INTERNES DOKUMENT F_CES5020-2005_DOC

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9. SITZUNG DES DISKUSSIONSFORUMS EU-INDIEN
Hyderabad, A.P., 18. - 20. September 2005
DISKUSSIONSPAPIER
Kultureller und religiöser Pluralismus in demokratischen Gesellschaften:
Muslime in Indien und der Europäischen Union
von
Sukhdev Sharma,
Berichterstatter
DE
-1EINLEITUNG
Das Diskussionsforum bewies Weitsicht, als es im Dezember 2004 in London den Beschluss
fasste, in seiner nächsten Sitzung das Thema "Kultureller und religiöser Pluralismus" zu
erörtern, denn in dem Aktionsplan, den der indische Premierminister Manmohan Singh und
sein britischer Kollege Tony Blair auf ihrem Gipfeltreffen am 7. September 2005 in NeuDelhi verabschiedeten, wurde vereinbart, dass Indien und die Europäische Union (EU)
"einen Dialog über Pluralismus und Vielfalt auf den Weg bringen werden, um Erfahrungen auszutauschen und das gegenseitige Wissen über die kulturelle und sprachliche Vielfalt in
Indien und der EU zu erweitern."
In diesem Aktionsplan ist ferner festgehalten, dass sowohl die indische als auch die europäische Gesellschaft multikulturell, multireligiös und vielsprachig sei. Indien sei ein eigener
Mikrokosmos und mit der zweitgrößten muslimischen Gemeinschaft weltweit ein Paradigma
für die Art und Weise, wie unterschiedliche Religionen in einer pluralistischen, demokratischen und offenen Gesellschaft prosperieren können. Die EU ihrerseits sei demographisch
gesehen eines der vielfältigsten Gebilde in der Welt, aber dennoch in der Lage, die Vielfalt
ihrer Mitgliedstaaten zu einem kohärenten Ganzen zu verbinden. Ein ständiger Dialog zwischen diesen beiden Partnern könne nur zu ihrem gegenseitigen Nutzen sein.
Angesichts der privilegierten Rolle des Diskussionsforums in dem von Indien und der EU
aufgebauten institutionellen Mechanismus dürfen wir unsere Diskussion in Hyderabad
sicherlich als Initialzündung für den Dialog über Pluralismus und Vielfalt zwischen Indien
und der EU ansehen. Diese Diskussion könnte zu keinem geeigneteren Zeitpunkt stattfinden.
Nach den Anschlägen in Madrid am 11. März 2004 und in London am 7. und 21. Juli 2005
sowie der Ermordung des niederländischen Filmemachers Theo Van Gogh am 2. November
2004 steht die Frage der Muslime in der EU ganz weit oben auf der politischen Agenda der EU.
Unser Forum ist besonders gut geeignet, um einen Dialog über den kulturellen und religiösen
Pluralismus in unseren Gesellschaften zu führen und Empfehlungen an die Adresse des politischen Gipfeltreffens EU-Indien auszuarbeiten, vertreten wir doch die europäische und die
indische Zivilgesellschaft und können deshalb die muslimischen Gemeinschaften direkt an
der Basis erreichen. So können wir die Bemühungen beispielsweise der britischen Behörden,
einen Dialog mit den offiziellen Vertretern der muslimischen Gemeinschaft zu führen, ergänzen. Vor diesem Hintergrund habe ich den Schwerpunkt in diesem Diskussionspapier auf
diejenigen Fragen gelegt, über die wir in unserer Sitzung in Hyderabad einen sinnvollen
Erfahrungs- und Informationsaustausch führen können.
Auch wenn die 15 EU-Mitglieder des Diskussionsforums aus vielen verschiedenen der
25 EU-Mitgliedstaaten stammen, ist unser Ansatz doch "europäisch". Ich habe einen Überblick über die muslimischen Gemeinschaften in einigen EU-Staaten zusammengestellt, um
uns die Diskussion zu erleichtern. Meine Kollegen werden die Lücken mit ihrem eigenen
Wissen über die Situation in ihren Ländern und mit ihren Erfahrungen aus erster Hand füllen
.../...
-2können. Ferner habe ich auch einige Beschlüsse der EU zu Schlüsselfragen wie Einwanderung und Integration zusammengefasst und erläutert.
Letztlich steht jedoch die Situation der muslimischen Gemeinschaft im Vereinigten Königreich und in Frankreich im Mittelpunkt dieses Diskussionspapiers, da diese beiden Länder
wohl als beste Beispiele für die beiden Hauptrichtungen beim Umgang mit den Minderheitsgemeinschaften in den Mitgliedstaaten herangezogen werden können. Das Vereinigte Königreich hat einen multikulturellen Ansatz gewählt, wohingegen Frankreich eine vollständige
Integration erreichen möchte. Deutschland, das Land mit der zweitgrößten muslimischen
Gemeinschaft in der EU, ist heute gezwungen, so gut wie möglich mit seiner eigenen früheren
Fehleinschätzung zurecht zu kommen: Deutschland hatte die zahlreichen türkischen Arbeitnehmer, die kurz nach dem zweiten Weltkrieg als gerngesehene Arbeitskräfte ins Land gerufen wurden, ursprünglich als Gastarbeiter angesehen und ging davon aus, dass diese nach
getaner Arbeit wieder in ihr Heimatland zurückkehren würden.
Wie bereits erwähnt haben die Anschläge von Madrid und London die Muslime in einem
Maße ins Blickfeld gerückt, dass sie von Mitbürgern belästigt und bedroht und von einem
Teil der Medien verteufelt werden. Diese Anschläge haben in aller Deutlichkeit ein Problem
aufgezeigt, das zuvor von fast niemandem wahrgenommen wurde: das Gefühl der Entfremdung bei einer kleinen Minderheit der Muslime.
Der beste Weg zur Lösung des Problems, das diese Minderheit darstellt, ist die Zusammenarbeit mit der Mehrheit der Muslime, die den Terror ablehnen. Es muss dafür gesorgt werden,
dass diese sich in den Ländern, in die sie eingewandert sind, zu Hause fühlen. Genau in diesem Punkt kann der Ansatz Indiens für die Auseinandersetzung mit seiner großen muslimischen Minderheit als Inspirationsquelle für die EU dienen. Die Mitglieder des Diskussionsforums EU-Indien können hier eine Vorreiterrolle übernehmen, indem sie eine offene und ehrliche Debatte führen, die gleichzeitig eine Debatte zwischen der indischen und europäischen
Zivilgesellschaft ist.
Muslimische Gemeinschaften in der Europäischen Union
1945 lebten weniger als eine Million Muslime in Westeuropa. Die Schätzungen über die Zahl
der Muslime in der EU der 25 gehen weit auseinander: sie reichen von 15 bis 20 Millionen
bei einer Gesamtbevölkerung von über 450 Millionen Bürgern. Diese Ungenauigkeit ist
einerseits auf die unterschiedliche Definition des Begriffs "Muslim" zu statistischen Zwecken
und andererseits darauf zurückzuführen, dass einige EU-Mitgliedstaaten keine Angaben über
die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft erheben. Frankreich weist mit rund 4 bis
5 Millionen Muslimen bei einer Gesamtbevölkerung von 60 Millionen den höchsten muslimischen Bevölkerungsanteil in Europa auf. In Deutschland leben über 3 Millionen Muslime bei
einer Gesamtbevölkerung von 83 Millionen, gefolgt vom Vereinigten Königreich, in dem sich
1,5 Millionen Muslime niedergelassen haben (bei einer Gesamtbevölkerung von 60 Millionen). In Spanien, Italien und den Niederlanden leben jeweils rund eine Million Muslime.
.../...
-3Die Muslime in Europa sind in fast jeder Hinsicht eine äußerst heterogene Gruppe. So leben
beispielsweise im Vereinigten Königreich Muslime, die vor einem halben Jahrhundert aus
dem indischen Subkontinent ins Vereinigte Königreich kamen und deren Kinder und Enkelkinder dort geboren wurden und britische Staatsbürger sind. Mehr als die Hälfte der Muslime
in Frankreich, dem Vereinigten Königreich, den Niederlanden und Belgien sind Staatsbürger
des jeweiligen Landes. In Deutschland ist die Lage immer noch ganz anders: hier beruhte die
Staatsangehörigkeit bis vor kurzem noch ausschließlich auf der Abstammung, weshalb viele
Muslime keine deutschen Staatsbürger sind.
Europa weist insgesamt zwar eine alternde Bevölkerung auf, seine muslimischen Gemeinschaften verzeichnen jedoch eine weit höhere Jugendlichenquote als die restlichen Bevölkerungsgruppen. Ein Drittel der in Frankreich lebenden Muslime ist unter 20 Jahre alt; in der
Gesamtbevölkerung beträgt der entsprechende Anteil 20%. In Deutschland ist ein Drittel der
Muslime unter 18 Jahre alt, während die Unter-18-Jährigen insgesamt nur 18% der Gesamtbevölkerung ausmachen. Im Vereinigten Königreich schließlich ist ein Drittel der Muslime
unter 16 Jahre alt im Vergleich zu einem Gesamtbevölkerungsanteil der Unter-16-Jährigen
von 20%. Laut einigen Schätzungen könnten die höheren Geburtenraten bei den Muslimen
bis zum Jahr 2015 zu einer Verdoppelung der muslimischen Bevölkerung in Europa führen.
Der relativ hohe muslimische Bevölkerungsanteil in Europa kann einerseits als ein Erbe der
Kolonialzeit, wie es ein muslimischer Autor ausgedrückt hat, und andererseits im Rückblick
als unvermeidliche Folge der von vielen Ländern verfolgten Politik gesehen werden, die Einwanderung von Arbeitern aus anderen europäischen Ländern wie Italien und Polen, aber auch
aus Drittländern einschl. muslimischer Länder zu fördern. Das britische Empire hinterließ den
Bürgern des Commonwealth das Recht, nicht nur ohne Visum ins Vereinigte Königreich einzureisen, sondern auch in den Genuss der gleichen Rechte, einschl. des Wahlrechts, wie die
britischen Staatsbürger zu kommen.
Dieses Recht büßten die Bürger der Commonwealth-Staaten jedoch 1962 ein. Heute kommen
alle EU-Staatsbürger einschl. der Muslime in den Genuss eben dieses Rechts, das einstmals den
Commonwealth-Bürgern zugestanden wurde. Ab den frühen 70er Jahren wurde die Einwanderung als Reaktion auf den Konjunkturabschwung, der mehr oder weniger mit der ersten Ölkrise
zusammenfiel, auch in anderen EU-Mitgliedstaaten eingeschränkt. Seitdem tragen in erster
Linie Programme zur Familienzusammenführung, aber auch kriegerische Auseinandersetzungen
in bestimmten Ländern, von denen viele muslimisch sind, zu einem Anstieg der Einwandererzahl bei. Flüchtlinge aus Ländern wie Afghanistan, Bosnien, dem Irak und den palästinensischen Gebieten haben die muslimische Bevölkerung in Europa weiter anwachsen lassen.
All dies erklärt die große ethnische, kulturelle und auch sprachliche Vielfalt der Muslime in
Europa. Die Muslime bilden nicht eine einzige, sondern viele Gemeinschaften. Diese Vielfalt
tritt nirgendwo so deutlich zu Tage wie im Vereinigten Königreich, wo die muslimische
Gemeinschaft laut der Volkszählung aus dem Jahre 2001 Araber, Afghanen, Iraner, Türken,
Kurden, Nordafrikaner und Somalier umfasst. Die Mehrheit, 73%, jedoch haben einen asiatischen ethnischen Hintergrund. So stammen 43% aus Pakistan, 16% aus Bangladesch, 8% aus
Indien und 6% aus anderen asiatischen Ländern.
.../...
-4Daraus ergibt sich auch, dass die Muslime in Europa wie die Muslime in der ganzen Welt
unterschiedlichen islamischen Traditionen angehören. Darüber hinaus sieht die erste Generation der Muslime ihren Glauben anders als die zweite und dritte Generation, die bereits in der
EU geboren wurde und hier aufgewachsen ist. Diese zweite und dritte Generation erachtet die
Zugehörigkeit zur islamischen Religionsgemeinschaft eher als Frage der persönlichen Überzeugung denn als Frage der Familie und Tradition wie noch ihre Eltern und Großeltern.
Angesichts der Verdächtigungen und sogar Anfeindungen, denen die Muslime gegenwärtig in
vielen Teilen Europas ungeachtet ihrer ethnischen Herkunft ausgesetzt sind, haben aber Jung
und Alt wieder zusammengefunden.
Abschließend noch ein Wort zum rechtlichen Status des Islam in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten, der von Land zu Land unterschiedlich ist. So ist der Islam - neben den anderen großen Religionsgemeinschaften - in Österreich seit 1912 und in Belgien seit 1974 offiziell anerkannt. In Spanien wurden den muslimischen Gemeinschaften 1992 mit einem eigenen
Zusammenarbeitsabkommen zahlreiche Rechte eingeräumt, wohingegen sich die muslimischen Gemeinschaften in Deutschland und Italien bislang erfolglos dafür eingesetzt haben,
den gleichen privilegierten Status wie andere vom Staat geförderte Religionsgemeinschaften
zu erhalten. In Frankreich, den Niederlanden und Schweden haben alle Religionsgemeinschaften im Grunde genommen den gleichen Status, wohingegen der unterschiedliche Status der
Religionsgemeinschaften im Vereinigten Königreich großteils nur symbolischen Charakter hat.
Gemeinschaftsrecht: das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit
Die Hauptzuständigkeit für Einwanderungsfragen liegt nach wie vor bei den einzelnen EUMitgliedstaaten. Die Einwanderung ist jedoch mittlerweile zu einem ständigen Merkmal der
europäischen Gesellschaft insgesamt geworden und geht auch heute, da die EU an der vollkommenen Abschaffung der Kontrollen an ihren Binnengrenzen arbeitet, weiter. Die EU ist
daher in zwei wesentlichen Bereichen an der Entwicklung von Maßnahmen beteiligt: einerseits im Bereich der Grenzkontrolle und der Bekämpfung der illegalen Einwanderung und
andererseits im Zusammenhang mit der Verwaltung der innergemeinschaftlichen Migrationsströme durch die Förderung der Integration der legal in den Mitgliedstaaten lebenden Einwanderer und ihrer Nachkommen.
Am 29. Oktober 2004 wurde der Vertrag über eine Verfassung für Europa in Rom von allen
25 EU-Mitgliedstaaten unterzeichnet; er muss nun ratifiziert werden. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist Bestandteil dieses Vertrags. Viele der darin verankerten
50 Rechte und Freiheiten wurden erstmals in dem vom Rat der Europäischen Union (der sich
aus den Staats- und Regierungschefs der EU zusammensetzt) im Jahr 2001 angenommenen
Vertrag von Nizza festgelegt. In der Präambel der Grundrechtscharta, die beiden Verträgen
gemein ist, heißt es, dass die Europäische Union
"sich in dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen [...] Erbes auf
die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität gründet.
Sie beruht auf den Grundsätzen der Demokratie und der
.../...
-5Rechtsstaatlichkeit. Sie stellt die Person in den Mittelpunkt
ihres Handelns, indem sie die Unionsbürgerschaft und einen
Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts begründet."
In Artikel 1 beider Fassungen der Grundrechtscharta ist festgehalten, dass "die Würde des
Menschen unantastbar ist". In Artikel 2 heißt es: "Jede Person hat das Recht auf Leben. Niemand darf zur Todesstrafe verurteilt oder hingerichtet werden." In beiden Fassungen wird
auch das Recht auf Asyl im Einklang mit der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und
dem Protokoll über die Rechtstellung der Flüchtlinge von 1967 garantiert. Ferner enthält die
Charta Bestimmungen über die Gleichheit vor dem Gesetz und die Nichtdiskriminierung. Die
Union wird zudem angehalten, die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen zu achten.
Die im Verfassungsvertrag enthaltene Grundrechtscharta umfasst zahlreiche zusätzliche
Bestimmungen, die in den Titeln Solidarität, Bürgerrechte, Justizielle Rechte und Allgemeine
Bestimmungen über die Auslegung und Anwendung der Charta zusammengefasst sind. Im
abschließenden Artikel ist folgendes verankert: "Keine Bestimmung dieser Charta ist so auszulegen, als begründe sie das Recht, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung vorzunehmen, die darauf abzielt, die in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten abzuschaffen
oder sie stärker einzuschränken, als dies in der Charta vorgesehen ist."
In der Grundrechtscharta werden die aufgrund des geltenden Gemeinschaftsrechts bestehenden bzw. die aus den internationalen Verpflichtungen, die alle EU-Mitgliedstaaten eingegangen sind, erwachsenden Rechte bekräftigt. So sind die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten
nach Maßgabe der vom Rat im Jahr 2000 verabschiedeten Richtlinie zur Anwendung des
Gleichbehandlungsgrundsatzes verpflichtet, Maßnahmen zur Bekämpfung der Diskriminierung aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft in den Bereichen Beschäftigung,
Bildung, Sozialschutz und Zugang zu sowie Versorgung mit öffentlichen Gütern und Dienstleistungen zu setzen. In der ebenfalls 2000 verabschiedeten Rahmenrichtlinie sind Maßnahmen zur Bekämpfung der Diskriminierung in den Bereichen Beschäftigung und berufliche
Bildung aus Gründen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters
oder der sexuellen Ausrichtung enthalten.
Im November 2004 hat die EU elf gemeinsame Grundprinzipien für ihre Einwanderungspolitik angenommen. Die Eingliederung ist ein dynamischer, in beide Richtungen gehender Prozess des gegenseitigen Entgegenkommens aller Einwanderer und aller in den EU-Mitgliedstaaten ansässigen Personen. Sie erfordert die Achtung der Grundwerte der Europäischen
Union. In der Grundrechtscharta der Europäischen Union werden die Achtung der Vielfalt der
Kulturen und das Recht auf freie Religionsausübung garantiert. Die Kulturen und Religionen,
die mit den Einwanderern zu uns kommen, können die Verständigung zwischen den Menschen fördern, die Eingliederung der Einwanderer in die neue Gesellschaft erleichtern und die
Gesellschaft bereichern.
Allerdings haben die EU-Mitgliedstaaten dafür Sorge zu tragen, dass einzelne Zuwanderer
nicht wegen kultureller oder religiöser Bräuche an der Wahrnehmung anderer Grundrechte,
beispielweise der Rechte der Frauen oder der positiven oder negativen Religionsfreiheit,
gehindert werden. Ein konstruktiver gesellschaftlicher, interkultureller und interreligiöser
.../...
-6Dialog in Verbindung mit der Förderung kultureller und religiöser Ausdrucksformen, die die
nationalen und europäischen Werte respektieren, ist am besten geeignet, um Problemen im
Zusammenhang mit unannehmbaren kulturellen und religiösen Bräuchen zu begegnen, die im
Widerspruch zu Grundrechten stehen. "Gegebenenfalls können aber nach dem Gesetz auch
rechtliche Zwangsmaßnahmen erforderlich sein."
Die EU arbeitet seit 1999 an einer gemeinsamen Asyl- und Einwanderungspolitik. Im März
2005 wurde das mehrjährige Haager Programm zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und
Recht in der Europäischen Union angenommen. Unter dem Hinweis darauf, dass es auch
weiterhin internationale Wanderbewegungen geben wird, wird in diesem Programm eine
umfassende Herangehensweise gefordert, in die alle Phasen der Wanderungsbewegungen,
einschl. der Gründe für die Zu- und Abwanderung, einbezogen werden. Es wird jedoch auch
anerkannt, dass die Migration eine wichtige Rolle beim Ausbau der wissensbestimmten Wirtschaft in Europa und der Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung spielen wird. Daher
muss die Migration auch weiterhin in den Beziehungen zwischen der EU und Drittländern
umfassend berücksichtigt werden.
In dem Haager Programm wird ferner betont, dass die EU eine erfolgreiche Integration der
sich rechtmäßig in der EU aufhaltenden Drittstaatsangehörigen und ihrer Nachkommen
sicherstellen muss. Es wurden zwar bereits Maßnahmen getroffen, um ihnen eine faire
Behandlung zu garantieren, doch müssen sie auch in den Genuss wirklicher Chancengleichheit kommen, damit sie umfassend an der Gesellschaft teilhaben können. Dafür bedarf es
eines regelmäßigen Austausches und interkulturellen Dialogs.
Gemäß dem Haager Programm ist die Europäische Kommission, die Exekutive der EU in
Brüssel, verpflichtet, die Ziele und Prioritäten dieses Programms im Rahmen eines Aktionsplanes, der den 25 Regierungen der EU-Mitgliedstaaten noch dieses Jahr vorgelegt werden
soll, in konkrete Form zu gießen. Im Mai 2005 legte die Kommission einen Entwurf für die
zehn Prioritäten für die nächsten fünf Jahre vor. Sie hielt fest, dass in dem von der EU gebildeten Raum der Freizügigkeit eine gemeinsame Integrationspolitik erforderlich sei, eine Politik, die einen sicheren Rechtsstatus biete und eine Reihe von Rechten garantiere, um die
Integration der Zugelassenen zu unterstützen.
Die Europäische Kommission wies ferner auf die Notwendigkeit hin, die positiven Auswirkungen der Migration zu maximieren. Wichtig ist dabei, dass die Isolation und soziale Ausgrenzung von Einwanderergruppen verhindert wird und die Mitgliedstaaten darin bestärkt
werden, eine bessere Integrationspolitik zu verfolgen. Mit einer erfolgreichen Integrationspolitik wird nach Meinung der Europäischen Kommission ein Beitrag zum gegenseitigem Verständnis und zum Dialog zwischen den Religionen und Kulturen geleistet.
Im Gemeinschaftsrecht wird nicht zwischen Muslimen und Angehöriger anderer Glaubensgemeinschaften unterschieden. Maleiha Malik, Juradozentin am Londoner Kings College, hat
auf ein für muslimische Minderheiten geschaffenes System des islamischen Rechts, des fiqh,
hingewiesen, das diese beispielsweise bei der Ausübung ihrer Religion leite. Ihrer Meinung
nach müssten die muslimischen Gemeinschaften in Europa Einfallsreichtum beweisen, um
sich an der Schnittstelle zwischen dem islamischen Recht und dem Rechtssystem der Mehr-
.../...
-7heit zurecht zu finden. Mit den EU-Vorschriften gegen Diskriminierung sollte die Anpassung
des islamischen Rechts fiqh an das Rechtssystem der Mehrheit erleichtert werden.
Multikulturalismus versus Integration?
Es gibt nur zwei Länder in der EU, die auf eine lange Einwanderungsgeschichte zurückblicken können: das Vereinigte Königreich und Frankreich, beides ehemalige Kolonialmächte.
Als drittes Land haben auch die Niederlande Einwanderer aus ihren ehemaligen Kolonien
aufgenommen, wohingegen Belgien seine Grenzen für Einwanderer aus Belgisch Kongo
abriegelte, selbst nachdem der Kongo 1962 in die Unabhängigkeit entlassen wurde. Für die
meisten EU-Länder bestand daher bis vor kurzem keinerlei Grund, Menschen aus nichteuropäischen Ländern aufzunehmen. Diejenigen, die sie aufgenommen haben, waren zumeist Asylbewerber, die vor einem Bürgerkrieg oder bewaffneten Konflikten in ihrer Heimat flüchteten.
Daher ist die britische und französische Einwanderungspolitik von besonderem Interesse. Bis
Anfang der 60er Jahre verfolgten beide Länder eine sehr ähnliche Einwanderungspolitik mit
dem Ziel der Integration, ja sogar Assimilation der Einwanderer. In den 60er Jahren verschrieb sich das Vereinigte Königreich dann einer Politik, die fast als Gegenteil der Integration angesehen werden könnte, und zwar der Politik des Multikulturalismus.
Was heißt nun Multikulturalismus? Auf der Website eines Commonwealth-Mitglieds, und
zwar Kanada, ist er genau definiert, da er Teil der kanadischen Regierungspolitik ist. Für die
Kanadier ergibt sich der Multikulturalismus folgerichtig aus ihrer Überzeugung, dass alle
Bürger gleich sind. Er stellt sicher, dass alle Bürger ihre Identität bewahren, mit Stolz auf
ihre Abstammung blicken und ein Gefühl der Zugehörigkeit behalten und entwickeln können.
Die kanadische Erfahrung hat gezeigt, dass der Multikulturalismus eine Harmonie zwischen
Menschen unterschiedlicher Rasse und ethnischer Herkunft und ein kulturübergreifendes
Verständnis fördert und Gettoisierung, Hass, Diskriminierung und Gewalt unterbindet.
Professor Gurpreet Mahajan vertritt die Auffassung, dass der Multikulturalismus den Wert
der kulturellen Vielfalt in den Vordergrund rückt und das Ideal einer Gesellschaft verfolgt, in
der unterschiedliche Gemeinschaften eine gemeinsame Identität schaffen, dabei jedoch in
ihrer kulturellen Herkunft verwurzelt bleiben. Seiner Meinung nach ist der Multikulturalismus eine neue Art des Universalismus, in der die Integration nicht die vollkommene Abkoppelung von der eigenen Gemeinschaft erfordert. Der Multikulturalismus fördere daher die
kulturelle Vielfalt, wodurch wiederum ein von der breiten Mehrheit getragenes Klima der
Toleranz geschaffen werde, das nicht durch religiöse oder kulturelle Unduldsamkeit zum
Scheitern gebracht oder beeinträchtigt werde.
Die ursprüngliche britische Reaktion auf die Einwanderungsströme aus Südasien, Afrika und
der Karibik in den Nachkriegsjahren war eine Politik der Assimilierung. Im Jahr 1976
ersetzte der damalige britische Innenminister (und spätere Präsident der Europäischen Kommission) Roy Jenkins diese Politik durch eine Politik der Akzeptanz der kulturellen Vielfalt
(die Veranstaltungen wie dem Nottinghill Carnival in London Auftrieb gegeben hat) und der
.../...
-8Chancengleichheit (die beispielsweise über die Kommission für Rassengleichheit, CRE,
gefördert werden soll).
Der Multikulturalismus wurde von allen Regierungen unter Führung der Labour-Partei wie
auch der Konservativen akzeptiert. Mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den
Vereinigten Staaten verstärkte sich jedoch im Vereinigten Königreich und in ganz Europa der
Eindruck, dass die Muslime politisch außergewöhnliche, kulturell unzumutbare und theologisch fremde Anforderungen an die europäischen Staaten stellen, so Professor Tariq Modood
von der Universität Bristol in einem Schreiben vom Mai 2003. In einer echten multikulturellen Gesellschaft müsse jedoch die Religion als gültige gesellschaftliche Kategorie anerkannt
werden, damit die muslimischen "Diese da" zu einem Teil des pluralistischen "Wir" werden.
Im folgenden Jahr erklärte der CRE-Vorsitzende Trevor Philips, dass er den Begriff Multikulturalismus nicht mehr verwendet wissen wolle, da er auf "Getrenntheit" hindeute und
somit im heutigen Großbritannien nicht mehr zweckdienlich sei. Als die CRE Projekten von
ethnischen Minderheiten, mit denen das "Britisch-Sein" und die Integration nicht gefördert
wurden, die finanzielle Unterstützung verweigerte, betonte CRE-Mitglied Khurshid Ahmad
gegenüber der BBC, dass das Bewusstsein für das Britisch-Sein gefördert werden solle und
die CRE keinerlei Einrichtung unterstütze, die separatistische Ansätze verfolge.
Die kritischen Stimmen im Vereinigten Königreich im Zusammenhang mit dem Multikulturalismus sind insbesondere seit den verheerenden Terroranschlägen auf die Londoner U-Bahn
vom 7. Juli und den missglückten Anschlägen vom 21. Juli sehr laut geworden. So schrieb
der konservative Abgeordnete Michael Portillo zehn Tage nach den Anschlägen vom 7. Juli,
dass die Briten einen so umfassenden Konsens über Multikulturalismus erzielen konnten,
weil sie seine eigentliche Bedeutung immer im Unklaren gelassen hätten. Die seriöse britische Rechte habe den Multikulturalismus nicht in Frage gestellt aus Angst, andernfalls des
Rassismus bezichtigt zu werden. Die Aussagen des CRE-Vorsitzenden zeugten indes davon,
dass der Multikulturalismus seinen Höhepunkt überschritten habe.
David Davis, der "Innenminister" im konservativen Schattenkabinett, forderte die LabourRegierung Anfang August auf, die nicht mehr zeitgemäße Politik des Multikulturalismus aufzugeben. Der britischen Tageszeitung Daily Telegraph gegenüber erklärte er, dass Großbritannien eine Politik des Multikulturalismus verfolgt habe, die es Menschen anderer Kulturen
ermöglicht habe, sich in Großbritannien niederzulassen, ohne dass von ihnen erwartet wurde,
sich in die Gesellschaft zu integrieren. Die Behörden seien offenbar eher damit beschäftigt
gewesen, die einzelnen kulturellen Identitäten zu fördern als die gemeinsamen kulturellen
Werte des Landes.
Ein Mitglied des britischen muslimischen Rates, Inayat Bunglawale, betonte hingegen, dass
es problemlos möglich sich, sich in die größere britische Gesellschaft zu integrieren und
gleichzeitig den Glauben und die Werte zu bewahren, die einem am Herzen lägen. Ein guter
Muslim könne durchaus auch ein guter Brite sein; er füge diesem nur etwas hinzu. Der IrakKrieg habe jedoch dazu beigetragen, einigen jungen Muslimen die Botschaft der Fundamentalisten schmackhafter zu machen.
.../...
-9Yasmin Alibhai-Brown, britische Journalistin und Mitglied des Foreign Policy Centre im
Bereich Forschung – und selbst Einwanderin, vertritt jedoch die Ansicht, dass eine Gesellschaft, die auf einer Art "Nichteinmischungs-Pakt" zwischen unterschiedlichen Gruppen
beruhe, nicht funktionieren könne. Ihrer Meinung nach war die politische Elite Großbritanniens in der Nachkriegszeit bereit, den Einwanderern die Beibehaltung ihrer religiösen und
kulturellen Sitten und Gebräuche zuzugestehen, solange sie nicht zu viele Forderungen an den
Staat stellten. Traditionelle Mitglieder dieser Gemeinschaften hätten diesen Ansatz als sehr
zufriedenstellend erachtet, blieb doch so ihre Macht innerhalb der Familien und Gemeinschaften unangetastet.
Verhält es sich in Indien ähnlich? Für Professor Mahajan kam der Multikulturalismus mit der
Einführung der Demokratie nach Indien. Der Stellenwert, der der zwischengemeinschaftlichen Gleichstellung in der indischen Verfassung eingeräumt worden sei, habe eine besondere
Berücksichtigung der diskriminierten Gemeinschaften und Minderheiten zur Folge gehabt,
wobei die Frage der Gleichstellung innerhalb der einzelnen Gruppen aber nicht thematisiert
wurde. Dies habe dazu geführt, dass die kulturellen Rechte der Gemeinschaften missbraucht
werden konnten, um Herrschafts- und patriarchalische Strukturen zu schützen.
Wird der Multikulturalismus in Zukunft wieder an Bedeutung gewinnen, diesmal jedoch
durch die Förderung eines vereinten Europa? Die große Vielfalt der derzeitigen 25 EU-Mitgliedstaaten erschwert die Schaffung einer Europäischen "Union", die diesen Namen verdient.
Wie die muslimischen Gemeinschaften in Europa müssen auch die 25 Nationalstaaten entscheiden, in welchem Maße sie bereit sind, ihre eigene Identität aufzugeben, um eine neue, eine
europäische Identität aufzubauen. Könnte der Multikulturalismus nicht als Inspirationsquelle für
eine neue Art der politischen Organisation dienen? Riva Kastoryana, Forscherin im Internationalen Studien- und Forschungszentrum (CERI) in Paris, ist dieser Frage nachgegangen.
Diese Idee ist nicht so weit hergeholt, wie man glauben mag. Das französische Zentrum für
wissenschaftliche Forschung (CNRS) in Paris hat darauf hingewiesen, dass die oftmals
gehörte Darstellung der EU, sie sei Ausdruck des Willens zum Zusammenleben, einen multikulturellen Ansatz widerspiegele. Diese Aussage lässt darauf schließen, dass die EU kein
Gebilde nach dem Vorbild eines Nationalstaats ist, sondern eher ein Raum für das Miteinander der verschiedenen Identitäten, die diese Union ausmachen. Vor diesem Hintergrund
könnte ein multikultureller Ansatz vielleicht dazu beitragen, dass die EU auf das Beitrittsgesuch der Türkei letztlich doch positiv reagiert.
Integration
Als früher Verfechter der Integration erklärte Jawaharlal Nehru 1961 in Srinagar:
"Sobald Ihr Hindu, Sikh oder Muslim sagt, sprecht Ihr nicht für
Indien. Jeder Mensch muss sich selbst folgende Frage stellen:
'Was will ich aus Indien machen, ein Land, eine Nation, oder
10, 20, 25 Nationen, eine aufgesplitterte und geteilte Nation
ohne Kraft und Ausdauer, die schon bei der kleinsten Erschütte-
.../...
- 10 rung in tausend Stücke zerfällt?' Separatistische Tendenzen,
ganz gleich ob auf Seiten der Hindus, Muslime, Sikhs, Christen
oder anderer Gruppen, sind sehr gefährlich und entstehen nur in
den Köpfen kleinlicher, der Vergangenheit zugewandter Menschen. Wer den Geist der Gegenwart versteht, kann nicht in
Kategorien des Kommunalismus denken."
Nehru hat sich sehr stark für die Integration eingesetzt. Unsere indischen Kollegen könnten
vielleicht einen kurzen Vergleich zwischen Nehrus Vorstellung von Indien und dem Konzept
des Hindutva (d.h. des Hindutums) der Bharatiya Janata Party (BJP), der indischen Partei des
Volkes, anstellen, insbesondere im Hinblick auf die muslimische Minderheit in Indien. Innerhalb der EU setzt Frankreich auf die vollständige Integration aller Neuankömmlinge in die
französische Gesellschaft. Das französische Kopftuchverbot wird allgemein als Ausdruck dieser Politik gesehen. (Im Vereinigten Königreich hielt die CRE fest, dass das Verbot des Tragens
von Kopftüchern, Turbanen usw. in Schulen einem "indirekten Rassismus" gleichkäme.)
Gemäß dem Modell, das der französischen Politik zugrunde liegt, darf die "ethnische" Identität nur im Privatleben, keinesfalls jedoch im öffentlichen Leben zum Ausdruck gebracht
werden. Das Handeln des Staates muss staatsbürgerschaftsneutral sein, und eine positive Diskriminierung, ganz gleich ob zu Gunsten der Einwanderer oder der französischen Staatsbürger, ist ausgeschlossen. Daher können beispielsweise Maßnahmen zur Bekämpfung der
Arbeitslosigkeit nicht gesondert auf Einwanderer ausgerichtet werden, sondern diese müssen
zu diesem Zweck so genannten "benachteiligten" Gruppen wie den Langzeitarbeitslosen
zugerechnet werden. Die französische Regierung hat jedoch bereits 1958 einen Sozialfonds
zur Förderung der gesellschaftlichen Integration der Einwanderer durch Maßnahmen zu
Gunsten der Familien eingerichtet.
Das französische Integrationsmodell war erfolgreich, sind anscheinend doch selbst die zuletzt
angekommenen Einwanderer aus Nordafrika in gesellschaftlicher, kultureller und politischer
Hinsicht integriert (wenn auch nicht in Bezug auf die Beschäftigung). Alima Boumediene
Thiery, eine der beiden im französischen Senat vertretenen Musliminnen (sie war auch Mitglied des Europäischen Parlaments) glaubt nicht, dass die islamische Kultur die Integration
der großen arabischen Gemeinschaft in die französische Gesellschaft behindere. Das Problem
sei nicht der Islam, sondern eher die Art und Weise, wie einige Menschen Muslime und ihr
Recht auf Religionsausübung sehen. Die Integrationsbemühungen der Muslime seien auf dem
richtigen Weg.
Aufgrund der hohen Stimmengewinne der extremen Rechten bei den Präsidentschafts- und
Parlamentswahlen im Jahre 2002 wurde die französische Integrationspolitik reformiert, um
die Idee des "nationalen Zusammenhalts" widerzuspiegeln, der das Hauptthema der Ansprache von Präsident Jacques Chirac im Oktober desselben Jahres war. Mit dieser Politik sollte
ein neuer Integrationsvertrag formuliert werden, um neuen Einwanderern ein umfassendes
Angebot an Sprach- sowie Landes- und Kulturkundekursen anzubieten, und mehr Augenmerk
auf die Stärkung der Antidiskriminierungsgesetzte gerichtet werden. Laut einem französischen Wissenschaftler scheint sich der Schwerpunkt trotzdem von der Integration zur Anpassung verschoben zu haben.
.../...
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Den Dialog auf den Weg bringen
Die Terroranschläge durch Muslime, zuerst in den Vereinigten Staaten, danach in Spanien
und nun im Vereinigten Königreich haben die Muslime in den EU-Mitgliedstaaten stärker
denn je zuvor in das Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt. Als Reaktion darauf werden politische Entscheidungen sowohl auf europäischer als auch einzelstaatlicher Ebene derzeit in erster Linie auf der Grundlage von Sicherheitsüberlegungen getroffen. Das heißt, dass die Langzeitpolitik auf der Grundlage der - tatsächlichen und vorstellbaren - Aktivitäten einer kleinen
Gruppe von Menschen gestaltet wird. Eine wirksamere Möglichkeit, die Lage nach dem
11. September zu bewältigen, ist sicherlich ein ständiger Dialog zwischen den Behörden und
den offiziellen Vertretern der muslimischen Gemeinschaften einerseits und den Vertretern der
Zivilgesellschaft andererseits.
Das Diskussionsforum EU-Indien kann zu diesem Dialog beitragen, setzt es sich doch ausschließlich aus Vertretern der europäischen und der indischen Zivilgesellschaft zusammen.
Aufbauend auf der langen und großteils erfolgreichen Erfahrung des unabhängigen indischen
Staates mit der Integration der muslimischen Minderheit in die indische Gesellschaft kann es
den Weg für das Vereinigte Königreich und die EU aufzeigen. Das Diskussionsforum kann
außerdem seine Beziehungen zu den Organisationen der Zivilgesellschaft in Europa und
Indien nutzen, um zunächst die Basisorganisationen aus Indien und dem Vereinigten Königreich zusammenzubringen, damit sie ihre Erfahrungen als Teil von Minderheitsgemeinschaften austauschen.
Ein Dialog kann nur dann erfolgreich sein, wenn es sich auch um einen echten Dialog handelt. Es reicht nicht, dass einer Seite Gelegenheit gegeben wird, ihren Problemen Gehör zu
verschaffen. Die andere Seite muss bereit sein, zu ihrer - wenn auch begrenzten - Verantwortung für diese Probleme zu stehen. Insbesondere seit den Bombenanschlägen in London
wurde fast ausschließlich die muslimische Gemeinschaft als Sündenbock hingestellt. Im März
dieses Jahres hielt die Direktorin der Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und
Fremdenfeindlichkeit (EUMC) in Wien, Beate Winkler, fest, dass eine weniger offene Geisteshaltung (seitens der Mehrheitsgesellschaft) nicht zwangsläufig zu diskriminierenden und rassistischen Verhaltensweisen führe, doch seien die Ansichten und das Handeln dieser Mehrheitsbevölkerung für die Mitglieder der Minderheitsgemeinschaften von großer Bedeutung.
Wenn ein Dialog wirksam sein soll, müssen die Beteiligten Fragen aufgreifen, in denen sie
nach Möglichkeit Erfahrungen aus erster Hand besitzen und/oder zu deren Lösung sie beitragen können, ganz gleich, wie gering dieser Beitrag auch sein mag. Erfahrungen aus erster
Hand sind nicht zuletzt deshalb wichtig, weil viele Themen in abstrakten Begriffen verpackt
werden - Rassismus, Entfremdung, Identität, Säkularismus. Die Fähigkeit, Teil der Lösung zu
sein, ist von ebenso großer Bedeutung, soll der Dialog auch wirklich gehaltvoll sein.
In der Folge einige Themen, die das Diskussionsforum in Hyderabad erörtern könnte. Vielleicht
könnten auch Vertreter der Organisationen der Zivilgesellschaft vor Ort eingeladen werden, war
Hyderabad doch die Hauptstadt des gleichnamigen ehemaligen muslimischen Staates.
.../...
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Beschäftigung: Die Arbeitsplätze, derentwegen die muslimischen Einwanderer vor über
50 Jahren in das Vereinigte Königreich gekommen waren, d.h. die Arbeit in den Textil- und
Stahlunternehmen, gibt es heute kaum mehr. Aber auch heute noch haben die muslimischen
Männer am häufigsten gering qualifizierte Arbeitsplätze inne und sind am seltensten im
Management oder in hochqualifizierten Stellungen anzutreffen. In den Bereichen Einzelhandel, Hotel- und Gaststättengewerbe, um nur ein Beispiel zu nennen, sind sie hingegen übermäßig stark vertreten. Mehr als zwei Drittel der muslimischen Frauen im arbeitsfähigen Alter
gehen keiner Erwerbstätigkeit nach. Dies ist die höchste Quote unter allen Religionsgemeinschaften. Das Gleiche gilt auch für Muslime im Alter von 16 bis 24 Jahren.
Muslime werden bei der Einstellung diskriminiert, was heute offenbar eher religiöse denn
ethnische oder rassische Gründe hat. Rund 80% der in einer Erhebung aus dem Jahr 2004 im
Vereinigten Königreich befragten Muslime gaben an, aufgrund ihrer Religion diskriminiert
worden zu sein. Im Jahr 2000 lag dieser Prozentsatz noch bei 45%. In einer weiteren britischen Studie wurde festgestellt, dass Menschen mit typisch muslimischen Namen dreimal
seltener eine positive Antwort auf eine Bewerbung erhielten als Bewerber mit ähnlichen
Qualifikationen, aber einem französisch klingenden Namen. Muslimische Frauen, die ein
Kopftuch tragen, gaben an, dass sie in zahlreichen EU-Mitgliedstaaten, beispielsweise in
Österreich, den Niederlanden, Schweden und Dänemark, auf Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche gestoßen sind.
Diese Diskriminierung hat zwei grundlegende Auswirkungen für die Muslime. So haben sie
es schwerer, wirtschaftlich aufzusteigen, weshalb beispielsweise im Vereinigten Königreich
eine unverhältnismäßig hohe Anzahl von Muslimen in den verarmten städtischen Gebieten
lebt, d.h. unter weniger gebildeten, ärmeren Menschen, die ihrerseits den Muslimen mit größerer Wahrscheinlichkeit vorurteilsbehaftet gegenüberstehen, da sie das Gefühl haben, dass
die Muslime ihnen die Arbeitsplätze oder andere nur in geringen Mengen zur Verfügung stehende Ressourcen wegnehmen.
Bildung: Es ist allgemein anerkannt, dass die Einwanderer bei ihren Bemühungen, zu vollwertigen Bürgern ihres neuen Landes zu werden, zu einem wesentlichen Teil von den Schulen unterstützt werden, da diese sie mit den gesellschaftlichen Sitten und Gebräuchen, Werten
und nicht zuletzt auch Konventionen des Gastlandes vertraut machen. Auch wenn bildungsbezogene Daten nur im Vereinigten Königreich auf der Grundlage des ethnischen Hindergrunds erhoben werden, zeigen diese Daten doch, dass die akademische Erfolgsrate muslimischer Studenten zwar noch gering ist, aber immer weiter steigt. Laut einer im Jahr 2004 im
Vereinigten Königreich durchgeführten Studie haben pakistanische und bangladeschische
Studenten zu Beginn ihrer Hochschulausbildung ein niedrigeres Bildungsniveau als andere
asiatische Minderheiten.
Inwieweit erklärt dies nun die Forderung der muslimischen Gemeinschaften, vor allem im
Vereinigten Königreich und in den Niederlanden, nach staatlich geförderten muslimischen
Schulen? In den letzten Jahren haben die Regierungen des Vereinigten Königreichs, Schwedens und Dänemarks eine immer größere Zahl an unabhängigen religiösen Schulen, einschließlich muslimischer Schulen, unterstützt. In Frankreich werden konfessionellen Privat-
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- 13 schulen öffentliche Finanzmittel gewährt, und nach jüngsten Meldungen besuchen immer
mehr Muslime katholische Schulen, die staatliche Zuschüsse erhalten. Kritiker muslimischer
Schulen behaupten, dass diese ihren Schülern nicht bei der Integration in die Mehrheitsgesellschaft helfen. In vielen Ländern werden mittlerweile in den Moscheen Kurse über den Islam
außerhalb der regulären Schulzeiten angeboten.
Säkularismus: Gemäß einer Umfrage des britischen Innenministeriums aus dem Jahr 2001
ist die Religion ein wichtigerer Aspekt der Identität (und zwar der zweitwichtigste nach der
Familie) als die ethnische Zugehörigkeit. Die Teilnehmer wurden gebeten, zehn Dinge
anzugeben, die etwas Wichtiges über sie selbst aussagen. Bei den Muslimen wie auch bei
Hindus und Sikhs standen Familie, Religion und ethnische Zugehörigkeit ganz oben auf der
Liste, wohingegen die Religion bei den Christen erst an 7. Stelle stand. Seit den 80er Jahren
durchgeführte Untersuchungen haben gezeigt, dass die Religion die Identität der Muslime
stärker prägt als die ethnische Zugehörigkeit.
Kann die EU Minderheiten, die ihre Identität auf ihrer Religion aufbauen, erfolgreich aufbauen, wo doch die Staatsbürgerschaftsgesetze in den Mitgliedstaaten säkular sind, d.h. auf
einer mehr oder weniger strikten Trennung zwischen Kirche und Staat, Religion und Staatsbürgerschaft beruhen? In dem Vertrag über eine Verfassung für Europa, dem allerersten seiner Art, ist verankert, dass die Europäische Union sich auf die streng säkularen Werte "Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte" gründet. Gleichzeitig kann es sein, dass das Christentum in Europa
nicht länger auf dem Rückzug ist. Die Kirche mögen zwar meistens leer sein, doch Europäer
zu sein bedeutet meist immer noch, ein der westlichen Welt angehörender Christ zu sein.
Globalisierung: Angetrieben von Technologie und Kapitalismus ist sie die Kraft, die Menschen auf der ganzen Welt nolens volens einander näher bringt. Sie sorgt für eine Neugestaltung der Gesellschaft als Ganzes wie auch des Lebens jedes einzelnen Bürgers - und zwar
nicht nur in wirtschaftlicher, sondern, dank Internet, auch in kultureller und sprachlicher Hinsicht. Wird die Globalisierung Minderheiten wie die muslimische Minderheit dazu zwingen,
sich dem Mainstream der Gesellschaft, der sie angehören, vollkommen anzupassen?
Dialog: Sollte dem so sein, dann müssen wir uns zum Abschluss unserer Sitzung in Hyderabad gegenseitig - was auch für unsere Organisationen der Zivilgesellschaft gilt, die Frage
stellen, wie wir diesen Dialog am besten fortführen können. Wir können den Grundstein für
diese Debatte in unserem eigenen Internetforum legen.
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