mark o`sullivan: eine melodie für nora

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AD INTERNATIONALE POLITIK NACH 1945
MARK O’SULLIVAN: EINE MELODIE FÜR NORA
AUS DEM ENGLISCHEN VON ASTRID VON DEM BORNE
STUTTGART: VERLAG FREIES GEISTESLEBEN & URACHHAUS GMBH 1999
EILIS DILLON GEDENKPREIS, 1995
EIN WENIG MEHR ZUM INHALT
Dublin 1922: Nora, die 14-jährige Protagonistin des Jugendromans, hat eine wunderbare Begabung:
Sie liebt die Musik und spielt virtuos Klavier. Um ihrer Tochter die Klavierstunden zu ermöglichen,
nimmt Noras Mutter eine Arbeit als Reinigungsfrau an. Das Mädchen verbringt nun viele Stunden bei
seiner Klavierlehrerin, es lebt für die und mit der Musik. Doch diese glückliche Zeit währt nicht lange:
Noras Mutter erkrankt schwer, der Vater ist Alkoholiker und Nora muss sich um ihre zwei kleinen
Brüder kümmern und den Haushalt führen. Als die Mutter stirbt, gibt Nora sich und dem Klavierspiel
die Schuld an deren Tod: Sie schwört, nie wieder eine Taste zu berühren.
Da der Vater unfähig ist, sich um die Kinder zu kümmern, kommen die beiden Söhne zu einem Onkel
in die USA und Nora muss zu ihrer Tante nach Tipperary ziehen. Nora fühlt sich betrogen,
hintergangen und von allen verlassen. Sie hasst ihren Onkel Peter und ihre Tante Molly, die sich
jedoch trotz allem liebevoll um das junge Mädchen kümmern. In Tipperary wird Nora von den Wirren
des Irischen Bürgerkrieges erfasst: Jack, der Bruder ihres Onkels, ist Anführer einer
Freischärlergruppe (die „Irregulars“), die die Bedingungen des Teilungsvertrages ablehnen. Nora und
ihre „neue Familie“ werden in die Kämpfe hineingezogen. In dieser schwierigen Zeit durchlebt das
Mädchen viele traurige und angstvolle Stunden, findet jedoch auch neue Freunde und schließlich
wieder ein neues Zuhause.
TEXTAUSZUG
„Himmel noch mal!“, rief Peter aus, „ich habe die Filmrollen im Saal liegen lassen!“ „Ich hole sie“,
bot Nora sich an und erhob sich rasch. [...] Draußen war alles so hell vom Mond erleuchtet, dass man
meinen konnte, es sei früh am Morgen und nicht Mitternacht. Rasch lief sie zum Saal hinüber und
beeilte sich, die Filmrollen zu holen, damit sie auf dem Rückweg genug Zeit hätte, um die Sterne noch
einmal zu betrachten. [...] Plötzlich tauchte ein Gesicht hinter ihr auf und im gleichen Moment legte
sich eine feuchte, kalte Hand über ihren Mund. Nora wurde rückwärts in das Nebengebäude
hineingezogen, die Tür fiel ins Schloss [...]. „Ich tu dir nichts“, flüsterte die Stimme des Unbekannten.
Sie ruderte mit den Armen und versuchte gegen die Tür zu treten, aber er zog sie weg. „Bitte, halt still,
höre mir nur eine Minute zu.“ Das leichte Beben in seiner Stimme beruhigte sie etwas und sie hielt
inne, um herauszufinden, was er sagen wollte. „Ich bin Jack“, sagte er, „Peters Bruder.“ [...] „Ich
nehme jetzt meine Hand weg“, fuhr er fort [...]. „Was willst du von mir?“, fragte sie furchtsam. „Ich
bin krank“, erwiderte er, „ich muss mich hier eine Zeit lang verstecken. Kannst du mir helfen?“ Sie
hörte, wie er an der Wand hinunterglitt und zu ihren Füßen im Stroh niedersank. „Du bist ein Mörder“,
sagte sie unbewegt, „und ein Bankräuber ...“ (Seite 92–93)
[Nora versteckt Jack unter der Bühne des Kinos. Als Jack bewusstlos wird, bittet sie den
Klavierspieler Alec, der früher einige Semester Medizin studiert hat, um Hilfe.]
„Danke, Alec“, platzte sie heraus, „ich meine, Mr. Smithson.“ „Alec ist mir persönlich lieber“, lächelte
er. „Es gibt allerdings noch ein anderes Problem.“ „Was denn?“ „Wir werden in den nächsten Tagen
ziemlich oft in den Saal gehen müssen. Also brauchen wir eine vernünftige Ausrede.“ Daran hatte
Nora noch gar nicht gedacht. [...] „Das Klavier“, sagte Alec. „Nein!“, rief sie. „Was anderes fällt mir
nicht ein“, beharrte er, „du musst behaupten, dass du mich gebeten hast, dir Klavierunterricht zu
geben.“ [...] (Seite 116)
Unterdessen war es Alec irgendwie gelungen, Jack aus dem Koma zu wecken. Nora kniete sich neben
die beiden Männer und sah zu, wie Alec aus dem Inhalt eines gelben Töpfchens und einer kleinen
Schachtel mit weißem Pulver einen Umschlag zubereitete. [...] „Er hat noch kein Wort von sich
gegeben“, warnte Alec [...]. „Geh ans Klavier und spiel was.“ Ihr war übel. War Jack dieses ungeheure
Opfer wirklich wert? Viel lieber hätte sie eine Axt genommen und das Klavier zerhackt, statt darauf zu
spielen. [...] Sie hob den schäbigen Klavierdeckel, ließ sich schwer auf den Hocker fallen und starrte
auf die Tasten. Sie waren gesplittert und abgenutzt und erinnerten sie an das höhnische,
zahnlückenhafte Grinsen eines Betrunkenen. Sie ballte die Hände zu Fäusten, bis die Knöchel weiß
hervortraten. Wieder packte sie jene rachsüchtige Wut [...], weil sie seinetwegen ihr Versprechen
brechen musste. [...] Die Tasten fühlten sich überraschend warm an, da die Sonnenstrahlen durch das
hohe Fenster auf die Klaviatur fielen. „Verzeih mir, Mam“, flüsterte sie laut vor sich hin und ließ mit
aller Macht ein zweifaches Arpeggio (= Akkord, dessen Töne nacheinander gespielt werden) in C-Dur
erklingen ...“ (Seite 119–121)
HISTORISCHER HINTERGRUND UND LITERARISCHE VERARBEITUNG
Irischer Bürgerkrieg 1922–1923
Der Roman setzt im Sommer 1922 ein, ein halbes Jahr nachdem das irische Parlament den
Teilungsvertrag (anglo-irischer Vertrag) mit knapper Mehrheit angenommen hatte. Dieser Vertrag
brachte Irland die Unabhängigkeit, besiegelte jedoch gleichzeitig die Abspaltung der vorwiegend
protestantischen Provinz Ulster, die bei Großbritannien verblieb. Dieser Parlamentsabstimmung waren
heftige Diskussion innerhalb der Sinn-Féin Partei vorangegangen. Schließlich folgte die Spaltung der
Sinn-Féin in einen gemäßigten Flügel, der im Teilungsvertrag einen ersten Schritt in Richtung völlige
Autonomie sah, und dem republikanischen Teil (IRA), der die Bedingungen des Vertrages ablehnte
und sich von Großbritannien hintergangen fühlte. Der Britische Geheimdienst hatte sich 1922 bereits
aus Dublin zurückgezogen, an die Stelle der Black and Tans war die Irische Armee getreten. Die IRA
(im Roman „Irregulars“) bestellte einen eigenen Militärführer und besetzte im April 1922 das
Justizgebäude in Dublin. Als die gemäßigte Sinn-Féin-Regierung (unter dem Druck der britischen
Regierung und zur Sicherung der eigenen Position) mit Waffengewalt antwortete, weiteten sich die
Kämpfe zu einem landesweiten Bürgerkrieg aus, den 1923 die Irische Armee für sich entschied.
Mark O’Sullivan schrieb keinen geschichtserzählenden Roman im engeren Sinn: Er präsentiert keine
Daten und Fakten vom Bürgerkrieg, sondern erzählt von Verlusten, von Reifungsprozessen, vom
Erwachsenwerden, von Alkoholsucht, von der Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit. Der Roman
setzt kurz vor dem Tod der Mutter ein, in Retrospektiven erfahren wir von der Kindheit Noras, von
ihren Klavierstunden und den Problemen mit dem alkoholsüchtigen Vater. Von den weiteren
Ereignissen berichtet ein auktorialer Er-Erzähler chronologisch. Er kommt den Gedanken der
Protagonistin häufig sehr nahe, sodass die Sicht Noras im Roman überwiegt. Viele Dialoge machen
das Buch kurzweilig und für Jugendliche interessant zu lesen. Nicht zuletzt gelingt es dem Autor
spannend zu erzählen, wobei die/der Lesende, einmal begonnen, nicht eher aufhören möchte, bevor die
letzte der rund 220 Seiten geschafft ist.
Black and Tans = vorwiegend arbeitslose Veteranen des Ersten Weltkrieges, die in Großbritannien
1919 gegen Bezahlung angeworben wurden, um die in Irland stationierte britische Polizei (Royal Irish
Constabulary) zu unterstützen. Die Black and Tans gingen gegen die irischen Rebellen äußerst
grausam vor, sie agierten eher wie eine Besatzungsarmee denn wie eine Polizeieinheit.
DER AUTOR
Der irische Autor Mark O'Sullivan wurde 1954 geboren und studierte Philosphie und Englisch. Er
arbeitete mehrere Jahre als Umweltbeauftragter in Cashels, einem Ort im Südosten Irlands. Mark O'
Sullivan hatte bereits mehrere Dramen, Kurzgeschichten und Gedichte verfasst, bevor er mit "Eine
Melodie für Nora" 1995 auch außerhalb Irlands bekannt wurde. Für dieses Buch erhielt er als erster
Autor den Eilis-Dillon-Gedenkpreis für das beste Jugendbuch des Jahres. Dieser Preis wurde nach der
bekannten irischen Autorin Eilis Dillon (geb. 1920) benannt und ein Jahr nach deren Tod 1994
erstmals verliehen.
In der Fortsetzung des Romans "Wash-Basin Street Blues " (nicht auf deutsch erhältlich) erzählt
O'Sullivan von Noras weiterem Lebensweg in New York. In "Engel ohne Flügel" beschäftigt sich der
Autor mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Er verwebt Gegenwärtiges mit Vergangenem
und erzählt vom Versuch eines Autors, Jugendliche mit menschenverachtendem Gedankengut zu
manipulieren. Dabei verwischen die Grenzen zwischen der phantastischen und der historischen Ebene
und es werden viele Fragen aufgeworfen, die zum Nachdenken anregen.
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