Kapitel-11

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11. Kapitel
Verlies der Verdammten
Den Morgen danach ging es mir indessen besser, und ich besaß die Kühnheit, zum Zwecke
einer Malzeit in ein Wirtshaus nicht weit entfernt zu gehen. Ich hatte Momente überlegt, ob
ich in das „Belle Sauvage“ in der Seacoal Lane nördlich von St. Paul’s hinüberlaufen sollte,
auch kaum mehr als eine schmale Viertelstunde Fußweges, um vielleicht Ambroise Tardieux
wiederzutreffen, mit ihm zu speisen und zu plaudern, vielleicht mich seines Rates oder sogar
seiner Begleitung zu versichern, andererseits, rechnete ich mir aus, würde er, nach dem, was
er mir erzählt, mittlerweile wohl schon eher wieder auf dem Kontinent oder zumindest dem
Wege dorthin zu finden gewesen sein, und ich wollte diesen neuen Tag keinesfalls mit einer
wenn auch noch so kleinen Enttäuschung beginnen.
Ich zählte mein Geld, ein Bote hatte gestrigen Tages, während ich schlief, fünf Guineen mit
einer neuerlichen Nachricht von Finley Burkitt gebracht, des Inhalts, daß ich die Summe für
ein außerdienstliches Salär halten sollte, um „die ins Auge gefaßten Unternehmungen während der Unterbrechung meiner regulären Arbeit ordentlich zu bestreiten“.
Mrs. Hamlet hatte mir, als ich des Morgens an ihrer Stube geklopft, den Umschlag mit der
Würde der Towerwache, wenngleich halb beleidigter Miene überreicht – sie wäre zu jener
Zeit wohl allzu gerne meine einzige Wohltäterin geblieben und mochte vom generösen Inhalt
des Umschlages etwas ahnen.
Gleichviel: Ich, der ich im Laufe der vergangenen neun Tage in so drastischer Weise darüber
belehrt worden war, mit welch erschreckender Heftigkeit unsere Existenz eine sehr endliche
sein kann und wie verräterisch schmal der Grat manchmal ist zwischen Leben und Ewigkeit,
ich, der ich nach all dem nicht einmal mehr ausschloß, selbst sehr bald in die Reihen derer
aufrücken zu müssen, die allzu jung einem ruchlosen Streiche zum Opfer fielen - ich verließ
diesen Morgen im übermäßig, ja, im unnatürlich deutlich wahrgenommenen Bewußtsein das
Haus, daß ich vorerst schließlich noch lebte, im Gegenteil, ich fühlte auf dem geschilderten
Hintergrunde mein Leben so heftig pochen wie selten zuvor.
So wandte ich mich kurzentschlossen in Richtung auf jenes kaum fünf Minuten Weges von
dort, wo ich logierte, unten an der Chancery Lane gelegene, recht preiswerte, wenngleich etwas herabgekommene Boarding House, das zwar den stolzen Namen „The Spaniard“ führte,
indessen nichts mit der gleichnamigen, aber sehr viel manierlicheren Taverne oben in Hampstead Lane zu tun hatte, um dort ein Frühstück einzunehmen. Das Angebot meiner wackeren
Mrs. Hamlet dazu hatte ich schnöde ausgeschlagen.
Wie mache ich mich Dir nur, geschätzter Leser, deutlich?
Ich besaß aus Finlay Burkitts nobler Hand so viel bares Geld wie im Grunde nie im Leben
zuvor, und dies vermittelte mir ein sonderbares, nie gekanntes Gefühl der Sicherheit und, daraus resultierend, mich selbst unendlich verblüffenden Glückes. All dieser Reichtum schien
mir gleich einem unverhofften Wall, einer Burg, die auf magische Weise um mich errichtet
ward, den Mächten des Bösen zu trotzen, sie auszukaufen, sie auszustechen, ja, zu vernichten,
wenn es Not tat. Und doch war das nicht einmal das eigentliche Wesen oder nur ein Teil meines jungfräulichen, mir selbst unbekannten Gefühls. Die Tage der erzwungenen Untätigkeit,
die auszehrende Zeit der Bitternis und Trauer, der Enttäuschung, der Trotz, das Bewußtsein
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der bisherigen Machtlosigkeit, all diese böswilligen, widerwärtigen Schicksalsschläge hatten
– ich hatte es nicht bemerkt, und nun war es plötzlich da - ein Gefühl der Wut in mir wachsen
lassen, für die ich keine Worte und keinen Vergleich fand in meinem bisherigen Leben.
Woher sie gekommen, daß ich überhaupt fähig war, dergleichen zu verspüren – es verblüffte
mich selbst bis auf’s Blut, aber dieser erfinderische, neue Zorn war in mir und machte mich
stark, stärker, als ich möglicherweise war, und so schluckte ich die Bitternis, die mich unweigerlich befallen wollte beim kurzentschlossenen Betreten des ersten Wirtshauses nach dem
„Ye Olde Bell“ in einer einzigen, lächerlichen Sekunde hinunter, und ich stieß die Türe des
„Spaniard“ weit auf und trat hinein und ließ mich mit meiner so gutgefüllten Tasche am
nächtstbesten Tische nahe der Tür nieder und winkte dem Wirt und dachte dabei, wenn ich
schon zu denen gehörte, die verdammt waren für ein elendes Ende, warum sollte ich, der ich
augenblicklich und sonderbarerweise genug die Möglichkeit dazu besaß, mir nicht selbst ein
Fest bereiten, wenn nötig, um eigens mit dem Teufel ein Bankett zu feiern?!
Und so lief ich nach einer durchaus schmackhaften Mahlzeit, zu der ich mir einen großen
Krug gebutterten Bieres hatte reichen lassen, hinüber zur Frith Street in Soho. Jener Diener
aus ‚Morass Manor’, den ich aufzusuchen gedachte, Franklin Stifel mit Namen – ich hatte des
Morgens gleich nach dem Aufstehen meine Notizen dazu studiert – hatte mir damals etwas
erzählt davon, daß es die Nummer 15 sei, wo er an manchen Wochenenden zu erreichen sei,
und daß es unten im Hause einen Buchbinder gäbe.
Als ich – ich hörte die Glocke gerade ein Viertel auf elf schlagen - an der bezeichneten
Adresse eintraf, fand sich dies bestätigt, ‚Charles Clark, Buchbinder’, stand über dem kleinen
Geschäft zu lesen. Hier also wohnte irgendwo die Tante jenes Bedienten von Sir Enid, eine
Witwe Coleman, bei der der junge Mann, wie er mir erzählt – ich hatte auch dies aus meinen
Aufzeichnungen wieder ausgefunden – häufig gerade am ersten oder zweiten Monatswochenende logierte.
Nun, das traf sich gut, denn wir schrieben Samstag, Samstag, den 8., und ich hoffte auf mein
Glück.
Es war im trüben Licht des Vormittags ein ordentliches, ein sauberes Haus, die gotische Front
gerade jüngst erneuert – es ragte zwei Stockwerke in die Höhe und trug eine Mansarde obenauf – was, wie die ganze schmale Straße, einen äußerst angenehmen Eindruck machte. Wäre
nur das traurige Wetter nicht gewesen! Deshalb rüttelte ich auch nicht am Eingang, um zu
prüfen, ob die Tür des Treppenaufstiegs offen oder verschlossen sei – dies hätte mir womöglich nur mißbilligende Blicke der Nachbarn eingetragen - sondern ich betrat nach einem Augenblick des Zögerns geradeheraus den Laden des Buchbinders, um hier mein Anliegen vorzutragen.
Ich fand den Besitzer des Geschäfts – unzweifelhaft war er dies: ein Mann von einigen dreißig
Jahren mit einer Lederschürze vor dem Leib - sogleich hinter der Türe an einer Maschine stehend - es war dies eine Presse - in die er gerade einen Buchblock einspannte. Auf der Seite
sah ich bereits die dazugehörige, in Seide geschlagene Buchdecke liegen. Weiter zur Linken,
an einem Arbeitstische auf einem Schemel sitzend und damit befaßt, Doppelseiten zu einer
Heftlage zu legen, erblickte ich eine junge Frau, die vermutlich die Gattin des Buchbinders
war und die Mutter der beiden anwesenden Kinder, eines Jungen von vielleicht neun Jahren
und eines kleineren Mädchens, die sich gänzlich im Hintergrund hielten und sich an der Erde
leise, aber vergnüglich mit Dachhaarpinseln, achatenen Falzbeinen, Resten von Kapitalbändern und Rückenhülsen unterhielten. Alle vier schauten nun auf und blickten mir mit einigem
Interesse entgegen.
Ich nannte dem Buchbinder höflich meinen Namen und erkundigte mich, wo hier im Hause
denn eventuell ein Mr. Franklin Stifel zu sprechen sei. Mr. Charles Clark nickte mir zu. Er
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rief seinen Sohn kurz beim Namen und trug ihm auf, mich in den zweiten Stock zur Witwe
Coleman zu geleiten. Der Knabe, Benjamin geheißen, nickte daraufhin gehorsam, ich bedankte mich bei seinem Vater und ließ mich von dem Kinde durch eine seitliche Tür in einen
dunklen Stiegenaufgang führen. Die Mutter hatte die Augen längst wieder auf ihre Arbeit
gesenkt.
Der Bub sprang mit flinken, nackten Beinen vor mir die Stufen hinauf, ich eilte hinterher,
kaum, daß mir das gelang. Im zweiten Stock deutete er auf eine niedrige Tür unter den Dachschindeln zur Linken, und ich hielt ihn an der Schulter und gab ihm einen halben Penny.
„Danke, Sir“, sagte er mit frischer Stimme, bevor er sich kehrte und die Stufen wieder hinabsprang. Schon war er um die Biegung. Es drang nur spärliches Licht durch eine Dachluke.
Auf dem Holze der Tür vor mir im Halbdunkel heftete ein Zettel, ‚Mrs. Henry Coleman,
Witwe’, entzifferte ich schließlich. Da sich kein Klopfer fand, pochte ich mit dem Finger gegen die Füllung, und es dauerte nicht lange, da vernahm ich Schritte hinter der Tür.
„Ja?“ hörte ich eine Frauenstimme sagen.
„Mrs. Coleman?“ fragte ich höflich.
„Ja?“ machte die Stimme erneut.
„Nun, mein Name ist Domenic Holland“, sagte ich halblaut. - Ich mag es nicht, gegen geschlossene Türen zu sprechen – ich komme mir dumm und ausgenutzt dabei vor, gleichviel,
wenn ich die Witwe verstand, die nicht jedem die Pforte öffnen mochte. Ich erklärte ihr, daß
ich gekommen war, um ihren Neffen zu sprechen, und erkundigte mich, ob er denn da sei. Es
sei wirklich dringend, setzte ich hinzu, als keine Antwort erfolgte.
„Warten Sie einen Augenblick“, sagte schließlich dieselbe Frauenstimme von zuvor – und
dann hörte ich gar nichts mehr hinter der Tür.
Ich hatte genügend Zeit und Zorn zu überlegen, wie es denn wohl weitergehen mochte mit
meinem verzweifelten Versuch, in die Festung von ‚Morass Manor’ vorzustoßen, wenn mir
gleich hier zu Beginn so gar kein Erfolg beschieden sein sollte, und ich war gerade dabei zu
entscheiden, ob ich mich von der Türe wegkehren und absteigen oder mich gegen das Holz
werfen sollte, als es, überraschend genug, doch noch einen Laut dahinter gab und die Tür sich
plötzlich auftat. Das Gesicht eines jungen Mannes schaute mich durch den Spalt an. Er sah
müde aus, es war offensichtlich, daß er geschlafen hatte und geweckt worden war.
„Ich weiß, wer Sie sind, ich erinnere mich“, sprach Franklin Stifel.
Er war es - obwohl ich ihn von mir aus nicht erkannt hätte, denn ich hatte ihn nur kurz und bei
schlechtem Lichte an jener nächtlichen Gartenpforte gesehen, und unsinnigerweise hatte ich
ihn mir wohl überdies in der Livree vorgestellt, die er an jenem Abend getragen. Jetzt aber
hatte er nur eine Decke um die Schultern geschlungen und stand dort in langen Pantalons und
mit bloßem Oberkörper, zudem halb hinter der Tür verborgen.
„Es tut mir leid, wenn ich stören sollte“, murmelte ich, für den Augenblick unerwartet aufgehalten in meinem aus der Krankheit hervorgeborenen Elan, „aber es ist dringend. Wenn ich
indessen ein andermal ...“ Es war mir trist und unangenehm, ihn in diesem halbnackten Zustande dort anzuschauen.
Doch er öffnete die Tür nun ein Stück weiter. „Nein, nein“, sagte er, nicht besonders freundlich, „kommen Sie herein, ich habe Sie auch sprechen müssen. – Es ist gut, Tante ...“ wandte
er sich an jemanden seitlich hinter der Türe, und wir ward klar, daß die Dame dort im Dunkeln stand und dem Bisherigen zugehört. Die Bemerkung, daß er mich auch habe sprechen
müssen, gab mir einen kleinen Stich, denn das klang mir den Umständen nach irgendwie verdächtig.
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Er bewegte sich von der Türöffnung zurück und zog sie weiter für mich auf. „Kommen Sie
herein“, sprach er. „Wir gehen auf mein Zimmer.“
Er ließ mich eintreten, und als ich die Tür passiert hatte, erhaschte ich den einzige Blick auf
Franklin Stifels Tante, der mir vergönnt sein sollte, eine mürbe aussehende, ältere Person,
ordentlich, wenn auch ärmlich gekleidet, und die Haare zu einem Zopf geflochten. Ich grüßte
sie höflich, während Stifel mir den Weg wies. Sie reagierte nicht auf meinen Gruß.
Stifel öffnete eine knarrende Türe zu einer Kammer, in die Licht durch ein weiteres Dachfenster fiel. Irgendwie erinnerte der kleine Raum mich an meine eigene Stube, irgendwie aber
auch nicht – denn meine Mansarde war größer und besser eingerichtet, auch das Fenster eine
richtige Gaube statt der Luke hier. Diese Kammer barg nur ein Bett, das in seinem momentan
benutzten Zustande nicht erfreulich aussah, einen Tisch, unter dessen eines Bein ein mehrfach
gefaltetes Stück Filz geschoben war, damit er besser stand, und ein einzelner Stuhl. Auf einem
seitlichen Bord sah ich eine angeschlagene und geklebte Waschgarnitur, sonst gab es hier
nichts, das der Erwähnung wert gewesen wäre.
„Seien Sie vorsichtig“, meinte er warnend und zeigte mit dem Finger auf eine Rattenfalle, die
seitlich am Boden stand, und in die ich zweifellos ohne seinen Hinweis eine Sekunde später
getreten wäre.
„Danke“, murmelte ich.
„Nehmen Sie den Stuhl“, sagte er kurzangebunden und wies darauf, während er sich fester in
seine Decke wickelte und auf dem Bette niedersaß.
Ich setzte mich ebenfalls, und es gab eine kurze Pause, in der wir uns gegenseitig musterten.
„Warum wollten Sie mich sprechen“, fragte ich dann und gab im Ton der Frage meiner ganzen Verwunderung Ausdruck, war ich doch eigentlich hergekommen, um ihn zu sprechen.
Statt einer Antwort sprang er ruckartig von seiner Liegestatt, kniete am Fußende derselben
nieder und kratzte, wo es sehr dunkel war, auf dem Boden herum. Bevor ich noch etwas dazu
sagen oder mir die rechten Gedanken über sein Verhalten hätte machen können, sah ich, daß
er ein kurzes Stück einer Bodendiele herausgehoben und aus dem Geheimfach darunter etwas
hervorgeklaubt hatte. Er verschloß mit geübten Fingern das Versteck, dann warf er das, was er
aus dem Boden geborgen, seitlich auf den Tisch. Dort glitzerte es im Licht des kleinen Dachfensters. Er nahm wieder auf dem Bette Platz, hüllte sich in seine Decke, musterte mich und
den Gegenstand, den er dort hingeworfen, gleichermaßen mißmutig, ja, feindselig, und stieß
hervor: „Da, nehmen Sie es zurück - es gehört Ihnen - ich will es nicht.“
Ich schaute es mir aus der Entfernung an. Es war das kleine Silberstück, das ich seinerzeit für
ihn an der Gartenpforte in den Kies hatte fallen lassen.
„Sie überraschen mich“, sagte ich und fühlte, wie mir der Mund trocken wurde. „Das ist für
Sie bestimmt, Mr. Stifel. Ich habe es Ihnen überlassen, es gehört Ihnen. Und Sie werden mir
eine kleine Gefälligkeit dafür erweisen.“
„Nein, das werde ich ganz gewiß nicht tun, Sir!“ sprach er langsam und bestimmt, seine Augen blickten dabei fahrig, fast wild. „Nehmen Sie das verdammte Silber wieder an sich, Sir.
Ich will damit nichts zu tun haben.“
„Aber womit wollen Sie nichts zu tun haben?!“ rief ich, und als er nicht antwortete: „Sie wissen doch gar nicht, was ich von Ihnen verlange!“
„Oh doch, das haben Sie mir seinerzeit gesagt, entsinnen Sie sich nicht?“
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„Aber was habe ich Ihnen gesagt?!“ Ich breitete die Hände aus und versuchte ein Lachen,
obwohl mir nach allem anderen war, nur nicht danach. „Was hat Ihnen plötzlich die Suppe
versalzen, Stifel?“
„Das da hat mir die Suppe versalzen, das da“, zischte er haßerfüllt und zeigt auf das Silberstück. „Ich kenne Sie jetzt und Ihresgleichen!“
„Was kennen Sie, einen Unfug kennen Sie!“ sagte ich böse. „Hören Sie zu, ich leide es nicht,
zum Hanswurst gemacht zu werden. Wir sprachen an dem Abend, wenn auch nur kurz, aber
wir sprachen miteinander und wir sind einen Handel eingegangen. Der Beweis liegt dort auf
dem Tisch. Ich habe bezahlt, Sie sind der Händler, ich bin der Käufer, und jetzt will ich zum
Teufel das haben, was ich gekauft habe.“
Ich hörte mich selbst reden und ich mochte es selbst kaum glauben, daß ich es war, der dort
sprach.
Franklin Stifel, trotz seines entblößten Zustandes und trötz der Kälte in der ungeheizten
Kammer - ich bemerkte es mit einem Male und war unendlich verblüfft darüber - Franklin
Stifel schwitzte. Das Wasser rann ihm in Bächen die Stirn herunter wie das Fett beim
Schweineschlachten.
„Die Dinge haben sich geändert“, stieß er hervor.
„Die Dinge haben sich geändert!“ äffte ich ihn. „Was hat sich geändert?!“
Er blickte mich an, und ihm traten fast die Augen aus dem Kopf. Ich sah ihm an, daß er innerlich seine Argumente abwog, und fast hätte ich sie lesen können auf seinem Gesicht. Ich
sah, wie er das Silber begehrte, und ich sah gleichzeitig und verblüfft die nackte Angst in seinem Blick. Und diese Angst - ich bekenne es, geneigter Leser - diese Furcht in seinem Angesicht war es, die trotz meines neuen starken Mutes etwas wie die Ahnung von eigenem
Schrecken in mein Herz senkte. Ich sah, wie die widerstreitenden Beweggründe in seinem
Gesicht um die Vorherrschaft rangen, und ich sah, wie schließlich die Gier gewann.
„Sie wissen, warum sich alles geändert hat“, stieß er hervor. Er rang noch einen Augenblick
mit sich, aber der Kampf war verloren. „Sie wissen, was sich geändert hat, Sie wissen es, Sir.
Sie sind es, Sir, der alles geändert hat. Die Atmosphäre in dem Hause hat sich geändert. Es ist
… Morass Manor … das Haus an der Themse … Mr. Luciters Anwesen … es ist nicht mehr
das gleiche, was es vormals war, Sir, und Sie sind der Grund, warum sich das so verhält. Und
Sie wissen es. Alle wissen es.“
Ich fühlte, wie mein Herz einen ungesunden Schritt aus dem gewohnten Takte trat, und ich
fühlte, wie das Blut mir aus dem Gesichte wich. Ohne es genauer benennen zu können, war
mir klar, daß diese Nachricht meinem ungenannten Ansinnen in äußerster, gefährlichster
Weise zuwiderlief. Ich rang eine Sekunde um meine Kaltblütigkeit, dann hatte ich sie vorübergehend wiedergefunden. Ich lächelte, ja, ich lächelte, und ich spürte, wie er vor diesem
Lächeln ein Stück weit in sich zusammensank.
„Interessant“, flüsterte ich. „Wollen Sie sich bitte näher erklären, mein Freund?“
Er stierte mich mit panischen Augen an. „Es hat Tote gegeben, tote Mädchen, mehrere,“ wisperte er, mit einem Seitenblick zur Türe, als ob seine Tante oder sonstwer ihn hören könne.
„Es ist dieses Bild, Sir, dieses große Gemälde, einige haben es gesehen, es ist … es ist …“,
seine Augen fuhren blicklos herum, als er nach dem geeigneten Ausdruck verlangte, „ es ist
ein Bild der Hölle, Sir, ein Bild des Abgrunds und der Unmoral. Es sind diese Frauen darauf,
Sir, und diese Frauen werden jetzt getötet.“
„Ach“, sagte ich, und ich spürte, wie mir selbst bei dieser einen, kümmerlichen Silbe die
Stimme wegbrach. Aber er spürte es nicht, im Augenblick hatte er nur Augen für sein eigenes
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Inneres, er starrte in sich hinein, und seine Lippen wisperten, was sie hervorbrachten, fast
ohne sein Zutun.
„Drei von ihnen sind tot“, flüsterte er tonlos. „Und drei von den anderen sind jetzt im Keller
und werden gefangengehalten. Sir Enid hat das Bild nach Cornwall zurückschaffen lassen. Es
existiert nicht mehr. Nein, es existiert gar nicht mehr. Niemand darf es erwähnen - es ist ein
verbotenes Bild. Sir Enid hatte Schaum vor dem Mund, und er tobte und jammerte, denn er
hatte Pläne damit in London. Jetzt jedoch ist es nicht mehr da. Er hat es nach Cornwall zurückführen lassen, und der Maler ist auch in Cornwall.“ Franklin Stifel fixierte mich mit seinem starren Blick. „Und der Grund, warum Sir Enid seine Pläne ändern mußte, sind Sie, Sir,
Sie haben Sir Enid sehr verärgert.“
Einerseits, in dieser flüchtigen Sekunde, zuckte fast etwas wie Freude in mir hoch, Freude
darüber, daß ich, wie auch immer, etwas zerstört hatte, das zu besitzen ihn gefreut hätte, den
Feind, Sir Enid Luciter – ich hatte verächtlich seine Kreise gekreuzt und ihm etwas genommen, was auch immer, und das war Grund genug, in tiefste Befriedigung zu verfallen. Andererseits zuckte entsetzliche Angst mit mir auf, denn irgendetwas in meinem Innern sagte mir
durchaus, daß ich mit einem Frevel dieser Art, ja, selbst dieser Art, einer Dreistigkeit gegen
das Böse selbst, vom Bösen nicht ungestraft würde davongelassen werden können.
„Drei von den Frauen werden gefangengehalten in den Kellern von Morass Manor?“ nahm
ich das auf, was der Diener gesagt, und fügte an: „Deshalb bin ich hier.“
Fast glaubte ich, Stifel würde mich anspucken, mit solcher Wut fuhr er auf mich los: „Ich
weiß, weshalb Sie hier sind“, giftete er, „dies ist es, weshalb ich Sie selber schon sprechen
wollte. Ich kann Ihnen in dieser Sache nicht helfen!“
„Sie haben das Silber genommen“, erinnerte ich ihn.
„Ich weiß, daß ich das Silber genommen habe“, bellte er. Er deutete auf die Anrichte. „Dort
haben Sie es zurück.“
„Wir drehen uns hier im Kreise“, sprach ich mild. „Ich will nach Morass Manor hinein, Stifel,
und Sie müssen mir den Weg verraten.“
„Das kann ich nicht“, schnappte er zurück, „ich sagte es Ihnen. Es war schon immer äußerst
… unbequem, sich mit Sir Enid anzulegen, Sir, aber neuerdings ist es schlicht gefährlich. Drei
Mädchen sind tot.“
„Das sagten Sie, das weiß ich, davon weiß ich mehr, als Sie ahnen“, sprach ich, und fühlte bei
diesen Worten, wie auch mir trotz der Kühle der Kammer klamme Feuchtigkeit auf die Stirn
trat.
Drei Mädchen tot, dachte ich, und drei in den Kellern. Asunción Lozano, Rosetta Manderley
und Eusebia Purcell tot, und die drei anderen in den Kellern. Fiona de Cato selbstredend nicht
in den Kellern, also die drei anderen, die drei letzten, darunter zwangsläufig meine Io. Und
nicht wirklich eine Überraschung, ich wußte es jetzt den sechsten Tag, daß sie aus dem Bedlam abgeholt worden war.
Er betrachtete mich, da ich in diesen Gedanken versank und nicht weitersprach, mit zweifelhafter Miene.
„Ich muß dort hinein“, nahm ich den Faden wieder auf, „um weiteres Unglück zu verhindern.
Und seinerzeit, ich entsinne mich, fanden Sie es, wenn auch schon ‚nicht unbedenklich’, so
doch zumindest nicht unmöglich, dort einzudringen, mein Freund. Mithin, es mag sich die
Atmosphäre im Hause verändert haben, wie Sie sagen, schon allein dadurch, daß drei Frauen
in den Kellern eingekerkert sind, was ein Verbrechen ist, wird sich dort die Atmosphäre verändert haben – natürlich haben Sie recht, soviel konzedier ich Ihnen. Niemand kerkert unge224
straft Frauen im Keller ein. Deshalb mögen sie dort Entdeckung fürchten, und Furcht macht
zweifelsohne sehr wachsam und möglicherweise auch bissig, gewalttätig, gefährlich. Gleichwohl – ich weiß nicht, wie Sie es sich damals vorgestellt hätten, Stifel, mich dort hineinzubringen, es hätte auch seinerzeit zweifellos einer gewissen Vorsicht bedurft. Nun denn, wenn
die dort den Grad an Aufmerksamkeit erhöht haben, müssen wir halt den unseren an Vorsicht
steigern – das ist aber auch schon alles, denke ich.“
Er schnaubte, es sollte ein Lachen sein, aber es war keines. Er zog das Bettuch enger um die
bloßen Schultern. „Sie wissen nicht, wovon Sie reden“, sagte er unterdrückt. „Es hat dort immer einen Wachdienst gegeben, ähnlich wie im Tower, Leute, die an den Zäunen und Hecken
entlang patroullierten, und nachts waren stets die Hunde draußen. Aber es wäre vielleicht
möglich gewesen, dennoch hineinzukommen, denn ich gehörte gelegentlich zu jenen, die patroullierten, gewöhnlich tagsüber. Ich hätte beiseite gesehen, wenn Sie zum Beispiel auf der
Ostflanke des Geländes zu verabredeter Zeit über den Zaun gekommen wären, mit ein wenig
Glück wäre es früh morgens neblig gewesen, die Hunde schon wieder im Zwinger, und Sie
hätten bis zum Abend Zeit gehabt, das Anwesen zu beobachten, mit Hilfe der Winke, die ich
Ihnen hätte stecken können, sich anzunähern und einzuschleichen, innen umzutun, was immer
Sie wollten, und zu verschwinden, ehe abends die Hunde wieder herausgelassen werden. Aber
so, wie die Dinge jetzt liegen, Sir, können Sie genausogut zum Hauptportal hereinmarschieren
und eine Blaskapelle mitbringen – entdeckt werden Sie auf jeden Fall, und wenn Sie noch so
heimlich eindrängen. Der Unterschied ist einfach und wirkungsvoll: Es gibt diese menschlichen Wachen nicht mehr, verstehen Sie, Sir, ich bin von diesem Dienste abgezogen. Dafür
sind die Hunde immer außerhalb des Zwingers und laufen frei umher.“
„Keine menschlichen Aufpasser?“ fragte ich überrascht. „Aber das ergäbe doch Möglichkeiten …?“
Franklin Stifel schute mich unlustig an.
„Bilden Sie sich nichts ein, Sir“, sagte er. „Es gibt vier, fünf Hundeführer, die sich auf dem
Gelände aufhalten, zumeist in einer kleinen Hütte, unten in der Nähe des Ufers. In unregelmäßigen Abständen streichen sie über’s Gelände, kontrollieren die Hunde und füttern sie.
Jeden anderen, auch mich, würden die Hunde zerfleischen.“
Er lehnte sich vor und zog die Decke mit sich. „Was wollen Sie tun, Sir? Diese zwölf Biester
vergiften? Das ginge nicht lautlos ab und ohne daß die Hundeführer es bemerkten, glauben
Sie mir.“ Er schüttelte träge den Kopf. „Ich weiß nicht, was Sie vorhaben, Sir - vielleicht als
Busch verkleidet den Zaun übersteigen und immer, wenn gerade niemand hinschaut, ein paar
Schritte auf das Haus zu vorrücken?“ Er winkte mit der Hand ab, als verscheuche er eine lästige Fliege. „Diese Bestien werden Sie riechen, Sir, da mögen Sie Essig um sich verschütten,
kübelweise, oder Pfeffer oder Curry in Wagenladungen mitschleppen – sie werden Sie wittern, noch wenn Sie zweihundert Yards außerhalb des äußeren Zaunes sind, und sie werden
einen Höllenalarm daraufhin schlagen.“
„Wie gelangen Sie durch den Garten und an den Hunden vorbei,“ fragte ich, „wenn Sie Ihren
Dienst antreten, Stifel? Lassen Sie sich am Seil von einer Wolke herab, oder nahen Sie sich
wie die Eumeniden unterirdisch?“
Ich sah, daß ihm das zu denken gab, und brauchte nicht lange abzuwarten, bis ich eine ernsthafte Antwort erfuhr. Aber auch seine letzte Replik, die flapsige Bemerkung mit der Wagenladung, hatte mir zu denken gegeben.
„Wir haben dort zwölf Stunden Dienst und wohnen im Gesindetrakt des Hauptgebäudes. Wir
können in unseren freien Stunden, wenn uns der Sinn nach frischer Luft steht, in einen ummauerten Garten treten, in den die Hunde nicht hineinkommen, brauchen jedoch nicht auf das
eigentliche Gelände hinaus. Es war schon früher nicht erlaubt, dort draußen herumzustreunen,
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heute ist es tunlich, es zu unterlassen, wegen der Hunde. Gelegentlich, wenn einzelne von uns
das Anwesen für ein, zwei Tage verlassen dürfen, um Verwandte zu besuchen oder Besorgungen zu unternehmen – dies geschieht nach einem festen Plane, Sir, so daß nie mehr als
zwei oder drei der Diener gleichzeitig dort fehlen – so finden wir uns in der Fleischküche im
Hause ein und wenn wir zurückkommen, vor dem Tor. Wir werden dann von einem der Hundeführer vom Haus zum Tor oder vom Tor zum Hause geleitet. Die Hunde, die uns auf diesem Weg erspähen, kommen zwar herangehetzt, aber sie gehorchen den Führern und tun uns
nichts.“
„Ich könnte mich statt Ihrer dort hinbegeben“, schlug ich vor. „Sie leihen mir Ihre Livree, ihre
Uniform.“
Er starrte mich ungläubig an. Sein Blick prüfte, ob ich es ernst meinte. „Sir, wenn Sie glauben
sollten, es fiele niemandem auf, wenn morgen früh Sie sich dort statt meiner hineingeleiten
lassen, so täuschen Sie sich immens. Wir kennen uns dort untereinander von Angesicht. Wir
kennen auch die Hundeführer und die kennen uns. Ein Fremder fiele auf wie … wie …“ Ihm
fehlte der Vergleich.
„Nun“, sagte ich ungeduldig. „Das habe ich mir gedacht. Ich hatte auch nicht vor, mich für
Sie auszugeben, Sie müssen mich nicht für so ungeschickt halten. Aber könnte es nicht sein,
daß Sie erkrankt sind, daß Sie mich statt Ihrer vorübergehend dort hingeschickt haben, damit
Ihre Stelle nicht ausfällt, Ihre Arbeit getan wird.“
„Sir!“ fiel er mir ins Wort, „das ist ganz und gar unmöglich! Nein! Bewahre! Wie immer Sie
dort eindringen wollen, Sir, und wann immer es geschehen sollte, es dürfte nicht offenbar
werden, daß ich damit zu tun habe, verzeihen Sie mir wohl, auf keinen Fall! Mein Name,
meine Person müssen dort heraußen bleiben, denn ich mag meine Arbeit nicht verlieren - abgesehen von dem, was Sie da anrichten werden, nach dem, was Sie schon angerichtet haben nein, ich habe partout keinen Spaß daran, Sir, mich der Rache dieses Menschen zu versichern
…!!“
Er sprach von seinem Herrn, Sir Enid – und irgendwo konnte ich ihn sogar verstehen. Was
hatte er mit meiner Geschichte zu schaffen oder einem Mädchen, das ich bei mir Io genannt?!
Was war mein kleines Silberstücklein gegenüber dem Rest seiner Tage! Trotz des Reichtums,
den ich bei mir trug – hier war Sir Enid Luciter der unumschränkte Sieger, auf diesem Felde
war er nicht zu schlagen, und alles Geld, was ich besaß, hätte nicht dazu hergereicht, ihm einen Menschen wie Franklin Stifel wirklich abzukaufen. Er hatte, ich besann mich, in diesem
Sinne damals schon sehr höhnisch zu mir gesprochen, auf jenem Abend, an dem alles begonnen, dort in dem fürchterlichen Salon mit den Dünsten und den roten Ampeln.
Ich biß mir auf die Lippen, nahm dann endlich das Stichwort auf, das mir die von ihm zuvor
leichtfertig erwähnten Wagenladungen verschafft. „Was ist mit Lieferanten?“ fragte ich ihn.
„Ein Anwesen dieser Größe muß versorgt werden, und sei es nur das Personal, das dort verpflegt werden muß, und die Hunde. Es wird Fleischlieferungen geben dorthin, Stifel, Gemüse,
Brot, Milch, Tee, Tabak, Champagner, was weiß ich. Wer bringt das, und wie? Ich meine, es
wird Wege geben, daß nicht jeder Lieferant gleich von den Hunden zerfleischt wird.“
Ich sah, wie meine Einwendung ihn nachsinnen machte – und zum ersten Male nickte er langsam.
„Wenn dergleichen Lieferungen kommen“, sprach er, „ist es häufig sogar so, daß die Hunde
solange weggesperrt werden. Wenn der Bäcker kommt, nicht, das geht schnell, aber wenn
Fässer abgeladen werden oder Kalbshälften. Natürlich würde es funktionieren wie beim Austausch des Personals, solange die Wächter danebenstehen, knurren die Hunde zwar, aber tun
nichts. Aber es verhält sich so, daß in diesen Fällen es den Wächtern durchaus zu dumm ist,
solange daneben zu stehen, und so kommt es vor, daß dann die Hunde weggeschlossen wer226
den. Wenn Fleisch kommt, vielleicht auch wegen des Fleisches selbst, ich weiß es nicht,
möglicherweise ließen sie sich da nicht so einfach bändigen …“ Er versank in Betrachtungen
und schwieg.
„Und?“ fragte ich nach einer Weile, in der ich mir selbst die albernsten Gedanken gemacht,
ob es nicht am Ende möglich sei, mich etwa in einem leeren Faß oder einer Schweinehälfte zu
verbergen und dort „anliefern“ zu lassen.
„Ich kenne einen von den Gesellen des Fleischers“, sprach Franklin Stifel nachdenklich.
„Wenn Sie ihm ebenfalls ein Silberstück gäben, vielleicht wäre er bereit, sich von Ihnen vertreten zu lassen, wie Sie es vorhin mir vorschlugen – wenngleich … auch er würde nicht
gerne seine Arbeit verlieren, wahrscheinlich müßte man seinen Herrn einweihen – noch ein
Silberstück, ein größeres – und ich weiß wahrhaftig nicht, Sir, wie Sie von dort wieder herunterkommen wollen. Abgesehen von … wie soll das gehen? Sie fahren dort vor. Sie helfen
abladen. In der knappen Zeit und nebenher werden Sie ihr Anliegen nicht erledigen können.
Also, begreife ich Sie wohl, wollen Sie vorübergehend auf Morass Manor bleiben. Nun Sir,
und ich frage, wie soll das gehen? Wie stellen Sie sich das vor? Glauben Sie allen Ernstes, es
fällt niemandem dort auf, wenn der Fleischer zwar mit zwei Gesellen vorfährt, abläd, aber nur
mit einem das Anwesen wieder verläßt? Wenn es zweiundzwanzig Gesellen wären, aber es
sind zwei, Sir, manchmal ist es nur einer.“
„Und wenn jemand anders statt meiner mit hinausfährt?“ fragte ich. „Sie zum Beispiel?“
Einen Moment schwieg er verblüfft, lächelte dann leicht und wie mir schien, fast bewundernd, darauf jedoch schüttelte er den Kopf. „Abermals, Sir, Sie verkennen die Lage. Ich
sagte es Ihnen, man kennt sich dort von Angesicht zu Angesicht, ein solcher Betrug würde
ohne jeden Zweifel auffallen. Selbst mit Masken oder Verkleidungen, daß es so aussieht, als
führe derselbe hinein und hinaus …“ er breitete für den Moment lächelnd die Hände aus, so
daß die Bettdecke etwas herabrutschte, „und ich habe auch keinen Zwillingsbruder, Sir. Ich
denke, derlei Tand funktioniert sowieso nur auf dem Theater - mit Verlaub.“
„Ich habe nicht an derlei Verkleidungen oder Doppelgänger gedacht“, sagte ich steif. Im
Hinterkopf wurde ich jedoch nicht einmal den lächerlichen Gedanken an das Versteck im
Weinfaß ganz los. Es mußte doch einen Weg dort hinein geben, fluchte ich im Stillen bei mir,
schließlich war das nicht die Schatzkammer mit den Kronjuwelen!
„Abgesehen von … verzeihen Sie, Sir“, sprach er. „Denken Sie andersherum. Nehmen wir an,
Sie sind auf wunderbare Weise dort hineingelangt. Nun, Sir: Wie lange wollen Sie sich dort
aufhalten und unentdeckt bleiben? Und wie überhaupt wollen Sie irgendwann wieder hinaus –
gleichermaßen unentdeckt? Wenn Sie auf den nächsten Besuch des Fleischers warten, müssen
Sie sich einen vollen Monat in Geduld üben.“
Ich dachte daran, dass es noch komplizierter war, als er annahm, denn ich wollte ja nicht allein dort hinaus …
„Die Frauen sind im Keller gefangen“, sagte ich. „Was heißt das? - Sind Sie dort eingeschlossen?“
„Nun, was glauben Sie wohl?“ meinte er spöttisch.
„Ich meine, sind sie in einem kleineren Raum, einem Verließ, einem Gelaß, und ist das abgeschlossen, oder ist der Keller als solcher und als Ganzes abgeschlossen? Gibt es mehrere Zugänge dorthin, Zugänge in den Keller, Zugänge in dieses Gelaß. Gibt es Zugänge von außen,
eine Rutsche für Weinfässer meinethalben. Hat das Gelaß Fenster? Was meinen Sie? Besitzen
Sie Papier und Feder und könnten mir einen Plan der Keller des Anwesens aufzeichnen?“
227
Statt einer Antwort starrte er mich eine Zeitlang wortlos an. Dann stand er auf, ließ die Bettdecke herabgleiten, griff sich ein Hemd, das über einer Stuhllehne hing, warf sich dieses über,
verschloß es nachlässig und zog sich den nämlichen Stuhl an die Anrichte heran, auf der das
Silberstück lag, das er keines Blickes würdigte. Er öffnete eine Schublade der Anrichte, nahm
einen Bogen Papiers und einen Bleistift heraus, und während der nächsten Minute sah ich ihm
beim Zeichnen zu. Ich meinerseits stand auf und zog meinen Stuhl neben den seinen. Als er
fertig war, schob er mir das Blatt hin. Natürlich konnte ich nichts darüber sagen, wie sich das
Verhältnis der Wirklichkeit in Morass Manor zu dieser Zeichnung verhalten mochte, aber was
ich erblickte, schien mir nicht ungeschickt hergestellt. Ich sah es mir an. Er hatte nicht nur den
Keller skizziert, sondern drumherum einiges, daß ich mich orientieren konnte, zum Beispiel
am Rande des Blattes den Verlauf der Themse.
Er deutete mit dem Stift. „Dies hier sind die Räume, in denen die drei Frauen gehalten werden“, erklärte er und wies auf vier miteinander verbundene kleine Quadrate, die demnach an
der Nordost-Ecke des Gebäudes lagen. „Hier können sie schlafen, sie können sogar getrennt
voneinander schlafen, in unterschiedlichen Räumen, wenn sie das wollen, es gibt Türen zwischen den Räumen, aber soweit ich gehört habe, tun sie das nicht. Vom Rest des Kellers gibt
es nur einen Zugang in diesen Bereich - hier.“
Er zeigte mit dem Stift auf eine Barriere, die er eingezeichnet hatte, offenbar eine schwere
Tür, die, ich brauchte nicht danach zu fragen, natürlich abgeschlossen oder verriegelt war.
Diese Tür schloß eine Art Korridor ab, der rechtwinklig von einem zentralen Gang ausging,
welcher auf seine Länge einmal durch das Gebäude lief, an der Westseite nach Süden umbog
und an der Südwestecke, diagonal dem Kerkerbereich der Mädchen gegenübergelegen, auf
eine Treppe nach oben ins Haus zu münden schien, wenn ich die Zeichnung recht deutete.
Stifel tippte wieder auf die Gelasse der Mädchen. „Hier ist eine Waschgelegenheit, einen Abfluß gibt es nicht, das Wasser muß hinein- und hinausgetragen werden. Keiner der Räume hat
Fenster, weil dieser Teil des Kellers komplett unter dem Erdboden liegt. Deshalb gibt es auch
keine Abflußrohre, das Gefälle würde nicht ausreichen, nur oben im Haus gibt es Abflüsse,
deren Rohre direkt hinunterführen zur Themse.“
„Abflußrohre?“ unterbrach ich interessiert. „Könnte man dort vom Haus aus zur Themse hindurchkriechen?“
Er schenkte mir einen kurzen Seitenblick, als hätte ich ihn gefragt, ob er in gerade Linie mit
dem Königshaus verwandt sei, und bedachte mich dann mit der unfreundlichen Antwort:
„Gewiß, Sir, wenn Sie eine Ratte sind.“
Ich sagte darauf nichts, nickte nur.
Er tippte wieder auf das Papier, nicht allzu weit von der eingezeichneten Treppe nach oben
entfernt, dort befanden sich größere Räumlichkeiten, die ebenfalls mit dem zentralen Gang
verbunden waren. „Hier haben Sie den Weinkeller, Sir, mit der Rutsche von außen für die
Fasser, nach der Sie fragten.“
Ich sah mir das Labyrinth näher an. In die Weinkeller, die sich bis an die Nordwestecke des
Hauses erstreckten, gab es also von der Westseite eine Rutsche von draußen, die bestimmt mit
einer Klappe versehen und verschlossen war. Gesetzt den Fall, man wäre trotz der Hunde irgendwie durch das Gelände gelangt und man hatte sich der Schlüssel versichern können, die
diese Rutsche öffnete, so konnte man dort eindringen, mutmaßte ich. Allerdings: Man kam
diese Rutsche sicher hinunter, grübelte ich, aber ebenso sicher nicht hinauf, zumal, falls man
ein junges Mädchen war.
„Wohin führt diese Treppe?“ fragte ich und zeigte darauf.
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Er lächelte. „Vergessen Sie diese Treppe, Sir – sie führt direkt auf einen Korridor vor den
privaten Gemächern von Sir Enid. Falls Sie Sir Enid wirklich persönlich begegnen wollen, so
ist diese Treppe beziehungsweise der Korridor darüber wirklich der ideale Ort.“
„Nun“, sagte ich, „gibt es nur diese eine Trepppe nach oben? Es ist ein großes Haus. Wenn
Sie, die Dienerschaft, in den Keller muß, wimmeln Sie da alle über den Korridor vor dem
Zimmer Ihres Herrn? Wenn Sie Ihrem Herrn Wein bringen, denn das wird er vermutlich nicht
selber besorgen, wenn die Köchin in den Keller eilt, um Fleisch und Gemüse zu holen, wenn
Waschtag ist oder was weiß ich, bewegt sich das dann alles unmittelbar vor den Zimmern des
Besitzers? Dann möchte ich dieser Mann nicht sein. Dann könnte er gleich sein Lager in der
Mitte von Piccadilly Circus aufschlagen.“
Franklin Stifel lächelte nicht mehr, er nickte bedächtig. „Sie haben recht, Sir“, sagte er. Er
tippte auf den Bereich zwischen dem Weinkeller und dem Gefängnis. „Hierüber liegen der
Dienstbotenbereich und auch die Küche. Das Waschhaus ist außerhalb. Vom Dienstbotenbereich gibt es eine weitere Treppe hinab, diese hier.“ Er zeigte auf einen sonderbaren Kringel,
und nun ward mir klar, daß dies eine Wendeltreppe sein sollte.
„Augenblick“, faßte ich nach. „Es gibt einen Zugang zum Keller direkt vom Dienstbotenbereich? Ist dieser Zugang gewöhnlich offen oder braucht es einen Schlüssel?“ Ich korrigierte
mich und zeigte den Weg auf der Zeichnung, den ich meinte. „Wieviele Türen insgesamt beziehungsweise Schlüssel braucht es vom Dienstbotenbereich bis in das Gefängnis der Mädchen?“
Er folgte mit den Augen meinem Finger, seine Lippen bewegten sich, als er im Geiste zählte.
„Drei, Sir, nein, Verzeihung, vier. Hier ist die Türe in der Küche, die den Keller abschließt,
vom Dienstrakt aus gesehen. Sie gehen die Treppe hinunter, geradeaus bis zum zentralen
Gang, wo Sie auch rechts zum Weinkeller kommen. Der zentrale Gang ist zumeist abgeschlossen, manchmal nicht, sicherheitshalber sollte man den Schlüssel haben. Dann den zentralen Gang hinunter, bis zu dem Gang, der zu dem Mädchengefängnis abzweigt. Diese Türe
ist bestimmt verschlossen, und auch der Kerker selbst hat mehrere Schlösser, drei, soweit ich
weiß. Soweit ich weiß, wurden hier früher Schießpulver und Munition gelagert.“
„Wenn ich recht gezählt habe, sind dies sechs Schlüssel“, fragte ich schwach.
„Dazu den Schlüssel zu der Gartenpforte, Sir“, sagte er, „und falls der Diensttrakt von außen
verschlossen ist, auch der Schlüssel zu diesem, also acht, Sir, insgesamt acht.“
„Augenblick“, sprach ich fest, obwohl in diesen Sekunden mein Zutrauen in meinen Plan im
absoluten Schwinden begriffen war. „Noch einmal zum Mitdenken, wie habe ich mir das
Ganze vorzustellen? Gartenpforte – Sie sagen Gartenpforte. Sprechen wir von dem ummauerten Garten, den Sie vorhin erwähnten?“
„Ganz recht, Sir.“
„Aha, nun wohl, mir klar. Die Dienerschaft hat diesen Garten sozusagen als privaten Bereich
zur Verfügung. Und wenn sie kommt und geht, was selten genug der Fall ist, geht sie nicht
durch den herrschaftlichen Teil des Hauses, sondern durch diesen Garten, und deshalb gibt es
eine Pforte in der Mauer zwischen diesem abgeteilten Garten und dem äußeren Gebiet, dem
eigentlichen Grund und Boden des Anwesens, auf oder in dem die Hunde sich frei bewegen?“
„Das ist richtig, Sir.“
„Gut, andersherum gesehen: Ich komme von außen, muß irgendwie den sehr hohen Zaun an
der Grundstücksgrenze überwinden, mich über eine freie Fläche bewegen, wo die Hunde
blutgierig lauern und stehe dann vor einer Mauer, die ein Gärtchen umschließt, in welches ich
hineinmuß, um von dort in den Dienstbotenbereich zu gelangen. Richtig?“
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„Jawohl, Sir.“
„Und dieses Mäuerchen zu überklettern, dürfte mir nicht gelingen?“
„Nicht ohne Hilfsmittel, Sir, die Mauer dürfte an die zehn Fuß hoch sein und auf der Krone
stecken Glassplitter.“
„Nun befindet sich aber eine Pforte in dieser Mauer, durch die Sie, die Dienerschaft, kommen
und gehen, wenn Sie denn gelegentlich kommen und gehen.“
„Ein großer Bogen mit einem Gitter darin, Sir, durch das auch die Karren hineinrollen, die die
Vorräte bringen.“
„Was mich dem Problem aussetzt, daß die Hunde gerade dann nicht da sind, wenn eine größere Lieferung, beispielsweise Wein oder Fleisch, kommt. Nur dann ist die innere Pforte offen, nur dann könnte ich dort hineinschlüpfen, aber gerade dann wird sich dort auch der Fokus
der Aufmerksamkeit abspielen.“
„So ist es, Sir.“
„Wer hat die Schlüssel zu dieser Pforte, falls ich außerhalb der offiziellen Lieferzeit komme?“
„Dann sind die Hunde im Garten, Sir, denken Sie daran.“
„Ich denke daran, dennoch, wer hat die Schlüssel?“
„Mrs. Danray.“
„Und wie könnte ich sie mir verbinden?“
Er lächelte. „Verbinden, Sir? Was meinen Sie? Mrs. Danray können Sie sich nicht verbinden.
Sie ist alt, häßlich, hat die allgemeine Schlüsselgewalt im Hause, aber sie ist ein Teufel in
Menschengestalt. Nichts und niemand kann oder wird sie Ihnen oder Ihrer Sache verbinden.“
„Also vergessen wir dieses Tor und die Lieferung; bleibt nur der Weg bei Nacht über die
Mauer.“
„Die Hunde, Sir, die Hunde. Der Außenzaun, die Hunde und die innere Mauer. Und Sie brauchen mindestens Seile und Decken, um über letztere hinüberzugelangen, und bis Sie auf der
Krone sind, haben die Hunde Sie längst getötet. Abgesehen davon, selbst wenn Sie hinübergelangten, und ich wüßte nicht, wie das gehen sollte: Seile und Decken würde man anschließend finden, solange Sie im Hause sind.“
„Es sollten sich mir fuglich Möglichkeiten und Wege erschließen“, sagte ich heftig, „ein paar
Seile und Decken zu verstecken, wenn es mir selbst doch gelingt, mich im Haus zu verbergen.“
Er blickte mich an, als hätte ich ihm soeben meine Absicht eröffnet, zur Belustigung des Volkes freihändig auf der Kuppel von St. Pauls hundert Saltos zu schlagen. Er schwieg.
„Vom Garten in den Dienstbotenbereich, die Tür“, fragte ich, ist sie abgeschlossen?“
„Tags nicht, nachts wohl“, gab er mürrisch Auskunft.
„Nun, tags, das haben wir hinlänglich festgestellt, tags wird mein Kommen nicht möglich
sein“, sagte ich mit einiger Bitterkeit. „Also nachts - ergo: Wer hat den Schlüssel?“
Er sah mich an, und ich wußte sofort die Antwort. Ich seufzte. Mühsam unterdrückte ich einen Fluch. Es ging hier wirklich wie mit dem Satan zu. Ich dachte nach.
„Sie erwähnten vorhin ein Waschhaus“, sagte ich schließlich, „das sich außerhalb des Hauptgebäudekomplexes befinde. Wo ist es?“
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Er zeigte mit dem Stift auf seine Zeichnung. Es lag nordwestlich vom Hauptgebäude und näher zur Themse.
„Und wie weit weg etwa om Haus?“
Er zuckte die Schultern. „Hundert Yards, etwas mehr, etwas weniger, ich weiß nicht, Sir.“
„Und was gibt es dort?“ fragte ich.
„Was meinen Sie, Sir?“ gab er verblüfft zurück. „Es ist ein Waschhaus, im Grunde ein recht
großer, leerer Raum, einige Wände, einige offene Luken im Dach, nichts sonst.“
„Die notorische Frage, Stifel“, sagte ich langsam. „Ist es abgeschlossen, und wenn ja, wer hat
den Schlüssel?“
Sein Blick wurde plötzlich aufmerksamer als zuvor. Ich sah ihm seine Überraschung an. „Es
ist nicht abgeschlossen, Sir“, sagte er bedächtig. „Warum sollte es abgeschlossen sein? Da ist
nichts , absolut nichts …“
Eine Pause trat ein, in der ich meinen Gedanken nachging, und er mich mit sonderbarer Neugier betrachtete.
„Wenn ich recht verstanden habe“, hub ich schließlich vorsichtig wieder an, „sagten Sie, daß
die Vorräte ebenfalls in diesen ummauerten Garten beim Haus geliefert werden?“
„Gewiß“, äußerte er, hob indes fragend die Augenbrauen, hatten wir doch die Frage, ob ich
mit einer „Lieferung“ kommen könne, hinlänglich und leider abschlägig geklärt. „Die Vorräte
werden in diesen Garten geliefert. Ja, das ist richtig, Sir.“
„Das heißt, wenn ich Sie recht verstehe“, fragte ich, „daß sich besagte Weinrutsche ebenfalls
innerhalb des umzäunten Gartens befinden muß.“
„Ja, Sir, ja – auch das ist wahr.“ Er zwinkerte mit den Augen.
„Und wer hat die Schlüssel zu dieser vermaledeiten Klappe? Und wagen Sie jetzt ja nicht,
‚Mrs. Danray’ zu sagen …!“
Er blickte mich sonderbar an. Nach einem Moment, der mir wie ein halbes Jahr vorkam,
sprach er: „Diese Klappe ist nicht abgeschlossen, Sir …“ – und ich spürte, wie mein Herz
einen Schlag tat.
Eine neue Pause senkte sich danach zwischen uns nieder, eine Pause, in der ich Atem
schöpfte.
„Nun gut“, sprach ich nach einiger Zeit und versuchte, den Aufruhr, der in mir tobte, nicht in
meiner Stimme hörbar werden zu lassen. „Setzen wir einmal den unglaublichen Fall, daß es
mir gelungen ist, bis in den Weinkeller vorzudringen. Wer läßt mich dann aus dem Weinkeller heraus, denn ich nehme doch an, daß Sir Enid seine Vorräte unter Verschluß hält. Sonst
könnte jeder aus dem Dienstbotentrakt dort hinunterlaufen und sich selbst bedienen.“
„Mrs. Danray hat die Schlüssel, selbstverständlich, Sir“, sagte Franklin Stifel, „sie hat die
Schlüssel zu jeder Tür in Morass Manor“, er blickte mich aus dem Augenwinkel an, und es
war fast etwas wie Schalk in seinem Auge, schien mir, und als er sah, wie ich auffuhr, setzte
er sehr schnell hinzu: „Aber zum Weinkeller, Sir, hat auch der Sommelier einen Schlüssel,
und das ist Patrick, Sir, und Patrick schläft mit mir im gleichen Raum.“
Ich ließ diese Mitteilung gebührend auf mich wirken. Ich sagte nichts. Es war schließlich
Franklin Stifel, der weitersprach.
„Sir“, sprach er langsam. „Sollte es Ihnen gelingen, bis in den Weinkeller vorzudringen, so
denke ich, daß ich alles für Sie tun kann, dessen Sie benötigen. Ich könnte mir die Schlüssel
231
verschaffen, die man braucht, um bis in das Gefängnis vorzudringen, die Schlüssel oder Abdrücke davon, sofern Sie mir nur genügend Zeit dazu geben. Sie könnten mit diesen Frauen
reden, und es sollte möglich sein, wenn Sie danach ebenso unauffällig verschwinden, wie Sie
gekommen sind, daß diese Sache unter uns beiden bleibt, Sir. Ich sollte die Schlüssel, die ich
mir verschaffen muß, wieder zurücklegen können, ohne daß jemand etwas bemerkt, und so
mag es am Ende alles gut ausgehen, für Sie wie für mich. Aber ich muß Sie dringend, dringend bitten, wenn Sie mich und sich selbst nicht ins Unglück stürzen wollen, Sir, sich unbedingt an diese Verabredung zu halten … und nicht etwa … irgendwelchen anderen Unsinn zu
betreiben.“
Ich versuchte, während er dies sprach, ausdruckslos auszusehen wie ein Stein, mir nichts anmerken zu lassen von dem, was in mir vorging. „Ich weiß wahrhaftig nicht“, sagte ich fest,
„was Sie meinen. Ich will nur mit ihnen reden …“
Er schauerte an meiner Seite plötzlich fröstelnd zusammen, erhob sich, setzte sich wieder auf
das Bett und legte trotz des Hemdes, das er nun trug, die Decke um seine Schultern. Er wirkte
kleiner als zuvor, als er dort saß, und geradezu eingefallen.
„Drei Mädchen sind tot“, flüsterte er.
Ich erhob mich und legte die ausgestreckte Fingerspitze auf das Silberstück auf der Anrichte,
schob es ein wenig hin und her.
„Jetzt müssen wir die Details besprechen, Mr. Stifel“, sagte ich. „Aber ich denke, Sie werden
sich dies hier rechtschaffen verdienen. Diese gefangenen Mädchen sind es wert, verstehen
Sie?“
Er saß auf dem Bett und fröstelte trotz der Decke um seine Schultern. Es war unterdessen weit
hinweg über die Mittagszeit, und das trübe Tageslicht hinter der Dachluke ließ langsam nach.
Ich zog mir den Stuhl zum Bett und ließ mich wieder bei ihm nieder.
„Wann“, fragte ich, „kehren Sie nach Morass Manor zurück, Mr. Stifel?“
.....
In vorbezeichneter Weise, geneigter Leser, führten Franklin Stifel und ich unsere Unterredung
noch geraume Zeit fort, wiewohl ich Dir die Einzelheiten dazu hier versparen mag. Allzu viel
war zu bedenken und zu kalkulieren, das Tageslicht hinter jener Luke in den Sparren des Daches fiel und schwand, und es war früher Winterabend, als ich endlich glaubte, alles Notwendige mit ausreichender Sicherheit erwogen und geprüft zu haben. Franklin Stifel hatte zuletzt
das Silberstück wieder unter den Dielen seiner Kemenate versteckt, und uns beide einte, während er damit beschäftigt war, das Gefühl, daß er sich seinen Lohn rechtschaffen erarbeiten
würde - beziehungsweise dies zu einem großen Stück bereits getan.
Dann, auf meine Bitte, kleidete er sich an und begleitete mich, als ich aufstand, um das Haus
in der Frith Street zu verlassen, er sprach ein, zwei nichtssagende, wenngleich Erklärung vorgebende Worte zu seiner Tante, ich nahm ihn mit und wir schritten hinüber zum weitläufigen
Soho Square und kehrten dort im Fauconberg House auf einen Abendimbiß ein. Viele der
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Gäste waren Franzosen, die zuhauf in dem Viertel lebten, und einen Augenblick lang hoffte
ich auf ein Wiedersehen mit Ambroise Tardieu, aber diese Hoffnung war natürlich eitel Trug.
Franklin Stifel und ich hockten uns an einem Tisch im hellen Lichte nieder und plauderten
vertraut miteinander, tranken wohl auch ein erkleckliches Quantum dazu, was ich eigentlich
nicht gewöhnt bin.
Am Ende beglich ich unsere Zeche mit dem einen meiner Guinneas, mit dem ich schon mein
Mittagsmahl im ‚Spaniard’ bezahlt, und schob ihm dann den Rest davon hinüber, immer noch
eine ordentliche Anzahl Schillinge, die er zunächst ablehnte, aber ich nötigte ihn dazu, sie zu
behalten, denn es war in unserer Planung offenbar geworden, dass auch er noch etliche Ausgaben in unserer Sache haben würde.
Ganz recht, teurer Leser, ich hatte an diesem ersten einzigen Tag meines neuen Abenteuers,
das mich nach Morass Manor hineinführen sollte, wenn denn alles gelang wie erwünscht, den
Luxus oder die Leichtfertigkeit besessen, bereits ein Fünftel meines Burkittschen Vermögens
ausgegeben, aber es war mir wichtig, so unendlich wichtig, daß ich mich auf Franklin Stifel
und die Leute, die er mit hineinziehen mußte, würde gänzlich verlassen können, und so schieden wir denn zu recht später Nachstunde unter den Laternen des Soho Square nicht nur als
einige Handelspartner, sondern, schien mir, gar als etwas wie Freunde.
Die nächste Zeit allerdings, die Tage und schließlich die weitere halbe Woche, die verstreichen mußte, bevor die Dinge in Bewegung geraten konnten, war für mich die grausamste aller
denkbaren Foltern. Nein, nein, geschätzter Leser, ich drücke mich falsch aus, die Dinge,
hoffte ich, waren durchaus in Bewegung, ich hatte dieses Uhrwerk in Gang gesetzt, aber da
ich dies nicht unmittelbar wahrnehmen und nur hoffen konnte, daß es sich so verhielt, litt ich
höllische Qualen um meine Io und die Sicherheit ihres Lebens, Torturen, die ich im Grunde
nicht zu schildern vermag. Des Nachts lag ich wach, des Tages verstrickte ich mich in sinnlose Betätigungen, die letztlich nur den Zweck erfüllen sollten, meine Zeit zu füllen und meinen Kopf zu leeren …
Samstag, den 8. November, hatte ich mit Franklin Stifel in der Frith Street geredet. Den
Sonntag lief ich nach Norden hoch zur City Road in Finsbury, den umgekehrten Weg, den ich
im Morgengrauen getan, als das Fieber mich befallen. Der Anblick des grauen Schulhauses an
der Seite der Bunhill Fields im trüben Tageslicht flößte mir unaussprechliches Grauen ein,
und ich fragte mich, ob die entseelten, geschändeten Körper von Asunción Lozano und Eusebia Purcell sich noch darin befänden. Ich läutete und klopfte an dem Gehöft gegenüber und
lief darum herum, aber weder Noah Whelmsley noch Bo Swensson noch einer der zahlreichen
Bediensteten ließ sich blicken, und das Anwesen lag wie tot.
Also marschierte ich wieder los, packte, als ich die Felder von Clerkenwell überquerte, das
von Mrs. Hamlet bereitete Brot aus und verzehrte es im Gehen. Eine Stunde später strich ich
den Regent’s Canal hinauf und beobachtete aus der Entfernung das Haus Fiona de Catos, aber
nichts regte sich auch dort. Sie war nicht daheim, natürlich nicht, und ich versank in trübe
Gedanken über meinen Freund Seb.
Auf dem Heimweg tat ich etwas, das ich in letzter Zeit sehr selten getan. Es war schließlich
Sonntag, so ergab es sich, aber als ich an der Church of The Holy Sepulchre Without Newgate
vorbeikam, deren Glocken gerade zur Abendmesse riefen, schlüpfte ich hinein und bekam
noch einen Platz nahe der St. Stephen Harding gewidmeten nördlichen Kapelle. Ich bekenne,
daß ich im Geiste kaum der Zeremonie folgte, aber bei mir selbst im Inneren versunken war in
dringendstes, innigstes Gebet. Noch später, nach der Messe, blieb ich in der nun geleerten
Kirche sitzen, bis mich schaudernd fror, und schaute blicklos zu jener zugemauerten Pforte
hinüber, die über einen unterirdischen Tunnel einst diesen Raum mit dem Newgate-Gefängnis
verbunden.
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Sonderbar spielte der Zufall, daß ich auf meinem Wege gerade hier vorbeigekommen. Ich
sandte meine Blicke zu der zugemauerten Pforte und entsann mich des recht grauenvollen
Brauchs, welchen vormals Robert Dowe eingeführt und der mir die rätselhaftesten Bezüge zu
meinem eigenen jüngeren Erleben aufzuweisen schien. Es verhielt sich damals nämlich so,
daß in jeder Nacht vor einer Hinrichtung ein „bellman“ von hier aus durch jenen Tunnel in die
Kerker hinübergeschickt worden war, welcher eine Handglocke anschlug, zu deren Ton er die
Verse zu rezitieren hatte 1:
„All you that in the condemned hold do lie
Prepare you for tomorrow you will die.
Watch out an prepare the hour is drawing near
That you before the Almighty must appear.
Examine well yourselves. In time repent
That you may not to eternal flames be sent.
And when Sepulchre’s bell tomorrow tolls
The Lord may have mercy on your souls.”
Die letzten beiden schrecklichen Zeilen wurden direkt durch das Schlüsselloch der Zelle zu
dem Verdammten hineingebrüllt. Am Morgen dann gab die Glocke von Bailey, die zu jener
Zeit noch im Turme von St. Sepulchre hing, in ernster Tonlage das Signal, den Verurteilten
aus der Zelle zu holen. Dann wurde er durch den Tunnel geführt, und dort herüben, an der vor
weniger als hundert Jahren vermauerten Tür, wurde ihm zur Einleitung des nachfolgenden
Ereignisses zunächst sein eigenes, von der Gemeinde gestiftetes Grabgebinde überreicht.
Ich erreichte Mrs. Hamlets Klause an diesem Sonntag abend so spät, war den ganzen Tag über
aus gewesen, daß sie abermals bereits in helle Sorge über mich verfallen war, wofür ich, soweit es meine Müdigkeit nur irgend zuließ, sie in warmen Worten um Verzeihung bat.
Am nächsten Morgen, dem Montag, sprach ich im ‚Monthly Mercury’ vor, zumal am 15. des
Monats, das hieß im Laufe noch dieser Woche, wie ich Dir, treuer Leser, an anderer Stelle
bereits berichtet, üblicherweise die nächste Ausgabe unseres Blattes anstand, und erkundigte
mich dort, ob man meiner Hilfe bedürfe. Finlay Burkitt ließ mich zu sich rufen, ich stattete
ihm meinen tiefempfundenen Dank hinsichtlich der großzügigen und durchaus unüblichen
finanziellen Unterstützung ab, was er sich zwar mit ungnädiger Miene anhörte, aber so, als
stehle ich ihm nur die kostbare Zeit, anschließend schickte er mich nach Hause mit dem Hinweis, daß er sich künftiger schriftlicher Nachrichten an mich wohl versparen könne, wenn ich
diese, wie es hier offenbar werde, ja sichtlich doch nicht lese. Ich verneigte mich tief beschämt und trollte mich unverrichteter Dinge aus der Fleet Street.
Sofern dieses mein Herumlaufen quer durch die Stadt in jenen Tagen irgendetwas Positives
bewirkte, wo ich in Gasthäusern, die ich nie zuvor betreten und von deren Existenz ich nichts
gewußt, Mahlzeiten verzehrte und dabei unweigerlich in finstere Betrachtungen versank, oder
meine von Mrs. Hamlet bereiteten Brote irgendeines grauen Nachmittags, dem Treiben der
offenen Straße ausgesetzt, mich gänzlich heimatlos fühlend und an die Ecke irgendeines Gebäudes gelehnt, verspeiste, so mag es bestenfalls die Tatsache sein, daß nach meiner überstandenen Krankheit durch den Ablauf solcher Gepflogenheiten die Kräfte und notwendigen
1
Etwa: All Ihr, die Ihr im Verlies der Verdammten liegt,
Bereitet Euch vor, denn morgen müßt Ihr sterben.
Wacht und betet, denn die Stunde naht,
Daß Ihr vor dem Allmächtigen steht.
Prüft Euch selbst, bereut beizeiten,
Auf daß Ihr nicht den ewigen Flammen überantwortet werdet,
Und wenn St. Sepulchres Glocke morgen früh schlägt,
Möge sich der Herr Eurer Seelen erbarmen.
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Lebenssäfte, um das Künftige, Schreckliche vielleicht doch heil zu überstehen, langsam in
meinen Körper zurückzukehren schienen. Ja, ich saß in den Wirtshäusern unseres großen
London, ich spazierte fieberhaft hierhin und dorthin – im Grunde jedoch betäubte ich nur
mein unerträgliches, notwendiges Warten.
Den Montag, jenen, da ich im ‚Monthly Mercury’ vorgesprochen, wußte ich, nein, hoffte ich,
war Franklin Stifel in seine übliche Anstellung auf Morass Manor zurückgekehrt. Ich sah es
im Geiste vor mir, wie er und die anderen Abgelösten des grauen, nebligen Morgens auf das
Grundstück gelassen wurden, während die Wächter die Hunde im Zaume hielten, wie sie, die
Diener, hinüberliefen, wo Mrs. Danray für sie die Pforte im ummauerten Garten geöffnet
hielt. Franklin Stifel … Ja, ich hoffte, daß er sich seiner zusätzlichen Aufgaben bewußt blieb
und ihrer brav gewahr wurde, all dessen, was - alles in allem kompliziert genug - wir in seiner
Kammer besprochen.
Es galt einen anderen Diener, Steven Grains mit Namen, der dort arbeitete und den ich nicht
kannte, zu überzeugen, nein, zu bestechen, bei unserer Sache mitzutun. Franklin Stifel hatte
überlegt und war auf ihn verfallen - aus zwei Gründen. Erstens wurde dieser Mensch gewöhnlich Mitte der Woche, mittwochs oder donnerstags, abgelöst, das heißt, er würde noch diese
Woche in London bei mir auftauchen können, zur Übermittlung von Nachrichten und aus
anderen Gründen. Zweitens hatte dieser Steven Grains einen Cousin, Peter Hobblit geheißen,
der, wie verlautete, den Vorzug besaß, etwa drei Meilen oberhalb von Morass Manor, unweit
einer Garnison namens Hounslow einen Bauernhof und Fischerbetrieb direkt am Ufer der
Themse zu betreiben. Um die Sache noch besser zu gestalten, gehörte ferner dessen Schwager, einem Manne namens Pierce, in Höhe von Hammersmith, also zwei Meilen unterhalb
von Morass Manor, ein, wie es hieß, recht einsam gelegener Fuhrbetrieb, wenn auch nicht
direkt am Ufer unseres großen Flusses gelegen, so doch auch nicht allzu weit davon entfernt.
All dies schien Franklin Stifel und mir die rechte Vorbereitung und Möglichkeit, unser kühnes
Ansinnen ins Werk zu setzen. Weiteres kam hinzu. Sobald Steven Grains in der Mitte der
Woche Morass Manor würde verlassen haben, würde er, noch bevor er nach London kam,
sowohl Peter Hobblit, den Bauern und Fischer oberhalb von Morass Mansions, als auch Howard Pierce, den Fuhrunternehmer unterhalb, aufsuchen, über unser Vorhaben ins Benehmen
gesetzt und hinsichtlich unserer zeitlichen Planungen hinreichend unterrichtet haben. Erst
dann war er angewiesen, bei mir beziehungsweise Mrs. Hamlet aufzutauchen und mir bei der
Gelegenheit zu bestätigen, ob unser Plan bis dahin in geordeter Weise ablief oder abgesagt
werden mußte - wie gleichzeitig im letzteren Falle mir wertvolle Konterbande auszuliefern:
nämlich Kleidung, Schuhe und ein Flakon mit Parfüm, alles aus dem persönlichen Bestand
von Sir Enid Luciter.
Jawohl, Stifel hatte sich anheischig gemacht, auch derlei zu besorgen, zu leihen, vorübergehend zu entwenden - wie immer man das nennen mag - wenngleich leider auch nur unter der
Versicherung der Mithilfe einer weiteren Person, nämlich des persönlichen Kammerdieners
des Betreffenden – gelegentlich bekam ich Herzklopfen, denn es kam mir so vor, als sei inzwischen der halbe Borrough in unseren Plan eingeweiht, risikobehaftet, aber leider unvermeidlich. Der Raub dieser Dinge übrigens war selbstverständlich Bestandteil eines interessanten Versuchs, mich in gewissem Sinne zu verkleiden, wenngleich auch nur kurzzeitig und
ausschließlich für die mörderischen Hundebestien auf dem Territorium.
Für Mittwoch oder Donnerstag vormittag also war das Auftauchen Steven Grains’ in meiner
Klause annonciert, und noch am gleichen Tage sollte ich, gegen Nachmittag oder Abend und
ausgerüstet mit dem Notwendigen - Decken, Seilen und der Kleidung meines Erzfeindes - auf
dem Bauernhof bei Hounslow auftauchen, wo man meiner erwarten würde. Ich würde mich
umkleiden, und in dieser Nacht würden wir mit Mr. Hobblits Kahn themseabwärts treiben bis
Morass Manor – kein Rudern, kein Kämpfen, kein auffälliges Geräusch – ich würde dort an
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Land gehen und mit Glück die Hundebestien und mit den mitgeführten Decken und Seilen
auch die innere Gartenmauer überwinden, während Mr. Hobblit weiter themseabwärts treiben
sollte, um seinem Schwager einen Besuch abzustatten.
Der würde am nächsten Tag den Kahn und Mr. Hobblit auf ein Fuhrwerk laden und es über
Land nach Hounslow zurücktransportieren. Mr. Hobblit seinerseits sollte in der nächsten
Nacht die gleiche Reise noch einmal tun, nur daß er diesmal auf der Zwischenstation Morass
Mansions einen Passagier – zwei Passagiere, wie ich es besser wußte – in sein Boot würde
aufnehmen müssen, anstatt einen auszuladen, bevor er seinem Schwager in Hammersmith
einen weiteren Besuch abstattete.
Der Plan war recht gut, befand ich bei mir, wann immer ich ihn überdachte. Er war sogar
noch weiter bedacht. Es war erwogewn einen weiteren Diener des Anwesens, einen gewissen
Carl Hamilton, ins Vertrauen zu ziehen, eigens aus dem Grund, weil dieser das Wochenende
nach Franklin Stifel freihaben würde. Er würde so die ausgeliehene Kleidung und Schuhe Sir
Enid Luciters nach Morass Mansions zurückschaffen können, so daß sie dort nicht allzu lange
fehlten, denn Franklin Stifels nächster freier Tag lag erst nach Weihnachten und der Jahreswende, im neuen Jahr.
Nach all diesem, kostbarer Leser, magst Du für Dich und ohne daß ich es Dir weiter erläutere,
selbst erahnen, in welcher Stimmung ich mich befand, während – unerträglich langsam – der
Sonntag, der Montag, der Dienstag, der Mittwoch verstrichen und ich auf den Besuch des
Dieners Steven Grains wartete, welcher mir, wie ich sagte, für den Mittwoch oder Donnerstag
angekündigt war …
.....
Über der Themse lagerte Dunst – dies Nebel zu nennen, wäre wohl zu viel gewesen. Es war
ein weißer, regloser, toter Brodem, den gleichwohl das Licht des zunehmenden Halbmondes
ohne Mühe durchdrang. Die Nacht hatte durchaus Ähnlichkeit mit jener, als ich damals Morass Manor das erste und letzte Mal verlassen … Der Diener, der mich hinausgeleitet … die
Fackeln im Kies der Auffahrt, das Zigeunerlager der Kutschen mit den am Boden brennenden
Feuern seitwärts im fleckigen Mondlicht unter den Bäumen der Allee. Und am Tor war ich
auf Franklin Stifel gestoßen.
Ja, so hatte all dies angefangen, damals im warmen September ... Jetzt lag das Anwesen still
und dunkel und tot gegenüber im weißen Licht. Ich konnte das Rasenstück hinunter zum
Wasser erkennen, auf dem damals das Bankett stattgefunden, mit den Damen in Weiß, den
Fräcken und Zylindern, heiterem Champagner und Plauderei … Jetzt lag diese Rasenfläche,
weiß von gefrorenem Tau leer und offen in der hellen Nacht, und wir beide starrten von der
gegenüberliegenden Seite des Flusses, wo wir uns, geborgen in den Schatten der Trauerweiden, an den Zweigen über unseren Köpfen festhielten, hinüber.
Dann tauchte das einzelne Paddel ins Wasser, ohne daß ich einen Laut hörte. Peter Hobblit
steuerte seinen Nachen mit großer Geschicklichkeit. Die Strömung war es im Grunde alleine,
die uns nun trieb, hinauszog auf den offenen Fluß und hinüberlenkte auf Morass Manor zu,
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und während wir auf den Fluß hinausgetrieben wurden, passierten die Bilder des zurückliegenden Tages mein Gemüt.
Ja, Steven Grains hatte, kaum daß die Glocken zehn Uhr geläutet hatten, noch am Vormittag
und mißtrauisch beäugt von Mrs. Hamlet, bei mir vorgesprochen, ein mir gar nicht unsympathischer, heiterer junger Mann mit dunklen Locken, und er hatte das Bündel Kleidung mitgeführt, dessen Inhalt ich nun mehr schlecht als recht auf dem Leibe trug. Ich hatte den Rest der
Utensilien, Seil und Decken, dazugepackt, war noch am hellen Mittag von Holborn aufgebrochen, hinaus aus der Stadt, hinaus in die Heide, hatte mir die Ausgabe einer Kutsche verspart,
sondern mich auf einen mehrstündigen Fußmarsch nach Westen gemacht, im Grunde den
nämlichen, den ich seinerzeit, zurückkehrend von Morass Manor, in jener Septembernacht
unternommen, in der Sebastian Friderick-Horne mich mit der Kutsche aufgelesen. Allerdings
machte ich diesmal um Morass Mansion einen bedeutenden Umweg, ich mußte, dachte ich
mir, nichts unnötig riskieren, und war deshalb nach einem großen Bogen halbwegs bis hoch
nach Acton schließlich gegen Dunkelheit in Hounslow eingetroffen, wo ich Hobblits Anwesen ohne jede Schwierigkeit fand, indem ich mich dort einfach Richtung Themseufer hielt.
Hobblit und seine Familie hatten sich als sehr angenehm erwiesen, mir war - im Kreise der
vielköpfigen Menschenschar und im Scheine eines traut und warm flackernden Kaminfeuers
an dem großen blankgescheuerten Tische in der Mitte der Stube – sogar eine einfache, aber
sehr wohlschmeckende Mahlzeit aus Kartoffeln und mehrerlei Gemüse zuteil geworden – mit
viel Freude hatte ich die Vielzahl der Kinder, die ihre kleinen Hände zum Abendgebet falteten, beobachtet. Hinterher hatte ich mich umgekleidet, die Frau hatte mir mit Nadeln, Schlingen und Schnüren zur Seite gestanden, weil Sir Enids Anzug sich als zu ausladend für meinen
Leib erwies, seine Schuhe hatte sie im nötigen Maße, so daß ich damit laufen konnte, mit altem Papier ausgestopft. Sie hatte auch Punsch bereitet, und nach zwei sehr wohltuenden Gläsern, die wir im Kreise der Erwachsenen einnahmen, zu der Stunde, da im fernen London die
Sperrstunde ausgerufen wurde, waren Peter Hobblit und ich hinausgetreten in die Kälte, waren die wenigen Schritte zum Fluß hinuntergegangen und hatten den Kahn ins Wasser gesetzt.
Er hatte uns mit wenigen eleganten Ruderschlägen hinausgelenkt, uns stetig in der Mitte des
Flusses gehalten, wir hatten während der Fahrt kaum einmal ein halblautes Wort miteinander
gewechselt. Auch die beiden Ufer blieben still, kein Laut, weder von einem Tier noch einem
Menschen. Zudem war der größte Teil des Ufers unbebaut, keine Häuser, keine Hütten, Binsen, Schilf, gelegentlicher Durchblick auf die nächtliche Heide. Es war ein lautloses, fast unheimliches Gleiten im weißen Mondlicht in der Mitte des Wassers, während das Land wie in
einem unwirklichen Traume an uns vorüberzog.
Dann, nach einer Stunde Fahrt oder sogar mehr, hatte Hoblitt die Finger an die Lippen gehoben, das Ruder eingeschlagen, und wir waren hinübergeglitten in den Schattenschutz der
Weiden am jenseitigen Ufer. Die herabhängenden Zweige strichen über unsere Körper und
Gesichter, und wir hatten hineingegriffen und uns und das Boot festgehalten. Es schwankte
leise in der Strömung, aber das winzige Plätschern, das man hörte, drang lediglich vom näheren der Ufern zu uns her, nicht von der Bordwand unseres Gefährts. Reglos hatten wir mehr
als eine dreiviertel Stunde verharrt und das Gelände gegenüber beobachtet. Endlos dehnten
sich die Minuten. Nur einmal hatte man in dieser Zeit von dort ein entferntes Japsen oder ein
unterdrücktes Bellen gehört, aber Bewegung erblickt hatten wir nicht. Und dann, ein paar
Minuten danach, hatten wir einen Mann mit drei oder vier Hunden um jene Ecke der Gartenmauer streichen sehen, über die zu klimmen eine der späteren Aufgaben dieser Nacht fütr
mich sein würden. Das lag nun jedoch bereits wieder eine Viertelstunde zurück und es blieb
totenstill dort drüben auf dem Grundstück.
Ich strengte die Augen an, aber die Zwinger neben der Bankettwiese schienen mir tatsächlich
leer. Alles in allem, wollte mir scheinen, war die Wachsamkeit dort drüben eine weitaus ge237
ringere als von mir befürchtet. Gerade, als ich dies gedacht, umrundete ein weiteres Mal ein
Mann mit Hunden die vorbezeichnete Ecke. Es schienen derselbe Mann und dieselben Hunde
zu sein.
Hoblitt und ich schauten uns an, wir hatten wohl beide denselben Gedanken, und es war, wie
ich beschrieben, daß er das Ruder ins Wasser tauchte, wir gemeinsam die Äste losließen und
hinausglitten ins volle weiße Mondlicht und er in Richtung auf die Mitte des Flusses steuerte.
Es mochte inzwischen zwei Uhr sein oder sogar später. Das Kreuzen des Flusses kostete uns
wenig Zeit. Das andere Ufer kam schnell näher, ich griff mein Bündel, machte mich bereit. Es
benötigte keinerlei Kommandos zwischen Hobblit und mir. Wenn ich ihn morgen wiedersah
und wir erst sicher wieder weg waren von hier, würde ich ihm dafür danken. Er steuerte eine
flache Stelle an, etwa hundert Yards oberhalb der Bankettwiese. Hier gab es in der Nähe des
Wassers einige winterlich kahle Obstbäume, Äpfel und Birnen, schien mir, und ich konnte
dahinter, auf halbem Wege zum Anwesen, das schäbige Gebäude des Waschhauses sehen.
Von hier bis zu der fraglichen Gartenmauer mochten es zweihundert Yards sein, vielleicht
etwas mehr. Wir näherten uns rapide, ich machte mich bereit zum Sprung.
Dann war alles die Sache einer Sekunde. Hobblitt legte das Boot bei, einen Augenblick
schwamm es parallel zur Böschung, schon stieß er es wieder zurück gegen die Mitte des
Stroms und zum anderen Ufer, und in genau diesem Moment war ich gesprungen. Ich war gesprungen, hatte sicher Fuß gefaßt, drückte mein Bündel an mich und wandte mich zum Gehen, nicht zu schnell, nicht zu langsam, auf das Waschhaus zu.
Der Mondschein unter den kahlen Obstbäumen. Ich blickte mich um, ob ich eine sichtbare
Spur auf dem glatten, knisternden Reif des Grases hinterließ, konnte aber nichts erkennen. Ich
wandte mich – ohne im Gehen zu verhalten - zum Fluß und war verblüfft: Auch Peter Hobblit
und sein Boot konnte ich zu dieser Zeit bereits nicht mehr sehen. Ich richtete meinen Blick
auf das Waschhaus vor mir und schritt aus.
Ich sah, wie es vor meinen Augen näherkam. Es sah genauso aus, wie Franklin Stifel es mir
beschrieben hatte, ein schmuckloses, schäbiges Gebäude mit offenen Fensterhöhlen – wenn es
aus Holz gewesen wäre, hätte man es als Schuppen bezeichnen müssen. Aber Schuppen haben
keine Fenster, dachte ich. Ich schritrt darauf zu und sah es näherkommen. Ich wußte, daß die
Tür dort nicht verschlossen sein würde.
Ich schritt, nicht zu schnell, nicht zu langsam, dort im Mondschein über die Wiese. Es war
eine unwirkliche Situation. Ich sagte mir, daß ich mich unzweifelhaft in Gefahr befand, und
doch wollte mein Sinn die Gefahr nicht wirklich spüren. Ich war in einer frostigen Winternacht unterwegs, der Mond schien hell, ich war allein.
Es war so gut wie windstill. Wenn die Hunde jetzt auf der anderen Seite des Hauses waren –
ich war sicher, daß sie mich dort nicht wittern konnten. Ich dachte, das will ich bekennen, in
diesen Minuten nicht einmal an meine Io, obwohl ich ihr doch - endlich, endlich - so nahe
war, so unendlich nahe. Ich rechnete.
Eine Dreiviertelstunde oder länger hatten Hobblit und ich das Anwesen von dort drüben beobachtet, ohne daß eine Kontrolle erfolgt war. Dann war ein hastiger, flüchtiger Rundgang erfolgt. Eine Viertelstunde später hatte der gleiche Hundeführer eine weitere Runde gemacht,
und es waren gewiß weniger als zwölf Hunde bei ihm gewesen.
Was hieß das? Daß ein anderer Teil der Hunde und – wenn es wirklich, wie Franklin Stifel
gesagt hatte, fünf Hundeführer gab - weitere Männer auf dem Grundstück unterwegs waren?
Wenn ja, wo? Warum sah und hörte man nichts von ihnen? Oder arbeiteten auch diese Männer in Schichten? Und Wachhunde, schliefen die nachts?
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Mir gleich, jedoch, eine dreiviertel Stunde und dann eine Viertelstunde hatte es gedauert, daß
hier Männer und Hunde vorbeigekommen waren, und das Ganze lag jetzt erst eine oder zwei
Minuten zurück. Fünfzig Sekunden, seit ich an Land gesprungen war, nicht länger. Es war
schlicht lächerlich zu glauben, daß binnen der nächsten Minuten sich irgendetwas hier tun
würde.
Ich kehrte aus diesen, meinen fliegenden Gedanken zurück und bemerkte verwundert, daß ich
am Waschhause vorübergegangen war, ohne dies zu wollen. Ich war verblüfft. Es war geplant
gewesen, daß ich auf etwa halbem Wege zwischen dem Ufer und dem Haus mich vorübergehend in dem Waschhause hatte bergen, die Lage sondieren und eventuell eine weitere Kontrolle hatte abwarten - und so die Strecke der Gefahr zwischen Ufer und Haus gewissermaßen
hatte halbieren sollen. Jetzt war ich am Waschhause vorbei, und im Grunde hatte nicht ich
dies entschieden, sondern mein Körper, meine Beine. Ich erschrak einerseits, weil ich mir
klarmachte, daß ich dergleichen lächerliche Fahrlässigkeit in einer Situation wie der meinen
ganz gewiß nicht gebrauchen konnte, andererseits war ich froh, so, gewissermaßen unfreiwillig, die Phase, die ich mich hier in offenem Gelände und noch nicht innerhalb der vergleichsweise sicheren Gartenmauern befand, abgekürzt, anstatt künstlich in die Länge gezogen zu
haben. Worauf hätte ich warten sollen, dort im Waschhause, und wie lange?! Wir hatten das
Gelände von gegenüber lange genug beobachtet, um, zumindest für den Augenblick, festzuhalten, daß es hier keine Kontrollen im Minutenabstand gab.
Minutenabstand ... Anderthalb, vielleicht zwei Minuten, seit ich an Land gesprungen war.
Von Hunden oder Menschen war nichts zu hören oder zu sehen. Es war nichts zu fürchten.
Inzwischen war ich der Gartenmauer bereits fast näher als dem Waschhause hinter mir. Eine
kurze Sekunde lang wallte mich Panik an, sinnlose dumme Panik, es gab keinen Grund dafür,
nichts war zu sehen oder zu hören. Warum also Panik? Ich war hier, weil ich das Recht hatte,
hier zu sein. Ich war hier, weil ich die Sache der Rechtschaffenheit kämpfte. Ich war hier, um
dem Bösen seine Beute zu entreißen.
Ich näherte mich der Mauer, nicht zu hastig, nicht zu langsam, gerade so ruhig, wie es mir
möglich war. Es nestelte das Bündel von meiner Schulter, fingerte im Dunkeln nach dem Seil.
Es hatte sich ein wenig zwischen den Decken versteckt, aber da war es. Ich zog es ein Stück
weit heraus, fand das Ende mit der Schlinge. Oben auf der Mauer sollten sich eingesteckte
Glasscherben befinden. Daran, hatte ich geplant, sollte sich die Schlinge verfangen, daran
wollte ich mich nach oben ziehen, in ein zwei Sekunden. Wollte mich auf die gleiche Art drüben hinunterlassen, falls die Höhe zu groß war zum Springen. Ich hatte vorübergehend daran
gedacht, einen Anker oder etwas derartiges mitzuführen, aber ein Anker war schwer, und vor
allem, hatte ich gedacht, würde ein Anker laut sein oder mir selbst auf den Kopf fallen und
dergleichen Unsinn mehr. Ein Anker war lächerlich. Man konnte jegliches übertreiben. Ich
führte auch keine Steigeisen mit mir oder Eispickel. Dies war eine Mauer, ein Mäuerchen und nicht die Eiswand eines Gletschers.
Ich langte am Fuße der Mauer an, zweieinhalb oder drei Minuten seit meinem Sprung ans
Ufer.
Ich faßte das Seil und warf es in die Höhe, gegen die Mauer, über sie hinweg, wie mir schien aber es kam unverrichteter Dinge wieder zurück und fiel mir prasselnd vor die Füße. Ich
fluchte unhörbar, bückte mich, hob es auf und warf erneut. Es flog hoch und kam zurück wie
beim ersten Mal, kringelte sich im gefrorenen Tau des Grases vor mir. Ich bückte mich und
warf es zum dritten Mal, höher diesmal und weiter auf die andere Seite, wie mir schien, aber
es fiel zu mir herunter wie die Male zuvor, und plötzlich bemerkte ich Schweiß auf meiner
Stirn. Ich lauschte in die Nacht. Sollte ich zurückrennen zum Waschhause und mir etwas anderes überlegen? Keine Männerstimmen, keine Hunde. Ich überlegte nicht lange.
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Ich warf das Seil erneut, und diesmal blieb es oben. Im ersten Moment wollte ich es nicht
glauben, es war ein Moment einer gleichzeitig heißen und schrecklichen Freude. Ich zog und
zerrte daran, aber es blieb oben. Ich begann daran hochzuklettern, plötzliche Angst verlieh
mir ungeahnte Kräfte, und ich spürte nicht mehr den Schweiß und die Angst dieser kalten
Winternacht. Es blieb still, keine Männer, keine Hunde.
Als ich in die Nähe der Krone kam, nestelte ich an der Decke aus meinem Bündel, um sie,
gefaltet, wie ich sie wußte, über die Glasscherben oben darauf zu werfen, damit ich hinüberkonnte, das heißt, ich versuchte es, die Decke herauszufischen, aber ich hätte vier Hände gebraucht, zwei zum Festhalten und zwei für die Decke. Es ging nicht, und ich spürte, wie ich
Zeit vergeudete. Ich machte zwei, drei Versuche, die Decke hervorzuzerren, aber es ging
nicht. Sollte ich wieder absteigen und versuchen, die Decke zu werfen, wie zuvor das Seil?
Das war Unfug. Von unten die Decke dergestalt auf die Mauerkrone zu werfen, daß sie in
genau dem gefalteten Zustande dort liegenblieb, wie ich sie brauchte – ich hätte doch den
Künstler sehen wollen, dem das gelang. Aber ich konnte mir die spitzigen Glasscherben so
recht aus der Nähe ansehen, um zu wissen, daß ich ohne die Hilfe meiner Decke nicht darüberklettern konnte, jedenfalls nicht, ohne mich erheblich und durchaus gefährlich zu verletzen.
Dann hörte ich Hunde bellen, näherkommend, und mein Herz setzte aus.
Es war ungerecht, befand ich, ein schlechter Spaß des Schicksals, eine Schurkerei. Eine dreiviertel Stunde und dann nochmals eine Viertelstunde hatten wir von dort herüben das Gelände
beobachtet, und keine Wache hatte die Stelle passiert, an der ich jetzt an meinem dummen
Seil baumelte – und nun kamen sie bereits nach weniger als fünf Minuten zurück. Oder kamen sie, weil sie mich bereits entdeckt oder weil die Hunde mich gewittert hatten? Sie kamen
diesmal aus Richtung des Ufers, von der Bankettwiese her.
Jetzt zum Waschhause zurückzulaufen, dazu war es viel zu spät. Abgesehen davon, wenn ich
das tat, dann baumelte mein Seil im hellen Mondschein außen an der Mauer, und wenn sie
vorüberkamen, würden sie es hängen sehen. Nun, ich konnte, wenn ich abgestiegen wäre, es
immerhin mit gewaltigem Schwunge ganz und gar über die Mauer werfen, um seine Entdekkung vorerst zu verhindern, aber dann hatte ich mir auf alle Zeiten meinen Zutritt selbst abgeschnitten, und sobald es helle wurde, würde man es auf der Innenseite hängend oder liegend
finden.
Ich hätte am liebsten geschrien vor Wut. Stattdessen – ich hing an einer Hand, die langsam
erlahmte, warf beziehungsweise legte ich das Bündel mit der Decke komplett oben herauf,
nicht allzu vorsichtig, im Gegenteil, sondern dergestalt, daß die Scherben hineinschnitten. Ich
riß daran, um so das Glas noch tiefer hineinzutreiben, und dann griff ich wieder mit beiden
Händen ins Seil und zog mich hoch. Ich wußte, daß es um Sekunden ging, das Bellen der
Hunde, oder es war eher ein Japsen, erklang unmittelbar hinter der südlichen Ecke der Mauer.
Ich warf meinen Arm hinüber, über das Stoffbündel, schwang den Fuß seitlich hoch, bekam
auch die Schuhspitze auf die Mauer, allerdings im Bereich der Scherben, zwischen den
Scherben, versuchte mich zu halten, trat mit dem anderen Fuß gegen die Mauer, um Schwung
zu holen und warf mich mit der Brust auf den Beutel. Irgendetwas stach mich. Ich hielt das
Seil in Panik geklammert, obwohl meine Hände und Arme längst auf der anderen Seite waren,
und ich trat wild mehrfach ins Leere, ruckte nach oben, bekam Übergewicht, und der Rest war
ein unkontrollierter Sturz in die Dunkelheit vor mir. Dies alles in einem Augenblick.
Es riß mir fast die Arme aus, als das Seil sich spannte, mich herumwirbelte und die Füße am
Körper vorbei nach unten schlugen. Ich stieß mit dem Leib gegen die Mauer, daß ich dachte,
mir schwänden die Sinne. Ich unterdrückte den Schmerzensaufschrei, der sich mir entringen
wollte, ich ließ alles los, was ich in Händen hielt, stürzte ab und landete eine Sekunde später
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auf dem hartgefrorenen Erdboden. Das hieß – mein Glück – die Erde war hartgefroren, gewiß,
aber es war ehemals aufgehäufelte Erde, und so gab sie trotz ihres Zustandes um ein Weniges
nach, ich brach in die Knie, ich fiel vorneüber und schlug mit dem Gesicht ins Erdreich.
Im nächsten Moment fielen mir Seil und Bündel auf den Rücken – auch da hatte ich Glück
gehabt, offen gesprochen, denn eines von beidem oben auf der Mauerkrone wäre gewiß entdeckt worden, denn in der nämlichen Sekunde hörte ich die Hunde drüben auf der anderen
Seite der Mauer japsen und schnüffeln, im Grunde nur durch die wenigen Inches von mir getrennt, die die Mauer im Querschnitt messen mochte.
Die Unruhe der Hunde übertrug sich auf den Wächter, man verhielt, die Hunde schnüffelten
und liefen herum, man blieb an Ort und Stelle, der Wärter rief die Namen der Tiere und verwunderte sich, was sie hätten, dann …“ Kommt … kommt!“, liefen sie in die Richtung weiter
wie zuvor, um auf die Nordseite des Gartens zu gelangen. Der Garten, winterlich karg, lag in
hellstem Mondeslicht, ich drückte den Kopf vom Erdboden hoch, dort, wo sie hinliefen, im
nördlich Querbereich der Mauer, konnte ich das Gitter, die Bogenpforte im hellen Lichte erkennen. Gleich würden sie dort hereinschauen. Wenn der Wärter Schlüssel hatte, würde er
hereinkommen …
Der Garten schien mir taghell. Ich lag in dem schmalen Streifen Schattens, den die Mauer
warf. Ich nahm den Kopf wieder herunter, drückte mich flach ans Erdreich, hielt wahrhaftig
den Atem an, schaute nur aus dem Augenwinkel hinüber zu Pforte, wo in der nämlichen Sekunde die erste Hundeschnauze zwischen den Gitterstäben erschien, gleich danach die weiteren.
Die Tiere waren verwirrt. Sie steckten die Mäuler hier hindurch und gleich darauf durch den
Abstand daneben. Sie japsten und jaulten aufgeregt. Ich hörte wieder die Stimme des Mannes
die Hundenamen rufen, unterdrückt, vermutlich, um niemandem im Hause zu wecken. „Was
habt Ihr denn, Neptun, Uranus …?!“ Ich sah sein Gesicht, wie er jetzt selbst durchs Gitter
starrte und mit den Augen den kahlen, leeren Garten absuchte, genau in meine Richtung in
den Schatten starrte. Ich versuchte so tot und reglos zu liegen wie ein Stein, das Gesicht an
der kalten Erde.
„Keine Albernheit … Mars … Triton … Jupiter!“ hörte ich den Mann unterdrückt schimpfen
„kommt, ihr Banditen …!“ … und plötzlich waren sie fort vom Gitter und weitergezogen, war
die Pforte leer und der Spuk vergangen wie eine Fata Morgana. Ich konnte die Bestien nicht
einmal mehr hören.
Ich hatte, ich sagte es, bis hierher dreifach Glück gehabt, Beschaffenheit des Erdbodens beim
Sturz, daß die Mauerkrone oben leer war, als man draußen suchte, und daß die Augen des
Wächters dem tiefen Schlagschatten an der Mauer unterlegen gewesen waren - aber ich war
gegen das Schicksal nicht sonderlich dankbar, denn warum hatte es derart schnell überhaupt
Mann und Hunde schicken müssen!
Ich rang nach Luft, möglichst lautlos, versuchte zu Atem zu kommen, insgesamt hat man
Menschen schon eleganter über Mauern klimmen sehen, als mich in jener Nacht. Die Brust,
wo ich vom Glas verletzt war, schmerzte, meine Stirn schmerzte vom Aufschlagen, mein linkes Handgelenk, wo mich das Seil gerissen, meine Knie, die Seite, das rechte Bein schien
nicht in Ordnung, im Grunde schmerzte der ganze Leib.
Ich stemmte mich langsam auf Arme und Knie, hockte mich schließlich hin, musterte die
dunkle Fensterfront des Hauses auf der anderen, mondbeleuchteten Seite des Gartens. Alles
war dort still. Eine Sekunde später fiel mir die Luke am Erdboden auf, die Klappe, die die
Rampe für die Weinfässer verschloß, recht dicht beim vorerwähnten Gitter. Ich stand langsam
auf, erhob mich auf die Füße, hielt mich im Schatten und versuchte das unkontrollierte Zittern
zu überwinden, das mich befallen hatte, seit ich dort gelegen, vielleicht von der Kälte des Bo241
dens, vielleicht von der Angst, vielleicht von dem Schock des Sturzes. Ich spürte jeden einzelnen Knochen im Leib, aber dies habe ich wohl schon vermeldet.
Ich brauchte nun keinen Mut mehr, dachte ich. Ich war ihr jetzt sehr nah. Oh, mein Gott – im
Grunde, welches Glück hatte ich, alles in allem, gehabt! Ich hätte jetzt dort draußen liegen
können, zerfleischt und in blutigen Fetzen!
Ich nahm Seil und Beutel von der Erde auf, band mir mit zitternden Händen beides um die
Hüften. Dann tastete ich mich seitwärts bis zu der Stelle, wo ein schmaler, vielleicht anderthalb oder zwei Fuß breiter Weg auf die Mauer zulief. Ob ich auf dem lockereren Erdreich
direkt an der Mauer dabei Spuren hinterließ, konnte ich in dem tiefen Schatten, der dort
herrschte, nicht ausmachen. Ich hoffte indessen darauf, daß man eventuelle Spuren, wenn sie
denn entstanden, vom Hause aus nicht sah, und ich glaubte mich im Recht, wenn ich annahm,
daß zu dieser winterlichen Zeit nächstens auch niemand Gelegenheit nehmen würde, tagsüber
bis hierher an die Mauer vorzutreten, um Beeren oder Kräuter zu pflücken.
Dann holte ich tief Atem, bückte mich und lief los, nach Möglichkeit kreuz und quer diese
Wege nutzend, auf die Luke an der Hauswand auf der anderen Seite des ummauerten Gartens
zu.
Ich lief, halb gebückt, durch’s hellste Mondeslicht, das Bücken war hochgradig lächerlich und
albern, es geschah aus einem Reflex heraus. Es war derart hell in diesem kahlen Garten, natürlich hätte mich jeder, der etwa im Dunkeln hinter einem dieser Fenster stand, gesehen wie
am hellichten Tag, und zwar ganz gleich, ob ich dort aufrecht stolziert oder auf dem Bauche
gekrochen wäre. Ich lief töricht gebückt, als ob mich das vor irgendwem hätte verbergen können, aber es gibt Situationen, da tun wir Dinge, die wir im Grunde nicht bedenken, da geschieht einfach, was uns unser dummer Körper diktiert. Dann langte ich an der Luke an und
ging hastig in die Hocke.
Ja, ich konnte kein Schloß oder etwas dergleichen daran erkennen, ganz wie Franklin Stifel
versprochen. Meine Finger griffen nach der Ritze in der Mitte der Eisenplatten, wahrscheinlich würde es genügen, wenn ich nur eine Seite aufklappte. Aber, ermahnte ich mich, ich
sollte es tunlichst leise tun. Es wäre zu drollig gewesen, wenn mir zu diesem Zeitpunkt die
Lukenabdeckung aus der Hand rutschte und dröhnend, krachend, scheppernd zugefallen wäre.
Das Eisen der Luke war zwar dünn, aber dennoch hinlänglich schwer. Ich hob die eine Seite
an, streckte ein Bein hinein, dann das zweite, ich starrte nach unten, es ging in nachtschwarze
Finsternis. Ich ließ mich vorsichtig hinein, auf die Knie, auf die Lenden, hielt die Luke mit
meinem Arm und meiner schmerzenden Seite so weit auf, daß ich gerade hindurchpaßte, und
ließ mich mit Schneckengeschwindigkeit rutschten, immer weiter hineingleiten, bis ich, auf
dieser abfallenden Fläche liegend, an einem ausgestreckten Arme hing. Mit der anderen Hand
hielt ich die Klappe den letzten Spalt geöffnet, gab vorsichtig nach, klemmte mir selbstverständlich lächerlich die Finger – es ging gar nicht anders, ich fluchte unhörbar, dann ließ ich
los und rutschte nach unten.
Es war ein äußerst undramatischer Vorgang. Es war in der Tat eines der wenigen Dinge in
dieser Nacht, die kaum sich zu berichten lohnen. Ich rutschte, das dauerte drei, vier Sekunden,
geschah nicht besonders schnell, dann stießen meine Füße an den Erdboden, und ich hielt,
liegend auf dieser gewölbten, schrägen Rampe, auf dem Bauche liegend, an wie ein Mehlsack.
Dort lag ich, dann rappelte ich mich hoch. Das Problem war ein ganz anderes. Ich sah nichts,
ich sah absolut nichts. Es war in diesem Keller so finster wie im Bauche von Jonas Wal, und
an die Möglichkeit, eine Kerze oder ein Öllicht, einen Docht, Zunder oder sonst etwas, um
Licht zu machen, hatte ich bin all dem Wust meiner Vorbereitung nicht gedacht. Immerhin,
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dachte ich, ich war im Haus – ich war im Haus – und bislang hatte mich niemand entdeckt.
Ich war im Haus und damit meinem Ziele … ich war ihr so nah wie nie zuvor.
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