Planung einer Unterrichtsreihe zum Thema ‚Literaturgeschichte‘ Inhalt 1 Einleitung ............................................................................................................................ 2 2 Allgemeines Bedingungsfeld der Praktikumsschule........................................................... 2 3 Kurzüberblick meines Blockpraktikums ............................................................................. 3 4 Planung einer Stoffeinheit zum Thema ‚Literaturgeschichte‘ ............................................ 5 4. 1 Einordnung der Stoffeinheit in den Lehrplan .................................................................. 6 4. 2 Verlaufsplan der Stoffeinheit .......................................................................................... 7 5 Unterrichtsentwurf zur Blockstunde ‚Literatur des Sturm und Drang‘ .............................. 9 5. 1 Anmerkungen zur Lerngruppe ........................................................................................ 9 5. 2 Unterrichtszusammenhang ............................................................................................ 10 5. 2. 1 Grobüberblick über die Vorstunde ‚Literatur der Aufklärung‘ ................................. 11 5. 2. 2 Relevantes für den Kontext des Sturm und Drang .................................................... 12 5. 3 Sachanalyse ................................................................................................................... 14 5. 3. 1 Veränderungen im 17. und 18. Jahrhundert .............................................................. 14 5. 3. 2 Entstehung des ‚Sturm und Drang‘ ........................................................................... 16 5. 3. 3 Individualität im Sturm und Drang ............................................................................ 17 5. 3. 4 Die Literatur des Sturm und Drang – Sprengen der literarischen Regeln ................. 20 5. 3. 4 Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werther ...................................... 21 5. 3. 4. 1 Inhalt ...................................................................................................................... 21 5. 3. 4. 2 Deutung .................................................................................................................. 22 5. 3. 5 5.4 Fazit ........................................................................................................................... 27 Didaktische Reflexion ................................................................................................... 29 5. 4. 1 Begründung der Themenauswahl .............................................................................. 29 5. 4. 3 Didaktische Reduktion .............................................................................................. 30 5. 4. 4 Lernziele .................................................................................................................... 31 5. 5 Methodische Reflexion und Verlaufsplanung ............................................................... 32 5. 6 Literaturverzeichnis und Anlage der Unterrichtsmaterialien ........................................ 34 5. 6. 1 Literaturverzeichnis ................................................................................................... 34 5. 6. 2 Anlage ........................................................................................................................ 36 5. 7 6 Reflexion der Blockstunde ‚Literatur des Sturm und Drang‘ ....................................... 53 Gesamteinschätzung und Abschlussreflexion ................................................................... 54 Anhang ..................................................................................................................................... 57 1 1 Einleitung „Was man erfindet, tut man mit Liebe, was man gelernt hat, mit Sicherheit.“ JOHANN WOLFGANG GOETHE Mein Blockpraktikum im Fach Deutsch war eine Zeit des Lernens für mich, was sich schließlich – genau wie Goethe es in seinem Zitat beschreibt – in zunehmender Sicherheit in Bezug auf die beruflichen Tätigkeiten und Aufgaben eines Lehrers ausdrückte. Die Schule, die ich im Zeitraum vom 30.08.2010 bis zum 24.09.2010 als Praktikant besuchte, ist das das Martin-Luther-Gymnasium in Hartha. In den folgenden Ausarbeitungen möchte ich zunächst einen Gesamtüberblick über das Bedingungsfeld dieses Gymnasiums skizzieren und anschließend eine allgemeine Beschreibung meines Praktikums vorstellen, um so zu den Einzelheiten hinsichtlich meiner Planungs-, Hospitations- und Lehrtätigkeiten überzuleiten. Ich werde eine Stoffeinheitsplanung aus meinem Praktikum präsentieren, aus der ich danach eine ausgewählte Blockstunde im Zusammenhang mit der vorhergehenden Unterrichtseinheit detailliert darstellen möchte. Am Ende dieses Belegs soll schließlich eine Abschlussreflexion in Form einer Gesamteinschätzung des Blockpraktikums Auskunft über meinen persönlichen Lern- und Erfahrungsgewinn ermöglichen. 2 Allgemeines Bedingungsfeld der Praktikumsschule Das Martin-Luther-Gymnasium Hartha ist eine fortschrittliche Bildungseinrichtung im Herzen Sachsens mit dem Motto „Schule mit Idee“. Die Unterrichtsbedingungen dieses Gymnasiums sind hervorragend. Es ist renoviert und mit moderner Technologie ausgestattet. Neben den PC-Pools, Medienkabinetten, mobilen Laptops und Beamern ist die Schule seit kurzem in Besitz von zwei PCs mit großen LCD-Screens, sogenannten „Blackboards“, die an zentralen Stellen im Schulhaus angebracht sind und Vertretungspläne, Fotos von Schulaktivitäten sowie allerart Neuigkeiten ausstrahlen. Die Bildungseinrichtung unterrichtet derzeit 542 SchülerInnen, von denen ca. 25 Prozent in der Stadt Hartha und der Rest in ländlichen Gebieten der Landkreise Döbeln, Mittweida und Muldental leben, und wird von 53 Lehrern betreut. Seit dem Schuljahr 2009/2010 bietet das 2 Gymnasium neben seinen sprachlichen und naturwissenschaftlichen Profilen auch ein künstlerisches Profil an, an dem die Schülerinnen und Schüler mit Begeisterung teilnehmen. Die Einrichtung versucht jedes Jahr Fortschritte auf einem neuen Gebiet zu erreichen und hat es sich in diesem Schuljahr zum Ziel gesetzt, den Unterricht stärker fachübergreifend und fächerverbindend zu gestalten, um die Schüler so auf die wachsenden Anforderungen der Gesellschaft vorzubereiten. Dies wird beispielsweise durch „Team-Teaching“ oder bilinguale Unterrichtssequenzen praktiziert. Ein weiterer Schwerpunkt des Gymnasiums liegt in der Förderung von Kooperations- und Teamfähigkeit, um Schülern die zweckdienlichen Vorteile von Zusammenarbeit für Problemlösungen zu übermitteln. Dazu gehören auch Werte und Normen, die an die Kinder und Jugendlichen weitergegeben werden, z. B. gegenseitiges Ermutigen und Wertschätzen, Übernahme und Forderung von Verantwortung, Üben und Annehmen von Kritik sowie das Fördern von Leistungsbereitschaft. Das Martin-LutherGymnasium Hartha legt zudem großen Wert auf eine enge Zusammenarbeit mit den Eltern der Schüler, um so gegenseitig über Erziehungsziele und Lernleistungen informiert zu sein. Als sehr demokratisch erweisen sich auch die Initiativen von Seiten der Schülerinnen und Schüler, denen großes Vertrauen und ein beträchtliches Maß an Verantwortung für die Gestaltung eines angenehmen und interessanten Schullebens zugesprochen wird, was sich beispielsweise in selbstverantwortlicher Organisation von Schulveranstaltungen und Beiträgen zur sinnvollen Pausengestaltung äußert. Die Schule bietet außerdem über 30 Ganztagsangebote für die Lernenden an, die von interessanten Experimenten im Physiklabor über Sport- und Freizeitaktivitäten bis hin zu einer international anerkannten und berühmten Musical-Company reichen. 3 Kurzüberblick meines Blockpraktikums Mein Blockpraktikum zeichnete sich insgesamt durch gute Kooperationsbereitschaft seitens der Lehrerinnen und Lehrer aus. Auffällig war für mich von Anfang an das freundliche, herzliche Schulklima. Der Schulleiter Herr Weisheit, ein sehr engagierter, charismatischer Naturwissenschaftler, hieß mich im Martin-Luther-Gymnasium willkommen und gab mir in einem Einführungsgespräch in mein Praktikum einen sehr hilfreichen Gesamtüberblick über alles Wissenswerte rund um die Schule und zeigte sich sehr unterstützend in Bezug auf meine Praktikumstätigkeiten. Zudem lud er mich ein, mich in den anstehenden Aktivitäten der Schule (z.B. Sportfest und Schulball) einzubringen und die Zeit vielseitig zu nutzen, um mit 3 vielen praktischen Eindrücken in die Universität zurückkehren zu können. Ebenso freundlich und offen empfing mich mein Mentor Herr Kittler, der mich auf ähnliche Weise zu vielerlei Erfahrungen des Schulalltags einlud. So nutze ich diese Einladungen sofort und entschied mich dazu, meinen Mentor Herrn Kittler noch vor Beginn meines eigentlichen Praktikums vom 27. bis 30. August als Betreuer bei einem Literaturcamp zu begleiten, das er mit einer neunten Klasse durchführte. Dies erwies sich als äußerst sinnvoll, da diese neunte Klasse eine der Klassen war, die ich während meines Praktikums unterrichten sollte. Obwohl das Wetter es alles andere als gut mit uns meinte, hatten sowohl die Schüler als auch wir als deren Betreuer ein sehr schönes, bildungsreiches und auch lustiges Wochenende, das noch lange in Erinnerung bleiben wird. An diesem Wochenende lasen wir gemeinsam mit den SchülerInnen zwei Bücher (Michail Schocholow: Ein Menschschicksal und Morton Rhue: Die Welle). Weiterhin wohnten die Lernenden einer Buchvorstellung Herrn Kittlers bei, in der er Erich Maria Remarques Der Weg zurück präsentierte, da die Schüler im regulären Unterricht gerade Im Westen nichts Neues behandelt hatten. Außerdem schauten die Schülerinnen und Schüler im Literaturcamp einen Spielfilm zum Thema Literatur (Der Club der toten Dichter) sowie Verfilmungen zweier Werke (Die Abendteuer des Werner Holt und Die Welle). All das ging einher mit tiefgründigen Auswertungen und Diskussion der Lernenden. Im abschließenden Evaluationsgespräch zeigten sich die Schüler glücklich und dankbar für die Erfahrungen (und auch den vielen Spaß) während des Literaturcamps. Am Morgen der Abreise vom Literaturcamp fuhren mein Mentor und ich direkt in die Schule. Mein Blockpraktikum konnte nun offiziell mit dem ersten Tag beginnen. Ich wurde überall vorgestellt oder bekam Gelegenheit, mich selbst vorzustellen. Nach einem Einführungsgespräch mit dem Schulleiter verbrachte ich die ersten Tage hauptsächlich mit Hospitationen – besonders in den Klassen, die ich später selbst unterrichten sollte. Dabei bekam ich einen Überblick über den Stoff, auf den ich in meinem Unterricht aufbauen sollte, sodass ich in den folgenden Wochen meine persönliche Planung dazu verwirklichen und durchführen konnte. Mein Mentor stand mir dabei immer mit Ratschlägen und Feedback zur Seite und überließ mir die freie Gestaltung der Stunden. Neben meinen Hospitations- und Unterrichtsstunden bestand meine Praktikumszeit auch aus Versammlungen des Fachzirkels Deutsch, wo ich auch selbst eine kurze Fortbildung für die Kollegen in Bezug auf moderne Systeme für Zitiertechnik und Literaturangaben beim wissenschaftlichen Arbeiten gestalten durfte. Weiterhin wurde mir die Möglichkeit gegeben, meine DaZ-Kenntnisse aus dem DaZ-Modul, das ich gerade abgeschlossen hatte, anzuwenden 4 und einen amerikanischen Schüler unter der Aufsicht meines Mentors zu fördern, sodass sein Übergang in den Regelunterricht erleichtert werden konnte. Ferner wurde ich – wegen der positiven Ergebnisse der DaZ-Förderung – gebeten, an einer „Bilingualen Team-Teaching“Stunde mitzuwirken, in der SHAKESPEARE und seine Zeit im Fokus des Interesses standen. Hier konnte ich Kenntnisse und Fähigkeiten aus meinem Zweitfach Englisch einbringen. Shakespeare war auch das zentrale Thema im künstlerischen Profil der Schule, an dem ich mitwirken durfte, indem ich verschiedene Szenen aus Romeo und Julia mit den Schülerinnen und Schülern in Vorbereitung auf ihr Theaterstück am Ende des Schuljahrs gestaltete. Außerdem durfte ich der Schulleitung hinsichtlich der Medienkompetenz behilflich sein. So installierte ich beispielsweise die neu angebrachten digitalen „Blackboards“ und gestaltete dafür vereinfachte Bedienungsanleitungen für die Verantwortlichen im LehrerInnenKollegium, da sich die Nutzen der Systeme und Programme der „Blackboards“ als relativ kompliziert erwies. Zusätzlich wurde ich auch gebeten, Pausen- und Hofaufsichten zu übernehmen. Außerdem nahm ich an einer Fortbildung für Lehrerinnen und Lehrer in Chemnitz teil, die von Prof. Stockinger von der Universität Leipzig geleitet wurde. Alle Verpflichtungen und Aktivitäten, die zu meinem Blockpraktikum gehörten, ermöglichten mir insgesamt einen tiefen und realistischen Einblick in den Alltag eines Lehrers. 4 Planung einer Stoffeinheit zum Thema ‚Literaturgeschichte‘ In meinem Blockpraktikum unterrichtete ich insgesamt 21 Stunden. Zehn Unterrichtsstunden davon führte ich zum Thema ‚Literaturgeschichte‘ in einem Deutsch-Leistungskurs der elften Klasse durch. Drei weitere Stunden unterrichtete ich in der neunten Klasse, bei welcher ich als deren Betreuer im erwähnten Literaturcamp fungiert hatte. Hier bestand meine Aufgabe darin, die Unterrichtseinheit ‚Im Westen nichts Neues‘ abzuschließen. Weiterhin unterrichtete ich in einem Grundkurs der Jahrgangsstufe 12 eine Sequenz zum Gegenstand ‚Stoff, Thema, Motiv‘ am Beispiel von Sophokles‘ Antigone. Vier weitere Unterrichtsstunden widmete ich – unter der Aufsicht meines interessierten Mentors – der DaZ-Förderung des amerikanischen Austauschschülers Samuel, der mir anvertraut worden war. Abschließend galt meine letzte Unterrichtsstunde am Martin-Luther-Gymnasium der Behandlung verschiedener Dramenszenen aus SHAKESPEARES Romeo und Julia im künstlerischen Profil der Schule. 5 Eine Stoffeinheit, die ich – wie bereits erwähnt – während meines Blockpraktikums anteilig in der elften Klasse im Leistungskurs unterrichten durfte, war die Stoffeinheit ‚Literaturgeschichte‘, die sich auf den ‚Lernbereich 1‘ im Lehrplan der Jahrgangsstufe 11 (Leistungskurs) bezieht. Diese Stoffeinheit soll in den folgenden Ausführungen überblicksartig dargestellt werden. Im Anschluss daran soll ein Block (zwei zusammenhängende Unterrichtsstunden) daraus detailliert erläutert werden sowie ein zweiter im Zusammenhang mit dem ersten Block grob skizziert werden, um die Verbindung der beiden im Gesamtkontext der Stoffeinheit zu verdeutlichen. 4. 1 Einordnung der Stoffeinheit in den Lehrplan In den Zielen des Sächsischen Lehrplans für die Klassenstufen 11/12 im Leistungskurs heißt es: „Die Schüler positionieren sich zu repräsentativen, schwierigen und umfangreichen Texten aus vergangenen Epochen und aus der Gegenwart. Texte der internationalen Literatur beziehen sie ein. Dabei erweitern sie ihr Wissen über Poetologie, Literaturtheorie und Sprachtheorie. Sie vergleichen literarische Texte bezüglich Stoff und Motiv, Textsorte und Gattung, geschichtlichem und biographischem Hintergrund und hinsichtlich künstlerischer Gestaltungsmerkmale und ihrer Wirkung. Sie erfassen stoffliche, motivische und gestalterische Entwicklungslinien und erwerben anwendungsbereites Orientierungswissen über Epochen der deutschen Literatur, über wichtige Vertreter und wesentliche Werke“ (SÄCHSISCHER LEHRPLAN GYMNASIUM DEUTSCH 2004/2009, S. 47). Zur Erfüllung dieser Zielsetzung sieht der Lehrplan im ‚Lernbereich 1: Literaturgeschichte‘ der Jahrgangstufe 11 25 Unterrichtstunden für die Behandlung der Literaturepochen Mittelalter, Barock, Aufklärung, Sturm und Drang, Weimarer Klassik, Romantik, Realismus des 19. Jahrhunderts, Literatur der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert und Expressionismus vor. Dadurch sollen die Schüler einen Gesamtüberblick über die Entwicklung von Geistes- und Sozialgeschichte bekommen, der ihnen ein tiefgründigeres Verstehen über die Literatur als Spiegel der Gesellschaft ihrer Zeit ermöglicht. Aufgrund der vorgegebenen 25 Unterrichtsstunden empfiehlt es sich in der Planung, im Allgemeinen je zwei Stunden für die Erarbeitung einer Epoche zu verwenden. Die übrigen Stunden können als „Puffer“ für Vertiefungen, Fragen, Übungen, Interpretationen, Wiederholungen, zusätzliche Textarbeit oder eine Klausur genutzt werden. 6 4. 2 Verlaufsplan der Stoffeinheit Im folgenden Verlaufsplan soll ein Überblick über die Planung der aus 25 Unterrichtsstunden bestehenden Stoffeinheit zum Thema Literaturgeschichte vorgestellt werden. Dabei wurde jeder Epoche eine Doppelstunde zugewiesen – außer der Epoche des Realismus, für dessen verschiedene Strömungen und zugehörige Text- und Gruppenarbeit ich eine zusätzliche Stunde für notwendig erachtete. In der Planung wurde jeder Stunde ein Thema gegeben und Ideen und Methoden für eine mögliche Durchführung fixiert, wie die folgende tabellarische Darstellung zeigt: Stunde Literaturepoche Thema der Stunde Ideen und Methoden 1 Mittelalter I Literatur des Mittelalters: Sprachent- - Minnekonzept, Religion und wicklung, Autoren, Merkmale und Themen Rittertum – „triuwe“, „staete“, „minne“, „saelde“ - schematische Übersicht zur Entwicklung der deutschen Sprache 2 Mittelalters II Mhd. Texte lesen und verstehen lernen - Hörspiel Ahd. & Mhd. Gedichte - Walter von der Vogelweide, Wolfram von Eschenbach → Gruppenarbeit mit Mhd. Wörterbüchern 3 Barock I Der Dreißigjährige Krieg und seine - Musik: Bach Auswirkungen auf Kunst und Literatur - Architektur: Dresdner Zwinger, Versailles, Augustusburg der Zeit - Malerei: Vanitas-Stillleben - Gruppenarbeit Erarbeitung Literarische Leitmotive 4 Barock II Das Sonett im Barock Gryphius: „Es ist alles eitel“ - Methoden der Gedichtanalyse 5 Aufklärung I Das 18. Jahrhundert und seine - Kant: „Was ist Aufklärung?“ Veränderungen: vom mittelalterlichen - Veränderungen im 18. Jh.: Differenzschema ‚Heil vs. → Wissenschaft → Religion Verdammnis‘ zu ‚Rationalismus vs. → Philosophie Emotionalismus‘ → Gesellschaft → INDIVIDUALITÄT 6 Aufklärung II Literatur der Aufklärung: Merkmale - Didaktische Literatur (Fabeln) und Autoren - 17. Literaturbrief Lessing (Schnipseltext, Überschriften zuweisen) 7 Sturm und Drang I Die „Goethesekte“ und ihre „Original- 7 - Wiederh. Aufklärung → genies“ – die erste literarische Jugend- radikalisierte Fortführung best. bewegung Elemente - Geniekult und Wertherfieber (→ BILDER) - Literatur als autonome Kunst (Vergl. m. Aufkl.) 8 Sturm und Drang II Sturm-und-Drang-Texte als Emanzipation der Leidenschaften: Emotionalismus, Geisteskrankheit, Tod 9 Weimarer Klassik I Das Menschenbild in der Klassik anhand verschiedener lyrischer Texte - Wertherbriefe im Vergleich → STANDBILDER? → Die Toten Hosen: „Alles aus Liebe“ Gedichtvergleich „Prometheus“ (St. & Drang); „Grenzen der Menschheit“; „Das Göttliche“ 10 Weimarer Klassik II Erziehungskonzept der Klassik Theoretische Texte von Schiller 11 Romantik I Romantische Universalpoesie – - Partnerarbeit Internetrecherche Merkmale und Autoren der im Medienkabinett: Liebe, Natur und weitere romantische Motive romantischen Strömung 12 13 Romantik II Realismus des 19. Jh. I Sehnsucht als Leitmotiv der Romantik - Einstiegsmeditation am Beispiel Eichendorffs - Gedichte Eichendorffs Realistische Strömungen im Überblick - Kurzreferate als HA vorbereitet → Gruppenarbeit – Unterschiede und Gemeinsamkeiten 14 Realismus des 19. Jh. II Exemplarische Texte des Realismus - Gruppenarbeit: Auszüge aus „Deutschland – ein Wintermärchen“; „Effi Briest“; „Vor Sonnenaufgang“ 15 Realismus des 19. Jh. III Präsentation der Gruppenarbeit Gesamtzusammenfassung! 16 Literatur der Einheit durch Vielfalt – die Strömungen Lehrervortrag Jahrhundertwende vom der Literatur der Jahrhundertwende im 19. zum 20. Jh. I Überblick Literatur der Sprachkunst in der Lyrik – Gedichte 1. Bezug zu Prüfungsschwer- Jahrhundertwende vom Rainer Maria Rilkes punkten Expressionismus – „welch Leidenschaft Jakob von Hoddis: „Weltende“ 17 19. zum 20. Jh. II 18 Expressionismus I des Hasses und der Menschlichkeit“ (H. Mayer) 19 Expressionismus II 20 Klausur Das Großstadtmotiv in der Lyrik Puffer (5 Std.) 8 Gedichtvergleiche Die von mir durchgeführten Unterrichtsstunden erstreckten sich von der literarischen Epoche des Barock bis hin zum Sturm und Drang. Für den Barock nutzte ich allerdings eine der Pufferstunden für eine Leistungskontrolle und für Text- und Interpretationsarbeit anhand einiger Sonette. Folglich unterrichtete ich letztendlich sieben Stunden aus meiner geplanten Stoffeinheit zum Thema Literaturgeschichte. Die Behandlung der weiteren Epochen musste zugunsten einer bilingualen Unterrichtssequenz über SHAKESPEARE und seine Zeit sowie einer Einführung zu Hamlet verschoben werden. Diese Stunden durfte ich trotzdem mitgestalten und unterrichten – sowohl in Bezug auf die Kenntnisse in meinem Erstfach Deutsch als auch meines Zweitfaches Englisch. Eine Gesamtzusammenfassung der Stoffeinheit Literaturgeschichte sollte durch die Schüler in Form eines zu Hause zu erstellenden Literaturkalenders gewährleistet werden. Dabei sollten am Ende alle neun behandelten Literaturepochen von der Literatur des Mittelalters bis hin zum Expressionismus berücksichtigt werden; die Schülerinnen und Schüler hatten je einen Monat im Literaturkalender mit der Angabe der Epoche, der zeitlichen Einordung sowie einem Beispielwerk mit seinem Autor zu füllen. Die übrigen drei Monate konnten die Schüler gemäß ihrer eigenen literarischen Interessen und den Kalender insgesamt nach eigenen kreativen Ideen gestalten. 5 Unterrichtsentwurf zur Blockstunde ‚Literatur des Sturm und Drang‘ An dieser Stelle soll eine Doppel- bzw. Blockstunde aus der Gesamtplanung im Zentrum des Interesses stehen, die detailliert vorgestellt wird. Die anschließenden Ausarbeitungen beziehen sich auf den Unterrichtsentwurf und die Durchführung meiner Blockstunde zur Literatur des Sturm und Drang. 5. 1 Anmerkungen zur Lerngruppe Die Lerngruppe ist ein Deutsch-Leistungskurs der Jahrgangsstufe 11 und besteht aus acht Schülerinnen und sieben Schülern. Die Lernatmosphäre ist sehr angenehm, da die Lerngruppe untereinander einen freundlichen, respektvollen und mit Humor gefüllten Umgang pflegt. Niemand wird ausgeschlossen. Einer der Schüler ist homosexuell und hat sich vor kurzer Zeit 9 „geoutet“. Auch er wird wie alle anderen Mitglieder der Lerngruppe behandelt und integriert und scheint sich sehr wohl im Kursverband zu fühlen. Leistungsvermögen und Leistungsbereitschaft der Lerngruppe sind als heterogen einzustufen. Einer der Schüler sticht durch seine sehr guten Leistungen in allen Fächern hervor. Eine Schülerin weist überall mangelhafte Leistungen auf. Im Allgemeinen kann man kollektiv jedoch von durchschnittlichen bis guten Leistungen sprechen. Die Lernenden zeigten sich sehr interessiert in Bezug auf Zeit, Gesellschaft und Literatur der Aufklärung sowie des Sturm und Drang und arbeiteten rege mit. Auch in den anderen Epochen der Literaturgeschichte war deutliche Wissbegierde spürbar, die sich durch Diskussionen und Mitarbeit ausdrückte. Generell scheint die Lerngruppe mit Vorliebe an historischen Entwicklungen interessiert zu sein, da die meisten Schülerinnen und Schüler der Gruppe Geschichte als zweites Leistungskursfach belegen. Ich unterrichtete die Blockstunde zur Literatur des Sturm und Drang am Freitag, den 10.09.2010 in der dritten und vierten Unterrichtsstunde, beginnend um 09.25 Uhr. Die Schüler waren ausgeruht, konzentriert und kamen gerade aus ihrer Frühstückspause. 5. 2 Unterrichtszusammenhang Die Blockstunde über die Literatur des Sturm und Drang stellt die vierte von neun geplanten Einheiten zur Literaturgeschichte dar. Die vorhergehenden Unterrichtsstunden beschäftigten sich mit folgenden Themen: Block 1: Literatur des Mittelalters (700 – 1500) Block 2: Literatur des Barock (1600 – 1720) Block 3: Literatur der Aufklärung (1720 – 1785) Alle weiteren Blöcke der Stoffeinheit Literaturgeschichte können der bereits dargestellten Planung unter 4. 2 entnommen werden. Da der vierte Block (Literatur des Sturm und Drang) eng im Zusammenhang mit den Inhalten des dritten Blocks (Literatur der Aufklärung) steht, soll dieser hier kurz skizziert werden. 10 5. 2. 1 Grobüberblick über die Vorstunde ‚Literatur der Aufklärung‘ Dem Unterrichtsentwurf zur Blockstunde ‚Literatur der Aufklärung‘ soll hier überblicksartig in Form eines tabellarischen Verlaufsplanes genüge getan werden, da er nicht im Zentrum des Interesses dieser Arbeit steht, sondern nur eine sekundäre – jedoch nicht unwichtige – Bedeutung für die Blockstunde über die Literatur des Sturm und Drang hat. Stunde 1: Zeit 09:25 Lehreraktivität / Unterrichtsverl. Schüleraktivität / Sozialformen Medien - Begrüßung - Motivation: Begriff „Aufklärung“ - Mind Map, Begriff diskutieren (engl.: Enlightenment; frz.: Siècle und Ideen & Fakten sammeln → des Lumières) → LICHT GUG Tafel - ZO: Überbl. über die Literatur der Aufklärung 09:35 TZO 1: I. Kant: „Was ist Aufklärung?“ - Stillarbeit -AB 1 Lest den Text und beantwortet die Titel- -Fremdwör- frage „Was ist Aufklärung?“ in euren terbücher Worten! Geht dabei auf die Begriffe „Unmündigkeit“, „Verstand“ und „Freiheit“ ein! 09:45 TZF 1: - Ergebnissicherung und Vergleich GUG - Tafel Warum stehen in der Zeit der Aufklärung Einteilung Gruppenarbeit: -Folien für jede Gefühl und Verstand im Mittelpunkt von - Gruppe 1: Geistige Befreiung Gruppe zur allem? der Aufgabe 09:50 TZO 2: - Gruppe 2: Emotionale Befreiung Ergebnis- → These: Das 18. Jahrhundert stellt - Gruppe 3: Sexuelle Befreiung sicherung eine grundlegende geistige, emo- - Gruppe 4: Künstlerische Befr. tionale , sexuelle, künstlerische Befreiung dar. (A. Košenina) 09:55- Gruppenarbeit 11 (Vergleich und Texte: 10:10 Auswertung in der zweiten Arbeitsblätter, Blockhälfte) Bücher, Internet Stunde 2: Zeit 10:20 Lehreraktivität / Unterrichtsverl. Schüleraktivität / Sozialformen Medien TZF 2: Auswertung Gruppenarbeit,Ergebnis- Schüler präsentieren ihre Folien OHP Stillarbeit AB 2 GUG Tafel sicherung 10:35 TZO 3: Künstlerische Befreiung auch in der Literatur: Auszug aus dem 17. Literaturbrief Lessings Lest den Auszug aus dem 17. Literaturbrief Lessings und ordnet die zusammenfassenden Überschriften den einzelnen Absätzen zu! Untersucht, was Lessing an Gottsched kritisiert! 10:45 TZF 3: Ergebnissicherung: Vernunftsgedanke in der Literatur → Didaktische Literatur, lehrhafte Literatur 10:50 TZO 4: Autoren und Gattungen in der Lehrervortrag, Schüler schreiben Literatur der Aufklärung 10:55 Textbeispiel: mit 3 Aphorismen von GUG Georg Christoph Lichtenberg Wo steckt der Vernunftsgedanke / das Lehrhafte in den Aphorismen? 11:00 GZF 11:04 Verabschiedung HA: LB, S. 162 (Fabel: Der Wolf und das Schaf) 5. 2. 2 Relevantes für den Kontext des Sturm und Drang 12 Folie OHP Für die im Fokus dieser Arbeit stehende Blockstunde über die Literatur des Sturm und Drang gibt es einige Gesichtspunkte, die auf das Wissen über die Epoche der Aufklärung aufbauen und somit von zentraler Bedeutung sind. Dazu gehört vor allem, dass sich die Strömung des Sturm und Drang während der Aufklärung als eine Bewegung entwickelte, die sich schließlich gegen die Aufklärung wendete, um derselben ihr Scheitern vor Augen zu führen. Somit ist die Entstehungszeit ein wichtiger Faktor. Ferner sind sozialgeschichtliche, wissenschaftliche und anthropologische Veränderungen während des 18. Jahrhunderts, die die Schülerinnen und Schüler in der Gruppenarbeit zur Aufklärung als eine „geistige, emotionale, sexuelle und künstlerische Befreiung“ (KOŠENINA 2008, S. 10) zusammentrugen, Grundpfeiler für die Entstehung der literarischen Jugendbewegung des Sturm und Drang, da sie das tiefe Interesse der Zeit an dem Begriffspaar ‚Gefühl und Verstand‘ erklären, das das mittelalterliche Differenzschema von ‚Heil und Verdammnis‘ ablöst. Weiterhin sind verschiedene Merkmale des Sturm und Drang nur durch die Hintergründe der aufgeklärten Gesellschaft verstehbar, von deren Ideen sich die Stürmer und Dränger bewusst abzugrenzen versuchten. Dies geschah zum einen dadurch, dass verschiedene Elemente der aufgeklärten Ideen sowie der Charakteristika ihrer Literatur in radikalisierter Form fortgeführt wurden. Beispielsweise erweiterte man die „Aufwertung der Sinnlichkeit“, die im 17. und 18. Jahrhundert entstanden war, zu einer Forderung nach der Emanzipation der Leidenschaften. Weiterhin übernahm man die zentralen Themen der aufgeklärten Literatur und radikalisierte den Vernunftsgedanken darin zu einer Geisteskrankheit, die aus ständig rationalem Handeln erwächst. Die durch die Umstrukturierung der Gesellschaft entstandene Individualität seit der Reformation und dem Zerfall des mittelalterlichen Ständesystems wird im Sturm und Drang zu einer Forderung nach absoluter Autonomie übersteigert. Zum anderen zeigte sich die Ideologie des Sturm und Drang im Sprengen der literarischen Regeln der Aufklärung. Die Literatur sollte frei von gesellschaftlichen Zwecken sein und die Totalität des Lebens in Sprache und Form darstellen. Diese Gesichtspunkte, die an späterer Stelle ausführlicher dargestellt werden sollen und im Kontext der Blockstunde ‚Literatur des Sturm und Drang‘ eine bedeutende Grundlage für das Verstehen der Strömung ermöglichen, machen einen direkten Zusammenhang des Sturm und Drang mit der Epoche der Aufklärung deutlich. 13 5. 3 Sachanalyse Im Folgenden möchte ich die fachlichen Hintergründe über die Zeit der Aufklärung, die Entstehung des Sturm und Drang sowie die Merkmale und Autoren seiner Literatur detailliert darstellen. 5. 3. 1 Veränderungen im 17. und 18. Jahrhundert Das 17. und 18. Jahrhundert war eine Zeit der sozialgeschichtlichen Umgestaltungen. Diese Veränderungen während der Aufklärung bezeichnet KOŠENINA (2008, S. 10) als eine „grundlegende geistige, emotionale, sexuelle, künstlerische Befreiung“. Das ehemalige Grundgerüst von allem, die Religion, hat seit der Reformation ihren Absolutheitsanspruch den Einzelnen zu lenken verloren. Mit diesem Funktionsverlust der Kirche verliert auch das mittelalterliche Differenzschema von Heil und Verdammnis zunehmend an Bedeutung. Empfindsamkeit und Rationalismus etablieren sich stärker als neues Orientierungsgerüst. Die Moral wird in der Aufklärung in erster Linie nicht mehr von der Kirche bestimmt, sondern von Philosophen definiert. Der Blick der Gesellschaft richtet sich mehr und mehr vom Jenseits auf das Diesseits und damit auch auf den individuellen Menschen. KOŠENINA (2008, S. 10) spricht von einer „Neubestimmung des Menschen als Mensch“, was somit bedeutet, dass sich die Betrachtungsweise des Menschen in der europäischen Aufklärung ändert: „Der Mensch rückt […] ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Im Barock stand er noch im Schatten der Sonnenkönige – Gefühle und Affekte waren verpönt, Individualität und Subjektivität kannte man noch nicht. Den Menschen wünschte man sich zurechtgestutzt wie einen französischen Garten. Geordnet und diszipliniert sollte er funktionieren – ständisch als Untertan, strategisch als Höfling, statisch als Schauspieler, stoisch als Held. Gegen diese Marionettenkultur machte die Aufklärung Front.“ Diese Neubestimmung des Menschen als Mensch manifestierte sich in der Entstehung der Anthropologie als „Wissenschaft vom Menschen“, die sich in vielen Forschungsbereichen, z. B. Philosophie, Medizin und Psychologie, mit großem Interesse und viel Neugierde äußerte. 14 Das 18. Jahrhundert ist eine Zeit, in der der „ganze Mensch“ (vgl. KOŠENINA 2008, S. 10) im Mittelpunkt steht. Das bedeutet folglich auch, dass sich Körper und Seele mit ihren wechselseitigen Beziehungen im Interesse der Wissenschaft befinden. (Vgl. PLATNER 1772, S. XVII) Die Seele gilt dabei als die religiöse Bestimmung des Menschen – sie ist das Gute und Höhere. Der Körper hingegen stellt die biologische Bestimmung des Menschen dar, was Sinnlichkeit und Triebe einschließt. Diese niederen Kräfte wiederum, die dabei als legitime Erkenntnisinstrumente des Einzelnen gelten, weisen den Menschen als Teil der Natur aus. Das Gefühl wird dabei als das Medium betrachtet, das zwischen Natur und Vernunft vermittelt. Der Mensch wird also von Natur, Gefühl und Vernunft bestimmt. Mit dem Verlust des mittelalterlichen Differenzschemas von Heil und Verdammnis seit der Reformation basiert das Moralkonzept der Menschen nicht mehr hauptsächlich auf religiösen Werten, wie es im Mittelalter der Fall war, als die Kirche noch ihren Absolutheitsanspruch inne hatte – ohne mögliche Strafe im Jenseits ändern sich nun Motivation und Einstellung zu „gutem“ Handeln. Das Gefühl wird dabei biologisiert, d. h. der körperlichen Bestimmung des Menschen zugeordnet. KOŠENINA (2008, S. 17) erklärt, dass in diesem „Zeitalter der Menschenforschung Gefühle ihre poetische Unschuld verloren haben. Sie werden gemessen, beobachtet, seziert, experimentell stimuliert, in Krankengeschichten protokolliert, schließlich analysiert – kühl medizinisch, aber auch durch beredte Metaphern in der Literatur; durch neue Ausdrucksformen in der Bildkunst, durch eine psychologisch naturwahre Körpersprache auf dem Theater.“ Diese Biologisierung des Gefühls hat die sogenannte ‚Aufwertung der Sinnlichkeit‘ im 18. Jahrhundert zur Folge. In einer Zeit, in der durch den Funktionsverlust der Kirche die mittelalterliche Ständepyramide ihre Spitze verloren hat und somit das gesamte gesellschaftliche Gefüge langfristig einem sozialen Anpassungsprozess ausgesetzt ist, werden Gefühl und Sinnlichkeit nicht als religiöse Medien oder Erfahrungen betrachtet, sondern als Ausdruck der menschlichen Natur erforscht und als Erkenntniskräfte des Individuums aufgewertet. Dabei muss der Hintergrund der Vermögenspsychologie der LEIBNIZ-WOLFFschen Schule betrachtet werden, denn nach der Definition von LEIBNIZ wird die Erkenntnisfähigkeit in zwei verschiedene Modi unterteilt: Auf der einen Seite steht die symbolische, wissenschaftliche Erkenntnis, welche durch Zahlen, Zeichen usw. die Logik und Rationalität des Menschen anspricht. Auf der anderen Seite steht die intuitive, unmittelbare und totale Erkenntnis, welche allein Gott vorbehalten ist. Zusätzlich zergliedert LEIBNIZ die Erkenntnis in eine dunkle und eine klare Abstufung, und unterscheidet innerhalb der klaren noch zwischen einer 15 verworrenen und einer deutlichen Erkenntnisstufe. Die deutliche Stufe wiederum wurde in eine adäquate und eine inadäquate unterteilt. (Vgl. RECTOR 1991, S. 97) Dieses Stufenschema wird von einem Schüler LEIBNIZ, CHRISTIAN WOLFF, weiterhin hierarchisiert, indem er die dunkle sowie die klare, aber verworrene Erkenntnis dem sinnlichen Wahrnehmungsvermögen zuordnet, hingegen die klare und deutliche Erkenntnisstufe dem logischen, rationalen Erkenntnisvermögen überordnet. WOLFF spricht infolgedessen wertend von einem sinnlichen unteren und einem rationalen oberen Seelenvermögen. Durch ALEXANDER GOTTLIEB BAUMGARTEN wird jedoch die sinnliche Wahrnehmung, das Erkennen der Wahrheit, mit der logischen, der Erkenntnis der Schönheit, auf eine Stufe gestellt. Aufgrund dieser Aufwertung der sinnlichen Erkenntnis durch BAUMGARTEN vollzieht sich im Verlaufe des 18. Jahrhunderts eine Neubewertung der symbolischen und der intuitiven Erkenntnis, indem die symbolische mit der logischen, die intuitive mit der sinnlichen verbunden wird. Somit wird die niedere sinnliche Erkenntnis zur intuitiven erhöht und dem göttlichen Genie nach der Theorie LEIBNIZ zugeschrieben. Als Theorie der Sinnlichkeit kann sich in der Aufklärung die Ästhetik zur Wissenschaft von Kunst und Kunstwahrnehmung entwickeln. Das 18. Jahrhundert betrachtet den Menschen insgesamt also von einer neuen Perspektive. „Für lange Zeit zum ersten mal steht […] der ganze Mensch zur Disposition – als untrennbare Einheit von Empfinden und Erkennen, Leib und Seele, Sinnlichkeit und Vernunft, Natur und Kultur, Determination und Freiheit.“ (KOŠENINA 2008, S. 10) Die hier genannten Oppositionen drücken zusammenfassend die Veränderungen und Diskrepanzen hinsichtlich des Menschenbildes im 18. Jahrhundert aus und widerspiegeln sich in verschiedenen Themenkreisen der aufgeklärten Literatur dieser Zeit. Menschheitsthemen wie Liebe, Sexualität, Traum, Verbrechen, Wahnsinn usw. erobern wie nie zuvor die Literatur, nicht nur als Motive, sondern auch als Erkenntnisfelder analytischer Neugierde, die auch Verfahren der Darstellung beeinflussen (vgl. KOŠENINA 2008, S. 8). Die wissenschaftlichen Erkenntnisse und sozialen Veränderungen des 18. Jahrhunderts beeinflussen den Inhalt der Literatur der Aufklärung – und folglich auch die des Sturm und Drang – somit maßgeblich und werden mit ihren Themenkreisen zu deren Gegenstand. 5. 3. 2 Entstehung des ‚Sturm und Drang‘ 16 Zwischen 1770 und 1780 entstehen Texte – unter ihnen Goethes Werther –, die das Ziel haben, anders als die Literatur der Aufklärung zu sein. Im Jahre 1776, als die Bewegung schon wieder langsam ausklingt, gibt Friedrich Maximilian Klinger ihr mit seinem Dramentitel den Namen: Sturm und Drang. Einer der führenden Literaturwissenschaftler in Bezug auf die Literatur des 17. Und 18. Jahrhunderts, MATHIAS LUSERKE (1997, S. 10ff.), definiert die Strömung folgendermaßen: „Sturm und Drang ist Literatur, die sich bewußt formal wie inhaltlich von den bewährten Mustern der aufgeklärten Literatur der 1760er Jahre absetzt, sich der Fortschreibung dieser Literatur verweigert. […] [Es handelt sich um] Literatur, die philosophisch, theologisch und ästhetisch im Geist der Aufklärung gebildet ist und diesen Geist kritisch gegen die eigene Gegenwart wendet. […] Sturm und Drang ist der erste Versuch, ein Mißlingen der Aufklärung zu denken, den Vollkommenheitsanspruch der Aufklärung mit den Unzulänglichkeiten der gesellschaftlich-historischen Wirklichkeit zu konfrontieren.“ Damit wird der Sturm und Drang zu einer Rebellion gegen die Vaterinstanz der Aufklärung. 5. 3. 3 Individualität im Sturm und Drang LUSERKE erklärt weiterhin, dass Sturm und Drang die Literatur ist, „welche die Entdeckung des Individuellen als authentisches Erlebnis beschreibt, sich über Rollenzuweisungen in Drama und Lyrik hinwegsetzt und das je eigene Erlebnis und die je eigene Pein zum Gegenstand der Beschreibung macht, […] die das freie Individuelle höher schätzt als die Pflichten des Subjekts und die der Literatur damit einen unvergleichlichen Individualisierungsschub verleiht und die Literatur als Medium der Ichfindung begreift.“ Sturm und Drang thematisiert folglich die Individualität, die im 18. Jahrhundert entdeckt bzw. erfunden wurde (vgl. JANNIDIS 1996, S. 43). WILLEMS (1995, S. 85) beschreibt die Ursache dafür: „Die thematisierten Probleme der völligen Individualisierung des Empfindens und Denkens, der Orientierungslosigkeit, des Selbstzweifels, der Einsamkeit des Ichs, der Erfahrung der Kontingenz aller positiven Ordnungen etc., können erst zum tragen kommen, wenn es keine für alle verbindliche Weltinterpretation, wie sie traditionell die Religion lieferte, mehr gibt und der einzelne aus einem einheitlichen Lebenskreis, der mehr oder weniger alle Aspekte seiner Person bestimmte, freigesetzt worden ist: Sie setzen den Zerfall der ständischen Ordnung und des entsprechenden religiösen Weltbildes voraus.“ 17 NIKLAS LUHMANN (1993, Vgl. S. 149 ff.) sieht im Begriff „Individualität“ ebenfalls eine Antwort auf Veränderungen der Gesellschaft und ihrer Struktur. Bis zum 18. Jahrhundert galt die Gattung als das Wesentliche, nicht das Individuum. Auf den Menschen bezogen besagt diese Anschauung, dass sich seine gesamte Bestimmung aus seiner Gattungszugehörigkeit ableitete. Alle Menschen haben prinzipiell dieselbe Bestimmung. Allerdings konnte hier auch nach der Standeszugehörigkeit differenziert werden, aber dann galten die Normen des Standes und nicht des Individuums. (Vgl. JANNIDIS 1996, S. 44) Wie bereits erwähnt war die Gesellschaft seit der Reformation und dem damit einhergehenden Verlust des aus Klerus, Adel und Bauern bestehenden mittelalterlichen Ständesystems einem langfristigen Anpassungsprozess ausgeliefert. LUHMANN (vgl. 1993, S. 156) bezeichnet dies als Umstellung eines Individuums von Inklusions- auf Exklusionsindividualität. Bei der Inklusion wird die Identität des Einzelnen durch seine Zugehörigkeit zu einem Teilsystem definiert. Das kann beispielsweise die Familie oder der Stand sein. Das Mittelalter mit seinem Ständesystem stellt somit ein Zeitalter der Inklusionsindividualität dar. In einer funktional differenzierten Gesellschaft hingegen „nimmt jede Person notwendigerweise an mehreren Subsystemen teil, sie kann gar nicht mehr nur einem System angehören. Da aber die Gesellschaft aus der Summe aller Teilsysteme besteht, gibt es für den Einzelnen keinen Platz innerhalb des Systems Gesellschaft. Das Individuum hat nur Platz außerhalb der Gesellschaft, kann nur noch durch Exklusion definiert werden. Es wird dadurch überhaupt die Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft möglich.“ (JANNIDIS 1996, S 49 f.) Mit dem Auflösen der mittelalterlichen Stände und dem Herausbilden des Bürgertums aus dem Dritten Stand muss sich der Einzelne seine Zugehörigkeit zu den Teilbereichen der Gesellschaft erarbeiten. „Beruflich/professionell kann er im Wirtschaftssystem, im Rechtssystem, im Erziehungssystem etc. engagiert sein. Aber er kann nicht in einem Funktionssysteme allein leben.“ (WILLEMS 1995, S. 89) Er ist nun nicht mehr automatisch und vollständig ein Teil eines Standes, sondern muss sich für verschiedene Subsysteme der Gesellschaft entscheiden. Das Individuum muss „als sozial ortlos vorausgesetzt werden.“ (LUHMANN 1983, S. 16) Identität wird somit zur Konzeptionsleistung des Einzelnen. Im Sturm und Drang kommt es zu einer Radikalisierung dieser Autonomie. Die Stürmer und Dränger selbst nannten sich „Genies“ oder noch lieber „Originalgenies“, und das hieß vor allem „genialisch leben“. (Vgl. HEIN 1991, S. 34) Beispielsweise schrieb KESTNER über GOETHE: „Er besitzt, was man Genie nennt[.] […] [E]r tut, was ihm einfällt, ohne sich darum 18 zu bekümmern, ob es anderen gefällt, ob es Mode ist, ob es die Lebensart erlaubt“ (vgl. SEEHAFER 2004, S. 105). Weitere zeitgenössische Bezeichnungen für die Strömung lauteten „junge Dichter“, „Goethe-Sekte“ oder „Originaldichter“ (vgl. LUSERKE 1997, S. 10). Das Wort „Genie“ wurde im Sturm und Drang jedoch noch nicht im Sinne des 19. Jahrhunderts als intellektuelle Hochbegabung verstanden, sondern eher im Sinne des antiken Genius, einer dem Menschen innewohnenden Kraft göttlichen Ursprungs. Das Hauptkennzeichen dieser Genies war Originalität. Man kleidete sich „englisch“, d. h. Frack, Weste, Stulpenstiefel – das Wertherkostüm also – und verschmähte die konventionelle zeitgenössische Mode. Man glaubte, das Genie habe keine Bildung nötig, sondern sei mit gottesgleicher Schöpferkraft ausgestattet. Damit einher geht die bereits erwähnte Aufwertung der Sinnlichkeit – die Erhöhung der sinnlichen Erkenntnis zum göttlichen Genie. Genialisches Verhalten äußerte sich in einem ständigen Gefühlsüberschwang, in brüderlichen Umarmungen, Freundschaftsfeiern und Verdammungsritualen gegen die literarischen Antigötter des Rokoko, vor allem WIELAND. (Vgl. HEIN 1991, S. 34 f.) Goethe führt in Dichtung und Wahrheit, 10. Buch, den Begriff des „Selbsthelfers“ ein, der den Protagonistentypus im Sturm und Drang beschreibt. „Selbsthelfern“ oder „Kraftgenies“ geht es um die Emanzipation der Leidenschaften; sie kritisieren so die gesellschaftlichen Bändigungszwänge der Aufklärung, die in Leidenschaften ein Fieber sieht, das die gesellschaftliche Ordnung bedrohen kann, wenn sie außer Kontrolle geraten. Selbsthelfer handeln selbstständig und tatkräftig (vgl. LUSERKE 1997, S. 10 f.). BERTRAM (2000, S. 17) beschreibt präzise, wie sich dieser Geniegedanke auf die Literatur des Sturm und Drang auswirkt: „Genie – Eine Figur sichert zuletzt die Identität dessen, was unter dem Titel ‚Sturm und Drang’ bis zum frühen Schiller hin getrieben wird. Ob Götz von Berlichingen, ob Prometheus, ob Shakespeare oder Karl von Moor: Immer gelten die Helden als Genies. Mit dem Genie einher geht die Konfrontation zwischen dessen Tatkraft und Streben nach Autonomie und Authentizität auf der einen Seite und einer Umgebung auf der anderen Seite, die als widerständig erfahren wird.“ Als „Genies“, „Kerls“, „Kraftgenies“ oder „Selbsthelfer“ gelten folglich alle Figuren, die den Protagonistentypus des Sturm und Drang repräsentieren. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die sozialgeschichtliche Entwicklung des 18. Jahrhunderts zur Entstehung von Individualität führt – oder genauer: Inklusionsindividualität wird zu Exklusionsindividualität. Diese Selbstbestimmung in der nun funktional differenzierten Gesellschaft wird von den Stürmern und Drängern radikalisiert. Freiheit und 19 Regellosigkeit werden zum Programm ihres autonomen, „genialischen“ Auftretens sowie ihrer Literatur. Die Literatur des Sturm und Drang fordert die Selbstbestimmung des Menschen nicht nur, sondern beschreibt sie literarisch und versucht, ihren gesellschaftlichen Standort jenseits der sozialen, ständisch-hierarchischen Zuweisungen zu finden (vgl. LUSERKE 1997, S. 12 f.) und scheitert schließlich daran. 5. 3. 4 Die Literatur des Sturm und Drang – Sprengen der literarischen Regeln Die Literatur des Sturm und Drang unterscheidet sich zum einen von der Literatur der Aufklärung, indem sie neben der Behandlung und Radikalisierung alter Themen (Liebe, Sexualität, Standesunterschiede, poetologische und ästhetische Fragen) politisch sensibilisiert neue Themen sucht: Kindsmord, Genieästhetik, Shakespeareianismus und Volkslieder. Damit werden in der Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit die Aspekte des Lebens und der Gesellschaft gesucht, gefunden und verarbeitet, die in der Gegenwart vermisst werden, weil die Aufklärung sie verweigert (vgl. LUSERKE 1997, S. 10). Zum anderen sind deutliche Unterschiede in Bezug auf die literarischen Gattungen und Formen erkennbar. Ein zentrales Merkmal der Literatur des Sturm und Drang ist die „Kunstautonomie“. Literatur sollte damit um ihrer selbst willen entstehen und rezipiert werden. Dabei muss sie frei von gesellschaftlichen Zwecken sein. Die didaktische Funktion, die der Literatur der Aufklärung anhaftete, wurde von den „Originaldichtern“ verpönt und verachtet. Nur ein Genie konnte dichten. Kunst galt als nicht lehr- und lernbar. Die Freiheit der Literatur von sozialen Absichten erlaubte es, die Totalität des Lebens darzustellen. Dazu gehört auch alles Schlechte in der Gesellschaft. Dadurch wird auch die Radikalisierung der ‚Aufwertung der Sinnlichkeit‘ der Aufklärung zur ‚Emanzipation der Leidenschaften‘ im Sturm und Drang verständlich. Die Stürmer und Dränger halten es für falsch, immer absolut vernunftsorientiert zu leben. Sie glauben, dass man geistig krank wird, wenn man das tut, und verleihen diesem Gedanken in vielen ihrer Werke Ausdruck. Die Totalität des Lebens zeigt sich dadurch, dass die Aufwertung des Gefühls bis ins Extrem getrieben wird, indem affektives Handeln, Triebhaftigkeit und sogar Mord als positiv in der Literatur dargestellt und gefeiert werden, weil sie die Spitze der Gefühlshandlung aufzeigen. Dieses Erlebnis des individuellen Gefühls zeigt sich in der Erlebnislyrik, die die Strömung hervor bringt, besonders aber insgesamt auch in der Sprache der Leidenschaft, die den Gefühlsausdruck 20 lebensnah demonstriert. Charakteristisch für diese Sprache sind zahlreiche Wiederholungen, Ausdruckshäufungen, Ellipsen und Steigerungen. Sie verleitet zu der Deutung, als sei sie unmittelbar aus dem Gefühlsüberschwang des Verfassers hervorgegangen (vgl. HERMES 1998, S. 42). Die Sprache der Leidenschaft ermöglicht ein deutliches Unterscheidungskriterium zu literarischen Gattungen der Aufklärung. Die im Sturm und Drang entstandene Form des Briefromans sowie die Dramen der „Goethe-Sekte“ zeichnen sich durch diese Sprache aus, die sich nicht selten auch in Kraftausdrücken und Vulgärsprache äußert. Für die Stürmer und Dränger bedeutet Immanuel Kants „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ somit das Sprengen der konventionellen Ordnung. Die etwa zwei Dutzend Texte, die die Bewegung hervorbrachte, beschränken sich im Wesentlichen auf vier junge Autoren: JOHANN WOLFGANG GOETHE, FRIEDRICH SCHILLER, JAKOB MICHAEL REINHOLD LENZ und FRIEDRICH MAXIMILIAN KLINGER. 5. 3. 4 Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werther Im Folgenden soll GOETHES Briefroman Die Leiden des jungen Werther, den ich als Textbeispiel für meine Blockstunde ‚Literatur des Sturm und Drang‘ verwendete, im Kontext der Zeit der Aufklärung und den Hintergründen des Sturm und Dranges analysiert werden, um die Blockstunde auf einer tiefgründigen Sachanalyse im anschließender didaktischer Reduktion aufbauen zu können. Dabei möchte ich zunächst kurz auf den Inhalt des Werkes eingehen und danach eine Deutung unter sozialgeschichtlichen Aspekten und im Sinne der literarischen Anthropologie – die sich unter Berücksichtigung der in der Aufklärung gewonnen Erkenntnisse hinsichtlich der Psychologie sehr anbietet – vorschlagen. 5. 3. 4. 1 Inhalt „Ach, wenn ich dann noch im Taumel des Schlafes nach ihr tappe und darüber mich ermuntere – ein Strom von Tränen bricht aus meinem gepressten Herzen, und ich weine trostlos einer finstern Zukunft entgegen.“ (S. 45) 21 Diese Aussage Werthers als eine von vielen, in der die Titelfigur in JOHANN WOLFGANG GOETHES Briefroman Die Leiden des jungen Werther in seinen Episteln sein ihm unvermeidliches, düsteres Schicksal ankündigt, weist treffend auf den Gegenstand des Werkes hin: die hoffnungslose Liebe eines jungen Mannes zu einer bereits versprochenen Frau. Der junge Werther, der seine Mutter verlassen hat, um für sie eine Erbschaftsangelegenheit zu regeln, lernt in seiner neuen Umgebung Lotte, die Tochter des Amtsmannes sowie Verlobte und spätere Frau des Vernunftsmenschen Albert, kennen und verliebt sich in sie. Obwohl die beiden eine sehr innige Freundschaft und sogar eine Art Seelenverwandtschaft verbindet, begreift Werther bald, dass seine Liebe hoffnungslos und eine gemeinsame Zukunft mit Lotte unmöglich ist. Über einen Zeitraum von etwa eineinhalb Jahren entwickelt sich Lotte mehr und mehr zum einzigen Lebensinhalt Werthers, ohne den er glaubt, nicht glücklich sein zu können. In seiner wachsenden Unfähigkeit rational zu handeln ist sein Leben zunehmend von Emotionen und Affekten geprägt. All dies teilt er in Briefen seinem Freund Wilhelm mit. Werthers Zustand führt über Hoffnungslosigkeit und Depression schließlich zum Suizid. 5. 3. 4. 2 Deutung Obwohl in der traditionellen Werther-Forschung sozialgeschichtliche Aspekte wie das Streben nach absoluter Autonomie, der Wunsch nach Selbstverwirklichung und das Leiden an der aufgeklärten Gesellschaft als Deutungsansätze favorisiert werden und Werther im Brennpunkt dieser dominanten, gesellschaftskritischen Interpretation als Repräsentant einer progressiven Bourgeoisie steht (vgl. JÄGER 1984, S. 11 ff.) und somit nicht krank, am wenigsten geisteskrank sein darf, ja eine Deutung des Werther als Krankengeschichte diesem Protest die Spitze abbräche (vgl. BLESSIN 1992, S. 52), bezog ich mich in meiner Blockstunde ‚Literatur des Sturm und Drang‘ auch auf Aspekte einer Deutung im Sinne der literarischen Anthropologie und unternahm den Versuch, beide Ansätze zu vereinen: Werther strebt nach Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung und leidet an dem sozialen Gefüge, das seine Forderungen nicht toleriert, was zu einer stetig wachsenden Störung seiner von Kindheit an krankhaften Psyche führt, einer „Historiam morbi“ (vgl. GRÄF 1919, S. 283 f.). Werthers Geistesstörung ist Teil seiner Individualität und erstreckt sich über den gesamten Text. Die 22 psychische Störung wird im Verlauf der Handlung mehr und mehr durch die Bändigungszwänge der Gesellschaft verstärkt. Sein Streben nach Selbstbestimmung – gekoppelt mit einer krankhaften Psyche – führt zum Leiden an der Gesellschaft und verwandelt die Geistesstörung Werthers in eine „Krankheit zum Tode“ (S. 40), die im Selbstmord der Titelfigur gipfelt. Zunächst wird die Individualität des Werther im Fokus des Interesses dieser Deutung stehen. Dabei soll zuerst eine allgemeine Vorstellung der Titelfigur erfolgen und danach seine Leidens- und Krankheitsgeschichte im Zentrum der Analyse sein. Die ersten beiden Briefe Werthers an Wilhelm (S. 5 ff.) geben uns eine umfangreiche Charakterisierung der Titelfigur. Der Leser erfährt, dass Werther Heimat und Mutter verlassen hat, um für sie eine Erbschaftsangelegenheit zu regeln. Werther deutet eine unglückliche (Liebes-)Situation aus der Vergangenheit mit einem Mädchen namens Leonore und deren Schwester an, von der Wilhelm Kenntnis zu haben scheint, und lässt den Leser so schon auf seine zukünftige Dreiecksbeziehung mit Lotte und Albert schließen. Weiterhin kann man in diesen ersten Briefen seine Naturverbundenheit erkennen – seine Leidenschaft für die „unaussprechliche Schönheit der Natur“ (S. 6), was sich in einer detaillierten Schilderung derselben zeigt. Bevor Lotte zum Inbegriff seines Lebens wird, fühlt sich Werther in die Natur gezogen. Dabei zeigt er sich äußerst leidenschaftlich und emotional und beschreibt seine Empfindungen über die wunderbare „Gegend, die für solche Seelen geschaffen ist wie die [s]eine“ und die er „mit ganzem Herzen genieß[t]“ (S. 6). Allein das Wort „Herz“ findet sich neunmal in diesen zwei Briefen, dazu zahlreiche sinnverwandte Worte zum Ausdruck seiner Emotionen und Leidenschaft. Die Stadt hingegen ist ihm „unangenehm“ und er flieht sie, sooft er kann. BLESSIN (1992, S. 33) deutet dies als Flucht Werthers vor seiner Gesellschaft: „Der Ausflug in die freie Natur kehrt nicht nur der engen und lauten Stadt den Rücken, sondern der Gesellschaft und den menschlichen Verwicklungen überhaupt.“ Werther beschreibt in diesen Briefen seine wohltuenden Emotionen, die er genießt, wenn er sich in die Natur begibt. In der weiteren Entwicklung Werthers wird die Natur zum Spiegel seiner schwankenden Emotionen. Er erlebt sie, „indem er sie ganz aus seiner eignen Empfindungsfülle heraus beseelt. In schwärmerisch-expansiver Stimmung nimmt er die Natur in ihrer zeugerischen 23 Kraft und Schönheit wahr. […] In chaotisch-verzweifelter Verfassung scheint ihm die Natur ein alles verschlingendes Ungeheuer zu sein. […] So ist die Natur durchgehend nur ein Spiegel der Subjektivität.“ (SCHMID 1988, S. 328) Was Werther fühlt, spiegelt sich in der Natur wider. Die Titelfigur wird dem Leser somit von Anfang an als ein sehr sinnlicher, leidenschaftlicher, emotionaler junger Mann vorgestellt. Werther liebt Malerei und Dichtkunst und ist zudem akademisch ausgebildet. Seine Leidenschaft, sein intensives Genießen der neuen Umgebung, führen jedoch dazu, dass „[s]eine Kunst darunter leidet.“ (S. 6) Ein wesentliches Element des Geniebegriffs tritt also in den Hintergrund: die Kreativität. (Vgl. SCHMID 1988, S. 325) Und in seinem Brief vom 13. Mai schreibt er: „Du fragst, ob du mir meine Bücher schicken sollst? – Lieber, ich bitte dich um Gottes willen, lass sie mir vom Halse!“ (S. 7) Obwohl Werther zum Bildungsbürgertum gehört, umgibt er sich lieber mit einfachen Menschen. So freundet er sich schon nach wenigen Tagen in seiner neuen Umgebung mit einem Gärtner an, in dessen Garten er sich oft freudevollem Weinen hingibt. (Vgl. S. 6) Auch Kinder gehören zum täglichen Umgang Werthers: „Die geringen Leute des Ortes kennen mich schon und lieben mich, besonders die Kinder.“ (S. 8) So lernt er auch die ihm recht ähnliche, natürliche, empfindungsfähige Lotte kennen: in der Rolle der Ersatzmutter, die das Brot unter den Kindern verteilt, als Werther sie zum Tanz abholen möchte. Nachdem er Lotte kennen gelernt hat, ist sein Lebensgefühl mehr denn je beflügelt: „Noch nie war ich glücklicher, noch nie war meine Empfindung an der Natur, bis aufs Steinchen, aufs Gräschen herunter, voller und inniger“ (S. 34). Von nun an verbringt Werther nahezu jeden Tag mit ihr; er lernt sie kennen und lieben. Seine leidenschaftliche Liebe führt bald zu emotionaler Abhängigkeit: „Ich habe mir schon manchmal vorgenommen, sie nicht so oft zu sehn. Ja, wer das halten könnte! Alle Tage unterlieg ich der Versuchung und verspreche mir heilig: morgen willst du einmal wegbleiben. Und wenn der Morgen kommt, finde ich doch wieder eine unwiderstehliche Ursache, und ehe ich mich’s versehe, bin ich bei ihr.“ (S. 34) Lotte wird schließlich zum einzigen Lebensinhalt Werthers. Sie ist sich dieser Tatsache bewusst: „Werther, […] mäßigen Sie sich. Oh, warum mussten Sie mit dieser Heftigkeit, dieser unbezwinglich haftenden Leidenschaft für alles, was Sie einmal anfassen, geboren werden!“ (S. 88) Als transpsychologisch konzipierte Figur ist auch Werther sich dieses Abhängigkeitsverhältnisses vollkommen bewusst. Als Albert in sein Leben tritt, berichtet er seinem Freund Wilhelm: „Er hält mich für einen Menschen von Sinn; und meine 24 Abhängigkeit an Lotten, meine warme Freude, die ich an allen ihren Handlungen habe, vermehrt seinen Triumph und er liebt sie nur desto mehr.“ (S. 35) Mit der Ankunft Alberts ändert sich das Glücksempfinden Werthers, das er bisher in der Zweisamkeit mit Lotte genossen hat. Von diesem Zeitpunkt an verstärkt sich die Leidenschaft Werthers zu einer Art „emotionalem Extremismus“: Er ist glücklich, wenn er allein mit Lotte ist, und eifersüchtig, verzweifelt und depressiv, wenn er sich die Hoffnungslosigkeit seiner Liebe vor Augen hält. Seine Sinnlichkeit, seine Leidenschaft, hat sich zum „Leiden des jungen Werther“ entwickelt. Die Individualität Werthers zeigt sich in seinem Rückzug aus der Gesellschaft. Von Anfang an zieht er sich lieber in die Natur zurück anstatt sich der Geselligkeit der Stadt hinzugeben, die der Entfaltung seiner Individualität im Wege stünde, was sich beispielsweise in der vornehmen Gesellschaft des Grafen zeigt (vgl. S. 57 ff). Seine außergewöhnliche Sinnlichkeit sowie seine aktiv gelebte Forderung der Emanzipation der Leidenschaften sind herausstechende Merkmale seiner Individualität. Seine von Lotte so trefflich formulierte angeborene „Leidenschaft für alles, was [er] einmal anfass[t]“ (S. 88), hat sich nicht erst seit ihrer Bekanntschaft entwickelt, sondern ist sein Leben lang Teil seiner Persönlichkeit. In einem der ersten Briefe an seinen Freund Wilhelm belegt dies Werther selbst: „Lieber! Brauch ich dir das zu sagen, der du so oft die Last getragen hast, mich vom Kummer zur Ausschweifung und von süßer Melancholie zur verderblichen Leidenschaft übergehn zu sehn. Auch halt ich mein Herzchen wie ein krankes Kind, jeder Wille wird ihm gestattet.“ (S. 8) Allein das intim-freundliche Verhältnis zu Lotte und die Dreiecksbeziehung mit Lotte und ihrem Mann Albert zeigen bereits die individuelle Stellung des jungen Werther außerhalb der gesellschaftlichen Konventionen. Seine subjektive Sicht, die dem Leser in seinen Briefen an Albert offenbart wird, zeugt von einer hochgradig irrationalen, überemotionalen und sogar krankhaften Psyche der Titelfigur. Auch Werthers Geisteskrankheit ist Teil seiner Individualität und Psyche. GOETHE selbst deutet an, dass der Werther als Psychopathografie zu deuten sei, als er den Roman als „Historiam morbi“ – eine zum Tod führende Krankengeschichte – bezeichnet (vgl. GRÄF 1919, S. 283 f.) und erklärt, „daß Werthers Jugendblüte schon von vorn herein als vom tödlichen Wurm gestochen erscheine“ (GOETHE 1887 ff., I. Abt., Bd. 28, S. 229). Werthers 25 Geisteskrankheit entwickelt sich folglich nicht erst in seinem Unvermögen sich in Bezug auf Lotte rational zu verhalten. KOŠENINA (2008, S. 76) findet die Anzeichen der Geistesstörung Werthers schon auf den ersten Seiten des Romans: „Goethe bietet [zahlreiche] Details, die den Briefempfänger viel früher hätten alarmieren müssen und die den Leser in die Rolle eines verständigen Arztes rücken. Werthers Anamnese beginnt schon mit den ersten Briefen, noch vor der Bekanntschaft mit Lotte: die unglückliche Vorgeschichte mit Leonore, das bedrängte Herz, die Flucht in die Natur, der Ekel vor Büchern, Gefühle der Eingeschränktheit und [des] Unverstanden-Seins – all das gehört zu den Facetten dieses schwierigen Charakters.“ Nach dem Eintritt Alberts in Werthers Leben und besonders nach dem Selbstmordgespräch im Brief vom 12. August (vgl. S. 38 ff.) werden die hypochondrischen Züge Werthers immer deutlicher: Er kennt Zeiten, „wo er [sich] eine Kugel vor den Kopf schießen möchte“ (S. 32); er spürt, wie sein „Leben unter einer schleichenden Krankheit unaufhaltsam allmählich abstirbt“ (S. 36); er visioniert den „Abgrund des ewig offenen Grabes“ (S. 44); er glaubt plötzlich „keine Vorstellungskraft, kein Gefühl an der Natur“ mehr zu haben (S. 45); er sieht dieses Elendes kein Ende als das Grab“ (S. 47); er berichtet, er „habe hundertmal ein Messer ergriffen, um diesem gedrängten Herzen Luft zu machen“ und „möchte [sich oft] eine Ader öffnen, die [ihm] die ewige Freiheit schaffte“ (S. 60); er „möchte [sich] oft die Brust zerreißen und das Gehirn einstoßen“ (S. 72) und legt sich „oft zu Bette mit dem Wunsche, ja manchmal mit der Hoffnung, nicht wieder zu erwachen“ (S. 73); er glaubt, er „habe verloren, was [s]eines Lebens einzige Wonne war (S. 73) und erkennt, dass „[s]ein ganzes Wesen zwischen Sein und Nichtsein zittert“ (S. 74). Schließlich gipfelt Werthers psychische Entwicklung in seinem Brief vom 20. Dezember in dem vierfach wiederholten Bekenntnis: „Es ist beschlossen, Lotte, ich will sterben“ (S. 89 f.). Diese Aufzählung offensichtlichster Hinweise – im Text finden sich noch zahlreiche weitere Belege, einschließlich dreier kleiner Binnengeschichten, die das Schicksal Werthers repräsentieren (vgl. KOŠENINA 2008, S. 76) – zeigt die Selbstmordgedanken Werthers, die sich über das gesamte Werk ausbreiten und sich gegen Ende immer weiter verdichten. Die psychische Entwicklung Werthers wird von ihm persönlich im Selbstmordgespräch mit Albert angedeutet und vorausgesagt: „Du gibst mir zu, wir nennen das eine Krankheit zum Tode, wodurch die Natur so angegriffen wird, dass teils ihre Kräfte verzehrt, teils so außer Wirkung gesetzt werden, dass sie sich nicht wieder aufzuhelfen, durch keine glückliche 26 Revolution den gewöhnlichen Umlauf des Lebens wieder herzustellen fähig ist […] bis endlich eine wachsende Leidenschaft ihn aller ruhigen Sinneskraft beraubt und ihn zugrunde richtet.“ (S. 40 f.) Am Beispiel einer unglücklichen Liebe kommt er zu dem Schluss: „Die Natur findet keinen Ausweg aus dem Labyrinthe der verworrenen und widersprechenden Kräfte und der Mensch muss sterben.“ (S. 42) Diese Entwicklung zeigt sich immer klarer in Werthers Psyche über den Verlauf der Handlung. Seine „Natur [wird] so angegriffen […], dass teils ihre Kräfte verzehrt, teils so außer Wirkung gesetzt werden, dass sie sich nicht wieder aufzuhelfen […] fähig ist“ (S. 40 f.). Werther selbst sagt über sich: „Und dies Herz ist jetzt tot, aus ihm fließen keine Entzückungen mehr, […] die heilige belebende Kraft, mit der ich Welten um mich schuf; sie ist dahin!“ (S. 73) Werthers Leidenschaft ist also zum Leiden geworden. Er stellt ein leidendes Subjekt der Aufklärung dar, dessen Individualität außerhalb des sozialen Gefüges und die dadurch verstärkten Symptome seiner psychischen Krankheit repräsentativ für die Auswirkungen der Bändigungszwänge der Gesellschaft stehen. Seine geforderte Emanzipation der Leidenschaften scheitert. Zusammenfassend deutet SCHMID (1988, S. 326) Werthers Scheitern – jedoch ohne Berücksichtigung seiner Geisteskrankheit – wie folgt: „Werthers Verhängnis ist die Verabsolutierung der Subjektivität. Als melancholischer Narziß kultiviert er nur die eigene Innerlichkeit. So gerät er in die Verneinung aller gesellschaftlichen Formen und Normen, in ein asoziales Verhalten, das nur noch sentimentalische Annäherungen an andere Menschen zuläßt. Der erste Satz des Werkes ‚Wie froh bin ich, daß ich weg bin!’ ist symptomatisch für das Ganze. Am Anfang geht Werther weg aus der Welt der bürgerlichen Gesellschaft, ihrer Geschäfte und Komplikationen, aber auch aus ihren Ordnungen und Gesetzen. Am Ende geht er überhaupt aus der Welt hinaus, in den Tod.“ 5. 3. 5 Fazit Das 18. Jahrhundert betrachtet den Menschen von einer neuen Perspektive. Es ist das Zeitalter der „Neubestimmung des Menschen als Mensch“. Die Veränderungen und Erkenntnisse der Aufklärungsepoche bringen neue Betrachtungsweisen hinsichtlich von Individualität hervor. 27 Individualität ist in dieser Zeit das Ergebnis eines grundlegenden Wandels in der Gesellschaftsstruktur. Das Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft ändert sich von Inklusionsindividualität zu Exklusionsindividualität. JANNIDIS (vgl. 1996, S. 59) zeigt, dass diese gesellschaftsstrukturellen Veränderungen sich in enger Wechselwirkung mit semantischen Evolutionen ereignen. Eine Individualitätssemantik, die den Einzelnen über Stand, Familie, Geschlecht usw. beschreibt, wird abgelöst von einer Semantik, die die Einmaligkeit des Individuums zu ihrem Mittelpunkt hat. Diese Wandlung verläuft als langfristiger Prozess in Europa über mehrere Jahrhunderte und ist am Ende des 18. Jahrhunderts so weit fortgeschritten, dass er kaum mehr umkehrbar ist. Immer mehr Individuen machen Erfahrungen der Vereinzelung und Kontingenz und deuten diese mittels der neuen Individualitätssemantik. Die Autoren des Sturm und Drang – unter ihnen GOETHE – verarbeiten diese Individualitätsproblematik in ihrer Literatur: GOETHES Briefroman Die Leiden des jungen Werther thematisiert ein Individuum der aufgeklärten, funktional differenzierten Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Werther ist in verschiedenen Teilbereichen der Gesellschaft aktiv, die er sich selbst gewählt hat, z. B. als Künstler und Akademiker. Werther strebt als „Genie“ des Sturm und Drang nach absoluter Autonomie und der Emanzipation seiner Leidenschaften; er handelt gemäß seiner Emotionen und Affekte stets tatkräftig und bringt sich so in eine Position der Exklusionsindividualität – ein Platz außerhalb der Gesellschaft. Ein wichtiger Aspekt der Individualität Werthers ist sein geistiger Zustand: Er ist psychisch krank. Dies wird anhand einer Vielzahl von Textbelegen im Briefroman deutlich. Seine Geisteskrankheit wirkt sich auf das Handeln des Protagonisten aus und verstärkt sein Leiden an der aufgeklärten Gesellschaft. Die Verabsolutierung seiner Subjektivität, die sich in einer zunehmenden Betonung der Sinnlichkeit äußert und durch die Geisteskrankheit Werthers verstärkt wird, führt zu Minderwertigkeitsgefühlen, Hoffnungslosigkeit, Depression, Verzweiflung, Todessehnsucht und schließlich Suizid. Werther stellt ein leidendes Subjekt der Aufklärung dar, dessen Individualität außerhalb des sozialen Gefüges und psychische Krankheit repräsentativ für die Auswirkungen der Bändigungszwänge der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts stehen. Sein Drang nach individueller Freiheit wird zurückgewiesen und führt letztendlich zu Selbstzerstörung. Sein 28 Scheitern verdeutlicht die Grenzen des Sturm und Drang: Außerhalb der Gesellschaft Stehende werden abgelehnt und als krank bezeichnet; abweichendes Verhalten wird nicht geduldet. 5.4 Didaktische Reflexion In den anschließenden Ausarbeitungen möchte ich meine Blockstunde ‚Literatur des Sturm und Drang‘ unter didaktischen Aspekten analysieren und vorstellen. 5. 4. 1 Begründung der Themenauswahl Im Zentrum der Blockstunde steht die literarische Strömung des ‚Strum und Drang‘ mit dem Textbeispiel Die Leiden des jungen Werther. Wie bereits ausführlich unter 4. 1 (Einordnung der Stoffeinheit in den Lehrplan) und 5. 2 (Unterrichtszusammenhang) dargestellt, handelt es sich in dieser Blockstunde um die vierte von neun Unterrichtseinheiten zum Thema Literaturgeschichte. Aufgrund der Vorgaben des Lehrplans (vgl. SÄCHSISCHER LEHRPLAN GYMNASIUM DEUTSCH 2004/2009, S. 49) empfiehlt es sich, die vorgesehenen 25 Unterrichtsstunden des ‚Lernbereichs 1‘ in Doppelstunden für die einzelnen zu behandelnden Literaturepochen (Mittelalter, Barock, Aufklärung, Sturm und Drang, Weimarer Klassik, Romantik, Realismus des 19. Jahrhunderts, Literatur der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert und Expressionismus) chronologisch anzulegen. Dadurch sollen die Schüler einen Gesamtüberblick über die Entwicklung von Geistes- und Sozialgeschichte bekommen, der ihnen ein tiefgründigeres Verstehen über die Literatur als Spiegel der Gesellschaft ihrer Zeit ermöglicht. Das Thema ‚Literatur des Sturm und Drang‘ kann zudem damit begründet werden, dass es auf das Vorwissen der Vorstunden über die Aufklärung aufbaut, da deren Gesellschaft und Literatur entscheidend zur Entstehung und Entwicklung der „Goethe-Sekte“ beitrug – und diese überhaupt erst möglich machte. Als Beispieltext muss im Kontext der Sozial- und Literaturgeschichte zweifellos ein charakteristischer Text der Strömung dienen. Aus entwicklungspsychologischer Sicht 29 befinden sich die Schülerinnen und Schüler des Kurses in der Phase der späten Adoleszenz, in der die Entwicklung der eigenen Identität durch die Auseinandersetzung mit bedeutsamen Wertvorstellungen unserer Gesellschaft erreicht wird (vgl. OERTER/MONTADA 2002, S. 270 f.). GOETHES Briefroman Die Leiden des jungen Werther erweist sich als effektives Medium, um den Schülern die Gelegenheit zu geben, die Wertvorstellungen der Aufklärung und die Radikalisierungen des Sturm und Drang im Vergleich mit der heutigen Gesellschaft, in der sie selbst leben und aufgewachsen sind, zu reflektieren und eigene Schlüsse zu ziehen. Weiterhin stellen das zentrale Thema des Werkes – die Liebe – sowie Werthers Forderungen nach ungebändigter Sexualität und einer Partnerschaft frei von gesellschaftlichen Zwängen ein Problem bzw. einen Gegenstand dar, der in der Gegenwart an Relevanz nicht verloren hat und mit dem sich die Lernenden in ihrem eigenen Entdecken von Liebe und Sexualität sowie ihren persönlichen Erfahrungen in diesem Bereich identifizieren können. Diese Grundlagen sollten ein Interesse der Schülerinnen und Schüler am Text bewirken. Weiterhin stellt der Sturm und Drang die erste literarische Jugendbewegung dar, was zusätzliches Identifizieren, Reflektieren und Interesse unter Berücksichtigung der Gründe für die Entstehung der Strömung fördert. 5. 4. 3 Didaktische Reduktion Im Sinne einer didaktischen Reduktion muss eine Auswahl von Aspekten getroffen werden, die in dem begrenzten Rahmen dieser Unterrichtseinheit im Gesamtkontext der Literaturgeschichte übermittelt werden sollen. Zu Beginn soll die Bewegung des Sturm und Drang hinsichtlich ihrer Entstehung während der Aufklärung kurz umrissen werden und die wichtigsten Fakten über die Strömung, ihre zeitliche Abgrenzung, ihren heutigen Titel und die zeitgenössische Bezeichnungen sowie den Geniebegriff der „Originaldichter“ behandelt werden. In diesem Zusammenhang müssen auch Grundzüge der sozialen Umbrüche in Bezug auf das Menschenbild in der Aufklärung wiederholt werden, allerdings nicht in zu tiefgründiger Art und Weise, um den Fokus auf der Entwicklung des Sturm und Drang und seiner Literatur zu halten. Anschließend sollen deutliche Merkmale der Literatur des Sturm und Drang für eine klare Abgrenzung von der Literatur der Aufklärung sorgen. Dabei müssen Charakteristika ausgewählt werden, die zum einen die Fortführung bestimmter Elemente der Aufklärung in radikalisierter Form aufzeigen und sich auf diese Weise von der Aufklärung abgrenzen, und zum anderen literarische Besonderheiten in Betracht gezogen werden, die sich grundsätzlich von den literarischen 30 Konventionen der Aufklärung unterscheiden. Diese Merkmale lassen sich unter den Überschriften „Emotionalität“, „Individualität“ und „Sprengen der literarischen Regeln“ zusammenfassen. Ein derartig gegliedertes Tafelbild oder eine Folie sind dafür förderlich. Danach werden einige Autoren der Epoche genannt (JOHANN WOLFGANG GOETHE, FRIEDRICH SCHILLER, JAKOB MICHAEL REINHOLD LENZ und FRIEDRICH MAXIMILIAN KLINGER), um in Anschluss daran einen dieser Autoren, den jungen GOETHE, etwas näher zu beleuchten. GOETHE soll kurz mit einigen Fakten aus seiner Jugendzeit im Zusammenhang mit seinem Jugendroman Die Leiden des jungen Werther und vor allem der „Goethesekte“ charakterisiert werden. Nach einer Gesamtzusammenfassung des Werther im Kontext des Sturm und Drang soll der Briefroman als Beispieltext in Form einer Auswahl an Briefen behandelt werden, um die Merkmale der Literatur des Sturm und Drang explizit zu veranschaulichen. Dabei bietet sich ein Briefvergleich mit einem der ersten und einem der letzten Briefe Werthers an, denn so können seine Empfindungen in der Natur und seine psychische Verfassung in Bezug auf seine Krankheitsgeschichte, die Sprache der Leidenschaft sowie seine Emanzipation der Leidenschaften untersucht werden. Dazu eignen sich besonders gut der Brief vom 10. Mai im Vergleich mit einem Auszug der Briefe vom 12. und 20. Dezember des Folgejahres. 5. 4. 4 Lernziele Die Schülerinnen und Schüler sollen die Strömung des Sturm und Drangs im Kontext der Aufklärung kennen und verstehen. Im Einzelnen sollen sie in der Lage sein, sowohl die Bewegung als auch ihre Literatur von der zeitgleich verlaufenden literarischen Epoche der Aufklärung abzugrenzen sowie Kenntnis davon haben, inwiefern der Sturm und Drang sich gegen die Aufklärung wendet. Sie sollen die sozialgeschichtlichen Veränderungen in Grundzügen benennen können, die zur Entstehung des Sturm und Drang geführt haben. Weiterhin sollen die Lernenden die Entstehung und Entwicklung von Individualität in der Zeit kennen und ihre Bedeutung für die Literatur der Strömung. Schließlich sollen die Schülerinnen und Schüler die Merkmale der Literatur des Sturm und Drang sowie drei typische Autoren benennen können. 31 5. 5 Methodische Reflexion und Verlaufsplanung Zu Beginn der Blockstunde ‚Literatur des Sturm und Drang‘ soll eine Zusammenfassung des letzten Stundenthemas (‚Literatur der Aufklärung‘) erfolgen. Das ist notwendig, da die Auffrischung dieses Wissens dazu beiträgt, die Strömung des Sturm und Drang besser zu verstehen. Als Motivation für die erste Hälfte der Blockstunde soll daher das Interesse der Schüler mit Hilfe der ‚Folie 1‘ geweckt werden, die einen Penisring im Kontext der Sexualforschung aus der Zeit der Aufklärung darstellt und das Thema ‚Sexuelle Befreiung im 18. Jahrhundert‘, das ausführlich in der Vorstunde erarbeitet wurde, in Erinnerung zurückruft. Ausgehend von diesem Gesichtspunkt sollen in einem gelenkten Unterrichtsgespräch anhand der ‚Folie 2‘, die einen Gesamtüberblick über die Aufklärung und ihre Literatur beinhaltet, auch die weiteren Aspekte der „Befreiung“ durch die Aufklärung wiederholt werden: geistige, emotionale und künstlerische Befreiung. Das gelenkte Unterrichtsgespräch wird fortgeführt, indem an die künstlerische Befreiung angeknüpft und die Merkmale der Literatur der Aufklärung aufgefrischt werden soll. Diese Wiederholung mündet in den Vergleich der Hausaufgabe. Die Lernenden hatten die Aufgabe, die Fabel Der Wolf und das Schaf von GOTTHOLD EPHRAIM LESSING im Lehrbuch (vgl. METTENLEITER, PETER et al. 2003, S. 162) zu lesen und zu beweisen, dass sie zur Literatur der Aufklärung gehört. Diese erste Phase des Unterrichts wird etwa 15 Minuten in Anspruch nehmen. Im Anschluss an die Wiederholung der Aufklärung wird mit dem Fixieren des Stundenthemas an der Tafel der Fokus zum Ziel der Unterrichtsstunde orientiert: die Strömung des Sturm und Drang als erste literarische Jugendbewegung. Als erstes soll nun der Titel Sturm und Drang in das Zentrum des Interesses rücken und anhand der bekannten Bedeutungsübertragung auf Pubertäts- und Rebellionsverhalten gegen die Eltern diskutiert werden, sodass die Schüler verstehen, dass genau das im Sturm und Drang geschah – eine Auflehnung gegen die Vaterinstanz der Aufklärung. Nach diesem kurzen Umlenken der Aufmerksamkeit zum Stundenthema hin werden nun in Form eines Lehrervortrags die wichtigsten Fakten über die Bewegung des Sturm und Drang und seiner Literatur mit Rückbezug zur Aufklärung dargeboten. Die Schülerinnen und Schüler werden gebeten, dass sie selbstständig mitschreiben, was durch die ‚Folie 3‘, die eine Gliederung des Lehrervortrags beinhaltet und als Orientierungsmuster dient, erleichtert werden soll. Die ‚Folie 4‘, die ein Bild des jungen Werther zeigt, wird ebenfalls während des Vortrags verwendet. Die Lernenden können dabei jederzeit unterbrechen und Fragen stellen, wenn sie etwas nicht verstanden haben. Der Lehrervortrag erweist sich im Rahmen der 32 Knappheit der Zeit für diese umfangreiche, komplexe und relativ komplizierte literarische Epoche als effektiv. Der Vortrag nimmt etwa 15 Minuten in Anspruch. Im Anschluss an den Lehrervortrag sollen die letzten zehn Minuten der ersten Hälfte der Blockstunde zur Beseitigung von Unklarheiten und für eine gemeinsame Wiederholung der Inhalte genutzt werden. Der zweite Teil der Blockstunde beginnt nach einer zehnminütigen Pause. Diese Stunde wird sich mit der Anwendung der erarbeiteten Inhalte über den Sturm und Drang beschäftigen. Dabei soll GOETHES Die Leiden des jungen Werther als Beispieltext dienen. Als Einstieg bzw. Motivation wird den Schülern das Lied Alles aus Liebe von den TOTEN HOSEN vorgespielt, in dem sich jemand aus Liebe und Eifersucht das Leben nimmt. Dieses Lied soll die Schülerinnen und Schüler auf den Werther einstimmen. Da die meisten der Lernenden das Werk bereits kennen, soll eine gemeinsame inhaltliche Erarbeitung des Briefromans in Form eines gelenkten Unterrichtsgespräches erfolgen. Diese Erarbeitungsphase soll etwa zehn Minuten dauern und ein Grundlage für die Schülerinnen und Schüler schaffen, um am Text arbeiten zu können. Anschließend bekommen die Lernenden ein Arbeitsblatt mit Textstellen bzw. Briefen Werthers vom Beginn und vom Ende des Briefromans. Sie sollen die Texte lesen und alles, was sie in der Stunde über den Sturm und Drang gelernt haben, in einer inhaltlichen und formalen Analyse zur Anwendung bringen. Dafür haben die Schülerinnen und Schüler 15 Minuten Zeit. Den Abschluss der Blockstunde stellt ein gelenktes Unterrichtsgespräch dar, in dem die Ergebnisse der Lerngruppe präsentiert und verglichen werden. Diese Phase ist gleichzeitig Ergebnissicherung und Gesamtzusammenfassung über den Sturm und Drang und erstreckt sich über zehn Minuten. Abschließend wird die Blockstunde mit einigen zusammenfassenden Bemerkungen des Lehrers und der Aufforderung, alles noch einmal zur nächsten Stunde durchzulesen, beendet. Detailliertere Informationen über die Blockstunde ‚Literatur des Sturm und Drang‘ können dem Verlaufsplan und den Materialien in 5. 6 entnommen werden. 33 5. 6 Literaturverzeichnis und Anlage der Unterrichtsmaterialien Als Literatur und Arbeitsmaterialien für die Blockstunde benutzte ich ausschließlich die folgenden Quellen und Ausarbeitungen. 5. 6. 1 Literaturverzeichnis Primärliteratur GOETHE, JOHANN WOLFGANG: Die Leiden des jungen Werther, In: Hamburger Lesehefte, Bd. 115, Husum/Nordsee 2000. Sekundärliteratur BERTRAM, GEORG W.: Philosophie des Sturm und Drang. Eine Konstitution der Moderne, München 2000. BLESSIN, STEFAN: Grundlagen und Gedanken zum Verständnis erzählender Literatur. JOHANN WOLFGANG GOETHE: Die Leiden des jungen Werther, Frankfurt a. M. 1992. GOETHE, JOHANN WOLFGANG: Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Weimar 1887 – 1919 [= Weimarer Ausgabe], I. Abt., Bd. 28, München 1987. GRÄF, HANS GERHARDT: Nachträge zu GOETHES Gesprächen, 1: JOHANN KASPAR LAVATER. In: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft 6, 1919. HEIN, EDGAR: Johann Wolfgang Goethe. Die Leiden des Jungen Werther: Interpretationen von E. H., München 1991. HERMES, EBERHARD: Abiturwissen. Deutsche Literatur. Epochen, Werke, Autoren, Stuttgart/Düsseldorf/Leipzig 1998. 34 JÄGER, GEORG: Die Leiden des alten und neuen Werther. Kommentare, Abbildungen, Materialien zu GOETHES Leiden des jungen Werthers und PLENZDORFS Neuen Leiden des jungen W., Wien / München 1984. JANNIDIS, FOTIS: Das Individuum und sein Jahrhundert, Tübingen 1996. KOŠENINA, ALEXANDER: Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen, Berlin 2008. LUHMANN, NIKLAS: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a. M. 1983. LUHMANN, NIKLAS: Individuum, Individualität, Individualismus. In: N. L.: Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 3, S. 149-158, Frankfurt a. M. 1993. LUSERKE, MATTHIAS: Sturm und Drang, Stuttgart 1997. METTENLEITER, PETER & KNÖBL, STEPHAN (Hrsg.): Blickfeld Deutsch. Oberstufe. Erarbeitet von WOLFGANG ALEKER, WERNER FRANK, WALTER FREI, EMIL GÖGGEL, STEPHAN KNÖBL, KIRSTEN KREBSBACH, PETER METTENLEITER und JOSEPH SCHNELL, Paderborn 2003. OERTER, ROLF & MONTADA, LEO: Entwicklungspsychologie. Ein Lehrbuch, 5. Aufl., Weinheim 2002. PLATNER, ERNST: „Anthropologie für Aerzte und Weltweise, Leipzig 1772, Nachdruck hg. v. ALEXANDER KOŠENINA, Hildesheim u. a. 1998. RECTOR, MARTIN: Anschauendes Denken. Zur Form von Lenz´ Anmerkungen übers Theater. In: Lenz - Jahrbuch. Sturm und Drang Studien, Bd. 1, hrsg. v. MATTHIAS LUSERKE und CHRISTOPH WEIß, St. Ingbert 1991. SCHMID, JOCHEN: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750 – 1945, Bd. 1, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1988. 35 SEEHAFER, KLAUS: Mein Leben, ein einzig Abenteuer - Johann Wolfgang Goethe. Biografie, Berlin 2004. WILLEMS, MARIANNE: Das Problem der Individualität als Herausforderung an die Semantik im Sturm und Drang, Tübingen 1995. 5. 6. 2 Anlage Stunde 1: Zeit Didakt. Fkt. 09:25 Lehrerverhalten / Unterrichtsverlauf Schüleraktivität / Sozialformen Medien Begrüßung Motivation 09:26 Wiederholung Um an das Thema der letzten Stunde an- Schüler hören zu. zuknüpfen, habe ich euch ein Bild mitgebracht, das die sexuelle „Befreiung“ der Aufklärung veranschaulicht. Im Zuge der wissenschaftlichen Untersuchungen von Gefühlen und Sexualtrieb versuchte man auch, Selbstbefriedigung zu unterbinden, die als gesundheitsschädlich galt. Das versuchte man beispielsweise mit einem solchen Penisring zu erreichen. Am Beginn der heutigen Stunde wollen wir die wichtigsten Dinge der Aufklärung aus der letzten Stunde wiederholen, weil wir sie für das Verständnis der Literaturströmung brauchen, die wir heute behandeln wollen: Wir lernen heute den Sturm und Drang kennen. Folie 1 Wiederholung Aufklärung Inwiefern war die Aufklärung geistige, emotionale, sexuelle künstlerische Befreiung? eine GUG (wenn sich nieund mand meldet, werden verschiedene Schüler drangenommen) Geistige Befreiung: Rolle d. Kirche im Mittelalter (Heil vs. Verdammnis) = Blick auf das Jenseits Reformation → Kirche n. mehr über allem → Zerfall der mittelalterlichen Ständeordnung Entstehung von Individualität Blick auf das Diesseits: in Aufklärung wissenschaftliche Erklärung der Welt → Empfindsamkeit und Rationalismus als neues moralisches Orientierungs- 36 Folie 2 gerüst Emotionale Befreiung: der gesamte Mensch in der Wissenschaft untersucht (Körper und Seele) → auch Gefühle wissenschaftl. untersucht und stimuliert → Biologisierung der Gefühle Gefühle als Erkenntnismedium (Aufwertung der Sinnlichkeit) ABER: Gefühle bändigen, da Gefahr für die Gesellschaftsordnung der Aufklärung, wenn sie außer Kontrolle geraten → Forderung nach rationaler Lebensweise! Sexuelle Befreiung: Sexualität als höchstes menschliches Gefühl Sexualtrieb wissenschaftlich erforscht Anfänge der freien Partnerwahl Künstlerische Befreiung: Lessing richtet sich gegen Gottscheds Poetik und die Muster von Antike und Frankreich → England als neues Ideal Was sind Merkmale der Literatur der GUG Aufklärung? - wenig Lyrik - didaktische Literatur - Drama („Nathan der Weise“, „Emilia Galotti“) - lehrhafte Kleinformen (Fabel, Beispielerzählung, Lehrgedicht, Aphorismen) -Theoretische Schriften zu den Gedanken der Aufklärung 09:36 HA Vergleich Hausaufgabe Wir wollen vergleichen. nun die Lehrbuch (Blickfeld Deutsch Oberstufe, S. 162) Hausaufgabe Wer kann mir sagen, was die Hausauf- Einen Schüler drangabe zu heute war? nehmen, der sich nicht meldet. (Fabel im Lehrbuch S.162 durchlesen und (Wenn er es nicht weiß, nach Merkmalen der Literatur der muss er es zur nächsten Aufklärung suchen) Stunde schriftlich nachreichen.) Fabel: Der Wolf und das Schaf (Lessing) X, bitte lies uns die Fabel vor! Ein Schüler liest vor. Was ist an diesem Werk typisch für die GUG Literatur der Aufklärung? -Fabel → lehrhafte Kleinform (Moral!) -Autor (Gotthold Ephraim Lessing) -Vernunftsgedanke im Werk 09:41 ZO Wie ich vorhin schon erwähnt hatte, wollen wir heute den Sturm und Drang kennen lernen - die erste literarische Jugendbewegung. 37 TB: „Sturm und Drang – die erste Sicher kennt ihr die Redenwendung: „Er GUG ist gerade in seiner Sturm-und -DrangPhase“. Was meint man damit? (Rebellion gegen Eltern, Pubertät etc.) 09:44 TZO 1 literarische Jugendbewegung (1765/671785)“ Genau das passierte im Sturm und Drang, Schüler hören zu. nur auf einer anderen Ebene. Die Stürmer und Dränger rebellierten gegen die Vaterinstanz der Aufklärung mit ihren Ideen. Ihre Rebellion äußerten sie in Form von dichterischer Tätigkeit. Fakten über die Bewegung: Titel, GenieBegriff, Ideologie, Merkmale der Literatur Ich möchte euch nun in den nächsten Minuten in Form eines Lehrervortrags die wichtigsten Fakten über Die Strömung des Sturm und Drangs erläutern. Ich möchte euch bitten, gut mitzuschreiben. Als Grundgerüst und für eure Orientierung lege ich eine Folie auf, nach der ich meinen Vortrag gegliedert habe, sodass ihr besser folgen könnt. Ihr werdet einige bekannte Dinge aus der Aufklärung erkennen, die im Sturm und Drang wieder eine Rolle gespielt haben. Das alles ist nicht so leicht zu verstehen, aber durch die Sachen, die wir in der letzten Stunde über die Aufklärung erarbeitet haben und die wir am Anfang der Stunde wiederholt haben, sollte der Sturm und Drang mit seinen Ideen doch ziemlich verständlich sein. Falls ihr eine Frage habt, könnt ihr mich natürlich jederzeit unterbrechen. 09:45 10:00 TZF 1 10:09 Lehrervortrag (Siehe Anlage) LV (Schüler schreiben mit.) Hab ihr Fragen zu irgendwelchen Dingen GUG über den Sturm und Drang, die ihr nicht verstanden habt? Oder gibt es Lücken in euren Mitschriften, wo ihr nochmal nachhaken wolltet? (Fragen beantworten. Falls es keine gibt, gemeinsame Wiederholung.) In der zweiten Hälfte der Blockstunde Schüler hören zu. werden wir dann mit einem Beispieltext arbeiten. Aber jetzt habt ihr natürlich erstmal Pause. Pause 38 Folie 3 Folie 4 Stunde 2: Zeit 10:20 Didakt. Fkt. Motivation 10:26 TZO 2 Lehrerverhalten / Schüleraktivität / Medien Unterrichtsverlauf Sozialformen Hört euch bitte dieses Lied an, sodass ihr Schüler hören das Lied CD (4:25) danach den Inhalt in einem Satz an (Die Toten Hosen: zusammenfassen könnt. Alles aus Liebe) X, kannst du den Inhalt des Liedes für uns Ein Schüler antwortet. in einem Satz zusammenfassen? (Jemand bringt sich aus Liebe und Eifersucht um.) Inhalt Werther In dieser Sunde wollen wir uns einem der berühmtesten Texte des Sturm und Drang beschäftigen, der ein sehr ähnliches Thema zum Inhalt hat: Goethes „Die Leiden des jungen Werther“. Ich habe von Herrn Kittler gehört, dass GUG einige von euch den „Werther“ schon letztes Schuljahr für ein Projekt gelesen haben. Wer erinnert sich, worum es geht, wer Werther ist und was mit ihm über den Verlauf des Romans geschieht? (Schüler fassen zusammen. Lehrer hilft, wenn es stockt.) Erinnert ihr euch auch, was der „Werther“ für eine literarische Gattung ist? (Briefroman) 10:34 TZF 2 10:35 TZO 3 An wen schreibt er die Briefe? (An seinen Freund Wilhelm.) Werther – wie man auch dem Titel Schüler hören zu. entnehmen kann – leidet, weil er seine Gefühle für Lotte immer mehr verabsolutiert und irgendwann keinen vernünftigen Gedanken mehr fassen kann und will. Das bringt ihn um den Verstand, was sich schließlich auch in einer Art Geisteskrankheit äußert. Am Ende nimmt er sich das Leben. Wir wollen während der nächsten Minuten in Stillarbeit nun am Text arbeiten. Ich habe euch dazu einen Auszug aus dem Beginn des Romans und einen vom Ende des Romans – kurz vor dem Selbstmord Werthers – auf ein Arbeitsblatt kopiert. Ihr sollt nun das, was wir in der ersten Hälfte der Blockstunde über den Sturm und Drang erarbeitet haben, anwenden. Ihr sollt den Text formal und inhaltlich untersuchen und 39 Folie 4 auch auf die Forderungen und Ideen der Stürmer und Dränger eingehen und schauen, ob ihr einiges davon am Beispiel Werthers wiederfindet. Habt ihr noch Fragen? 10:38 Anwendung 10:53 TZF 3 / GZF Ihr habt nun 15 Minuten Zeit dafür. Stillarbeitsphase Stillarbeit Ergebnissicherung AB Wir wollen eure Ergebnisse jetzt GUG vergleichen und alles zusammentragen. Ergänzt bitte selbstständig, was ihr noch nicht habt. 11:04 GZF AB Briefroman: Gefühle, Individualität Naturbeschreibung: Entdeckung der Individualität als sinnliches Erlebnis (Spiegel der Seele → Tal schön, wenn er glücklich ist und es hässlich und beängstigend, wenn er traurig ist) Sprache der Leidenschaft (viele Wiederholungen, Ellipsen und Gedankenstriche etc.) Thema Liebe Werther radikal individuell: Forderung nach Emanzipation der Leidenschaften → außerhalb der Gesellschaft → weg von Stadt → Einzelgänger → nur LOTTE Protagonist scheitert: kein Platz für ihn in aufgeklärter Gesellschaft → Freitod Aufwertung der Sinnlichkeit wird zu Emanzipation der Leidenschaften: Lotte als einziger Lebensinhalt Werthers, den er nicht aufgeben will → „Historiam morbi“ (Krankheit zum Tode) Alle sagen ihm, er solle vernünftig handeln (Wilhelm, Albert, sogar Lotte → immer vernünftig sein führt zu Krankheit Totalität des Lebens dargestellt: Thema Selbstmord aus Liebe Wir haben heute also die Strömung des Schüler hören zu. Sturm und Drang kennengelernt und sie im Zusammenhang mit der Aufklärung untersucht. Wir haben auch die Merkmale über die Bewegung und ihre Literatur an einem Text nachgewiesen. Lest euch alles bis zur nächsten Stunde nochmal durch, sodass wir am Anfang der nächste Stunde noch Unklarheiten beseitigen und Fragen beantworten können. Vergesst nicht, dass eure Klausur immer näher rückt. Verabschiedung 40 Folie 1: Quelle: KOŠENINA, ALEXANDER: Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen, Berlin 2008, S. 46. 41 Folie 2: Literatur der Aufklärung (1720-1785) Hintergründe: Das 18. Jahrhundert ist eine „grundlegende geistige, emotionale, sexuelle, künstlerische Befreiung“. (A. Košenina) Geistige Befreiung: - Gesellschaftsordnung (Ständesystem) - Rolle der Kirche - Heil vs. Verdammnis - Reformation - Jenseits → Diesseits - Individualität → Gefühl, Emotionalismus, Empfindsamkeit vs. Verstand, Rationalismus, Wissenschaft Emotionale Befreiung:- Körper und Seele - Moralkonzept - Biologisierung des Gefühls - Gefühle im Fokus der Wissenschaft - Gefühle als individuelle Erkenntniskräfte - Aufwertung der Sinnlichkeit Sexuelle Befreiung: - Anfänge der freien Partnerwahl - Wissenschaftliche Untersuchungen zum Sexualtrieb Künstlerische Befreiung: → Gotthold Ephraim Lessing: „Briefe, die neueste Literatur betreffend“ (17. Brief) → Bürgerliches Trauerspiel Autoren: Johann Christoph Gottsched (1700-1766) Christian Fürchtegott Gellert (1715-1769) Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) Christoph Martin Wieland (1733-1813) Gattungen: - wenig Lyrik - didaktische Literatur - Drama („Nathan der Weise“, „Emilia Galotti“) - lehrhafte Kleinformen (Fabel, Beispielerzählung, Lehrgedicht, Aphorismen) - Theoretische Schriften zu den Gedanken der Aufklärung 42 Fabel: Gotthold Ephraim Lessing Der Wolf und das Schaf Der Durst trieb ein Schaf an den Fluss; eine gleiche Ursache führte auf der anderen Seite einen Wolf herzu. Durch die Trennung des Wassers gesichert und durch die Sicherheit höhnisch gemacht, rief das Schaf dem Räuber hinüber: „Ich mache dir doch das Wasser nicht trübe, Herr Wolf? Sieh mich recht an; habe ich dir nicht etwa vor sechs Wochen nachgeschimpft? Wenigstens wird es mein Vater gewesen sein.“ Der Wolf verstand die Spötterei; er betrachtete die Breite des Flusses und knirschte mit den Zähnen. „Es ist dein Glück“, antwortete er, „dass wir Wölfe gewohnt sind, mit euch Schafen Geduld zu haben“; und ging mit stolzen Schritten weiter. (1759) 43 Folie 3: 44 Folie 4: Quelle: http://www.fg-deutschkurse.de/deu/seiten/literatur/werther/werther.jpg Lehrervortrag: Wie ich schon gesagt habe, gilt der Sturm und Drang als die erste literarische Jugendbewegung in der deutschen Geschichte. Wenn ihr euch die Jahreszahlen seiner Entstehung und Dauer anschaut, werdet ihr bemerken, dass die Strömung während der Aufklärung entstanden ist. Die Rebellion, die wir eben schon angeschnitten habe und die damit zusammen hängt, dass die Bewegung während der Aufklärung entstanden ist, werde ich später genauer beleuchten, wenn ich über die Merkmale der Literatur des Sturm und Drang spreche. Jetzt möchte ich erst einige Dinge über die Bewegung selbst sagen. Zur Literatur, die der Sturm und Drang hervor gebracht hat, zählen nur etwa 24 Texte (vgl. LUSERKE 1997, S. 15). Einer dieser Texte, ein Drama von Friedrich Maximilian Klinger, trug den Titel Sturm und Drang. Danach benannte man schließlich die Strömung bzw. die Epoche. Vorher gab es andere zeitgenössische Bezeichnungen der Bewegung, z. B. Junge Dichter, Goethesekte, Originaldichter oder Genies. Der Begriff „Genie“ wurde von den Stürmern und Drängern allerdings etwas anders gebraucht als wir ihn heute im Sinne von Intelligenz benutzen. In der Ideologie des Sturm und 45 Drang meinte man damit gottesgleiche Schöpfungskraft, die einem Menschen innewohnt. Dieser Gedanke entstand bereits in der Philosophie der Aufklärung. Die Stürmer und Dränger bezogen diese Idee auf ihre Dichtkunst. Bestimmt erinnert ihr euch an das, was wir über das Dichten im Barock gesagt haben. Wir hatten darüber gesprochen, dass es Dichtschulen gab und man diese Kunst erlernen konnte. Sicher erinnert ihr euch auch noch an die Poetik von MARTIN OPITZ (Buch von der Deutschen Poeterey). Das war sozusagen ein Lehrbuch des Dichtens. In der Aufklärung wandten sich die Dichter dann an andere europäische Vorbilder. Wir haben, als wir über die Aufklärung als „künstlerische Befreiung“ gesprochen haben, gelernt, dass sich GOTTSCHED beispielsweise den Normen- und Regelpoetiken des Barock widersetzte und für eine Verbreitung der aufklärerischen Ideen in der deutschen Dichtung eintrat. Er lehnte sich an die Ideale der Antike und das Muster Frankreichs an. LESSING dagegen richtet seine Poetik nach dem englischen Vorbild aus und benutzt SHAKESPEARE als Muster für seine Dramen. Die Stürmer und Dränger hingegen waren der Meinung, dass es keine Regel- und Musterpoetiken geben darf. Sie sagten, dass Kunst – bzw. das Dichten im Speziellen – nicht lehr- und lernbar sei. Für sie konnte nur ein Genie dichten, also jemand, der seine gottesgleiche Schöpfungskraft in sich erkennt und anwendet – und dabei habe er nicht einmal besondere Bildung nötig. Als Ideal galt also nicht der Dichter, der hochgebildet war und in jeder Gattung schreiben konnte bzw. der seine moralischen Lehren zum Ausdruck brachte (poeta doctus). Gepriesen wurde vielmehr das Genie, das sich seine Regeln und Gesetze selbst schafft. Im Genie äußerte sich nach der Vorstellung des Sturm und Drang die schöpferische Kraft der Natur. Die Natur wurde zum Inbegriff des Ursprünglichen, Elementaren, Göttlichen und war nicht mehr das vernünftig Geordnete wie in der Aufklärung. Beispielsweise schrieb ein Zeitgenosse GOETHES – JOHANN CHRISTIAN KESTNER - über GOETHE: „Er besitzt, was man Genie nennt[.] […] [E]r tut, was ihm einfällt, ohne sich darum zu bekümmern, ob es anderen gefällt, ob es Mode ist, ob es die Lebensart erlaubt.“ (Vgl. SEEHAFER 2004, S. 105) Als wahrer Mensch wurde der "Kraftkerl", der Selbsthelfer angesehen, bei dem Denken und Handeln eine Einheit bilden, der Herr über seine geistigen, seelischen und körperlichen Kräfte ist, der sich selbst treu bleibt und sich nicht scheut, gegen eine ganze Welt anzutreten - selbst um den Preis des Untergangs. Neben der Dichtkunst der Stürmer und Dränger bzw. der Originaldichter zeichnete sie also auch eine gewisse Art von Rebellion und Regellosigkeit aus. Ihr Hauptkennzeichen nannten diese jungen Männer auch „Originalität“. Sie kleideten sich „englisch“. Auch sie hatten sich nämlich Shakespeare in gewisser Weise zum Vorbild genommen, aber nur, weil SHAKESPEARE sich nicht an die literarischen Konventionen der Renaissance hielt, sondern 46 neue Wege ging. „Englisch kleiden“ hieß für die Stürmer und Dränger blauer Frack, Weste, gelbe Hose und Stulpenstiefel (Siehe Folie 4). Der Grund dafür war, dass die Titelfigur aus GOETHES Die Leiden des jungen Werther so gekleidet war und sich in dieser Kleidung das Leben nahm. In Europa entstand dadurch übrigens auch das sogenannte „Wertherfieber“. Viele junge Männer, die sich den Stürmern und Drängern und ihren Ideen verbunden fühlten, kleideten sich wie Werther – dieser Jugendroman GOETHES, den er in seiner Sturm-undDrang-Phase geschrieben hat, wurde sehr schnell zum Welterfolg und war europaweit bekannt – und begingen mit dem aufgeschlagenen Roman auf dem Tisch, ähnlich wie Werther es im Buch tut, Selbstmord. Aber wir werden später noch etwas ausführlicher über den Roman sprechen. Die Stürmer und Dränger kleideten sich jedenfalls im Werther-Kostüm und verschmähten die zeitgenössische Mode. Das „genialische“ Verhalten der Originalgenies äußerte sich auch in einem ständigen Gefühlsüberschwang, in brüderlichen Umarmungen, Freundschaftsfeiern und Verdammungsritualen gegen die Literatur der Aufklärung, vor allem gegen die Aufklärungsschriften WIELANDS (vgl. HEIN 1991, S. 34). Der Grund, warum die Jungen Dichter sich das Leben nahmen und diese Gefühlsüberschwänge und brüderlichen Umarmungen und all das praktizierten, war eine Auflehnung gegen die Ideale der Aufklärung. Die Stürmer und Dränger verachteten die Aufklärungsgedanken in Bezug auf ihren Kern: die Vernunft. Eine ständig rationale Lebensweise, die die Aufklärung ja forderte, weil sie Angst hatte, dass Gefühle, wenn sie erstmal außer Kontrolle geraten und in Form von Affekten die Gesellschaftsordnung bedrohen könnten, dass man stets gemäß seinem Verstand und seiner Vernunft über die Konsequenzen nachdenken soll und sich zu keiner emotionalen Reaktion hinreißen lassen soll. All das war ja in der Wissenschaft der Aufklärung untersucht worden; wir hatten ja letzte Stunde in der Gruppenarbeit auch erarbeitet, dass man beispielsweise Verbrecher körperlich und seelisch untersucht hat, um herauszufinden, warum sie gemordet haben. Die Schlussfolgerung war der Verlust der Selbstkontrolle im Affekt. Die Stürmer und Dränger hielten jedoch eine ständig rationale Lebensweise für falsch. Sie waren der Meinung, dass das den Menschen geisteskrank macht. All das zeigt sich in den Inhalten ihrer Literatur. Wenn man die Werke der Originaldichter anschaut, fällt auf, dass sie verschiedene Elemente und Gedanken der Aufklärung in ihrer Literatur verarbeiten und radikalisieren, um sie so gegen die Aufklärung zu richten, um ihr zu zeigen, dass sie zum Scheitern verurteilt ist, andere Bestandteile ihrer Ideologie ist von Grund auf gegen die Aufklärung gerichtet. In der Literatur des Sturm und Drang spielt die Emotionalität eine große Rolle, weil sie das Gegenstück zum Rationalismus der Aufklärung ist. Die Stürmer und Dränger greifen die „Aufwertung der Sinnlichkeit“ aus der Aufklärung auf und radikalisieren sie in ihren Werken 47 zur sogenannten „Emanzipation der Leidenschaften“. Das bedeutet also, dass sie fordern, dass die Gefühle einen Sellenwert bekommen, der dem Verstand ebenbürtig ist. Diese Radikalisierung geht in vielen Werken des Sturm und Drang sogar so weit, dass der Verstand der Protagonisten aussetzt und noch nach dem Gefühl gehandelt wird. Dazu gehören aber auch die Triebe und Affekte eines Menschen. Die Themen der Literatur der Jungen Dichter haben somit fast immer mit Gefühlen, Trieben oder Affekten zu tun, zum Beispiel Freundschaft, Liebe, Sexualität, Standesunterschiede, Kindsmord, Brudermord und Autonomie (vgl. LUSERKE 1997, S. 14). Ein weiteres Element der Aufklärung, das radikalisiert wird, ist die Individualität, die – wie wir ja letzte Stunde besprochen haben mit dem veränderten Ständesystem seit der Reformation entstand und sich während der Aufklärung entwickelte. Die Stürmer und Dränger beschreiben in ihrer Literatur die Individualität als ein sinnliches Erlebnis, durch das man sich selbst kennenlernen und finden kann – ähnlich wie man es auch in der Aufklärung erkannte. Die Radikalisierung der Originaldichter besteht nun darin, dass sie die Individualität zu einer Forderung nach absoluter Autonomie übersteigern. Diese Autonomie führt dann oft dazu, dass die Protagonisten außerhalb der Gesellschaft stehen, weil ihre Individualität keinen Platz in ihr findet. Symbolisch stellen die Stürmer und Dränger diese Individualität oft durch Geisteskrankheit dar – als ein Symbol dafür, dass die Unterdrückung des Gefühls durch die Vernunftszwänge der Aufklärung zu Geisteskrankheit führt. Das Scheitern der Protagonisten am Ende besiegelt das ganze. Die Rebellion der Stürmer und Dränger gegen die Ideen der Aufklärung zeigen sie auch in der Form ihrer Literatur. Sie Sprengen die literarischen Regeln der Aufklärung. Immanuel Kants „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ bedeutet für sie etwas, das wiederum mit dem Geniegedanken zusammen hängt, nämlich „Kunstautonomie“. Sie möchten keine Regeln für ihre Literatur – genau wie sie keine Vorschriften zu ständig vernünftigem Handeln wollen. „Kunstautonomie“ heißt, dass die Literatur frei von gesellschaftlichen Zwecken sein und die Totalität des Lebens darstellen soll. Die Lehrhaftigkeit, die die Literatur der Aufklärung ausmacht, wird also vollkommen weggelassen und auch die hässlichen Dinge des Lebens beschrieben. Wegen der Emanzipation der Leidenschaften feiern sie sogar Brudermord, Vatermord und Selbstmord als Triumph gegen die Aufklärung – daher auch die Selbstmordwelle durch Europa. Die Totalität des Lebens wird auch dadurch ausgedrückt, dass Kraftausdrücke und Vulgär- und sogar Fäkalsprache in ihrer Literatur zu finden sind. Dies trifft vor allem für die Dramen des Sturm und Drang zu. Besonders charakteristisch für die Form in der Literatur ist aber vor allem die 48 Sprache der Leidenschaft, die das Gefühl allem voran in den Mittelpunkt setzt. Besonders auffällig ist das in der verbreiteten Erlebnislyrik der Strömung und im einem der bekanntesten Werke des Sturm und Drang, nämlich GOETHES Briefroman Die Leiden jungen Werther. Drei wichtige Vertreter, die ihr euch merken sollt sind JOHANN WOLFGANG GOETHE, FRIEDRICH SCHILLER und JAKOB MICHAEL REINHOLD LENZ. Ich möchte euch ein kurzes Zitat von JAKOB MICHAEL REINHOLD LENZ vorlesen, in dem der Autor über drei der Kernthemen, nämlich Emotionalität und Individualität und Autonomie spricht: „Jemehr ich in mir selbst forsche und über mich nachdenke, desto mehr finde ich Gründe zu zweifeln, ob ich auch wirklich ein selbstständiges von niemand abhangendes Wesen sei, wie ich doch den brennenden Wunsch in mir fühle. […] Das erste aller menschlichen Gefühle ist unabhängig zu sein.“ (Vgl. LUSERKE 1997, S. 13) 49 Lied: Text: Die Toten Hosen: Alles aus Liebe Ich würde dir gern sagen, wie sehr ich dich mag, warum ich nur noch an dich denken kann. Ich fühl mich wie verhext und in Gefangenschaft und du allein trägst Schuld daran. Worte sind dafür zu schwach, ich befürchte, du glaubst mir nicht. Mir kommt es vor, als ob mich jemand warnt, dieses Märchen wird nicht gut ausgehen. Es ist die Eifersucht, die mich auffrisst, immer dann, wenn du nicht in meiner Nähe bist. Von Dr. Jekyll werde ich zu Mr. Hyde, ich kann nichts dagegen tun, plötzlich ist es so weit. Ich bin kurz davor durchzudrehn, aus Angst, dich zu verliern. Und dass uns jetzt kein Unglück geschieht, dafür kann ich nicht garantiern. Und alles nur, weil ich dich liebe, und ich nicht weiß, wie ich's beweisen soll. Komm, ich zeig dir, wie groß meine Liebe ist, und bringe mich für dich um. Sobald deine Laune etwas schlechter ist, bild ich mir gleich ein, dass du mich nicht mehr willst. Ich sterbe beim Gedanken daran, dass ich dich nicht für immer halten kann. Auf einmal brennt ein Feuer in mir und der Rest der Welt wird schwarz. Ich spür wie unsere Zeit verrinnt, wir nähern uns dem letzten Akt. Und alles nur, weil ich dich liebe, und ich nicht weiß, wie ich's beweisen soll. Komm, ich zeig dir, wie groß meine Liebe ist, und bringe mich für dich um. Ich bin kurz davor durchzudrehn, aus Angst, dich zu verliern. Und dass uns jetzt kein Unglück geschieht, dafür kann ich nicht garantiern. Und alles nur, weil ich dich liebe, und ich nicht weiß, wie ich's beweisen soll. Komm, ich zeig dir, wie groß meine Liebe ist und bringe mich für dich um. Komm, ich zeig dir, wie groß meine Liebe ist, und bringe uns beide um. 50 CD: 51 Arbeitsblatt: Quelle: GOETHE, JOHANN WOLFGANG: Die Leiden des jungen Werther, In: Hamburger Lesehefte, Bd. 115, Husum/Nordsee 2000. 52 5. 7 Reflexion der Blockstunde ‚Literatur des Sturm und Drang‘ Die Schülerinnen und Schüler hatten sich erstaunlich viel über die literarische Epoche der Aufklärung und die sozialgeschichtlichen Umbrüche aus der Vorstunde gemerkt, was meine Befürchtungen, dass die Wiederholung mehr Zeit als geplant in Anspruch nehmen könne, schnell beseitigte. Der Stundeneinstieg verlief sehr gut und ich konnte – wie auch während der gesamten Blockstunde – meinem Verlaufsplan problemlos folgen. Auch die Zeiteinteilung hatte ich effektiv geplant. Zwei Phasen – der Lehrervortrag und die Stillarbeit – hatten sich in meinen Vorbereitungen als mögliche Problemstellen herausgestellt, da ich nicht wusste, inwiefern die Schüler dem komplexen Stoff folgen könnten oder mich wohlmöglich zu oft mit Fragen unterbrechen bzw. mehr Zeit für die Stillarbeit mit dem Arbeitsblatt benötigen würden, sodass ich nicht mehr in der Lage gewesen wäre, meinem Planungskonzept zu folgen. Auch hier stellten sich der Umfang des Lehrervortrags und der Zeitrahmen der Stillarbeit als adäquat gewählt heraus. Die Mitarbeit war – wie fast immer in diesem Kurs – gut und die Schülerinnen und Schüler schienen sehr interessiert am Thema. Besonders stach eine Diskussion der Schüler untereinander im Kontext des bereits in der Vorstunde erarbeiteten Begriffspaars ‚Rationalismus vs. Emotionalismus‘ und die Ansichten der Stürmer und Dränger dazu hervor, die die Schüler mit eigenen Erfahrungen aus ihrem Leben beseelten. Dies ermöglichte ein noch tiefgründigeres Verständnis in Bezug auf die allumfassende Philosophie über das Menschenbild der Zeit. Auch das Lied Alles aus Liebe, mit dem ich den zweiten Teil der Blockstunde einleitete, sowie die Figur und das Handeln des Werther lösten einen regen Meinungsaustausch unter den Lernenden aus. Diesen musste ich allerdings ab einem bestimmten Punkt abbrechen, da er zu abschweifend wurde. Die Gesamtzusammenfassung in Form der Ergebnissicherung nach der Stillarbeitsphase, in der die Schülerinnen und Schüler ihr Wissen über den Sturm und Drang anwenden mussten, zeugte von ihrem Verstehen sowie ihrem Lerngewinn in Bezug auf die Strömung und die Literatur des Sturm und Drang. Schon bei der Behandlung der Literatur der Aufklärung – und zum wiederholten Male beim Sturm und Drang – musste ich feststellen, dass meine Ängste, dass die sozialgeschichtlichen Veränderungen und das gesamte Philosophiekonzept der Zeit zu kompliziert für die 53 Lernenden seien, unbegründet waren. Ich werde in Zukunft den Schülerinnen und Schülern im Leistungskurs mehr zutrauen, denn gerade diese Aspekte führten dazu, dass sich die Lerngruppe sehr für die Literatur des 18. Jahrhunderts interessierte. 6 Gesamteinschätzung und Abschlussreflexion Mein Blockpraktikum im Fach Deutsch am Martin-Luther-Gymnasium Hartha war sehr vielseitig und fordernd. Den Einladungen meines Schulleiters und meines Mentors folgend brachte ich mich neben den Hospitations- und Lehrtätigkeiten als obligatorische Bestandteile selbstständig in verschiedene Bereiche des Schullebens ein, die mir einen breitgefächerten Eindruck über den Alltag eines Lehrers ermöglichten. Die unter Punkt 3 (‚Kurzüberblick meines Blockpraktikums‘) ausgeführten Aspekte meines Praktikums gaben mir insgesamt einen sehr realistischen Eindruck aller Verantwortungsbereiche. So lernte ich durch meine Besuche im Fachzirkel Deutsch und die damit verbundenen Aufgaben mehr darüber, dass man als Lehrer nicht ganz allein steht, sondern dass das Netzwerk der Kolleginnen und Kollegen innerhalb des Faches zur persönlichen Erleichterung der Arbeit beitragen kann, wenn man sich gegenseitig mit Materialen und Ratschlägen unterstützt. Dabei verfällt man weniger in einen „Trott“ und kann von den Ideen seiner Mitstreiter im Fachzirkel profitieren. Weiterhin lernte ich durch meine DaZ-Förderstunden für den amerikanischen Austauschschüler Samuel, dass ein Lehrer im Zeitalter der Globalisierung mehr leisten können muss als nur sein Fach und die zugehörige Didaktik zu beherrschen. Meine Ausbildung in Bezug auf Deutsch als Zweitsprache, die ich vergangenes Semester abschließen konnte, hatte mir zwar gezeigt, dass dies zu den modernen Verantwortungsbereichen eines jeden Lehrers gehört, aber trotzdem schien mir all das bis dahin relativ fern und kaum relevant für eine ländliche Schule. Es war schön, zu erleben, wie Samuel die Dinge, die er gehört und gelernt hatte, durch meinen Förderunterricht (besser) verstehen konnte. Meine Englischkenntnisse waren mir zudem in einem anderen Bereich von Vorteil, nämlich in einem bilingualen Team-Teaching-Projekt, zu dem ich eingeladen wurde, um darin mitzuwirken. Dabei standen SHAKESPEARE und seine Zeit im Mittelpunkt und der Unterricht wurde wechselseitig durch deutsche und englische Aktivitäten und Sequenzen gestaltet. Ich hatte solch eine Unterrichtsweise in der Vergangenheit nie erlebt und war begeistert über die 54 Dynamik, die dieses Vorgehen im Unterricht erzeugte. Auch die Schülerinnen und Schüler nahmen diese Art des Lehrens sehr positiv auf, was sich in ihrer Mitarbeit widerspiegelte. Auch das bereits erwähnte Literaturcamp, das ich vor Beginn meines Praktikums als Betreuer begleitete, gab mir ein tieferes Verständnis darüber, was es heißt, ein Lehrer zu sein. Besonders trifft dies für den Bereich der Verantwortung zu. Ich dachte während des Camps gelegentlich darüber nach, was alles passieren könnte, was die Schülerinnen und Schüler alles anstellen könnten und was zu tun sei, wenn es zu einer solchen Situation käme. All diese Punkte sind relevant für Klassenfahrten, Schulausflüge und ähnliche Veranstaltungen, die in Zukunft auf mich zu kommen werden. Glücklicherweise war die Klasse, die ich begleitete, sehr friedlich und freundlich, sodass es zu keiner Zeit Probleme gab. Auch das Einrichten der ‚Blackboards‘ in der Schule – und damit einhergehend das Kennenlernen der Schulsoftware, mit der alles organisiert und die Klassen-, Zimmer- und Vertretungspläne verwaltet werden – zeigte mir mehr über die vielen verteilten Aufgaben, die im Hintergrund des primären Unterrichtens ablaufen. Interessant war auch der Ablauf der Fortbildung, die ich gemeinsam mit meinem Mentor besuchte. Am meisten dachte ich dabei allerdings – als ich so in die Runde blickte – über etwas nach, was die Teilnehmer dieser Veranstaltungen betraf. Es gibt wohl zwei Gruppen von Lehrerinnen und Lehrern: Die erste nimmt derartige Veranstaltungen wahr und engagiert sich – wie auch sonst im Schulleben – für derartige Projekte. Die zweite Gruppe von Lehrern besucht solche Veranstaltungen nicht und hält auch sonst sehr wenig davon, an Aktivitäten (z.B. den Tanzabschlussball ihrer eigenen Klasse, zu dem sie persönlich eingeladen wurden) der Schule teilzunehmen. Mir fiel in diesem Zusammenhang besonders während der Zeit, die ich im Lehrerzimmer verbrachte, auf, dass es eine handvoll Pädagogen gibt, die ihren Beruf nicht zu mögen scheinen und alles, was auch nur im Geringsten mit zusätzlichem Engagement zu tun hat, verachten. Ich denke, dass es in Ordnung ist, wenn Menschen den Weg des geringsten Widerstands gehen wollen, weil sie in ihrer Bequemlichkeit Freude finden. Was ich allerdings nicht mag, ist, wenn sie öffentlich im Lehrerzimmer auf bösartige oder belustigende Weise über ihre Schülerinnen und Schüler reden und anderen ein Bild bzw. ein Vorurteil über die betreffenden Kinder und Jugendlichen in den Kopf setzen, das als eine subjektive Meinung eigentlich nicht auf das sonstige Verhalten des Schülers im Umgang mit anderen Fächern, Klassenkameraden oder Lehrern verallgemeinert werden kann. Abgesehen davon war das Klima am Martin-Luther-Gymnasium Hartha sehr, sehr positiv und herzlich. Ich wurde von den Kolleginnen und Kollegen sehr freundlich empfangen. Mein Schulleiter und mein Mentor waren äußerst hilfsbereit und aufgeschlossen neuen Ideen 55 gegenüber. Sie überließen mir meine Unterrichtsstunden in eigenverantwortlicher Planung. Mein Mentor, Herr Kittler, unterstützte mich in jeder denkbaren Weise, wenn ich um Ratschläge bat. Das Feedback, das er mir gab, war hilfreich und aufbauend. Er sorgte dafür, dass ich mit guten Erfahrungen aus meinem Praktikum gehen konnte. In meinen Hospitationen bekam ich viele neue Ideen in Bezug auf Unterrichtsaktivitäten, Methoden und Sozialformen. Ich war glücklich, zu hören, dass auch ich meinen gestandenen Kolleginnen und Kollegen besonders hinsichtlich von Handlungs- und produktionsorientiertem Unterricht noch etwas beibringen konnte. Hin und wieder wurde ich in Bezug auf Grammatikprobleme auch gefragt, ob die Vermutung der Kolleginnen auch „richtig“ seien, wenn sie sich über bestimmte Phänomene unsicher waren. Insgesamt akzeptierte man mich mehr als einen Kollegen als einen Praktikanten in der Lehrerschaft und übertrug mir auch Verantwortungen wie Hofaufsichten ober die Einarbeitung in die Blackboard-Software. Auch das Unterrichten traute man mir bedenkenlos zu und fragte teilweise auch nach meiner Unterstützung, z. B. im bilingualen Team-TeachingProjekt oder im künstlerischen Profil. Auch mündliche Leistungskontrollen und eine Klausur wurden mir zugetraut, was mich erst wunderte, dann aber freute, weil ich dadurch viel in Bezug auf die Gütekriterien der Leistungsbewertung lernen und verstehen konnte. In meiner Lehrtätigkeit wurde ich mit jeder Stunde sicherer und schneller. Anfangs fühlte ich mich absolut überfordert. Jede Unterrichtseinheit plante ich mit tiefgründigster Sachanalyse und minutengenauem Verlaufsplan. Stundenlange Vorbereitungen für eine einzige Blockstunde bedeuteten wenig Schlaf und viel Stress. Als ich später jedoch nach einigen Hinweisen meines Mentors, die er in seinem Berufseinstieg schon von seinem Mentor bekommen hatte, meine Zeiteinteilung etwas lockerer ließ, von einem allzu detaillierten Verlaufsplan absah und besser mit Gruppenarbeiten und Stillarbeitsphasen umgehen konnte, verliefen meine Stunden auch routinierter und angenehmer. Plötzlich bereitete mir die Arbeit viel mehr Freude. Ich war entspannter und ausgeruhter und fühlte mich wohler in meiner Rolle. Insgesamt war mein Praktikum eine äußerst lehrreiche, fordernde und facettenreiche Zeit, in der ich auch viel Spaß mit den Kollegen und Schülern hatte. Ich ging mit einem großen Erfahrungsschatz zurück an die Universität, der mich jetzt vieles mit anderen Augen sehen lässt. Ich fühle mich nun bei weitem besser vorbereitet für das anstehende Referendariat, denn: „Was man erfindet, tut man mit Liebe, was man gelernt hat, mit Sicherheit.“ JOHANN WOLFGANG GOETHE 56 Anhang Praktikumsnachweis Übersicht der Hospitationen Übersicht der Unterrichtsversuche 57