Vortrag lesen und herunterladen - Kriegskinder eV

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Curt Hondrich
Der Krieg gebiert den Krieg
Überlegungen zu den Langzeitfolgen von Kriegs-Traumatisierungen
(Vortrag gehalten am 20. November 2007 im Rahmen einer Veranstaltungsreihe von
Friedensbildungswerk Köln, Volkshochschule Köln und Melanchthon-Akademie Köln zum Thema
„Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg (1946 – 1949)“ )
1. Vorüberlegungen
Es sieht so aus, als seien Kriege unvermeidbar. Denn soweit wir auch in
die Geschichte der Menschheit zurück sehen, immer hat es Kriege
gegeben. Hat deshalb die Menschheit ihre Intelligenz in die stetige
Entwicklung von Waffen gesteckt? Wenn das so ist, dann hat Stanley
Kubrick Recht in seinem Film „2001 – Odyssee im Weltraum“. Da sind es
die Waffen gegen die anderen Urmenschen-Horden, die der Menschheit
den so genannten Fortschritt gebracht haben. Jedenfalls waren fast
immer diejenigen in der Geschichte erfolgreich, die das technisch besser
ausgerüstete Militär hatten. Das Militär war häufig Motor für wichtige
Erfindungen. Erst im Nachhinein wurden diese Erfindungen dann auch
zivil genutzt. So gab es wohl zunächst die Keule und dann erst den
Hammer.
So könnte es angefangen haben. Und so ging es auch weiter. Auch im
20. Jahrhundert. Da wurde das Glasfaserkabel zunächst für das Militär
entwickelt, damit die Nachrichtenübermittlung unabhängig von einem
atomaren Überspannungsimpuls funktionieren konnte. Um diese teure
Technik besser platzieren zu können, folgte die zivile Nutzung mit der
„wunderbaren Vermehrung“ von Telefonleitungen, Fernseh- und
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Hörfunkkanälen. Die Geschichte der Waffentechnik lässt sich lesen als
die Geschichte der Naturwissenschaften. Keine Frage, für wen Raketen
ursprünglich entwickelt wurden. Und bei einem Blick auf das usamerikanische Programm eines Raketen-Schutzschildes im Weltraum
wird klar, wofür die Raumfahrt alles gut ist.
Joseph Weizenbaum vom weltweit renommierten MIT, dem
Massachusetts Institute of Technology in Cambridge bei Boston / USA,
ist einer der großen Geister der Computerwissenschaft und gilt als einer
der Väter der Künstlichen Intelligenz. Zweifel an dem, was er tat, kamen
ihm, als er merkte, dass das Pentagon einer der Hauptsponsoren des
Instituts war. Joseph Weizenbaum bekam heraus, dass das
MIT im Vietnamkrieg an intelligenten Minen forschte, die nicht
explodieren sollten, wenn ein Panzer darüber fährt, aber hochgehen
sollten, wenn ein Mensch darauf tritt. An diesem Punkt wurde
Weizenbaum ein kritischer Wissenschaftler, der sich nicht nach
deutschem NS-Vorbild dafür hergeben wollte, für eine Forschung zu
arbeiten, der es gleichgültig ist, wofür ihre Ergebnisse genutzt werden.
Verantwortliche Wissenschaft kann sich nicht in jedes gemachte Bett
legen.
2. Kriege brechen nicht aus
„Der Krieg ist der Vater aller Dinge“, hat der vorsokratische Philosoph
Heraklit gesagt. Er hat diesen Satz elementarer gemeint, als er immer
zitiert wird. Heraklit meinte mit dem Wort „Krieg“ den Kampf zwischen
Werden und Vergehen. Wenn ich seinen Satz im Zusammenhang mit
unserem Begriff „Krieg“ betrachte, dann bekommt er etwas
Abgründiges: Der Krieg als der Motor von Werden und Vergehen? Leider
ist das nicht falsch - im technischen wie im kreatürlichen Sinn.
Menschen, meist junge Männer, werden geboren und unter großen
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Liebesmühen groß gezogen, mit Bildung und vielerlei Lebenstechniken
ausgestattet, und dann – dann werden sie „geopfert“: für das Vaterland,
die Freiheit, die gerechte Sache. Oder sie werden geopfert für die
Interessen von Macht-Eliten, seien sie politisch oder wirtschaftlich
orientiert.
Diese Lektion haben wir inzwischen gelernt, dass Kriege gemacht
werden und nicht etwa „ausbrechen“, als ob sie sich aus einer
Gefangenschaft befreiten und autonom in Gang kämen. Kriege werden
geplant, systematisch vorbereitet und dann begonnen. Das war immer
so, auch bei den beiden Weltkriegen, das war auch so beim
Rachefeldzug gegen Al Kaida und die Taliban in Afghanistan. In den
Jahren 2002 und 2003 konnten wir sehr genau beobachten, wie man das
macht, einen Krieg zu planen, herbei zu reden und schließlich zu
beginnen: den Irak-Krieg nämlich, den Krieg gegen Saddam Hussein.
Und nun dürfen wir zusehen, wie die Kriegsherren vor den Ergebnissen
ihrer Feldzüge stehen, vor Trümmern und körperlich wie seelisch
verstümmelten Zigtausenden von Menschen. Ein Fünftel der Iraker ist
auf der Flucht. Kriege haben sowohl individuelle wie kollektive
Auswirkungen.
Was waren die Gründe für diesen Krieg ? Die nukleare Aufrüstung oder
andere Massenvernichtungsmittel des Irak können es nicht gewesen
sein. Das wissen wir heute. Was aber dann ? Das Öl ? Die Interessen
der Waffenfabrikanten ? Eine Belebung der Wirtschaft insgesamt ? Sind
das Gründe, die die hohen Verluste der amerikanischen Streitkräfte im
Irak rechtfertigen: mehr als 3 200 Tote, 24 000 Verletzte ? Die Verluste
auf irakischer Seite sind noch viel höher. Sie betragen inzwischen
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mindestens 60 000 Tote, vor allem Zivilisten. Welche Gründe können
eine solche Bilanz rechtfertigen ?
Der preußische General Carl von Clausewitz war der Auffassung, es sei
das Ziel des Krieges, den Frieden herzustellen. Krieg sei ein Mittel der
Politik. Sein berühmter Leitsatz lautete: „Der Krieg ist die Fortsetzung der
Politik mit anderen Mitteln.“ Seit Ende des Kalten Krieges scheint sich
die gegenwärtige Politik wieder an diesen Leitsatz zu erinnern. Wie sonst
brächten die Regierungschefs westlicher Länder es fertig, sich einer sog.
politischen Vernunft zu beugen und junge Menschen in Kampfeinsätze
zu schicken ? Sie bauen an einem geeinten Europa, weil sie aus den
europäischen Kriegen politische Konsequenzen gezogen haben. In
Europa ist aus der Vergangenheit gelernt worden. Aber wie agiert
Europa nach außen ? Es betreibt atlantische Bündnispolitik mit anderen
Mitteln. Die USA haben mit dem 11. September 2001 den
Verteidigungsfall ausgerufen, und die NATO steht im Bündniswort.
Wissen die europäischen Regierungschefs, was sie tun, wenn sie
Truppen entsenden ? Natürlich. Sie wissen, dass sie fremdes Leben
aufs Spiel setzen. Der jetzige Verteidigungsminister beeilt sich schon,
ein Denkmal für die neuerlich gefallenen deutschen Soldaten zu
errichten. Dann kann man getrost zur Tagesordnung übergehen. Der
Toten ist ja gedacht. Man muss sich nicht mehr um sie kümmern.
Denkmäler befördern das kollektive Vergessen.
3. Die Wirklichkeit des Krieges
Die meisten Soldaten, die den Krieg überleben, sind nicht mehr die
Menschen, die sie vorher waren. Da gab es irgendwann während des
Einsatzes für viele einen Augenblick, der Alles veränderte. Ein Riss geht
durch ihr Leben, es gibt ein Vorher und ein Nachher.
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Jason Cooper zum Beispiel nahm sich vier Monate nachdem er aus dem
Irak nach Iowa heimgekehrt war, das Leben. Genauso wie 100 andere
Soldaten, hatte Jason die physischen Gefahren des Krieges überlebt.
Aber die psychischen Wunden, die ihm der Krieg beigebracht hatte,
konnte er nicht aushalten. Die Bilder in seiner Seele waren unerträglich,
sie waren tödlich für ihn.
Ein Einzelfall ist das nicht. Einer amerikanischen Studie zufolge, an der
100 000 Kriegsveteranen teilnahmen, wies ein Viertel von ihnen massive
psychische Probleme auf. 13 Prozent litten unter Posttraumatischen
Belastungsstörungen. Experten gehen davon aus, dass die
Folgeschäden bei Teilnehmern des Irak-Krieges größer sind als bei den
Vietnam-Veteranen. Das Gleiche gilt natürlich auch für die Soldaten
anderer Nationen. Auch für die Deutschen in Afghanistan.
Unteroffizier Frank Dornseif saß am 7. Juni 2003 mit 28 Kameraden in
einem Bus, der sie zum Flughafen bringen sollte, als ein
Selbstmordattentäter in den deutschen Konvoi fuhr und den Bus in die
Luft sprengte. Vier deutsche Soldaten kamen ums Leben. Viele weitere
wurden verletzt. Auch Frank Dornseif. Überall, wo sein Körper nicht von
der kugelsicheren Weste geschützt war, drangen Granatsplitter ein.
Diese Wunden heilten aus. Was ihn immer noch quält, obwohl er seit
seiner Heimkehr aus Afghanistan in drei Militärhospitälern behandelt
wurde, mehrere Trauma-Therapien erhielt und Tinnitus-Kuren
mitmachte, was ihn immer noch quält, sind Panikattacken,
Schweißausbrüche, starke Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit und
Alpträume. Wenn in den Nachrichten das Stichwort Afghanistan fällt, so
erzählt der Unteroffizier, dann „rieche ich noch immer das Blut“. Ein
typischer Trigger, wie die Psychotherapeuten das nennen, ein
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quälender, nicht kontrollierbarer Erinnerungsschmerz. Natürlich waren
seine Frau und seine Tochter froh, dass er aus Afghanistan
zurückkehrte. Doch seine Frau klagt heute, dass sie nicht den Mann
zurück bekommen habe, den sie kannte, sondern „einen Fremden, einen
Eisklotz“, der Nähe nur sehr schwer ertragen kann, der starken
Stimmungsschwankungen unterworfen ist, zu Depressionen neigt und
alle frühere Geselligkeit verloren hat. Mit 37 Jahren ist er seit der
„Feststellung der Verwendungsunfähigkeit“ in Rente. Er ist AfghanistanVeteran. Frank Dornseif sagt über sich selbst: „Ich habe überlebt, aber
alles andere in mir ist gestorben.“
Frank Dornseif zeigt die typischen Symptome einer Posttraumatischen
Belastungsstörung. Dabei hat er noch Glück gehabt, dass er sofort
behandelt wurde. Die Mehrzahl von psychisch Verletzten verhält sich
anders. Sie spüren zwar, dass sie einen psychischen Knacks bekommen
haben, wollen sich und den anderen gegenüber aber nicht zugeben,
dass mit ihnen etwas nicht stimmt. In einer Männergemeinschaft, wie es
das Militär immer noch ist, wollen sie nicht als „Weichei“ gelten und
versuchen deshalb, ihr Problem alleine zu bewältigen. Zunächst kann
das auch durchaus gelingen. Denn in vielen Fällen treten die Symptome
von Posttraumatischen Belastungsstörungen erst nach Wochen,
manchmal erst nach Jahren auf. Dann ist so etwas wie eine Heilung nur
noch schwer möglich.
So erging es dem Hauptfeldwebel Peter Hämmerle, der sehr wohl
merkte, dass der 7. Juni 2003 auch „sein Schicksalstag“ wurde. Er
bekam einen Knacks, aber er wollte sich das nicht eingestehen und blieb
in Kabul. Das ging gut, bis seine Kameraden feststellten, dass er bei
Patrouillenfahrten immer häufiger die Hand an seiner Waffe hatte. Da
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erst ließ er sich nach Hause zurückschicken. Hier kämpft er nun nicht
nur mit den seelischen Verletzungen, die ihn quälen, sondern auch um
seine Anerkennung als Invalide, damit er eine Rente bekommt, von der
er leben kann. Jetzt kann er nicht einmal seine Dachwohnung bezahlen
und muss mit einer Räumungsklage rechnen. Oft denkt er, es hätte ihn
in Kabul besser auch erwischt.
Und die anderen Traumatisierten, die nicht das Glück hatten, solch
aufmerksame Kameraden gehabt zu haben, wie Peter Hämmerle ? Was
ist mit ihnen ? Sie bleiben unauffällig bis zu dem Augenblick, in dem sie
ganz plötzlich ausrasten. Das kann eine tiefe Depression sein. Oder es
kann sich in einer Aggression äußern, die sich nach innen gegen sie
selbst richtet und in einem Selbstmord endet. Die Aggression kann sich
aber auch nach außen wenden und in einen Gewaltausbruch münden.
Der amerikanische Psychoanalytiker Jonathan Shay, der sehr viele
Vietnam-Veteranen behandelt hat, nennt dieses Ausrasten
„Berserkertum“. Es ist das, was dann als Grenzüberschreitungen
gegenüber dem militärischen Gegner, dem Feind, sichtbar wird. Da
werden Gefangene misshandelt, Totenschädel wie Trophäen
hochgehalten, Massaker verübt. Auslöser sind fast immer mehrere
Faktoren: Der Zweck des Kampfeinsatzes wird nicht mehr verstanden,
die Solodaten fühlen sich von ihrer politischen Führung belogen, der
Vorgesetzte demütigt seine Untergebenen – weil er möglicherweise
selbst an einem Trauma leidet. Und dann kommt noch hinzu, dass einer
der engeren Freunde oder Kameraden im Kampfeinsatz fällt. Ganz
plötzlich ist dann da eine Wut, eine wahnsinnige Wut, die nur noch
Rache will, nur töten will. Ohne Rücksicht auf die eigene Verletzbarkeit,
ohne Angst und mit dem Gefühl, einen unerschöpflichen Rachedurst
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stillen zu müssen, verliert der Kämpfer die Kontrolle über sich selbst und
wird zu einem Roboter der brutalsten Gewalt.
Es ist deshalb wenig sinnvoll, solchen Ausbrüchen mit disziplinarischen
Maßnahmen zu begegnen. Stattdessen ist Therapie dringend nötig.
Wenn Ausbilder traumatisierende Kampfsituationen simulieren, um
Rekruten auf die Realität ihrer Einsätze vorzubereiten, wie es jüngst auf
einem Truppenübungsplatz in Coesfeld geschehen ist, oder ein
Ausbilder seinen Rekruten ein rassistisches Feindbild verordnet, um den
Feind zu entwürdigen, wie ebenfalls jüngst bei der Bundeswehr
geschehen, dann können das schon die Voraussetzungen für eine
spätere Traumatisierung sein. In einer militärischen Macho-Gruppe kann
diese Art von Demütigung in der Ausbildung zu einer hilflosen Wut
führen. Diese Wut darf sich aber nicht gegen den Ausbilder richten und
sucht sich deshalb als Ventil die blindwütige Vernichtung des Feindes.
Der Vietnam-Veteran Claude Thomas, der 1966/67 als 17 jähriger
Ranger in Vietnam kämpfte, hat darüber berichtet, wie er das Hassen
lernte, weil er dazu ausgebildet wurde. Er hatte einen Spieß in der
Ausbildung, der ihm körperlich weit überlegen war. Eines Tages
hatten die Rekruten auf Zielscheiben geschossen, die wie Menschen
aussahen. Danach sollten sie ihre Gewehre in ein besonderes Regal
zurückstellen. Das Gewehr von Claude Thomas fiel dabei herunter. Der
Spieß kam angerannt und brüllte ihn an, dass er nicht richtig auf sein
Gewehr aufpasse, dass sein Gewehr das Wichtigste in seinem ganzen
Leben sei, dass von seinem Gewehr abhänge, ob er lebe oder sterbe.
Der Spieß überschüttete ihn mit wüsten Schimpfworten. Und dann, in
seiner Raserei, bepinkelte er ihn - vor all seinen Kameraden.
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Er musste zwei Tage so bleiben und durfte sich nicht waschen. Die
Demütigung war so groß, dass alles, was er fühlen konnte, nur noch
Wut war, blanker Hass.
Aber er konnte seine Wut nicht an dem Spieß auslassen. Dann wäre
er in den Knast gegangen. Also richtete sich seine Wut, sein Hass auf
den Feind. Der Feind war jeder, der nicht so war wie er - jeder, der
kein amerikanischer Soldat war. Claude Thomas lebte seine Wut aus.
Er tötete jeden Tag.
Solche Gewaltentladungen verändern Menschen für immer. Sie lassen
die Gewalt nicht auf dem Schlachtfeld, sondern bringen sie mit nach
Hause. Die Heimkehrer bleiben auch im zivilen Leben gewaltbereit und
begehen mehr als eine Gewalttat im Monat, was das Fünffache im
Vergleich zu Zivilisten ist. Wenn es sich dabei um Einzelfälle handelte,
wäre das nur statistisch interessant. Es sind aber Hunderttausende,
wenn nicht mehr, die mit der kriegerischen Gewalt haben leben lernen
müssen. Sei es, dass sie dabei innerlich zu Stein geworden sind, um
die Greuel des Krieges auszuhalten, oder sei es, dass die seelischen
Verletzungen so massiv waren, das sie zu Posttraumatischen
Belastungsstörungen geführt haben. In jedem Fall haben die
Persönlichkeits-Deformationen nicht nur individuelle sondern auch
gesellschaftliche Konsequenzen. Die einzelnen agieren nicht in einem
geschlossenen Raum sondern in ihrem sozialen Umfeld. Und das wird
natürlich mit beeinflusst. Gewalt ist also im Umkreis dieser Menschen
das Mittel, Konflikte zu lösen. Und wenn diese Haltung breit genug
gestreut ist, dann geht Gewalt sozusagen in die Kultur eines Landes
ein, sie wird das Mittel zur Lösung gesellschaftlicher und staatlicher
Konflikte.
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Ist es legitim, in dieser Weise zu verallgemeinern ? Ich fürchte, es gibt
eine Reihe von Gründen, die eine solche Verallgemeinerung
rechtfertigen.
4. Die Traumata der Enkel
Wir wissen inzwischen, dass Traumata von einer Generation zur
anderen weitergegeben werden. Das haben die Untersuchungen von
Kriegskindern des Zweiten Weltkrieges gezeigt, die von einem
interdisziplinären Kreis von Wissenschaftlern gemacht worden sind und
immer noch gemacht werden. Der Kreis nennt sich w2k, „Weltkrieg 2
Kindheiten“ und setzt sich aus Historikern, Soziologen,
Psychoanalytikern, Neurologen, Gerontologen und
Literaturwissenschaftlern zusammen. Und die haben heraus gefunden,
dass Traumata besonders dann weitergegeben werden, wenn darüber
nicht gesprochen wird, weder in der Familie noch öffentlich. Wenn
Traumata verschwiegen und verleugnet werden, dann können
bestimmte traumatisch erzeugte Verhaltensmuster von den Eltern an
die Kinder weitergegeben werden. Das gilt nicht nur für Angehörige des
Militärs, sondern auch für Zivilisten, die vom Krieg und durch
kriegsbedingte Traumatisierungen wie Flucht oder Bombardierung
betroffen sind.
Diese Weitergabe bedeutet beispielsweise für ein Land wie
Deutschland sehr viel. Denn die Deutschen wurden im Dritten Reich
und im Zweiten Weltkrieg in doppelter Weise traumatisiert: Einmal als
Täter im Krieg und im Holocaust sowie zum anderen als Opfer des von
ihnen begonnenen Krieges und dadurch mittelbar verursachter Flucht
und Vertreibung. Und das millionenfach. Das trifft auf die damals
Erwachsenen und in besonderem Maße auf deren Kinder zu. In der
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Forschung besteht Übereinstimmung, dass 55 bis 60 Prozent der
deutschen Kriegskinder traumatisiert worden sind. Diese
Traumatisierungen durften weder in den Familien noch in der
Öffentlichkeit thematisiert werden. Sie wurden verleugnet und
verschwiegen. Traumata sind deshalb eine Realität der deutschen
Gesellschaft. Und da sie öffentlich und privat nicht zugelassen wurden,
blieben und bleiben sie ein explosives Potenzial unter der Oberfläche.
Gelebt wurde in den ersten drei Jahrzehnten nach dem Krieg - aller
Vergangenheit zum Trotz – die Illusion einer heilen Familienwelt. Wo
diese bürgerliche Privatheit bedroht schien, wehrte sich die
Gesellschaft mit autoritärer Gewalt. Politisch kam diesem latenten
Gewaltpotenzial das kommunistische Feindbild entgegen. Die Welt war
aufgeteilt in Gute und Böse und das entspricht genau dem SchwarzWeiß-Denken eines Traumatisierten. Was in mir verkapselt bleiben
muss, wird draußen bekämpft. Differenzierungen finden nicht statt. Die
Kriegskinder übernahmen dieses Muster unbewusst von ihren Eltern.
Sie übernahmen auch die Disziplin, mit der sie ihre eigenen Traumata
verleugneten, um in der Gesellschaft funktionieren zu können.
Am Beispiel der RAF lässt sich eindrucksvoll zeigen, wie aus einem
aufklärerischen Impuls Gewalt entsteht. Die Studentenbewegung, aus
der die RAF hervorging, wandte sich gegen das Schweigen ihrer
Elterngeneration. Sie wollte wissen, was die Eltern im Dritten Reich
getan hatten. Sie wollten eine Aufklärung der Vergangenheit. Und wie
taten sie es ? Mit zunehmender Gewalt. Das war nicht alleine ihre
Schuld. Denn die Elterngeneration in Staat und Wirtschaft reagierte auf
die studentische Revolte mit der ihr vertrauten Verweigerung, mit
totschweigender Toleranz und mit dem Gewaltmonopol des Staates.
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Die Auseinandersetzung eskalierte. Die Studenten wandten Gewalt
gegen Sachen an, um ihren Anliegen öffentlich Gehör zu verschaffen.
Die RAF ging einen Schritt weiter und erklärte dieser geschlossenen
Gesellschaft den Krieg. Damit wiederholte sie, was sie zu bekämpfen
sich vorgenommen hatte. Aus psychohistorischer Sicht betrachtet
re-inszenierten sie die Traumata der eigenen Kindheit.
Daraus ist zu schlussfolgern, dass Gesellschaften, die ihre Traumata
nicht öffentlich zu verarbeiten suchen, immer in der Gefahr stehen,
diese Traumata wieder neu in Szene zu setzen. Im Falle von
Kriegstraumata bedeutet das, dass der Krieg im Konfliktfall eine latent
vorhandene Möglichkeit ist. Der Krieg gebiert den Krieg. Und mit jedem
neuen Krieg verlängert sich die Kette weitergegebener Traumata. In
biblischer Sprache hieße das: „Ich bin der Herr, dein Gott..., der da
heimsucht der Väter Missetat an den Kindern bis in das dritte und
vierte Glied.“
In die Geschichte zurückgeblickt ist es nur leicht übertrieben zu sagen,
dass wir Heutigen die Erblasten des Dreißigjährigen Krieges in uns
tragen. Denn seither hat es – bis auf die nach dem Zweiten Weltkrieg
Geborenen - keine Generation in Deutschland gegeben, die nicht einen
Krieg hätte erleben müssen. Und die nach 1945 Geborenen haben
immer noch Anteil an den Traumata ihrer Eltern und Großeltern. Es
gibt ernst zu nehmende Psychohistoriker, die es für möglich halten,
dass die gegenwärtig so häufig beklagte Gewaltbereitschaft von
Jugendlichen etwas zu tun haben könnte mit einem Verhalten, das sie
von ihren Eltern und Großeltern unbewusst übernommen haben. Das
entschuldigt dieses Verhalten nicht, aber es erklärt ein gewaltbereites
Verhalten.
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Die transgenerationale Weitergabe von Traumata findet natürlich auch
in den anderen Nationen auf diesem Kriegs-Kontinent Europa statt.
Insofern ist die Bemühung um ein geeintes Europa psychohistorisch
gar nicht hoch genug einzuschätzen. Alte Gegensätze kommen auf den
Tisch, wie gegenwärtig etwa der zwischen Polen und Deutschland oder
Tschechien und Deutschland. Zugleich aber ist die nationale Dualität
aufgehoben in der Internationalität der Europäischen Union. So kann
Aussöhnung wachsen, wie sie in Jahrzehnten gewachsen ist zwischen
Deutschland und Frankreich, allmählich auch zwischen Großbritannien
und Deutschland. Nach dem gemeinsamen wirtschaftlichen Handeln
der Europäer könnte nun ein gegenseitige Verstehen beginnen. Dazu
wäre es nötig, dass über die kollektiven Traumata in den einzelnen
Ländern öffentlich gesprochen wird. Das aber ist ein Wunsch, der nur
schwer zu erfüllen ist. Warum ?
5. Keine Nation ohne kollektives Trauma
Die psychoanalytische Wahrnehmung zeigt, dass Nationen offenbar
ein besonderes Bindemittel nötig haben, damit sie zusammenhalten:
ein nationales Trauma, das kollektiv verschwiegen wird und darum
bindet. Der Berliner Psychoanalytiker Christoph Seidler vertritt die
Ansicht, dass es keine Nation ohne ein solches Trauma gibt. Das gilt
für die USA ebenso wie für China oder Israel. Besonders sichtbar wird
es zur Zeit in der Türkei am Fall des türkisch-armenischen Journalisten
und Schriftstellers Hrant Dink, der im Januar 2007 auf offener Straße in
Istanbul erschossen wurde, weil er ein nationales Tabu der Türken
gebrochen hatte: Er hatte sich für die öffentliche Aufarbeitung des
Massenmordes an den Armeniern im Jahre 1915 eingesetzt. Dink
meinte, dass das Armeniertabu bei der Entstehung der türkischen
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Nationalidentität eine wichtige Rolle spiele. Die türkische
Nationalidentität nähre sich sozusagen daraus. Würde man das Tabu
hervorholen, ans Licht bringen und zeigen, dass die Geschichte ganz
anders war, dann würde man die nationale Identität der Türkei in ihren
Fundamenten erschüttern. Dann aber geriete der Nationalstaat selbst ins
Wanken. Deshalb gilt eine solche Erschütterung als große Gefahr. Hrant
Dink hielt deshalb Türken und Armenier in ihrer Beziehung zueinander
wechselseitig für therapie-reif. Die Türken – wie er es nannte - mit ihrer
Paranoia, die Armenier mit ihrem Trauma.
Seinen Tabubruch bezahlte Hrant Dink mit dem Leben. Sein Sohn, Arat
Dink, wurde wegen „Herabwürdigung des Türkentums“ zu einem Jahr
Gefängnis auf Bewährung verurteilt, weil er ein Interview seines Vaters
zum Völkermord an den Armeniern veröffentlicht hatte. Er bekam
Morddrohungen wie sein Vater und hat mit seiner Familie die Türkei
inzwischen verlassen. Auf dramatische Weise bestätigt der Fall Hrant
und Arat Dink die psychohistorische Interpretation von Nationalstaaten.
Zugleich wird deutlich, wie eng ein tabuisiertes kollektives Trauma und
die Gewalt beieinander sind. In letzter Konsequenz ist das eine der
Begründungen dafür, warum es immer wieder Kriege gibt, und warum
sie zur Menschheit unabwendbar dazu zu gehören scheinen.
Ein möglicher Weg dürfte deshalb wohl sein, eine Chance auf Frieden
langfristig zu ermöglichen, indem das Schweigen über die nationalen
Tabus gebrochen wird. Es wäre eine Chance für ein gegenseitiges
Verstehen. Das Schweigen fortzusetzen, wäre langfristig verhängnisvoll.
Schweigen kann kriegstreibend sein.
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6. Den Krieg verlernen
Es gehört zu unserer traumatischen Tradition, dass wir uns in
bedrohlichen Konfliktfällen für die Gewalt als Lösungsmittel für den
Konflikt entscheiden und deshalb nicht nur das Militär behalten, sondern
es für Milliarden und Abermilliarden Euro immer wieder auf den
modernsten Stand bringen. Gewalt anzuwenden, einen Krieg zu
riskieren, macht uns weniger Angst, als gewaltlos in Konflikte zu gehen.
Dann fühlen wir uns ausgeliefert, schutzlos, schwach, erpressbar. Das
Ergebnis ist: Wir befinden uns gegenwärtig im Krieg. Erstmals allerdings
in einem Krieg, der nicht auf unserem Territorium stattfindet sondern am
Hindukusch, wo deutsche Soldaten angeblich unsere Freiheit
verteidigen. Sie bezahlen es mit ihrem Leben oder ihrer Gesundheit und
langfristig damit, dass ihre Kinder die Leiden ihrer Väter weiter tragen.
Literaturliste
(Auswahl)
Ludwig Janus (Hrsg.): Geboren im Krieg
Kindheitserfahrungen im 2. Weltkrieg und ihre Auswirkungen
Psychosozial-Verlag, Gießen 2006
Christoph Seidler, Michael J. Froese (Hrsg.): Traumatisierungen
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in (Ost)Deutschland
in: Psyche und Gesellschaft
Psychosozial-Verlag, Gießen 2006
Hans-Heino Ewers et al. (Hrsg.) : Erinnerungen an Kriegskindheiten
Erfahrungsräume, Erinnerungskultur und Geschichtspolitik unter
sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive
Juventa-Verlag, Weinheim 2006
Hartmut Radebold et al. (Hrsg.): Kindheiten im Zweiten Weltkrieg
Kriegserfahrungen und deren Folgen aus psychohistorischer Sicht
Juventa Verlag, Weinheim 2006
Sabine Bode: Die deutsche Krankheit - German Angst
Klett Cotta, Stuttgart 2006
Jonathan Shay: Achill in Vietnam
Kampftrauma und Persönlichkeitsverlust
Hamburger Edition HIS Verlagsges., Hamburg 1998
Claus Eurich: Tödliche Signale
Die kriegerische Geschichte der Informationstechnik
von der Antike bis zum Jahr 2000
Sammlung Luchterhand 968
Luchterhand Literaturverlag, Frankfurt/M. 1991
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