich von dem völkerrechtlichen Vertragswerk ab, durch das die Organisation seitens der Mitgliedstaaten ins Leben gerufen wurde. Art und Umfang dieser Befugnisse sind damit zumindest mittelbar auch von Art und Umfang der Befugnisse abhängig, die das Völkerrecht den einzelnen Staaten zugesteht.1399 I. Beschränkungen des Sicherheitsrates nach dem nemo transferreGrundsatz Eine Möglichkeit, zur Annahme einer mittelbaren Bindung des Sicherheitsrates zu kommen, besteht darin, die Schaffung der Vereinten Nationen als einen Akt der Delegation mitgliedstaatlicher Kompetenzen an ein von ihnen geschaffenes Völkerrechtssubjekt zu verstehen. Versinnbildlicht wird ein solches Verständnis der Charta durch Art. 24 Abs. 1 SVN, dem zufolge die Mitgliedstaaten dem Sicherheitsrat die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens übertragen und dieser insoweit in ihrem Namen handeln soll.1400 In der Ratifikation der Charta wäre somit eine Ermächtigung der Vereinten Nationen zu sehen, sich durch Beschluss des Sicherheitsrates unter den Voraussetzungen des Art. 39 SVN in die inneren Angelegenheiten der Mitgliedstaaten zu mischen und deren rechtliche Beziehungen untereinander zumindest vorübergehend zu regeln. Letztlich erlaubten die Mitgliedstaaten dem Sicherheitsrat so, in ihrem Namen durch die Anordung von Zwangsmaßnahmen in ihre Rechte als souveräne Staaten und in die Rechte ihrer Bürger einzugreifen. Diesen Befugnissen des Sicherheitsrates läge ein Delegationsakt zugrunde: Durch die Ratifikation hätten die Mitgliedstaaten ihre Befugnis, im Einzelfall über eigene Rechte und die ihrer Bürger zu verfügen, abstrakt und ex ante auf den Sicherheitsrat übertragen.1401 Auf diesen Delegationsakt wiederum fände der allgemeine 1399 Ausführlich dazu auch Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 218-226. Art. 24 Abs. 1 SVN lautet: „In order to ensure prompt and effective action by the United Nations, its Members confer on the Security Council the primary responsibility for the maintenance of international peace and security, and agree that in carrying out its duties under this responsibility the Security Council acts on their behalf” [Hervorhebungen durch den Verfasser]. 1400 1401 Ein solches Verständnis des Beitrittsakts als Kompetenzübertragung liegt den Ausführungen 293 Rechtsgrundsatz Anwendung, dass niemand mehr Rechte übertragen kann, als er selbst besitzt.1402 Staaten könnten den Vereinten Nationen nur jene Rechte einräumen, über die sie selbst verfügen. Soweit Normen des Völkerrechts ihre Befugnisse gegenüber ihren Bürgern oder anderen Individuen und Gruppen begrenzten, könnten sie der UN eben nur jene begrenzten Kompetenzen übertragen. Im Grundsatz gingen daher die Beschränkungen, denen die Mitgliedstaaten unterlägen, bei der Übertragung der entsprechenden Befugnis mit über.1403 Die übertragenen Kompetenzen wären gleichsam dauerhaft mit diesen Einschränkungen behaftet.1404 Auch nach dem nemo transferre-Grundsatz könnte dies jedoch nicht für sämtliche völkerrechtliche Grenzen einzelstaatlicher Befugnisse gelten. So kann die Anwendung dieses Grundsatzes nicht zu einer Bindung des Sicherheitsrates an völkervertragliche Verpflichtungen der Mitgliedstaaten führen. Beim Beitritt zu den Vereinten Nationen handelt es sich um einen völkerrechtlichen Vertrag,1405 auf den die Grundsätze des Völkervertragsrechts Anwendung finden.1406 Ob die mit dem Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 218-226 zugrunde. 1402 Reinisch, AJIL 95 (2001), 851 (858). Zu diesem sog. nemo transferre-Grundsatz siehe bereits oben 3.Kp. D.I.4. 1403 Schreuer, in: FS Zemanek (1994), S. 237. 1404 Diese Argumentation ähnelt der im Rahmen des Europarechts früher teilweise vertretenen „Hypothekentheorie“, mit deren Hilfe eine Bindung der supranationalen Europäischen Gemeinschaften an die Grundrechte des deutschen Grundgesetzes begründet werden sollte. So beispielsweise K.H. Klein, Übertragung von Hoheitsrechten (1952), S. 22; Küchenhoff, DÖV 16 (1963), 161 (165 f.); und Gramlich, Europäische Zentralbank (1979), S. 148 f.; ablehnend u.A. Pernice, Grundrechtsgehalte (1979), S. 219-221; und Tomuschat, Artikel 24 GG (1981), Rn. 62. Weitere Nachweise hierzu bei Ruppert, Integrationsgewalt (1969), S. 84 ff., und König, Übertragung von Hoheitsrechten (2000), S. 59-61. Vorliegend geht es aber nicht um die Frage, inwieweit die Vereinten Nationen an dem Völkerrecht untergeordnete und von Staat zu Staat variierende nationale Befugnisschranken gebunden sein könnten, sondern darum, inwiefern für alle einheitliche völkerrechtliche Schranken staatlicher Befugnisse auch für die UN beachtlich sind. Die auf Art. 24 Abs. 1 GG gestützte Diskussion der Hypothekentheorie ist daher auf den vorliegenden Sachverhalt nur eingeschränkt übertragbar. Siehe dazu auch den nachfolgenden Abschnitt 4.Kp. C.I.2. 1405 Bestehend aus einem entsprechenden Aufnahmeantrag des Staates und dessen Annahme durch die Generalversammlung auf Empfehlung des Sicherheitsrates (Art. 4 Abs. 2 SVN). Lediglich bei den Gründungsmitgliedern bildet die Charta zugleich auch den Beitrittsvertrag. Zum Verfahren siehe Ginther, Article 4 (2002), insbes. Rn. 31-34. Vorsichtiger Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 224: „rechtlich relevante[r] Akt, [der] bei einem Verstoß gegen zwingende Normen des allgemeinen Völkergewohnheitsrechtes als nichtig behandelt werden [muss].“ 1406 294 Abschluss dieses Vertrages verbundene Kompetenzübertragung gegen andere völkerrechtliche Verträge verstößt, deren Partei der Beitrittsstaat ist, ist für die Wirksamkeit des Beitrittsvertrages unbeachtlich. Ein Staat kann sich zu mehr verpflichten, als er rechtlich zu halten in der Lage ist. Art. 103 SVN ordnet für diesen Fall ausdrücklich einen Vorrang der Verpflichtungen aus der Charta an, mit der Folge, dass sich der beitretende Staat gegebenenfalls seinen ursprünglichen Vertragspartnern gegenüber haftbar macht, ohne dass dadurch die Wirksamkeit der Kompetenzübertragung an die Vereinten Nationen tangiert wäre.1407 Nichts anderes gilt für abdingbare1408 gewohnheitsrechtliche Beschränkungen, denen ein Staat in Ausübung der Befugnisse unterliegt, die er mit dem Beitritt an die UN delegiert. In entsprechender Anwendung der in der Wiener Vertragsrechtskonvention niedergelegten Rechtsgrundsätze bliebe ein solcher Vertrag auch dann wirksam, wenn eine Vertragspartei durch ihre Zustimmung Gewohnheitsrecht verletzte, ihre Zustimmung also ein völkerrechtliches Delikt darstellte.1409 Ein solcher Staat überschritte lediglich sein „rechtliches Dürfen“, den Kreis der ihm erlaubten Handlungen, ohne den Kreis der ihm rechtlich möglichen Handlungen zu verlassen. Letzteres geschähe nach Art. 53 WVK erst dann, wenn der fragliche Staat durch den Vertragsschluss gegen ius cogens verstieße.1410 Nur ein solcher Verstoß hätte die Nichtigkeit des Vertrages zur Folge, stünde mithin außerhalb der rechtlichen Fähigkeiten eines Völkerrechtssubjekts. Sähe man also in der Charta eine Delegation staatlicher Befugnisse an den Sicherheitsrat, so führte die Anwendung des nemo transferre-Grundsatzes jedenfalls 1407 Obwohl es in der Tat etwas merkwürdig anmutet, Art. 103 SVN auf einen der Verträge des internationalen bill of rights anzuwenden, wiewohl diese allesamt von der UN selbst ausgearbeitet wurden. In dem eher akademischen Fall eines Konflikts zwischen einer Verpflichtung aus einem menschenrechtlichen Vertrag und der Pflicht der Vereinten Nationen zur Sicherung des Weltfriedens erscheint die Anwendung des Art. 103 SVN aber durchaus vertretbar. 1408 Gemeint sind solche Normen des Völkergewohnheitsrechts, auf deren Beachtung Staaten untereinander verzichten können, sowie solche, von denen in besonderen Umständen, insbesondere in Notstandssituationen, abgewichen werden darf. 1409 Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 221. 1410 Zum gewohnheitsrechtlichen Status des Art. 53 WVK/WVKIO und der Anwendbarkeit dieser Regel auf den Beitritt zu den Vereinten Nationen siehe oben 4.Kp. B.III.3.a. 295 nur zu einer Bindung des Sicherheitsrates an das im Einzelnen noch zu bestimmende ius cogens. Denn nur soweit ein Staat den Sicherheitsrat durch seinen Beitritt zur UN zu einem ius cogens-widrigen Verhalten ermächtigen würde, wäre der Beitrittsakt als nichtig anzusehen. Ergebnis dieser „Delegationstheorie“ wäre somit, dass der Sicherheitsrat keinerlei Kompetenz zu ius cogens-widrigem Handeln besitzt.1411 II. Mittelbare Bindungen bei der Annahme originärer Sicherheitsratsbefugnisse Doch stößt die Grundthese der „Delegationstheorie“, dass der Sicherheitsrat lediglich Befugnisse ausübe, die ihm von den Mitgliedstaaten übertragen wurden, auch auf Ablehnung: Dieser Ansicht zufolge gingen die Kompetenzen des Sicherheitsrates weit über das hinaus, wozu sich einzelne Staaten untereinander bevollmächtigen könnten.1412 Seine Befugnisse unter Kapitel VII der Charta seien daher mehr als eine bloße Summierung ihm übertragener einzelstaatlicher Kompetenzen. In analoger Anwendung der hinsichtlich der Frage der Rechtsnatur der Hoheitsbefugnisse der Europäischen Gemeinschaft herrschenden „Gesamtaktstheorie“1413 ließe sich vertreten, der Sicherheitsrat übe nicht abgeleitete Kompetenzen der Mitgliedstaaten, sondern originäre eigene Hoheitsgewalt aus. Die Staaten hätten ihren übereinstimmenden Willen, nebeneinander stehend, zu einem Gesamtwillen verschmolzen und damit Rechtswirkungen außer sich selbst erzeugt.1414 Dieser in der UN-Charta ausgedrückte zusammengefasste Wille der Mitgliedstaaten wäre dann als Quelle der autonomen Befugnisse des Sicherheitsrates 1411 ILC, Kommentar zum WVKIO-Entwurf, ILC-YB 1982 II 2, 9 (56); Hannikainen, Peremptory Norms (1988), S. 22; Watson, Harvard ILJ 34 (1993), 1 (37); Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 225; sowie die oben in Fn. 1376 Genannten. Im Ergebnis auch Angelet, in: Gowlland-Debbas (Hrsg.), United Nations Sanctions (2001), S. 75 f. 1412 Tomuschat, in: FS Arangio-Ruiz (2004), S. 1767. 1413 Diese Bezeichnung geht zurück auf Ipsen, GemeinschaftsR (1972), S. 60 f. Vertreter dieser Auffassung sind beispielsweise Friauf, DVBl. 1964, 781 (785); Tomuschat, Artikel 24 GG (1981), Rn. 17, und König, Übertragung von Hoheitsrechten (2000), S. 61-64 u. 76-80, jeweils mit zahlr. Nachw. Ausführlich zur Entwicklung dieser hinsichtlich der EG/EU in Deutschland ganz herrschenden Meinung Flint, Übertragung von Hoheitsrechten (1998), S. 15-83. 1414 So wörtlich Ipsen, GemeinschaftsR (1972), S. 60 f., zum Gründungsakt der EWG. Dahingehend auch Tomuschat, Artikel 24 GG (1981), Rn. 15 m.w.N. 296 anzusehen. Seitens des einzelnen Mitgliedstaates wäre die Ratifikation der Charta nicht als zivil- oder öffentlich-rechtlicher gedeuteter Übertragungsakt zu verstehen, sondern als „Ausschließlichkeitsaufgabe und Einräumung nicht-staatlicher Hoheitsentfaltung“.1415 Diese gäben ihren Anspruch auf, allein und exklusiv Hoheitsbefugnisse auf ihrem Territorium auszuüben, und räumten der von ihnen geschaffenen internationalen Organisation das Recht der Hoheitsentfaltung ein.1416 Doch selbst wenn man aufgrund dessen jegliche Form eines wie auch immer gearteten Rechtsüberganges und somit auch ein Mitübergehen der Beschränkungen einzelstaatlicher Befugnisse ablehnt,1417 änderte dies nichts an einer ius cogensBindung des Sicherheitsrates. Denn auch dieser Ausschließlichkeitsaufgabe mit Einräumung nicht-staatlicher Hoheitsentfaltung läge ein völkerrechtlicher Vertrag zugrunde, auf den der gewohnheitsrechtliche geltende Art. 53 WVK/WVKIO grundsätzlich Anwendung fände. Soweit er der „nicht-staatlichen Hoheitsgewalt“, in diesem Fall dem Sicherheitsrat, erlaubte, auf dem Gebiet des Mitgliedstaates bei der Entfaltung seiner Hoheit gegen ius cogens zu verstoßen, wäre er nichtig. Sieht man beispielsweise den in Art. 3 der Genfer Konventionen niedergelegten kriegsrechtlichen Mindeststandard als eine zwingende Norm des allgemeinen Völkerrechts an, wäre ein völkerrechtlicher Vertrag, der einem Völkerrechtssubjekt in wie auch immer gearteter Weise erlaubte, diesen Mindeststandard zu unterschreiten, gemäß Art. 53 WVK/WVKIO nichtig. Auch bei Annahme originärer Befugnisse des Sicherheitsrates wäre dieser daher grundsätzlich nicht berechtigt, gegen Normen des völkerrechtlichen ius cogens zu verstoßen. III. Einschränkungen einer so so begründete Bindung an ius cogens Keinen Bedenken begegnet die Annahme einer auf die eine oder auf die andere Weise begründeten mittelbaren Bindung des Sicherheitsrates aus dem Gesichtspunkt der unterschiedlichen Beitrittszeitpunkte. Zwar liegen zwischen der Gründung der 1415 Einzelheiten bei Ipsen, GemeinschaftsR (1972), S. 56 f.; Tomuschat, Artikel 24 GG (1981), Rn. 19; König, Übertragung von Hoheitsrechten (2000), S. 76-80 (jeweils m.w.N.). 1416 So für die EG die oben in Fn. 1415 Genannten. 1417 So für die EG Ipsen, GemeinschaftsR (1972), S. 56 f. 297 Organisation und dem Beitritt ihrer jüngsten Mitglieder fast sechzig Jahre.1418 Für die Beurteilung der Frage, inwiefern die von den Mitgliedstaaten abgeleiteten Befugnisse des Sicherheitsrates durch ius cogens beschränkt werden, ist indes der gegenwärtige Umfang des corpus iuris cogentis maßgeblich. Denn auch ein älterer Rechtsakt wird nichtig, wenn und soweit er im Widerspruch zu später entstandenem zwingenden Recht steht.1419 Jedoch steht auch die über die Nichtigkeitsfolge des Art. 53 WVK/WVKIO begründete mittelbare Bindung des Sicherheitsrates an ius cogens unter dem Vorbehalt, dass die fragliche zwingende Norm der Sache nach auf den Sicherheitsrat anwendbar ist. Wie bei der Prüfung einer externen Bindung des Sicherheitsrates an zwingende Grundwerte der internationalen Gemeinschaft1420 bedarf es dazu einer individuellen Prüfung der Norm unter Berücksichtigung der besonderen Rolle, welche die in der UN verfasste Staatengemeinschaft dem Sicherheitsrat zugedacht hat. Eine rein schematische Übertragung der ius cogens-Verpflichtungen, der die Staaten unterliegen, auf den Sicherheitsrat, ist auch im Falle der mittelbaren Bindung nicht möglich. IV. Zwischenergebnis: Mittelbare Bindung an zwingende Verpflichtungen der Mitgliedstaaten Zusammenfassend ist festzustellen, dass sich aus dem Umstand, dass sich die Befugnisse des Sicherheitsrates aus einem von seinen Mitgliedern geschlossenen Vertrag – der Charta – ableiten, mittelbare Grenzen seiner Befugnisse ergeben können. Von Bedeutung sind jedoch nur praktisch kaum relevante Verstöße gegen ius cogens. Nur soweit die Mitgliedstaaten mit ihrem Beitrittsakt den Vereinten 1418 Die 57. Generalversammlung nahm am 10.9.2002 die Schweiz als 190. Mitgliedstaat und am 27.9.2002 Osttimor als 191. Mitgliedstaat in die Vereinten Nationen auf. Siehe die Liste der UNMitgliedstaaten, abrufbar unter <www.un.org/Overview/unmember.html>. 1419 Vgl. Art. 64 WVK und ausführlicher Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht (1992), S. 328 f. Vor der Annahme einer (Teil-)Nichtigkeit des gesamten Beitrittsakts gemäß Art. 44 Abs. 5, 53 WVK wäre aber zunächst der Versuch einer völkerrechtskonformen Auslegung zu unternehmen. So zu Recht Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 225 Fn. 288, und allgemein Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht (1992), S. 326 f. 1420 Siehe dazu die Ausführungen oben 4.Kp. B.III.3.b. 298 Nationen gestatteten, zwingendes Recht zu missachten, wäre dieser Beitrittsakt grundsätzlich gemäß dem in Art. 53 WVK/WVKIO kodifizierten Grundsatz des Gewohnheitsrechts (teil-) nichtig. Daraus folgt im Umkehrschluss, dass der Sicherheitsrat keinerlei Befugnis zu einem Verstoß gegen ius cogens besitzen kann. Aufgrund des Umstandes, dass die in den Vereinten Nationen verfasste internationale Gemeinschaft dem Sicherheitsrat eine Sonderrolle zugewiesen hat, ist aber auch jede in Frage kommende Norm zunächst dahingehend zu untersuchen, ob sie auf den Sicherheitsrat in gleicher Weise Anwendung findet, wie auf sonstige Völkerrechtssubjekte. Die mittelbare Bindung des Sicherheitsrates entspricht somit im Umfang seiner im vorangegangenen Abschnitt B dargestellten externen Bindung an allgemeines Völkerrecht, so dass ihr im Folgenden keine eigenständige Bedeutung zukommt. 299 D. Auswertung: Relative und absolute Grenzen der Verwaltungskompetenz des Sicherheitsrates unter Kapitel VII der Charta Die Untersuchung der verschiedenen denkbaren Bindungsmechanismen ergab, dass der Sicherheitsrat auch bei der Wahrnehmung seiner Befugnisse aus Kapitel VII der Charta keineswegs frei von rechtlichen Vorgaben handeln darf (I). Zu klären bleibt, in welchem Verhältnis die festgestellten Grenzen zueinander stehen (II) und wie sie sich auf auf seine Befugnis auswirken, ein Krisengebiet auch gegen den Willen des betroffenen Territorialstaates zu verwalten (III). I. Zusammenfassung der bisherigen Erkenntnisse Das interne Recht der Vereinten Nationen verpflichtet den Sicherheitsrat in Gestalt des Art. 24 Abs. 2 Satz 1 SVN zur Beachtung der Ziele und Grundsätze der Organisation, welche in Art. 1 und 2 SVN niedergelegt sind. Zu diesen gehören die Sicherung des Weltfriedens sowie die Förderung des Selbstbestimmungsrechts und der Menschenrechte. Aus dieser Förderpflicht ergibt sich eine Pflicht, sie zu schützen und zu beachten, soweit die Vereinten Nationen selbst unmittelbaren Einfluss auf die Gewährleistung dieser Rechte haben. Des Weiteren gehört – in engen Grenzen – auch die Souveränität der Mitgliedstaaten zu den Schutzgütern der Art. 1 und 2 SVN. Aus dem Wortlaut des Art. 1 SVN ergibt sich ein grundsätzlicher Vorrang der Verpflichtung zur Sicherung des Weltfriedens. Sofern die Ziele der Organisation somit im Einzelfall nicht miteinander in Einklang gebracht werden können, treten die Verpflichtung zur Achtung von Souveränität, Selbstbestimmungsrecht und Menschenrechten zurück, soweit dies zur Friedenssicherung erforderlich ist. In diesem Rahmen sind die von der Generalversammlung verabschiedeten Resolutionen und die unter ihrem Dach ausgearbeiteten Konventionen auch für den Sicherheitsrat verbindlich. Art. 60 SVN stellt die Entwicklung der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts in die Verantwortung der Generalversammlung und des ECOSOC. Ihre Tätigkeiten und Rechtsakte auf diesen Gebieten stellen daher eine autoritative Konkretisierung der in Art. 1 Ziff. 2 und Ziff. 3 SVN genannten 300 Ziele der Organisation dar, sofern sie im Einzelfall dazu geeignet erscheinen1421 und eine dahingehende Absicht zu konkretisieren erkennbar ist. Soweit nicht anderenfalls die Friedenssicherung vereitelt würde, ist der Sicherheitsrat daher gehalten, die materiellrechtlichen Normen der oben genannten Resolutionen und Konventionen zu wahren. Als Organ eines Völkerrechtssubjektes ist der Sicherheitsrat ferner grundsätzlich an allgemeines Völkerrecht, insbesondere bestehendes Völkergewohnheitsrecht gebunden. Indes reduziert Art. 1 Ziff. 1 SVN diese externe Rechtsbindung des Sicherheitsrates auf eine Verpflichtung zur Einhaltung nur der zwingenden gewohnheitsrechtlichen Normen, soweit diese im konkreten Einzelfall sachlich auf ihn anwendbar sind. Diese Bindung an ius cogens lässt sich ferner mit der mittelbaren Bindung des Sicherheitsrates an diejenigen völkerrechtlichen Grenzen begründen, denen die Mitgliedstaaten bei einer entsprechenden Hoheitsausübung unterlägen. II. Das Verhältnis der Grenzen zueinander Die Befugnisse des Sicherheitsrates unterliegen somit relativen und absoluten rechtlichen Beschränkungen. Relative Grenzen ergeben sich aus dem internen Recht der Vereinten Nationen. Sie sind durch die Arbeit der Generalversammlung und des ECOSOC vergleichsweise detailliert und umfassend ausgearbeitet worden. Eine Bindung an diese relativen Grenzen ist der Regelfall. Nur soweit sich der Sicherheitsrat durch eine Beachtung dieser Vorgaben in Widerspruch zum Ziel der Friedenssicherung setzen würde, darf er im Einzelfall von ihnen abweichen. Keinesfalls darf er dagegen von jenen gewohnheitsrechtlichen Normen abweichen, die den Kernbestand der internationalen Werteordnung wiedergeben. Dieses ius cogens muss er selbst dann beachten, wenn ihm dadurch im Einzelfall die Sicherung 1421 Dies setzt voraus, dass die fragliche Norm im Einzelfall sachlich auf den Sicherheitsrat anwendbar ist, mithin keine Anforderungen an den Adressaten stellen, die der Sicherheitsrat als Organ einer internationalen Organisation (anders als z.B. Staaten) im konkreten Einzelfall nicht erfüllt. 301 des Weltfriedens wesentlich erschwert wird.1422 Etwas vereinfachend1423 lassen sich die Normen des Völkerrechts, welche das Handeln des Sicherheitsrates unter Kapitel VII der Charta begrenzen, als eine dreistufige Normpyramide darstellen: Ihre Spitze bildet das ius cogens als Ausdruck der zwingenden Grundwerte der internationalen Gemeinschaft, die der Sicherheitsrat in jedem Fall zu beachten hat. In der Mitte steht die Pflicht zur Friedenswahrung,1424 welche im Falle eines Zielkonflikts Vorrang vor den die breite Basis bildenden übrigen Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen besitzt. Welche Schlussfolgerungen aus diesem Verhältnis von relativen zu absoluten Grenzen für die zwangsweise Verwaltung eines Krisengebietes zu ziehen sind, ist Gegenstand des folgenden Abschnitts. III. Anwendung auf die Befugnis des Sicherheitsrates zur zwangsweisen Verwaltung eines Krisengebietes Die übergangsweise Verwaltung eines Krisengebietes weist gegenüber den sonstigen Zwangsmaßnahmen des Sicherheitsrates nach Kapitel VII einige Besonderheiten auf, die hauptsächlich mit der Ausübung staatsähnlicher territorialer Hoheitsbefugnisse verbunden sind. Zu ihnen zählt neben dem tiefgreifenden Eingriff in staatliche Souveränität vor allem der unmittelbare Durchgriff auf die innerhalb des Gebiets lebenden Menschen. Die zumindest zeitweise Verdrängung des Territorialstaates aus dem Hoheitsverhältnis zu seinen Bürgern macht den Sicherheitsrat und dessen ausführende Nebenorgane zumindest faktisch allein verantwortlich für Wohl und Wehe der betroffenen Bevölkerung. Der Sicherheitsrat agiert hier nicht mehr allein auf der zwischenstaatlichen Ebene, sondern primär als innerstaatlicher Akteur, der 1422 So i.E. auch Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 174 f., und Oette, Wirtschaftssanktionen (2003), S. 237. Dass diese Bindung an ius cogens nicht notwendig mit der Bindung der Staaten an zwingendes Recht identisch ist, wurde bereits oben im 4.Kp. B.III.3 festgestellt. 1423 Klein, in: FS Ress (2005), S. 152, weist darauf hin, dass die Idee von ius cogens nicht notwendig die Annahme einer Normhierarchie im Völkerrecht bedingt. 1424 In gewisser Weise ist auch die Pflicht zur Friedenssicherung eine absolute Grenze der Kapitel VIIKompetenzen des Sicherheitsrates, da eine entsprechende Finalität der Maßnahmen nach Art. 39 SVN a.E. Voraussetzung dafür ist, dass er überhaupt von seinen Befugnissen zu Zwangsmaßnahmen Gebrauch machen darf. 302 mit Hoheitsbefugnissen ausgestattet dem Einzelnen unmittelbar gegenübertritt. Dieser Wechsel auf die „innerstaatliche Bühne“ lässt es naheliegend erscheinen, ihm bei der Ausübung staatlicher Vorrechte auch die Einhaltung staatlicher Pflichten, insbesondere die Wahrung der Rechte der Bevölkerung, aufzutragen. Jedoch darf dabei nicht übersehen werden, dass sich die Verwaltung eines Krisengebietes durch den Sicherheitsrat in wesentlichen Punkten von einer regulären Gebietsverwaltung durch den zuständigen Territorialstaat unterscheidet. 1. Die Besonderheiten internationaler Verwaltung Im Gegensatz zur regulären staatlichen Gebietsverwaltung betrifft eine Zwangsverwaltung durch den Sicherheitsrat ein Krisengebiet, von dem eine Bedrohung für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit ausgeht.1425 Regelmäßig wird eine Notsituation vorliegen, gekennzeichnet durch den Zusammenbruch oder die Auflösung bestehender staatlicher Strukturen. Damit einher geht ein Verlust des staatlichen Gewaltmonopols und das Bestehen zumeist bürgerkriegsähnlicher Zustände. Auf diese Weise wird zudem oft jegliche personelle und materielle Grundlage für die Organisation eines auch nur halbwegs effektiven Staatswesens zerstört. Vorangegangene schwere Menschenrechtsverletzung und die Verwendung staatlicher Institutionen als Instrumente der Unterdrückung werden zudem oft zu einer weitgehenden Delegitimation staatlicher Gewalt in den Augen der Bevölkerung geführt haben.1426 Die Menschenrechte, aber auch das übrige Völkerrecht, setzen indes implizit das Bestehen eines zumindest halbwegs effektiven Staatswesens voraus. Die Völkerrechtsordnung benötigt es nicht nur als Adressat ihrer Rechtsnormen, sondern ist zu ihrer Umsetzung auch auf staatliche Verwaltungsapparate angewiesen. Das zeigt ein – später noch zu vertiefender1427 – Blick auf die Justizgrundrechte, deren Verwirklichung das Bestehen eines entwickelten Justizapparates voraussetzt. An 1425 Dies ist nach Art. 39 SVN Voraussetzung für eine Zwangsmaßnahme des Sicherheitsrates auf der Grundlage von Kapitel VII der Charta. Siehe dazu bereits oben 3.Kp. C.II. 1426 Siehe UN-GS, Transitional Justice (2004), § 27. 1427 Siehe dazu ausführlicher unten 4.Kp. E.II u. III. 303 solchen staatlichen Strukturen wird es indes in Krisengebieten regelmäßig fehlen. Sie müssen erst durch die UN wiederhergestellt oder gar neu geschaffen werden. Zu berücksichtigen sind ferner die historischen und kulturellen Hintergründe des verwalteten Gebietes und seiner Bevölkerung. So haben die Vereinten Nationen beim Wiederaufbau rechtsstaatlicher Strukturen (rule of law) in Krisengebieten die Erfahrung gemacht, dass die Übernahme externer Strukturen und Modelle nicht zu einer nachhaltigen Lösung bestehender Konflikte geführt hat.1428 Vielmehr hat es sich als sinnvoller erwiesen, die Analyse bestehender Defizite und die Entwicklung von Lösungsansätzen seitens der UN lediglich zu unterstützen, die Leitung dieser Prozesse aber wesentlich den Vertretern der Gebietsbevölkerung zu überlassen.1429 Dies kann aber im Einzelfall dazu führen, dass Aufbauprozesse länger dauern und der von den internationalen Pakten geforderte Menschenrechtsschutz erst später voll verwirklicht werden kann. Denn nicht in allen Kulturen ist die Achtung jedes einzelnen Menschenrechts gleich stark ausgeprägt oder sozial verankert. Dies gilt insbesondere für die Rechte von Frauen und Mädchen, deren volle Gleichberechtigung beispielsweise in streng islamisch geprägten Gesellschaften wie in Afghanistan schwieriger durchzusetzen ist. Will man aus Gründen der Legitimation und der Nachhaltigkeit eine entscheidende Beteiligung der Bevölkerung an der Verwaltung und dem staatlichen Wiederaufbau,1430 kann dies somit zu einer zumindest vorübergehenden Beeinträchtigung des Menschenrechtsschutzes führen, einer Beeinträchtigung, die bei einer Dekretierung bestimmter Gesetze unmittelbar durch die internationale Verwaltung so vielleicht nicht bestünde. Inwieweit die Hinnahme einer solchen Beeinträchtigung sinnvoll oder gar erforderlich ist, ist indes im Kern eine Abwägungsentscheidung, basierend auf Prognosen künftiger politischer Entwicklungen in einem Krisengebiet. Für solche politisch geprägten Prognoseentscheidungen im Bereich der Friedenssicherung ist dem Sicherheitsrat – anders als Einzelstaaten – von der Charta bewusst ein weiter Entscheidungsspielraum gegeben worden. 1428 UN-GS, Transitional Justice (2004), § 17. 1429 UN-GS, Transitional Justice (2004), § 15. 1430 Das Stichwort hierzu lautet ownership of process. 304 Weiter ist zu berücksichtigen, dass die Vereinten Nationen gegenüber Staaten in vielerlei Hinsicht über weniger Ressourcen verfügen. Das betrifft insbesondere den Zugriff auf Personal, das über die zur Verwaltung eines Gebietes erforderlichen Fähigkeiten verfügt.1431 Zwar werden mittlerweile seitens der UN entsprechende Kapazitäten aufgebaut. Dennoch wird ihre Aktivierung und Versetzung in das Krisengebiet ebenso wie die Rekrutierung geeigneter Ortskräfte auch in Zukunft einige Zeit in Anspruch nehmen. Hinzu kommt, dass die Mitgliedstaaten die UN auch finanziell nicht mit den Mitteln ausstatten, die sie benötigte, um ihrem Mandat vollumfänglich gerecht werden zu können.1432 So stehen gegenwärtig allein im Bereich des Peacekeeping Beiträge der Mitgliedstaaten in Höhe von etwa US$ 1,73 Milliarden aus.1433 Den Sicherheitsrat bei der Verwaltung eines Gebietes zur Beachtung aller völkerrechtlichen Vorgaben zu verpflichten, hieße vor diesem Hintergrund, ihn in der Regel zu überfordern. Gehäufte Verstöße gegen völkerrechtliche Vorgaben würfen die Frage nach der Haftung der Organisation und ihrer Mitgliedstaaten auf. Darunter litte notwendigerweise deren Bereitschaft, in Zukunft wieder zur Friedenssicherung in failed states einzugreifen. Es besteht somit ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen den Anforderungen, welche das Völkerrecht an die Ausübung staatlicher Gewalt stellt, und der Aufgabe des Sicherheitsrates, mit den ihm gegebenen begrenzten Ressourcen und Fähigkeiten den Weltfrieden möglichst effektiv zu sichern. Dieses Spannungsverhältnis muss auch bei der Untersuchung der rechtlichen Grenzen der Befugnisse des Sicherheitsrates berücksichtigt werden. Auch in zeitlicher Hinsicht weist eine UN-Verwaltung Besonderheiten auf. Anders als ein grundsätzlich auf Dauer angelegtes Staatswesen ist eine UN- Zwangsverwaltung prinzipiell transitorischen Charakters. Zwar sind ihr keine festen 1431 Zu den Schwierigkeiten, welche die UN bei der Rekrutierung qualifizierten Personals hat, siehe beispielsweise UN, Brahimi-Report (2000), §§ 127-145; Caplan, New Trusteeship (2002), S. 48 f.; und Vieira de Mello, in: Azimi/Chang (Hrsg.), UNTAET (2003), S. 17 f. 1432 UN, Brahimi-Report (2000), §§ 266, 275 u. 277; UN-GS, Transitional Justice (2004), § 13. So führt Kapila, in: Azimi/Chang (Hrsg.), UNTAET (2003), S. 60, den Erfolg UNTAETs auch auf die gute finanzielle Ausstattung der Mission zurück. 1433 UN-DPKO, Zahlen vom 30.6.2005 abrufbar unter <www.un.org/Depts/dpko/dpko/bnote.htm>. 305 zeitlichen Grenzen gesetzt,1434 als Mittel zur Beseitigung einer von dem Krisengebiet ausgehenden Friedensbedrohung ist sie aber in der Regel darauf angelegt, sich durch die Stabilisierung des Gebietes und seiner öffentlichen Institutionen selbst überflüssig zu machen. Wie die bisherigen Beispiele internationaler Gebietsverwaltung zeigen, ist ihre Dauer eher in Jahren als in Jahrzehnten zu messen.1435 Für eine solche Übergangszeit erscheint es prima facie eher vertretbar, gewisse Beeinträchtigungen Beteiligungsrechte und hinzunehmen, Leistungsansprüche insbesondere, des Einzelnen soweit es um gegenüber dem territorialen Hoheitsträger geht. Diese Besonderheiten eine UN-Gebietsverwaltung – Zusammenbruch staatlicher Institutionen, Ressourcenknappheit der Organisation und geringe zeitlicher Dauer der Verwaltung – müssen bei der Untersuchung der rechtlichen Grenzen der Verwaltungskompetenz des Sicherheitsrates berücksichtigt werden. Sie zeigen auch, dass es wenig sinnvoll ist, den Sicherheitsrat starr den gleichen völkerrechtlichen Vorgaben zu unterstellen, die Staaten bei der Ausübung ihrer Territorialhoheit zu beachten haben. 2. Auswirkungen auf die Befugnisse des Sicherheitsrates unter Kapitel VII SVN Zu prüfen bleibt, ob das oben festgestellte Modell einer abgestuften Rechtsbindung des Sicherheitsrates unter Kapitel VII der Charta diesen praktischen Anforderungen einer zwangsweisen Krisengebietsverwaltung durch die Vereinten Nationen gerecht wird. Da ist zunächst die grundsätzliche Bindung an das Selbstbestimmungsrecht und an die Menschenrechte, wie sie von der Generalversammlung, dem ECOSOC und seinen Unterorganen seit Gründung der Vereinten Nationen ausgearbeitet wurden. Sie stellen eine relativ weitgehende und detaillierte Beschränkung der Befugnisse des Sicherheitsrates zur Gebietsverwaltung dar und gewähren den Bewohnern des Krisengebietes neben den klassischen Freiheitsrechten auch wirtschaftliche und 1434 Siehe dazu oben 4.Kp. A.I. 1435 Ausnahmen sind die Saarverwaltung sowie die nicht verwirklichten Projekte bzgl. Triests und Jerusalems, die jedoch nicht auf ein Kapitel VII-Mandat des Sicherheitsrates gestützt wurden bzw. werden sollten. Siehe dazu oben das 2. Kp. 306 soziale Rechte. Zumindest auf den materiellrechtlichen Gehalt1436 dieser Vertragswerke ist der Sicherheitsrat aus Art. 24 Abs. 2 Satz 1, Art. 1 Ziff. 2 und 3 SVN zunächst in gleicher Weise verpflichtet wie die Vertragsstaaten. Aufgrund des in der Charta angelegten Vorrangs des Ziels der Friedenssicherung gilt dies jedenfalls insoweit, als eine vollumfängliche Beachtung mit der Hauptaufgabe des Sicherheitsrates – dem Ergreifen effektiver kollektiver Maßnahmen zur Bekämpfung von Friedensbedrohungen – vereinbar ist. Nur soweit die Beachtung eines der in den internationalen Pakten niedergelegten Rechts im Einzelfall eine effektive Bekämpfung der von dem Gebiet ausgehenden Friedensbedrohung verhindert, darf der Sicherheitsrat von ihm abweichen. Gleiches gilt für das von der Generalversammlung in den einschlägigen Resolutionen ausgearbeitete Selbstbestimmungsrecht. Ein solcher Konflikt zwischen den Zielen des Art. 1 Ziff. 1 SVN kann in unterschiedlichen Konstellationen bestehen. So kann eine der Achtung des Selbstbestimmungsrechts entsprechende rasche Beteiligung der Bevölkerung an der Ausübung der Verwaltungshoheit destabilisierend wirken, weil sie bestehende, insbesondere ethnische Konflikte verfestigt oder wieder aufbrechen lässt. Gleiches kann für das Recht auf freie Meinungsäußerung oder die Pressefreiheit gelten.1437 Auch strafrechtliche Verfahrensgarantien sind nur schwer zu wahren, wenn es keine funktionierende Justiz gibt und nicht einmal die öffentliche Sicherheit und Ordnung gewährleistet ist.1438 Deshalb alle Straftäter wieder freizulassen, kann gerade bei ethnisch motivierten Straftaten den Konflikt fortdauern oder wieder aufleben lassen und den Wiederaufbau staatlicher Strukturen dauerhaft beeinträchtigen.1439 1436 Etwas anderes gilt insoweit für die prozeduralen Vorschriften, die beispielsweise das Verfahren vor den durch die Verträge geschaffenen Gremien regeln (z.B. Art. 28 ff. IPbürgR). 1437 Siehe dazu Palmer, Harvard JIL 26 (2001), 179-218. 1438 Zu den Schwierigkeiten beim Aufbau eines Justizsystems im Kosovo und in Osttimor siehe Betts (u.a.), Michigan JIL 22 (2001), 371-389, und Strohmeyer, AJIL 95 (2001), 46-63, ferner unten 4.Kp. E.II. 1439 Die Notwendigkeit zügiger polizeilicher Kriminalitätsbekämpfung betont auch UN-GS, Transitional Justice (2004), §§ 28 f. 307 Genaue Kriterien für die Annahme eines Vorrangs der Friedenssicherung im Einzelfall werden im Folgenden noch zu erarbeiten sein.1440 Entscheidend ist aber zunächst, dass der Sicherheitsrat nicht unter allen Umständen zur vollumfänglich Beachtung der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts verpflichtet ist, sondern von ihnen abweichen kann, sofern dies zur Wahrung der Friedenssicherung unbedingt erforderlich sein sollte. Dieser Umstand erlaubt es, die oben dargelegten tatsächlichen Besonderheiten einer UN-Krisengebietsverwaltung auch bei der Feststellung ihres völkerrechtlichen Rahmens hinreichend zu berücksichtigen. Dies ist insbesondere hinsichtlich jener menschenrechtlichen Konventionen von Bedeutung, die wie die Kinderrechtekonvention (KRK)1441 nicht über Notstandsklauseln verfügen. Ihre Grenze findet diese besondere Derogationsmöglichkeit in der gewohnheitsrechtlichen Bindung des Sicherheitsrates an jene Normen, die den zwingenden Kernbestand der gemeinsamen Werte der internationalen Gemeinschaft ausmachen.1442 Sie zu beachten ist der Sicherheitsrat unabhängig von der im Krisengebiet tatsächlich vorgefundenen Lage verpflichtet. Als Kernbereichsnormen sind zwingende Rechte jedoch nach Art und Umfang sehr beschränkt, so dass sie die Verwaltungskompetenz des Sicherheitsrates nur in geringem Umfang einschränkt. Ferner lässt sich ihre Missachtung im Regelfall kaum mit der Verpflichtung des Sicherheitsrates aus Art. 1 Ziff. 1 und Art. 24 Abs. 1 SVN vereinbaren, den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu schützen. Es ist kaum denkbar, dass – um zwei weitgehend anerkannte ius cogens Verbote1443 zu nennen – die Einführung der Sklaverei oder die Begehung eines Völkermordes in nennenswerter Weise zur internationalen Sicherheit beitragen könnten. Im Alltag einer Krisengebietsverwaltung werden diese Normen daher nur eine vergleichsweise 1440 Siehe dazu unten 4.Kp. D.III.3. 1441 Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989 (im Folgenden: KRK), in Kraft getreten am 2.9.1990, abgedr. in U.N.T.S. Bd. 1577 (1990), 3-167, engl. Fassung auch ILM 28 (1989), 1454-1476, dt. Fassung in BGBl. 1992 II, 122 ff. 1442 Siehe dazu ausführlich oben 4.Kp. B.III.3. 1443 Hannikainen, Peremptory Norms (1988), S. 446 f. u. 466; Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht 308 geringe Rolle spielen. Nichtsdestoweniger sind sie als äußerste Grenze der sicherheitsratlichen Handlungsbefugnis von Bedeutung. Dies gilt insbesondere für die zwingenden Bestandteile des humanitären Völkerrechts, die dem Sicherheitsrat zumindest in einer Phase militärischer Befriedung des Gebietes verbindlich Schranken setzen.1444 Praktische Relevanz im friedlichen Alltag einer Zwangsverwaltung hat dagegen eher die Frage, unter welchen Voraussetzungen im Einzelfall ein Vorrang der Friedenssicherung vor den übrigen Zielen des Art. 1 SVN anzunehmen ist. Dem soll im folgenden Abschnitt nachgegangen werden. 3. Kriterien für die Annahme eines Vorrangs der Friedenssicherung Anhand der im Folgenden zu entwickelnden abstrakten Kriterien soll im Einzelfall beurteilt werden können, inwieweit die Charta dem Sicherheitsrat zum Zwecke der Friedenssicherung ein Abweichen von einzelnen Menschenrechten oder dem Selbstbestimmungsrecht gestattet. Sie konkretisieren damit das sich aus der Charta ergebende Verhältnis zwischen den in Art. 1 SVN niedergelegten Zielen der Organisation bei einer Tätigkeit des Sicherheitsrates unter Kapitel VII der Charta. Die gesuchten Kriterien müssen daher dem Sicherheitsrat einerseits ein seinen Ressourcen und der Situation angemessenes Eingreifen in einem Krisengebiet erlauben, und andererseits die schutzwürdigen Interessen der Bewohner des Gebietes hinreichend berücksichtigen. a. Beeinträchtigung eines der von Art. 1 Ziff. 2 und 3 SVN geschützten Rechtsgüter Zu prüfen ist zunächst, ob eine Maßnahme der vom Sicherheitsrat unter Kapitel VII der Charta mandatierten Gebietsverwaltung überhaupt eines der nach Art. 24 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Ziff. 2 und 3 SVN zu schützenden Rechte beeinträchtigt. Der Begriff Maßnahme ist dabei als Oberbegriff für jedes zu prüfende Handeln oder Unterlassen zu verstehen, unabhängig davon, in welcher Rechtsform es geschieht. Nur wenn durch die fragliche Maßnahme tatsächlich geschützte (1992), S. 275 f. u. 296 f.; Ipsen, Völkerrecht (2004), § 15 Rn. 59. 1444 Siehe dazu ausführlicher unten 4.Kp.E.I. m.w.N. 309 Rechtspositionen beeinträchtigt werden, kann im Einzelfall ein Konflikt zwischen dem Ziel der Friedenssicherung und den übrigen Zielen des Art. 1 SVN bestehen. Dabei ist insbesondere bei Menschenrechten zu prüfen, ob es sich nicht um Einschränkungen handelt, die nach den internationalen Pakten einschließlich der weiteren relevanten UN-Menschenrechtskonventionen zulässig sind. So erlaubt beispielsweise Art. 12 Abs. 3 IPbürgR, die Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit zum Schutz des ordre public oder aus anderen dort genannten Gründen einzuschränken. Aus denselben Gründen erlaubt Art. 15 Abs. 2 KRK1445 eine Einschränkung der Versammlungsfreiheit. In beiden Fällen müssten die Einschränkungsmöglichkeiten gesetzlich normiert sein, im Falle einer UNGebietsverwaltung also in Form einer Verordnung.1446 Im Falle einer Beeinträchtigung von Rechten des IPbürgR ist ferner zu prüfen, ob diese nicht bereits aus Notstandsgesichtspunkten gerechtfertigt ist. Art. 4 Abs. 1 IPbürgR erlaubt es den Vertragsstaaten, „[i]m Falle eines öffentlichen Notstandes, der das Leben der Nation bedroht, (...) ihre Verpflichtungen aus diesem Pakt in dem Umfang, den die Lage unbedingt erfordert, außer Kraft [zu] setzen“.1447 Eine solche Bedrohung muss unmittelbar und gegenwärtig sein und muss ein Gebiet und seine Bewohner in ihrer Gesamtheit treffen.1448 Es ist nicht ausreichend, dass lediglich die politische Stabilität einer Regierung gefährdet ist oder dass nur Teile der Bevölkerung betroffen sind.1449 Die Situation muss über eine bloße Bedrohung der 1445 Siehe die Nachweise oben in Fn. 1441. 1446 Siehe beispielsweise UNMIK/REG/2000/62 vom 30.11.2000 zur Anordnung von Platzverweisen zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Je nach Stadium des staatlichen Wiederaufbaus käme auch ein Legislativakt des zuständigen nationalen Gesetzgebungskörpers in Frage. Art. 4 Abs. 1 IPbürgR lautet im engl. Original: „In time of public emergency which threatens the life of the nation and the existence of which is officially proclaimed, the State Parties to the present Covenant may take measures derogating from their obligations under the present Covenant to the extent strictly required by the exigencies of the situation, provided that such measures are not inconsistent with their other obligations under international law and do not involve discrimination solely on the ground of race, colour, sex, language or social origin.” Siehe auch die Kommentierungen von Hartman, HRQ 7 (1985), 89-131, und Nowak, CCPR Commentary (1993), Art. 4, ferner HRC, General Comment No. 29 (2001). 1447 1448 Ausführlicher zu den Anforderungen an die Annahme einer Notstandssituation Hartman, HRQ 7 (1985), 89 (91-98); Oraá, Human Rights (1992), S. 27-31. 310 öffentlichen Sicherheit und Ordnung hinausgehen und darf nicht mehr mit den regulären Mitteln des Rechtsstaats effektiv zu bekämpfen sein.1450 Es liegt nahe, zumindest in der Anfangszeit einer Krisengebietsverwaltung durch den Sicherheitsrat eine Notstandssituation im Sinne des Art. 4 Abs. 1 IPbürgR anzunehmen.1451 Zwar sind die Vereinten Nationen nicht Vertragsstaat des IPbürgR. Der materielle Gehalt des Art. 4 Abs. 1 IPbürgR, demzufolge bestimmte Gewährleistungen des Paktes nicht notstandsfest sind, bestimmt aber auch Inhalt und Reichweite der betroffenen Menschenrechte und konkretisiert damit ebenfalls die Zielvorgabe des Art. 1 Ziff. 3 SVN. Auch der Einwand, dass ein Staatswesen in der Anfangszeit einer UN-Verwaltung regelmäßig nicht mehr existieren wird und somit auch nicht mehr in seiner Existenz bedroht sein kann, ist nicht zwingend. Wenn es schon zulässig ist, zur Sicherung des Bestandes einer Nation im Sinne einer in einem Staatswesen organisierten Bevölkerung von Vorschriften des IPbürgR zu derogieren, muss dies erst recht im Falle der Rekonstruktion dieses Staatswesens möglich sein. Doch auch im weiteren Verlauf einer UN-Gebietsverwaltung ist es denkbar, dass es zu Krisensituationen kommt, welche die Existenz der bisher geschaffenen Verwaltungsstrukturen gefährden und so als Notstand im Sinne des Art. 4 Abs. 1 SVN einzustufen wären. Beispielhaft seien die im Frühjahr 2004 im Kosovo aufgeflammten massiven Unruhen genannt, bei denen zahlreiche Menschen, insbesondere Angehörige der serbischen Minderheit, getötet wurden und die von UNMIK und KFOR nur mühsam unter Kontrolle gebracht werden konnten.1452 1449 Siehe die Auswertung der bisherigen Arbeit des Menschenrechtsausschusses des IPbürgR bei Svensson-McCarthy, States of Exception (1998), S. 199-241 (insbes. S. 239 f.). 1450 Oraá, Human Rights (1992), S. 29 f. Dieses Erfordernis lässt sich ferner aus HRC, General Comment No. 29 (2001), § 3 u. § 5, folgern. Svensson-McCarthy, States of Exception (1998), S. 621, leitet diese Anforderung aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip ab. Nach O’Neill, Kosovo (2002), S. 78 f., plädierte er (O’Neill) als Menschenrechtsberater des SRSG Kouchner Ende 1999 dafür, im Kosovo explizit eine Notstandslage nach Art. 4 IPbürgR zu verkünden. Aus politischen Gründen sei dies jedoch abgelehnt worden. In diese Richtung auch OMIK, 3. Criminal Justice Review (2001), S. 36, die einen Notstand i.S.d. Art. 4 IPbürgR jedoch mangels öffentlicher Verkündigung ablehnt. 1451 1452 Siehe dazu ausführlich Human Rights Watch, Failure to Protect (2004), und ICG, Collapse in Kosovo (2004). 311 Problematischer sind die von Art. 4 Abs. 1 und 3 IPbürgR postulierten Deklarationsund Notifikationspflichten.1453 Trotz des Vorliegens einer Notstandssituation hat weder UNMIK im Kosovo noch UNTAET in Osttimor dies amtlich verkündet oder den Mitgliedsstaaten des Paktes notifiziert.1454 Indes ist zumindest die Notifikationspflicht des Art. 4 Abs. 3 IPbürgR der Sache nach nicht auf den Sicherheitsrat anwendbar, da er nicht Vertragspartei ist und daher auch nicht dem vom IPbürgR geschaffenen Kontrollregime unterliegt.1455 Bei diesen handelt es sich um prozedurale Vorschriften, die lediglich der Durchsetzung der materiellen Vertragsnormen dienen, ohne aber Einfluss auf deren Inhalt und Umfang zu haben. Prozedurale Normen des IPbürgR wie auch der anderen UN-Menschenrechtsverträge stellen daher keine Konkretisierung der vom Sicherheitsrat nach Art. 1 Ziff. 3 SVN zu fördernden Menschenrechte dar und sind daher für diesen auch nicht verbindlich. Ferner ist auch der Schutzzweck der Notifikationspflicht nicht einschlägig, da die übrigen Staaten über die periodischen Berichte des Generalsekretärs sowie als Mitglieder der Vereinten Nationen bereits über Informations- und Einflussmöglichkeiten verfügen und eine Staatenbeschwerde nach Art. 41 IPbürgR gegen den Sicherheitsrat ohnehin nicht möglich ist.1456 Schwieriger erscheint es dagegen, eine Pflicht des Sicherheitsrates beziehungsweise der Verwaltungsmission zur offiziellen Verkündung des Notstands zu verneinen. Diese amtliche Verkündung ist nach Art. 4 Abs. 1 IPbürgR notwendige Voraussetzung dafür, dass sich ein Vertragsstaat auf die Notstandsklausel berufen kann.1457 Anders als Art. 4 Abs. 3 IPbürgR betrifft sie nicht lediglich das Verfahren 1453 Ausführlich zu beiden Pflichten und ihren Ausformungen in IPbürgR, EMRK und AMRK Oraá, Human Rights (1992), S. 34-86. Speziell zur Notifikationspflicht unter Art. 4 Abs. 3 IPbürgR siehe Svensson-McCarthy, States of Exception (1998), S. 683-696. 1454 So Stahn, ZaöRV 61 (2001), 107 (153), für UNMIK. 1455 Anders mag dies für vom Sicherheitsrat autorisierte Truppenverbände wie KFOR sein, da diese weiter den Truppen stellenden Staaten zuzurechnen sind. Siehe dazu Cerone, EJIL 12 (2001), 469 (486 u. 488). 1456 Zur ratio legis des Art. 4 Abs. 3 IPbürgR siehe HRC, General Comment No. 29 (2001), § 17, und ausf. Oraá, Human Rights (1992), S. 58 f. 1457 HRC, General Comment No. 29 (2001), § 2; Nowak, CCPR Commentary (1993), Art. 4 Rn. 17. Streng formal auch IGH, Legal consequences of the wall (Gutachten 2004), § 127 u. § 136, der eine Derogation Israels nur hinsichtlich des in der israelischen Noststandsnotifikation genannten Art. 9 312 der Vertragsparteien untereinander, sondern dient unmittelbar dem Schutz der Betroffenen. Durch das Erfordernis der amtlichen Verkündung des Notstandes soll die Bevölkerung gewarnt werden und der Möglichkeit einer ex post-Rechtfertigung begangener Menschenrechtsverletzungen als Notstandsmaßnahmen ein Riegel vorgeschoben werden.1458 Dieser Schutzzweck ist grundsätzlich auch im Falle einer UN-Gebietsverwaltung einschlägig. Allerdings wird man angesichts der Zustände, welche die UN zu Beginn ihrer Verwaltungstätigkeit im Kosovo und in Osttimor vorfand, sagen können, dass das Vorliegen einer Notstandssituation für alle Beteiligten derart offentsichtlich war, dass es einer Proklamation nicht mehr bedurfte.1459 Dennoch erscheint aus Gründen der Rechtssicherheit auch in diesen Fällen eine amtliche Verkündigung angebracht. Jedenfalls soweit sich eine UNMission nach der Festigung ihrer Gebietshoheit und ihrer Verwaltungsinstitutionen noch auf die Notstandsbefugnis des Art. 4 Abs. 1 IPbürgR berufen will, ist eine amtliche Verkündung erforderlich.1460 b. Kein Verstoß gegen zwingendes Recht Lässt sich die festgestellte Beeinträchtigung eines geschützten Rechts weder als eine zulässige Einschränkung noch als Derogation im Falle eines Notstands rechtfertigen, so muss weiter geprüft werden, ob ein Verstoß gegen zwingende Rechtsnormen IPbürgR zugelassen hat, nicht hingegen hinsichtlich der übrigen Gewährleistungen des IPbürgR. 1458 Oraá, Human Rights (1992), S. 35; Nowak, CCPR Commentary (1993), Art. 4 Rn. 19. Ähnlich auch Hartman, HRQ 7 (1985), 89 (99). Dagegen sieht HRC, General Comment No. 29 (2001), § 2, den wesentlichen Zweck dieser Vorschrift darin, den Grundsatz der Rechtsbindung aller staatlichen Organe („principle of legality“) sowie die Rechtsstaatlichkeit („rule of law“) auch im Krisenfall aufrecht zu erhalten. Die Proklamationspflicht hätte dann eine geringere Bedeutung, wenn beide Prinzipien bereits im Vorfeld einer UN-Gebietsverwaltung zusammengebrochen sind, da es dann nicht mehr darum gehen kann, die ohnehin offentsichtliche Abweichung vom rechtlichen Normalzustand in einem geordneten Verfahren (amtlich) zu verkünden. 1459 Andererseits wurde eine Notstandsderogation nach Art. 4 Abs. 1 IPbürgR von UMNIK gerade deshalb abgelehnt, weil man um die Glaubwürdigkeit der nach außen vertretenen These einer stetigen Verbesserung der Verhältnisse fürchtete (O’Neill, Kosovo (2002), S. 78 f.). Derartigen politischen Bedenken würde die Grundlage entzogen, wenn man, wie von O’Neill, ebenda S. 75 vertreten, gleich zu Anfang der UN-Krisengebietsverwaltung den Notstand erklärte. 1460 So auch Narten, HVR 17 (2004), 144 (148), im Hinblick auf die gewaltsamen Unruhen im Kosovo im März 2004. Weitergehend Stahn, ZaöRV 61 (2001), 107 (153), der unter allen Umständen eine formelle Verkündung und Notifizierung des Notstandes durch den Sicherheitsrat verlangt. 313 vorliegt. Dies mag im Falle einiger Prozessgrundrechte1461 und hinsichtlich der Reichweite des Selbstbestimmungsrechts1462 im Einzelfall problematisch sein, wird aber in der Regel keine Schwierigkeiten aufwerfen. c. Geeignetheit der Handlung zur Friedenssicherung Ein regelungsbedürftiger Konflikt zwischen den Zielen des Art. 1 SVN, bei dem der Vorrang der Friedenssicherung ins Spiel kommt, setzt weiter voraus, dass die fragliche Maßnahme zum Zwecke der Friedenssicherung ergriffen wird und dass sie dazu auch objektiv geeignet ist.1463 Soll sie primär anderen Zwecken dienen und kann sie objektiv nicht dazu beitragen, die von dem Kriesengebiet ausgehende Friedensbedrohung zu bekämpfen, so liegt schon gar kein regelungsbedürftiger Konflikt zwischen dem Ziel der Friedenssicherung einerseits und der Förderung von Menschenrechten und Selbstbestimmungsrecht andererseits vor. Die fragliche Maßnahme wäre für die Friedenssicherung irrelevant und, da sie gegen das Selbstbestimmungsrecht oder ein Menschenrecht verstößt, völkerrechtswidrig. Bei der Beurteilung der Eignung einer Maßnahme ist jedoch zu beachten, dass Friedenssicherung im Sinne des Art. 1 Ziff. 1 SVN nicht mit der Wiederherstellung oder Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vor Ort gleichzusetzen ist. Ein Maßnahme, die der Beseitigung einer Störung der öffentlichen Sicherheit innerhalb des Krisengebietes dient, ist damit noch nicht zur Friedenssicherung bestimmt und geeignet. Erst wenn die betreffende Störung Ausmaße erreicht, welche die Stabilität des Gebietes und seiner Verwaltung insgesamt beeinträchtigen, hat sie Auswirkungen auf die Sicherung des Weltfriedens. Beispielhaft für eine derartig gravierende Störung sind die anti-serbischen Ausschreitungen im Kosovo, bei denen im März 2004 zwanzig Personen getötet und über 200 verletzt wurden und die ihrerseits zu Krawallen in Serbien führten, bei 1461 Strittig ist insbesondere, inwiefern Ausprägungen des fair trial-Grundsatzes zwingenden Charakters sind. Zu den Prozessgrundrechten siehe auch unten 4.Kp. E.II.3. 1462 Siehe dazu unten 4.Kp. E.V. 1463 So für den ähnlich gelagerten Fall einer Notstandsderogation bei menschenrechtlichen Verträgen Oraá, Human Rights (1992), S. 169. 314 denen Moscheen in und Niś Belgrad zerstört wurden.1464 Bloße Kriminalitätsbekämpfung oder Gefahrenabwehr unterhalb dieser Schwelle ist aber noch keine Friedenssicherung im Sinne der Charta. Zwar umfasst der Begriff des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit nach der heute herrschenden weiten Auslegung auch rein innerstaatliche Vorgänge. Diese müssen aber ein erhebliches Gewicht haben.1465 Das gilt auch dann, wenn der Sicherheitsrat und damit die Vereinten Nationen selbst für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung in einem Gebiet verantwortlich sind. d. Verhältnismäßigkeit der Maßnahme Ist die fragliche Maßnahme indes zur Friedenssicherung bestimmt und geeignet, so ist der Sicherheitsrat aufgrund des in der Charta niedergelegten Vorrangs der Friedenssicherung berechtigt, nicht zwingende Bestandteile des Selbstbestimmungsrechts und der Menschenrechte zu missachten, soweit dies zum Zwecke der Friedenssicherung unbedingt erforderlich und im Hinblick auf das konkret angestrebte Ziel angemessen ist.1466 Diese beiden Voraussetzungen, die sich unter dem Begriff der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme zusammenfassen lassen, ergeben sich unter Anderem aus einer entsprechenden Heranziehung der Notstandsklauseln menschenrechtlicher Vertragswerke1467. Denn ihnen und dem in Art. 1 SVN niedergelegten Vorrang der Friedenssicherung liegt eine vergleichbare Interessenlage zugrunde. In beiden Fällen soll eine vorübergehende Beeinträchtigung bestimmter Rechtsgüter – Menschenrechte und Selbstbestimmungsrecht – zulässig sein, um den Bestand eines 1464 Zu diesen Ausschreitungen ausführlich Human Rights Watch, Failure to Protect (2004), und ICG, Collapse in Kosovo (2004). 1465 Siehe dazu bereits oben 3.Kp. C.II. 1466 Ausführlich zur Geltung des Verhältnismäßigkeitsprinzip im Bereich der Notstandsklauseln Oraá, Human Rights (1992), S. 140-170. Die diesbzgl. Arbeit des Menschenrechtsausschusses des IPbürgR wertet Svensson-McCarthy, States of Exception (1998), S. 569-590, aus. 1467 Zu erwähnen sind hier neben Art. 4 Abs. 1 IPbürgR auch Art. 15 EMRK und Art. 27 AMRK. Umfassend zu den Notstandsklauseln allgemein aus jüngerer Zeit Svensson-McCarthy, States of Exception (1998), zu Art. 15 EMRK und Art. 27 AMRK Maslaton, Notstandsklauseln (2002). Zur Frage, inwieweit sich aus diesen allgemeine gewohnheitsrechtliche Notstandskriterien entwickeln lassen, siehe insbes. Oraá, in: FS Brownlie (1999), S. 413-437. 315 übergeordneten Rechtsgutes – Weltfrieden einerseits, Nation oder Staatswesen1468 andererseits – zu sichern.1469 Weder Weltfrieden noch funktionierendes Staatswesen sind aber Selbstzwecke, vielmehr sind beide Voraussetzungen für eine dauerhafte Verwirklichung der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts.1470 Die von Notstandsklauseln in menschenrechtlichen Vertragswerken getroffene Abwägung zwischen Systemsicherung und Menschenrechtsschutz ist daher vorliegend entsprechend heranzuziehen. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip ist ferner gerade im Bereich der Menschenrechte relevantes allgemeines Rechtsprinzip des Völkerrechts.1471 Es ist ferner Kernbestandteil des humanitären Völkerrechts, welches ebenfalls die Frage einer Rechtsbindung in einem Sonderzustand – dem des bewaffnenten Konflikts – regelt.1472 Doch auch die Charta lässt eine Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips zumindest in der Form des Erforderlichkeitsgrundsatzes naheliegend erscheinen. Die Verpflichtung des Sicherheitsrates auf alle Ziele der Organisation (Art. 24 Abs. 2 Satz 1 SVN) verbietet es trotz des grundsätzlichen Vorrangs der Friedenssicherung, die übrigen Ziele auch dann zurücktreten zu lassen, wenn dies im Einzelfalls gar nicht erforderlich ist. Vielmehr hat der Sicherheitsrat soweit wie möglich alle Ziele zu verfolgen. Ähnliches lässt sich spezifisch für Kapitel VII der Charta aus Art. 41 und 42 SVN ableiten, die ein Bemühen der Charta erkennen lassen, im Rahmen der Friedenssicherung die Anwendung des mildesten Mittels zu sichern.1473 Zur Ursache der Wahl des Begriffs „Nation“ statt „Volk“ oder „Staat“ siehe Oraá, Human Rights (1992), S. 13 m.w.N. 1468 Nach HRC, General Comment No. 29 (2001), § 1, muss die „restoration of a state of normalcy where full respect for the Covenant can again be secured” das bestimmende Motiv für die Derogation eines Mitgliedstaates vom Pakt sein. 1469 1470 Siehe dazu bereits oben 4.Kp. B.III.3.e. 1471 Delbrück, Proportionality, EPIL III (1997), 1140 (1143 u. 1144); Oraá, Human Rights (1992), S. 140. Ausführlich zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht in jüngerer Zeit Krugmann, Verhältnismäßigkeit (2004). 1472 Delbrück, Proportionality, EPIL III (1997), 1140 (1142). Siehe dazu auch Krugmann, Verhältnismäßigkeit (2004), S. 36 f., m.w.N. 1473 Frowein/Krisch, Introduction to Chapter VII (2002), Rn. 30, die allerdings einen weiten Ermessensspielraum des Sicherheitsrates betonen. Siehe dazu auch unten den folgenden Abschnitt 4.Kp. D.III.3.e 316 Daraus folgt zunächst, dass die ein Menschenrecht oder das Selbstbestimmungsrecht beeinträchtigende Maßnahme nur dann aufgrund des Vorrangs der Friedenssicherung zulässig sein kann, wenn sie zur Beseitigung einer Friedensbedrohung nicht nur geeignet, sondern auch zwingend erforderlich1474 ist. Das heißt, es darf kein milderes Mittel zur Verfügung stehen, das bei gleicher Effektivität hinsichtlich der Friedenssicherung in geringerem Maße in geschützte Rechtspositionen eingreift. Dabei ist jedoch auch zu berücksichtigen, dass die Vereinten Nationen nur über begrenzte Ressourcen verfügen und zudem regelmäßig sehr kurzfristig in einem Krisengebiet eingesetzt werden. Die hier relevante Effektivität einer friedenssichernden Maßnahme bemisst sich danach, wie der Sicherheitsrat mit den ihm im Einzelfall zur Verfügung stehenden Ressourcen die größten Forstschritte bei der Bekämpfung einer Friedensbedrohung machen kann. So ist es beispielsweise durchaus denkbar, erst in einem Krisengebiet einzugreifen, wenn sämtliches Personal rekrutiert und ausgebildet wurde, das für eine den Anforderungen der Art. 9 und 10 IPbürgR ab initio gerecht werdende Justiz erforderlich ist. Das hieße jedoch, mit dem Ergreifen von Maßnahmen zur Bekämpfung von Friedensbedrohungen zu warten, und ist daher gegenüber einem sofortigen Eingreifen auch ohne ausreichend qualifiziertes Personal kein gleich effektives Mittel. Ähnlich wie im Falle der menschenrechtlichen Notstandsklauseln wird man auch die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne als Kriterium für die Annahme eines Vorrangs der Friedenssicherung im Einzelfall sehen müssen. 1475 Nur wenn das mit einer Maßnahme verfolgte konkrete Ziel in einem angemessenen Verhältnis zu der durch die Maßnahme bewirkten Beeinträchtigung von Menschenrechten oder dem Selbstbestimmungsrecht steht, ist sie aufgrund des Vorrangs der Friedenssicherung zulässig. Damit ist der von der Maßnahme erwartete Beitrag zur Bekämpfung einer 1474 Vgl. Art. 4 Abs. 1 IPbürgR und die Ausführungen dazu in HRC, General Comment No. 29 (2001), § 4. 1475 Für die Angemessenheit als Kriterium für die Zulässigkeit einer Notstandsmaßnahme beispielsweise McDougal u.A., AJIL 63 (1969), 237 (267); Higgins, BYIL 48 (1976-77), 281 (282 f.); § 51 der sog. Siracusa Principles on the Limitation and Derogation Provisions in the International Covenant on Civil and Political Rights, abgedr. in HRQ 7 (1985), 3 (9); Nowak, CCPR Commentary (1993), Art. 4 Rn. 24; Oraá, in: FS Brownlie (1999), S. 432. Zurückhaltender wohl HRC, General Comment No. 29 (2001), § 4, die der Sache nach ein striktes Erforderlichkeitskriterium („strictly required by the exigencies of the situation“) ausreichen lässt. 317 Friedensbedrohung ins Verhältnis zu setzen mit Art und Umfang der durch sie bewirkten Rechtsbeeinträchtigung. Maßgeblich ist dabei insbesondere die Bedeutung des beeinträchtigten Rechtsgutes für den Betroffenen sowie der Grad und die Dauer der Beeinträchtigung. So wird aufgrund der hohen Bedeutung dieser Rechtsgüter eine Beeinträchtigung des Lebens oder der körperlichen Integrität Einzelner selten, eine vorübergehende Beeinträchtigung seiner persönlichen Freiheit oder seiner Eigentumsrechte dagegen eher zulässig sein. e. Einschätzungsprärogative des Sicherheitsrates Insbesondere die Beantwortung der Fragen, ob eine Maßnahme geeignet und ob sie erforderlich ist, ist in hohem Maße situationsgebunden. Welche Wirkung eine Maßnahme haben wird, ob sie geboten ist und ob gleichwertige Alternativen zur Verfügung stehen, kann nur bei genauer Kenntnis der tatsächlichen und politischen Verhältnisse in einem Krisengebiet beurteilt werden. Gleiches gilt damit auch für die Beurteilung der Frage, ob die von ihr erwartete friedenssichernde Wirkung in einem angemessenen Verhältnis zu den erwarteten Beeinträchtigungen steht. Letztlich handelt es sich im Kern um Prognoseentscheidungen auf der Grundlage politischer Erfahrungen. Als Prognoseentscheidung kann ihre Rechtmäßigkeit daher nur anhand der ex ante bekannten Umstände beurteilt werden,1476 d.h. eine beeinträchtigende Maßnahme bleibt auch dann aufgrund des Vorrangs der Friedenssicherung zulässig, wenn sie sich erst ex post als wenig wirkungsvoll und daher unangemessen erweist. Aufgrund des politischen Charakters der Entscheidung besitzt der Sicherheitsrat ferner wie bei allen Entscheidungen unter Kapitel VII der Charta eine erhebliche Einschätzungsprärogative.1477 Art. 39, 1. Halbsatz SVN weist dem Sicherheitsrat eine Prärogative hinsichtlich der Einschätzung einer Situation als Friedensbedrohung zu.1478 Auch obliegt es allein ihm, nach Art. 39, 2. Halbsatz SVN zu entscheiden, 1476 So allgemein Krugmann, Verhältnismäßigkeit (2004), S. 47 f. 1477 In diese Richtung auch Krugmann, Verhältnismäßigkeit (2004), S. 104. 1478 Allgemein zur Einschätzungsprärogative unter Kapitel VII der Charta siehe oben 3.Kp. C. II. 318 welche Maßnahmen er zu ihrer Beseitung ergreift. Er ist in Fragen der Friedenssicherung der politische Entscheidungsträger der in der UN verfassten Staatengemeinschaft und soll zu diesem Zweck zügig und flexibel handeln können. Zudem vereinigt er aufgrund seiner Zusammensetzung wesentliche Teile des politischen Sachverstandes der Staatengemeinschaft. f. Zusammenfassung Eine Menschenrechte oder das Selbstbestimmungsrecht beeinträchtigende Maßnahme des Sicherheitsrates oder der von ihm eingesetzten Verwaltungsmission ist aufgrund des Vorrangs der Friedenssicherung im Einzelfall zulässig, wenn sie nicht gegen zwingendes Recht verstößt und sie zur Bekämpfung einer Friedensbedrohung geeignet und erforderlich ist. Ferner darf die mit der Maßnahme verbundene Beeinträchtigung geschützter Rechtsgüter nicht außer Verhältnis zu ihrer friedenssichernden Wirkung stehen. Maßstab ist dabei die Bedeutung des beeinträchtigten Rechts für den Betroffenen sowie Umfang und Dauer der Beeinträchtigung. Für die Beurteilung der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit ist die ex ante-Sicht maßgeblich, das heißt die im Zeitpunkt des Ergreifens der Maßnahme vorhanden Kenntnisse. Da es sich im Kern um eine Prognoseentscheidung auf der Grundlage einer politischen Einschätzung der Situation handelt, besitzt der Sicherheitsrat diesbezüglich wie bei allen Entscheidungen unter Kapitel VII der Charta eine weite Einschätzungsprärogative. 4. Tendenz: Vom Vorrang der Friedenssicherung zur vollen Rechtsbindung Doch wie wirkt sich diese abgestufte Rechtsbindung in der Praxis aus? Idealtypisch ist von einer zunehmenden Rechtsbindung des Sicherheitsrates im Verlauf einer Krisengebietsverwaltung auszugehen. Am Anfang einer Intervention des Sicherheitsrates wird regelmäßig die Beendigung der Kampfhandlungen und die militärische Befriedung des Gebietes stehen. In dieser Phase wird dem Sicherheitsrat eine umfassende Wahrung der Menschenrechte nur schwer möglich sein, will er die Kämpfe schnell und wirksam beenden. Außerdem wird die UN-Mission nur mit einem Rumpfpersonal vor Ort vertreten und noch weit davon entfernt sein, effektive Verwaltungsstrukturen aufgebaut zu haben, wie sie insbesondere zur Beachtung justizieller Menschenrechte erforderlich sind. Da mildere Mittel mangels Ressourcen 319 vor Ort nicht zur Verfügung stehen, wird es vergleichsweise häufig zu einem Zielkonflikt kommen, bei der sich der Vorrang der Friedenssicherung zu Lasten der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts durchsetzt. Dabei ist jedoch auch der Sicherheitsrat gehalten, die einschlägigen zwingenden Grundwerte der internationalen Gemeinschaft zu beachten. Solche ergeben sich in der Befriedungsphase insbesondere aus den Normen des humanitären Völkerrechts, soweit es gegenwärtig den Status zwingenden Rechts erlangt hat.1479 Doch auch die oben erarbeiteten Kriterien für die Annahme eines Vorrangs der Friedenssicherung im Einzelfall verhindern eine völlige rechtliche Handlungsfreiheit des Sicherheitsrates. Mit zunehmender Stabilisierung des Gebietes nimmt der Grad der Friedensbedrohung ab und es entstehen Entscheidungsspielräume. Immer seltener treten Situationen auf, in denen die Beachtung der Menschenrechte zu Lasten der Friedenssicherung gehen muss. Die Verwaltungsmission wird vollständig eingerichtet sein und es bestand ausreichend Gelegenheit, kompetentes Personal zu rekrutieren und in das Gebiet zu entsenden, so dass fehlende Ressourcen eine weit geringere Rolle spielen sollten, als zu Beginn einer UN-Zwangsverwaltung. Progressiv leben daher die Pflichten des Sicherheitsrates aus Art 1 Ziff. 2 und Ziff. 3 SVN wieder auf. Führt ein menschenrechtskonformes Verhalten nicht zu einer Vergrößerung oder Verlängerung der friedensbedrohenden Situation, sind der Sicherheitsrat und sein ausführendes Nebenorgan zu einem solchen Verhalten verpflichtet. Sind die Möglichkeiten vorhanden, die Menschenrechte der Bewohner zu beachten, wird ihre Beeinträchtigung regelmäßig nicht mehr zum Zwecke der Friedenssicherung erforderlich sein. Im Laufe ihrer Mission wird eine UNZwangsverwaltung daher rein faktisch in zunehmenden Maße zur Einhaltung der Menschenrechte und zur Beachtung des Selbstbestimmungsrechts verpflichtet sein. Allerdings beschreibt das nur eine idealtypische Tendenz. Im Einzelfall kann auch noch in einem stabilisierten Krisengebiet das Primat der Friedenssicherung zur Geltung kommen. 1479 Siehe dazu unten 4.Kp. E.I. m.w.N. 320 5. Zusammenfassung: Die progressive Rechtsbindung des Sicherheitsrates Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Sicherheitsrat aus Art. 24 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Ziff. 2 und Ziff. 3 SVN dazu verpflichtet ist, die Menschenrechte und das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu fördern. Zumindest wenn er – wie dies bei einer Gebietsverwaltung der Fall ist – unmittelbar für eine Bevölkerung verantwortlich ist, konkretisiert sich dieses allgemeine Förderungsgebot in eine Pflicht zur Beachtung und Gewährleistung dieser Rechte. Den Maßstab bilden im Falle des Selbstbestimmungsrechts die normkonkretisierenden Resolutionen der Generalversammlung, im Falle der Menschenrechte die unter der Ägide der Generalversammlung ausgearbeiteten menschenrechtlichen Verträge. Als autoritative Konkretisierungen der in Art. 1 Ziff. 2 und Ziff. 3 SVN niedergelegten Ziele sind sie für alle UN-Organe verbindlich.1480 Aus Art. 1 SVN geht indes ebenfalls hervor, dass das Ziel der Friedenssicherung im Konfliktfall Vorrang vor den übrigen Zielen der Vereinten Nationen, insbesondere den in Ziff. 2 und Ziff. 3 genannten haben soll. Daraus folgt, dass der Sicherheitsrat im konkreten Einzelfall Maßnahmen ergreifen darf, die Menschenrechte oder das Selbstbestimmungsrecht beeinträchtigen, wenn derartige Maßnahmen nach seiner Auffassung zur Bekämpfung und Beseitigung von Friedensbedrohungen unbedingt erforderlich und im Hinblick auf die beeinträchtigten Rechtspositionen auch verhältnismäßig sind. Diese bedingte Freistellung des Sicherheitsrates durch das Recht der Charta findet indes in jenen zwingenden Normen des Völkerrechts ihre Grenze, die den Kernbereich der gemeinsamen Werte der Völkergemeinschaft schützen. An dieses außerhalb der Verfügungsmacht der internationalen Akteure stehende ius cogens ist auch der Sicherheitsrat unter allen Umständen gebunden. Diese Bindung ergibt sich einerseits aus der Völkerrechtssubjektivität der Vereinten Nationen, deren Organ der Sicherheitsrat ist, andererseits aus der Tatsache, dass der Sicherheitsrat lediglich abgeleitete, keine originären Befugnisse ausübt. In diese Richtung auch UN-GS, Transitional Justice (2004), § 9: „[They] represent the universally applicable standards adopted under the auspices of the United Nations und must therfore serve as the normative basis for all United Nations activities (...).“ 1480 321 Angewendet auf die Verwaltung von Krisengebieten unter Kapitel VII der Charta ergibt sich aus diesem Koordinatensystem eine in der Grundtendenz progressive Rechtsbindung des Sicherheitsrates. Je mehr ein Krisengebiet durch eine UNVerwaltung stabilisiert wird, desto geringer wird die Friedensbedrohung, die von ihm ausgeht, und desto seltener werden die Fälle, in denen Friedenssicherung und die Wahrung der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts miteinander in Konflikt geraten. In dem Maße, wie die Friedensbedrohung zurückgeht, nimmt rein faktisch die Verpflichtung des Sicherheitsrates auf die übrigen Ziele der Vereinten Nationen zu. Dieses Ergebnis ist auch sachlich gerechtfertigt. Je mehr eine UN-Verwaltung in ihrem täglichen Betrieb einer normalen staatlichen Verwaltung gleicht, desto eher scheint es gerechtfertigt, sie in gleicher Weise an allgemeine völkerrechtliche Vorgaben zu binden. Im Einzelfall kann diese Bindung auch über das Niveau der Verpflichtungen des zuvor verantwortlichen Territorialstaates hinausgehen, da nicht alle Staaten alle UN-Menschenrechtsverträge ratifiziert haben. Indes kann der Sicherheitsrat, soweit er aus Art. 1 SVN zum Schutze der Menschenrechte verpflichtet ist, nicht hinter dem Schutzniveau zurückstehen, welches die Vereinten Nationen im Übrigen als für alle Staaten erstrebenswert ansehen.1481 1481 So speziell für UN-Missionen mit exekutiven oder judikativen Befugnissen UN-GS, Transitional Justice (2004), § 10. 322 E. Die Grenzen der Verwaltungsmacht in der Praxis Welche Konsequenzen sich aus den bislang abstrakt dargelegten Schranken der Verwaltungskompetenz des Sicherheitsrates ergeben, soll im Folgenden anhand ausgewählter Einzelfragen näher untersucht werden. Es handelt sich um Rechtsfragen, die entweder typisch für die Besonderheiten einer Krisengebietsverwaltung sind oder die sich in der Praxis als besonders problematisch erwiesen haben. Da die Arbeit einer UN-Gebietsverwaltung ratione materiae fast den gesamten Bereich staatlicher Tätigkeit umfasst, muss die Auswahl der im Folgenden behandelten Einzelprobleme notwendig eingeschränkt sein. Hinzu kommt, dass ein Großteil der von einer Gebietsverwaltung zu bewältigenden Probleme schwerpunktmäßig wirtschaftlicher oder sozialer Natur ist und nur am Rande rechtliche Fragen aufwirft. Doch auch die vertiefte und umfassende Behandlung der einzelnen Rechtsfragen würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. Die folgenden Ausführungen werden sich daher darauf beschränken, in die Probleme einzuführen und auf der Grundlage der in den vorangegangenen Abschnitten dieses Kapitels erarbeiteten abgestuften Rechtsbindung des Sicherheitsrates Lösungansätze aufzuzeigen. Aufgrund deutlicher inhaltlicher Parallelen wird dabei zunächst geprüft, inwiefern das Recht der kriegerischen Besetzung auf UN-Übergangsverwaltungen Anwendung findet und inwieweit seine vergleichsweise detaillierten Regelungen fruchtbar gemacht werden können (I). Als Beispiel für Menschenrechte, die zu ihrer Verwirklichung in besonderem Maße auf funktionierende staatliche Institutionen angewiesen sind, soll dann untersucht werden, welche Anforderungen die völkerrechtlich gewährleisteten justiziellen Rechten an den Wiederaufbau des Justizwesens des verwalteten Gebietes stellen (II). Das Verhältnis von Friedenssicherung und Menschenrechten soll ferner anhand einer rechtlichen Untersuchung der im Kosovo angeordneten Fälle von Exekutivhaft veranschaulicht werden (III). In die gleiche Richtung zielt die Frage, inwieweit eine UN-Verwaltung völkerrechtlich verpflichtet ist, dem Einzelnen Rechtsschutz gegen ihre eigenen Hoheitsakte zu gewähren (IV). Im Anschluss daran wird untersucht, welche Beschränkungen einer Gebietsverwaltung des Sicherheitsrates durch das Selbstbestimmungsrecht der Völker (V) und das Recht der Staaten auf Achtung ihrer 323 territorialen Integrität (VI) auferlegt werden. Nach einer kursorischen Behandlung weiterer Aspekte einer UN-Zwangsverwaltung (VII) bildet die Auswertung der durch die Einzeluntersuchung gewonnenen Erkenntnisse (VIII) den Schluss dieses Abschnitts. I. UN-Zwangsverwaltung und das Recht der kriegerischen Besetzung Da es die detailliertesten völkerrechtlichen Regelungen für die übergangsweise Verwaltung eines Gebietes enthält, soll zunächst geprüft werden, inwieweit das Recht der kriegerischen Besetzung auf eine Gebietsverwaltung unter Kapitel VII der Charta Anwendung findet. 1. Grundzüge des Rechts der kriegerischen Besetzung Niedergelegt ist das Recht der kriegerischen Besetzung im dritten Abschnitt der Haager Landkriegsordnung (HLKO)1482, in der 4. Genfer Konvention von 1949 (GK IV)1483 sowie im 1. Zusatzprotokoll der Genfer Konventionen von 1977 (GK-ZP I)1484. Es regelt als Teil des humanitären Völkerrechts die Rechte und Pflichten einer Besatzungsmacht sowohl gegenüber den Bewohnern eines besetzten Gebietes als auch gegenüber den Institutionen und dem öffentlichem Eigentum des betroffenen Territorialstaats.1485 Ausgangspunkt ist die Erwägung, dass die militärische Besetzung eines Gebietes lediglich ein vorübergehender Zustand ist, der eo ipso keinen Einfluss auf die 1482 Art. 42 bis 56 der Ordnung der Gesetze und Gebräuche des Landkriegs, Anlage zum Abkommen betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs vom 18. Oktober 1907, abgedr. in RGBl. 1910, 107 ff. 1483 Siehe insbes. Art. 27-34 u. 47-78 des IV. Genfer Abkommen zum Schutze von Zivilpersonen in Kriegszeiten vom 12. August 1949, abgedr. in U.N.T.S. 75 (1950), 287 ff.; dt. Fassung abgedr. in BGBl. 1954 II, 917 ff. (berichtigte Fassung in BGBl. 1956 II, 1586 ff.). 1484 Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12.8.1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll I) vom 8. Juni 1977, abgedr. in U.N.T.S. 1125 (1979), 3 ff., dt. Fassung abgedr. in BGBl. 1990 II, 1551 ff. 1485 Gasser, in: Fleck (Hrsg.), Humanitarian Law (1995), S. 241 (§ 4). Ausführlich zum Recht der kriegerischen Besetzung auch Benvenisti, Law of Occupation (1993); Green, Law of armed conflict (2000), S. 256-267; und David, Droit des conflits armés (2002), S. 497-531. 324 Souveränitätsrechte über das Gebiet hat.1486 Zu einer Statusänderung kann es vielmehr erst im Rahmen eines Friedensvertrages kommen, der indes den Grundsatz zu beachten hat, dass völkerrechtswidriger Gebietserwerb, insbesondere unter Verstoß gegen das Gewaltverbot, keinen rechtlichen Bestand hat.1487 Vor diesem Hintergrund verfolgt das Recht der kriegerischen Besetzung zwei Ziele: Einerseits dient es dem Schutz der Bevölkerung vis-à-vis der Besatzungsmacht, indem es beispielsweise Kollektivstrafen (Art. 50 HLKO) oder Zwangsumsiedlungen und Deportationen (Art. 49 GK IV) verbietet. Anderseits dient das Recht der kriegerischen Besetzung auch dem Schutz der staatlichen Souveränität, genauer: des durch die Besetzung vorübergehend an der Ausübung seiner Befugnisse gehinderten Souveränitätsträgers.1488 Um zu verhindern, dass es allein infolge der militärische Besetzung zu einem Souveränitätsübergang auf den Okkupanten kommt, enthält das Recht der kriegerischen Besetzung den Grundsatz der weitestmöglichen Aufrechterhaltung des territorialen und legislativen status quo innerhalb des Gebietes.1489 Weder die völkerrechtliche Zuordnung des Gebietes zu einem Souveränitätsträger, noch nach Möglichkeit die interne institutionelle und rechtliche Ordnung des Gebietes sollen von der Besatzungsmacht geändert werden. So hat die Besatzungsmacht nach Art. 43 HLKO die öffentliche Ordnung, „soweit kein zwingendes Hindernis besteht, unter Beachtung der Landesgesetze“ wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten. Nach Art. 64 Abs. 2 GK IV kann die Besetzungsmacht nur insoweit neue Bestimmungen erlassen, als dies zur Aufrechterhaltung einer ordnungsgemäßen Verwaltung, zur Umsetzung der Bestimmungen der GK IV oder zur Eigensicherung der Besatzungsmacht „unerlässlich“ ist.1490 Nach Art. 64 Abs. 1 Satz 2 GK IV bleiben die nationalen Strafgerichte des besetzten Gebietes grundsätzlich auch während der 1486 Green, Law of armed conflict (2000), S. 257. 1487 Gasser, in: Fleck (Hrsg.), Humanitarian Law (1995), Rn. 525. 1488 IGH, Legal consequences of the wall (Gutachten 2004), § 95; Vité, IRRC 86 (2004), 9 (14). 1489 Gasser, in: Fleck (Hrsg.), Humanitarian Law (1995), Rn. 530 u. 547 ff.; Kolb, Ius in bello (2003), Rn. 445-447; Vité, IRRC 86 (2004), 9 (14 f.). 1490 Ausführlicher zu dem insbesondere aus Art. 43 HLKO und Art. 64 GK IV folgenden Grundsatz der Kontinuität der Rechtsordnung Vité, IRRC 86 (2004), 9 (15-19). 325 Besetzung zuständig. Art. 54 GK IV untersagt es der Besatzungsmacht, die Rechtsstellung der Beamten und Gerichtspersonen des besetzten Gebietes zu ändern. Nach Art. 56 Abs. 1 Satz 1 GK IV ist die Besatzungsmacht verpflichtet, Krankenhäuser und andere medizinische Einrichtungen „im Benehmen mit den Landes- und Ortsbehörden“ weiterzuführen. Dieser Grundsatz der Kontinuität der Rechtsordnung und der Institutionen eines Gebietes steht in besonderem Maße im Widerspruch zu den umfassenden Mandaten, mit denen die UN-Verwaltungen im Kosovo und in Osttimor ausgestattet wurden.1491 Zwar setzten auch diese zunächst das zuvor anwendbare jugoslawische bzw. indonesische Strafgesetzbuch wieder in Kraft, allerdings nur soweit es mit menschenrechtlichen Bestimmungen vereinbar war.1492 Wesentliche Aufgabe dieser Territorialverwaltungen war aber eine umfassende Neugestaltung der institutionellen und rechtlichen Ordnung innerhalb des Gebietes, und damit gerade nicht die Erhaltung des status quo. Dem lässt sich nicht entgegenhalten, dass entsprechende Institutionen aufgrund des Abzugs des vorwiegend serbischen bzw. indonesischen Personals faktisch nicht mehr existierten, da sie zumindest theoretisch auch auf der Grundlage der bisherigen Ordnung hätten wieder aufgebaut werden können. Andererseits enthält das Recht der kriegerischen Besetzung eine Vielzahl von Detailregelungen, die auch für die Einrichtung einer Übergangsverwaltung von Bedeutung sein können.1493 Insbesondere das 4. Genfer Abkommen regelt so unterschiedliche Dinge wie die Ausübung der Strafjustiz (Art. 64-78 GK IV), die Tätigkeit von Hilfsorganisationen (Art. 59-63 GK IV) oder die Möglichkeit, Teile der Bevölkerung zu Arbeitsleistungen heranzuziehen (Art. 51 GK IV). Das Recht der kriegerischen Besetzung enthält damit wesentlich detailliertere Regelungen für die Ausübung einer Gebietsverwaltung als die bisherigen Ermächtigungsresolutionen des 1491 Vité, IRRC 86 (2004), 9 (24 f.). 1492 Siehe Sec. 3 UNMIK/REG/1999/1 vom 25.7.1999 (abgedr. als Annex zum Bericht des Generalsekretärs S/1999/987 vom 16.9.1999), ersetzt durch UNMIK/REG/1999/24 und UNMIK/REG/1999/25 vom 12.12.1999, für das Kosovo und Sec. 3 UNTAET/REG/1999/1 vom 27.11.1999, abgedr. als Annex zum Bericht des Generalsekretärs S/2000/53 Add.1 vom 8.2.2000. Zum Ganzen auch Sassòli, in: Henzelin/Roth (Hrsg.), Droit pénal (2002), S. 124-137, m.w.N. 1493 Sassòli, in: Henzelin/Roth (Hrsg.), Droit pénal (2002), S. 145. 326 Sicherheitsrates.1494 Damit gewinnt die Frage an Bedeutung, inwieweit das Recht der kriegerischen Besetzung ratione materiae (2.) und ratione personae (3.) auf eine Übergangsverwaltung von Krisengebieten auf der Grundlage von Kapitel VII der Charta Anwendung finden kann. 2. Anwendbarkeit ratione materiae Nach Art. 2 Abs. 2 GK IV findet das Recht der kriegerischen Besetzung in allen Fällen vollständiger oder teilweiser Besetzung eines Gebietes Anwendung, auch wenn diese selbst nicht auf bewaffneten Widerstand stößt. Besetzt ist ein Gebiet nach Art. 42 Abs. 1 HLKO, wenn es sich in der tatsächlichen Gewalt eines feindlichen Heeres befindet.1495 Daraus folgt auch, dass die Besetzung zumindest zunächst militärischer Natur sein muss1496 und nicht im Einvernehmen mit dem betroffenen Territorialstaat erfolgt sein darf.1497 Gegenstand des Rechts der kriegerischen Besetzung ist somit die vorübergehende Ausübung effektiver Gewalt durch einen Staat oder eine internationale Organisation über ein Gebiet ohne die Zustimmung des betroffenen Souveränitätsträgers, in der Regel also ohne Zustimmung des betroffenen Territorialstaats.1498 Zumindest prima facie scheint eine derartige Situation auch im Falle einer Zwangsverwaltung unter Kapitel VII der Charta regelmäßig gegeben zu sein. Denn auch hier übt mit dem Sicherheitsrat eine externe Macht unabhhängig von der Zustimmung des betroffenen Staates die tatsächliche Macht über ein Gebiet aus, 1494 Siehe insbes. S/RES/1244 (1999) vom 10.6.1999 und S/RES/1272 (1999) vom 25.10.1999. 1495 Ausführlich zum Begriff der Besetzung Roberts, BYIL 55 (1984), 249-305. Zu den Unterschieden zwischen dem Begriff der Besetzung in Art. 42 HLKO und Art. 2 Abs. 2 GK IV siehe Zwanenburg, Accountability (2004), S. 205 f. m.w.N. 1496 Vgl. Vité, IRRC 86 (2004), 9 (12): „(...) dans la mesure où elles sont le fruit d’un fait militaire.“ 1497 Roberts, BYIL 55 (1984), 249 (300); Levrat, IRRC 83 (2001), 77 (96); David, Droit des conflits armés (2002), S. 497 f.; Sassòli, in: Henzelin/Roth (Hrsg.), Droit pénal (2002), S. 143. 1498 Benvenisti, Law of Occupation (1993), S. 4; Cerone, EJIL 12 (2001), 469 (484). 327 ohne aber Souverän des betroffenen Territoriums zu werden.1499 Besonders augenfällig ist dies im Kosovo, wo die Bundesrepublik Jugoslawien zwar formal als Souverän anerkannt wird,1500 ihr aber keinerlei Einflussmöglichkeit innerhalb des Gebietes gewährt und sie somit faktisch völlig aus ihrer Rechtsposition verdrängt wird.1501 Auch der Umstand, dass sowohl der UN-Verwaltung des Kosovo1502 als auch der Osttimors1503 eine militärische Besetzung des Gebiets durch vom Sicherheitsrat autorisierte Truppenverbände voraussging, macht den engen Zusammenhang zum Regelungsbereich des humanitären Völkerrechts deutlich. In der Tat wird deshalb vereinzelt sogar das Recht der kriegerischen Besetzung als eigentliche Rechtsgrundlage der UN-Verwaltungen im Kosovo und in Osttimor gesehen.1504 Umgekehrt wird aber ebenso vertreten, dass das Recht der kriegerischen Besetzung allenfalls analog auf UN-Zwangsverwaltungen angewendet werden könnte, da es sich bei diesen nie um eine Besetzung im Sinne humanitären Völkerrechts handeln könne.1505 Ausgangspunkt dieser These ist die Erwägung, dass eine UNZwangsverwaltung nicht den Interessen eines Einzelstaates diene, sondern dem Interesse der Staatengemeinschaft insgesamt am Schutz der örtlichen Bevölkerung.1506 Damit fehle es aber an dem vom Besatzungsrecht vorausgesetzten 1499 Vité, IRRC 86 (2004), 9 (20). 1500 Siehe Präambel-§ 10 S/RES/1244 (1999) sowie ausf. oben 2.Kp.L. 1501 Tomuschat, in: FS Kooijmans (2002), S. 325, spricht hinsichtlich der jugoslawischen Souveränität über das Kosovo von einem „purely nominal title“. 1502 Zwar beruhen KFOR und UNMIK auf derselben Sicherheitsratsresolution, wurden mithin zeitgleich ins Leben gerufen. Dennoch ging zeitlich der Einmarsch der NATO-geführten Verbände der Einrichtung der Zivilverwaltung voraus (siehe z.B. § 17 des Berichts S/1999/779 vom 12.7.1999). Zudem bestand wenigstens in Form der vorangegangenen NATO-Luftschläge ein internationaler bewaffneter Konflikt i.S.d. Genfer Konventionen, wie Cerone, EJIL 12 (2001), 469 (481 f.), zu Recht feststellt. 1503 Gemeint ist die Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit in Osttimor durch die australisch geführte INTERFET, nachdem das Gebiet zuvor durch pro-indonesische Milizen weitgehend zerstört worden war. Siehe dazu ausführlich oben 2.Kp. M.I. 1504 Conforti, The Law and Practice of the United Nations (2000), S. 208 f. Siehe dazu bereits oben 3.Kp. C.I.2.a. 1505 In diese Richtung Vité, IRRC 86 (2004), 9 (inbes. 25-27). 1506 Vité, IRRC 86 (2004), 9 (25 f.). 328 Interessengegensatz zwischen Besatzern und Besetzten, so dass von einer einvernehmlichen Besetzung auszugehen sei, auf welche die Regeln des humanitären Völkerrechts mangels Vorliegen eines Konflikts nicht anwendbar sind.1507 Die Prämisse, dass die Interessen der internationalen Gemeinschaft und die der betroffenen Bevölkerung im Falle einer UN-Gebietsverwaltung unter Kapitel VII der Charta stets deckungsgleich sind, muss jedoch nicht immer zutreffen. Dabei geht es weniger um Aspekte des menschenrechtlichen Individualschutzes, als um politische Fragen. Die tatsächlichen politischen Aspirationen der betroffenen Bevölkerung sind nicht notwendig immer mit dem Ziel der internationalen Gemeinschaft vereinbar, den Weltfrieden im Sinne des Art. 39 SVN zu erhalten. Auch entsprechen die Interessen der Bevölkerung nicht unbedingt denen des durch die Besetzung verdrängten Territorialstaats, wie der Fall des Kosovo anschaulich zeigt. Vor diesem Hintergrund erscheint die Annahme, im Falle eine Gebietsverwaltung nach Kapitel VII der Charta seien die Interessen der internationalen Gemeinschaft als „Besatzer“ und die des betroffenen Territorialstaats und seiner Bevölkerung stets deckungsgleich, eher als rechtliche Fiktion. Zumindest aber müsste man eher auf die „wohlverstandenen“ als die tatsächlich zutage tretenden Interessen der Betroffenen abstellen. Eher noch ließe sich argumentieren, die Mitgliedstaaten hätten mit ihrem Beitritt zu den Vereinten Nationen abstrakt und ex ante ihre Einwilligung zu einer möglichen Besetzung erteilt, so dass eine solche unabhängig von den tatsächlichen Verhältnissen im Moment des Einmarschs immer als einvernehmlich einzustufen wäre. Dies würfe jedoch rechtliche Schwierigkeiten auf, wo – wie im Falle Jugoslawiens – der Mitgliedstatus des betroffenen Staates unklar ist1508 oder wo – wie im Fall Osttimors – die Betroffenen selbst mangels Staatsqualität ex ante keine 1507 Zur Unanwendbarkeit des Rechts der kriegerischen Besetzung auf einvernehmliche Gebietsbesetzungen siehe Belege oben in Fn. 1497. 1508 Siehe dazu beispielsweise Blum, AJIL 86 (1992), 830-833; Tomuschat, in: FS Kooijmans (2002), S. 333-336; sowie die Beiträge in Correspondent’s Agora: UN Membership of the Former Yugoslavia, AJIL 87 (1993), 240-251. 329 Gelegenheit hatten, sich zu äußern.1509 Auch würde es dem Effektivitätsprinzip des humanitären Völkerrechts nicht gerecht, dem zufolge es hinsichtlich seiner Anwendbarkeit allein auf die tatsächlichen Verhältnisse, nicht aber ihre rechtliche Einstufung durch die Beteiligten ankommt.1510 Auch der Umstand, dass eines der beiden Grundprinzipien des Rechts der kriegerischen Besetzung, der Grundsatz der Bewahrung des legislativen und institutionellen status quo des besetzten Gebietes, mit den umfassenden transformatorischen Zielen einer UN-Übergangsverwaltung nicht vereinbar ist, kann für sich allein nicht zur sachlichen Unanwendbarkeit des Besatzungsrechts führen.1511 Sinn und Zweck des Rechts der kriegerischen Besetzung ist es gerade, die Befugnisse des Okkupanten einzuschränken. Machte man seine Anwendbarkeit ratione materiae von seiner Vereinbarkeit mit den Interessen und Zielen eben jenes Okkupanten abhängig, verlöre es letztlich seine Rechtsqualität und würde auf den Status einer unverbindlichen Richtlinie zurückgestuft. Ratione materiae lässt sich mithin keine generelle Unanwendbarkeit des Rechts der kriegerischen Besetzung auf die Zwangsverwaltung von Krisengebieten durch den Sicherheitsrat begründen. Vielmehr ist in jedem Einzelfall zu prüfen, ob eine Besetzung im Sinne der Art. 43 HLKO und Art. 2 GK IV vorliegt und der sachliche Anwendungsbereich somit eröffnet ist. Entscheidend ist vor allem, inwieweit eine tatsächliche Zustimmung des betroffenen Souveränitätsträgers gegeben ist, wodurch die Anwendbarkeit des Rechts der kriegerischen Besetzung ausgeschlossen würde. 1509 In Osttimor konnte sich die Bevölkerung allerdings diesbezüglich im Rahmen des Referendums über eine künftige Autonomie des Gebietes innerhalb Indonesiens äußern. Das zwischen UN, Portugal und Indonesien geschlossene Tripartite-Agreement vom 5.5.1999 sah für den Fall der Ablehnung des Autonomievorschlags ausdrücklich vor, dass Osttimor für eine Übergangszeit durch die Vereinten Nationen verwaltet werden sollte, um es auf die Unabhängigkeit vorzubereiten (Art. 6 des Abkommens, abgedr. als A/53/951-S/1999/513, Annex I). Insofern lag in der Tat bestenfalls eine einvernehmliche Besetzung vor, auf die Besatzungsrecht keine Anwendung findet. Wie hier auch Kelly (u.a.), IRRC 83 (2001), 101 (113 f.) Ausführlich zur Entwicklung in Osttimor oben 2.Kp.M. 1510 Vité, IRRC 86 (2004), 9 (11); Roberts, ICLQ 54 (2005), 27 (47). So aber wohl Vité, IRRC 86 (2004), 9 (26 f.), die im Rahmen einer „solution autonome“ von einer Situation außerhalb des sachlichen und personellen Anwendungsbereichs des Rechts der kriegerischen Besetzung ausgeht. Zu der hier vertretenen Lösung einer auf Art. 1 Ziff. 1 SVN beruhenden Einschränkung des personellen Anwendungsbereichs siehe den folgenden Abschnitt 4.Kp. E.I.3. 1511 330 Im Falle der UNTAET ist aufgrund der Zustimmung aller Beteiligten im Rahmen des sog. Tripartite Agreement sowie dem daraufhin abgehaltenen Referendum von einer solchen Zustimmung auszugehen.1512 Dagegen erscheint die Annahme einer einvernehmlichen Besetzung im Falle der UNMIK aufgrund der rechtlich zweifelhaften Zustimmung Jugoslawiens eher problematisch.1513 Ergibt sich im Einzelfall aus den tatsächlichen Umständen, dass das Recht der kriegerischen Besetzung ratione materiae auf eine UN-Gebietsverwaltung anwendbar ist, kommt es entscheidend darauf an, ob sein Anwendungsbereich im Hinblick auf den Sicherheitsrat auch ratione personae eröffnet ist. 3. Anwendbarkeit ratione personae Eine unmittelbare, das heißt vertragsrechtliche Verpflichtung des Sicherheitsrates zur Beachtung der HLKO, der GK IV und des GK-ZP I besteht nicht, da die Vereinten Nationen nicht Vertragspartei dieser Abkommen sind.1514 Jedoch geben die genannten Abkommen in weiten Teilen Völkergewohnheitsrecht wieder oder haben mittlerweile zur Kristallisation entsprechenden Gewohnheitsrechts geführt.1515 Das gilt auch für wesentliche Vorschriften des GK ZP I.1516 Auch die Vereinten Nationen sind daher als Völkerrechtssubjekt grundsätzlich an dieses gewohnheitsrechtliche humanitäre Völkerrecht gebunden, soweit es mutatis mutandis auf sie anwendbar 1512 Siehe oben Fn. 1509 und ausführlich 2.Kp.M. Für eine Unanwendbarkeit des Rechts der kriegerischen Besetzung aufgrund einvernehmlicher Besetzung auch Sassòli, in: Henzelin/Roth (Hrsg.), Droit pénal (2002), S. 143. Ausführlicher zur Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts in Osttimor von der indonesischen Besetzung bis zu UNTAET Levrat, IRRC 83 (2001), 77-100. 1513 Cerone, EJIL 12 (2001), 469 (484); Vité, IRRC 86 (2004), 9 (23); ferner ausf. Milano, EJIL 14 (2003), 999 (insbes. 1007-1015). Von einer einvernehmlichen Besatzung geht dagegen Sassòli, in: Henzelin/Roth (Hrsg.), Droit pénal (2002), S. 143, aus. 1514 Greenwood, YBIHL 1 (1998), 3 (16); Zwanenburg, Accountability (2004), S. 217. 1515 IGH, Nicaragua (merits), ICJ-Rep. 1986, 14 (113 § 218); IGH, Nuclear Weapons (Gutachten), ICJ-Rep. 1996, 226 (257 § 79); IGH, Legal consequences of the wall (Gutachten 2004), § 89; Report of the UNSG pursuant to § 2 of S/RES/808 (1993), UN-Doc. S/25704 vom 2.5.1993, § 35; UN, Final Report of the Commission of Experts established pursuant to SC-Res. 780 (1992), UN-Doc. S/1994/674 vom 24.5.1994, Abschnitt II.C; Greenwood, YBIHL 1 (1998), 3 (16 f.); Kolb, Ius in bello (2003), Rn. 98. Ausführlich inbes. Meron, Customary Law (1989), S. 3-78. 1516 Meron, Customary Law (1989), S. 62-70 u. 74-78; Zwanenburg, Accountability (2004), S. 212 f., m.w.N. 331 ist.1517 Jedoch gilt dies nicht uneingeschränkt auch für den den Sicherheitsrat, sofern dieser wie im Falle einer Zwangsverwaltung auf der Grundlage von Kapitel VII der Charta tätig wird. Da ihn Art. 1 Ziff. 1 SVN dazu von der Beachtung des allgemeinen Völkerrechts freistellt, ist er nur insoweit zur Beachtung humanitären Völkerrechts verpflichtet, als dieses zwingenden Charakter besitzt.1518 Indes ist es Sinn und Zweck des humanitären Völkerrechts, einen Kernbestand an Rechten auch im Extremfall des bewaffneten Konflikts zu sichern,1519 so dass es in weiten Teilen „elementary considerations of humanity“1520, mithin Grundwerte der internationalen Gemeinschaft wiedergibt. Zumindest der Inhalt des allen vier Genfer Konventionen gemeinsamen Art. 3 hat daher zwingenden Charakter,1521 ebenso jene Normen, deren Missachtung auch für das verantwortliche Individuum nach geltendem Völkerstrafrecht1522 strafbar ist.1523 Zur Beachtung dieser Normen des 1517 Greenwood, YBIHL 1 (1998), 3 (16); Kolb, Ius in bello (2003), Rn . 183 u. 192. Ausführlich zur Bindung der Vereinten Nationen an das humanitäre Völkerrecht in jüngerer Zeit David, Droit des conflits armés (2002), S. 199-212; Kolb, Droit humanitaire et opérations des paix (2002); und Zwanenburg, Accountability (2004), S. 135-223 (insbes. S. 219). Zur älteren Literatur siehe die Nachweise bei Greenwood, YBIHL 1 (1998), 3 (3). 1518 Zu dieser auf zwingendes Recht beschränkten externen Bindung des Sicherheitsrates unter Kapitel VII der Charta siehe ausf. oben 4.Kp.B. Von einer grundsätzlichen Derogationsmöglichkeit des Sicherheitsrates unter Kapitel VII der Charta geht auch Zwanenburg, Accountability (2004), S. 162, aus. 1519 David, Droit des conflits armés (2002), S. 94. 1520 IGH, Corfu Channel Case (merits), ICJ-Rep. 1949, 4 (22); wiederholt in IGH, Nicaragua (merits), ICJ-Rep. 1986, 14 (114 § 218). Ausführlich zum zwingenden Gehalt des humanitären Völkerrechts Hannikainen, Peremptory Norms (1988), S. 595-715; und David, Droit des conflits armés (2002), S. 94-101. 1521 Nieto-Navia, in: FS Cassese (2003), S. 639. Dies andeutend IGH, Nicaragua (merits), ICJ-Rep. 1986, 14 (113 f. § 218); und ICTY, Prosecutor v. Delalić u.a. (Urteil vom 20.2.2001), § 143 f. Etwas zurückhaltender noch Hannikainen, Peremptory Norms (1988), S. 714: „a solid source of several peremptory norms in the law of internal armed conflicts.“ 1522 Hier sind insbesondere der materiellrechtliche Teil der Statute von ICTY, ICTR und IStGH heranzuziehen. Für die Strafbarkeit einer Übertretung nach Völkerstrafrecht als Indiz für den zwingenden Charakter eines Rechtssatzes auch Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht (1992), S. 306 f. ICTY, Prosecutor v. Kupreškić u.a. (Urteil vom 14.1.2000), § 520; Tomuschat, in: FS ArangioRuiz (2004), S. 1767; in diese Richtung auch HRC, General Comment No. 29 (2001), § 12. Für einen zwingenden Charakter der grundlegenden Normen des humanitären Völkerrechts ferner IGH, Nuclear Weapons (Gutachten), ICJ-Rep. 1996, 226 (257 § 79). Zu weitgehend David, Droit des conflits armés (2002), S. 100, der bis auf wenige Ausnahmen sämtliche Regeln des humanitären Völkerrechts dem ius cogens zurechnet. Siehe allgemein zum Völkerstrafrecht Kittichanaisaree, Int’l. Criminal Law (2001); und Werle, Völkerstrafrecht (2003). 1523 332 humanitären Völkerrechts sind daher auch der Sicherheitsrat und die von ihm mit der Gebietsverwaltung betrauten Nebenorgane unter allen Umständen verpflichtet. Dem lässt sich auch nicht entgegenhalten, dass der gemeinsame Art. 3 der Genfer Konventionen seinem Wortlaut nach auf nicht internationale Konflikte anwendbar ist, jeder Konflikt mit UN-Beteiligung aber per se internationalen Charakters ist.1524 Denn als absoluter Mindeststandard gelten die Vorgaben des Art. 3 für jede Art bewaffneten Konflikts, ob Bürgerkrieg oder multilaterale Intervention.1525 Doch auch die weitergehenden Bestimmungen des humanitären Völkerrechts sind insoweit für den Sicherheitsrat verbindlich, als sie dem Schutz des Individuums dienen und deshalb als menschenrechtliches Sonderregime für bewaffnete Konflikte gesehen werden können.1526 Zwar wurden die vertragsrechtlichen Grundlagen des humanitären Völkerrechts nicht unter der Ägide der Generalversammlung oder des ECOSOC ausgearbeitet, so dass sie keine autoritative Konkretisierung der menschenrechtlichen Bestimmungen der Charta darstellen.1527 Soweit sie aber gewohnheitsrechtlich Geltung erlangt haben, geben sie den international anerkannten Umfang der Menschenrechte im Konfliktfall wieder. Als solcher stellen sie eine auch für die Vereinten Nationen beachtliche Konkretisierung ihres in Art. 1 Ziff. 3 SVN niedergelegten Ziels der Förderung der Menschenrechte dar.1528 Soweit sie allerdings nicht zwingenden Charakters sind, kann der Sicherheitsrat unter Kapitel VII SVN 1524 Kolb, Ius in bello (2003), Rn. 183. Etwas anderes gilt nur insoweit, als die UN-Einheiten oder die von der UN mandatierten Einheiten der Mitgliedstaaten nicht an den Kampfhandlungen beteiligt sind. Siehe dazu David, Droit des conflits armés (2002), S. 160. IGH, Nicaragua (merits), ICJ-Rep. 1986, 14 (114 § 218); ICTY, Tadič-Fall (Entscheidung v. 2.10.1995), abgedr. in: ILM 35 (1996), 32 (64 § 102); ICTY, Prosecutor v. Delalić u.a. (Urteil vom 20.2.2001), §§ 140-150; Kolb, Droit humanitaire et opérations des paix (2002), S. 71; Nieto-Navia, in: FS Cassese (2003), S. 637 f. 1525 1526 In diese Richtung IGH, Nuclear Weapons (Gutachten), ICJ-Rep. 1996, 226 (240 § 25); Tomuschat, Human Rights (2003), S. 242.; und ausf. Meron, AJIL 94 (2000), 239 (266-73). 1527 Zu der auf diese Weise begründeten internen Bindung des Sicherheitsrates an die Menschenrechtspakte siehe ausf. oben 4.Kp. A.V.1. So befasst sich die Generalversammlung seit langem unter dem Stichwort „Menschenrechte im bewaffneten Konflikt“ umfassend mit dem humanitären Völkerrecht. Siehe dazu Starck, Wirtschaftssanktionen (2000), S. 156-161 m.w.N. (insbes. S. 159 f.). Für das humanitäre Völkerrecht als Teil der Menschenrechte i.S.d. Art. 1 Ziff. 3 SVN auch Zwanenburg, Accountability (2004), S. 158. 1528 333 von ihnen abweichen, wenn dies im Einzelfall zur effektiven Bekämpfung von Friedensbedrohungen erforderlich sein sollte.1529 Eine solche Verpflichtung zur Beachtung des humanitären Völkerrechts haben die Vereinten Nationen mittlerweile auch ausdrücklich anerkannt.1530 In seinem Bulletin vom 6.8.1999 ordnete der Generalsekretär an, dass alle Truppen unter dem Kommando der Vereinten Nationen die grundlegenden Prinzipien und Regeln des humanitären Völkerrechts, wie sie im Anschluss im Bulletin aufgeführt werden, zu beachten hätten.1531 Der Sicherheitsrat ist daher auch bei Maßnahmen nach Kapitel VII der Charta in abgestufter Form an individualschützendes humanitäres Völkerrecht gebunden, soweit es der Sache nach auf ihn anwendbar ist. Jene Normen, die den Status von ius cogens erreicht haben, hat er unter allen Umständen zu beachten. An die übrigen Bestandteile des humanitären Völkerrechts ist er aus Art. 24 Abs. 2 Satz 1, Art. 1 Ziff. 3 SVN insoweit gebunden, als sie als „Menschenrechte im Kriegsfall“ anzusehen sind und ihre Beachtung nicht im Einzelfall dem Vorrang der Friedenssicherung widerspricht. Die bisherigen Ausführungen begründen indes eine abgestufte Bindung des Sicherheitsrates nur an jenen Teil des Besatzungsrechts, der dem Schutz der betroffenen Bevölkerung dient, nicht dagegen an jenen wesentlichen Teil, der primär die Interessen des vorübergehend verdrängten Souveräns schützen soll. Denn die diesbezüglichen Normen besitzen weder den Status zwingenden Rechts,1532 noch können sie als Konkretisierungen des Art. 1 Ziff. 3 SVN verstanden werden. Dagegen ist die staatliche Souveränität unter Kapitel VII der Charta nicht zuletzt 1529 Zu den Kriterien für die Annahme eines auf Art. 1 SVN beruhenden Vorrangs der Friedenssicherung im Einzelfall siehe oben 4.Kp. D.III.3. 1530 Zur früheren Argumentation der UN gegen ihre Bindung an humanitäres Völkerrecht siehe Kolb, Ius in bello (2003), Rn. 191 f. Secretary-General’s Bulletin on the observance by United Nations forces of international humanitarian law vom 6.8.1999, abgedr. als UN-Doc. ST/SGB/1999/13 und in IRRC 81 (1999), 806-817 (im Folgenden: Bulletin). Siehe ausf. dazu Ryniker, IRRC 81 (1999), 795-805; Benvenuti, RGDIP 105 (2001), 355-372; und Condorelli, in: FS Abi-Saab (2001). 1531 1532 Scheffer, AJIL 97 (2003), 842 (852); zurückhaltender Zwanenburg, IRRC 86 (2004), 745 (762). 334 wegen der expliziten Ausnahme des Art. 2 Ziff. 7 SVN kaum geschützt.1533 So enthält denn auch das Bulletin des Generalsekretärs1534 lediglich Vorgaben für die Behandlung der Zivilbevölkerung, aber keine hinsichtlich des Umgangs mit den Institutionen und Einrichtungen des betroffenen Territorialstaates. Es deckt somit bestenfalls einen Teil des Besatzungsrechts ab.1535 Auch eine mittelbare Bindung des Sicherheitsrates an den souveränitätsschützenden Teil des Rechts der kriegerischen Besetzung lässt sich nicht begründen. Zwar sind Truppen der Mitgliedstaaten auch dann an humanitäres Völkerrecht und damit an das Besatzungsrecht gebunden, wenn sie mit einem Mandat des Sicherheitsrates tätig werden.1536 Dies setzt jedoch voraus, dass sie – wie etwa im Falle der KFOR im Kosovo – weiter unter dem Kommando der Mitgliedstaaten oder einer an humanitäres Völkerrecht gebundenen internationalen Organisation stehen.1537 Unterstehen sie aber – wie die militärische Komponente der UNTAET – dem Sicherheitsrat oder einem von ihm geschaffenen Nebenorgan, spielen die völkerrechtlichen Verpflichtungen ihrer Heimatstaaten keine Rolle.1538 Dies gilt erst Recht für die UN-Mitarbeiter, welche die eigentliche Gebietsverwaltung bilden. Selbst wenn sie von einzelnen Mitgliedstaaten entsandt wurden, sind sie derartig in die Struktur der Vereinten Nationen integriert, dass ihr Verhalten nicht mehr den 1533 Siehe dazu bereits oben 4.Kp. A.II.1.c. Ablehnend aufgrund der in Art. 1 der Genfer Konventionen festgelegten Verpflichtung, die Abkommen „unter allen Umständen einzuhalten“, Greenwood, YBIHL 1 (1998), 3 (18). 1534 Siehe oben Fn. 1531. 1535 So auch Vité, IRRC 86 (2004), 9 (22). 1536 Greenwood, YBIHL 1 (1998), 3 (17); Kolb, Ius in bello (2003), Rn. 183. Das gilt jedoch nur insoweit, als das Mandat des Sicherheitsrat es ihnen nicht eine Abweichung vom Recht der kriegerischen Besetzung erlaubt. Siehe dazu bereits oben 3.Kp. D.IV.4 zur Verwaltung des Irak durch die US-geführte CPA. 1537 Zur Bindung der NATO an humanitäres Völkerrecht siehe ausf. Zwanenburg, Accountability (2004), S. 135-223. Zur eingeschränkten Kommandogewalt der NATO über die verschiedenen nationalen Einheiten der KFOR unter „unified control and command“ siehe CoE-Venice Commission, Human Rights in Kosovo (2004), § 14. 1538 Etwas anderes gilt nur für jene völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, die den Status von ius cogens besitzen. Siehe ausführlich zu dieser mittelbaren Bindung des Sicherheitsrates an die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten oben 4.Kp.C. Gegen eine Verantwortlichkeit der UN für Truppen, die zwar mit einem Mandat des Sicherheitsrates tätig werden, aber weiter dem Kommando der Mitgliedstaaten unterstehen, auch CoE-Venice Commission, Human Rights in Kosovo (2004), § 79. 335 einzelnen Mitgliedstaaten zugerechnet werden kann und daher auch nicht mehr an deren völkerrechtlichen Verpflichtungen gemessen werden kann.1539 4. Ergebnis Als Ergebnis ist festzuhalten, dass der Sicherheitsrat unter Kapitel VII der Charta nur an jene sachlich anwendbaren Normen des Rechts der kriegerischen Besetzung gebunden ist, die zwingenden Charakters sind.1540 Sofern dem nicht im Einzelfall der Vorrang der Friedenssicherung entgegensteht, ist er ferner gehalten, jene gewohnheitsrechtlich verbürgten Normen des Besatzungsrechts zu achten, die primär den Schutz des Individuums bezwecken. Sie sind als menschenrechtliches Sonderregime zu qualifizieren und – weil allgemein anerkannt, wofür ihr gewohnheitsrechtlicher Status Indiz ist – als Konkretisierung des in Art. 1 Ziff. 3 SVN niedergelegten Ziels der Förderung der Menschenrechte. Von besonderer praktischer Bedeutung sind dabei neben den Normen, welche die körperliche Integrität schützen, auch jene, die gewisse Mindestanforderungen an Haftbedingungen und das gerichtlichen Verfahren stellen.1541 Dagegen ist der Sicherheitsrat unter Kapitel VII der Charta nicht verpflichtet, jene Teile des Rechts der kriegerischen Besetzung zu beachten, die primär dem Schutz der Souveränität des betroffenen Staates dienen.1542 Das schließt jedoch nicht aus, Teile oder auch den gesamten Regelkatalog des Rechts der kriegerischen Besetzung innerhalb eines von der UN unter Kapitel VII der Charta verwalteten Gebietes für anwendbar zu erklären. So könnte insbesondere in der Anfangszeit ein detailliertes Regelwerk quasi als Notgesetz in Kraft gesetzt und so die gerade zu Rechtsunsicherheit Beginn reduziert einer internationalen werden. Als Verwaltung Regelwerk für herrschende eine externe 1539 Insofern unterscheiden sich einzeln entsandte Beamte wiederum von nationalen Militäreinheiten unter UN-Kommando, da letztere den Vereinten Nationen en bloc, also unter Aufrechterhaltung der einheitsinternen nationalen Führungsstrukturen (Kompanie, Bataillon, Regiment etc.) zur Verfügung gestellt werden. 1540 So i.E. auch Zwanenburg, IRRC 86 (2004), 745 (763). 1541 Zu Letzterem siehe auch den folgenden Abschnitt 4.Kp. E.II.3. 1542 So i.E. auch Greenwood, YBIHL 1 (1998), 3 (28). 336 Gebietsverwaltung ist es international anerkannt und böte zudem den Vorteil, dass zumindest die Militärjuristen der Mitgliedstaaten mit seinen Regeln vertraut sein dürften.1543 Mit der Zeit könnte es dann durch von der Verwaltung erarbeitete, sachlich geeignetere Rechtsvorschriften abgelöst werden.1544 Zu einem solchen Schritt hat sich der Sicherheitsrat aber bislang nicht entschlossen. II. Völkerrechtliche Anforderungen an den Wiederaufbau des Justizwesens Der Aufbau eines effektiven und unabhängigen Justizwesens ist regelmäßig eine der schwierigsten und zugleich dringendsten Aufgaben einer Übergangsverwaltung.1545 Als wesentliches Element des staatlichen Gewaltmonopols ist eine funktionierende Justiz notwendige Voraussetzung für die Wiederherstellung der staatlichen Ordnung und damit für die kurz- wie langfristige Befriedung eines Krisengebietes. Der Justizaufbau ist damit wichtiges Instrument zur Beseitigung der von einem Gebiet ausgehenden Friedensbedrohungen.1546 Eine unabhängige Justiz und ein geregeltes Verfahren sind ferner auch Voraussetzung für einen effektiven Schutz der Menschenrechte. Sie unterliegen daher ihrerseits verschiedenen menschenrechtlichen Vorgaben, die grundsätzlich auch für den Sicherheitsrat beachtlich sind.1547 Solche ergeben sich insbesondere aus 1543 Sassòli, in: Henzelin/Roth (Hrsg.), Droit pénal (2002), S. 146. So wandte die australisch geführte INTERFET in Osttimor das Recht der kriegerischen Besetzung als ein „framework of guiding principles“ an. Siehe dazu Kelly (u.a.), IRRC 83 (2001), 101 (115). 1544 Für eine solche Anwendung des humanitären Völkerrechts in der Anfangsphase einer UNZwangsverwaltung insbesondere Vité, IRRC 86 (2004), 9 (30). Für eine analoge Anwendung zur Beseitigung von Regelungslücken auch Sassòli, in: Henzelin/Roth (Hrsg.), Droit pénal (2002), S. 143. 1545 Strohmeyer, AJIL 95 (2001), 46 (47). 1546 So führte der UN-Generalsekretär in seinem Bericht zur rule of law in Konfliktsituationen aus: „Our experience in the past decade has demonstrated clearly that the consolidation of peace in the immediate post-conflict period, as well as the maintenance of peace in the long term, cannot be achieved unless the population is confident that redress for grievances can be obtained through legitimate structures for the peaceful settlements of disputes and the fair administration of justice” (UNGS, Transitional Justice (2004), § 2). Wie hier auch Brand, Nordic JIL 70 (2001), 461 (480). So führte der UN-Generalsekretär in seinem Bericht zum Entwurf des ICTY-Statuts aus: „It is axiomatic that the International Tribunal must fully respect internationally recognized standards regarding the rights of the accused at all stages of its proceedings“ (S/25704 vom 3.5.1993, § 106). Was für das Jugoslawientribunal gilt, sollte mutatis mutandis auch für andere vom Sicherheitsrat eingerichtete Gerichte gelten. 1547 337 Art. 8, 10 und 11 AEMR und Art. 9, 14 und 15 IPbürgR, welche die menschenrechtlichen Verpflichtungen des Sicherheitsrates aus Art. 24 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Ziff. 3 SVN autoritativ konkretisieren.1548 Im Rahmen des Wiederaufbaus des Justizwesens spielen auch die Fragen eine Rolle, inwiefern Unrecht aus der Zeit vor der Einrichtung der UN-Verwaltung strafrechtlich aufzuarbeiten ist und inwiefern Hoheitsakte der UN-Verwaltungsmission selbst einer unabhängigen gerichtlichen Prüfung unterliegen sollten.1549 Doch zunächst soll kurz auf die praktischen Schwierigkeiten beim Wiederaufbau des Justizsystems und der Wiedererrichtung der Rechtsstaatlichkeit1550 eingangen werden. 1. Praktische Schwierigkeiten und Anforderungen der Friedenssicherung Der Aufbau eines effektiven, unabhängigen und den menschenrechtlichen Anforderungen gerecht werdenden Justizwesens ist in der Praxis regelmäßig äußerst schwierig.1551 Als wesentlicher Teil des staatlichen Machtapparates wird das Gerichtssystem regelmäßig das Schicksal des politischen Systems teilen, das – aus welchen Gründen auch immer – durch die UN-Verwaltung übergangsweise ersetzt wurde. Der Zusammenbruch eines Staatswesens erfasst wie in Somalia immer auch sein Justizwesen. Sowohl im Kosovo wie in Osttimor wurden Gerichte und Justizverwaltung von den früheren Machthabern dominiert, so dass die Justiz bei deren Abzug personell gleichsam aufhörte zu existieren.1552 Hinzu kommt, dass das gesamte Rechtswesen eines Krisengebietes regelmäßig von jahrelanger Misswirtschaft und seinem Missbrauch als Instrument zur Unterdrückung der Bevölkerung gekennzeichnet sein wird.1553 Vor diesem Hintergrund lässt sich ein nationales Gerichtssystem nicht über Nacht etablieren. Die materiellen Defizite wie 1548 Siehe dazu bereits oben 4.Kp. A.V.1. 1549 Siehe dazu unten 4.Kp. E.IV und E.VII.3. Der Begriff „Rechtsstaatlichkeit“ bzw. „Rechtsstaatsprinzip“ wird vorliegend als Übersetzung des englischen Begriffs der rule of law verwendet, da er diesem nach dessen Definition in UN-GS, Transitional Justice (2004), § 6, weitgehend entspricht. 1550 1551 Siehe zu den auf den bisherigen Erfahrungen basierenden Strategien der Vereinten Nationen ausführlich UN-GS, Transitional Justice (2004). 1552 Strohmeyer, AJIL 95 (2001), 46 (48-51). 1553 UN-GS, Transitional Justice (2004), § 27. 338 zerstörte Gerichtsgebäude oder fehlende Arbeitsmaterialien lassen sich dabei noch am ehesten beheben. Dagegen braucht die Ausbildung nationaler Richter und Staatsanwälte ebenso wie die Wiederherstellung des Vertrauens der Bevölkerung in „ihre“ Justiz unter Umständen trotz des Einsatzes internationaler Richter und Staatsanwälte Jahre. Hinzu kommt ein latentes Spannungsverhältnis zwischen Erfordernissen der Friedenssicherung und den menschenrechtlichen Gewährleistungen im Bereich der Justiz. Anders als die meisten Menschenrechte verlangen Justizgrundrechte vom Verpflichteten nicht, dass er ein bestimmtes Verhalten unterlässt, sondern vielmehr, dass er umfangreiche Maßnahmen ergreift, um sie zu verwirklichen. 1554 Dazu gehört insbesondere die Errichtung und den Unterhalt eines unabhängigen und unparteiischen Gerichtswesens im Rahmen eines entwickelten Rechtssystems.1555 Gerade daran wird es indes im Falle einer UN-Zwangsverwaltung regelmäßig mangeln. Insbesondere in der Anfangszeit einer UN-Verwaltung wird eine vollumfängliche Gewährleistung justizieller Menschenrechte daher kaum möglich sein. Dieses Problem lässt sich indes möglicherweise unter Rückgriff auf Notstandsgesichtspunkte und eine entsprechende Auslegung der einzelnen Bestimmungen lösen.1556 Ein weiteres Problem ist die Beteiligung lokaler Kräfte im Justizwesen. Sie ist zum Zwecke der Friedenssicherung aus zwei Aspekten erforderlich. So wird es den Vereinten Nationen auch bei bester Vorbereitung kaum gelingen, genug geeignete Kandidaten zu finden, um alle Richter-, Anwalts- und Staatsanwaltsstellen mit internationalen Juristen zu besetzen. Dies ist auch gar nicht wünschenswert, da internationales Personal nicht nur hinsichtlicher seiner Gehälter deutlich teurer als lokale Kräfte ist, sondern überdies regelmäßig umfangreiche Übersetzerdienste notwendig werden lässt. Ein verstärkter Einsatz lokaler Juristen ist somit deutlich effektiver als eine weitgehende Internationalisierung der Rechtsprechung. 1554 Nowak, CCPR Commentary (1993), Art. 14 Rn. 3. 1555 Nowak, CCPR Commentary (1993), Art. 14 Rn. 3. 1556 Siehe dazu unten 4.Kp. E.II. 339 Ein früher und umfassender Einsatz nationaler Richter und Staatsanwälte ist aber auch erforderlich, um ein nachhaltig stabiles und von der Bevölkerung anerkanntes Gerichtswesen zu schaffen. Die Ernennung nationaler Richter und Staatsanwälte ist ein entscheidendes politisches Symbol, das die eigenverantwortliche Beteiligung der Bevölkerung am staatlichen Wiederaufbau signalisiert.1557 Nur die Wahrnehmung der Justiz als Organ der eigenen Staatlichkeit, nicht als externe Macht, sichert die Verankerung des Rechtsstaatsprinzips (rule of law) in der Bevölkerung. Auch der Umstand, dass die internationale Unterstützung für ein Krisengebiet mit der Zeit stark nachlässt, lässt es geboten erscheinen, die Abhängigkeit von teuren externen Richtern und Staatsanwälten frühzeitig zu reduzieren.1558 Allerdings geht der aus dem Gesichtspunkt einer effektiven und langfristigen Friedenssicherung gebotene frühzeitige Einsatz lokaler Kräfte einher mit einer oft sehr geringen Qualifikation der frisch ernannten Richterschaft. Im Kosovo war das Justizwesen sei 1990 weitgehend serbifiziert worden, nur noch 30 von insgesamt 756 Richtern und Staatsanwälten im Kosovo waren Albaner.1559 Die wenigen im Sommer 1999 noch verbliebenen serbischen Justizangehörigen wurden bald darauf mit Todesdrohungen außer Landes getrieben.1560 Kosovo-Albaner durften nach 1990 wenn überhaupt nur als private Rechtsanwälte tätig sein, besaßen also wenig praktische Erfahrung als Richter oder Staatsanwalt. Schlimmer noch war die Situation in Osttimor, wo es nach Schätzungen nach Abzug aller Indonesier aus dem Gebiet weniger als zehn Juristen gab,1561 die keinerlei praktische Erfahrung im Bereich der Justiz hatten.1562 Kaum Erfahrung besaßen die kosovarischen und osttimoresischen Juristen zunächst auch mit der von ihnen verlangten Anwendung der international anerkannten Menschenrechtsstandards. Im Kosovo und in Osttimor 1557 Chesterman, You, The People (2004), S. 170 f. (zu Osttimor). 1558 Chesterman, You, The People (2004), S. 171. 1559 Siehe § 66 des Berichts des Generalsekretärs S/1999/779 vom 12.7.1999, ferner Strohmeyer, AJIL 95 (2001), 46 (50). 1560 Strohmeyer, AJIL 95 (2001), 46 (50 u. 52). 1561 Chesterman, You, The People (2004), S. 169. 1562 Strohmeyer, AJIL 95 (2001), 46 (54). 340 wurden diese Defizite durch entsprechende Kurse und Lehrgänge angegangen, die jedoch erst nach einiger Zeit wirkten und aufgrund fehlender Ressourcen auch nicht immer im erforderlichen Umfang möglich waren.1563 Richterliche Unabhängigkeit war zudem im sozialistischen Jugoslawien keine staatlicherseits geförderte Tugend, sondern musste als solche erst eingeführt werden. Zumindest kosovarische Richter waren daher weit eher geneigt, Druck von außen nachzugeben.1564 Die frühe Ernennung lokaler Juristen führt somit regelmäßig zu erheblichen Unsicherheiten in der Rechtsanwendung und erschwert so die Gewährleistung der justiziellen Menschenrechte weiter. Nach den praktischen Erfahrungen der Vereinten Nationen in den letzten zehn Jahren sind diese Erschwernisse jedoch hinzunehmen. In seinem Bericht zur Rule of law and transitional justice in conflict and post-conflict societies betont der UN-Generalsekretär die Notwendigkeit, bei der Wiederaufrichtung der Rechtsstaatlichkeit nationalen Lösungen, die vorwiegend von nationalen Akteuren ausgearbeitet und umgesetzt werden, den Vorrang zu geben.1565 Dagegen wird der schwerpunktmäßige Rückgriff auf internationale Experten und international entwickelte rechtliche Lösungen als Fehler eingestuft.1566 Auch wenn sich diese Bewertung auf multidimensionale UN-Unterstützungmissionen1567 allgemein bezieht, beruht sie wesentlich auf Erfahrungen, welche die UN im Kosovo und in Osttimor gemacht hat, und ist daher auch im vorliegenden Kontext beachtlich. 2. Anforderungen an das Recht Völkerrechtliche Anforderungen an das innerhalb des Gebietes geltende Recht ergeben sich insbesondere aus dem strafrechtlichen nulla poena sine lege-Grundsatz. Nach Art. 11 Abs. 2 AEMR und dem gleich lautenden Art. 15 Abs. 1 Satz 1 IPbürgR darf niemand wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur 1563 Zu den entsprechenden Maßnahmen im Kosovo und in Osttimor siehe Strohmeyer, AJIL 95 (2001), 46 (55-57). Interviews des Autors mit UNMIK-Mitarbeitern im Juli 2002. Siehe ferner Hartmann, Int’l. Judges (2003), S. 5. 1564 1565 UN-GS, Transitional Justice (2004), § 15. 1566 UN-GS, Transitional Justice (2004), § 15. 1567 Zu diesen multidimensionalen Unterstützungsmission in jüngerer Zeit siehe oben 2.Kp.N und O. 341 Zeit ihrer Begehung nach inländischem oder nach internationalem Recht nicht strafbar war.1568 Das Recht der kriegerischen Besetzung weist ebenfalls in Art. 65 Satz 2 und Art. 67 Satz 1 GK IV ein strafrechtliches Rückwirkungsverbot auf. Auch andere Menschenrechtsverträge und andere Normen des humanitären Völkerrechts enthalten den nulla poena-Grundsatz.1569 Für den Sicherheitsrat ist er als Konkretisierung seiner menschenrechtlichen Verpflichtungen aus Art. 24 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Ziff. 3 SVN verbindlich.1570 Umstände, die es nach den oben festgestellten Kriterien1571 im Einzelfall erforderlich erscheinen lassen könnten, aus Gründen der Friedenssicherung vom strafrechtlichen Rückwirkungsverbot abzuweichen, sind schwer vorstellbar. Hinsichtlich der für den Weltfrieden im Sinne des Art. 39 SVN relevanten Straftatbestände lassen sich mögliche Strafbarkeitslücken in der Regel durch den nach Art. 11 Abs. 2 Satz 1 AEMR und Art. 15 Abs. 2 IPbürgR zulässigen Rückgriff auf vertragliches und gewohnheitsrechtliches Völkerstrafrecht schließen. Dass Art. 4 Abs. 2 IPbürgR das strafrechtliche Rückwirkungsverbot zu den unabdingbaren Rechten zählt, dürfte in der Praxis einer Krisengebietsverwaltung nicht zu unüberwindbaren Schwierigkeiten führen.1572 Praktische Schwierigkeiten bei der Umsetzung können sich jedoch dann ergeben, wenn man den nulla poena-Grundsatz nicht nur als Rückwirkungsverbot, sondern darüber hinaus auch als strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz auslegt.1573 Gerade Art. 15 Abs. 1 Satz 1 IPbürgR lautet im englischen Original: „No one shall be held guilty of any criminal offence on account of any act or omission which did not constitute a criminal offence, under national or international law, at the time when it was committed.” 1568 1569 So Art. 7 EMRK, Art. 9 AMRK, Art. 7 Ziff. 2 AfrCHPR; ferner Art. 99 Abs. 1 GK III, Art. 75 Abs. 4 lit. c) GK-ZP I und Art. 6 Abs. 2 lit. c) GK-ZP II. 1570 Die Geltung des nulla poena-Grundsatzes auch für das vom Sicherheitsrat auf der Grundlage von Kapitel VII der Charta geschaffene Jugoslawien-Tribunal (ICTY) hat auch der UN-Generalsekretär in § 34 seines Berichts S/25704 vom 3.5.1993 zur Gründung des ICTY anerkannt. 1571 Siehe oben 4.Kp. D.III.3. 1572 Auch in der Praxis des UN-Menschenrechtsausschusses hat das Rückwirkungsverbot und seine Notstandsfestigkeit bislang keine große Rolle gespielt. Siehe dazu den Überblick bei SvenssonMcCarthy, States of Exception (1998), S. 431-433. 1573 So Nowak, CCPR Commentary (1993), Art. 15 Rn. 4, unter Berufung auf die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 7 EMRK. 342 in Krisengebieten wird das geltende nationale Strafrecht selten in einem „geordneten“ Zustand sein, sondern vielmehr von Notstandsgesetzen und Ausnahmeverordnungen geprägt sein.1574 Sofern es – wie im Kosovo und im indonesischen Osttimor – auch der Unterdrückung der Bevölkerung oder eines Teils der Bevölkerung diente, wird es regelmäßig diskriminierende und menschenrechtswidrige Normen enthalten.1575 Aus diesem Grund wurde das zuvor geltende Recht inklusive des Strafrechts von UNMIK und UNTAET jeweils nur insoweit wieder in Kraft gesetzt, als es mit international anerkannten Menschenrechtsstandards kompatibel und nicht diskriminierend war.1576 Jedoch wurde zunächst nicht näher dargelegt, welche Rechtsnormen diesen Vorausetzungen genügten und welche nicht. Dies wurde dem Rechtsanwender, insbesondere dem Richter überlassen. Speziell die nationalen Richter verfügten zu Beginn ihrer Tätigkeit oft nicht über die notwendigen menschenrechtlichen Kenntnisse, um eine solche Kompabilitätsprüfung vornehmen zu können.1577 Für das betroffene Individuum war so schwer abzuschätzen, ob sein Verhalten einen Straftatbestand erfüllte, oder ob dieser wegen menschenrechtlicher Bedenken einschränkend auszulegen oder gar unanwendbar wäre. Ein Sonderproblem gab es diesbezüglich im Kosovo.1578 Dort weigerte sich die albanische Mehrheit der Juristen konsequent, das von der UNMIK in Kraft gesetzte jugoslawische Recht von vor März 1999 anzuwenden, da sie es als „serbisches 1574 UN-GS, Transitional Justice (2004), § 27. UN-GS, Transitional Justice (2004), § 27. Explizit für das Kosovo Hartmann, Int’l. Judges (2003), S. 4. 1575 1576 Siehe Sec. 3 UNMIK/REG/1999/1 vom 25.7.1999 und Sec. 3 UNTAET/REG/1999/1 vom 27.11.1999. Zur Frage des anwendbaren Rechts in Osttimor siehe Morrow/White, Australian YBIL 22 (2002), 1 (7-11), zu der im Kosovo die unten in Fn. 1578 Genannten und zu der in Afghanistan nach dem Sturz der Taliban Chesterman, You, The People (2004), S. 175 f. 1577 OMIK, 1. Criminal Justice Review (2000), S. 16 f., mit Beispielen für dadurch bedingte Menschenrechtsverstöße ebenda, S. 20-22; ferner ICG, Scales of Justice (2002), S. 13. Ende 1999 führte der Europarat eine Studie zur Kompatibilität des im Kosovo geltenden Strafrechts mit internationalen Menschenrechtsstandards durch und empfahl, einige Normen außer Kraft zu setzen oder abzuändern (§ 80 des Berichts S/1999/1250 vom 23.12.1999). 1578 Ausf. zur Frage des anwendbaren Rechts im Kosovo OMIK, 1. Criminal Justice Review (2000), S. 15-23; Gil-Robles, Kosovo: Human Rights (2002), §§ 71-75; O’Neill, Kosovo (2002), S. 79-81; und Muharremi, Treuhandverwaltung (2005), S. 20-27. 343 Recht“ ablehnten.1579 Vielmehr verlangte sie, das vor dem 22. März 1989 geltende Recht wieder in Kraft zu setzen. Dieses war von den Organen der damals noch autonomen Provinz Kosovo beschlossen worden und war daher politisch akzeptabel.1580 Schließlich gab UNMIK dem Druck nach und erklärte das kosovarische Recht von vor 1989 für anwendbar, wobei bei seiner Anwendung international anerkannte Menschenrechtsstandards zu beachten waren.1581 Immerhin waren die Menschenrechtsinstrumente, denen diese „anerkannten Standards“ zu entnehmen sein sollten, im Anschluss aufgeführt.1582 Da das kosovarische Strafrecht von 1989 bestimmte Straftatbestände, wie beispielsweise den des Drogenhandels, nicht enthielt, musste in diesen Fällen weiter das jugoslawische Strafrecht von nach 1989 angewendet werden.1583 Die einschlägige UNMIK-Verordnung ließ dies ausdrücklich zu.1584 Obwohl die Verordnung ebenfalls vorsah, dass die Gerichte bei Zweifeln hinsichtlich des anwendbaren Rechts vom Sondergesandten des UNGeneralsekretärs (SRSG) Klärung erbeten konnten, scheint die so geschaffene Rechtslage schwerlich mit dem strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz vereinbar zu sein. Erst durch das in Kraft treten eines neuen Strafgesetzbuches und einer neuen Strafprozessordnung wurde diese Rechtsunsicherheit im Sommer 2004 beseitigt.1585 1579 Siehe OMIK, 1. Criminal Justice Review (2000), S. 12; § 55 des Berichts des Generalsekretärs S/1999/1250 vom 23.12.1999; ferner O’Neill, Kosovo (2002), S. 79 f.; und Chesterman, You, The People (2004), S. 166. In weit geringerem Umfang gab es ähnliche Vorbehalte gegen die Weiterverwendung indonesischen Rechts in Osttimor (Morrow/White, Australian YBIL 22 (2002), 1 [9]). 1580 Hartmann, Int’l. Judges (2003), S. 4. 1581 Sec. 1.1 und 1.3 UNMIK/REG/1999/24 vom 12.12.1999. 1582 Sec. 1.3 UNMIK/REG/1999/24 nennt die AEMR, die EMRK, den IPbürgR, den IPwirtR, die Antidiskriminierungskonvention (1965), das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung von Frauen (1979), die UN-Anti-Folter-Konvention (1984) sowie die UNKinderrechtekonvention (1989). O’Neill, Kosovo (2002), S. 80; Chesterman, You, The People (2004), S. 166. Siehe auch die Erläuterungen in § 56 des Berichts S/1999/1250 vom 23.12.1999. 1583 1584 Sec. 1.2 UNMIK/REG/1999/24. 1585 OMIK, 6. Criminal Justice Review (2004), S. 14. Siehe UNMIK/REG/2003/25 (Strafgesetzbuch) und UNMIK/REG/2003/26 (Strafprozessordnung) vom 6.7.2003. Beide Gesetze traten zum 6.4.2004 in Kraft. In seinem jüngsten Jahresbericht weist der von UMNIK geschaffene Ombudsmann jedoch darauf hin, dass in anderen Rechtsbereichen die Unsicherheiten bzgl. des anwendbaren Rechts weiter andauern (Ombudsperson Kosovo, 5th Annual Report (2005), S. 12-17). Er spricht insoweit von einem andauernden „legal chaos“ (ebenda, S. 12). Kritisch auch CoE-Venice Commission, Human 344 Zwar ließen sich diese Schwierigkeiten mit dem Bestimmtheitsgebot vermeiden, wenn eine UN-Verwaltung stets gleich zu Beginn ein neues, menschenrechtlichen Anforderungen entsprechendes Strafrecht in Kraft setzte. In der Tat enthielt der so genannte Brahimi-Report aus dem Jahr 2000 den Vorschlag, einen Satz an Standardgesetzen, darunter auch Strafgesetze, zu entwickeln, die zügig in einem Krisengebiet in Kraft gesetzt und umgesetzt werden könnten, weil UN-Mitarbeiter bereits vor einem Kriseneinsatz in der Anwendung dieser Modellgesetze geschult werden könnten.1586 Diese Gesetze sollten anerkannten Menschenrechtsstandards entsprechen und eine effektive Strafverfolgung ermöglichen, bis adäquate nationale Gesetzentwürfe erarbeitet werden können.1587 Ein solches „Einheitsmodell“ stieß in der Praxis jedoch auf Bedenken.1588 Aufgrund der erheblichen Unterschiede in der Rechtskultur der verschiedenen Staaten und Regionen der Erde würde ein UNModellgesetz stets auf erhebliche Akzeptanzprobleme stoßen und so nur schwer durchsetzbar sein.1589 In seinem jüngsten Bericht zu Rechtsstaatlichkeit und transitional justice in Krisengebieten hält der UN-Generalsekretär jedoch an vorbereiteten Übergangsgesetzen (transitional codes) als ein Mittel zur kurzfristigen Wiederherstellung der rule of law fest.1590 Lediglich zur langfristigen Wiederherstellung und Verankerung der Rechtsstaatlichkeit in einem Krisengebiet seien externe Lösungsmodelle ungeeignet.1591 Das langfristig geltende Recht müsse im Rahmen eines nationalen Prozesses von nationalen Akteuren ausgearbeitet und in Kraft gesetzt werden. Der UN käme dabei lediglich eine unterstützende und beratende Funktion zu.1592 Rights in Kosovo (2004), §§ 57-61. 1586 UN, Brahimi-Report (2000), §§ 81 f. 1587 Ebenda, § 81. Ausdrücklich unterstützend im Hinblick auf die im Kosovo gewonnenen Erfahrungen O’Neill, Kosovo (2002), S. 81. 1588 In der Tat wurde im Rahmen der UNMIK im September 1999 kurzzeitig die Verabschiedung eines externen Modellentwurfs als neues Strafgesetzbuch diskutiert. Diese Idee konnte sich jedoch nicht durchsetzen (O’Neill, Kosovo (2002), S. 80). 1589 Interview des Autors mit UN-Mitarbeitern im Bereich der Justiz im Juni 2002. 1590 UN-GS, Transitional Justice (2004), § 30 a.E. 1591 Ebenda, § 15. 1592 Ebenda, § 17. 345 Im Ergebnis spricht Einiges dafür, dass auch eine UN-Zwangsverwaltung unter allen Umständen zur Beachtung des Rückwirkungsverbotes gehalten ist. Dafür spricht nicht nur, dass es auch im humanitären Völkerrecht verankert ist und insoweit als Teil eines menschenrechtlichen Mindeststandards gesehen werden kann. Vielmehr ist auch aus der bisherigen Praxis kein Grund ersichtlich, der eine Beachtung des Rückwirkungsverbotes mit dem Ziel der Friedenssicherung in Konflikt bringen könnte, zumal solche Straftaten, die besonders zur nachhaltigen Störung des Friedens geeignet sind, zumindest nach Völkerstrafrecht geahndet werden können. Dagegen ist die umfassende Achtung des strafrechtlichen Bestimmtheitsgebotes in der Praxis schwierig. Dies gilt speziell dann, wenn auch kurzfristig die Achtung der Menschenrechte in der Justiz sichergestellt werden soll und deshalb das geltende Recht nur unter Vorbehalt seiner Kompatibilität mit internationalen Standards wieder in Kraft gesetzt werden kann. Eine Abweichung vom völkerrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz kann daher im Einzelfall zum Zwecke der Friedenssicherung erforderlich und zulässig sein. Aus dem Umstand, dass Art. 11 Abs. 2 AEMR und Art. 15 Abs. 1 IPbürgR auch gewohnheitsrechtliche Normen – insbesondere solche des Völkerstrafrechts – zur Begründung der Strafbarkeit ausreichen lassen,1593 folgt ohnehin, dass an einen völkerrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz keine allzu hohen Anforderungen gestellt werden dürfen. 3. Anforderungen an das Gericht Insbesondere aus Art. 10 AEMR und Art. 14 IPbürgR, aber auch aus Art. 71 bis 75 GK IV ergeben sich umfangreiche völkerrechtliche Anforderungen an die Einrichtung und Besetzung von Straf- und Zivilgerichten sowie an ihr Verfahren. Einige von ihnen sollen im Folgenden exemplarisch untersucht werden. a. Institutionelle Garantie einer Straf- und Zivilgerichtsbarkeit Nach Art. 10 AEMR hat jeder Mensch Anspruch auf rechtliches Gehör vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht. Nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 IPbürgR hat er 1593 Nowak, CCPR Commentary (1993), Art. 15 Rn. 5 u. 19. Ausführlich zu Art. 11 Abs. 2 AEMR und seiner Entstehungsgeschichte vor dem Hintergrund der Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozesse Morsink, UDHR (1999), S. 52-58. 346 zudem Anspruch auf ein öffentliches und faires Verfahren sowohl in Straf- wie in Zivilsachen. Daraus folgt zunächst einmal, dass eine Krisengebietsverwaltung des Sicherheitsrates aus Art. 24 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit dem durch die genannten Artikel der AEMR und des IPbürgR konkretisierten Art. 1 Ziff. 3 SVN verpflichtet ist, überhaupt eine unabhängige Zivil- und Strafgerichtsbarkeit einzurichten. Diese muss auf gesetzlicher Grundlage und unabhängig von der Exekutive arbeiten.1594 Diese institutionelle Garantie soll im Folgenden unter dem Begriff Rechtsweggarantie zusammengefasst werden. Die aus Art. 10 AEMR und Art. 14 Abs. 1 Satz 2 IPbürgR folgende Pflicht zur Rechtswegeröffnung bedeutet indes nicht, dass eine UN-Krisengebietsverwaltung gleich von Anfang an über ein voll ausgestattetes und voll funktionsfähiges Gerichtssystem verfügen müsste. Dies würde den Sicherheitsrat angesichts der beschränkten personellen und materiellen Ressourcen der UN praktisch überfordern und ihn somit an einer effektiven Bekämpfung von Friedensbedrohungen hindern. Gerade der Aufbau eines Gerichtswesens ist in einem Krisengebiet, in dem die meisten staatlichen Institutionen personell und materiell nicht mehr funktionieren können, äußerst schwierig. Die Erfahrungen im Kosovo und in Osttimor zeigen, dass dies eher ein Prozess von Jahren denn von Monaten ist.1595 Eine sofortige Bereitstellung eines voll funktionsfähigen Gerichtssystems ist aber auch aus völkerrechtlichen Gesichtspunkten nicht geboten. Einerseits gehört die Rechtsweggarantie nicht nach Art. 4 Abs. 2 IPbürgR zu den unabdingbaren 1594 Seidel, Grund- und Menschenrechte (1996), S. 270. Zur institutionellen Garantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 IPbürgR siehe Nowak, CCPR Commentary (1993), Art. 14 Rn. 9. 1595 Ausführlich zum Wiederaufbau des Justizwesens im Kosovo und in Osttimor Strohmeyer, AJIL 95 (2001), 46-63; Chesterman, You, The People (2004), S. 165-174, sowie die einschlägigen Berichte des UN-Generalsekretärs zu den einzelnen Missionen. Speziell zu Osttimor Beauvais, NYU JIL&P 33 (2000/01), 1101 (1148-1160); Linton, Melbourne ULR 25 (2001), 122-180; Morrow/White, Australian YBIL 22 (2002), 1-45; und Othman, in: Ambos/ders. (Hrsg.), New Approaches (2003), S. 85-112. Speziell zum Kosovo siehe OMIK, 2. Criminal Justice Review (2001), S. 31-53; ICG, Scales of Justice (2002); O’Neill, Kosovo (2002), S. 75-98; Bohlander, in: Ambos/Othman (Hrsg.), New Approaches (2003), S. 21-59; sowie die Zusammenfassung der Entwicklung bis heute bei OMIK, 6. Criminal Justice Review (2004), S. 10-13. Speziell zur Staatsanwaltschaft Naarden/Locke, AJIL 98 (2004), 727-743. Einen Einblick in die Wahrnehmung der durch UNMIK eingerichteten Justiz seitens der kosovarischen Bevölkerung geben Latifi/Mekolli, Trial and Error (IWPR Report Oct. 2001). 347 Rechten.1596 Im Falle eines Notstandes, der gerade bei UN-Zwangsverwaltungen auf der Grundlage von Kapitel VII der Charta zu Beginn regelmäßig gegeben sein wird,1597 liegt daher im Fehlen eines unabhängigen Gerichtswesens nicht notwendig auch ein Verstoß gegen Menschenrechte. Die Rechtsweggarantie ist zudem nicht Bestandteil des zwingenden Rechts. Aufgrund des in der Charta niedergelegten Vorrangs der Friedenssicherung ist der Sicherheitsrat daher auch dann von ihrer Beachtung befreit, wenn ihm im konkreten Fall auf andere Weise eine effektive Bekämpfung der von dem Gebiet ausgehenden Friedensbedrohung nicht möglich ist. Dem kann nicht ohne Weiteres entgegengehalten werden, dass das Bestehen eines Rechtswegs auch während eines Notstands notwendige Voraussetzung für den Schutz der von Art. 4 Abs. 2 IPbürgR als unabdingbar bezeichneten Rechte ist und daher selbst unabdingbar sein müsse.1598 Eine solche Argumentation ist sinnvoll, wo ein Gerichtswesen besteht und die Fortdauer seiner Tätigkeit primär von der Entscheidung des Trägers der Staatsgewalt abhängt.1599 Wo aber, wie im Kosovo und in Osttimor, zu Anfang kein Gerichtssystem existiert und dieses auch nicht binnen Tagen „aus dem Boden gestampft“ werden kann, hieße dies, den Sicherheitsrat unzulässiger Weise zu etwas zu verpflichten, was niemand zu leisten im Stande ist. Im Rahmen seiner tatsächlichen Möglichkeiten ist der Sicherheitsrat aber auch bei einer Gebietsverwaltung unter Kapitel VII der Charta verpflichtet, eine den Anforderungen des Art. 10 AEMR und des Art. 14 IPbürgR weitestmöglich gerecht werdende Zivil- und Strafgerichtsbarkeit einzurichten – und dies so schnell wie möglich.1600 Dies ergibt sich nicht nur aus seiner Pflicht zur Förderung der 1596 Gleiches gilt nach Art. 15 Abs. 2 EMRK für die vergleichbare Rechtsweggarantie des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK. 1597 Zur UN-Krisengebietsverwaltung als Notstandssituation im Sinne des Art. 4 Abs. 1 IPbürgR siehe bereits oben 4.Kp. D.III.3.a. 1598 So aber implizit HRC, General Comment No. 29 (2001), § 15. 1599 In diesem Kontext erfolgt die Argumentation von HRC, General Comment No. 29 (2001), der sich an die Mitgliedstaaten des IPbürgR richtet und die Frage ihrer Derogation nach Art. 4 Abs. 2 IPbürgR von den Garantien des Paktes betrifft. 1600 Die hohe Priorität, die der Wiederaufbau des Justizwesens bei einer solchen Friedensmission haben sollte, wird inzwischen allseits anerkannt. Siehe beispielsweise UN-GS, Transitional Justice (2004), § 2, und O’Neill, Kosovo (2002), S. 76. 348 Menschenrechte aus Art. 24 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Ziff. 3 SVN, sondern auch unmittelbar aus seiner Pflicht zur Friedenssicherung aus Art. 24 Abs. 1 und Art. 1 Ziff. 1 SVN. Denn wie die UN selbst betont, ist ein effektives und unabhängiges Gerichtswesen notwendige Voraussetzung für die langfristige Befriedung eines Gebietes1601 und damit letztlich auch notwendig zur effektiven Bekämpfung der für die Zwangsverwaltung ursächlichen Friedensbedrohung. Die Möglichkeit, dem Individuum in engen Grenzen aus Gründen der Friedenssicherung vorübergehend keine effektive und zugängliche Straf- und Zivilgerichtsbarkeit bereitszustellen, erlaubt dabei lediglich eine zeitliche Verzögerung der Rechtswegeröffnung. Sie erlaubt keine Abweichung von dem Grundsatz, dass strafrechtliche Verurteilungen nur von einem ordentlich bestellten Gericht verhängt werden dürfen. Denn bei diesem ebenfalls aus Art. 10 AEMR und Art. 14 IPbürgR folgenden Grundsatz1602 handelt es sich um einen zwingenden Kernbestandteil des fair trial-Grundsatzes,1603 von dem auch der Sicherheitsrat unter keinen Umständen abweichen darf. Das ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass er nach dem gemeinsamen Art. 3 Nr. 1 lit. d) der Genfer Konventionen selbst während andauernder bewaffneter Konflikte einzuhalten ist.1604 Als Inhaber auch der legislativen Gewalt innerhalb des unter Kapitel VII der Charta verwalteten Gebietes1605 wird es der Sondergesandte und Leiter der UN-Mission zudem regelmäßig selbst in der Hand haben, kurzfristig die notwendigen gesetzlichen Grundlagen zu schaffen. b. Unparteilichkeit des Gerichts Art. 10 AEMR und Art. 14 Abs. 1 IPbürgR enthalten neben der institutionellen Rechtsweggarantie auch den Anspruch des Einzelnen auf Gleichbehandlung vor 1601 UN-GS, Transitional Justice (2004), § 2. 1602 Siehe Nowak, CCPR Commentary (1993), Art. 14 Rn. 15. 1603 HRC, General Comment No. 29 (2001), § 16. 1604 Zum gemeinsamen Art. 3 der Genfer Konventionen als Ausdruck zwingenden Völkerrechts siehe oben die Nachweise in Fn. 1521. 1605 Siehe Sec. 1.1 UNMIK/REG/1999/1 vom 25.7.1999 und § 6 S/RES/1272 (1999) vom 25.10.1999. 349 Gericht und auf eine unparteiische Besetzung des Gerichts.1606 Die Unparteilichkeit des Gerichts wird man ebenfalls zu den wesentlichen Ausprägungen des fair trialGrundsatzes zählen können, da die Verhandlung eines Sachverhaltes vor einem unvoreingenommen Dritten Streitschlichtungssystems und gleichsam raison Grundlage d’être seiner eines Legitimität gerichtlichen ist.1607 Der Menschenrechtsausschuss des IPbürgR hat den Grundsatz der Unparteilichkeit des Gerichts daher zu Recht als unabdingbar bezeichnet.1608 Doch gerade in Krisengebieten, die oftmals von nur oberflächlich beendeten internen Konflikten geprägt sind, kann die Durchsetzung der Unparteilichkeit der Gerichte schwierig sein. Wie bereits ausgeführt1609 wird es aufgrund begrenzter Ressourcen und zur langfristigen Verankerung des Gerichtssystems im Staatswesen des verwalteten Gebietes in der Regel geboten sein, zumindest den Großteil der Richterund Staatsanwaltstellen mit lokalen Juristen zu besetzen. Ein weiterer Grund kann die Notwendigkeit sein, deutlich zu machen, dass alle Teile der Bevölkerung an der Ausübung der „neuen“ Staatsgewalt beteiligt sind.1610 Doch gerade die Erfahrungen im Kosovo haben gezeigt, dass mit der aus Gründen der Friedenssicherung erforderlichen Einbindung nationaler Richterinnen und Richter auch ethnische Voreingenommenheit Einzug in das Gerichtswesen hält.1611 So übten Teile der kosovo-albanischen Bevölkerungsmehrheit derartigen Druck auf nicht-albanische Richter aus, dass bis Oktober 1999 alle bis dato ernannten serbischen Richter und Staatsanwälte ihre Ämter niederlegten.1612 Albanische Richter und Staatsanwälte 1606 Nowak, CCPR Commentary (1993), Art. 14 Rn. 18. Zur diesbzgl. Intention des Art. 10 AEMR siehe Morsink, UDHR (1999), S. 50-52. 1607 In diese Richtung auch OMIK, 1. Criminal Justice Review (2000), S. 58. 1608 HRC, González del Río v. Peru (1992), § 5.2. Zustimmend Sayapin, HVR 17 (2004), 152 (156 f.). Zum Grundsatz der Unabhängigkeit und Unvoreingenommenheit der Gerichte nach Art. 6 EMRK siehe ausf. Kuijer, The Blindfold of Lady Justice (2004). 1609 Siehe oben 4.Kp. E.II.1. 1610 So betont der Generalsekretär in § 66 seines Berichts S/1999/779 vom 12.7.1999 die Notwendigkeit, ein „multi-ethnic judicial system“ im Kosovo einzurichten. 1611 Ausf. zu den Schwierigkeiten mit der Sicherstellung der Unparteilichkeit der Richter im Kosovo OMIK, 1. Criminal Justice Review (2000), S. 58-76; ferner ICG, Scales of Justice (2002), S. 6-8. 1612 § 54 des Berichts S/1999/1250 vom 23.12.1999; OMIK, 1. Criminal Justice Review (2000), S. 11 f.; O’Neill, Kosovo (2002), S. 77. Umgekehrt bestand weiterhin ein paralleles rein serbisches 350 gingen teilweise deutlich entschiedener und härter gegen Serben als gegen Albaner vor.1613 Während Erstere oft lange auf einen Prozess warten mussten, wurden Letztere teilweise auch bei vergleichsweise eindeutiger Sachlage freigesprochen oder aus der Haft entlassen.1614 Auch gab und gibt es erhebliche Schwierigkeiten mit Vertretern der organisierten Kriminalität oder ehemaligen UÇK-Mitgliedern, die teilweise massiven Druck auf Richter und Staatsanwälte ausübten.1615 Da es sich um eine unabdingbare Grundvoraussetzung für den effektiven Schutz der Menschenrechte handelt, ist die Unparteilichkeit der Gerichte vom Sicherheitsrat unter allen Umständen sicherzustellen. Soweit lokale Richter keine hinreichende Gewähr für ihre Unvoreingenommenheit bieten können, sind ihnen internationale Richter zur Seite zu stellen oder die tatsächliche Möglichkeit zu schaffen, problematische Urteile von einer weiteren Instanz, deren Unabhhängigkeit und Überparteilichkeit gesichert ist, überprüfen zu lassen.1616 Die Sicherstellung der richterlichen Unvoreingenommenheit hat insoweit Vorrang vor dem Ziel, das Justizwesen zum Zwecke seiner langfristigen Verankerung in der Bevölkerung möglichst umfassend zu nationalisieren. Zu Recht hat UNMIK daher nach anfänglichem Zögern1617 Anfang 2000 die Voraussetzungen für den Einsatz internationaler Richter und Staatsanwälte Gerichtswesen in den mehrheitlich von Serben bewohnten Gebieten. Siehe dazu ausf. OMIK, Parallel Structures (2003), S. 16-23. 1613 O’Neill, Kosovo (2002), S. 83-88; Hartmann, Int’l. Judges (2003), S. 5 f. 1614 Siehe die in OMIK, 1. Criminal Justice Review (2000), S. 60-69, aufgeführten Beispielfälle. 1615 § 109 des Berichts S/2000/177 des Generalsekretärs vom 3.3.2000; und § 57 des Berichts S/2000/538 vom 6.6.2000; ferner ICG, Scales of Justice (2002), S. 5; Hartmann, Int’l. Judges (2003), S. 7; und Naarden/Locke, AJIL 98 (2004), 727 (728 u. 730). 1616 Der erste internationale Staatsanwalt der UNMIK (2000-2003), Michael Hartmann, plädiert insoweit dafür, stets vom schlimmsten Fall auszugehen und in einer Krisenregion von Anfang an internationale Richter und Staatsanwälte einzusetzen. Sollten die Erwartungen an die nationalen Richter im positiven Sinne enttäuscht werden, könnte das internationale Personal kurzfristig wieder abgezogen werden (Hartmann, Int’l. Judges (2003), S. 14). Nach Hartmann, Int’l. Judges (2003), S. 4, befürchtete die UN zunächst, sich dem Vorwurf des Neokolonialimus auszusetzen, wenn sie neben der Exekutive und der Legislative auch die Judikative personell an sich zöge. Zu den Gründen für das Zögern siehe auch O’Neill, Kosovo (2002), S. 88 f. 1617 351 geschaffen.1618 Auch ein Instanzenzug wurde geschaffen, der eine richterliche Überprüfung von Urteilen ermöglicht.1619 Im September 2000 arbeiteten sieben internationale Richter und drei internationale Staatsanwälte im Kosovo,1620 im März des Folgejahres war ihre Zahl auf insgesamt zwölf Richter und fünf Staatsanwälte angewachsen.1621 Bis 2004 wurde insbesondere die Zahl der internationalen Staatsanwälte auf zehn bis fünfzehn erhöht.1622 Auch dadurch haben die Schwierigkeiten mit ethnisch voreingenommenen Richtern und Staatsanwälten im Kosovo bis heute deutlich abgenommen.1623 c. Verfahrensdauer Neben der Garantie einer unabhängigen und unparteiischen Justiz enthält Art. 14 IPbürgR eine Reihe prozessualer Vorgaben, deren Gewährleistung der Einzelne im Strafverfahren beanspruchen kann. Während die Einhaltung einiger von ihnen, wie 1618 UNMIK/REG/2000/6 vom 15.2.2000 erlaubte zunächst den Einsatz internationaler Richter und Staatsanwälte im geteilten Mitrovica. Diese durften jedes neue oder bereits anhängige Strafverfahren in ihrem örtlichen Zuständigkeitsbereich an sich ziehen (ebenda, Sec. 1.2 u. 1.3). UNMIK/REG/2000/34 vom 27.5.2000 dehnte dieses Modell auf das gesamte Gebiet des Kosovo aus. UNMIK/REG/2000/64 vom 15.12.2000 erlaubte es dem SRSG, in jedem Stadium des Verfahrens das an sich zuständige kosovarische Gericht durch einen mehrheitlich mit internationalen Richtern besetzten ad hoc-Spruchkörper (ein sog. „64-panel“) zu ersetzen. UNMIK/REG/2001/2 vom 12.1.2001 gab internationalen Staatsanwälten die Möglichkeit, bereits eingestellte Ermittlungs- und Strafverfahren neu aufzurollen. Dieses Rechtsregime wurde zuletzt durch UNMIK/REG/2004/54 vom 15.12.2004 bis Dezember 2005 verlängert. Zur Entwicklung dieses Rechtsregimes und seinen Hintergründen siehe insbes. Hartmann, Int’l. Judges (2003), S. 3-13. Zum Einsatz internationaler Staatsanwälte in Osttimor im Rahmen der Verfolgung schwerer Menschenrechtsverletzungen aus der Zeit vor der Einrichtung der UNTAET siehe Bowman, Emory ILR 18 (2004), 371-400, der 2002 selbst als Staatsanwalt in Osttimor tätig war. 1619 Oberste Instanz ist der Kosovo Supreme Court, dem auch internationale Richter angehören. Darunter gibt es Bezirks- und Amtsgerichte (District bzw. Municipal Courts). Siehe dazu OMIK, 1. Criminal Justice Review (2000), S. 13, ferner Hartmann, Int’l. Judges (2003), S. 12. Sec. 1.4 UNMIK/REG/2001/2 vom 12.1.2001 erlaubt es internationalen Staatsanwälten, auch bereits eingestellte Strafverfahren wieder aufzunehmen. 1620 Siehe § 47 des Berichts S/2000/878 vom 18.9.2000. 1621 Siehe § 39 des Berichts S/2001/218 vom 13.3.2001. Zur Arbeit der internationalen Staatsanwälte und Richter im Kosovo siehe ICG, Scales of Justice (2002), S. 8-10; ferner ausf. Hartmann, Int’l. Judges (2003); und speziell zu den Staatsanwälten Naarden/Locke, AJIL 98 (2004), 727-743. 1622 ICG, Scales of Justice (2002), S. 8; Naarden/Locke, AJIL 98 (2004), 727 (728). 1623 Im Jahre 2004 gab es nur vier diesbzgl. Beschwerden, von denen eine offensichtlich unbegründet war (§ 18 Annex I des Berichts S/2005/335 vom 23.5.2005). Allerdings sieht CoE-Venice Commission, Human Rights in Kosovo (2004), §§ 47-49, die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz weiter als problematisch an. 352 etwa der Unschuldsvermutung des Art. 14 Abs. 2 IPbürg1624 oder auch das Prinzip der Waffengleichheit bei der Zeugenbefragung (Art. 14 Abs. 3 lit. e) IPbürgR) auch im Kontext einer Krisengebietsverwaltung keine besonderen Schwierigkeiten aufwerfen dürfte, setzen andere in besonderem Maße das Bestehen eines funktionierenden und mit hinreichenden Ressourcen versehenen Justizwesens voraus. Das gilt beispielsweise für das Recht auf einen unentgeltlichen Pflichtverteidiger nach Art. 14 Abs. 3 lit. d) IPbürgR,1625 das nicht nur voraussetzt, dass die Justiz über entsprechende finanzielle Mittel verfügt, sondern vor allem, dass überhaupt genügend qualifizierte Verteidiger zur Verfügung stehen.1626 Gleiches gilt für das Recht auf die unentgeltliche Herbeiziehung eines Dolmetschers nach Art. 14 Abs. 3 lit. f) IPbürgR.1627 In besonderem Maße abhängig vom Bestehen eines funktionierenden und mit ausreichenden Ressourcen versehenen Justizwesens ist auch das Recht des Angeklagten auf ein „ohne unangemessene Verzögerung“ ergehendes Urteil. Art. 14 Abs. 3 lit. c) IPbürgR bezieht sich dabei nicht nur auf die eigentliche Verurteilung, sondern auf alle Stadien des Strafverfahrens und auf alle Instanzen.1628 Es überlappt sich teilweise mit dem Recht des Untersuchungshäftlings auf zügige Eröffnung eines Gerichtsverfahrens aus Art. 9 Abs. 3 Satz 1 IPbürgR. 1629 Auch flankiert es die bereits behandelte Rechtsweggarantie,1630 denn, um es mit einem englischen Sprichwort 1624 Siehe dazu Nowak, CCPR Commentary (1993), Art. 14 Rn. 33-37. HRC, General Comment No. 29 (2001), § 16, zählt die Unschuldsvermutung sogar zu den unabdingbaren Garantien des IPbürgR, obwohl sie in Art. 4 Abs. 2 IPbürgR nicht erwähnt ist. In diese Richtung auch Sayapin, HVR 17 (2004), 152 (158). 1625 In Osttimor umgesetzt durch Sec. 27 UNTAET/REG/2000/11 vom 6.3.2000. 1626 Zu den diesbzgl. Problemen im Kosov und in Osttimor siehe Strohmeyer, AJIL 95 (2001), 46 (55). Zu den andauernden Schwierigkeiten mit mangelhaft arbeitenden Verteidigern, insbesondere Pflichtverteidigern, im Kosovo siehe OMIK, 6. Criminal Justice Review (2004), S. 68-73. 1627 Hier wird man allerdings sagen müssen, dass die UN jedenfalls dann für einen unentgeltlichen Dolmetscher sorgen muss, wenn sie durch den Einsatz internationaler Richter und Staatsanwälte erst die Verwendung einer für den Angeklagten unverständlichen Verhandlungssprache bewirkt hat. 1628 HRC, General Comment No. 13 (1984), § 10; HRC, Lubuto v. Zambia (Entscheidung v. 31.10.1995), § 7.3; Seidel, Grund- und Menschenrechte (1996), S. 311; Conte, in: ders. u.a. (Hrsg.), Defining Rights (2004), S. 129. 1629 Nowak, CCPR Commentary (1993), Art. 14 Rn. 44. Siehe dazu auch unten 4.Kp. E.III.4. 1630 Siehe oben 4.Kp. E.II.3.a. 353 auszudrücken, „justice delayed [is] justice denied“.1631 Seine Verwirklichung scheint selbst für die hochentwickelten Staaten Westeuropas schwierig zu sein, so dass es seinetwegen immer wieder zu Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg kommt.1632 Der Menschenrechtsausschuss des IPbürgR musste sich gleichfalls häufig mit Verstößen gegen dieses Verfahrensgrundrecht auseinandersetzen.1633 Auch im Kosovo und in Osttimor war die lange Dauer einiger Strafverfahren Gegenstand der Kritik.1634 Vor dem Hintergrund, dass die Vereinten Nationen dort das Justizsystem quasi von Grund auf neu errichten mussten, muss in einer langen Verfahrensdauer nicht immer notwendig ein Verstoß gegen Menschenrechte vorliegen. Zwar ist auch der Sicherheitsrat gehalten, die Vorgaben des Art. 14 Abs. 3 IPbürgR zu beachten und umzusetzen, da sie autoritative Konkretisierungen der von ihm nach Art. 24 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Ziff. 3 SVN zu beachtendenden Menschenrechte darstellen. Jedoch ist nicht jede lange Prozessdauer notwendig ein Eingriff in das Grundrecht auf ein zügiges Urteil. Art. 14 Abs. 3 IPbürgR gehört ferner nicht zu den nach Art. 4 Abs. 2 IPbürgR notstandsfesten Rechten und kann vom Sicherheitsrat auch aufgrund des Vorrangs der Friedenssicherung im Einzelfall außer Kraft gesetzt werden. Aus dem Wortlaut der Art. 14 Abs. 3 lit. c) und Art. 9 Abs. 3 Satz 1 IPbürgR folgt zunächst, dass die genannten Normen keine starre Zeitgrenze vorsehen, sondern es von den Umständen und der Komplexität des Einzelfalles abhängt, was eine 1631 Zitiert nach Soyer/de Salvia, Article 6 CEDH (1999), S. 267. 1632 Insbesondere Italien wird immer wieder eines Verstoßes gegen dieses auch in der EMRK (Art. 6 Abs. 1 Satz 1) niedergelegte Individualrechts bezichtigt, weshalb der EGMR mittlerweile zu einer Art kursorischen Prüfung dieser Fälle übergegangen ist. Siehe dazu die umfangreichen Nachweise bei Frowein/Peukert, EMRK (1996), Art. 6 Rn. 153. 1633 Siehe die Übersicht bei Weissbrodt, Fair Trial (2001), S. 125-129, und Conte, in: ders. u.a. (Hrsg.), Defining Rights (2004), S. 129 f. 1634 Zum Kosovo siehe insbesondere die Jahresberichte des Ombudsmannes, z.B. Ombudsperson Kosovo, 3rd Annual Report (2003), S. 3; Ombudsperson Kosovo, 4th Annual Report (2004), S. 13. Von 446 zulässigen Beschwerden, die zwischen Mitte 2004 und Mitte 2005 beim Ombudsmann im Kosovo eingeganen sind, machten 131 eine überlange Verfahrensdauer geltend (siehe Ombudsperson Kosovo, 5th Annual Report (2005), S. 62 u. 64, ferner S. 123 u. 127 f. sowie die Beispielfälle ebenda, S. 8198). Zu Osttimor siehe z.B. § 8 des Berichts des Generalsekretärs S/2000/1105 vom 20.11.2000; ferner JSMP, Justice in Practice (2001), S. 12-16; und Chesterman, You, The People (2004), S. 172. 354 „angemessene Frist“1635 ist und wann eine Verzögerung „unangemessen“1636 wird.1637 Dies lässt grundsätzlich Raum, um die tatsächlichen Verhältnisse vor Ort in die Bewertung mit einfließen zu lassen. Sowohl die Feststellungen des UN-Menschenrechtsausschusses als auch die Rechtsprechung des EGMR zum ähnlich gelagerten Art. 6 Abs. 1 EMRK zeigen indes nur eine geringe Neigung, externe Faktoren in ihre Beurteilung mit einzubeziehen und stellen maßgeblich nur auf die Eigenarten des konkreten Falles ab.1638 Wo die betroffenen Staaten ihre schwierige wirtschaftliche Situation als Entwicklungsland oder finanzielle Engpässe als Rechtfertigung für eine lange Verfahrensdauer anführten, wurde dies vom Menschenrechtsausschuss des IPbürgR zurückgewiesen.1639 Ähnlich urteilte 1985 der EGMR in einem Individualbeschwerdeverfahren gegen Portugal: Zwar wisse er die besonderen Schwierigkeiten zu würdigen, die Portugal bei der Reform des Justizwesens infolge der Demokratisierung im Zuge der Nelkenrevolution und des großen Bevölkerungszuwachses im Zuge der Dekolonialisierung gehabt habe.1640 Jedoch seien die von Portugal ergriffenen strukturellen Maßnahmen unzureichend, um die knapp vierjährige Dauer des streitgegenständlichen Schadensersatzprozesses zu rechtfertigen.1641 Art. 9 Abs.3 Satz 1 IPbürgR spricht in der französischen Fassung von einem „délai raisonnable“, in der englischen von einem „trial within reasonable time“. 1635 Art. 14 Abs. 3 lit. c) IPbürgR lautet in der französischen Fassung „à être jugée sans retard excessif“, in der englischen „to be tried without undue delay“. 1636 1637 HRC, Fillastre u. Bizouarn v. Bolivia (Entscheidung v. 6.11.1991); § 6.6; Nowak, CCPR Commentary (1993), Art. 14 Rn. 45. 1638 Zu den vom EGMR entwickelten Kriterien siehe Soyer/de Salvia, Article 6 CEDH (1999), S. 268; und Frowein/Peukert, EMRK (1996), Art. 6 Rn. 144-152 m.w.N. 1639 HRC, Fillastre u. Bizouarn v. Bolivia (Entscheidung v. 6.11.1991), § 6.4 u. § 6.5; und HRC, Lubuto v. Zambia (Entscheidung v. 31.10.1995), § 7.3. Zu dieser Spruchpraxis des Menschenrechtsausschusses siehe auch Weissbrodt, Fair Trial (2001), S. 129. 1640 EGMR, Arrêt Guincho (1984), § 21 u. § 38. 1641 EGMR, Arrêt Guincho (1984), § 41. Ähnlich EGMR, Arrêt Union Alimentaria Sanders S.A. (1989), § 42: Auch hier konnten die vom Gerichtshof anerkannten Schwierigkeiten Spaniens bei der Rückkehr zur Demokratie und der Reorganisation des Justizwesens (siehe ebenda, §§ 37 f.) die lange Verfahrensdauer nicht rechtfertigen. 355 Weder eine allgemeine Haushaltsnotlage noch eine vor geraumer Zeit erfolgte demokratische Revolution sind jedoch mit dem völligen Zusammenbruch des Justizwesens vergleichbar, wie ihn die UN im Kosovo und in Osttimor vorfand. Daher taugen die bisher vom Menschenrechtsausschuss und vom EGMR behandelten Fälle nur bedingt als Präzedenzfälle für eine UN-Krisengebietsverwaltung. Zudem stützten sich beide Spruchkörper in den genannten Beispielsfällen wesentlich darauf, dass die betroffenen Staaten bewusst die aus dem IPbürgR respektive der EMRK folgenden Verpflichtungen übernommen hätten1642 und begründeten damit eine Art verschuldensunabhängige Einstandspflicht.1643 Diese Argumentation lässt sich auf die Übernahme der Verwaltungshoheit über ein Krisengebiet auf der Grundlage des Kapitels VII der UN-Charta nur bedingt übertragen. Der Sicherheitsrat erklärt nicht feierlich, hinfort bestimmte Rechte achten und schützen zu wollen, sondern er wird gleichsam notgedrungen zur Abwehr einer akuten Friedensbedrohung tätig. Das für die Argumentation des EGMR und des Menschenrechtsausschusses wesentliche Element der freiwilligen Selbstverpflichtung ist damit im Falle der Resolutionen 1244 und 1272 (1999) zumindest weit schwächer ausgeprägt. Zudem lässt der EGMR Anhaltspunkte dafür erkennen, dass organisatorische Defizite des Justizwesens bei der Beurteilung der Angemessenheit einer Verzögerung berücksichtigt werden könnten. Nach seiner ständigen Rechtsprechung führt ein vorübergehender Engpass im Justizwesen eines Mitgliedstaates noch nicht zu einem Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK, sofern zügig die erforderlichen Maßnahmen ergriffen werden, um den Engpass zu beheben.1644 Dem folgend ließe sich argumentieren, auch eine lange Verfahrensdauer infolge eines völligen Zusammenbruchs des Gerichtssystems verstieße nicht gegen Art. 6 Abs. 3 EMRK 1642 Siehe EGMR, Arrêt Guincho (1984), § 38 (2. Abs.); EGMR, Arrêt Union Alimentaria Sanders S.A. (1989); § 38; HRC, Lubuto v. Zambia (Entscheidung v. 31.10.1995), § 7.3; ferner die Nachweise bei Frowein/Peukert, EMRK (1996), Art. 6 Rn. 148. Soyer/de Salvia, Article 6 CEDH (1999), S. 268, sprechen von einer „obligation de résultat“. Nach Tomuschat, in: FS Schermers III (1994), S. 329, handelt es sich um einen einheitlichen europäischen Standard, einen „acquis commun“, zu dessen Einhaltung sich die Staaten mit der Ratifikation der EMRK verpflichtet hätten. 1643 1644 St. Rspr., siehe beispielsweise EGMR, Arrêt Zimmermann et Steiner (1983), § 29; EGMR, Arrêt Guincho (1984), § 40; EGMR, Arrêt Bagetta (1987), § 23; und EGMR, Klein v. Germany, NJW 54 (2000), 213 (214 § 43); ferner die Nachweise bei Frowein/Peukert, EMRK (1996), Art. 6 Rn. 148. 356 respektive Art. 14 Abs. 3 lit. c) IPbürgR, wenn nur die UN als Normadressat umgehend die erforderlichen Maßnahmen zu seinem Wiederaufbau ergriffe. Allerdings bezieht sich diese Rechtsprechung allein auf vorübergehende Störungen des Justizbetriebs. Bei strukturellen Problemen, und dabei handelt es sich bei der Notwendigkeit eines völligen Neuaufbaus zweifellos, stellt der EGMR hingegen darauf ab, ob der betroffene Staat „wirksame“ Maßnahmen ergriffen hat.1645 Da er die Wirksamkeit letztlich allein danach bemisst, ob sie eine den Eigenheiten des konkreten Falles angemessene Prozessdauer bewirken konnten,1646 stellt dies der Sache nach eine reine Erfolgspflicht des Normadressaten dar,1647 der keinen Raum für die Berücksichtigung der strukturellen Schwierigkeiten einer Krisengebietsverwaltung lässt.1648 Maßstab für die Angemessenheit der Prozessdauer sind damit allein die konkreten Eigenheiten des Einzelfalles, das heißt seine rechtlichen und tatsächlichen Schwierigkeiten sowie das Verhalten der Beteiligten, nicht aber externe Faktoren wie der allgemeine Zustand der Justiz in einem Staat oder die personelle wie materielle Ausstattung des Prozessgerichts – von lediglich vorübergehenden Engpässen einmal abgesehen. Nach dieser strengen Auslegung des Art. 6 Abs. 1 EMRK, die sinngemäß auch auf Art. 14 Abs. 3 lit.c) IPbürgR angewendet werden kann, müsste eine UNGebietsverwaltung – quasi „koste es, was es wolle“ – sicherstellen, dass einfache Strafverfahren schnell und zügig durchgeführt würden. Eine Berücksichtigung der 1645 EGMR, Arrêt Zimmermann et Steiner (1983), § 32; und EGMR, Arrêt Guincho (1984), § 40 (3. Abs.), sprechen insoweit von „de mesures efficaces“. 1646 Siehe die Argumentation des Gerichtshofes in EGMR, Arrêt Zimmermann et Steiner (1983), § 31; und in EGMR, Arrêt Guincho (1984), § 40 (3. Abs.). 1647 Soyer/de Salvia, Article 6 CEDH (1999), S. 268; Frowein/Peukert, EMRK (1996), Art. 6 Rn. 148. So führt der EGMR in st. Rspr. aus: „Art. 6 § 1 imposes on the Contracting States the duty to organise their judicial systems in such a way that their courts can meet each of its requirements, including the obligation to hear cases within a reasonable time“ (EGMR, Gast/Popp v. Germany, Slg. 2000-II, 467 [212 § 75]). In EGMR, Süßmann v. Germany, Slg. 1996-IV, 1158 (1174 § 60), fanden die besonderen politischen Umstände der deutschen Wiedervereinigung nur insoweit Berücksichtigung, als dem BVerfG gestattet wurde, sie bei der Entscheidung über die Reihenfolge der zu behandelnden Fälle in die Ermessensentscheidung miteinzubeziehen. Ähnlich EGMR, Arrêt Foti et autres (1982), § 61, wo anerkannte Beeinträchtigungen der Justiz durch vorangegangene Unruhen lediglich insoweit Berücksichtigung fanden, als zumindest jene Verzögerung als gerechtfertigt angesehen wurde, die notwendigerweise mit der gebotenen Verlegung des Verfahrens an ein anderes 1648 357 schwierigen Situation des justiziellen Wiederaufbaus wäre im Rahmen der genannten Normen nicht möglich. Der UN bliebe dann nur, unter Verweis auf die schwierige Situation vor Ort den Notstand zu proklamieren und nach Art. 4 Abs. 1 IPbürgR von den Gewährleistungen des für sie maßgeblichen IPbürgR zu derogieren.1649 Diese fehlende Notstandsfestigkeit wiederum zeigt auch, dass es sich beim Recht auf ein zügiges Strafverfahren bislang nicht um einen zwingenden Grundwert der internationalen Gemeinschaft handelt. Daher kann der Sicherheitsrat aufgrund des in der Charta angelegten Vorrangs der Friedenssicherung seine Verwirklichung insoweit zurückstellen, als dies im Einzelfall zur effektiven Bekämpfung von Friedensbedrohungen erforderlich ist. In Betracht kommt hier insbesondere eine Einschränkung des Rechts aufgrund der eingeschränkten personellen und finanziellen Ressourcen. Insbesondere ist es dem Sicherheitsrat so aber auch möglich, die notwendigen Prioritäten zu setzen. Denn auch die Gewährleistung der einzelnen Menschenrechte ist nicht immer zur gleichen Zeit und im gleichen Umfang nötig. Dies gilt gerade für die justiziellen Rechte und für die Situation eines weitgehenden justiziellen Neubeginns nach einem bewaffneten Konflikt oder einer sonstigen schweren Krise. So ist es sicherlich theoretisch möglich, Verfahren zu beschleunigen, indem eine Vielzahl lokaler Richter eingestellt wird. Fehlt diesen aber die nötige Qualifikation oder sind sie voreingenommen, geht dies zu Lasten des Rechts auf faires und ordnungsgemäßes Verfahren. Umgekehrt kann der umfassende Einsatz internationaler Juristen – wenn er denn personell und finanziell möglich wäre – dazu führen, dass die Justiz von der Bevölkerung nicht akzeptiert wird und so die langfristige Verankerung des Rechtsstaatsprinzips in dem Gebiet gefährdet, die wiederum notwendige Voraussetzung für eine dauerhafte Stabilisierung des Gebietes ist. Der in der Charta angelegte Vorrang der Friedenssicherung und das weite Ermessen, dass Art. 39 SVN dem Sicherheitsrat lässt, ermöglicht ihm so, situationsangemessen und flexibel zu entscheiden. Gericht verbunden war. 1649 Zur Anwendung des Art. 4 IPbürgR auf UN-Krisengebietsverwaltungen siehe bereits oben 4.Kp. D.III.3.a. 358 Das heißt nicht, dass eine unter Kapitel VII der Charta eingerichtete Gebietsverwaltung das Recht des Einzelnen auf ein zügiges Strafverfahren beliebig missachten könnte. Vielmehr hat sie im Rahmen des Möglichen für seine Verwirklichung zu sorgen. Sofern sie nicht nach Art. 4 Abs. 1 IPbürgR explizit davon derogiert, hat sie im Einzelfall den Nachweis zu bringen, dass seine Missachtung aus Gründen der Friedenssicherung erforderlich und im Hinblick auf die dem Betroffenen drohende Beeinträchtigung auch angemessen ist.1650 Dabei wird insbesondere eine Rolle spielen, ob sich der Betroffene zwischenzeitlich in Haft befindet und welche Strafe ihm Falle eine Verurteilung droht. III. Das Recht auf Freiheit der Person und Haftanordnungen durch die UNVerwaltung Die Inhaftierung von Personen ist im Falle einer Krisengebietsverwaltung aber auch aus anderen Gesichtspunkten von Interesse. So ist gerade in der Anfangszeit der UNVerwaltung im Kosovo die überlange Untersuchungshaft von Personen kritisiert worden, die einer Straftat verdächtigt wurden.1651 Das anwendbare jugoslawische Strafrecht erlaubte die Anordnung von Untersuchungshaft für eine Dauer von maximal sechs Monaten.1652 Als diese in vielen Fällen Ende 1999 überschritten zu werden drohte, verlängerte sie die UNMIK auf maximal ein Jahr.1653 Dies wurde teilweise im Hinblick auf die Garantien des Art. 9 Abs. 3 IPbürgR und Art. 5 Abs. 3 EMRK als höchst bedenklich angesehen.1654 Noch heute wird die Handhabung der 1650 Zu den Kriterien für die Annahme eine Vorrangs der Friedenssicherung im Einzelfall siehe oben 4.Kp. D.III.3. 1651 Siehe die von OMIK, 2. Criminal Justice Review (2001), S. 19-23, genannten Beispielfälle. Zur Praxis der mit ähnlichen Schwierigkeiten konfrontierten UNTAET in Osttimor siehe Othman, Nordic JIL 72 (2003), 449 (467-470). 1652 Zu den Voraussetzungen der Verhängung von Untersuchungshaft gemäß dem nach UNMIK/REG/1999/24 anwendbaren jugoslawischen Strafprozessrecht siehe OMIK, 1. Criminal Justice Review (2000), S. 33 f. 1653 Sec. 1 UNMIK/REG/1999/26 vom 22.12.1999. Wenn es bis zum Ablauf dieser Zeit nicht zu einer Anklageerhebung gekommen war, war der Tatverdächtige freizulassen (ebenda, Sec. 2). OMIK, Unlawfulness of Regulation 1999/26 (2000); O’Neill, Kosovo (2002), S. 78 f. Nach der hier vertretenen Auffassung ist der Sicherheitsrat nicht absolut an die Vorgaben des Art. 9 Abs. 3 IPbürgR gebunden. Hinsichtlich der überlangen Untersuchungshaft gilt insoweit das zur Verfahrensdauer Gesagte entsprechend. Sie ist im Einzelfall zulässig, wenn in Folge des Zusammenbruchs des Justizwesens oder aus anderen Gründen ein Notstand i.S.d. Art. 4 IPbürgR oder 1654 359 Untersuchungshaft durch die von UNMIK eingerichteten Justizorgane teilweise als menschenrechtlich problematisch eingestuft.1655 Interessanter unter dem Gesichtspunkt der Grenzen der sicherheitsratlichen Verwaltungskompetenz unter Kapitel VII der Charta sind aber jene Fälle, in denen die Befugnis zur Inhaftierung von Personen unmittelbar auf die Ermächtigungsresolution des Sicherheitsrates gestützt wurde. Da sie nicht durch die an sich zuständigen Organe der Strafverfolgungsbehörden oder durch die Justiz angeordnet wird, soll diese Art des Freiheitsentzuges im Folgenden unter Rückgriff auf den im Englischen gebräuchlichen Ausdruck executive detention als Exekutivhaft bezeichnet werden. 1. Die Praxis von KFOR und UNMIK Exekutivhaft wurde im Kosovo bislang sowohl vom Sondergesandten des Generalsekretärs (SRSG) als auch vom Kommandeur der KFOR (COMKFOR) angeordnet. In einer Reihe von Fällen ließen SRSG Kouchner und vor allem sein Nachfolger Haekkerup Personen in Gewahrsam nehmen, obwohl die kosovarische Justiz deren Freilassung aus Mangel an Beweisen angeordnet hatte. Im Falle eines Bombenattentats im Februar 2001 geschah dies sogar, als ein ausschließlich mit internationalen Richtern besetztes Gericht die Freilassung aller vier als Tatverdächtige verhafteten Männer angeordnet hatte.1656 Gestützt wurde diese Exekutivhaft stets mit den besonderen Befugnissen des SRSG aus der Resolution 1244 (1999) des Sicherheitsrates. Begründet wurde sie damit, dass eine Freilassung des Betroffenen eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstelle und ohne Eingriff des SRSG mit einer Manipulation des normalen gerichtlichen Verfahrens zu rechnen eine weitere Inhaftierung zur Friedenssicherung i.S.d. Art. 1 Ziff. 1, Art. 39 SVN erforderlich und angemessen ist. 1655 Kritisiert wird neben der Dauer der Untersuchungshaft insbesondere auch ihre vielfach unzureichende Begründung. Siehe dazu ausf. OMIK, 6. Criminal Justice Review (2004), S. 14-33. 1656 Bei diesem sorgfältig geplanten Attentat auf einen mit Serben besetzten Bus kamen elf Menschen ums Leben, zahlreiche weitere wurden verletzt. Von den vier Tatverdächtigen konnte einer unter zweifelhaften Umständen fliehen, die drei anderen wurden im Januar 2002 auf Anordnung des Kosovo Supreme Court entlassen. Zu diesem Fall siehe ausf. Qirezi, IWPR Balkans Crisis Rep. 308 (2002). 360 sei.1657 Der wohl bekannteste Fall ist der des Kosovo-Albaners Afram Zeqiri, eines ehemaligen UÇK-Mitgliedes. Er wurde im Mai 2000 verhaftet, weil Zeugen ihn als denjenigen indentifiziert hatten, der zuvor drei Serben, darunter ein vierjähriges Kind, erschossen hatte. Trotzdem wurde er vom zuständigen kosovo-albanischen Staatsanwalt wie bereits zuvor in drei anderen Fällen mangels Tatverdacht entlassen.1658 Diese Entscheidung wurde von zuständigen Bezirksgericht und vom kosovarischen Supreme Court bestätigt, zu deren Besetzung jeweils auch ein internationaler Richter gehörte.1659 Daraufhin ordnete der SRSG „aus Sicherheitsgründen“ seine weitere Inhaftierung an. Nachdem unter anderem aus diesem Anlass die notwendigen gesetzlichen Voraussetzungen geschaffen wurden, nahm im Jahre 2001 ein internationaler Staatsanwalt die Untersuchungen wieder auf.1660 2002 wurde Zeqiri schließlich von einem aus internationalen Richtern bestehenden Senat aus mangel an Beweisen freigesprochen.1661 Bereits im Februar 2002 hatte ein Gericht Zaqiri nach mehr als 22 Monaten in Haft gegen Sicherheitsleistung entlassen.1662 Nach heftiger Kritik an dieser Praxis insbesondere durch die OSZE1663 und die von 1657 Die Voraussetzungen einer von ihm angeordneten Exekutivhaft legte der SRSG im Januar 2001 in einem Brief an die OSZE Mission im Kosovo dar: „(...) First, the merits of the case must be strong enough to warrant executive action. Second, it must be established that an unfavourable result, such as a release of a suspect from detention, would pose a menace to public security. Finally, there must be a basis to believe that allowing the case to proceed without executive intervention would result in manipulation of the case by involved officials“ (zitiert nach OMIK, 2. Criminal Justice Review (2001), S. 17, und OMIK, 3. Criminal Justice Review (2001), S. 33 Fn. 61, Hervorhebungen übernommen). O’Neill, Kosovo (2002), S. 86. Zeqiri war bereits zuvor dreimal von KFOR-Einheiten festgenommen worden, davon zweimal wegen Bedrohung von Serben (Hartmann, Int’l. Judges (2003), S. 9). 1658 1659 O’Neill, Kosovo (2002), S. 86; OMIK, 2. Criminal Justice Review (2001), S. 17. 1660 OMIK, 2. Criminal Justice Review (2001), S. 17 f. Grundlage war UNMIK/REG/2001/2 vom 12.1.2001, der internationalen Staatsanwälten die Wiederaufnahme bereits rechtskräftig eingestellter Ermittlungs- und Strafverfahren ermöglichte. Hartmann, Int’l. Judges (2003), S. 9. (Hartmann war der internationale Staatsanwalt, welcher die Ermittlungen gegen Zeqiri führte.) 1661 1662 Chesterman, You, The People (2004), S. 168. 1663 Siehe insbesondere OMIK, 2. Criminal Justice Review (2001), S. 16-18; und OMIK, 3. Criminal 361 UNMIK geschaffene Ombudsperson-Institution1664 kam es seit Dezember 2001 nicht mehr zu weiteren Haftanordnungen durch den SRSG.1665 Dagegen beruft sich KFOR weiterhin unmittelbar auf Resolution 1244 (1999), um Personen auch ohne Haftbefehl oder gar entgegen richterlicher Anordnung festzuhalten, die aus Sicht der KFOR eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit darstellen. Nach Auffassung der KFOR ist sie nach § 7 der Sicherheitsratsresolution sowie nach dem mit Jugoslawien abgeschlossenen Militärtechnischen Abkommen1666 befugt, alle Maßnahmen zu ergreifen, um die ihr nach § 9 lit. c) und d) übertragene Aufgabe zu erfüllen, ein „secure environment“ herzustellen sowie „public safety and order“ zu garantieren.1667 Auslöser für die Praxis war unter anderem die Erfahrung, dass in der Frühzeit der UN-Verwaltung Straftäter durch kosovarische Gerichte wieder freigelassen wurden, obwohl sie von NATO-Soldaten bei erheblichen Straftaten beobachtet worden waren.1668 Zu zahlreichen Festnahmen kam es insbesondere im Zusammenhang mit den bewaffneten Auseinandersetzungen albanischer Extremisten mit örtlichen Sicherheitskräften im süd-serbischen Presovo-Tal sowie im nördlichen Mazedonien Anfang 2001.1669 Doch auch außerhalb akuter Krisensituationen wie den Justice Review (2001), S. 32-36. 1664 Siehe insbesondere Ombudsperson Kosovo, 3. Special Report (2001). 1665 OMIK, 5. Criminal Justice Review (2003), S. 33. Auch im jüngsten Bericht OMIK, 6. Criminal Justice Review (2004) von Dezember 2004 wird keine Anordnung von Exekutivhaft durch des SRSG erwähnt. 1666 Military-technical Agreement between the international security force (KFOR) and the Governments of the Federal Republic of Yugoslavia and the Republic of Serbia vom 9.6.1999, abgedr. als Annex zu S/1999/682 vom 15.6.1999. 1667 Siehe die in OMIK, 3. Criminal Justice Review (2001), S. 37, wiedergegebene Argumentation der KFOR. Dies bestätigend Guillaume, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the Intl. Community (2002), S. 262 f., der als juristischer Mitarbeiter des frz. Verteidigungsministeriums in weiten Teilen die offizielle Linie der KFOR vertritt. O’Neill, Kosovo (2002), S. 85 f. Lt. Hartmann, Int’l. Judges (2003), S. 7, wurden Personen, die während der bewaffneten Unruhen in Mitrovica im Februar 2000 auf französische KFOR-Soldaten geschossen hatten, am nächsten Tag von kosovarischen Richtern wieder freigelassen. Zu den Schwierigkeiten mit der Unparteilichkeit der Gerichte siehe bereits oben 4.Kp. E.II.3.b. In geringerem Maße hatten auch die INTERFET-Truppen in Osttimor solche Probleme (siehe Kelly (u.a.), IRRC 83 (2001), 101 [131]). 1668 1669 Zu dieser Zeit waren bis zu 200 Personen von der KFOR festgesetzt worden. Auch nach den Unruhen im März 2004 stieg die Zahl der von KFOR festgesetzten Personen wieder an. Siehe OMIK, 5. Criminal Justice Review (2003), S. 33; und CoE-Venice Commission, Human Rights in Kosovo (2004), §§ 52 f. 362 Unruhen im März 2004 sind diese so genannten „COMKFOR-Holds“ gängige Praxis, auch wenn ihre Zahl seit 2001 deutlich abgenommen hat.1670 Begründung war teilweise auch, dass die Festnahmen aufgrund geheimdienstlicher Erkenntnisse erfolgten, deren Geheimhaltung unter allen Umständen gewahrt werden müsse.1671 Insgesamt wurden bis April 2003 gut 3.500 Personen vorübergehend im KFORGefängnis im US-amerikanischen Camp Bondsteel festgehalten.1672 2. Die völkerrechtlichen Vorgaben Die Anordnung von Exekutivhaft durch eine UN-Gebietsverwaltung oder vom Sicherheitsrat bevollmächtigte Dritte ist völkerrechtlich insbesondere an Art. 9 IPbürgR zu messen, der als autoritative Konkretisierung des Art. 1 Ziff. 3 SVN auch vom Sicherheitsrat gemäß Art. 24 Abs. 2 Satz 1 SVN zu beachten ist.1673 Art. 9 IPbürgR enthält zwei relevante Gewährleistungen – zum einen das Verbot willkürlicher Verhaftung, zum anderen das Recht auf unverzügliche richterliche Haftprüfung. Nach Art. 9 Abs. 1 IPbürgR darf niemand ohne gesetzliche Grundlage oder willkürlich seiner persönlichen Freiheit beraubt werden.1674 Was eine hinreichende gesetzliche Grundlage ist, richtet sich maßgeblich nach den 1670 OMIK, 5. Criminal Justice Review (2003), S. 33 f. Lt. CoE-Venice Commission, Human Rights in Kosovo (2004), § 53, befand sich im Oktober 2004 indes niemand mehr in KFOR-Exekutivhaft, nachdem die Zahlen im Zuge der Unruhen im April 2004 noch einmal angestiegen waren. 1671 OMIK, 4. Criminal Justice Review (2002), S. 48 f., mit weiteren Argumenten der KFOR. Auch der SRSG begründete die Inhaftierung der als Bombenattentäter vom Februar 2001 verdächtigten Personen mit geheimdienstlichen Erkenntnissen, die nicht veröffentlicht werden dürften (kritisch OMIK, ebenda, S. 45 f.). 1672 OMIK, 5. Criminal Justice Review (2003), S. 34. 1673 Gleiches gilt zwar auch für die Art. 8 und 9 AEMR, die jedoch wesentlich allgemeiner gehalten sind als die detaillierte Regelung des Art. 9 IPbürgR und daher im Folgenden vernachlässigt werden können. Die OSZE Mission im Kosovo und der Ombudsmann im Kosovo greifen wesentlich auch auf Art. 5 EMRK und die zugehörige Rspr. des EGMR zurück. Soweit beide Normen deckungsgleich sind, ist dies unproblematisch. Allerdings sind auf eine Organisation mit universeller Mitgliedschaft grundsätzlich primär jene völkerrechtlichen Normen anzuwenden, die ebenfalls weltweite Geltung besitzen (so zu Recht Hobe/Griebel, in: FS Ress (2005), S. 146). Eine unmittelbare Bindung der UNMIK an die EMRK lässt sich letztlich nur im Wege der Selbstverpflichtung begründen. Für UNMIK folgt eine solche bis zu einem gewissen Grad aus Sec. 1.3 UNMIK/REG/1999/24 vom 12.12.1999 und aus Sec. 3.2 des sog. constitutional framework (UNMIK/REG/2001/9 vom 15.5.2001), das allerdings nur die kosovarischen Selbstverwaltungsorgane zur Beachtung der EMRK verpflichtet. Die Begriffe Festnahme und Haft („arrest or detention“) sind weit zu verstehen und umfassen jede Form der Freiheitsentziehung, also auch die Zwangseinweisung in ein Krankenhaus oder 1674 363 Anforderungen der betroffenen innerstaatlichen Rechtsordnung.1675 Zumindest aber ist eine abstrakt-generelle Regelung zu verlangen, die vor der Ingewahrsamnahme in Kraft trat,1676 und von der der Einzelne im Vorfeld Kenntnis nehmen konnte.1677 Im Falle einer UN-Verwaltung würde zumindest eine in die Landessprachen übersetzte und amtlich veröffentlichte Verordnung (regulation) diesen Anforderungen genügen.1678 Willkürlich ist eine Festnahme auch dann, wenn sie zwar gesetzmäßig erfolgte, aber in Anbetracht der Umstände des Falles nicht erforderlich oder unverhältnismäßig ist.1679 Prozessual flankiert wird dieses Verbot durch das Recht auf unverzügliche richterliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Inhaftierung. Art. 9 Abs. 3 Satz 1 IPbürgR enthält eine Sonderregel für Personen, die zum Zwecke der Strafverfolgung festgesetzt werden. Sie sind umgehend („promptly“ beziehungsweise „dans le plus court delai“) einem Richter vorzuführen, wobei umgehend nach Ansicht des Menschenrechtsausschuss „binnen weniger Tage“ bedeutet.1680 Art. 9 Abs. 4 IPbürgR gibt jedem Inhaftierten, unabhängig von Haftgrund und gesetzlicher Grundlage der Haft, das Recht, die unverzügliche („without delay“ beziehungsweise „sans delai“) Überprüfung seiner Festsetzung durch ein Gericht zu beantragen. Einerseits muss dem Betroffenen unverzüglich die Gelegenheit gegeben werden, einen solchen Antrag zu stellen, andererseits muss das Gericht auf diesen Antrag hin auch unverzüglich entscheiden.1681 Ab welcher Frist ein Verstoß gegen Art. 9 Abs. 4 Pflegeheim (Nowak, CCPR Commentary (1993), Art. 9 Rn. 21). 1675 Schilling, Menschenrechtsschutz (2004), Rn. 43. 1676 Dinstein, in: Henkin (Hrsg.), Bill of Rights (1981), S. 129 m.w.N. Weitergehend Nowak, CCPR Commentary (1993), Rn. 27, der ein formales Parlamentsgesetz verlangt. 1677 Zu diesem insbesondere vom EGRM aufgestellten Publikationserfordernis siehe Schilling, Menschenrechtsschutz (2004), Rn.135 u. 44 f. m.w.N. 1678 Siehe z.B. UNMIK/REG/1999/26 vom 22.12.1999 zur Verlängerung der Untersuchungshaft. 1679 HRC, van Alphen v. The Netherlands (1990), § 5.8. 1680 HRC, General Comment No. 8 (1982), § 2. Nach HRC, Borisenko v. Hungary (Entscheidung v. 14.10.2002), § 7.4, verstößt eine Frist von drei Tagen bereits gegen Art. 9 Abs. 3 Satz 1 IPbürgR, wenn sie nicht sachlich begründet werden kann. EGMR, Brogan and others v. United Kingdom (1988), § 62, hielt konkret in dem betroffenen Verfahren Großbritanniens gegen einen mutmaßlichen nordirischen Terroristen einen Zeitraum von etwas über vier Tagen für zu lang. 1681 So der EGMR in st. Rspr. zum weitgehend deckungsgleichen Art. 5 Abs. 4 EMRK. Siehe z.B. 364 IPbürgR vorliegt, hängt insbesondere davon ab, ob die Inhaftierung auf einer richterlichen Anordnung beruht, sie also bereits einer unabhängigen Kontrolle unterzogen wurde oder nicht. Ersterenfalls kann auch eine Entscheidung binnen zwei Wochen noch fristgemäß sein.1682 Liegt der Festsetzung wie im Falle der Exekutivhaft lediglich ein Beschluss der Verwaltung zugrunde, entspricht die Frist der des Art. 9 Abs. 3 Satz 1 IPbürgR.1683 Sowohl im Falle des Art. 9 Abs. 3 Satz 1 IPbürgR wie in dem des Abs. 4 muss der mit der Haftprüfung befasste Spruchkörper unabhängig von der Exekutive beziehungsweise der Anklagebehörde sein und den Fall objektiv und unvoreingenommen würdigen können.1684 Bevor untersucht werden kann, inwieweit die geschilderte Praxis exekutiver Inhaftierungen mit anwendbarem Völkerrecht vereinbart werden kann, ist zunächst der völkerrechtliche Status des Verbots willkürlicher Verhaftungen und des Rechts auf unverzügliche Haftprüfung zu klären. Er ist nach der hier vertretenen Auffassung einer abgestuften Bindung des Sicherheitsrates an Menschenrechte für den Grad der Verpflichtung einer UN-Zwangsverwaltung entscheidend.1685 Beide hier diskutierten Menschenrechte sind in allen umfassenden Menschenrechtsinstrumenten enthalten und auch im bewaffneten Konflikt zu beachten.1686 Ferner haben die genannten Menschenrechte mittlerweile gewohnheitsrechtliche Geltung erlangt.1687 Obwohl sie EGMR, Rehbock v. Slovenia (2000), § 84; ferner Schilling, Menschenrechtsschutz (2004), Rn. 156. 1682 Nowak, CCPR Commentary (1993), Art. 9 Rn. 45 m.w.N. Ähnlich EGMR, Iğdeli v. Turkey (2002), § 34, zum deckungsgleichen Art. 5 Abs. 4 EMRK, ferner Schilling, Menschenrechtsschutz (2004), Rn. 156. 1683 1684 HRC, Kulomin v. Hungary (1996), § 11.3, der einen Staatsanwalt nicht als unabhängige Amtsperson i.S.d. Art. 9 Abs. 3 Satz 1 IPbürgR ansieht; ferner Grote, in: Weissbrodt/Wolfrum, Fair Trial (1997), S. 707. Weitere Nachweise zur diesbzgl. Rspr. des EGMR bei Schilling, Menschenrechtsschutz (2004), Rn. 154. 1685 Zur Herleitung der absoluten Verpflichtung des Sicherheitsrates, die zwingenden Grundwerte der internationalen Gemeinschaft zu achten, und die ihm unter Kapitel VII der Charta eingeräumte Möglichkeit, in engen Grenzen zum Zwecke der Friedenssicherung von nicht zwingenden Menschenrechten abzuweichen, siehe ausf. 4.Kp. A.-D. 1686 Neben den bereits erwähnten Art. 9 IPbürgR werden sie auch von Art. 8 und 9 AEMR, Art. 5 Abs. 1 u. 3 EMRK, Art. 7 AmMRK, Art. 6 der AfrCHPR gewährleistet. Zu ihrer Gewährleistung in den vier Genfer Konventionen von 1949 siehe Paust, in: Heere (Hrsg.), Terrorism and the Military (2003), S. 185-187. American Law Inst., Restatement III (1987), § 702 Reporters’ note 2; Ledure, RBDI 27 (1994), 632 (660 f.); Paust, in: Heere (Hrsg.), Terrorism and the Military (2003), S. 182 u. 184 (mit 1687 365 nach den einschlägigen Menschenrechtskonventionen nicht zu den notstandsfesten Rechten gehören, zählt sie der Menschenrechtsausschuss des IPbürgR zu den zwingenden Rechten.1688 Begründet wird dies mit einem Verweis auf das humanitäre Völkerrecht, das ebenfalls die Beachtung dieser Rechte vorschreibe. Wenn aber das Verbot willkürlicher Verhaftung und das Recht auf unverzügliche Haftprüfung auch in einem bewaffneten Konflikt als dem schlimmsten aller denkbaren Ausnahmezustände zu beachten sei, müsste dies erst recht in allen übrigen Notstandssituationen gelten.1689 Weiteres Argument ist der Charakter des Rechts auf unverzügliche Haftprüfung als prozedurale Absicherung von Menschenrechten wie dem Folterverbot, die unzweifelhaft zwingenden Charakters sind.1690 Dies erscheint jedoch angesichts der expliziten Derogationsmöglichkeiten in den einschlägigen Menschenrechtsverträgen als zu weitgehend.1691 Zum einen ist auch das humanitäre Völkerrecht nicht in allen Teilen zwingenden Charakters.1692 Der als zwingend anerkannte gemeinsame Art. 3 der Genfer Konventionen enthält indes kein explizites Recht auf unverzügliche Haftprüfung. Zum anderen fehlt es an klaren Nachweisen zu einschlägiger US-amerikanischer Rechtsprechung); ferner Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht (1992), S. 301 (für das Verbot willkürlicher Verhaftung). 1688 HRC, General Comment No. 24 (1994), § 8; HRC, General Comment No. 29 (2001), § 16 (mit kritischer Anmerkung Olivier, Leiden JIL 17 (2004), 405-419); ferner auch IACHR, Coard et al. v. United States (1999), § 55. Zustimmend OMIK, 3. Criminal Justice Review (2001), S. 34. Eine Derogation erlauben dagegen grundsätzlich Art. 4 Abs. 1 IPbürg, Art. 15 Abs. 1 EMRK und Art. 27 Abs. 1 AmMRK. AEMR und AfrCHPR verfügen nicht über eine Notstandsklausel. 1689 HRC, General Comment No. 29 (2001), § 16. Relevante Normen des humanitären Völkerrechts sind insbesondere Art. 5 GK III; Art. 43 Abs. 1 u. 78 Abs. 2 GK IV. Dass nicht ohne Weiteres von den Gewährleistungen des humanitären Völkerrechts auf einen unter allen Umständen zu beachtenden menschenrechtlichen Mindeststandard geschlossen werden darf, zeigt Olivier, Leiden JIL 17 (2004), 405 (407 f. u. 413). 1690 HRC, General Comment No. 29 (2001), § 15. In diese Richtung auch EGMR, Aksoy v. Turkey (1996), § 76, und IACHR, Coard et al. v. United States (1999), § 55. Zum Folterverbot als zwingende Norm des Völkerrechts siehe ICTY, Prosecutor v. Furundžija (1998), § 153; House of Lords, Regina v. Bartle and the Commissioner of Police for the Metropolis and others ex parte Pinochet, Urteil vom 24.3.1999, abgedr. in ILM 38 (1999), 581 (589, 626 u. 649); Frowein/Kühner, ZaöRV 43 (1983), 537 (543); Kooijmans, UN Torture Report (1986), § 3; American Law Inst., Restatement III (1987), § 702 (d) und Kommentare f.) und j.); Kühner, Torture, EPIL IV (2000), S. 870; Cassese, JICJ 2 (2004), 872 (873); Gaeta, JICJ 2 (2004), 785 (787). Ausführlich zur Auslegung des Folterbegriffes und zum Umfang seiner zwingenden Geltung auch Hannikainen, Peremptory Norms (1988), S. 504-513. Zu den rechtlichen Folgen des ius cogens-Status siehe de Wet, EJIL 15 (2004), 97-121. 1691 Zu den Derogationsklauseln siehe die Nachweise oben in Fn. 1688. 1692 Siehe dazu bereits oben 4.Kp. E.I.3 m.w.N. 366 Anzeichen für die von Art. 53 WVK geforderte Überzeugung der Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit. So genügt die Staatenpraxis vielfach noch nicht einmal in Friedenszeiten den Anforderungen von Art. 9 IPbürgR.1693 Im Zuge der Terrorbekämpfung nach dem 11. September 2001 haben eine Reihe von Staaten das Recht auf richterliche Haftprüfung teilweise erheblich eingeschränkt.1694 Auch der EGMR hat anerkannt, dass im Zuge der Terrorbekämpfung gewissen Einschränkungen des Rechts auf unverzügliche Haftprüfung zulässig sein können.1695 Nach dem gegenwärtigen Stand des Völkerrechts kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass das Verbot willkürlicher Freiheitsentziehung und das Recht auf eine unverzügliche Haftprüfung zwingenden Charakters sind.1696 Beide Menschenrechte sind aber in Gestalt des Art. 9 IPbürgR für den Sicherheitsrat als autoritative Konkretisierung seiner menschenrechtlichen Verpflichtungen aus Art. 24 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Ziff. 3 SVN verbindlich. Aufgrund des in Art. 1 SVN niedergelegten Vorrangs der Friedenssicherung ist ihm im Einzelfall in engen Grenzen ein Abweichen erlaubt. Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden geprüft werden, inwieweit die im Kosovo praktizierte Anordnung von Exekutivhaft völkerrechtskonform ist. 1693 Grote, in: Weissbrodt/Wolfrum, Fair Trial (1997), S. 724. 1694 So hat die britische Regierung den Europarat 2001 über das Bestehen eines öffentlichen Notstands i.S.d. Art. 15 Abs. 1 EMRK unterrichtet und deshalb die Rechte aus Art. 5 Abs. 1 EMRK eingeschränkt. (abgedr. in HRLJ 22 (2001), 465 f.). Das House of Lords rügte dies mit dem Argument, ein Notstand läge tatsächlich nicht vor (House of Lords, A (FC) and other (FC) v. Secretary of State for the Home Department, [2004] UKHL 56 vom 16.12.2004, abrufbar unter <www.publications.parliament.uk/pa/ld200405/ldjudgmt/jd041216/a&others.pdf>. Zur spanischen Anti-Terror-Gesetzgebung siehe den kritischen Bericht von Human Rights Watch, Setting an Example? (2005), zur amerikanischen Praxis im Gefangenenlager auf dem Militärstützpunkt Guantanamo Bay auf Kuba siehe beispielsweise Seidel, AVR 41 (2003), 449 (471-474); Amann, Columbia J.T.L. 42 (2004), 263-348, und Tams, AVR 42 (2004), 445-466. 1695 EGMR, Brogan and others v. United Kingdom (1988), § 61; EGMR, Brannigan and McBride v. The United Kingdom (1993), § 60. In diese Richtung auch EGMR, Öcalan v. Turkey (2003), § 106, der allerdings betont, dass dies keinen Freibrief für die betroffenen Staaten bedeute. 1696 So auch Hannikainen, Peremptory Norms (1988), S. 440; und Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht (1992), S. 301. 367 3. Die Vereinbarkeit von UN-Exekutivhaft mit dem Verbot willkürlicher Freiheitsentziehung (Art. 9 Abs. 1 IPbürgR) Die Anordnung von Exekutivhaft unter unmittelbarem Rückgriff auf die Befugnisse aus der Resolution 1244 (1999) ist sowohl hinsichtlich des Rechts auf unverzügliche Haftprüfung (d.) als auch hinsichtlich des Verbots willkürlicher Freiheitsentziehung bedenklich. Zwar ist die Annahme einer grundsätzlichen Befugnis von SRSG und KFOR zur Inhaftierung von Personen aus Gründen der öffentlichen Sicherheit vom Wortlaut der Resolution gedeckt. Denn Resolution 1244 (1999) betraut sowohl die „international security presence“ (KFOR) als auch die „international civil presence“ (UNMIK) umfassend mit der Wiederherstellung und Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung („public“ respektive „civil law and order“) auf dem Gebiet des Kosovo.1697 Auch ist Art. 9 Abs. 1 IPbürgR kein generelles Verbot der Exekutivhaft aus Sicherheitsgründen zu entnehmen. Da nach der Spruchpraxis des Menschenrechtsausschusses eine Freiheitsentziehung aber nur dann nicht willkürlich ist, wenn sie nach den Umstände des Einzelfalles erforderlich und angemessen ist,1698 sind ihr in der Praxis jedoch enge Grenzen gesetzt. Ferner wird die Resolution 1244 (1999) allein nicht dem von Art. 9 Abs. IPbürgR postulierten Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage der Haft gerecht. Sie enthält – wie auch die Resolution 1272 (1999) zur UNTAET – keinerlei Hinweise auf ein Festnahmerecht des SRSG, geschweige denn entsprechende Verfahrensvorschriften. Auch die Feststellung der UNMIK-Verordnung 1999/1, demzufolge der SRSG alle legislativen, exekutiven und judikativen Befugnisse auf dem Gebiet des Kosovo 1697 Siehe § 9 lit. c) und d) sowie § 11 lit. i) S/RES/1244 (1999) vom 10.6.1999. Allerdings ließe sich argumentieren, dass aus dem Wortlaut von § 9 lit. d) S/RES/1244 (1999) – „ensuring public law and order until the international civil presence can take responsibility for this task“ – folge, dass KFOR nur bis zur Einrichtung eines funktionierenden Polizei- und Justizwesens berechtigt gewesen sei, polizeilich tätig zu werden (in diese Richtung OMIK, 5. Criminal Justice Review (2003), S. 33). Doch auch die von KFOR vertretene Auffassung, dass diese Befugnis wieder auflebe, soweit die zivilen Behörden im Einzelfall nicht bereit oder in der Lage wären, diese Aufgabe zu erfüllen (vgl. Sec. 4.a. der KFOR Directive 42), lässt sich mit dem Wortlaut vereinbaren (i.E. auch CoE-Venice Commission, Human Rights in Kosovo (2004), § 125). Siehe zum Ganzen OMIK, 4. Criminal Justice Review (2002), S. 47. Guillaume, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the Intl. Community (2002), S. 260-263, stützt die Befugnis der KFOR zur Polizeiarbeit ferner auf das Militärtechnische Abkommen der KFOR mit Jugoslawien vom 9.6.1999. Expliziter wird § 4 S/RES/1272 (1999), die UNTAET in Osttimor berechtigte, „all necessary means“ zur Erfüllung ihrer Aufgaben anzuwenden. 1698 Siehe oben Fn. 1679 und zugehörigen Text. 368 ausübt, reicht nicht aus. Die genannten Rechtsakte sind so allgemein gehalten, dass für den Einzelnen in keiner Weise erkennbar ist, dass sie zu seiner Inhaftierung berechtigen.1699 Auch ist kaum denkbar, dass ein Verzicht auf das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage aus Notstandsgesichtspunkten (Art. 4 Abs. 1 IPbürgR) oder zur Friedenssicherung erforderlich sein könnte. Gerade weil der Leiter einer Zwangsverwaltung alle Staatsgewalten in seinen Händen hält,1700 ist er in der Lage, schnell und ohne langwieriges parlamentarisches Verfahren die notwendigen gesetzlichen Voraussetzungen zu schaffen. Allenfalls in der Anfangszeit der UNVerwaltung im Kosovo ist die Erforderlichkeit einer Inhaftierung ohne gesetzliche Grundlage denkbar, da der UN zu diesem Zeitpunkt noch die Erfahrung mit der Verwaltung von Krisengebieten fehlte, und man die praktische Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung somit erst erkannte, als es für den konkreten Fall bereits zu spät war. In allen nachfolgenden Fällen und bei einer Verlängerung der Haft war UNMIK als Unterorgan des Sicherheitsrates aus Art. 24 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Ziff. 3 SVN gemäß Art. 9 Abs. 1 IPbürgR verpflichtet, nur auf hinreichender gesetzlicher Grundlage Exekutivverhaftungen vorzunehmen. Da bis heute eine entsprechende Verordnung fehlt, verstießen die nachfolgenden Anordnungen gegen das Verbot willkürlicher Freiheitsentziehung.1701 Die KFOR hat mittlerweile mit KFOR Directive 42 eine rechtliche Grundlage für die von ihr durchgeführten Festnahmen geschaffen.1702 1699 Zur Vorhersehbarkeit als Kriterium für eine hinreichende gesetzliche Grundlage i.S.d. Art. 9 Abs. 1 IPbürgR siehe Schilling, Menschenrechtsschutz (2004), Rn.135 u. 44 f. m.w.N. 1700 Siehe Sec. 1.1 UNMIK/REG/1999/1 vom 25.7.1999 für UNMIK, ferner §§ 1 u. 6 S/RES/1272 (1999) vom 25.10.1999. 1701 UNMIK/REG/2001/18 on the establishment of a detention review commission for extra-judicial detentions based on executive orders vom 25.8.2001 schafft lediglich die rechtlichen Voraussetzung für eine Überprüfung der Exekutivhaft, nicht aber eine Rechtsgrundlage für die Haftanordnung selber (so zu Recht OMIK, 3. Criminal Justice Review (2001), S. 33). Sec. 2 UNMIK/REG/1999/2 vom 12.8.1999 erlaubt lediglich eine Sicherungshaft von bis zu 12 Stunden, kann somit nicht Rechtsgrundlage für darüber hinausgehende Freiheitsentziehungen sein. 1702 Diese sog. COMKFOR Detention Directive 42 vom 9.10.2001, geändert am 12.7.2004, löste eine 369 Für weitere UN-Verwaltungsmissionen erscheint es daher im Hinblick auf das Verbot willkürlicher Verhaftungen sinnvoll, auf Exekutivhaft entweder generell zu verzichten, oder gleich zu Beginn eine entsprechende Verordnung zu erlassen. Dabei kann auch auf das Recht der kriegerischen Besetzung zurückgegriffen werden, welches in Art. 78 GK IV das Recht der Besatzungsmacht enthält, Personen aus Sicherheitsgründen zu internieren, und in seinem Absatz 2 sowie in den folgenden Artikeln detailliert die Behandlung dieser Internierten regelt. 4. Die Vereinbarkeit von UN-Exekutivhaft mit dem Recht auf unverzügliche Haftprüfung (Art. 9 Abs. 3 und 4 IPbürgR) Sofern nicht im Einzelfall der Vorrang der Friedenssicherung nach Art. 1 SVN greift, ist eine UN-Zwangsverwaltung grundsätzlich gehalten, Festnahmen binnen weniger Tage durch Richter oder entsprechend ermächtigte unabhängige Amtspersonen überprüfen zu lassen. Dies gilt unabhängig davon, ob die Exekutivhaft zum Zwecke der Strafverfolgung (Art. 9 Abs. 3 IPbürgR) oder allein zu anderen Zwecken erfolgt, insbesondere zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit. Ein Unterschied besteht nur insoweit, als der Untersuchungshäftling nach Art. 9 Abs. 3 IPbürgR von Amts wegen einem Richter vorzuführen ist, während bei einer Inhaftierung aus sonstigen Gründen dem Betroffenen lediglich unverzüglich die Gelegenheit gegeben werden muss, eine gerichtliche Überprüfung zu beantragen. Hinsichtlich der auf seine Anweisung hin in Haft genommenen Personen hat der SRSG mit der Verordnung 2001/18 die Möglichkeit geschaffen, die Inhaftierung durch ein so genanntes Detention Review Panel überprüfen zu lassen.1703 Dieses vom SRSG ernannte Gremium sollte auf der Grundlage international anerkannter Menschenrechtsstandards die Inhaftierungen überprüfen und sie gegebenenfalls verlängern oder aufheben.1704 Zum Zwecke des Schutzes geheimdienstlicher Quellen ältere interne Anordnung (FRAGO 997) ab. Zu dieser Militärverordnung siehe OMIK, 4. Criminal Justice Review (2002), S. 46; ferner CoE-Venice Commission, Human Rights in Kosovo (2004), § 129. 1703 UNMIK/REG/2001/18 vom 25.8.2001. 1704 Zu diesem Zweck zählte Sec. 6.1 UNMIK/REG/2001/18 eine Reihe von Haftgründen auf, zu denen neben Flucht- und Verdunkelungsgefahr auch die Gefahr künftiger Straftaten zählte. Die Haftgründe entsprechen weitgehend denen der deutschen Strafprozessordnung (vgl. §§ 112, 112a 370 oder bedrohter Zeugen durfte das Gremium auch unter Ausschluss des Betroffenen tagen.1705 Da das Detention Review Panel erst etliche Monate geschaffen wurde, nachdem die betroffenen Personen im Mai 2000 respektive im Februar 2001 auf Anordnung des SRSG in Haft genommen worden waren, wurde es schon aus diesem Grund den Anforderungen des Art. 9 Abs. 3 und 4 IPbürgR nicht gerecht. Schwierig erscheint auch der Umstand, dass alle seine Mitglieder vom SRSG selbst ernannt wurden, mithin von demjenigen Organ, dass die Inhaftierungen angeordnet hatte. Es wurde daher argumentiert, dass das panel nicht hinreichend unabhängig sei.1706 Da aber alle Richter im Kosovo vom SRSG als dem Inhaber der Verwaltungshoheit ernannt werden,1707 und die Verordnung 2001/18 keinerlei Weisungsbefugnis des SRSG gegenüber dem Gremium enthielt, erscheint diese Annahme nicht zwingend.1708 In der Praxis reiste das Gremium für einen Tag zur Verhandlung ins Kosovo, befand die angeordnete Exekutivhaft im Hinblick auf die ihm vorgelegten Informationen für zulässig und reiste wieder ab.1709 Als die Verordnung 2001/18 nach Ablauf ihrer drei-monatigen Gültigkeit nicht mehr verlängert wurde, ordnete der Kosovo Supreme Court als oberstes Gericht des UNMIK-verwalteten Kosovos im Januar 2002 die Freilassung der verbliebenen Exekutivhäftlinge an.1710 Nach der von der KFOR im Herbst 2001 erlassenen KFOR Directive 42 dürfen StPO). Sec. 6 UNMIK/REG/2001/18 fehlt aber das strenge Verhältnismäßigkeitserfordernis der deutschen Regelung. Eine Bindung des Detention Review Panel an Menschenrechte bestand insofern, als seine drei Mitglieder – internationale Persönlichkeiten, von denen zwei Richter sein mussten – sich in ihrem Amtseid zur Beachtung des „highest level of internationally recognised human rights standards“ verpflichteten (ebenda, Sec. 3). 1705 Sec. 5 UNMIK/REG/2001/18. 1706 OMIK, 3. Criminal Justice Review (2001), S. 34; Ombudsperson Kosovo, 4. Special Report (2001), § 17. 1707 Siehe Sec. 7 UNMIK/REG/2000/57 vom 6.10.2000; Sec. 1.1 UNMIK/REG/2001/2 vom 12.1.2001, sowie Sec. 9.4.8 UNMIK/REG/2001/9 vom 15.5.2001. Nach Sec. 6.2 UNMIK/REG/2000/38 vom 30.6.2000 wird auch die Ombudsperson vom SRSG ernannt. 1708 Auch ist die Abhängigkeit eines auswärtigen Richters, der quasi nur nebenberuflich auch für das Detention Review Panel tätig ist, gegenüber dem SRSG als eher gering einzuschätzen. Dennoch wäre es sicher sinnvoller gewesen, die Auswahl der Panel-Mitglieder einem unabhängigen Dritten zu überlassen. 1709 OMIK, 4. Criminal Justice Review (2002), S. 45 f. 1710 Siehe Qirezi, IWPR Balkans Crisis Rep. 308 (2002). Wer das Bombenattentat auf den mit Serben besetzten Bus im Februar 2001 begangen hatte, konnte bis heute nicht geklärt werden. 371 Personen auf Anordnung des Kommandeurs der KFOR (COMKFOR) oder der Kommandeure der vier regionalen Multinationalen Brigaden für bis zu drei Tage (72 Stunden) in Haft genommen werden.1711 Diese Frist entspricht der nach geltendem Recht zulässigen Dauer des Polizeigewahrsams im Kosovo.1712 Den Betroffenen ist der Grund ihrer Festnahme mitzuteilen. Ferner dürfen sie auf eigene Kosten eine Anwalt konsultieren.1713 Inhaftierungen über 72 Stunden hinaus sind nur auf Antrag des Rechtsberaters des KFOR-Kommandeurs zulässig, so dass auf diese Weise eine rechtliche Prüfung durch einen allerdings weisungsgebundenen Militärjuristen erfolgt.1714 Diese Form der Haftprüfung entspricht indes noch nicht einmal den Vorgaben des humanitären Völkerrechts für die Inhaftierung von Zivilpersonen in Kriegszeiten, da Art. 43 Abs. 1 GK IV die kollektive Entscheidung eines Gremiums verlangt, dass zudem über eine hinreichende Unabhängigkeit verfügt.1715 Daher ist für eine Vereinbarkeit mit Art. 9 IPbürgR wenigstens zu verlangen, dass die Inhaftierungen durch ein weisungsungebundenes Gremium von Militärrichtern überprüft werden.1716 KFOR Directive 42 verstößt daher gegen Art. 9 Abs. 3 und 4 IPbürgR, an die auch die KFOR-Einheiten gebunden sind, soweit sie ihre Befugnisse aus der Resolution 1244 (1999) des Sicherheitsrates ableiten.1717 1711 OMIK, 4. Criminal Justice Review (2002), S. 50. 1712 OMIK, 4. Criminal Justice Review (2002), S. 50 f. Siehe die Darstellung der rechtlichen Regelung nach dem bis April 2004 anwendbaren jugoslawischen Recht bei OMIK, 2. Criminal Justice Review (2001), S. 19 f., ferner Art. 212 Abs. 4 des nunmehr geltenden Provisional Criminal Procedure Code of Kosovo (UNMIK/REG/2003/26 vom 6.7.2003). Auch in Osttimor mussten Inhaftierte spätestens nach 72 Stunden einem Haftrichter vorgeführt werden (Sec. 20.1 UNTAET/REG/2000/30 vom 25.9.2000, ferner Othman, Nordic JIL 72 (2003), 449 [468 f.]). 1713 Sec. 7.1 KFOR Directive 42 (lt. OMIK, 5. Criminal Justice Review (2003), S. 34). 1714 CoE-Venice Commission, Human Rights in Kosovo (2004), § 129. 1715 Pictet, IV. Geneva Convention (1958), S. 260. Anders Guillaume, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the Intl. Community (2002), S. 275 Fn. 26, der davon ausgeht, dass das Vorgehen der KFOR den Vorgaben der GK IV weitgehend entspricht. 1716 CoE-Venice Commission, Human Rights in Kosovo (2004), § 130, schlägt als Interimslösung ein mit dem COMKFOR-Rechtsberater sowie zwei unabhängigen Juristen, vorzugsweise Richtern, besetztes Advisory Board vor. Siehe auch die von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates erhobenen Forderungen in § 6 CoE-PA-Res. 1417 (2005) on the Protection of Human Rights in Kosovo vom 25.1.2005, abrufbar unter <http://assembly.coe.int/Documents/AdoptedText/ta05/ ERES1417.htm >. 1717 KFOR leitet ihre Befugnisse zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit aber auch aus dem am 9.6.1999 mit der Bundesrepublik Jugoslawien und der Republik Serbien abgeschlossenen 372 Nur soweit Inhaftierte tatsächlich die Möglichkeit hätten, binnen 72 Stunden die Überprüfung ihrer Inhaftierung durch eine unabhängige, zu ihrer Freilassung befugte Stelle in einem ordnungsgemäßen, den Anforderungen des Art. 14 IPbürgR gerecht werdenden Verfahren zu veranlassen, wäre die Anordnung von Exekutivhaft durch SRSG und KFOR mit den Vorgaben des Art. 9 Abs. 3 und 4 IPbürgR vereinbar. Eine geringfügige Verlängerung der Frist wäre ebenfalls noch zulässig, soweit sie im Einzelfall sachlich begründet werden könnte.1718 Dagegen verstößt die Praxis, Personen in Exekutivhaft zu nehmen, deren Freilassung vom zuständigen Gericht rechtskräftig angeordnet wurde, in jedem Fall gegen Art. 9 IPbürgR.1719 Sie ließe sich ebenso wie eine wochen- oder gar monatelange Inhaftierung ohne richterliche Haftprüfung allenfalls unter dem Gesichtspunkt des Notstandes (Art. 4 IPbürgR) oder des Vorrangs der Friedenssicherung nach Art. 1 SVN rechtfertigen.1720 Dabei ist zwischen einer bloßen Verlängerung der Frist, bis die Anordnung von Exekutivhaft von einer unabhängigen Stelle überprüft wird, und dem völligen Verzicht auf eine Überprüfung zu unterscheiden. Grundsätzlich sind an eine Notstandsderogation von den Garantien des Art. 9 IPbürgR strenge Anforderungen zu stellen.1721 Dennoch kann im Einzelfall eine Verlängerung der Haftprüfungsfrist im Rahmen einer Notstandsregelung zulässig sein, beispielsweise wenn es zu wenige unabhängige oder unparteiische Richter gibt, weil das Justizwesen erst mühsam Militärtechnischen Abkommen ab (siehe dazu Guillaume, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the Intl. Community (2002), insbes. S. 244-247 und S. 259-263). Wie bereits im 4.Kp. C.I ausgeführt, ist es nach Art. 53 WVK (1969)/WVKIO (1986) rechtlich möglich, dass ein Staat einem anderen Völkerrechtssubjekt per völkerrechtlichem Vertrag Handlungen auf seinem Staatsgebiet erlaubt, die gegen geltende Menschenrechte verstoßen, solange diese nicht den Status zwingenden Rechts haben. Es würde indes den Rahmen dieser Arbeit sprengen, zu untersuchen, inwieweit besagtem Abkommen eine solche Befugnis zu entnehmen ist und inwieweit KFOR-Einheiten als Organe ihrer Entsendestaaten an Menschenrechte gebunden sind. Zu letzterem siehe ausf. Zwanenburg, Accountability (2004). 1718 In HRC, Freemantle v. Jamaica (2000), § 7.4, wurde eine Haftprüfung vier Tage nach der Inhaftierung nur „in absence of a justification“ als Verstoß gegen Art. 9 Abs. 3 IPbürgR gewertet. Das deutet darauf hin, dass bei Vorliegen sachlicher Gründe auch eine längere Frist noch zulässig sein könnte. Ähnlich auch HRC, Borisenko v. Hungary (Entscheidung v. 14.10.2002), § 7.4 (drei Tage). 1719 Siehe beispielsweise HRC, Masslotti and Baritussio v. Uruguay (1982), § 13. 1720 In der Tat berief sich der SRSG zur Begründung der von ihm angeordneten Exekutivhaft auch auf eine Notstandsderogation. Dazu kritisch OMIK, 3. Criminal Justice Review (2001), S. 35 f. 1721 HRC, Grille Motta v. Uruguay (1980), § 15. 373 wieder aufgebaut werden muss oder weil sich die Justiz massiven Einschüchterungsversuchen durch Terroristen oder Vertreter der organisierten Kriminalität ausgesetzt sieht.1722 Dagegen wird ein völliger Verzicht auf jegliche Haftprüfungsmöglichkeit zumindest bei längerer Inhaftierung auch in Notstandssituationen unzulässig sein.1723 Dafür spricht einerseits, dass das humanitäre Völkerrecht auch in der Krisensituation eines bewaffneten Konflikts ein solches Haftprüfungsrecht vorsieht.1724 So lässt das Recht der kriegerischen Besetzung die Inhaftierung von Personen aus zwingenden Sicherheitsgründen nur dann zu, wenn diese im Rahmen eines ordnungsgemäßen Verfahrens erfolgt und über Rechtsmittel der Betroffenen schnellstmöglich entschieden wird.1725 Andererseits wird ein völliger Verzicht in aller Regel nicht erforderlich sein, da eine UN-Verwaltung wie auch ein Staat mit zunehmendem Zeitablauf die tatsächliche Möglichkeit haben wird, durch geeignete Maßnahmen den Engpass zu beseitigen oder die erforderlichen Ermittlungen durchzuführen. Ein völliger Verzicht auf eine Haftprüfung lässt sich auch mit dem Argument des Geheimnisschutzes nicht begründen. Zwar ist es grundsätzlich ein legitimes Ziel, bestimmte Informationen aus Zeugenschutz oder geheimdienstlichen Gründen nicht öffentlich zu machen. Jedoch wird es einer UN-Verwaltung aufgrund ihrer umfassenden Kompetenzen auch in diesem Falle möglich sein, innerhalb eines überschaubaren Zeitraums die erforderlichen gerichtlichen Gremien und Verfahrensregeln zu schaffen, um angemessen mit sensiblen Informationen umgehen zu können. Dabei kann auf diesbezügliche Erfahrungen oder Praktiken der Mitgliedstaaten zurückgegriffen werden. Generell erscheint es sinnvoller, Abstriche bei den Verfahrensrechten des Betroffenen oder bei der Unabhängigkeit des Überprüfungsgremiums hinzunehmen, als gänzlich auf eine rechtliche Überprüfung 1722 Zu Einschränkungen im Rahmen der Terrorbekämpfung siehe beispielsweise EGMR, Brannigan and McBride v. The United Kingdom (1993), § 60 (7 Tage zulässig), und EGMR, Aksoy v. Turkey (1996), §§ 77 f. (14 Tage zu lang), zu Art. 5 EMRK. 1723 Siehe die in Fn. 1722 genannten Entscheidungen des EGMR, ferner OMIK, 3. Criminal Justice Review (2001), S. 36. 1724 Siehe insbesondere Art. 43 Abs. 1 GK IV. 374 der Exekutivhaft zu verzichten. Dem entspricht es, wenn Art. 78 Abs. 2 Satz 4 und Art. 43 Abs. 1 Satz 1 GK IV eine Überprüfung auch durch von der Besatzungsmacht bestellte Verwaltungsausschüsse oder Behörden zulassen, aber in jedem Fall eine solche Überprüfungsmöglichkeit fordern. 5. Ergebnis Im Ergebnis ist festzuhalten, dass auch eine vom Sicherheitsrat auf der Grundlage von Kapitel VII der Charta eingerichtete UN-Gebietsverwaltung oder entsprechend ermächtigte Dritte grundsätzlich gehalten sind, die Vorgaben des Art. 9 IPbürgR zu beachten. Soweit sie es für erforderlich halten, Personen zum Zwecke der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung auch ohne richterlichen Beschluss in Gewahrsam zu nehmen, bedarf es hierzu einer hinreichend detaillierten gesetzlichen Grundlage. Die allgemeinen Aufgabenzuweisungen in den bisherigen Sicherheitsratsresolutionen genügen den Anforderungen des Art. 9 Abs. 1 IPbürgR nicht. Ferner müssen die Betroffenen gemäß Art. 9 Abs. 4 IPbürgR1726 die Möglichkeit haben, ihre Festnahme binnen weniger Tage durch ein unabhängiges und hinreichend bevollmächtigtes Gremium überprüfen zu lassen. Ein Abweichen von diesen Vorgaben ist bei Verkündung eines Notstandes oder wegen des Vorrangs der Friedenssicherung nur im Hinblick auf eine Verlängerung der Fristen und eine Einschränkung der Rechte der Betroffenen im Überprüfungsverfahren zulässig. Eine erhebliche Verlängerung der zulässigen Verzögerung einer Haftprüfung ist dabei allenfalls in der Anfangsphase einer UNKrisengebietsverwaltung tolerabel, um den Zeitraum bis zum Aufbau eines hinreichend funktionstüchtigen Justizwesens zu überbrücken. Dagegen kann sich eine UN-Verwaltung weder auf das Vorliegen eines Notstandes, noch auf den Vorrang der Friedenssicherung berufen, um Individuen langfristig ohne unabhängige Haftprüfung ihrer Freiheit zu berauben. Eine solche Maßnahme kann nicht zur Friedenssicherung erforderlich sein, da eine UN-Verwaltung aufgrund ihrer 1725 Art. 78 Abs. 2 GK IV. 1726 Beziehungsweise nach Art. 9 Abs. 3 Satz 1 IPbürgR, soweit die Festnahme nicht präventiv, sondern in erster Linie repressiv, d.h. zum Zwecke der Strafverfolgung erfolgte. 375 umfassenden Befugnisse in der Lage sein muss, zumindest mittelfristig die notwendigen rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen für eine Haftprüfung zu schaffen. Ohnehin sind die Argumente für die Notwendigkeit, Personen über längere Zeit hinweg ohne Haftprüfung festzusetzen, mit Skepsis zu betrachten. So waren derartige Maßnahmen seitens der UNTAET in Osttimor nicht erforderlich und auch die australisch geführte INTERFET hat den von ihr vorgenommenen Inhaftierungen freiwillig die Regeln der IV. Genfer Konvention zugrunde gelegt, ohne dass dies das Ziel der Friedenssicherung gefährdet hätte.1727 Auch wenn man das vergleichsweise homogene und friedliche Osttimor nur eingeschränkt mit dem unter erheblichen ethnischen Spannungen und organisierter Kriminalität leidenden Kosovo vergleichen kann, ist doch bei der Annahme der vom SRSG und von KFOR vorgebrachten zwingenden Sicherheitserfordernisse Zurückhaltung geboten. IV. Rechtsschutz gegen Hoheitsakte der UN-Verwaltung selbst Die Frage der Überprüfbarkeit von Exekutivhaftanordnung ist jedoch nur ein Teilaspekt der sehr viel grundlegenderen Frage, ob nicht für alle Handlungen und Rechtsakte einer UN-Gebietsverwaltung die Möglichkeit einer unabhängigen gerichtlichen Überprüfung bestehen sollte. Das Fehlen einer solchen rechtlichen Kontrolle im Falle von UNMIK und UNTAET wird nicht nur in der juristischen Literatur weithin bemängelt.1728 Kritisiert wird nicht nur grundsätzlich die fehlende Gewaltenteilung innerhalb der UN-Missionen,1729 sondern auch die umfassende 1727 OMIK, 4. Criminal Justice Review (2002), S. 47 f.; Othman, Nordic JIL 72 (2003), 449 (469 f.). Zur Praxis der INTERFET siehe Kelly (u.a.), IRRC 83 (2001), 101 (130-136). INTERFET war in Osttimor ähnlich wie anfangs KFOR mit einem völlig dysfunktionalen Polizei- und Justizwesen konfrontiert. 1728 Siehe beispielsweise Irmscher, GYIL 44 (2001), 353 (374); Korhonen, Leiden JIL 14 (2001), 495 (500); Stahn, ZaöRV 61 (2001), 107 (161-165); Zimmermann/Stahn, Nordic JIL 70 (2001), 423 (448); Narten, HVR 17 (2004), 144 (148 f.); CoE-Venice Commission, Human Rights in Kosovo (2004), insbes. § 74 u. § 91, und die auf diesem Bericht beruhende Forderung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, einen Menschenrechtsgerichtshof für das Kosovo auf Basis der EMRK zu schaffen (§ 4 CoE-PA-Res. 1417 (2005) on the Protection of Human Rights in Kosovo vom 25.1.2005, abrufbar unter <http://assembly.coe.int/Documents/AdoptedText/ta05/ERES1417.htm>). 1729 Chopra, Survival 42 (2000), 27 (29); Wagner, VN 48 (2000), 132 (137); Stahn, Leiden JIL 14 (2001), 531 (561); von Carlowitz, AVR 41 (2003), 336 (346); Zygojannis, Die Staatengemeinschaft 376 Immunität, die sie ihren zivilen und militärischen Mitarbeitern gewähren,1730 sowie die bestenfalls eingeschränkt mögliche Anfechtbarkeit ihrer Verwaltungsakte vor unabhängigen Gerichten.1731 Für die Bewohner des Kosovo besteht derzeit keine umfassende Möglichkeit, gerichtlich gegen Rechtsakte der UNMIK selbst vorzugehen, durch die sie sich in ihren Rechten beeinträchtigt sehen. Lediglich die Handlungen und Rechtsakte der provisorischen Selbstverwaltungsinstitutionen unterliegen einer umfassenden gerichtlichen Kontrolle.1732 Hinsichtlich materieller Schäden und Einbußen durch Handlungen ihrer Mitarbeiter setzten UNMIK und KFOR unabhängig voneinander interne Claims Commissions ein, die den vorgebrachten Sachverhalt prüfen und gegebenenfalls Schadensersatz gewähren.1733 Im Übrigen können weder UNMIK noch KFOR vor ordentlichen Gerichten des Kosovo belangt werden. 1734 Angehörige der KFOR unterliegen allein der Jurisdiktion ihrer Entsendestaaten und auch der SRSG und von ihm im Einzelfall zu bestimmende hohe UNMIK-Beamte genießen und das Kosovo (2003), S. 219. In diese Richtung auch Oeter, in: FS Fleck (2004), S. 449 f. 1730 Ombudsperson Kosovo, 1. Special Report (2001); Brand, Nordic JIL 70 (2001), 461 (479); Stahn, ZaöRV 61 (2001), 107 (161); Narten, HVR 17 (2004), 144 (149); CoE-Venice Commission, Human Rights in Kosovo (2004), §§ 62-70, und jüngst § 5 (ix) CoE-PA-Res. 1417 (2005). Kritisch auch Morrow/White, Australian YBIL 22 (2002), 1 (23 f.), die darauf hinweisen, dass die Immunität auf dem Modell klassischer Friedensmissionen basiert, die keine Verwaltungskompetenzen ausüben. 1731 Brand, Nordic JIL 70 (2001), 461 (481 f.); Frowein, in: FS Rudolf (2001), S. 52 f. 1732 Nach Sec. 9.4.2 des sog. constitutional framework (UNMIK/REG/2001/9) vom 15.5.2001 steht allen, die sich durch Handlungen der kosovarischen (!) Exekutive in ihren Rechte verletzt sehen, der Rechtsweg offen. Bereits Sec. 35 UNMIK/REG/2000/45 vom 11.8.2000 sah ein Widerspruchsverfahren gegen Rechtsakte der Gemeinden vor, nach Sec. 36 UNMIK/REG/2000/45 stand darüber hinaus auch der Rechtsweg offen. Nach Sec. 9.4.11. UMIK/REG/2001/9 sollen auch Legislativakte des Parlaments (Assembly of Kosovo) von einer Sonderkammer (special chamber) des Kosovo Supreme Court auf ihre Vereinbarkeit mit dem constitutional framework geprüft werden können. Im Januar 2005 war diese Kammer aber noch immer nicht eingerichtet worden (siehe die Aufforderung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates in § 5 (i) CoE-PA-Res. 1417 (2005) vom 25.1.2005). 1733 Sec. 7 UNMIK/REG/2000/47 vom 20.8.2000. Kritisch zu den getroffenen Regelungen Ombudsperson Kosovo, 3rd Annual Report (2003), S. 4 f.; Narten, HVR 17 (2004), 144 (150); und CoEVenice Commission, Human Rights in Kosovo (2004), §§ 61 f. Zur Regelung der Schadensregulierung durch KFOR siehe Guillaume, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the Intl. Community (2002), S. 256-258. Siehe Sec. 2.1 und Sec. 3.1 UNMIK/REG/200/47 „on the status, privileges and immunities of KFOR and UNMIK and their personnel in Kosovo” vom 20.8.2000, in Auszügen wiedergegeben bei Stahn, ZaöRV 61 (2001), 107 (161 f., 163). 1734 377 absolute persönliche Immunität.1735 Die übrigen Angehörigen der UNMIK sowie lokale Mitarbeiter sind zumindest hinsichtlich ihrer dienstlichen Tätigkeit von der Zuständigkeit der kosovarischen Gerichte ausgenommen, wobei der SRSG ihre Immunität im Einzelfall aufheben kann.1736 Jedoch kann gegen einzelne Maßnahmen von UNMIK-Mitarbeitern vorgegangen werden, soweit sie sich auf das im Kosovo anwendbare Recht stützen und dieses solche Maßnahmen vorsieht. Denn auch UNMIK-Angehörige sind bei ihrer Amtsführung grundsätzlich an das anwendbare Recht gebunden.1737 So sieht beispielsweise die Verordnung 2000/64 die Möglichkeit einer Überprüfung von Platzverweisen durch einen Richter unabhängig davon vor, ob der Verweis durch einen UNMIK-Polizisten Polizeidienstes1738 oder ausgesprochen einen Angehörigen wurde.1739 Von der des kosovarischen oben besprochenen Exekutivhaft abgesehen, richtet sich die Inhaftierung von Personen nach der provisorischen Strafprozessordnung für das Kosovo, welche entsprechende Überprüfungsmöglichkeiten vorsieht.1740 Mittlerweile unterliegen auch eine Vielzahl der Rechtsakte der von UNMIK gegründeten Sonderbehörden einer gerichtlichen Kontrolle. Dies gilt beispielsweise für Maßnahmen der Kosovo Treuhand Agentur (KTA).1741 Mit der zunehmenden Übertragung von Kompetenzen auf die provisorischen Selbstverwaltungsinstitutionen ist mittlerweile auch die Zahl der Rechtsakte, die keinerlei unabhängiger Überprüfung zugänglich sind, stark 1735 Sec. 2.4 (KFOR) und 3.2 (UNMIK) UNMIK/REG/2000/47. 1736 Siehe Sec. 3.3 u. 6.1 UNMIK/REG/2000/47. 1737 Sec. 3.4 UNMIK/REG/2000/47. Dies gilt, soweit die Mandatserfüllung der KFOR dadurch nicht beeinträchtigt wird, auch für KFOR-Angehörige (ebenda, Sec. 2.2). 1738 Kosovo Police Service (KPS). 1739 Sec.3 UNMIK/REG/2000/62 vom 30.11.2000. Gleiches gilt für das Beschwerderecht nach Sec. 8 und 10 UNMIK/REG/2002/6 vom 18.3.2002 gegen eine Abhörmaßnahme im Rahmen einer Strafverfolgung. 1740 Siehe Art. 212 i.V.m. 281 (UNMIK/REG/2003/26 vom 6.7.2003). Provisional Criminal Procedure Code of Kosovo 1741 Lt. Sec. 30 UNMIK/REG/2005/18 vom 22.4.2005 ist für diese Verfahren die nach UNMIK/REG/2002/13 vom 13.6.2002 geschaffene Sonderkammer (special chamber) des Kosovo Supreme Court zuständig. 378 zurückgegangen.1742 Hinzu kommt, dass die Arbeit der UNMIK ebenso wie die der UNTAET – nicht zuletzt durch ihre regelmäßigen Berichte an den Sicherheitsrat – einer Kontrolle durch die internationale Gemeinschaft unterliegen, die deutlich umfangreicher ist als jene, denen die Verhältnisse in einzelnen Staaten normalerweise unterliegen.1743 Zudem hat die UNMIK bereits Mitte 2000 die Institution einer Ombudsperson für das Kosovo geschaffen, die im November des Jahres ihre Arbeit aufnahm.1744 Die Ombudsperson ist für alle Beschwerden über Menschenrechtsverletzungen durch UNMIK oder die kosovarischen Selbstverwaltungsorgane auf dem Gebiete des Kosovo zuständig und kann auch aus eigenem Antrieb tätig werden.1745 Ferner kann sie auch die Legislativakte der UNMIK und der kosovarischen Selbstverwaltungsorgane auf ihre Vereinbarkeit mit international anerkannten Menschenrechtsstandards prüfen.1746 Dagegen ist sie vorbehaltlich einer bis dato nicht abgeschlossenen gesonderten Vereinbarung nicht berechtigt, Handlungen der KFOR zu überprüfen.1747 Bislang hat sie knapp zweitausend Beschwerden erhalten, etwa 80 Abschlussberichte zu einzelnen Fällen angefertigt und eine Reihe von Denkschriften (special reports) zu einzelnen Sachfragen veröffentlicht.1748 1742 Siehe die Aufzählung der Kompetenzen der provisorischen Selbstverwaltungsinstitutionen (Provisional Institutions of Self-Government of Kosovo – PISG) bei CoE-Venice Commission, Human Rights in Kosovo (2004), § 134. 1743 So für UNMIK Wagner, VN 48 (2000), 132 (137); und Zygojannis, Die Staatengemeinschaft und das Kosovo (2003), S. 222-226. 1744 UNMIK/REG/2000/38 on the establishment of the Ombudsperson Institution in Kosovo vom 30.6.2000. Siehe auch ihre Internetpräsenz unter <www.ombudspersonkosovo.org>. Auch in Osttimor richtete UNTAET eine Ombudsperson ein, die allerdings über ein beschränkteres Mandat verfügte und lt. Chesterman, You, The People (2004), S. 149 f., insgesamt wenig effektiv war. 1745 Sec. 3.1 u. 3.2 UNMIK/REG/2000/38. 1746 Sec. 4.3 UNMIK/REG/2000/38. 1747 Sec. 3.4 UNMIK/REG/2000/38. 1748 Siehe die Jahresberichte der Ombudsperson, zuletzt Ombudsperson Kosovo, 5th Annual Report (2005) vom 11.7.2005. Die Berichte können von der in Fn. 1744 genannten Internetseite abgerufen werden. 379 1. Rechtliche Argumente für eine Überprüfbarkeit von UN-Hoheitsakten Die Notwendigkeit, eine Möglichkeit für die unabhängige Überprüfung ihrer Handlungen und Rechtsakte zu schaffen, wird häufig rechtspolitisch mit der Vorbildfunktion einer UN-Verwaltung begründet. Sie könne nur dann glaubhaft die Bedeutung und Notwendigkeit rechtsstaatlicher Strukturen predigen, wenn sie selbst die Prinzipien des Rechtsstaates, insbesondere die Bindung der Exekutive an Gesetz und Recht, beachte und sich selbst einer gerichtlichen Kontrolle unterwerfe.1749 Zumindest hat sich die UN wiederholt zur Bedeutung des Rechtsstaatsprinzips und der rule of law bekannt.1750 Am ehesten lässt sich das Erfordernis, dem Betroffenen effektiven Rechtsschutz gegen Maßnahmen der UN-Gebietsverwaltung zu gewähren, jedoch mit den Menschenrechten begründen. Nach Art. 8 AEMR hat jeder Mensch „Anspruch auf wirksamen Rechtsschutz vor den zuständigen innerstaatlichen Gerichten gegen alle Handlungen, die seine ihm nach der Verfassung oder nach dem Gesetz zustehenden Rechte verletzen“. Art. 2 Abs. 3 IPbürgR verpflichtet die Mitgliedstaaten des Paktes ebenfalls dazu, effektive Rechtsschutzmöglichkeiten zu schaffen. Zwar ist die UN nicht Vertragsstaat des Paktes. AEMR und IPbürgR sind jedoch als autoritative Konkretisierung der menschenrechtlichen Zielsetzung des Art. 1 Ziff. 3 SVN auch für den Sicherheitsrat beachtlich. Zwar ließe sich argumentieren, dass die genannten Artikel ähnlich wie etwa das Staatenberichtsverfahren nach Art. 40 IPbürgR keine Menschenrechte im materiellen Sinne enthalten, sondern nur ihrer prozeduralen Sicherung dienen und insoweit keine Konkretisierung der nach Art. 1 Ziff. 3 SVN zu fördernden Menschenrechte darstellten. Dies erscheint jedoch zumindest im Hinblick auf den explizit als Anspruchsnorm formulierten Art. 8 AEMR zweifelhaft. Er bezieht sich zudem nicht unmittelbar auf die Gewährleistungen der AEMR, sondern auf die des nationalen Rechts, und ist daher als eigenständiges Recht unabhängig von den übrigen Gewährleistungen der AEMR zu sehen. 1749 Korhonen, Leiden JIL 14 (2001), 495 (501). In diese Richtung auch Zimmermann/Stahn, Nordic JIL 70 (2001), 423 (448). Auf das Paradoxon, Gewaltenteilung zu fordern, selbst aber alle Gewalt in einer Hand zu konzentrieren, machen Morrow/White, Australian YBIL 22 (2002), 1 (17), und von Carlowitz, AVR 41 (2003), 336 (347), aufmerksam. 1750 Siehe zuletzt ausf. UN-GS, Transitional Justice (2004). 380 Jedenfalls aber ließe sich eine Pflicht zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes gegen Maßnahmen einer UN-Verwaltung damit begründen, dass nur so eine umfassende Wahrung der vom Sicherheitsrat nach Art. 24 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Ziff. 3 SVN zu beachtenden Menschenrechte gesichert werden kann.1751 Die Pflicht zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes ist somit zumindest als Schutzpflicht Ausfluss der einzelnen materiellrechtlichen Gewährleistungen des IPbürgR. Inhaltlich verpflichtet Art. 2 Abs. 3 IPbürgR anders als Art. 8 AEMR nicht notwendig zu einer gerichtlichen Überprüfung von Hoheitsakten.1752 Art. 2 Abs. 3 lit. b) IPbürgR spricht insoweit explizit von dem „zuständige[n] Gerichts-, Verwaltungsoder Gesetzgebungsorgan oder (...) eine[r] andere[n], nach den Rechtsvorschriften des Staates zuständige[n] Stelle“. Da Art. 2 IPbürgR die zeitlich spätere Norm ist und zudem konkret menschenrechtliche Gewährleistungen betrifft, gebührt ihm insoweit nach dem lex posterior- und dem lex specialis-Grundsatz der Vorrang gegenüber Art. 8 AEMR. Daher kann grundsätzlich auch eine Ombudsperson oder ein vergleichbares Organ außerhalb des regulären Gerichtssystems ausreichend sein, sofern sie von dem staatlichen Organ unabhängig ist, dessen Verhalten gerügt wird.1753 Maßgeblich ist nur, dass der durch die zuständige Stelle gewährte Rechtsschutz wirksam ist.1754 Abhängig von den Umständen des Einzelfalles kann dies bedeuten, die fragliche Maßnahme rückgängig zu machen oder Schadensersatz zu gewähren. Unter Umständen kann aber auch eine rein deklaratorische Entscheidung ausreichend sein.1755 Notwendig ist nach Art. 2 Abs. 3 lit. c) IPbürgR jedoch, dass die Entscheidung verbindlich ist, das heißt beachtet und umgesetzt wird, 1751 Siehe die Argumentation der Parlamentarischen Versammlung des Europarates in § 3 CoE-PARes. 1417 (2005) vom 25.1.2005. 1752 Seidel, Grund- und Menschenrechte (1996), S. 269. 1753 Schilling, Menschenrechtsschutz (2004), Rn. 341. 1754 Nowak, CCPR Commentary (1993), Art. 2 Rn. 61. Art. 2 Abs. 3 lit.a) IPbürgR spricht im Original von einer „effective remedy“ bzw. einem „recours utile“, den der Vertragsstaat bereitstellen muss. Nach Seidel, Grund- und Menschenrechte (1996), S. 282, ist ein solcher effektiver Rechtsschutz langfristig aber nur durch gerichtlichen Rechtsschutz i.S.d. Art. 2 Abs. 3 lit. b) IPbürgR zu sichern. 1755 Siehe die Nachweise bei Nowak, CCPR Commentary (1993), Art. 2 Rn. 69. 381 und von der betroffenen staatlichen Stelle nicht schlicht ignoriert werden kann.1756 Diesen Anforderungen wird die von UNMIK eingerichtete Ombudsperson-Institution nicht gerecht, da sie zwar behauptete Menschenrechtsverletzungen umfassend untersuchen darf, aber nur berechtigt ist, Empfehlungen auszusprechen.1757 Werden diese von UNMIK nicht binnen einer angemessenen Frist umgesetzt und der Ombudsperson auch keine hinreichende Begründung dafür gegeben, bleibt ihr lediglich, den gesamten Vorgang öffentlich zu machen.1758 Durchsetzen kann sie ihre Entscheidung nicht. Dies bedeutet aber noch nicht notwendig einen Völkerrechtsverstoß seitens der UNMIK. Denn das Gebot der Gewährung effektiven Rechtsschutzes gehört nicht zu den nach Art. 4 Abs. 2 IPbürgR notstandsfesten Rechten. Man wird es deshalb auch nicht zu den zwingenden Grundwerten der internationalen Gemeinschaft zählen können. Eine Derogation aus Notstandsgesichtspunkten ist daher prinzipiell möglich. 2. Rechtsschutzgewährung und Friedenssicherung Mangels zwingenden Charakters ist der Sicherheitsrat ferner aufgrund des in der Charta niedergelegten Vorrangs der Friedenssicherung grundsätzlich berechtigt, vom Gebot effektiven Rechtsschutzes abzuweichen, soweit dies zur effektiven Bekämpfung von Friedenssbedrohungen erforderlich ist.1759 Da die Gewährung umfassenden Rechtsschutzes gegen sämtliche Formen hoheitlichen Handelns sehr aufwendig ist, hat diese Einschränkungsmöglichkeit im Kontext einer UNKrisengebietsverwaltung erhebliche Bedeutung. So stellt seine Umsetzung nicht nur weitere Anforderungen an die Ausgestaltung der Behörden oder des Justizsystems, da entsprechende Gremien mit hinreichend qualifiziertem Personal eingerichtet werden müssen. 1756 Schilling, Menschenrechtsschutz (2004), Rn. 341, unter Berufung auf HRC, Gedumbe v. Congo (Entscheidung 9.7.2002), § 6.1 u. § 6.2. 1757 Sec. 4.9 UNMIK/REG/2000/38. 1758 Siehe Sec. 4.11 UNMIK/REG/2000/38. Kritisch deshalb auch Brand, Nordic JIL 70 (2001), 461 (484). 1759 Zum Vorrang der Friedenssicherung siehe oben 4.Kp. A.II.2 und D.III.3. 382 Eine Überprüfbarkeit von Hoheitsakten bedeutet zudem in der Regel eine erhebliche Zeitverzögerung und birgt erhebliche Risiken, wenn umfangreiche Maßnahmen aufgrund eines Gerichtsbeschlusses rückabgewickelt werden müssen. Dies gilt insbesondere für die Überprüfung von Legislativakten und steht im Widerspruch zum prinzipiell transitorischen Charakter einer UN-Verwaltung, die ein Gebiet nur für eine kurze Übergangszeit verwalten soll. Hinzu kommt die mit einem solchen Verfahren verbundene Rechtsunsicherheit, die der Festigung der Autorität der UNVerwaltung entgegensteht, und auch die politische und wirtschaftliche Entwicklung eines Gebietes hemmen kann. Eine rechtliche Überprüfung von Hoheitsakten birgt zudem ein finanzielles Haftungsrisiko und kann so zu einer weiteren Schmälerung der ohnehin knapp bemessenen Ressourcen der Vereinten Nationen führen. Ferner ist zu berücksichtigen, dass eine gerichtliche Kontrolle von Hoheitsakten einer UN-Zwangsverwaltung der Sache nach eine Überprüfung von Maßnahmen der Friedenssicherung des Sicherheitsrates nach Kapitel VII der Charta darstellt. Denn UN-Zwangsverwaltungen – und damit auch ihre ausführenden Rechtsakte – sind nichts anderes als eine Variante friedenssichernder Zwangsmaßnahmen des Sicherheitsrates.1760 Auch wenn aus menschenrechtlichen Erwägungen einiges dafür spricht, die Maßnahmen einer UN-Gebietsverwaltung einer rechtlichen Kontrolle zu unterziehen, darf nicht vergessen werden, dass diese Frage für Zwangsmaßnahmen des Sicherheitsrates allgemein bis heute ungeklärt ist.1761 Zumindest eine externe Kontrolle der Akte einer UN-Gebietsverwaltung wird im Hinblick auf Art. 39 SVN, der dem Sicherheitsrat bewusst größte Handlungsfreiheit bei der Bekämpfung von Friedensbedrohungen lässt, nur eingeschränkt zulässig sein.1762 Vor diesem Hintergrund erscheint es trotz der menschenrechtlichen Verpflichtung zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes gerechtfertigt, zumindest in der 1760 Ausführlich zur Rechtsgrundlage bereits oben 3.Kp.C. 1761 Siehe dazu ausf. Martenczuk, Rechtsbindung und Rechtskontrolle (1996); Herbst, Rechtskontrolle (1999); Fassbender, EJIL 11 (2000), 219-232; und de Wet, Chapter VII Powers (2004), S. 25-129; sowie speziell zur rechtlichen Überprüfung von UN-Wirtschatssanktionen Oette, Wirtschaftssanktionen (2003), S. 431-473. 1762 Zum weiten Ermessensspielraum des Sicherheitsrates unter Art. 39 SVN siehe bereits oben 3.Kp. C.II.1. 383 Anfangszeit einer UN-Krisengebietsverwaltung die Möglichkeit einer unabhängigen rechtlichen Überprüfung von Hoheitsakten erheblich einzuschränken.1763 Gleiches gilt ganz allgemein aufgrund der potentiell weitreichenden Folgen auch für die Überprüfbarkeit von Legislativakten einer UN-Verwaltung oder anderer Rechtsakte mit vergleichbarer Wirkung. 3. Die Ombudsperson-Institution im Kosovo Das von UNMIK gewählte Verfahren einer von den übrigen Institutionen der Übergangsverwaltung unabhängigen Ombudsperson erscheint daher grundsätzlich als probate Lösung.1764 Eine externe Lösung, beispielsweise ein Beschwerderecht des Betroffenen vor dem Menschenrechtsausschuss des IPbürgR oder dem EGMR, widerspräche der Letztverantwortung des Sicherheitsrates für friedenssichernde Zwangsmaßnahmen.1765 Einer missionsinternen Lösung stünde sie jedoch nicht entgegen. Auch erscheint es aufgrund des Vorrangs der Friedenssicherung und der diesbezüglichen Hauptverantwortung des Sicherheitsrates zulässig, dem fraglichen Gremium keine Letztentscheidungsbefugnis zu geben. Allerdings sollte die Beachtung und Umsetzung seiner Entscheidung der Regelfall und ihre Missachtung daher an strenge Bedingungen geknüpft sein. UNMIKs Verordnung 2000/38, die eine Umsetzung der Entscheidung letztlich allein in das Ermessen des betroffenen Amtsträgers stellt und ihn im Falle einer Nichtumsetzung nicht einmal zu einer Begründung verpflichtet, ist unzureichend.1766 Hier ist zumindest zu verlangen, dass allein der SRSG als Leiter der Mission über eine Nichtumsetzung der Empfehlung entscheiden kann, und dass eine solche 1763 In diese Richtung auch Wagner, VN 48 (2000), 132 (137); und CoE-Venice Commission, Human Rights in Kosovo (2004), § 95. 1764 Ablehnend Brand, Nordic JIL 70 (2001), 461 (482), der die Ombudspersoninstitution lediglich als wichtige politische Institution sieht (ebenda, 483). 1765 CoE-Venice Commission, Human Rights in Kosovo (2004), §§ 101-112, und § 4 (ii) CoE-PA-Res. 1417 (2005) schlagen als langfristige Lösung eine Ausdehnung der Zuständigkeit des EGMR auf das Kosovo vor. Grundlage soll ein von allen Beteiligten geschlossener völkerrechtlicher Vertrag sein. Siehe auch oben Fn. 1728. Ferner hat der Menschenrechtsausschuss 2004 von UNMIK einen Bericht zur Lage im Kosovo angefordert (CoE-Venice Commission, ebenda § 81 Fn. 27). 1766 Siehe Sec. 4.11 UNMIK/REG/2000/38. 384 Entscheidung schriftlich zu begründen ist.1767 Für diesen Fall erscheint es ferner sinnvoll, der Ombudsperson das Recht zu geben, den Fall dem Sicherheitsrat zur Letztentscheidung vorzulegen.1768 Ähnliche Regelungen findet sich bereits in dem Statut für das Freie Territorium Triest: Auch dort war die Ausübung von Sonderbefugnissen durch den vom Sicherheitsrat ernannten Gouverneur an ein Petitionsrecht des betroffenen Organs an den Sicherheitsrat geknüpft.1769 Abschließend ist festzuhalten, dass das Recht des Einzelnen auf effektiven Rechtsschutz gegen Hoheitsakte auch von einer UN-Zwangsverwaltung grundsätzlich zu beachten ist. Dies folgt aus seiner Pflicht nach Art. 24 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Ziff. 3 SVN, die Menschenrechte zu fördern und zu schützen.1770 Allerdings kann der Rechtsschutz aufgrund des Vorrangs der Friedenssicherung und dem ebenfalls in der Charta festgelegten weiten Ermessensspielraum des Sicherheitsrates hinsichtlich der Ausführung von Zwangsmaßnahmen erheblich eingeschränkt werden. Dies betrifft insbesondere den Zeitpunkt, ab dem ein solcher Rechtsschutz zur Verfügung steht, und die Letztverbindlichkeit von Entscheidungen. V. Der Aufbau eines neuen Staatswesens und das Selbstbestimmungsrecht Während es in den vorangegangenen Abschnitten um einzelne Rechtsfragen und Probleme ging, welche bei der Umsetzung einzelner Menschenrechte in der Praxis zu Tage traten, soll im folgenden Teil näher beleuchtet werden, inwiefern die Befugnisse einer UN-Zwangsverwaltung durch das Recht der Völker auf 1767 So auch CoE-Venice Commission, Human Rights in Kosovo (2004), §§ 122 f., und § 5 (iv) lit. a) CoE-PA-Res. 1417 (2005). 1768 Sollte dies zu einer erheblichen Arbeitsbelastung des Sicherheitsrates führen, könnte zu diesem Zweck ein Sonderausschuss ähnlich dem Sanktionsausschuss gebildet werden. 1769 Art. 19 Abs. 6 Triest-Statut. Siehe dazu bereits oben 2.Kp.B.II. In ähnlicher Weise verknüpfte auch der Entwurf eines Statuts für die geplante Internationale Stadt Jerusalem die Ausübung von Sonderbefugnissen seitens des internationalen Gouverneurs der Stadt mit der Pflicht, dies umgehend dem Treuhandrat als dem zuständigen Kontrollorgan zur Kenntnis zu bringen. Siehe dazu oben 2.Kp.C.II. 1770 Dazu, dass die Förderpflicht des Art. 1 Ziff. 3 SVN im Kontext einer Gebietsverwaltung des Sicherheitsrates zu einer Befolgungs- und Schutzpflicht erstarkt, siehe oben 4.Kp. A.II.1.b. 385 Selbstbestimmung eingeschränkt werden. Denn in einem Zeitalter, indem sich die Legitimität einer Staatsgewalt primär nach ihrer Vereinbarkeit mit dem Willen der Regierten bemisst, erscheint eine vom Sicherheitsrat oktroyierte Gebietsverwaltung besonders rechtfertigungbedürftig.1771 Das Selbstbestimmungsrecht wird von der Friendly Relations Declaration definiert als das Recht aller Völker „freely to determine, without external interference, their political status and to pursue their economic, social and cultural development“.1772 Völker sollen mithin grundsätzlich alleinige Herren ihres Schicksals sein.1773 Eine UN-Zwangsverwaltung soll aber ein Gebiet nicht nur anstelle nationaler Organe regieren, sondern dort regelmäßig auch neue Strukturen schaffen, die den Abzug der UN überdauern sollen.1774 Im Kosovo entschied UNMIK sogar über das Wirtschaftssystem, schaffte die sozialistische Planwirtschaft weitgehend ab und begann, die kollektivierten Staatsbetriebe zu privatisieren.1775 Prima facie greift eine UN-Verwaltung mithin erheblich in das Recht des betroffenen Volkes auf Selbstbestimmung ein. Andererseits setzt die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts voraus, dass die Bewohner eines Gebietes über Strukturen verfügen, um einen kollektiven Willen zu bilden. Es ließe sich daher umgekehrt argumentieren, dass eine UN-Mission, die ein Gebiet nach dem Zusammenbruch seiner staatlichen Institutionen für eine Übergangszeit verwaltet, um solche kollektiven Strukturen zu errichten, erst die Voraussetzung für die Ausübung des Selbstbestimmungrechts schafft und daher 1771 Ähnlich Tomuschat, in: FS Kooijmans (2002), S. 326 u. 327. 1772 5. Prinzip der Declaration on Principles of International Law Concerning Friendly Relations and Co-operation Among States in Accordance with the Charter of the United Nations, von der Generalversammlung im Konsensverfahren angenommen als A/RES/2625 (XXV) vom 24.10.1970, abgedr. in UNYB 1970, 788-792. Zum Selbstbestimmungsrecht allgemein siehe Cristescu, Self-Determination (UN Studie 1981); Tomuschat (Hrsg.), Self-Determination (1993); Cassese, Self-Determination (1995); McCorquodale (Hrsg.), Self-Determination (2000); Mett, Selbstbestimmungsrecht (2004). Speziell zum Selbstbestimmungsrecht im Kosovo bzw. in Osttimor siehe Richardson, Temple I.&C.L.J. 14 (2000), 101-108; Seidel, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the Int'l. Community (2002), S. 203-215; Wodarz, Kosovo-Konflikt (2002), S. 152-230; de Wet, Chapter VII Powers (2004), S. 326-335; und Franz, Osttimor (2005), S. 139-260. 1773 Ipsen, Völkerrecht (2004), § 27 Rn. 10, unter Berufung auf den Bericht des UN Sonderberichterstatters Cristescu, Self-Determination (UN Studie 1981), 17. 1774 Siehe § 2 (b) S/RES/1272 (1999) zu UNTAET oder § 11 (b)-(d) S/RES/1244 (1999) zu UNMIK. 1775 Siehe dazu bereits oben 2.Kp. L, ferner Hobe/Griebel, in: FS Ress (2005), S. 141-150. 386 grundsätzlich mit diesem vereinbar sein müsse.1776 Diesen Fragestellungen soll im Folgenden nachgegangen werden. Da das Selbstbestimmungsrecht sehr unterschiedliche Aspekte einer Krisengebietsverwaltung betrifft – von der täglichen Verwaltungsarbeit über die langfristige Reform des Staats- und Wirtschaftssystems bis hin zum völkerrechtlichen Status des Gebietes nach Abzug der UN – bietet es sich an, von dem bislang gewählten problembezogenen Ansatz abzuweichen und normbezogen vorzugehen. Die aufgeworfenen Fragen sollen daher im Folgenden ausgehend von den unterschiedlichen Ausprägungen des Selbstbestimmungsrechts her untersucht werden. 1. Status des Selbstbestimmungsrechts im Völkerrecht Obwohl Inhalt und Träger des Selbstbestimmungsrechts teilweise noch immer umstritten sind, wird seine Rechtsqualität heute kaum noch in Zweifel gezogen.1777 Für den Sicherheitsrat ist es zumindest in Gestalt der Zielbestimmung des Art. 1 Ziff. 2 SVN nach Art. 24 Abs. 2 Satz 1 SVN zu beachten.1778 Nach der hier vertretenen These einer abgestuften Bindung des Sicherheitsrates unter Kapitel VII der Charta bedeutet dies zunächst, das er bei der Ausübung territorialer Hoheitsgewalt verpflichtet ist, das Selbstbestimmungsrecht in seinen unterschiedlichen Ausprägungen soweit zu berücksichtigen, wie ihm dies im Einzelfall ohne wesentliche Beeinträchtigung der Friedenssicherung möglich ist.1779 1776 Tomuschat, RdC 281 (1999), 1 (244); Irmscher, GYIL 44 (2001), 353 (365); von Carlowitz, AVR 41 (2003), 336 (366). Kritisch Gill, NYIL 26 (1995), 33 (75), und Herdegen, Die Befugnisse des UN Sicherheitsrates (1998), S. 29, die eine wie auch immer geartete Zustimmung der Bevölkerung verlangen. Für UNMIK als Mittel zur Realisierung des internen Selbstbestimmungsrechts der Kosovaren Stahn, Leiden JIL 14 (2001), 531 (541). 1777 Zur Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts siehe statt vieler Tomuschat, RdC 281 (1999), 1 (239-243). 1778 Siehe dazu bereits oben 4.Kp. A.II.1b. Art. 1 Ziff. 2 SVN spricht zwar lediglich vom Grundsatz („principle“) der Selbstbestimmung der Völker. Im Kontext einer Ausübung tatsächlicher Herrschaftsgewalt über eine Bevölkerung kann eine Förderung dieses Prinzips in den internationalen Beziehungen nur die eigene Beachtung und Umsetzung des Selbstbestimmungsrechts in der Gestalt bedeuten, die es nach dem gegenwärtigen Stand des Völkerrechts gefunden hat. 1779 Zu dieser abgestuften Bindung siehe zusammenfassend oben 4.Kp.D. 387 Ob darüber hinaus eine absolute Verpflichtung des Sicherheitsrates zur Beachtung des Selbstbestimmungsrechts besteht, hängt davon ab, inwieweit man diesem Recht zwingenden Charakter zumisst. Das Selbstbestimmungsrecht ist nicht nur durch seine Niederlegung im jeweils ersten Artikel der beiden UN-Menschenrechtspakte vertraglich gewährleistet, sondern mittlerweile auch gewohnheitsrechtlich verbürgt.1780 In seinem Urteil zu Osttimor erklärte der IGH es zu einem Recht erga omnes.1781 In der völkerrechtlichen Literatur wird es daher überwiegend als ein zumindest in Teilbereichen zwingendes Recht angesehen.1782 Das hieße, dass der Sicherheitsrat unter allen Umständen zu seiner Beachtung verpflichtet und er damit bei der Bekämpfung von Friedensbedrohungen in nicht unerheblichem Maße eingeschränkt würde. Da Aspekte des Selbstbestimmungsrechts heute bei einer Vielzahl von Friedensbedrohungen eine Rolle spielen, wäre der Handlungsspielraum des Sicherheitsrates nach Kapitel VII der Charta erheblich eingeschränkt. Da eine feindliche Besetzung eines Staates im Regelfall auch das Selbstbestimmungsrecht seiner Bevölkerung verletzt (weil es zumindest vorübergehend nicht mehr selbst sein politisches Schicksal bestimmen kann), würfe jede diesbezügliche Autorisierung, Beteiligung oder Unterstützung seitens des Sicherheitsrates schwierige Rechtsfragen auf.1783 Wie bereits ausgeführt, stellt auch die UN-Verwaltung des Kosovo prima facie eine Beeinträchtigung des Selbstbestimmungsrechts dar, weil ihre Fortdauer zumindest momentan weder dem Willen der nach Unabhängigkeit strebenden albanischen Bevölkerungsmehrheit des 1780 IGH, Namibia-Gutachten, ICJ-Rep. 1971, 16 (31 § 52); bestätigt und ausgebaut in IGH, West Sahara-Gutachten, ICJ-Rep. 1975, 12 (31-33 §§ 54-59); BVerfG, Teso-Beschluss (21.10.1987), BVerfGE 77, 137 (161); Cristescu, Self-Determination (UN Studie 1981), § 141; Tomuschat, RdC 281 (1999), 1 (243). 1781 IGH, East Timor (Portugal v. Australia), ICJ-Rep. 1995, 90 (102 § 29). 1782 Hannikainen, Peremptory Norms (1988), S. 421, Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht (1992), S. 264, und Ipsen, Völkerrecht (2004), § 27 Rn. 9, messen nur dem Selbstbestimmungsrecht der Kolonialvölker zwingenden Charakter bei. Weitergehend Nowak, CCPR Commentary (1993), Art. 1 Rn. 3 (auch Völker unter Fremdherrschaft); Frowein, Jus Cogens, EPIL III (1997), 65, S. 67; Zimmermann/Stahn, Nordic JIL 70 (2001), 423 (453); Tomuschat, in: FS Kooijmans (2002), S. 341; Wodarz, Kosovo-Konflikt (2002), S.166 f.; Doehring, Völkerrecht (2004), Rn. 800; Mett, Selbstbestimmungsrecht (2004), S. 194 f.; und Starita, RGDIP 108 (2004), 883 (906). Ablehnend noch Cristescu, Self-Determination (UN Studie 1981), § 154. 1783 So in Bezug auf die Besetzung des Iraks Starita, RGDIP 108 (2004), 883-916 (inbes. 902-906). 388 Kosovo entspricht, noch dem der Serben als Staatsvolk des Landes, das zumindest formell Träger der Souveränität über das Kosovo ist. Der Umstand, dass weder die – wenn auch untergeordnete – Beteiligung der UN an der CPA-Verwaltung des Irak,1784 noch die bis heute andauernde UN-Verwaltung des Kosovo international als erhebliche Verstöße gegen das Selbstbestimmungsrecht gebrandmarkt wurden, deutet daraufhin, dass solche nach Ansicht der Staatengemeinschaft nicht vorliegt. Dieser Befund lässt sich rechtlich auf unterschiedliche Arten begründen, beispielsweise durch eine restriktive Auslegung des Selbstbestimmungsrechts im jeweiligen Einzelfall oder indem man dem Sicherheitsrat unter Kapitel VII der Charta die Befugnis gibt, im Wege der praktischen Konkordanz die Geltung eines zwingenden Rechts zugunsten der eines anderen einzuschränken.1785 Am sinnvollsten erscheint es jedoch, davon auszugehen, dass der zwingende Bestandteil des Selbstbestimmungsrechts nicht soweit reicht, dem Sicherheitsrat eine vorübergehende Beschränkung zu verwehren. Das entspräche nicht nur der Praxis des Sicherheitsrates, sondern würde auch einen diesbezüglichen Gleichlauf des Selbstbestimmungsrechts mit dem Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten bewirken. Auch dieser Grundsatz ist für alle Staaten untereinander verbindlich und insbesondere in Gestalt des Aggressionsverbotes zwingenden Charakters. Dagegen ist der Sicherheitsrat nicht daran gehindert, zum Zwecke der Friedenssicherung zumindest vorübergehend die Souveränität der Staaten erheblich zu beschränken.1786 Da der in Art. 2 Ziff. 1 SVN niedergelegte Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten ebenso wie das Interventionsverbot des Art. 2 Ziff. 7 SVN in der Sache nichts Anderes schützt als das fortbestehende Selbstbestimmungsrecht des Staatsvolkes,1787 1784 kann der Schutz des Selbstbestimmungsrechts vor Siehe dazu bereits oben 2.Kp.P. 1785 Im letztgenannten Sinne Starita, RGDIP 108 (2004), 883 (909). Ähnlich Tomuschat, in: FS Kooijmans (2002), S. 340, der den Sicherheitsrat als nicht an alle ius cogens-Normen gebunden ansieht. 1786 1787 Siehe ausf. dazu unten 4.Kp. E.VI. Zur staatl. Souveränität als Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts des Staatsvolkes siehe 389 Zwangsmaßnahmen des Sicherheitsrates im Grundsatz nicht weiter gehen als der Schutz der staatlichen Souveränität. Es wäre widersprüchlich, wenn der Sicherheitsrat wie im Falle des Kosovo einen Staat dazu zwingen könnte, die Verwaltungshoheit über einen Teil seines Staatsgebietes aufzugeben, dies im Falle eines nach Unabhängigkeit strebenden Volkes aber wegen Verstoßes gegen das zwingende Selbstbestimmungsrecht unzulässig wäre. Im Ergebnis ist daher davon auszugehen, dass das Selbstbestimmungsrecht jedenfalls für den Sicherheitsrat nur insoweit zwingend sein kann, als es ihm seine langfristige oder gar dauerhafte Beschränkungen untersagt. Das entspräche auch den Vorgaben des Art. 1 Ziff. 1 SVN, der den Sicherheitsrat dazu verpflichtet, langfristige Konfliktlösungen nur im Einklang mit den Grundsätzen des allgemeinen Völkerrechts zu beschließen.1788 Zu diesen dann zu beachtenden Grundsätzen gehört ohne Zweifel auch das Selbstbestimmungsrecht in seinen unterschiedlichen Ausprägungen. 2. Anwendungsbereich des Selbstbestimmungsrechts Hinsichtlich des Anwendungsbereichs ratione personae des Selbstbestimmungsrechts ist aufgrund seines engen Zusammenhangs mit der Dekolonialisierung lediglich unstrittig, dass die Einwohner von Gebieten unter Fremdherrschaft erfasst werden.1789 Als solche sind nicht nur die Palästinenser in den von Israel besetzten Gebieten einzustufen,1790 sondern auch die Bewohner solcher Territorien, die vom Sicherheitsrat auf der Grundlage von Kapitel VII der Charta Cassese, Self-Determination (1995), S. 59; Ipsen, Völkerrecht (2004), § 28 Rn. 6; Mett, Selbstbestimmungsrecht (2004), S. 109 f. Ähnlich auch Nowak, CCPR Commentary (1993), Art. 1 Rn. 19. 1788 Siehe ausführlicher dazu unten 4.Kp.E.VI. 1789 Tomuschat, RdC 281 (1999), 1 (247); ähnlich Mett, Selbstbestimmungsrecht (2004), S. 371; weitergehend Wodarz, Kosovo-Konflikt (2002), S.171-180 (unter bestimmten Umständen auch Minderheiten innerhalb eines Staates). Siehe auch das Bekenntnis der UN-Mitgliedstaaten in der Milleniumserklärung: „We rededicate ourselves to support all efforts to uphold (...) the right to selfdetermination of peoples which remain under colonial domination and foreign occupation” (§ 5 A/RES/55/2 vom 8.9.2000, abgedr. in UNYB 2000, 49-54 – Hervorhebungen durch den Verfasser). 1790 Siehe die jährlichen Resolutionen der Generalversammlung, zuletzt A/RES/59/179 vom 20.12.2004; ferner IGH, Legal consequences of the wall (Gutachten 2004), § 118. 390 verwaltet werden. Auch bei einer UN-Zwangsverwaltung handelt es sich um eine Fremdherrschaft, da sich ihre Rechte und Befugnisse nicht von der Bevölkerung ableiten, sondern allein aus der Charta.1791 Es erscheint nicht sinnvoll, den personellen Anwendungsbereich auf die Bevölkerung solcher Gebiete zu beschränken, die unter Verletzung des Gewaltverbotes militärisch besetzt wurden.1792 Vielmehr ist entscheidend, dass rechtlich und tatsächlich unabhängig von einem wie auch immer gearteten Willen der Bevölkerung eine Territorialverwaltung eingerichtet wird, die das Gebiet wiederum unabhängig vom Willen seiner Bevölkerung regiert.1793 Da eine UN-Verwaltung die Geschicke des Gebietes und seiner Bevölkerung lenkt und bestimmt, liegt auch ratione materiae ein Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht vor. Zwar wurden die Kosovaren und die Osttimoresen in zunehmendem Maße an der Verwaltung beteiligt,1794 die UN-Verwaltung blieb aber letztverantwortlich und behielt ein Vetorecht auch in jenen Kompetenzbereichen, die man lokalen Stellen zur Ausübung übertrug.1795 Der Sicherheitsrat ist mithin nach Art. 24 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Ziff. 2 SVN grundsätzlich gehalten, den Willen der Bevölkerung zu beachten. Soweit das Selbstbestimmungsrecht nach dem oben Gesagten auch für den Sicherheitsrat zwingenden Charakters ist, gilt dies grundsätzlich auch dann, wenn seine Beachtung die Wahrung der internationalen Sicherheit gefährdet oder erschwert. 1791 Etwas anderes gilt dementsprechend für konsensgestützte UN-Gebietsverwaltungen auf der Grundlage von Art. 24 Abs. 1 SVN, die auf der Einwilligung hinreichend legitimierter Vertreter der Betroffenen fußen. 1792 So aber Cassese, Self-Determination (1995), S. 99; ihm folgend Irmscher, GYIL 44 (2001), 353 (364 f.). 1793 In diese Richtung auch Gill, NYIL 26 (1995), 33 (75), der von einer Gebietsverwaltung auf der Grundlage von Kapitel VII als einer „alien rule“ spricht. Zu dem hier vertretenen Ergebnis käme man auch bei Anwendung der von Mett, Selbstbestimmungsrecht (2004), S. 371, vertretenen These, derzufolge das Selbstbestimmungsrecht allein jenen Völkern zustünde, deren Regierungen keinen rechtmäßigen Titel für das regierte Territorium besäßen. Auch eine UN-Zwangsverwaltung verfügt nicht über einen solchen Titel, da ihr der Sicherheitsrat lediglich die Befugnis zur Gebietsverwaltung, nicht aber jene, frei über das Gebiet zu verfügen, übertragen kann. Siehe dazu auch den folgenden Abschnitt 4.Kp. E.V.3 u. VI. 1794 Nachweise unten in 4.Kp. E.V.5. 1795 So ausdrücklich Kp. 12 des constitutional framework (UNMIK/REG/2001/9) vom 15.5.2001. 391 Drei Ausprägungen des Selbstbestimmungsrechts sind im Zusammenhang mit der Verwaltung von Krisengebieten durch den Sicherheitsrat von Bedeutung: In seiner externen Dimension betrifft das Selbstbestimmungsrecht die Frage, inwieweit der Sicherheitsrat bei Entscheidungen, die den völkerrechtlichen Status des Gebietes berühren, dessen Bevölkerung konsultieren muss (3). Die interne Dimension des Selbstbestimmungsrechts besteht im Recht eines Volkes, einerseits über seine interne Ordnung selbst zu entscheiden (4), und andererseits an der Regierungsgewalt teilzuhaben (5). Beide Ausprägungen des internen Selbstbestimmungsrechts sind völkerrechtlich weniger gefestigt als das externe Selbstbestimmungsrecht,1796 sind aber dennoch für die Verwaltungskompetenz des Sicherheitsrates von Bedeutung. 3. Externes Selbstbestimmungsrecht: Die Entscheidung über den territorialen Status Das externe Selbstbestimmungsrecht ist das Recht eines Volkes, selbst über den langfristigen völkerrechtlichen Status seines Gebietes zu entscheiden.1797 Es hindert den Sicherheitsrat daran, frei über das von ihm unter Kapitel VII verwaltete Gebiet zu verfügen und einseitig irreversible Entscheidungen zu treffen. Er darf es nicht eigenmächtig teilen, in einen bestehenden Drittstaat inkorporieren oder in die Unabhängigkeit entlassen. Vielmehr sind derartige langfristige Statusentscheidungen der Bevölkerung des Gebietes vorbehalten. Dieser Teil des Selbstbestimmungsrechts ist zwingenden Charakters.1798 Der Sicherheitsrat ist daher absolut daran gebunden, er kann sich nicht mit dem Verweis auf seine Friedenssicherungspflicht darüber hinwegsetzen.1799 Andererseits bestimmt sich der Umfang des externen Selbstbestimmungsrechts einer Gebietsbevölkerung nicht nach ihrem Status unter UN-Verwaltung, sondern nach ihrem Status quo ante. War das Gebiet unter UN-Verwaltung zuvor ein unabhängiger Staat, genießt seine Bevölkerung das Selbstbestimmungsrecht in vollem Umfang. 1796 Tomuschat, RdC 281 (1999), 1 (259). 1797 Siehe statt vieler Ipsen, Völkerrecht (2004), § 29 Rn. 1. 1798 Siehe die Nachweise in Fn. 1782. 1799 Anders Matheson, AJIL 95 (2001), 76 (85), und wohl auch Kirgis, AJIL 95 (2001), 579 (580). 392 War es dagegen wie das Kosovo zuvor Teil eines anderen Staates, kann seine Bevölkerung grundsätzlich nicht aus dem externen Selbstbestimmungsrecht ein Sezessionsrecht ableiten.1800 Ein solches wird zwar von der überwiegenden Literatur für den Fall befürwortet, Menschenrechtsverletzungen dass seitens eine Minderheit staatlicher Opfer Organe schwerster oder der Mehrheitsbevölkerung wurde.1801 Ein Verbleiben könne ihr dann nicht mehr zugemutet werden. Bislang hat aber ein solches Recht in der Staatenpraxis keine Anerkennung gefunden.1802 Gerade im Fall des Kosovo hat die internationale Gemeinschaft bisher ein solches Sezessionsrecht trotz der vorangegangenen Menschenrechtsverletzungen nicht anerkannt.1803 Vielmehr betont Resolution 1244 (1999) ausdrücklich die territoriale Integrität der Bundesrepublik Jugoslawien und gewährt dem Kosovo nur substantielle Autonomie.1804 Auch in den übrigen Fällen der vollständigen Übernahme der Verwaltungshoheit über ein Gebiet hat der Sicherheitsrat das externe Selbstbestimmungsrecht gewahrt und den territorialen Status des Gebietes nicht eigenmächtig verändert. UNTAES übergab die Verwaltungshoheit über Ostslavonien an Kroatien, womit dessen 1800 Siehe das 5. Prinzip, Abs. 7, der Friendly Relations Declaration, A/RES/2625 (XXV) Annex. 1801 Zimmermann/Stahn, Nordic JIL 70 (2001), 423 (455 f.); Tomuschat, in: FS Kooijmans (2002), S. 343; de Wet, Chapter VII Powers (2004), S. 328 f.; Doehring, Völkerrecht (2004), Rn. 798; Hobe/Kimminich, Völkerrecht (2004), S. 118. Ausführlich im Hinblick auf das Kosovo Wodarz, Kosovo-Konflikt (2002), S. 182-200, und Seidel, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the Int'l. Community (2002), S. 209-212. 1802 Wodarz, Kosovo-Konflikt (2002), S. 200-217. 1803 Zimmermann/Stahn, Nordic JIL 70 (2001), 423 (428); Wodarz, Kosovo-Konflikt (2002), S. 217 f., die allerdings selbst ebenso wie Seidel, in: Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the Int'l. Community (2002), S. 212, für ein Sezessionsrecht des Kosovo plädiert. In diese Richtung auch Tomuschat, in: FS Kooijmans (2002), S. 343, der aber anmerkt, dass die erhebliche Verletzung der Rechte der Minderheiten im Kosovo durch die albanische Bevölkerungsmehrheit zu einer Verwirkung des Sezessionsrechts führen könnte (ebenda, S. 346). Gegen ein Sezessionsrecht für das Kosovo Muharremi, Treuhandverwaltung (2005), S. 126 f. 1804 Präambel-§§ 10 u. 11 S/RES/1244 (1999). Zu Recht bezeichnet Tomuschat, in: FS Kooijmans (2002), S. 325, indes die jugoslawische Souveränität über das von der UN verwaltete Kosovo als einen „purely nominal title“. Mittlerweile setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass der kosovo-albanischen Bevölkerungsmehrheit ein Verbleiben im jugoslawischen Bundesstaat politisch nicht zu vermitteln ist. Siehe dazu beispielsweise ICG, Kosovo: Final Status (2005). Die serbische Seite besteht indes weiterhin auf einer Zugehörigkeit des Kosovo zu Serbien. Siehe NYT vom 13.2.2005. 393 territoriale Integrität wiederhergestellt wurde.1805 Die Unabhängigkeit Osttimors beruhte auf der Entscheidung der timoresischen Bevölkerung im Referendum vom 30. August 1999, UNTAET setzte sie lediglich um.1806 4. Internes Selbstbestimmungsrecht: Die Entscheidung über die Regierungsund Wirtschaftsform Das Selbstbestimmungsrecht beinhaltet nach Art. 1 Satz 2 IPbürgR und IPwirtR ferner das Recht aller Völker, frei über ihren politischen Status und über ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu entscheiden. Es umfasst damit auch das Recht eines Volkes, über die Grundfragen seiner Staatsorganisation und über sein Wirtschaftssystem selbst zu entscheiden.1807 Das so verstandene interne Selbstbestimmungsrecht hindert den Sicherheitsrat daran, einem Gebiet dauerhaft eine Regierungsform und ein Wirtschaftssystem zu oktroyieren.1808 Der Sicherheitsrat kann grundsätzlich nur den Prozess der Willensbildung begleiten und die von der Bevölkerung getroffene Entscheidung umsetzen. Als Kehrseite des Rechts auf einen eigenen Staat spricht einiges dafür, auch dem Recht, diesen nach eigenem Gutdünken zu organisieren, zwingenden Charakter zuzusprechen.1809 Dies muss zumindest dann gelten, wenn die Bevölkerung eines Gebietes aus dem externen Recht einen Anspruch auf einen eigenen Staat herleiten kann, da sonst auch dem Grundsatz der Staatensouveränität nicht Genüge getan würde. Vor diesem Hintergrund mag es überraschend erscheinen, dass es oft wesentliche Aufgabe einer UN-Zwangsverwaltung ist, ein neues Regierungssystem einzurichten, dessen Organe das Gebiet nach dem Abzug der Vereinten Nationen verwalten sollen. 1805 Zu UNTAES siehe oben 2.Kp. K. 1806 Zu UNTAET siehe oben 2.Kp. M. 1807 Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht (1992), S. 263; Wodarz, Kosovo-Konflikt (2002), S. 168; Ipsen, Völkerrecht (2004), § 30 Rn. 1; Franz, Osttimor (2005), S. 124. 1808 Gill, NYIL 26 (1995), 33 (75 f.); Herdegen, Die Befugnisse des UN Sicherheitsrates (1998), S. 29; Kondoch, JC&SL 6 (2001), 245 (260); Irmscher, GYIL 44 (2001), 353 (365); Tomuschat, in: FS Kooijmans (2002), S. 326 f.; de Wet, Chapter VII Powers (2004), S. 329. Anders Matheson, AJIL 95 (2001), 76 (85), der dies für zulässig hält, soweit es für die Friedenssicherung erforderlich ist. Dagegen ist nach dem oben (4.Kp. E.V.1) Gesagten ein vorübergehender Oktroy zulässig. 1809 Für die Gleichwertigkeit beider Aspekte des Selbstbestimmungsrechts auch Cristescu, SelfDetermination (UN Studie 1981), § 303. 394 Dabei wurde die Bevölkerung nie vorab nach dem gewünschten Regierungssystem befragt, vielmehr umgehend mit der Errichtung demokratischer Regierungsstrukturen auf allen Ebenen staatlicher Verwaltung begonnen.1810 Dies ist jedoch aus verschiedenen Gründen nicht als Verstoß gegen das Selbstbestimmungsrecht zu werten. Einerseits schaffen demokratische Strukturen erst die Voraussetzung dafür, den „Willen“ der Bevölkerung regelmäßig und umfassend zu ermitteln. Das wiederum ist Voraussetzung dafür, den Willen der Bevölkerung – und nicht nur den von Machtstrukturen, die sich während eines vorangehenden Konfliktes bilden konnten – bei der Gebietsverwaltung zu berücksichtigen.1811 Andererseits sind demokratische Strukturen von allen staatlichen Regierungsformen am ehesten reversibel. Sie erlauben es der Bevölkerung, sich nach Abzug der UN in freier Abstimmung für ein anderes Regierungssystem zu entscheiden. Zuletzt ließe sich auch argumentieren, dass die Teilnahme der Bevölkerung an den von einer UNVerwaltung organisierten Wahlen Ausdruck ihrer Zustimmung zu der von der UNVerwaltung eingerichteten Demokratie als Regierungsform ist.1812 Das letztgenannte Argument – die aktive Teilnahme als Ausdruck der Zustimmung – ist letztlich auch das einzige, das die Einführung eines marktwirtschaftlichen Systems im Kosovo und in Osttimor ohne explizite Volksbefragung rechtfertigen kann. Denn anders als der Wechsel von der Demokratie zu einer anderen Regierungsform lässt sich der Wechsel zu einem anderen Wirtschaftssystem, beispielsweise zurück zur kollektivistischen Wirtschaftsordnung des früheren Jugoslawiens, nur unter größtem Aufwand bewerkstelligen.1813 Prinzipiell scheint 1810 Ausführlich zu den diesbezüglichen Maßnahmen von UNMIK im Kosovo und UNTAET in Osttimor Beauvais, NYU JIL&P 33 (2000/01), 1101 (insbes. 1114-1136); Stahn, Leiden JIL 14 (2001), 531 (558-560); Morrow/White, Australian YBIL 22 (2002), 1 (33-43); Brand, Kosovo Institutions (2003); Chesterman, You, The People (2004), S. 126-153 (insbes. S. 128-145), ferner S. 226234; und de Wet, Chapter VII Powers (2004), S. 329-335. Zur praktischen Arbeit der Selbstverwaltungsinstitutionen im Kosovo siehe die regelmäßigen Berichte der OMIK, Department of Human Rights and Rule of Law, abrufbar von <www.osce.org/kosovo>. Für einen Einblick in die gegenwärtige innenpolitische Lage im UN-verwalteten Kosovo siehe ICG, Kosovo after Haradinaj (2005). 1811 Vgl. die Nachweise oben in Fn. 1776. 1812 Irmscher, GYIL 44 (2001), 353 (365). 1813 Exemplarisch sei hier auf die gewohnheitsrechtliche Pflicht zur Entschädigung bei Enteignungen verwiesen. 395 daher eine verbindliche Volksbefragung zu diesem Thema angemessen, auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass eine Bevölkerung sich gegen die Einrichtung eines marktwirtschaftlichen Systems ausspräche. Auch sei nicht in Abrede gestellt, dass tatsächliche Erwägungen die Entscheidung für eine Marktwirtschaft angeraten erscheinen lassen.1814 5. Internes Selbstbestimmungsrecht: Die Beteiligung der Bevölkerung an der Gebietsverwaltung Fraglich ist, inwieweit sich aus dem Selbstbestimmungsrecht ein Anspruch der Bevölkerung ergibt, an der Gebietsverwaltung zu partizipieren – beispielsweise durch Abstimmungen oder Beteiligung von Entscheidungsprozessen der UN-Verwaltung. Volksvertretern Grundsätzlich an den setzt die Berücksichtigung des Willens der Bevölkerung voraus, dass dieser in irgendeiner Form ermittelt wird, idealerweise durch Plebiszite oder Wahlen. Insofern weist das Selbstbestimmungsrecht durchaus demokratische Elemente auf. Eine Pflicht zur Befragung der Bevölkerung folgt aus dem Selbstbestimmungsrecht indes nur insoweit, als der Wille der Bevölkerung zu beachten ist. Anerkannt ist dies bislang erst hinsichtlich der oben behandelten Fragen des territorialen Status und der (langfristigen) Verfassungsordnung eines Gebietes.1815 Für das Tagesgeschäft1816 einer UN-Verwaltung folgt aus dem Selbstbestimmungsrecht allein noch keine Pflicht zur Beteiligung der Bevölkerung.1817 Eine solche Pflicht folgt aber aus dem sich entwickelnden Demokratieprinzip im Völkerrecht und aus der Vorreiterrolle, welche die Vereinten Nationen bei seiner 1814 Insbesondere die Notwendigkeit, private Investoren zu einem wirtschaftlichen Engagement in (ehemaligen) Krisenregionen zu bewegen, spricht gegen die Einrichtung einer sozialistischen Planwirtschaft. 1815 So folgert der IGH aus dem Selbstbestimmungsrecht eine Pflicht zur Befragung der Bevölkerung, um den von ihr gewünschten internationalen Status des Gebietes zu ermitteln (IGH, West SaharaGutachten, ICJ-Rep. 1975, 12 (33 §§ 58 f.)). Für eine Pflicht zum Plebiszit auch Mett, Selbstbestimmungsrecht (2004), S. 374. 1816 Hier verstanden als alle Maßnahmen, die keine über den Abzug der UN hinaus andauernden Rechtsfolgen zeitigen sollen bzw. die nach dem Abzug der UN ohne erhebliche Schwierigkeiten zurückgenommen oder geändert werden können. 1817 So auch Tomuschat, RdC 281 (1999), 1 (259), für Regierungen im Allgemeinen. 396 Entwicklung spielen.1818 Es speist sich neben dem internen Selbstbestimmungsrecht1819 insbesondere aus den in Art. 25 IPbürgR niedergelegten demokratischen Individualrechten1820 und der zunehmenden Betonung der Demokratie als wesentliche und einzig förderungswürdige Regierungsform durch die Staaten.1821 Diese sich herausbildende opinio iuris wird gestützt durch die Praxis der Vereinten Nationen als ausführendes Organ der Staatengemeinschaft. Wann immer sie sich seit 1988 im Bereich state-building engagierte, hatte ihre Tätigkeit stets den Aufbau eines demokratischen Staatswesens zum Ziel.1822 Insoweit ist von einer gewissen Selbstbindung des Sicherheitsrates auszugehen.1823 Hinzu tritt die Verpflichtung aus Art. 25 IPbürgR als autoritative Konkretisierung des Art. 1 Ziff. 3 SVN.1824 Das Bestehen eines allgemeinen, völkergewohnheitsrechtlichen Anspruchs auf demokratische Teilhabe an der Regierungsgewalt erscheint indes angesichts der immer noch zahlreichen UN-Mitgliedstaaten ohne demokratische Regierungsform weiter zweifelhaft.1825 Sofern es überhaupt zum gegenwärtigen Zeitpunkt gewohnheitsrechtlich verbürgt ist, hat es jedenfalls noch nicht den Status zwingenden 1818 Zu diesem Rechtsprinzip in statu nascendi siehe grundlegend Franck, AJIL 86 (1992), 46-91; ferner Fox/Roth (Hrsg.), Democratic Governance (2000), und Fulda, Demokratie (2002), S. 11-92. 1819 Für eine Herleitung aus dem Selbstbestimmungsrecht insbesondere Franck, AJIL 86 (1992), 46 (52-56), kritisch Fulda, Demokratie (2002), S. 25. 1820 Art. 25 IPbürgR enthält einen Anspruch des Einzelnen auf Teilhabe an der Gestaltung öffentlicher Angelegenheiten, auf Teilnahme an Wahlen und auf Zugang zu öffentlichen Ämtern. Ausführlicher zu seiner Bedeutung für das Demokratieprinzip Fulda, Demokratie (2002), S. 18-21. 1821 Siehe beispielsweise das Bekenntnis zur Förderung der Demokratie in § 24 der sog. Milleniumserklärung, A/RES/55/2 vom 8.9.2000 (abgedr. in UNYB 2000, 49-54), und die von der Generalversammlung ohne Gegenstimmen (157/0/16) verabschiedete Resolution Promoting and consolidating democracy, A/RES/55/96 vom 4.12.2000 (abgedr. in UNYB 2000, 674-676). Siehe auch den Überblick über die bisherige Staatenpraxis bei Fulda, Demokratie (2002), S. 12-17. 1822 Ipsen, Völkerrecht (2004), § 30 Rn. 7; Fulda, Demokratie (2002), S. 11 f., mit ausführlicher Analyse der UN-Praxis (ebenda, S. 37-67). 1823 Zur Möglichkeit einer Selbstbindung des Sicherheitsrates siehe 4.Kp. A.V.2. 1824 Zur autoritativen Konkretisierung des Art. 1 Ziff. 3 SVN durch die von der Generalversammlung ausgearbeiteten Menschenrechtsinstrumente siehe oben 4.Kp. A.V.1. 1825 Keinesfalls kann von einer bestehenden Pflicht zur Demokratie ausgegangen werden. Diese widerspräche dem oben behandelten Recht der Völker, selbst über ihre Regierungsform zu entscheiden. So auch Mett, Selbstbestimmungsrecht (2004), S. 374. 397 Rechts erlangt.1826 Daraus ergibt sich für den Sicherheitsrat zweierlei: Einerseits ist er aufgrund des internen Selbstbestimmungsrechts und des Demokratieprinzips dazu verpflichtet, die Willensbildung der Bevölkerung zu ermöglichen und aktiv zu fördern, sowie die Bevölkerung nach Möglichkeit frühzeitig und umfassend an der Verwaltung zu beteiligen. Andererseits steht diese Pflicht unter dem Vorbehalt, dass ihre Beachtung die Friedenssicherung nicht gefährdet, da sie nicht den Status zwingenden Rechts besitzt. In rechtlicher Hinsicht kann eine auf der Grundlage von Kapitel VII der Charta operierende UN-Verwaltung daher bis zu einer gewissen Stabilisierung der Sicherheitslage in dem Gebiet ohne Beteiligung der Bevölkerung regieren, ohne gegen Selbstbestimmungsrecht und Demokratieprinzip zu verstoßen. Im Rahmen des Möglichen ist sie jedoch dazu verpflichtet, die Bevölkerung in demokratischer Weise an der Regierung des Gebietes zu beteiligen. In der Praxis entsprachen die UN-Verwaltungen im Kosovo und in Osttimor diesen rechtlichen Vorgaben.1827 So war die Beteiligung der Bevölkerung und die zunehmende Übergabe der Verantwortung an ihre Selbstverwaltungsinstitutionen bereits in ihren Mandaten angelegt.1828 Dass in beiden Fällen zwischen Einrichtung der Gebietsverwaltungen und Übertragung aller Kompetenzen an nationale Institutionen einige Jahre vergingen, begegnet angesichts der mit dem Aufbau staatlicher Strukturen verbundenen Probleme keinen grundsätzlichen Bedenken.1829 Gleiches gilt für das Vetorecht des UN-Sondergesandten gegen Rechtsakte der Selbstverwaltungsinstitutionen, sofern seine Ausübung im Einzelfall der Wahrung Tomuschat, RdC 281 (1999), 1 (259) mit Verweis auf die Feststellung des IGH, dass „adherence by a State to any particular doctrine does not constitute a violation of customary law“ (IGH, Nicaragua (merits), ICJ-Rep. 1986, 14 (133 § 263)). Bereits seine gewohnheitsrechtliche Geltung ablehnend Doehring, Völkerrecht (2004), Rn. 788. Für eine gewohnheitsrechtliche Pflicht zur Demokratisierung dagegen Fulda, Demokratie (2002), S. 87. 1826 1827 Ausführlicher zur Beteiligung der Bevölkerung inbesondere durch UNMIK und UNTAET die oben in Fn. 1810 Genannten. 1828 Siehe § 11 (b)-(d) S/RES/1244 (1999) und § 8 S/RES/1272 (1999). 1829 So dauerte die UN-Verwaltung Osttimors gut zweieinhalb Jahre, während die des Kosovo seit Mitte 1999 andauert. 398 des Primats der Friedenssicherung dient.1830 Das Bestehen solcher residualer Sondereingriffsrechte der UN-Verwaltung, wie sie etwa im so genannten constitutional framework für das Kosovo vorgesehen sind,1831 ist sogar völkerrechtlich geboten. Denn die Regierungsgewalt des SRSG leitet sich nicht von der Bevölkerung des Gebietes, sondern allein von den Befugnissen des Sicherheitsrates zur Friedenssicherung ab. Da der Sicherheitsrat nur zu diesem Zweck berechtigt ist, Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII der Charta zu ergreifen, muss er gewährleisten können, dass diese Zweckbindung auch in der Praxis der UNVerwaltung Beachtung findet. Eingriffsbefugnisse des SRSG wie das Vetorecht gegen Legislativakte der Selbstverwaltungsorgane im Kosovo dienen dazu, den Vorrang der Friedenssicherung auch in der täglichen Arbeit der UN-Verwaltung durchsetzen zu können. VI. Das Recht der Staaten auf Achtung ihrer territorialen Integrität Diese Reihe von Einzeluntersuchungen abschließen soll die Prüfung der Frage, inwieweit Rechte des betroffenen Territorialstaates die Befugnis des Sicherheitsrates einschränken, ein Gebiet auf der Grundlage des Kapitels VII der Charta zu verwalten. Wie bereits eingangs des rechtlichen Teils dieser Arbeit festgestellt wurde, stellt die Einrichtung einer UN-Verwaltung einen schwerwiegenden, rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in die territoriale Souveränität eines Staates dar.1832 Jedoch stellte sich heraus, dass die mitgliedstaatliche Souveränität nur in sehr geringem Maße gegenüber friedenssichernden Zwangsmaßnahmen des Sicherheitsrates geschützt ist.1833 Im Folgenden soll am Beispiel des Rechts der Staaten auf Achtung ihrer territorialen Souveränität geprüft werden, inwieweit Rechte der betroffenen Staaten dennoch geeignet sind, die Verwaltungskompetenz 1830 Kritischer Kondoch, JC&SL 6 (2001), 245 (260 f.), der darin eine mögliche Verletzung des internen Selbstbestimmungsrechts sieht. Nach Art. 9.1.45 des constitutional framework (UNMIK/REG/2001/9 vom 15.5.2001) treten Legislativakte der Assembly of Kosovo erst mit ihrer Verkündung durch des SRSG in Kraft, der aber aufgrund seiner Befugnisse nach Art. 12 des constitutional framework berechtigt ist, diese zu verweigern. 1831 Siehe insbesondere Art. 12 des constitutional framework, UNMIK/REG/2001/9 vom 15.5.2001. 1832 Siehe oben 3.Kp. A.I. 1833 Siehe insbesondere oben 4.Kp. A.II.1.c und B.III.3.c. 399 des Sicherheitsrates unter Kapitel VII der Charta zu beschränken. Das Recht der Staaten auf Achtung ihrer territorialen Integrität ist Ausfluss des völkerrechtlichen Strukturprinzips der souveränen Gleichheit der Staaten. Es bildet den Kern staatlicher Souveränität und schützt den Staat davor, dass andere Staaten ohne seine Zustimmung auf seinem Staatsgebiet Hoheitsgewalt ausüben.1834 Dies beinhaltet auch das Recht auf politische Unabhängigkeit, d.h. den Anspruch eines Staates, im Rahmen des geltenden Völkerrechts allein über die Regelung seiner internen Angelegenheiten zu entscheiden.1835 In dieser Hinsicht ist es Ausdruck des auch nach Staatswerdung fortbestehenden Selbstbestimmungsrechts der (Staats)Völker.1836 Im Gegensatz zu Individuen und Völkern, deren Rechte Gegenstand der vorangegangenen Einzeluntersuchungen waren, sind Staaten in aller Regel selbst Mitglieder der Vereinten Nationen. Sicherheitsrat und betroffener Staat stehen somit in einem unmittelbaren Vertragsverhältnis zueinander, das ihre wechselseitigen Rechte und Pflichten bestimmt. Daher wird der Umfang der Rechte des betroffenen Staates vis-à-vis des Sicherheitsrates weit stärker von der Charta bestimmt als im Falle von Individuen und Gruppen. Bei den Bindungen des Sicherheitsrates an Staatenrechte handelt es sich primär um interne Bindungen, externe Rechtsquellen wie das Gewohnheitsrecht spielen demgegenüber eine sekundäre Rolle. Grundsätzlich kann ein Staat auf seine territoriale Souveränität verzichten und Drittstaaten oder internationalen Organisationen die Ausübung hoheitlicher Gewalt auf seinem Territorium gestatten.1837 So ist in Art. 2 Ziff. 7 a.E. SVN ein abstrakter ex ante-Verzicht der Mitgliedstaaten auf den Schutz ihrer territorialen Integrität gegenüber Zwangsmaßnahmen des Sicherheitsrates zu sehen. Ebenso verzichteten die Mitgliedstaaten in Art. 1 Ziff. 1 SVN auf ihre Rechtspositionen nach 1834 Tomuschat, RdC 281 (1999), 1 (162 u. 175). 1835 Ipsen, Völkerrecht (2004), § 26 Rn. 14. 1836 Cassese, Self-Determination (1995), S. 59; Ipsen, Völkerrecht (2004), § 28 Rn. 6; Mett, Selbstbestimmungsrecht (2004), S. 109 f. 1837 Siehe oben 3.Kp. A.II. 400 allgemeinem Völkerrecht, um dem Sicherheitsrat effektive Kollektivmaßnahmen zur Friedenssicherung zu ermöglichen.1838 Das Recht der Staaten auf Achtung ihrer territorialen Integrität scheint daher prima facie kaum geeignet, den Sicherheitsrat bei der zwangsweisen Verwaltung von Krisengebieten einzuschränken. Etwas anderes ergibt sich jedoch aus der historischen Auslegung des Art. 1 Ziff. 1 SVN. Denn die dort getroffene Unterscheidung stellt einen Kompromiss dar zwischen zwei sich widersprechenden Zielen der Gründungsmitglieder. Einerseits sollte dem Sicherheitsrat bei der Wahrung des Weltfriedens größtmögliche Handlungsfreiheit gewährt werden, andererseits befürchteten insbesondere kleinere Staaten ein „zweites München“, d.h. die Bereinigung eines internationalen Konfliktes auf ihre Kosten.1839 Zwar konnten sich diese mit ihrer Forderung, die Tätigkeit des Sicherheitsrates insgesamt unter die Kuratel des allgemeinen Völkerrechts zu stellen, nicht durchsetzen, doch willigten die Großmächte in eine entsprechende Verpflichtung im Falle der friedlichen Streitbeilegung ein.1840 Die Unterscheidung basiert auf der Prämisse der Gründerstaaten, dass kollektive Zwangsmaßnahmen des Sicherheitsrates grundsätzlich vorübergehender beziehungsweise vorläufiger Natur sind und nur dazu dienen, den offenen Friedensbruch zu verhindern oder zu beseitigen, ohne die zugrunde liegenden Rechtsverhältnisse der Mitgliedstaaten dauerhaft anzutasten.1841 Art. 1 Ziff. 1 SVN unterscheidet somit zwischen zwei einander zeitlich nachfolgenden Phasen der Konfliktlösung. Zunächst soll der Sicherheitsrat ohne rechtliche Hürden die Kampfhandlungen auf der Grundlage von Kapitel VII beenden dürfen („collective measures“). Im Anschluss daran soll er ohne Anwendung von Zwang („peaceful measures“) den zugrunde liegenden Streit nach den Prinzipien der Gerechtigkeit und 1838 Siehe oben 4.Kp. B.III.1. 1839 Zur Münchner Konferenz von 1938 siehe bereits oben Fn. 1339. 1840 Siehe Report of the Rapporteur of Committee 1 to Commission I, UNCIO-Doc. 944 I/1/34 (1) vom 13.6.1945, abgedr. in UNCIO VI, 446-460 (453); Goodrich/Hambro/Simons, UN Charter (1969), S. 27 f. Eine Zusammenfassung der Debatte während der Konferenz von San Francisco findet sich bei Kelsen, Law of the United Nations (1950), S. 16 f., Fn. 3. 1841 Frowein/Krisch, Introduction to Chapter VII (2002), Rn. 31. 401 des Völkerrechts schlichten (Kapitel VI).1842 Art. 1 Ziff. 1 SVN unterscheidet somit nicht nur zwischen zwei verschiedenen Rechtsgrundlagen, sondern soll auch die Souveränität der Mitgliedstaaten vor dauerhaften Beschränkungen durch den Sicherheitsrat schützen.1843 In der Praxis hat sich die Prämisse, dass Zwangsmaßnahmen nur vorübergehender Natur sind, nicht in allen Fällen bewahrheitet.1844 Vielfach hat sich erwiesen, dass für eine effektive Friedenssicherung auch langfristige Zwangsmaßnahmen erforderlich sein können.1845 Wo der Sicherheitsrat aber mit einer auf Kapitel VII gestützten Maßnahme die endgültige Regelung eines Sachverhaltes bezweckte, hat er bislang darauf geachtet, dass diese sich im Rahmen des geltenden Völkerrechts bewegte. So sollte die UN Compensation Commission endgültig über Schadensersatzansprüche aus dem irakischen Überfall auf Kuwait 1990 entscheiden.1846 Grundlage ihrer Entscheidungen sollte aber geltendes Völkerrecht sein.1847 Ebenso urteilen die UNTribunale für das frühere Jugoslawien (ICTY) und für Ruanda (ICTR) auf der Grundlage gewohnheitsrechtlich geltenden humanitären Völkerrechts, nicht aufgrund eines vom Sicherheitsrat neu geschaffenen Strafkatalogs.1848 Bisher hat er zudem So hielt der Bericht des Ausschusses I/1 der Konferenz von San Francisco fest: „When the Organization has used the power given to it and the force at its disposal to stop war, then it can find the latitude to apply the principles of justice and international law, or can assist the contending parties to find a peaceful solution.“ – Report of the Rapporteur of Committee 1 to Commission I, UNCIO-Doc. 944 I/1/34 (1) vom 13.6.1945, abgedr. in UNCIO VI, 446-460 (453). 1842 1843 Gill, NYIL 26 (1995), 33 (67); Randelzhofer, in: Wolfrum (Hrsg.), United Nations (1995), S. 998 Rn. 14. 1844 Zur umstrittenen Legislativtätigkeit des Sicherheitsrates in neuerer Zeit siehe Aston, ZaöRV 62 (2002), 257-291, und Szasz, AJIL 96 (2002), 901-905. Für eine generelle Befugnis des Sicherheitsrates, zur Sicherung des Weltfriedens auch in abstrakt-genereller Form legislativ tätig zu werden, bereits Tomuschat, AVR 33 (1995), 1 (12); skeptisch dagegen Seidel, AVR 41 (2003), 449 (467 f.). 1845 Tomuschat, in: FS Arangio-Ruiz (2004), S. 1759, kommt daher zu dem Schluss, dass die Dauer einer Maßnahme kein entscheidendes Kriterium für ihre Zulässigkeit sein könne. 1846 Eingerichtet durch § 3 S/RES/692 (1991) vom 20.5.1999 i.V.m. § 18 S/RES/687 (1991) vom 3.4.1991 (dt. Fassungen in AVR 29 (1991), 487 f. bzw. 477-485). Ausführlicher zur UNCC Jütte, UN Compensation Commission (1999); Kolliopoulos, CINU et droit de la responsabilité (2001); Eichhorst, Rechtsprobleme der UNCC (2002); und Heiskanen, RdC 296 (2002), 259-397. Gemäß § 16 S/RES/687 (1991) ist der Irak „liable under international law“ für alle Kriegsschäden. Wie hier Tomuschat, in: FS Arangio-Ruiz (2004), S. 1760. Einzelheiten bei Heiskanen, RdC 296 (2002), 259 (333-356); und den übrigen in Fn. 1846 Genannten. 1847 1848 In beiden Fällen enthalten die vom Sicherheitsrat verabschiedeten Statute zwar einen 402 stets vermieden, selbst über territoriale Fragen zu entscheiden.1849 Auch hat er bisher nicht in die Verfassungsordnung einzelner Staaten eingegriffen, indem er ihnen beispielsweise die Wahrung bestimmter Minderheitenrechte dauerhaft vorschrieb.1850 In seinen jüngeren Irakresolutionen betonte der Sicherheitsrat zwar die Bedeutung der Menschenrechte und der Gleichberechtigung von Mann und Frau, ging aber nicht soweit, den Irakern die Beachtung dieser Rechte oder gar die Art und Weise ihrer Umsetzung im nationalen Recht konkret vorzuschreiben.1851 Mithin spricht neben der historischen Auslegung der Charta auch die Praxis des Sicherheitsrates dafür, dass er zumindest bei streitentscheidenden Maßnahmen, deren Rechtsfolgen dauerhaft sein sollen, verpflichtet ist, geltendes Völkerrecht und damit auch die territoriale Integrität des betroffenen Staates zu respektieren.1852 Daraus folgt, dass der Sicherheitsrat bei der Verwaltung eines Krisengebietes auf der Grundlage von Kapitel VII Maßnahmen mit dauerhafter Wirkung nur treffen darf, wenn diese mit geltendem Völkerrecht vereinbar sind. Als dauerhaft sind dabei solche Maßnahmen anzusehen, die nach Abzug der UN-Verwaltung von den Betroffenen nicht mehr oder nur unter erheblichem Aufwand rückgängig gemacht Straftatenkatalog, der aber lediglich geltendes Gewohnheitsrecht wiedergeben soll. Für das ICTY siehe § 1 S/RES/808 (1993) vom 22.2.1993, § 2 S/RES/827 (1993) vom 25.5.1993, und § 29 des Berichts S/25704 des Generalsekretärs vom 3.5.1993 (abgedr. in ILM 32 (1993), 1159-1201), ferner Zacklin, JICJ 2 (2004), 361 (363). Zum ICTR siehe § 1 S/RES/955 (1994) vom 8.11.1994, ferner Art. 1 des ICTR-Statuts (S/RES/955 (1994) Annex, abgedr. in ILM 33 (1994), 1602-1613). 1849 Im Wortsinne Grenzfall ist die Bestätigung der irakisch-kuwaitischen Grenze in § 2 S/RES/687 (1991). Verwiesen wurde dabei auf ein irakisch-kuwaitisches einvernehmliches Protokoll („agreed minutes“) von 1963, in welchem sich beide Staaten zunächst über den Grenzverlauf geeinigt hatten. Die UN Iraq-Kuwait Boundary Demarcation Commission sollte diesen Grenzverlauf lediglich vor Ort markieren. Selbst wenn man wie de Wet, Chapter VII Powers (2004), S. 364, annimmt, dass die angenommene Einigung der Parteien nie bestand, § 2 S/RES/687 (1991) mithin der Sache nach keine Bestätigung, sondern eine einseitige Festlegung des Grenzverlaufs bedeutete, ist darin eher ein Versehen zu sehen. Entscheidend ist, dass der Sicherheitsrat eine solche einseitige Anordnung in keiner Weise beabsichtigt hatte (Tomuschat, in: FS Arangio-Ruiz (2004), S. 1768). 1850 Die von § 1 S/RES/1244 (1999) für verbindlich erklärten und in Annex I u. II der Resolution niedergelegten Prinzipien zur politischen Lösung des Kosovokonfliktes enthalten zwar die Vorgabe, dem Kosovo “substantial self-government“ zu gewähren. Diese Vorgabe gilt aber zunächst nur für ein „interim political framework agreement“ (Annex II, Nr. 8), nicht für eine endgültige Lösung. 1851 Beide Punkte wurden zudem lediglich in den Erwägungsgründen der Resolutionen behandelt. Siehe Präambel-§ 5 S/RES/1483 (2003) vom 22.5.2003 und Präambel-§ 10 S/RES/1546 (2004) vom 8.6.2004. 1852 Zum selben Ergebnis kommt man, wenn man das Recht des Staates auf territoriale Integrität wie hier als Ausprägung des zwingenden Selbstbestimmungrechts des Staatsvolkes begreift. 403 werden können.1853 Das sind insbesondere Entscheidungen über den territorialen Status eines Gebietes inklusive seiner Grenzen, aber auch der Abschluss langfristiger völkerrechtlicher Abkommen. Auch den Beitritt zu Menschenrechtsabkommen wird man zu solchen wesentlichen Entscheidungen zählen müssen, da er regelmäßig zahlreiche Verpflichtungen der staatlichen Verwaltung mit sich bringt. Zu Recht haben die UN-Verwaltungen im Kosovo und in Osttimor daher lediglich den Inhalt verschiedener Menschenrechtsinstrumente für anwendbar erklärt, ohne ihnen explizit beizutreten. Vor allem aber steht Art. 1 Ziff. 1 SVN nach der hier vertretenen Auslegung einer dauerhaften Zwangsverwaltung eines Gebietes durch den Sicherheitsrat entgegen.1854 Langfristig angelegte Vorhaben ähnlich dem Freien Territorium Triest sind daher schon wegen des Rechts des betroffenen Staates auf Achtung seiner territorialen Integrität nur mit seiner Zustimmung zulässig. Einer Übergangsverwaltung und ihrem Tagesgeschäft kann es dagegen wegen Art. 1 Ziff. 1 und Art. 2 Ziff. 7 SVN nicht entgegengehalten werden. VII. Weitere Aspekte einer Zwangsverwaltung des Sicherheitsrates Die in diesem Abschnitt E. des vierten Kapitels vorgenommenen Untersuchungen haben eine Reihe rechtlicher Einzelprobleme behandelt, ohne jedoch auch nur ansatzweise den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Die von einer UNGebietsverwaltung aufgeworfenen Rechtsfragen sind ähnlich vielfältig wie die von ihr wahrgenommenen Befugnisse. Exemplarisch wurden einige von ihnen aufgenommen, um die Bindung des Sicherheitsrates an Menschenrechte, das Selbstbestimmungsrecht und die souveräne Gleichheit der Staaten zu veranschaulichen. Ein Großteil der hier nicht behandelten Einzelfragen wird sich indes anhand der dargelegten Grundsätze beantworten lassen. 1853 Erfasst ist sowohl tatsächliches Unvermögen wie ein rechtliches Verbot, etwa durch eine Kapitel VII-Resolution des Sicherheitsrates. 1854 Zimmermann/Stahn, Nordic JIL 70 (2001), 423 (459); Tomuschat, in: FS Kooijmans (2002), S. 327. Ähnlich bereits Gill, NYIL 26 (1995), 33 (75). 404 1. Die Vertretung des Gebiets nach außen So wird man einer UN-Zwangsverwaltung das Recht zugestehen müssen, völkerrechtliche Verträge und Abkommen mit Drittstaaten abzuschließen, soweit dies zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben erforderlich ist.1855 Aufgrund des Selbstbestimmungsrechts der Völker respektive des Grundsatzes der Staatensouveränität dürfen solche Verträge das Gebiet und seine Bevölkerung aber nicht über die Dauer der UN-Verwaltung hinaus verpflichten.1856 Zumindest aber muss mit dem Abzug der UN eine Auflösung dieser möglich sein. Eher theoretisch ist dagegen die Frage des völkerrechtlichen Status des Gebietes. Entscheidend ist, dass die übrigen Staaten aus Art. 25 SVN verpflichtet sind, die Befugnisses der UNMission für das Gebiet anzuerkennen. Im Übrigen wird der völkerrechtliche Status stark von den Umständen des Einzelfalles abhängen.1857 2. Daseinsvorsorge und soziale Sicherungssysteme Schwieriger ist die Frage, inwieweit eine UN-Verwaltung verpflichtet ist, Institutionen der Daseinsvorsorge und der sozialen Sicherung in dem von ihr verwalteten Gebiet zu schaffen. Hier wird man die Regelungen der kriegerischen Besetzung als völkerrechtlichen Mindeststandard heranziehen können. Dieses verpflichtet die Besatzungsmacht, vorhandene Einrichtungen der Daseinsfürsorge fortzuführen,1858 vor allem aber, die Versorgung der Bevölkerung mit Lebens- und Arzneimitteln sicherzustellen.1859 Nach Art. 48 und 49 HLKO ist sie berechtigt, zu diesem Zweck Abgaben, Zölle und Gebühren zu erheben. Da diese Vorgaben selbst der Bevölkerung feindlich gesinnte Staaten binden, müssen sie erst Recht auf eine UN-Verwaltung anwendbar sein, die zur Wiederherstellung des Friedens und zum 1855 Zimmermann/Stahn, Nordic JIL 70 (2001), 423 (449 f.). Zur Wahrnehmung der Befugnis durch UNTAET siehe Morrow/White, Australian YBIL 22 (2002), 1 (25-27). 1856 Etwas anderes gilt, wenn die Bevölkerung, wie etwa von Art. 5.6 des Constitutional Framework (UNMIK/REG/2001/9 vom 15.5.2001) vorgesehen, an der Ausarbeitung von Verträgen maßgeblich beteiligt wird. 1857 Zum völkerrechtlichen Status des von UNMIK verwalteten Kosovo siehe beispielsweise Zimmermann/Stahn, Nordic JIL 70 (2001), 423 (425-429). 1858 Siehe etwa Art. 50 Abs. 1 (Kinderheime) und Art. 56 f. GK IV (Krankenhäuser). 1859 Art. 55 GK IV. 405 Schutze der Bevölkerung eingerichtet wird. Inwieweit eine UN-Verwaltung darüber hinaus rechtlich verpflichtet ist, Institutionen der Daseinsfürsorge oder gar ein System der sozialen Sicherung zu unterhalten oder neu zu schaffen, wird stark von den Umständen des Einzelfalles abhängen. Greift die UN in einem vergleichsweise hoch entwickelten Staat ein, kann es zur Sicherung des sozialen Friedens erforderlich sein, bestimmte staatliche Leistungen fortzuführen oder durch andere zu ersetzen. Dies entspricht den Vorgaben des Besatzungsrechts, das wesentlich auf den in dem besetzten Gebiet vorhandenen Standard abstellt.1860 Andererseits ist die im Interesse der Friedenssicherung erforderliche langfristige Stabilisierung eines Krisengebietes nur möglich, wenn die geschaffenen Institutionen auch nach Abzug der UN von der Regierung des Gebietes aus eigenen Mitteln aufrecht erhalten werden können. Auch das Recht eines Volkes, seine inneren Angelegenheiten selbst zu bestimmen, verbietet es einer UN-Verwaltung, über das zur Friedenssicherung erforderliche Maß hinaus gestalterisch tätig zu werden. Derartige Regelungen sind daher im Rahmen des Möglichen Organen der Betroffenen zu überlassen. Zu Recht zählt das Constitutional Framework für das Kosovo die Soziale Sicherung, aber auch die Wirtschafts-, Bildungs- und Gesundheitspolitik zu den Materien, für die die kosovarischen Selbstverwaltungsinstitutionen zuständig sind.1861 So wurde beispielsweise die Höhe der Renten durch die parlamentarische Versammlung des Kosovo (Assembly of Kosovo) festgelegt, nicht durch UNMIK.1862 3. Vergangenheitsbewältigung und transitional justice Doch nicht nur die Gestaltung der Zukunft, auch die Bewältigung der Vergangenheit wird regelmäßig zu den Problemen gehören, mit denen eine UN- Krisengebietsverwaltung konfrontiert sein wird. Dies betraf im Kosovo die 1860 Siehe insbes. Art. 50 u. 56 GK IV sowie Art. 48 HLKO. 1861 Art. 5.1 UNMIK/REG/2001/9. Zur völkerrechtlichen Zulässigkeit der von UNMIK vorgenommenen Maßnahmen zur Privatisierung der bislang kollektiven Betriebe siehe Hobe/Griebel, in: FS Ress (2005), S. 141-150. 1862 Siehe PISG Law No. 2002/1 vom 4.7.2002, in Kraft getreten durch Verkündung des SRSG am 26.7.2002 (UNMIK/REG/2002/15 vom 26.7.2002). 406 vorwiegend von Serben, aber auch von einzelnen Albanern vor dem Einmarsch der NATO im Juni 1999 begangenen Kriegsverbrechen, in Osttimor die von proindonesischen Milizen mit Unterstützung des indonesischen Militärs vorgenommene völlige Verwüstung des Landes, nachdem seine Bevölkerung für die Unabhängigkeit von Indonesien gestimmt hatte.1863 Da transitional justice, verstanden im Sinne einer umfassenden Aufarbeitung vergangener schwerer Menschenrechtsverletzungen innerhalb einer Gesellschaft,1864 ein sehr komplexes Thema ist, dessen umfassende Bearbeitung den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, soll es vorliegend lediglich in seinen im Kontext einer UN-Verwaltung relevanten Grundzügen skizziert werden.1865 Aus dem Völkerstrafrecht lässt sich zunächst nur eine eingeschränkte Rechtspflicht des Sicherheitsrates zur Menschenrechtsverletzungen gewohnheitsrechtliche strafrechtlichen und Ahndung herleiten.1866 Kriegsverbrechen Völkerstrafrecht kennt schwerer zwar in Gestalt Das des Universalitätsprinzips das Recht aller Staaten, solche völkerrechtlichen Verbrechen strafrechtlich zu Verfolgen.1867 gewohnheitsrechtliche Pflicht zur Ob aber auch Strafverfolgung eine besteht, korrespondierende erscheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt fraglich.1868 Jedenfalls aber hätte eine solche Pflicht bislang 1863 Zu diesen Ereignissen siehe oben 2.Kp. K.I und L.I. UN-GS, Transitional Justice (2004), § 8, definiert Transitional Justice als „the full range of processes and mechanisms associated with a society’s attempts to come to terms with a legacy of largescale past abuses, in order to ensure accountability, serve justice, and achieve reconciliation“. 1864 1865 Ausf. beispielsweise die verschiedenen Beiträge in Ambos/Othman (Hrsg.), New Approaches (2003); ferner der Bericht UN-GS, Transitional Justice (2004). Zum Sondergerichtshof als Teil der juristischen Vergangenheitsbewältigung in Sierra Leone siehe MacKay, Case W.R.JIL 35 (2003), 273-285; und Damgaard, Nordic JIL 73 (2004), 485-503; zu transitional justice in Afghanistan Grenfell, Nordic JIL 73 (2004), 505-534. Allgemein zum Völkerstrafrecht Kittichanaisaree, Int’l. Criminal Law (2001), und Werle, Völkerstrafrecht (2003). 1866 1867 Werle, Völkerstrafrecht (2003), Rn. 173 m.w.N. 1868 Für eine solche Pflicht beispielsweise Enache-Brown/Fried, McGill LJ 43 (1998), 613 (625-632); Bassiouni, Virginia JIL 41 (2001), 81 (148 f.); ablehnend dagegen Tomuschat, in: FS Steinberger (2002), S. 342 f.; und Werle, Völkerstrafrecht (2003), Rn. 188 m.w.N. Eine vertragliche Pflicht zur universellen Strafverfolgung besteht für Kriegsverbrechen aufgrund Art. 146 GK-IV. Diese vertragsrechtliche Norm ist aber auf den Sicherheitsrat nicht unmittelbar anwendbar und kann mangels materieller Gewährleistung auch nicht als Konkretisierung des Art. 1 Ziff. 3 SVN verstanden werden. 407 nicht den Charakter zwingenden Rechts, so dass der Sicherheitsrat nach Art. 1 Ziff. 1 SVN grundsätzlich berechtigt wäre, von einer Strafverfolgung abzusehen, wenn er dies zum Zwecke der Friedenssicherung als erforderlich ansähe.1869 Darauf deutet auch der Umstand hin, dass Art. 1 Ziff. 1 SVN lediglich bei der langfristigen Beilegung von Streitigkeiten, nicht aber beim Ergreifen effektiver Maßnahmen zur Beachtung der „principles of justice“ verpflichtet.1870 Jedoch hat der Sicherheitsrat durch die Schaffung der Strafgerichtshöfe für das frühere Jugoslawien und für Ruanda Standards gesetzt, an denen er sich auch in anderen Konflikten messen lassen muss.1871 Die jüngst vorgenommene Beauftragung des Internationalen Strafgerichtshofes mit der strafrechtlichen Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen in der sudanesischen Provinz Darfur zeigt, dass er sich einer Ahndung solcher Verbrechen grundsätzlich verpflichtet sieht.1872 Unabhängig von völkerstrafrechtlichen Gesichtspunkten ist transitional justice in einer durch die Vergangenheit traumatisierten Bevölkerung aber auch zur langfristigen Stabilisierung der Gesellschaft erforderlich. Denn nur so ist es möglich, die eigentlichen Konfliktursachen offenzulegen, Verantwortliche zu identifizieren und zu verhindern, dass überkommene Strukturen ihre friedensgefährdende Wirkung auch in der Zukunft entfalten können.1873 Transitional justice ist daher auch aus dem 1869 Zu diesem bekannten Zielkonflikt zwischen notwendiger Flexibilität bei Friedensverhandlungen und dem Gebot der Gerechtigkeit siehe das leidenschaftliche Plädoyer für die Gerechtigkeit bei Scharf/Williams, Case W.R.JIL 35 (2003), 161-190. Zu dieser von Art. 1 Ziff. 1 SVN getroffenen Unterscheidung zwischen „effective collective measures“ und „peaceful (...) settlement of international disputes“ siehe bereits oben 4.Kp. E.VI. 1870 1871 Zu den vielen verschiedenen Maßnahmen zur strafrechtlichen Aufarbeitung vergangenen Unrechts, an denen die UN im letzten Jahrzehnt aktiv beteiligt war, siehe die Aufzählung in UN-GS, Transitional Justice (2004), § 38. 1872 Siehe § 1 S/RES/1593 (2005) vom 31.3.2005; sowie bereits zuvor Präambel-§ 10 S/RES/1574 (2004) vom 19.11.2004: „Condemning all acts of violence and violations of human rights and international humanitarian law by all parties, and emphasizing the need for perpetrators of all such crimes to be brought to justice without delay” (Hervorhebung durch den Verfasser), wiederholt in Präambel-§ 12 S/RES/1590 (2005) vom 24.3.2005 und Präambel-§ 10 S/RES/1591 (2005) vom 29.3.2005. 1873 UN-GS, Transitional Justice (2004), § 39 u. § 47; ferner Scharf/Williams, Case W.R.JIL 35 (2003), 161 (170-173). 408 Gesichtspunkt der Friedenssicherung (Art. 1 Ziff. 1 SVN) geboten.1874 Im Kosovo ahndete UNMIK Menschenrechtsverstöße aus der Zeit des KosovoKrieges im Wesentlichen im Rahmen des regulären Gerichtssystems, wobei jedoch aufgrund des Drucks, der bei diesen Verfahren auf die Beteiligten ausgeübt wurde, zumeist int