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Jan Černý
Paul Ricoeur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen
2. Teil: Geschichte und Epistemologie
3. Kapitel: Die Repräsentation durch die Geschichte
Grundannahmen dazu: 1) Narrativität ist keine Alternative zum
Erklären/Verstehen; 2) Die Fabelkomposition (mise en intrigue,
emplotment) ist eine Komponente der historiographischen Operation,
aber auf einer anderen Ebene als der des Erklärens/Verstehens.
Repräsentation unter ihrem narrativen Aspekt ist zu finden in allen
drei Phasen der historiographischen Operation, sie begleitet und trägt
sie (z.B.: die Narration konkurriert nicht zu dem „Weil“ des
Erklärens, aber alle erklärenden Modi selbst sind durch verschiedene
narrative und rhetorische Aspekte/Weisen ausgedrückt).
Die Annales-Schule hat die bisher herrschende Auffassung
der Historiographie (Ranke, Michelet) mit ihrer Sequenz „Ereignis,
Erzählung, Primat der Politik“ angegriffen. In der alten Auffassung
hat die Geschichte als Erzählung für das Synonym für die
Geschichte von (singulären und nicht wiederholbaren) Ereignissen
gegolten. Narrativer Status der Geschichte ist nicht zum Gegenstand
der historiographischen Diskussion geworden. Die Annales-Schule
hat dagegen die Dauer des Phänomens gegen die Kürze des
Ereignisses hervorgehoben; Braudel sagt, die Sozialwissenschaften
haben „fast Abscheu“ vor dem Ereignis. Einem ärmlichen
Ereignisbegriff entspricht ein ärmlicher Begriff von Erzählung. Für
die Annales-Schule ist die Erzählung als Sammlung punktueller
Ereignisse ein Hindernis für die Auffassung der Geschichte als ein
Problem (als etwas „zum Erklären“) und für die
Wissenschaftlichkeit der Geschichte. Narratologie hat der Erzählung
eine Rolle des primitiven Diskurses, der zu eng mit Tradition,
Legende und Mythos verbunden ist, zugesprochen.
Dagegen ist für die narrativistische (amerikanische) Schule
die Erzählung der Ersatz der Geschichte. Die Narrativisten folgen
dem Weg der Forschungen zur Alltagssprache, zur Grammatik und
Logik der natürlichen Sprache: Deswegen tritt der konfigurierende
Charakter der Erzählung in den Vordergrund, auf Kosten ihres von
der Annales-Schule beobachteten episodischen Charakters. Die
Zur Orientierung:
Es gibt drei Phasen der historiographischen Operation: 1) die
dokumentarische Phase; 2) das Erklären/Verstehen; 3) die Schrift
der Geschichte, die „Historiographie“. Ricoeur behauptet („eine
Grundthese dieses Buchs ist“), dass nicht nur die dritte Phase,
sondern alle drei eine Schrift sind. Und implizit gehört die ganze
historiographische Operation auch zum Gebiet der Literatur:
Textwerdung der Geschichte in der dritten Phase und mithin das
Benutzen von Literaritäts-Zeichen machen das nur manifest. So „die
drei Phasen der historiographischen Operation bilden keine
sukzessiven Stadien, sondern ineinandergreifende Ebenen, denen
nur die didaktische Bemühung den Anschein einer chronologischen
Sukzession gibt“.1 Die dritte Ebene kann man explizit eine
„literarische Repräsentation“ nennen.
Und Ricoeur behauptet auch, dass nicht nur die dritte Phase
eine Phase der Interpretation ist, sondern mit allen drei ist der
Begriff der Interpretation verbunden – in der dokumentarischen
Phase z.B. macht der Historiker eine Selektion von Dokumenten, in
der erklärend-verstehenden Phase wählt der Historiker die
konkurrierenden Erklärungsmodi und wählt und variiert die
Maßstäbe.
I. Repräsentation und Narration
Ricoeur erforscht jetzt den Platz der Narrativität in der
Architektur des historischen Wissens. Es kommen zwei
1
P. Ricoeur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München 2004, S. 362.
1
Narrativisten neigen dazu, den Konflikt zwischen Verstehen und
Erklären zu leugnen: Eine Erzählung zu verstehen heißt die in ihr
enthaltenen Ereignisse und Tatsachen zu erklären. (Das zeigt auch
der Titel eines Essay von L. O. Mink: Narrative Form as a
Cognitive Instrument.) Dann steht aber die Frage (Ricoeurs) nach
dem epistemologischen Schnitt zwischen story (die Geschichten, die
man erzählt) und history (die Geschichte, die man auf
dokumentarischen Spuren aufbaut).
Eine kardinale Frage für diese Schule ist die nach dem
Unterschied zwischen Geschichte und Fiktion. Wir geben unserem
(individuellen,
aber
auch
kollektiven,
gesellschaftlichen,
nationalen...) Leben eine Form der Geschichte erst damit, indem wir
es erzählen. Woher aber kommt die Wahrheit von dieser
Geschichte? Kraft der Erzählung? Wie ist das möglich, dass zwei
Historiker häufig verschiedene und entgegengesetzte Erzählungen
um dieselben Ereignisse konstruieren? Für die narrativistische
Schule ist diese Frage nicht sinnvoll: „Wenn das Ereignis ein
Fragment der Erzählung ist, teilt es deren Schicksal, und es gibt kein
Grundereignis, das der Narrativierung entkommen könnte.“ 2 Aber
die narrativistischen Historiker haben nicht auf die Idee der
historischen Erkenntnis verzichtet: Für Louis Mink (an dessen
Arbeiten zeigt Ricouer das Problem) unterscheidet sich die
Geschichte von der Fiktion durch ihren Wahrheitsanspruch. Wenn
der Kontrast zwischen Geschichte und Fiktion verschwände, würden
beide ihrer spezifischen Kennzeichen verlorengehen - der
Wahrheitsanspruch auf seiten der Geschichte und die „freiwillige
Suspendierung des Misstrauens“ auf seiten der Fiktion. Dieses
Dilemma ist nach Mink nicht vor der Arbeit auflösbar, es gehört zu
dem historischen Unternehmen selbst.
Es gibt also zwei konkurrierende Typen von Intelligibilität:
die erklärende Intelligibilität der Annales-Schule und die narrative
Intelligibilität der narrativistischen Schule. Ricoeur folgt Lawrence
Stone und bemüht sich zu zeigen, dass die beiden Typen von
Intelligibilität nicht als einander entgegengesetzt gelten müssen. Für
die narrative Intelligibilität sind die Begriffe von „narrativer
Kohärenz“ und von „intrigue“ (plot, Fabel) wichtig. Die narrative
Kohärenz ist für Ricoeur eine „Synthese des Heterogenen“, eine
Koordination von Ereignissen und Ursachen, Intentionen und
Zufällen. Die literarische Form dieser Koordination ist die Fabel
(intrigue, plot): Die Fabel transformiert oben genannte Elemente um
„eine komplexe Handlung aus einer initialen Situation bis zu einer
terminalen“ zu führen. Für Aristoteles in der Poetik ist der Inhalt
dieser Transformation durch die Fabel (intrigue) das
Wahrscheinliche, das Glaubhafte, das den Leser an die narrative
Kohärenz des Erzählten zu glauben überzeugt. Von diesem Begriff
der narrativen Kohärenz folgt dann eine narrative Definition des
Ereignisses3 und auf historiographischer Ebene auch seine
Transposition in die Ereignisse „von langer Dauer“ wie z.B. die
Renaissance, die Reformation, die Französische Revolution. Mit
dem Begriff der narrativen Kohärenz sind auch die Personen der
Erzählung und ihre narrative Identifikation und ihre moralische
Bewertung verbunden.
Ricoeurr legt jetzt zwei Beispiele vor wie die beiden Typen
von Intelligibilität zusammengehören können, zwei Beispiele der
Narrativierung von historiographischen explikativen Modi:
1) Maßstabvariationen (siehe voriges Kapitel), die ein Teil des
Erklärens sind. Die Mikrohistorie (z.B. in dem Maßstab eines
Dorfes) ermöglicht die Machtrelationen anderen Maßstabs von unten
bis nach oben zu lesen. Lokalgeschichte kann einen exemplarischen
„Das Ereignis ist das, was, indem es passiert, die Handlung vorrücken lässt: Es
ist eine Variable der Fabel.“ S. 373.
3
2
S. 371.
2
Wert haben - die Mikrogeschichte narrativiert den Maßstabwechsel.
Homogene Perioden bekommen Eigennamen (oder QuasiEigennamen) wie Renaissance, Französische Revolution, kalter
Krieg und dadurch werden sie personalisiert und die ist wiederum
ein wichtiger Aspekt der Narrativierung, diesmal durch die
„Tragweite“ der Erzählung garantiert.
2) Die Beziehung von Ereignis und Struktur: Die Erzählung ist eine
narrative Integration von Struktur, Konjunktur und Ereignis, die die
Epistemologie dissoziiert hat. Nach Reinhart Koselleck gehören
Strukturen eher der Beschreibung und Ereignisse eher der Erzählung
an, aber die Dynamik zwischen beiden bietet sich der Narrativierung
an, die aus der Erzählung einen Knotenpunkt von Struktur und
Ereignis macht: Die Evokation einer Herrschaftsstruktur kann in die
Erzählung des Ereignisses, welches eine Schlacht ist, inkorporiert
werden. Als Phänomen langer Dauer wird die Struktur durch die
Erzählung zur Möglichkeitsbedingung des Ereignisses.
Gebiet der Fiktionserzählung diskutabel, für die historische
Erzählung mit ihrer referentiellen Zielrichtung ist das verheerend.
Ricoeur hat schon damals (in den Sechzigern?) versucht die
referentielle Dimension für die Ebene des Satzes (also der ersten
Einheit des Diskurses) zurückzugewinnen. „Mit dem Satz, sagte ich,
sagt jemand etwas zu jemandem über etwas gemäß einer Hierarchie
von Codes – phonologischen, lexikalischen, syntaktischen und
stilistischen.“ 4 Etwas über etwas zu sagen, das ist das Wesen des
Diskurses (also nicht nur eines Satzes, sondern des Textes als Kette
von Sätzen). Gerade die Referentialität des historischen Diskurses
stellt sich dem In-Sich-Verschließen der Fabelkomposition
(emplotment), welches eine innere Tendenz ihrer ist, in den Weg.5
II. Repräsentation und Rhetorik
Narrativen Strukturen und die Figuren der rhetorischen Dimension
des historischen Diskurses sind ineinander verflochten, aber es lohnt
sich die Rhetorik selbständig zu besprechen. Es gibt (nach Vico)
eine doppelte Ebene der Rhetorik: 1) die Tropen - Denk- und
Diskursfiguren wie die Metapher, die Metonymie, die Synekdoche,
die Ironie; 2) die Argumentationsweisen, mit denen sich Rhetorik
den hegemonialen Prätentionen der Logik widersetzt.
Ricouer behandelt zuerst die französische Diskussion: Für die
Strukturalisten in den 60er Jahren waren die Strukturen der
Erzählung homolog zu den Strukturen der elementaren Einheiten der
Sprache (Barthes: „Die Erzählung ist ein großer Satz, so wie jeder
Aber es gibt auch die Züge der Narrativität, der
Fabelkomposition, die sich gegen den Anspruch der historischen
Erzählung, die Vergangenheit zu repräsentieren, stellen. Es war die
Literaturtheorie, die die Abtrennung zwischen textinterner Struktur
und dem extratextuellen Realen behauptet hat und im Namen dessen
gegen den Wahrheitsanspruch angetreten ist. Strukturalisten haben
den Saussureschen Modell einer Ebene von isolierten Zeichen auf
die Sätze und dann auf die großen Textsequenzen übertragen. Nach
Saussure ist das Zeichen eine doppelgesichtige Entität erzeugt von
der Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat, wobei die
Beziehung „arbiträr“ ist, d.h. das Zeichen lässt den Referenten
unberücksichtigt (das Wort „Tisch“ als Sprachzeichen sagt nichts
von dem Ding hinter dem ich jetzt sitze). Linguistik und dann auch
die Strukturalistische Narratologie haben den Referenten aus den
langen textuellen Sequenzen hinausgetrieben. Das ist schon im
4
S. 379.
Durch dieser referentiellen Trieb wird nach Ricoeur aus der Repräsentation
Repräsentanz (i.e. die Fähigkeit des historischen Diskurses die Vergangenheit zu
repräsentieren, oder genauer – wie im Zeit und Erzählung Repräsntanz definiert
wurde - die Beziehungen zwischen den Konstruktionen der Geschichte und ihrem
Gegenüber, nämlich einer zugleich verschwundenen und in ihren Spuren
bewahrten Vergangenheit).
5
3
konstatierende Satz in gewisser Weise die Skizze einer kleinen
Erzählung ist.“). So hat die Erzählung eine Logisierung und
Dechronologisierung beherrscht und dauerhafte, hauptsächlich die
nicht-zeitlichen Strukturen wurden ein Gegenstand des Interesses auf
Kosten der Diachronie. Damit wurde der referentielle Impuls der
Erzählung durch die binäre Konstitution des Zeichens verleugnet –
das haben wir schon oben behandelt, und die Geschichte als
Erzählung wurde beschuldigt, „ein Subjekt zu produzieren, das dem
Machtsystem, das ihm die Illusion der Herrschaft über sich selbst,
über die Natur und über die Geschichte verleiht, angepasst ist“. 6
Nach Barthes bildet die Geschichte als Erzählung eine referentielle
Illusion, in der der Referent (nach Barthes die Zeit der res gestae,
die Zeit „damals“) hypostasiert wird auf Kosten des Signifikats
(nach Barthes der Sinn, den der Historiker den Fakten gibt, von
denen er schreibt). So setzt sich die Autorität des Zeichensystems
durch und der Historiker setzt die Realität an die Stelle des
Diskurses. Barthes aber dagegen begrüßt den Verfall der narrativen
und den Aufstieg der strukturalen Geschichte, welche Entwicklung
für ihn eine ideologische Transformation darstellt.
Ricoeur
argumentiert
mit
folgender
Kritik
der
Strukturalisten: Die linguistischen Modelle sind dem historischen
Diskurs nicht angemessen. Historischer Diskurs geht von
alternativen Modellen aus, in deren ein Referent eine unabdingbare
Dimension eines Diskurses über Etwas darstellt. Ricoeurs These
lautet: Die spezifische Referentialität des historischen Diskurses geht
durch alle drei Phasen der historiographischen Operation; diese
dreifache Gliederung bleibt das Geheimnis der historischen
Erkenntnis. Und der Unterschied zwischen Fiktion und
Historiographie (gerade diesen Unterschied hatten die
Strukturalisten verleugnet: nach denen wurde die Geschichte als
Erzählung von dem realistischen Roman des 19. Jahrhunderts
6
abgeleitet und teilt mit ihm die Illusionen des naiven Realismus)
besteht in den „Annotationen“, die die dokumentarischen Quellen
bezeichnen – die Notation (das System der Zeichen) haben beide,
sowohl der realistische und naturalistische Roman als auch die
Historiographie, die Annotationen hat nur die zweite.
Den Hauptbeitrag zur Erforschung der eigentlich
rhetorischen Ressourcen der historischen Repräsentation hat
Hayden White geleistet (in den 70er und 80er Jahren). White
kommt mit der Untersuchung der historischen (aber auch
fiktionalen) Einbildungskraft. Historische und fiktionale Erzählung
gehören für ihn beide derselben Klasse der „verbalen Fiktionen“ an.
Wie kommt man von der Einbildungskraft zu dem Diskurs? Die
verbal-rhetorische Form der historischen Einbildungskraft ist die
Fabelkomposition, das emplotment, mise en intrigue. Diese
Fabelkomposition wurde mittels einer geordneten Abfolge von
Typologien von Tiefenstrukturen der Einbildungskraft erfasst. Es
gibt 4 Typologien:
1) (von der ästhetischen Seite her:) die story-Dimension der Fabel
(intrigue): die Organisation der erzählten Geschichte (von den
Dokumenten, Chroniken...) in eine story-line, die nicht mehr einfach
chronologisch ist. Story hat „eine erklärende Wirkung“;
2) (von der kognitiven Seite her:) die Argumentation, die mehr nach
ihrem persuasiven als nach ihrem eigentlich beweisenden Vermögen
von White bewertet ist;
3) (von der ideologischen Seite her:) die Weisen des moralischen
und politischen Engagements;
4) die Fabelkomposition (mise en intrigue), die für White der
erklärende Modus par excellence ist. Hier finden wir vier
Grundbegriffe, vier Klassen der Fabel (intrigue): das Romanhafte,
das Tragische, das Komische, das Satirische.
P. Ricoeur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 383.
4
Nach Ricoeur ist Whites Unternehmen ein dynamischer
Strukturalismus, der mit der Fruchtbarkeit der Verbindung zwischen
Kreativität und Codifizierung, eines Systems von zugleich
gefundenen und erfundenen Regeln (für das Schaffen des Stils)
gekennzeichnet ist. Ricoeur’s Kritik wendet sich aber gegen den
Fakt, dass es bei White keine klare Linie zwischen fiktionaler und
historischer Erzählung geben soll. White bezeichnet die Operationen
der Fabelkomposition als erklärende Modi, behauptet aber, dass sie
keine Bedeutung für die Wissenschaftlichkeit historischer
Erkenntnis haben und im schlimmeren Fall ersetzen sie sie. Das
referentielle Moment wurde bei White nicht bearbeitet. Ricoeur sagt:
In der narrativen Form als solcher wird der Grund für das
referentielle Streben nie zu finden sein. Dazu muss man alle drei
Phasen des historischen Diskurses bearbeiten und das hat White
nicht gemacht.
Eine Grundprobe Whites narrativer Rhetorik stellen die
Ereignisse der „Endlösung“ dar. Wir sind hier bei dem Problem der
Grenzen der Repräsentation – die Shoa steht an den Grenzen der
Erfahrung und des Diskurses. Saul Friedländer (Herausgeber von
Probing the Limits of Representation) hat gesagt, dass mit der Shoa
ein „event at the limits“ im Herzen Europas geschehen ist und, dass
„Auschwitz has changed the basis for the continuity of the
conditions of life within history“; das Leben in der Geschichte, nicht
den Diskurs über Geschichte. So ist von den Außengrenzen der
Repräsentation ein Wahrheitsanspruch, ein claim to truth
gekommen, der die inneren Grenzen der Repräsentation entdeckt
hat: Ereignis „an der Grenze“ bringt mit seinem moralisch
„unannehmbaren“ seine eigentümliche Opazität; die Opazität der
Ereignisse deckt auf und klagt die Opazität der Sprache an. 7 White
selbst ist hier zerrissen. Auch für ihn ist im Ereignis der Shoa etwas
so Ungeheuerliches, dass für dieses Etwas in keiner bekannten
Klasse von Fabeln (intrigue) zu finden ist, nicht in der tragischen,
nicht in der komischen, noch woanders.
Am Ende findet White einen heroischen Ausweg in den
gewissen Modalitäten des „postmodernen“ Schreibens: z.B. das
„intransitive“ Schreiben, ein Begriff von Roland Barthes (der nah
dem in der altgriechischen Grammatik vorhandenen Genus des
„Mediums“ steht) oder gewisse Bemerkungen von Jacques Derrida
über die „différance“. Aber Ricoeur fragt: Genügt es, mit der
realistischen Repräsentation zu brechen um sich dem
unannehmbaren Charakter der „Endlösung“ anzunähern? Die
Wahrheitsforderung von außerhalb des Diskurses hat sich mit der
Kritik des naiven Realismus nur verstärkt.
Ricoeur spricht noch von ein paar anderen Beispielen der
Behandlung des Problems: Carlo Ginzburg plädiert nicht für den
Realismus, sondern für die historische Realität selbst: es ist (nach
Ginzburg) der Überschuss an Zeugnissen, der die Möglichkeiten
eines
annehmbares
Diskurses
übersteigt.
Vidal-Naquets
unterstreicht den doppelten Aspekt: ein unbestreitbares Zeugnis und
ein moralischer Protest – das Ereignis spricht den Historiker als
Historiker an, aber auf der Ebene des kollektiven Gedächtnisses
auch als den Bürger. Der Historiker soll die Geschichte des
unannehmbaren Ereignisses mit der Hilfe von verschiedenen
Klassen von Zeugnissen schreiben und seine Kritik erklärt dann,
warum es unmöglich ist, eine umfassende Geschichte zu schaffen,
die die Differenz von Perspektiven der Zeugnisse annullieren würde.
Adorno und dann La Capra bringen eine Wendung zu den
psychoanalytischen Kategorien und Begriffen, hauptsächlich zu der
Übertragung, nicht die auf Personen, sondern auf Situationen, in
denen die geschichtlichen Akteure verschieden „besetzt“ sind.
7
Nach Friedländer es unmöglich ist, in einer Super-Geschichte den Standpunkt
der Täter, der Opfer und der Zuschauer, die die Ereignisse von der Shoa jeweils
aus verschiedenen Blickwinkeln gesehen haben, zu vereinen.
5
Grenze“ sind) die Probleme, verbunden mit dem ganzen
historiographischen Unternehmen.
Ricoeur schließt die Probe der narrativen Rhetorik am
Problem der „Endlösung“ mit der folgenden Bemerkung von der
Beziehung der internen und externen Grenzen der Repräsentation:
Weist die innere Grenze der Repräsentation auch auf die externe, auf
die
Unsagbarkeit
oder
Nicht-Vergegenwärtigbarkeit
des
Geschehenes hin? Es gibt zwei Antworten: a) nein, wenn man die
wahre Beziehung zwischen Geschichte und Gedächtnis als eine
kritische, interne ebenso wie externe Reprise auffasst (also gerade
das ist wichtig, was Ricoeur in diesem Buch macht: der kritisch
erforschende Weg von dem Gedächtnis zu der Geschichte); b) ja,
wenn man der Literaturtheorie zustimmen würde und die
Selbstabschließung der narrativen und rhetorischen Figuration und
damit den Ausschluss der extralinguistischen Referenten
proklamieren würde.
Das konkrete Ereignis „an der Grenze“, die Shoa, wirkt sich bis ins
Innerste der Repräsentation aus, diese Grenze macht die eigene
Grenze der Repräsentation sichtbar: im Herzen des Ereignisses
erhebt sich eine Forderung nach Wahrheit und die verfügbaren
Formen der Figuration können dieser Forderung nicht genügen. Die
Formen von realistischen und naturalistischen Romanen und von der
Geschichte des vergangenen (19.) Jahrhunderts sind erschöpft. Wir
müssen alternative Ausdrucksweisen erforschen, möglicherweise
was anderes als das Buch: Theater, Film, bildende Kunst. Aber auch
der Versuch, die Geschichte der „Endlösung“ zu schreiben, kein
verzweifeltes Unterfangen ist, wenn man den Ursprung seiner
Grenzen im Auge behält. Die Kritik muss von der Repräsentation
zum Erklären/Verstehen und von da zur dokumentarischen Arbeit,
bis hin zu den äußersten Zeugnissen zurückgehen.
Zum Abschluss dieses Kapitels sagt Ricoeur, dass die
Probleme, verbunden mit dem Schreiben der Holocaust-Geschichte,
zeigen exemplarisch (in dem Maß, wie sie selbst Probleme „an der
Die Zusammenfassung der Kapitel „Repräsentation und
Narration“ und „Repräsentation und Rhetorik“
Alle drei Phasen der historiographischen Operation sind
Schrift, nicht nur die dritte Phase. Deswegen unterliegen alle drei
Phasen den Aspekten, die jeder Schrift inhärent sind: mit allen drei
ist der Begriff der Interpretation verbunden; Repräsentation unter
ihrem narrativen und rhetorischen Aspekt ist in allen drei Phasen zu
finden, sie begleitet und trägt sie; insbesondere gilt das für die dritte
Phase, für die skripturale, literarische Repräsentation des
Vergangenen. Diese Repräsentation als Operation ist von derselben
Dialektik wie die Repräsentation als Objekt (z.B. die eucharistische
Gegenwart Christi) bestimmt, von der Dialektik zwischen Verweis
auf die Absenz und der Sichtbarkeit der Präsenz. Diese Aporie von
Gegenwart des Nichtgegenwärtigen, Vergangenen, erbt die
Historiographie von dem Gedächtnis, für beide, sowohl für
Gedächtnis als auch für Geschichte ist diese Aporie gründend.
Geschichte ist eine gelehrte Erbin des Gedächtnisses – deshalb
kommt Ricoeurs Buch von der Phänomenologie des Gedächtnisses
zu der Erforschung von epistemologischen Problemen der ganzen
historiographischen Operation, auf die mnemonische Repräsentation
folgt die historische.
Der referentielle Impuls des historischen Diskurses (der Fakt,
dass historischer Diskurs etwas von etwas außerhalb des Diskurses
sagt), der die eigentliche Zielsetzung sowohl des Gedächtnisses als
auch der Historiographie darstellt, ist von manchen narrativen
Strukturen dieses Diskurses und von manchen Regeln der
rhetorischen Figuration immer bedroht:
6
externe Reprise aufgefasst wird – das geschieht durch die kritische,
die Grenze der Erfahrung und die Grenze des Diskurses immer im
Auge behaltene Untersuchung von verschiedenen Klassen von
Zeugnissen.
1) von dem von den französischen Strukturalisten behaupteten Fakt,
dass jeder Diskurs die Selbstabschließung der narrativen und
rhetorischen Figuration und damit den Ausschluss des
extralinguistischen Referenten mit sich bringt;
2) von der Schwierigkeit die fiktionale und historiographische
Erzählung zu unterscheiden: wie geht der Wahrheitsanspruch der
historiographischen Erzählung (der auch für die amerikanischen
Narrativisten gilt, obwohl für sie eine Erzählung ein Ersatz der
Geschichte darstellt) zusammen mit dem Fakt, dass zwei Historiker
häufig verschiedene und entgegengesetzte Erzählungen um
dieselben Ereignisse konstruieren?
3) von den äußeren Grenzen der (moralisch „unannehmbaren“)
Ereignisse, wie z.B. der Holocaust. Diese äußeren Grenzen machen
die inneren Grenzen des historischen Diskurses sichtbar und sie
zeigen die Erschöpfung der Formen von realistischen und
naturalistischen Romanen und von der Geschichte des vergangenen
(19.) Jahrhunderts.
So könnte die Hauptthese lauten: Die Kritik der historiographischen
Operation muss von der Repräsentation zum Erklären/Verstehen und
von da zur dokumentarischen Arbeit, bis hin zu den äußersten
Zeugnissen zurückgehen.
Meine Vorschläge für die Diskussion: Kann ein Historiker wirklich
so ein kritischer und nicht-eingenommener Erforscher in allen
Ebenen der historiographischen Operation sein? Ist er nicht wegen
konkreten Interessen und Neigungen ein Historiker geworden? Wie
ist das möglich, dass unsere tschechische (und wahrscheinlich auch
jede andere) Schulgeschichte trotz allen kritischen Potenzial voll von
nationalen Mythen oder Projektionen ist? - dazu lesen: S. 395 oben
von „Keine der bekannten Weisen… „ bis zum „… unter Verdacht
zu stellen“ auf der S. 396 und nicht vergessen die Anmerkung 35.
Der Text gibt durchaus so etwas wie ein „generelle Antwort“
Ricoeurs auf diese Bedrohungen des referentiellen Impulses des
historischen Diskurses, Ricoeurs generelle Verteidigung des
Wahrheitsanspruches der historischen Erzählung und das ist: Die
Notwendigkeit alle drei Phasen/Ebenen der historiographischen
Operation zu verkoppeln. „Diese dreifache Gliederung bleibt das
Geheimnis der historischen Erkenntnis.“ Die dokumentarische
Ebene soll alle drei Phasen durchdringen und die Selbstabschließung
des Diskurses durchbrechen; Der Unterschied zwischen Fiktion und
Historiographie besteht in den „Annotationen“, die die
dokumentarischen Quellen bezeichnen; Auch die moralisch
„unannehmbaren“ Ereignisse können ein Gegenstand des
historischen Diskurses werden, wenn die Beziehung zwischen
Geschichte und Gedächtnis als eine kritische, interne ebenso wie
Und zur strukturalistischen Kritik und zu den narrativistischen
Zugängen: Kann man sie nicht auch auf das ganze
historiographische Unternehmen applizieren (d.h. nicht nur auf die
dritte Phase, wenn alle Phasen eine Schrift sind)? Sind die beiden
kritischen Potenziale (die kritische „Reprise des Gedächtnisses“ auf
seiten der Historiker, das Misstrauen zu der Fähigkeit der Erzählung
ideologisch „neutral“ und rein referentiell zu sein auf seiten seiner
Kritiker) nicht zwei verschiedene Potenziale auf zwei verschiedenen
Ebenen? Ist das nicht ein Fehler die Kritik von Strukturalisten und
die Unsicherheit von Narrativisten so stark abzulehnen? Und auch:
sind wir als Leser des historiographischen Werkes nicht gerade in
der Position, in der wir beiden Typen von Kritik brauchen? - Die
7
kritische „Reprise des Gedächtnisses“ auf seiten der Historiker steht
nah dem Verweis auf die Absenz in der Dialektik der Repräsentation
als Operation, das Misstrauen zu der Fähigkeit der Erzählung
„neutral“ und referentiell zu sein steht eher nah der Sichtbarkeit der
Präsenz in derselben Dialektik. – dazu lesen: S. 362 von „Was die
Wahl des Substantivs „Repräsentation“…“ bis zum Ende dieses
Paragraphen (oder noch der Paragraph vorher) und wenn es Zeit
gibt, dann auch Anmerkung 30, S. 389-90.
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