als rtf Datei - Generalplan Ost

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Reinhard Strecker
Goxxxxxxxxx XX
12161 Berlin
Montag, den 29. April 2002 (hier: zehnseitige, erweiterte Fassung vom 28.05.02 von ursprünglich 6 Seiten)
An
Herrn Matthias Burchard, Dipl. Ing. agr.
Bxxxxxxxx Straße x
10777 Berlin
Lieber Herr Burchard!
Sie haben mich nach meiner Meinung zum Generalplan Ost gefragt. Solange die Geschichte seiner
Entwicklung und seine überragende Bedeutung in Deutschland nicht allgemein anerkannt werden,
halte ich dies Versäumnis für eine schwärende Wunde im Verhältnis zwischen uns und den Völkern
und Staaten im östlichen Mitteleuropa und Osteuropa. Ich will Ihnen gerne erklären, was mich zu
diesem Urteil hat kommen lassen.
Der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozeß vor dem alliierten Militärtribunal hatte von November
1945 bis September 1946 gedauert. Große Teile der Akten waren in vier Sprachen in je 42 blauen
Bänden publiziert worden. Ursprünglich hatte es danach noch 24 Folgeprozesse vor amerikanischen
Gerichten geben sollen, als Fingerzeige auf einzelne Bereiche mit starker NS-Verbrechensbeteiligung,
doch Kalter Krieg und Korea-Krieg führten zur Spaltung der Welt in Ost und West. Beide bemühten
sich darum, die Deutschen auf ihre Seite zu ziehen. Die Politik beider Seiten erhielt andere Schwerpunkte. Die Zahl der vorgesehen gewesenen Prozesse wurde zusammengestrichen. Schließlich
fanden nur noch zwölf Prozesse statt. Und deren Ergebnisse wurden in nur noch insgesamt 15 grünen
Bänden dokumentiert und nur auf Englisch. Die deutsche Fassung war druckfertig gewesen, ist aber,
den Bonner Wünschen entsprechend, nie erschienen. Das Manuskript ist bis heute verschollen, in
Amerika oder in Bundesdeutschland
Die Unterlagen zu den nicht mehr stattfindenden Verfahren waren der deutschen Justiz übergeben
worden, teilweise - etwa im Fall Deutsche Reichsbahn - praktisch anklagefertig. Doch die deutsche
Justiz hat diese Fälle nie aufgegriffen. Von den zahlreichen Würdenträgern des Dritten Reiches, die
wegen ihrer herausragenden Beteiligung an NS-Verbrechen hatten vor Gericht gestellt werden sollen,
kam es nur noch zu einem Einzelverfahren: gegen Rademacher, wegen dessen Tätigkeit als Judenreferent im Polizeireferat des Auswärtigen Amtes, und nur dank Michael Mansfeld, der bei seinen
Untersuchungen zur Personalpolitik des neuen AA auf diesen Fall stieß, dessen Aktenlage so
eindeutig war, daß selbst die deutsche Justiz eine Verurteilung nicht vermeiden konnte.
Der auf Mansfelds Arbeiten fußende Bundestags-Untersuchungsausschuß resümierte im
Abschlußbericht seiner kritischen Arbeit, im AA seien mehr alte Nazis wieder beschäftigt als je zu
Zeiten Hitlers, und erklärte einige von ihnen für völlig ungeeignet, Deutschland im Ausland wieder zu
vertreten. Doch schon der nächste Bundestag richtete für einen dieser für absolut untragbar erklärten
Diplomaten die Stelle eines Unterstaatssekretärs im AA ein. Und eine weitere Folge hatte Mansfelds
Arbeit. Danach blieben die Akten im Staatsarchiv Nürnberg, im Bundesarchiv Koblenz und im Institut
für Zeitgeschichte München für die interessierte Allgemeinheit jahrzehntelang gesperrt. (Selbst als
Globke mich im Spätherbst 1961 wegen meines Hamburger Buches über seine Vergangenheit
verklagte und ich für den im Frühjahr 1962 in Bonn beginnenden Prozeß ihn betreffende Nürnberger
Dokumente benötigte, wurden sie mir verweigert.)
Zu dieser Zeit war Totschweigen die Devise. Ein Beispiel dafür muß an dieser Stelle genügen.
Mitscherlich und Mielke, zwei junge deutsche Ärzte, hatten 1946/47 am Nürnberger Ärzte-Prozeß
teilgenommen und über die dort geschilderten Verbrechen der angeklagten Mediziner einen Bericht
vorgelegt
Die Ärztekammern versuchten, ihn als ‘Nestbeschmutzung’ aus der medizinischen Öffentlichkeit
fernzuhalten und für die nicht-medizinische Bevölkerung völlig zu unterdrücken. (Mediziner waren die
Berufssparte mit dem prozentual höchsten Anteil an Mitgliedern in der SS gewesen. Sie waren nicht,
wie später gern behauptet wurde, gegen ihren Willen zu den ihnen vorgeworfenen verbrecherischen
medizinischen Versuchen gezwungen worden, sondern hatten sich dazu gedrängt, KZ-Häftlinge als
menschliche ‘Versuchskanninchen’ mißbrauchen und ‘verbrauchen’ zu können.) Erst seit April 1960
wurde ‘Medizin ohne Menschlichkeit’ als Fischer-Taschenbuch allgemein zugänglich. Und erst seit
letztem Jahr sind die Dokumente des Nürnberger ‘Falles 1’ ausführlich auf Fiches in einigen
Bibliotheken nachzulesen. Aber nicht weil Bundes- oder Landesregierungen oder deutsche ärztliche
Organisationen sich darum gekümmert hätten, sondern allein dank Klaus Doerner und Freunden.
Nicht einmal die wesentlichsten Urteile gegen NS-Verbrecher vor anderen alliierten Gerichten sind je
ins Deutsche übersetzt worden, etwa die britische rote Serie mit dem Belsen-Prozeß, dem wohl
schlimmsten KZ bei Kriegsende, eigentlich dem ersten Auschwitz-Prozeß in Deutschland, oder dem
Velpke-Prozeß, einem Beispiel für Planung und Organisation des Hungertodes für die Säuglinge von
Zwangsarbeiterinnen. Keiner der vielen französischen, belgischen, niederländischen, dänischen,
norwegischen, polnischen, tschechoslowakischen, sowjetischen, jugoslawischen, griechischen
Prozesse wurde mit offizieller deutscher Hilfe übersetzt, ist auf Deutsch nachzulesen, und bis heute
gibt es nirgendwo in Deutschland ein Archiv, wo diese Urteile gesammelt und zugänglich wären,
weshalb viele der inzwischen älteren Deutschen bis heute immer noch beteuern können, ‘von diesen
Verbrechen wirklich nichts gewußt zu haben’.
Sowohl Graf Moltke vom Kreisauer Kreis in Deutschland wie Franz Leopold Neumann im
amerikanischen Exil hatten festgestellt, wegen Mangel an Rechtsstaatlichkeit seien die NS-Gesetze
und Verordnungen, etc. von Anfang an ungültig gewesen. Das lief der Bonner Politik diametral
entgegen. Deswegen wurde diese gemeinsame Forderung aus Exil und Widerstand unterdrückt.
Denn Ziel der ersten Bundesregierungen war die Rehabilitation der Deutschen sowie die innere
Versöhnung des Volkes.
Ein stark strapaziertes Wort der frühen Nach-1945er-Publizistk und öffentlicher Reden war das Wort
‘Opfer’, doch ging es dabei nicht um die unschuldigen Opfer der NS-Verbrecher, sondern um ‘das
Opfer einer verführten Jugend, die in ihrem Glauben alles gegeben habe’. Und, um ein anderes der
damaligen Modewörter zu zitieren: Hitler wurde zum ‘Dämon’ erklärt. Normale Menschen sind
Dämonen leider unterlegen, wie jeder weiß.‘Die Verführten’, das deutsche Volk, waren also eigentlich
unschuldig, Gott unterlegen, der dies alles zugelassen hatte.
Die meist benutzte Selbst-Charakterisierung der frühen Bundesrepublik war, sie sei ‘ein Rechtsstaat’,
um so den hervorstechendsten Unterschied zum Willkürstaat Hitlers und der NSDAP, dem Behemoth
Franz Leopold Neumanns, dem Doppelstaat Fränkels, deutlich zu kennzeichnen. Der Rechtsstaat war
aber keine eigene Errungenschaft, von den Deutschen im Kampf gegen das NS-Regime wiedergewonnen. Er war uns mit und nach 1945 von den Alliierten geschenkt worden. Deshalb hatten ihm
anfänglich sehr viele skeptisch gegenübergestanden, hatten durch die Umerziehung, die ReEducation, erst wieder zu ihm bekehrt werden müssen.
Wer auch nur die geringste eigene Erinnerung an die NS-Diktatur hat oder, eine Frage des
Geburtsdatums, später Genaueres darüber gelernt, gehört, gelesen hat, wird den Rechtsstaat jederzeit
entschieden verteidigen. Den Rechtsstaat wohlgemerkt, doch keineswegs jene Interpretation eines
sehr selektiven Rechtsstaates, wie sie durch die Verfassungswirklichkeit des Heuß - Adenauer Globke - Systems auf lange Zeit als allgemeingültig etabliert wurde. Denn das Legalitätsprinzip hatte
keine Gültigkeit für NS-Verbrechen. Für die gab es keinerlei zentral geleitete, gezielte Ermittlung und
Strafverfolgung, und es gab keinerlei Wiedergutmachung, (welch infames Wort zur Verschleierung
der tatsächlichen Sachverhalte.) Verfolgte etwa, die bei ihren früheren Nachbarn eigenes Eigentum
erkannten und dessen Herausgabe verlangten, wurden von Behörden mit Strafverfolgung bedroht,
denn jene Nachbarn hätten diesen ‘Besitz’ ja legal auf Versteigerungen erworben.
In der Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik wurde der Rechtsstaat sofort zum Schutz von
Pensionsrechten und Karrieremöglichkeiten der NS-Kollaborateure und NS-Verbrecher instrumentalisiert, in viel exzessiverem Maße als sich heute der Datenschutz gelegentlich als hervorragender
Schutz vor Strafverfolgung erweist. Die Aufrechterhaltung des Rechtsstaates ‘erzwang’ die
Wiedereinstellung der alten Verbrecher. Nur ‘um den Rechtsstaat nicht zu gefährden’, war man
gezwungen, die Mörder allmonatlich noch nachträglich für ihre Teilnahme am Mord zu entlohnen durch
die Zahlung von Gehalt, Pension oder Rente, und dies mit Wissen und Billigung fast der gesamten
bundesdeutschen Bevölkerung. Für NS-Verfolgte und am Widerstand Beteiligte gab es dagegen sehr
lange nichts, und bis heute nichts Vergleichbares.
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Obwohl die offiziellen Kirchenvertreter mit dem NS-Regime weitgehend kollaboriert und die einzelnen
Christen im Widerstand im Stich gelassen hatten, galten die Kirchen nach 1945 als die moralische
Instanz schlechthin, ihren ‘Persilscheinen’ wurde unbedingter Glauben geschenkt. Die öffneten selbst
schwerstbelasteten NS-Kollaborateuren wieder alle Karrieren. (Ein bezeichnender Witz unter NSVerfolgten in Niedersachsen: ‘War der Oberbürgermeister nicht früher NS-Kreisleiter und ein übler,
alter Nazi?’ - ‘Unmöglich! Er geht doch zur Messe!’) Und das, obwohl jeder genau wußte, welch
ungebrochene Kontnuität bei der Prominenz am Ort herschte. Die Christen vergaben einander, sich
am Ermorden von Juden, Zigeunern und NS-Gegnern beteiligt zu haben. Das war wie ein Schlußstrich
unter die NS-Zeit, weiterer bedurfte es lange nicht.
Urteile alliierter Gerichte gegen NS-Verbrecher wurden deutscherseits nicht anerkannt. und die
deutschen Kirchenführer standen nunmehr mutig an der Spitze der Bewegung für eine Amnestie für
‘von der Siegerjustiz verurteilte Deutsche’. Folglich blieben diese von ausländischen Gerichten
Verurteilte nach ihrer meist vorzeitigen Entlassung in bundesdeutscher Sicht Ehrenmänner, konnten
Spätheimkehrer-Entschädigung erhalten und überwiegend in ihre alten Berufe zurückkehren, auf ihren
Untaten ihre weitere Karriere aufbauen.
Die nur in sehr geringer Zahl vor deutschen Gerichten stattfindenden NS-Verbrechensprozesse kamen
zum Stillstand. In ihrer Mehrzahl waren es Verfahren gegen Denunzianten und kleine Mordbeteiligte
gewesen. War es um gewichtigere Angeklagte gegangen, profitierten diese oft von der als allein gültig
ausgegebenen Interpretation des Richterprivilegs, etwa beim Penzberg- und anderen StandgerichtsVerfahren. Die Freisprüche wurden in den meisten Medien euphorisch als Beweis für die Herrschaft
des Rechtsstaats und einer wirklich ‘unabhängigen’ deutschen Justiz gefeiert. (Aus berechtigtem Mißtrauen dieser deutschen Justiz gegenüber ist es deutschen Gerichten untersagt, Wiederaufnahmeverfahren für von alliierten Gerichten Verurteilte durchführen.)
McCloy, Amerikanischer Hoher Kommissar, stand wegen der politischen Großwetterlage unter
starkem Druck aus Washington. Ihm war befohlen worden zu prüfen, ob der eine oder andere der
verurteilten Massenmörder nicht doch begnadigt werden könne. Ende Februar 1951 hatte er sich noch
einmal mit allen Akten für die Nacht zurückgezogen, um - absolut ungestört - bis zum Morgen zu einer
Entscheidung zu kommen, als sich zwei deutsche Offiziere, Speidel und Heusinger, die Spitze der
künftigen Bundeswehr, brachial an seinem Adjutanten Thayer vorbeidrängten, um McCloy zu drohen,
sollte auch nur noch einer ihrer Kameraden, sprich: der verurteilten NS-Verbrecher, hingerichtet
werden, so werde es nie deutsche Soldaten auf Seiten der West-Alliierten geben.
Nur zwei kleine Beispiele zur Illustrierung der Situation, die sich endlos ergänzen ließen.
Weitere hat Norbert Frei in seinem neuesten Buch gerade zusammengetragen.
Das Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt der SS war zuständig gewesen für die wirtschaftliche
Ausbeutung der zur Vernichtung durch Arbeit bestimmten , in die Kzs aufgenommenen Häftlinge.
Hermann Pook, der Chefdentist, hatte die Goldzahn- Leichenfledderei angeordnet. (Den Toten wurden
Goldkronen und Zähne mit Goldplomben herausgebrochen und, soweit die SSler das Gold nicht in die
eigenen Taschen steckten, gelangten diese Zahngoldreste nach Berlin in die Keller der Reichsbank.
Waren einige Kisten voll, wurden sie an die DeGuSSA geliefert, die sie zu Goldbarren einschmolz, mit
denen das Reich in der Schweiz, Schweden, Portugal und anderswo einkaufte.
Im Nürnberger SS-WVHA-Verfahren war Pook 1947 für seine Verbrechen zu zehn Jahren Zuchthaus
verurteilt worden. Bereits 1951 wurde er auf Grund der McCloyschen Begnadigung freigelassen.
Pook wollte wieder eine Zahnarzt-Praxis eröffnen und beantragte für die Anschaffung von Geräten,
etc. staatliche Subventionen. Einem Ehrenmann wie ihm, nie von der deutschen Justiz veurteilt,
konnten diese natürlich nicht verweigert, und auch seine ärztliche Zulassung konnte ihm nicht
entzogen werden.
Der eigentliche Grund für die Errichtung des KZ Auschwitz war die vertragliche Garantie der SS
gewesen, daß den IG Farben in Auschwitz stets genügend Arbeitskräfte zur Verfügung stehen würden.
Heinrich Buetefisch war einer der beiden IG-Farben - Generaldirektoren in Auschwitz gewesen.
Wegen seiner dortigen Tätigkeit war Buetefisch im Nürnberger IG-Farben-Prozeß 1948 zu 6 Jahren
verurteilt worden. (Der IG-Farben-Prozeß zeichnete sich dadurch aus, daß unter dem Druck aus
Washington noch die wildesten Meineide, etwa die Butenandts, für glaubhaft angesehen wurden. Von
23 Angeklagten wurden 10 völlig freigesprochen, die Verurteilten erhielten durch die Bank sehr milde
Freiheitsstrafen.) Nach seiner Entlassung wurde Buetefisch erneut Generaldirektor, diesmal im
Ruhrgebiet. (Nach Auschwitz konnte er schließlich nicht mehr zurück, das war ja wieder polnisch.) Zu
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Beginn der Frankfurter Auschwitz-Prozesse wurde ihm auf Vorschlag seines nordrhein-westfälischen
Regierungspräsidenten und der Landesregierung für seine Verdienste um den Aufbau der deutschen
Wirtschaft das Große Bundesverdienstkreuz verliehen.
Buetefisch war nicht der einzige-in Deutschland erneut hoch dekorierte NS-Verbrecher, aber es blieb
der einzige Fall, der bekannt wurde, und sein Orden war der einzige, der je zurückverlangt wurde.
Übrigens von Lübke, dem so vielbespöttelten Bundespräsidenten, der zweifellos zur NS-Zeit eine bis
heute kaum richtig diskutierte Schuld an den Zwangsarbeitern auf sich geladen hatte, aber dem die
NS-Diktatur für seine Person ein Problem geblieben war, und der mit Sicherheit nicht nur in dieser
Hinsicht besser war als der zu Unrecht so hochgelobte Professor Heuss, der Adenauer gegenüber
völlig rückgratlos jede ihm jede abverlangte Ernennung unterschrieben hatte, trotz der Dossiers, die
Verfolgtenverbände anfangs noch dagegen zusammengestellt hatten.
Fritz Schäffer, der Hüter der Stabilität der deutschen Mark, anfangs sicherlich noch stärker als
Adenauer, blieb als Bundes-Finanz- wie als Bundes-Justizminister unerschütterlich dabei: keinen
Pfennig für Wiedergutmachung und keine NS-Verbrechens-Prozesse.
Erst als Adenauer seinen ersten Amerika-Besuch als Bundeskanzler vorbereitete und sich um eine
gute Presse dort sorgte, gab die Bundesregierung auf dem Gebiet der angeblichen
‘Wiedergutmachung und Entschädigung’ etwas nach. Natürlich hat das, aber erst im Laufe von
Jahrzehnten, zu einem gewissen Dammbruch geführt, wie Schäffer es befürchtet hatte. Mit seiner
Politik stand Bonn allerdings nicht allein.
Auch die DDR und Österreich gaben sich als Leichenfledderer und verweigerten überlebt habenden
Angehörigen von Ermordeten die Herausgabe von deren Eigentum, ja selbst der Dokumente zur
Belegung ihrer Ansprüche. Genauso wurde das Recht von den meisten anderen von Deutschland
besetzt gewesenen Staaten in Ost und West praktiziert, jahrzehntelang, teils noch heute.
Das war ‘der Krieg gegen die Opfer’, so Pross.
Nur ein deutsches Beispiel zu dieser perfiden Praxis. Die den überlebenden Zigeunern verweigerten,
angeblich verschwundenen Zigeunerakten waren von den Behörden Robert Ritter und Eva Justin
überlassen worden, die sie einst zur Selektion der Zigeuner, streng wissenschaftlich natürlich, angelegt
hatten. War es einem der Überlebenden trotz dieser Praxis gelungen, für die KZ-Haft, oft seit 1936,
eine Entschädigung zugesprochen zu bekommen, entlastete das in den meisten Fällen nur die
Kommunalkasse, da die Behörden in der frühen Bundesrepublik das Geld sofort als Ersatz für die
verauslagte Sozialunterstützung der im KZ zu Invaliden gewordenen Zigeuner einkassierten.
In den frühen Fünfzigern hatte es in der Bundesrepublik eine massive Bewegung für die Freilassung
der noch in sowjetischer Haft zurückgehaltenen Kriegsgefangenen gegeben. 1954 bot die Sowjetunion
Bonn gegen Aufnahme diplomatischer Beziehungen deren Entlassung an. Als es, eigentlich gegen
Adenauers Willen, doch zu Verhandlungen kam, hatte er seine Delegation so zusammengestellt, daß
sie auf sowjetischer Seite verstören mußte. Neben anderen nahm er etwa Grewe und Globke mit.
Carlo Schmidt war, als Vertreter der SPD-Bundestagsfraktion, der einzige andere in dieser Delegation.
Die Sowjets wollten zu einer Vereinbarung kommen, doch daß sie zustande kam, verdankten die
Kriegsgefangenen allein Carlo Schmid. Im Abkommen Adenauer - Bulganin über die Heimkehr der
restlichen in der Sowjetunion befindlichen deutschen Kriegsgefangenen, sowjetische Sprachregelung:
bis dahin nicht amnestierter NS-Verbrecher, hatte die deurtsche Seite allerdings zugesagt, sollten sich
unter den der Bundesrepublik Übergebenen Personen befinden, die Verbrechen begangen hätten,
würden sie von der deutschen Justiz zur Verantwortung gezogen werden.
Um sich von Bonn die Einhaltung dieser Zusage vorführen zu lassen, hatte die Sowjetunion den ersten
Spätheimkehrer-Transport sorgfältig zusammengestellt. So befanden sich in einem Waggon alle noch
lebenden Sachsenhausen - SS-Funktionäre und -Wachmannschaften, die im Berlinski-Prozeß (dem
sowjetischen Sachsenhausen-Prozeß 1947 verurteilt worden waren, als Nicht-Amnestierte in die
Bundesrepublik überstellt..In ihre Mitte hatte sie KP-Müller gesetzt, was ihm gegenüber eine kaum
vorstellbare Perfidie war. Der hatte lange als Häftling in Sachenhausen unter ihnen gelitten und kannte
sie alle. Nach der Befreiung war er, wie viele NS-Verfolgte, wieder politisch aktiv gewesen und in den
Bundestag gewählt worden. Da es dort mehrere Abgeordnete nahmens Müller gab, unterschied man
sie durch Beinamen. So wurde er zu KP-Müller.
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Ihn hatte Mielke zum Hauptangeklagten vorgesehen gehabt in dem von Stalin gewünschten deutschen
Slansky-Prozeß. In Ostberlin wurde KP-Müller von Mielke persönlich ‘auf den Prozeß vorbereitet’,
Stasi-Deutsch für gefoltert. Mit Stalins Tod entfiel der Prozeß; aber KP-Müller wurde nicht etwa
freigelassen, sondern in die Sowjetunion verbracht. Bei dieser Gelegenheit nun entledigte sich die
sowjetische Führung seiner Person, damit die deutschen Verfolgten auch sicher erführen, wer da alles
von der Bundesregierung so freudig in Friedland begrüßt wurde.
Erwartungsgemäß flüchtete KP-Müller sofort aus Friedland nach Düsseldorf, um dem westdeutschen
Sachsenhausen-Komitee zu berichten, wer da alles mit ihm im Waggon heimgekehrt sei. Dieses
Komitee alter NS-Verfolgter versuchte sofort Strafanzeigen zu stellen, aber die Staatsanwaltschaft
Göttingen erklärte sich für unzuständig. Friedland sei nur Durchgangslager. Man mußte also die
Entlassungsorte erfahren. Die Bundesregierung sagte zwar nicht sofort nein, zog aber die Beratung
über die Antwort unter Beteiligung verschiedener Bundesministerien in die Länge. Aus Bonn kam die
geforderte Auskunft nie. Schließlich hat man auf anderen, mühsameren Wegen die Orte nach und
nach herausbekommen, so daß Strafanzeigen gestellt werden konnten und die Justiz tätig werden
mußte.Der Prozeß gegen Gustav Sorge und Karl Schubert z. B. begann deswegen erst im Oktober
1958, das Urteil wurde dann im Februar 1959 gesprochen.
Aber die Sachsenhausener waren nicht die einzigen NS-Verbrecher in diesem ersten Transport. Als
Sprecher der Heimgekehrten drängte sich jemand bei der Begrüßungsfeier ans Mikrofon, dessen Bild
am nächsten Tag in allen Zeitungen zu sehen war. Er dankte der Bundesregierung und beschuldigte
dann die Sowjetunion unsäglicher Verbrechen an ihnen, den heimgekehrten Soldaten. Überlebende
erkannten sein Gesicht. Es war Professor Clauberg, Gynäkologe aus Königsberg, der als KZ-Arzt in
Auschwitz unbegrenzten Zugriff auf Mädchen und junge Frauen gehabt hatte für seine Versuche zur
Entwicklung einer Sterilisationsmethode mittels Röntgenstrahlen. Die meisten seiner Opfer starben
nach tagelangen schrecklichen Qualen. Wer überlebte, blieb invalid, existierte bis zum Tod nur unter
Schmerzen. Auch seine Entlassungsadresse wurde nicht aus Bonn mitgeteilt. Clauberg verriet sich
selbst, durch eine Zeitungsanzeige. Wenige Tage nach seiner Verhaftung im NS-Naturschutzpark
Schleswig-Holstein starb er im Gefängnis. Vielen kam sein Tod sehr gelegen.
Vermutlich in sicherer Voraussicht des Verhaltens der Bundesregierung hatte die Sowjetunion Polen
und die Tschechoslowakei veranlaßt, in gleicher Weise einige verurteilte NS-Verbrecher als NichtAmnestierte in die Bundesrepublik zu überstellen.
Polen hatte zum Beispiel Professor Kremer überstellt, einen Auschwitzer KZ-Azt aus Münster, der
seine Universität, wie er in seinem Tagebuch notiert hatte, mit ‘lebend frischem Material’ versorgt
hatte. D. h., er hatte sich ihn medizinisch interessierende Häftlinge herausgesucht, dann deren
Ermordung veranlaßt, um danach Gewebeteile oder mehr zu entnehmen, eine in deutschen KZs weit
verbreitete Methode zur Anlegung medizinischer Lehr-Sammlungen.
Kremers Tagebuch war in Frankreich in Auszügen publiziert worden, und zwar wegen der obszön
klingenden Mischung von Notizen, was es Gutes zu essen und zu trinken gegeben habe, mit dem, was
er wohl als seine eigentliche medizinische Tätigkeit betrachtete. Sein Name war mir in einer Berliner
Abendzeitung aufgefallen. Eine kurze dpa-Meldung: ‘Feierlicher Empfang der Universität Münster für
ihren Spätheimkehrer Professor Kremer’. Obwohl sein Wohnort also bekannt war, dauerte es noch
sehr lange, bis Kremer in einem deutschen Strafverfahren verurteilt wurde und so wenigstens seine
Venia legendi verlor. Professor Othmar Freiherr von Verschuer hatte sich, wie in der Universität
rühmend berichtet wurde, rührend um den ‘armen Kerl’ gekümmert.
Erinnert sei an eine andere medizinische Sammlung. In der Deutschen Reichsuniversität Straßburg
fand sich, als das Elsaß von alliierten Truppen besetzt wurde, eine größere Anzahl konservierter Köpfe
von’Untermenschen’.
Ähnlich wie Kremer hatte sich auch Mengele verhalten, ein anderer Auschwitzer KZ-Arzt. Der hatte für
seinen Doktorvater Professor Otmar Freiherr von Verschuer gesorgt, zu der Zeit Direktor des KaiserWilhelm-Instituts für Eugenik, im Dritten Reich vulgo: für Rassenhygiene.Er hatte ihm Augenpaare,
Blut, Skelette und andere Leichenteile nach Berlin geschickt, kistenweise, wie erst vor zwei Jahren ein
Zeuge erneut bestätigte. Mengele flüchtete schließlich mit Hilfe der ODESSA-Linie aus Deutschland
nach Südamerika, blieb aber in ständigem Kontakt mit seiner wohlbetuchten süddeutschen Familie.
Von Verschuer hatte die NS-Politik in der ‘Rassenhygiene’ überschwänglich gefeiert und unterstützt,
war PG geworden, d. h. Mitglied in der NSDAP, hatte sich in seinem Selbstverständnis aber nie als
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Nazi gefühlt, sogar seine Kinder noch in den Vierzigern aus der Hitler-Jugend herausgenommen,
(wozu man damals eine sehr starke Position brauchte), war Mitglied der Bekennenden Kirche
gewesen, (nach der Verhaftung von Niemöller, Propst Grüber und Pfarrer Werner Koch in Berlin war
dieser protestantische Widerstand in weiten Teilen antisemitisch, ganz im Gegensatz zum Rheinland.)
Er gelangte, dank seiner eigenen Seilschaft, in der deutschen Wissenschaft wieder zu Ansehen und
einer wirklichen Pfründe. An die Universität Münster berufen, wurde er dort Institutsleiter und
schließlich Dekan, deutscher Genetik-Papst. Ermöglicht hatten das seine alten Kollegen aus der KWG,
vor allem der Nobelpreisträger Butenandt, später zweiter, langjähriger Präsident der Max-PlanckGesellschaft, mit einem sorgfältig und infam formulierten Gutachten, dessen Wortlaut Butenandt noch
Jahrzehnte später in den wesentlichen Sätzen genau zitieren konnte, obwohl er so tat, als könne er
sich an den Namen seines alten Kollegen von Verschuer überhaupt nicht mehr erinnern.
Erst der Nachweis, daß die Bundesregierung gar nicht daran dachte, ihre Moskauer Zusage
einzuhalten, ermöglichte der Sowjetunion, das noch lange nicht verschwundene Trauma, die Angst vor
den Deutschen, diesen NS-Verbrechern, zu instrumentalisieren und so die sowjetische Vorherrschaft
über Osteuropa auf weitere rund 45 Jahre zu stabilisieren. Das ist die zweite große Schuld der
Deutschen diesen Völkern gegenüber.
Soweit NS-Verbrechens-Prozesse dennoch stattfanden, soweit sich vereinzelt neue dauerhafte
Beziehungen ohne Beschönigung der Vergangenheit zu Osteuropa und anderen von Deutschland
besetzt gewesenen Ländern entwickelten, gelang dies meist gegen die Absichten der
Bundesregierung, wurde anfangs fast ausnahmslos durchgesetzt von überlebenden Verfolgten, nach
und nach erst auch von einigen anderen, älteren Bundesbürgern und schließlich von jungen Leuten,
die trotz des Schul-Geschichtsunterrichts dazugelernt hatten, und die die Bundesrepublik schließlich
gegen alle Bonner Intentionen auf einen ganz anderen Weg brachten. Deshalb halte ich das Erreichte
auch immer noch für eine Art halbe Erfolgsgeschichte: Deutschlands Entwicklung wurde von unten her
erkämpft. Deswegen allerdings gelang das auch nur eine sehr unzulänglich.
Längst nicht alle NS-Verbrecher wurden vor Gericht gestellt. Prag hatte zum Beispiel Nüßlein
überstellt. Der war u. a. Leiter des gesamten Justizwesens im Protektorat gewesen, Abteilungsleiter
Justiz beim deutschen Staatsminister beim Reichsprotektor, also leitend mitbeteiligt an Folterung und
justizförmiger Ermordung hunderter Tschechen. Auch Nüßlein wurde nicht vor Gericht gestellt. Erst
Spätheimkehrer-Entschädigung, dann vom Auswärtigen Amt mit dessen Rechtsvertretung in
Prozessen beauftragt.
Es ging gegen Verfolgte, die trotz der Bonner Ablehnung in ihr altes Ministerium zurückkehren wollten,
und die auch auch vorm für Bonn zuständigen Oberverwaltungsgericht Münster kein Recht bekamen.
Nüßleins Vergangenheit wurde in einem solchen Verfahren eher zufällig bekannt.
Auf den Protest von Verfolgtenverbänden gegen Nüßleins Funktion antwortete das AA, Nüßlein werde
in Zukunft nicht mehr als Angestellter für solche Verfahren beauftragt werden, was dankbar zur
Kenntnis genommen wurde. Es traf auch zu, aber ganz anders als es die Verfolgtenverbände
verstanden hatten und auch hatten verstehen sollen. Nüßlein war inzwischen wieder verbeamtet
worden. Er wurde dann stellvertretender Leiter der AA-Personal-Abteilung, zuständig unter anderem
für Wiedergutmachung und Wiedereinstellung nach dem Ausführungsgesetz zu Art. 131 GG, wie vom
AA bestätigt wurde. Der einzige Erfolg der Proteste der Verfolgtenverbände war, daß er schließlich als
Generalkonsul nach Barcelona versetzt wurde; man dachte wohl, bei Franco sei er gut aufgehoben.
Dreimal gelang es, auf Grund jeweils neu ausgegrabenen Materials, seine Einbestellung nach Bonn zu
erreichen, aber nichts passierte. Er blieb im Amt. Im Gesamtzusammenhang war er zwar unbedeutend
, aber er war, weiß Gott, kein Einzelfall.
Renazifizierung war ein sehr aktives Verb. Globkes Position wirkte wie ein grünes Licht dafür und er
blieb seinen alten Freunden verbunden. Stuckart, seinerzeit Staatssekretär, Stabschef beim Generalbevollmächtigten für die Reichsverwaltung, Globkes direkter Vorgesetzter im Reichsinnen-ministerium,
mit dem dieser u. a. gemeinsam seinen Kommentar zu den Nürnberger Gesetzen herausgebracht
hatte, Stuckart, der seinerseits Globke sofort nach September 1939 als seinen Generalreferenten
hatte uk stellen lassen, so daß Globke seiner kriegswichtigen, ja kriegsentscheidenden Arbeit wegen
nicht hatte eingezogen werden können, war 1949 im Nürnberger Wilhelmstraßen-Prozeß verurteilt und
1951 schon entlassen worden. Er fand eine sichere Pfründe als Landesgeschäfts-führer der
Staatsbürgerlichen Vereinigung Niedersachsen, jenes Vereins, der bei der Industrie
Wahlkampfspenden für die konservativen Parteien sammelte, um die Adenauer-.Herrschaft zu
perpetuieren..
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Ausgerechnet auf dem internationalen Symposion im Reichstag ‘30. Januar 1933 - 30 Januar 1983 50 Jahre nach Hitlers Machtergreifung’ wurde diese Adenauersche Vergangenheitspolitik von
Professor Lübbe der Weltöffentlichkeit gegenüber zur großen staatsmännischen Leistung verklärt.
Erst durch diese Politik sei es möglich gewesen, ein bundesdeutsches Staatsvolk zu schaffen, (aus
den verbockten NS-Anhängern, die, wie Meinungsumfragen belegten, noch lange Jahre nach 1945 in
ihrer großen Mehrheit Hitler immer noch hinterher weinten und sich als schuldlose Opfer alliierter
Willkür und Siegerjustiz fühlten. Doch so genau hat Professor Lübbe die Tatsachen der Weltpresse
wohlweislich nicht beschrieben.)
Der überwiegende Teil der NS-Verbrecher konnte, siehe Professor Lübbes durchaus zutreffende
Analyse, als aus bundesdeutscher Sicht nie verurteilte Ehrenmänner nicht nur in der Wirtschaft,
sondern selbst in höchsten Bundesbehörden, sogar in der Bundesregierung Karriere machen,
(Beispiele: Staatssekretär Vialon, Bundesminister Oberländer, Generalbundesanwalt Fränkel).
Man durfte nur nicht allzu offen für rechtsradikale Positionen oder Gruppierungen eintreten, wie es
etwa die National-Liberalen in der nordrhein-westfälischen FDP samt dem Gauleiter-Kreis Naumanns
getan hatten. Schon gar nicht durfte man sich in einer explizit rechtsradikalen Partei wie etwa der DRP
zusammenschließen. Die gleiche Ideologie, nur ein bißchen christlich oder liberal übertüncht dagegen,
ja, das ging. Oder Publikationen unter Pseudonym. Zumal hyperpatriotische und vaterländische
Parolen alten Stils bei den Wahlen viele Stimmen brachten.
Angängig war es, sich zu verhalten wie etwa der Münchener Professor Maunz, der - abgesehen von
allen seinen übrigen Funktionen und Posten, was auch immer Macht und Pfründen heißt - Begründer
des von Politik und Justiz zum wichtigsten deklarierten Grundgesetz-Kommentars war, in dem
natürlich der GG-Artikel 139 - (die Fortgeltung der alliierten Maßnahmen zur Entnazifizierung) - wegen
Einschränkung der deutschen Souveränität als ungültig propagiert wurde, was alle übrigen
Kommentare bei nur anderthalb Ausnahmen übernahmen, auch alle die Scharfmacher der Berufsverbotspraxis gegen Personen, denen vorgeworfen wurde nicht auf dem Boden der FDGO zu stehen,
der freiheitlich demokratischen Grundordnung, zu derem Bestand der Artikel 139 offensichtlich nicht
gerechnet wurde.
Daß sich Maunz gleichzeitig langjährig als Leitartikler von Freys Nazizeitung, (der Deutschen Nationalund Soldatenzeitung), aktiv an der Weiterverbreitung krasser NS-Ideologie beteiligte, wollte nach
seinem Tod niemand gewußt haben, trotz der Verfassungsschutz-Agenten in Freys Imperium und trotz
der engen Beziehung zum Bundesnachrichtendienst im Münchener Vorort Pullach. Gehlen war
bekannt dafür, entgegen seinen eigentlich auf das Ausland beschränkten Aufgaben stets auch im
Inland sehr aktiv tätig gewesen zu sein. Und auch Professor Herzog, Maunzens langjähriger Adlatus,
erst als Assistent, dann als Mitherausgeber seines Kommentars, gab sich als Bundespräsident bei
Maunz’ Tod sehr erschrocken. Da habe er doch in den ganzen Jahren engster Zusammenarbeit tatsächlich nicht gemerkt, wes’ Geistes Kind sein Mentor immer noch gewesen sei.
Diese alten Seilschaften, besonders aktiv waren etwa die Professoren von der Deutschen Reichsuniversität Straßburg, u. a. mit dem ach so honorigen Heimpel, haben über Jahrzehnte funktioniert.
Vor allem wurde darüber gewacht, welche Forschungsprojekte finanziell gefördert wurden.
Es wäre eine eigene Studie wert, die unterstützten Forschungen der ersten bundesdeutschen
Jahrzehnte ebenso wie die abgelehnten Projekte einmal nach Fächern aufzustellen samt
Förderungshöhe und Besetzung der Vergabe-Kommissionen. Von diesen nämlich wurde die Schäffer /
Adenauersche Politik sehr lange und strikt gegen alle Versuche einer kritischen Bewertung der NS-Zeit
und ihrer Folgen durchgesetzt und durchgehalten, wurde darüber entschieden, welche Forschungen
für Deutschlands Selbstverständnis und seine Zukunft wesentlich und zu fördern seien. Noch auf Jahrzehnte erschienen vorwiegend Apologien. Heute ist das eher die Ausnahme, in diesem Jahr z. B.
Christian Tilitzkis ‘deutsche Universitätsphilosophie 1919 - 1945’ im Akademie-Verlag.
Dagegen läßt sich die Menge der meist hervorragenden Monographien kaum noch verfolgen.
Daher ist es kein Wunder, daß man selbst nach Beginn der Frankfurter Auschwitzprozesse Generalstaatsanwalt Fritz Bauers noch immer angeblich honorige Kreise vor jeder kritischen Durchleuchtung
zu schützen versuchte. Zu der Zeit fingen die historischen Ordinarien gerade erst an, sich in massiver
Übermacht gegen den Wahrheitsgehalt in Immanuel Geiss’ ‘Polnischem Grenzstreifen’ zur Wehr zu
setzen und danach gegen Fritz Fischers Diskussion einer wesentlichen deutschen Mit-Schuld am
Entstehen des Weltkriegs Nummer I. Dank der Unterstützung aus dem westlichen Ausland, vor allem
von Professor Fritz Stern, als Kind nach Amerika entkommen, verloren diese Klüngel zwar beide
Diskussionen trotz der eigenen personellen wie finanziellen Übermacht, aber leider erst nach Jahren.
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Bis heute noch sind deswegen viele Bereiche von NS-Herrschaft und NS-Verbrechen, oft fast zur
Gänze, ausgespart geblieben. Außer englischsprachigen wurden entsprechende fremdsprachige
Arbeiten in Deutschland nur ganz ungenügend wahrgenommen. Solche Bücher sind in der Mehrzahl
leider auch kein Geschäft, weshalb selbst gutgesinnte Verleger Übersetzung und Druck von zeitgeschichtlicher Literatur zur NS-Ära, NS-Ideologie und NS-Verbrechen sehr kritisch prüfen, eher
scheuen. Hier fehlen öffentliche Gelder. Erst wenn die wesentlichen Studien über Okkupation und
Verbrechen aus den von Deutschland besetzt gewesenen Ländern hierzulande zur Kenntnis
genommen und damit auch Verbrechen und Opfer endlich als solche anerkannt werden, wird es
möglich sein, ohne Verfälschung und Beschönigung der Vergangenheit eine dauerhafte Brücke zu den
Nachkommen der Überlebenden zu bauen. Das kaltschnäuzige Verhalten des offiziellen Deutschlands
zu Überlebenden und , heute, zu Nachkommen etwa von Guernica oder griechischer
Massenmordstätten bleibt bisher, über 57 Jahre nach Kriegsende und dem Untergang der NSHerrschaft, das größte Hindernis dafür.
Selbst wenn man bei den Opfern , entgegen der alten bundesdeutschen ebenso wie der DDR-Praxis,
keine Hierarchie einführen kann, so bleibt doch festzuhalten: Juden und Zigeuner sollten zusammen
mit ihren Familien ausnahmslos ermordet werden. Nur bei Teilen der sogenannten Mischlinge, (NSTerminologie), stritt man sich um das Morddatum; am liebsten sofort, mit den anderen zusammen,
oder, aus aufgezwungenem Pragmatismus heraus, erst nach dem Endsieg, um so eine Beunruhigung
der Front zu vermeiden.
Die größte Zahl an Opfern, wenn auch kein totaler Genozid, war den ‘nicht eindeutschungsfähigen und
weitgehend wertlosen Ostslawen’ zugedacht, bis zu 70 Millionen. Die praktikabelsten Methoden dazu
wollte man perfektionieren: Zerstörung aller sozialer Strukturen, einschließlich der Familien,
Umsiedlungen und Hungertod.
In Polen geschah das schon, ‘ohne jede falsche Gefühlsduselei’, beispielsweise in Zamosc, der
künftigen Himmlerstadt. Alles war nüchtern und streng wissnschaftlich ausgearbeitet.
Dabei ist der Generalplan Ost nicht der einzige Beweis dafür, daß die deutsche Wissenschaft,
(Universitäten und Hochschulen, Akademien und die Kaiser-Wilhelm-Institute), nicht nur Möglichkeiten
bot, sich aus der NS-Athmosphäre in den Elfenbeinturm zurückzuziehen, selbst wenn es vereinzelt so
etwas gegeben haben mag, obwohl man auch da dem Zeitgeist schriftlich und verbal Ergebenheit zu
zollen hatte. Die sich bietenden Karrierechancen wurden wahrgenommen. Bis heute wird nicht
allgemein anerkannt, daß sich keineswegs unbedeutende Teile der deutschen Wissenschaft willig in
tragende Kräfte des NS-Staates bei Planung und Durchführung dieser notwendigerweise mit kaltblütig
geplantem Massenmord verbundenen expansionistischen großdeutschen Pläne verwandelt hatten.
Erst seit kurzem beschäftigt sich die Max-Planck-Gesellschaft, über 50 Jahre zu spät möchte man
meinen, und nur dank ihres Präsidenten Professor Markl und einiger jüngerer Mitglieder der MPGInstitute, mit der Vergangenheit der KWG und deren Beteiligung an NS-Verbrechen. Die Arbeiten sind
ganz überwiegend sehr genau und von erfreulich kritischem Geist.
Noch später, erst jetzt, beginnt die Deutsche Forschungsgemeinschaft mit dieser Arbeit über ihre
eigene Geschichte, leider noch eher im Verborgenem, nicht ebenso allgemein zugänglich mit
Vorträgen und Publikationen wie die MPG.
Es ist der Familie Professor Konrad Meyers hoch anzurechnen, welch großen Wert sie auf eine offene
Aufarbeitung der Geschichte des Generalplans Ost durch die Berliner Universitäten legt. Wenige
Familienmitglieder von NS-Verbrechern bestehen darauf.
Dem Ruf der Berliner Universitäten wäre es sehr dienlich, wenn auch sie sich endlich, ebenso
entschieden und öffentlich wie die Max-Planck-Gesellschaft, mit diesem wirklich schändliche Erbe der
Berliner Wissenschaft beschäftigen und es in aller Offenheit aufarbeiten würden. Humboldt- und Freie
Universität sind gleicherweise betroffen, beide sind Nachfolger der Friedrich-Wilhelms-Universität. Es
geht nicht an, sich nur auf die Gebrüder Humboldt etwa zu berufen und die anderen nicht zu kennen.
Erst wenn man die Tatsachen deutlich aufgearbeitet und sie mit sichtbaren Zeichen auch im Stadtbild
und an wie in den Gebäuden verankert sind, damit künftige Generationen daraus lernen, hat man ein
Recht darauf, sich von diesem unseligen Teil des Erbes zu trennen. Mit ihren bewußten
Unterlassungen hat die deutsche Vergangenheitspolitik immer wieder die Jugendlichen dem
wellenförmig stets von neuem überbordendem Neo-Nazismus ausgeliefert, ja diesen geradezu erst
herangezüchtet.
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Als nach 1945 die ehemalige Technische Hoschschule Berlin in eine Technische Universität
umgewandelt wurde, war das nicht nur der Austausch einer Bezeichnung. Künftig sollte jeder Student
zusätzlich zur Technik auch ein Fach in den Geisteswissenschaften mitbelegen. Die Technische
Universität sei nicht dazu da, hervorragende Ingenieure auszubilden, die genau wüßten, wie man einen
Gaswagen konstruiere. Die Absolventen müßten ebenso genau wissen, weshalb man so etwas nicht
tun dürfe, und daß es zu ihrer Verantwortung gehöre, darüber zu wachen, daß sich nie auch nur in
Ansätzen wiederhole, was von Deutschen und in Deutschlands Namen geschehen sei..
Die Nichtanerkennung so vieler NS-Verbrechen und von deren Opfern hat, nunmehr schon
jahrzehntelang, jede dauerhafte, wirklich tiefgreifende Verbindung zwischen uns Deutschen und den
Polen, Balten, Weißrussen, Ukrainern, Russsen, Griechen, Jugoslawen, Tschechen und Slowaken
verhindert, unabhängig von den bestehenden mehr oberflächlichen Beziehungen. Dabei wartet man in
Osteuropa, nach meiner Erfahrung, geradezu sehnsüchtig darauf, solche Verbindungen wiederzubeleben, wie es sie doch früher zwischen unseren Völkern immer wieder gegeben hat. Wie sehr,
erweist sich schon jetzt durch die von Ihnen vermittelten hochherzigen Kooperationsvorschläge aus
Zamosz und Krakau, etc
Deswegen halte ich die überfällige Aufarbeitung des Generalplans Ost für so wichtig.
Die Ausstellung ist notwendig und muß stattfinden, ebenso wie das Anbringen der
Gedenktafeln. Das würde die Glaubwürdigkeit Berlins und seiner Universitäten international
außerordentlich stärken. Man wünscht sich Partner in Deutschland, um mit ihnen gemeinsam einen
wirklichen Frieden zu schließen; die Vergangenheit zu überbrücken, ohne etwas zu beschönigen oder
zu vergessen. Erst danach werden auch dort andere Diskussionen beginnen können, die vielleicht zu
einer auch dort überfälligen internen Klärung führen könnten. Diskussionen etwa über die deutsche
Geschichte der heute westpolnischen Gebiete, die vorher innenpolitisch unmöglich durchzusetzen
waren, obwohl es trotz des Kalten Krieges schon vor Jahrzehnten mehrfach entsprechende Vorstöße
gegeben hat, so etwa den der Warschauer Studenten im Herbst 1957. Welch ein Gewinn wäre das,
sowohl für alle Beteiligten wie auch für ein Zusammenwachsen Europas nach Erweiterung der
Europäischen Gemeinschaft.
Berlin und die Berliner Universitäten dürfen diese offene Hand nicht ausschlagen, dürfen die Polen
nicht aus gekränkter Eitelkeit brüskieren, nur weil sich jemand, in ihren Augen ein Niemand, um etwas
bemüht hat, was sie selber bewußt und erfolgreich zu lange verdrängt haben.
Sie haben ihre Arbeit angefangen, weil andere es nicht taten. Ich brauche Ihnen daher nicht zu
versichern, wie sehr ich schätze, was Sie bisher zustande gebracht haben.
Ich habe dabei keinen Zweifel daran, daß Ihre Ausstellungspläne noch in zahlreichen Einzelheiten zu
verbessern, zu ergänzen wären, ebenso wie die vorgesehenen Texte der Tafeln. Dazu kenne ich die
Mängel meiner eigenen Ausstellungen vor bald vier-ein-halb Jahrzehnten zu genau. Für das noch
Unvollkommene, für die Auslassungen, etc.gibt es sicherlich viele berechtigte Entschuldigungen und
Erklärungen. Aber das ist in diesem Zusammenhang. ganz unwesentlich. Darum kann es nicht gehen.
Nur wer nichts tut, vermeidet jeden Fehler und begeht dabei den schwersten: die Unterlassungssünde.
Ich denke, damit ist Ihre Frage genau genug beantwortet.
Ich wünsche uns allen, daß Berlin und die Berliner Universitäten klug genug sein werden,
Ihre Pläne in allen wesentlichen Grundzügen zu übernehmen, sie zu ihren eigenen zu machen.
Mit freundlichem Gruß, und in der Hoffnung auf Erfolg, bin ich Ihr
(Reinhard Strecker)
2 PS.:
Bei den Gesprächen muß man allerdings etwas beachten: Polen und die baltischen Länder verstehen
sich selbst als östlichen Rand Mitteleuropas, nicht als westlichen Vorposten Osteuropas. Das berührt
sehr empfindliche Punkte des eigenen historischen Selbstverständnisses. Nur in deutscher Sicht
gehören sie, weil östlich von uns gelegen, zu Osteuropa.
Ich habe hier kaum von der DDR gesprochen, aber nicht wegen deren angeblich einwandfreier
Vergangenheitspolitik. Auch in der DDR gab es in einflußreichen Spitzenpositionen, etwa in den
Akademien und in Universitäten, Personen, die an NS-Verbrechen beteiligt gewesen waren, allerdings
in vergleichsweise sehr geringer Zahl. Auch der latente wie der praktizierte Antisemitismus in der DDR
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waren aus meiner Sicht nicht unbeachtlich.. Doch das ist nicht der Grund. Ich habe nicht in der DDR
gelebt. Linke, für die die DDR keine Alternative darstellte, waren unerwünscht, wurden geradezu
gefürchtet. Alte Nazis hatten es da leichter.
In den 35 Jahren zwischen meiner Rückkehr nach Berlin und dem Fall der Mauer wurde ich nur zwei
Mal auf je einen Tag in die DDR gelassen. Ost-Berlin war etwas anderes, das hatte einen anderen
Status, da konnte man hin, dort hatte ich meine engsten Freunde, Leo Haas etwa, einen
exemplarischen Widerstandskämpfer gegen den Nazismus,obwohl man später für Besuche von ihnen
einen empfindlichen Eintrittspreis zu zahlen hatte. Ende 1954 waren in der DDR die Hoffnungen auf
ein anderes, ein wirklich neues, ein besseres Deutschland längst zerstoben. Im wilden Osten saß der
Stalinismus so fest im Sattel wie im wilden Westen die alten NS-Kollaborateure und -Verbrecher, nicht
nur in der Justiz und in der Wissenschaft. Zu der Zeit stand die DDR längst fest unter der Kuratel
Moskaus. Wenn es um die nationale Frage ging, die Errichtung eines demokratischen sauberen
Deutschlands, war die DDR deswegen unbeachtlich geworden, zu einer quantité negligeable. Von dort
war nichts damals nichts mehr zu erhoffen. Nur soviel zu diesem Thema.
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