bildungstheorie

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Karl Garnitschnig (2003) Bildung
Bildung
Pädagogik stellt vorbehaltlos die Frage nach dem Menschen, der er ist, sein und werden
könnte. Die Frage nach dem, wer er ist, steht in der Spannung zwischen dem, wer er zu einem
gegebenen Zeitpunkt geworden ist, und der Idee des Menschen. Er steht in der Spannung des
„Werde, der du bist“.
Schon dieses Bewusstsein der Spannung muss nicht da sein. Aber es ist klar, dass Bildung
jeweils anders konzipiert werden wird, je nach dem, wovon man ausgeht. Entweder man
begnügt sich mit dem so und so gewordenen Sein, fragt also nach dem, wie eine Person
sozialisiert worden ist, oder nach dem, wozu sie werden will, wie sie sich als Mensch
darstellen möchte. Es ist die Spannung zwischen Determinismus und Indeterminismus,
zwischen Behaviorismus und transzendentalem Denken, zwischen Fremd- und
Selbstbestimmung.
Selbstbestimmung/Selbstbewusstsein gilt als notwendige Bedingung für Handeln analytisch
natürlich nur dann, wenn jemand auch faktisch diese Frage nach den Bedingungen von
Handeln stellt. In dieser Tätigkeit der Suche nach einer letzten Bedingung meines Handelns ist
sowohl ein hypothetisches als auch ein kategorisches Moment gegeben. Es besteht keine
Notwendigkeit nach einer letzten Begründung zu suchen (hypothetisch), aber wenn ich es tue,
was gerade jetzt der Fall ist, dann ist es nur unter der Bedingung möglich, dass ich mich dazu
bestimme (ich könnte auch etwas anderes tun) und dass ich mir dessen bewusst bin.
In unserem normalen alltäglichen Handeln taucht zunächst diese Frage nicht auf, außer wir
werden uns faktisch einer Begrenzung unseres Handelns bewusst. Dann auch formuliert sich
erst das als Norm, was (an und für sich) Bedingung von Handeln ist: verhilf dir selbst und
anderen von Fremd- zu Selbstbestimmung.
In dem Fall, dass diese Bedingung nicht erfüllt ist, sprechen wir von einem bloßen Verhalten.
Im alltäglichen Handeln geschieht es häufiger, dass wir uns verhalten, als dass wir handeln.
Nochmals: Handeln ist ein Verhalten mit dem Bewusstsein, dass wir handeln. Wir verhalten
uns dann nochmals zu uns selbst und handeln selbstreflexiv.
Wollen wir nun Selbst- und Fremdbestimmung weiter konkretisieren, dann müssen wir alle
jene Bezugsgrößen systematisch zu erfassen suchen, denen wir unterworfen sind:
 Natur, einschließlich unseres Körpers
 Soziale Umwelt: Recht, Sitte
 Selbst: sofern ich mir auch selbst vorgegeben bin, meine Geschichtlichkeit, meine
Lerngeschichte, aber auch sofern ich mir aufgegeben bin, meine Handlungsentwürfe in
bezug auf die Natur und die soziale Umwelt, mich selbst, als Handlungssinn  Moral
 Die Frage nach dem Sinn, Lebenssinn
In den ersten beiden Bezügen stehen wir faktisch in jedem Fall, wir sind uns auch vorgegeben,
wann immer wir uns auf uns selbst beziehen. Aber darüber hinaus besteht die Möglichkeit zur
Selbstbestimmung. Diese ist uns nicht mehr bloß vorgegeben. Zu ihr können wir uns nur
selbst bestimmen, diese erfolgt nicht naturgemäß.
Bedürfnis nach Selbstbestimmung
Alle sozialen Systeme bestehen aus einer komplizierten Struktur von Positionen, die unter
einander in Relationen stehen. Die Positionen sind durch Rollen gekennzeichnet, die
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wiederum durch die Verhaltenserwartungen definiert sind, die mit einer Position verbunden
sind. Individuen entsprechen nicht immer den Erwartungen, sondern können auch zu einer
individuellen Rollenrepräsentanz kommen. Ergänzungsrollen: Gegenseitige Erwartungen
leisten einen wesentlichen Beitrag zur Erfüllung/Darstellung der Rollen.
Sehr klar hat diesen Sachverhalt der Dichter Novalis ausgedrückt: „Die höchste Aufgabe der
Bildung ist, sich seines transzendentalen Selbst zu bemächtigen, das Ich seines Ichs zugleich
zu sein. (...) Ohne vollendetes Selbstverständnis wird man nie andere wahrhaft verstehen
lernen.“ (Novalis 1978, S. 80)
Der Bildungsbegriff im System der Pädagogik
Der in Wien gelernte Philosoph und in Bonn bei Josef Derbolav und später bis jetzt an der
Humboldt-Universität Berlin lehrende Erziehungswissenschafter Dietrich Benner (2001) stellt
den Bildungsbegriff in den Zusammenhang der „Zweckbestimmung der pädagogischen
Praxis“ und differenziert die Zwecke von Bildung „in individuelle und gesellschaftliche
Aufgaben und Teilaspekte“ (S. 150). Den wesentlichen Gedanken seiner Bildungstheorie
formuliert er im Anschluss an ein Fragment von Wilhelm von Humboldt (1767 - 1835) aus
den Jahren 1793/94, in dem er seine Bildungstheorie darlegt. Nach ihr besteht Bildung darin,
dem „Begriff der Menschheit“ in sich selbst einen so großen Inhalt als möglich zu schaffen.
Dazu muss der Mensch Welt erfahrend und in ihr handelnd Welt verändernd und bildend tätig
werden. In „Wechselwirkung“ mit seiner Umwelt und Mitwelt bildet der Mensch zugleich
auch sich. Wörtlich heißt es bei Humboldt: „Die letzte Aufgabe unseres Daseins, dem Begriff
der Menschheit in unserer Person (...) einen so großen Inhalt als möglich zu verschaffen, diese
Aufgabe löst sich allein durch die Verknüpfung unseres Ich mit der Welt zu der
allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung." (Theorie der Bildung, zit. nach
Groot-Hoff, 1975, S. 197, vgl. auch Menze, 1970, S. 134 - 183)
(Humboldt 1960, S. 237).
Abbildung 1: Prinzipien pädagogischen Denkens und Handelns (Benner 2001, S. 128)
A Theorie der
Erziehung
Konstitutive Prinzipien der
individuellen Seite
Regulative Prinzipien der
gesellschaftlichen Seite
(2) Aufforderung zur
Selbsttätigkeit
(3) Pädagogische Transformation
gesellschaftlicher Einflüsse
und Anforderungen
(2) : (3)
B Theorie der
Bildung
(1) : (4)
(1) Bildsamkeit als Bestimmtsein (4) Nicht-hierarchischer
des Menschen zu rezeptiver
Ordnungszusammenhang der
und spontaner Leiblichkeit,
menschlichen Gesamtpraxis
Freiheit, Sprachlichkeit und
Geschichtlichkeit
C Theorie pädagogischer Institutionen und ihrer Reform
(1) / (2) : (3) / (4)
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Die Praxisformen nach Benner: Arbeit, Pädagogik, Ethik, Politik, Kunst, Religion können
sicher auch z. B. um das Recht, um die Medizin oder um die Wirtschaft erweitert oder auch
anders konzipiert werden.
Perspektiven/Aspekte
bei
pädagogischer Situationen
der
Gestaltung/Planung/Analyse
Bei der Gestaltung, Planung und Analyse pädagogischer Situationen ist all das zu beachten,
was auf die pädagogischen Prozesse wirkt. Von der pädagogischen Theoriebildung her
gedacht muss jede Aussage in einem Kontext stehen, der die Förderung bzw. Erweiterung
freier Handlungsführung von Individuen meint. Diese kann auf vielfältige Weise
eingeschränkt sein. Diese Kontexte sind systematisch für eine bestimmte Fragestellung
analytisch festzustellen. Grundsätzlich betrifft das ein Individuum als Einheit von KörperSeele-Geist und als soziales/gesellschaftliches Wesen.
Abbildung 2: Aspekte der Analyse und Planung von pädagogischen Situationen
Körper
Seele
Geist
Sozietät
physische,
neurophysische
Basis des
Handelns
Klarheit des
Bewußtseins
über die
psychischen
Funktionen, auf
denen das
Handeln aufbaut:
Bewußtheit über
das eigene
Handeln.
Klarheit über
seine Einbettung
in
Wertvorstellunge
n, Sinnkonzept Identität
Normen, Rollen, Institutionen,
Konsens über
Werte,
Kommunikation,
Kooperation,
Solidarität
Gesellschaft
Recht,
Wirtschaft,
Politik, Kunst,
Sprache Religion
Bewegung, Wahrnehmung, Fühlen, Wollen Denken,
Intuieren, Sprechen, Gedächtnis
Milieu, seine Einflüsse auf die
individuelle Lebensgeschichte
Entwicklung, Geschlecht
Geschichte
Anthropologie
Da pädagogisches Handeln durch alle diese Faktoren beeinflusst sind, müsste je und je gezeigt
werden, wie diese Faktoren bestimmtes Handeln von Individuen oder Gruppen in ihrer
Entwicklung zu freier Handlungsführung oder bei ihrer Zunahme zu mehr Selbstkompetenz
fördern oder stören. Es muss´gefragt werden, was Menschen tun/welche Methoden sie
einsetzen, um die Hemmnisse durch diese Faktoren zu minimieren oder zu beseitigen.
Diese Faktoren lassen sich auch in Form einen einfachen Aufzählung zusammenstellen, mit
der die Intention verbunden ist, alle jene Aspekte zu finden, die auf einer höheren
Abstraktionsebene, die eine Taxonomie noch ermöglicht, steht. Wer weitere Aspekte dieser
Abstraktionsebene findet, ist eingeladen, die Liste zu vervollständigen.
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 Anthropologischer Aspekt (Wer ist der Mensch?)
 Interaktioneller Aspekt
 Biologischer Aspekt
 Psychologischer Aspekt (Entwicklung, Motivation, Lernen ...)
 Energetischer Aspekt
 Geschlechtsspezifischer Aspekt (z. B. Mädchen bekommen derzeit bessere Noten als
Jungen3)
 Lebensgeschichtlicher Aspekt („Berücksichtigung der Individuallage“; Umstände, welche
die Entwicklung von Personen hemmen oder fördern können)
 Soziologischer Aspekt
 Wertaspekt, Bildungsaspekt (was will man)
 Institutioneller Aspekt
 Ökonomischer Aspekt
 Gesellschaftlicher Aspekt (bei uns wird anders gelernt als bei den Hopi-Indianern)
Denken als kommunikativer Prozess
Denken ist immer auch ein kommunikativer Prozess. Literarisch vorgelegt am besten bei
Plato, der die Bewegung des Gedankens in Gespräche, Dialoge einkleidet. Auch als einer
allein am Schreibtisch Sitzender beziehe ich die anderen – für die wieder ich zu den anderen
gehöre – in meine Gedankengänge ein: Können alle die Konsequenzen wollen, die entstehen,
wenn alle das tun, was ich will? Damit ist gesagt, dass alle Aussagen zumindest im sozialen
Bezug – und dies gilt auch für den Verwertungsbereich der Naturwissenschaften (siehe die
Ökologie) – Bewertungen enthalten, also letztlich moralisch/ethische Grundlagen haben.
Erziehung ist ein bewusst geplanter, wechselseitig bestimmter interaktiver Prozess, in dem das
Ziel einer selbstbestimmten Handlungsführung auf allen für das gesellschaftliche Leben
wichtigen Bereiche angestrebt wird. Damit ist auch Diskursfähigkeit eingeschlossen.
Selbstbestimmte Handlungsführung entwickelt sich nur über freie Aktivität oder in einer
aktiven Umgebung. Entwicklung geschieht in Interaktion mit Menschen und Dingen. Faktisch
geschehen solche Interaktionen häufig in Gruppen, Institutionen. Bedeutsam ist das Klima, in
dem sich die Interaktionen abspielen und dieses ist wiederum abhängig von der Größe der
Gruppe oder Institution.
Ziel von Erziehung ist Handlungsfähigkeit, Diskursfähigkeit, Entscheidungsfähigkeit
eingeschlossen und zwar in allen Bereichen menschlichen Daseins. Da ein Mensch unmöglich
alles erreichen kann, sich alles aneignen kann, konkretisiert sich dieses globale humane Ziel
jeweils über die realen Handlungsfelder, in die jeder eingebunden ist. Einige davon sind
allerdings so universell, daß sie für alle relevant sind:
 Bezug zur Natur
 zur sozialen Umwelt (mindestens Nachbarschaft)
Frage: Wieweit sollte jeder gefordert werden, dass er zumindest auf der jeweils untersten
politischen Ebene agieren lernt.
 zu sich selbst
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 zur Transzendenz
Grundsätzlich müßte jeder zu diesen Handlungsfeldern Stellung nehmen können, wie weit,
wie intensiv, wie elaboriert, das hängt wieder von seinem konkreten Arbeits- bzw.
Betätigungsfeld ab. Und innerhalb dieser Bereiche lassen sich wieder global wichtige
Schwerpunkte unterscheiden: Ökologie, Frieden, Subjektivität des einzelnen im Ich-DuVerhältnis (vgl. KLAFKI Wolfgang: Vortrag gehalten in Wien, Glöcklsymposion 1984).
Bewusstseins- und Deutungsebenen von Welt
Auch im alltäglichen Leben gibt es die Unterscheidung von verschiedenen Bewusstseins- und
Erlebnisebenen. Grundsätzlich kann jedes Phänomen nach diesen Bewusstseinsebenen
gedeutet werden. Demonstrieren wir dies einmal am Begriff „Zeit“.
1. Zeit kann als physikalische Einheit, messbar mit der Uhr, dem Sonnenstand etc. aufgefasst
werden. Wie gesagt, kann jedes Phänomen, auch z.B. der Deutungsprozess selbst von
seiner physikalisch-chemischen Struktur her erfasst werden und es kann durchaus von
dieser rein phänomenalen Ebene aus Welt mit einer bestimmten Reichweite gedeutet
werden. Problematisch ist es nur, wenn diese oder auch eine andere Weise der Deutung
absolut genommen wird, denn dann bewegen wir uns auf dem Feld der Ideologie. Bezogen
auf den Begriff „Zeit“ ist klar, dass in seiner physikalischen Dimension gewisse
Erfahrungen von Zeit nicht mehr gedeutet werden können. So kann
2. Zeit als Erlebniseinheit, oder das Phänomen der psychischen Präsenzzeit nicht mehr bloß
physikalisch gedeutet werden. Die subjektive Erfassung von Dauer im Sinne von
Langeweile oder dem Erleben, dass die Zeit wie im Flug vergehe, erschließt sich nur dem
Subjekt in seinem eigenen Erleben. Etwas Unangenehmes dauert bei gleicher
physikalischer Zeit subjektiv länger als etwas Angenehmes. Zeit ist da also nur vor dem
Hintergrund des Erlebens zu fassen.
3. Darüber hinaus kann Zeit auch als „zeitigen“ (Heidegger) gefasst werden, wobei die Zeit
unter dem Aspekt von Entwicklung gesehen wird, die auf ein bestimmtes entweder
organismisches oder konzeptiv gefasstes, bewusst angestrebtes Ziel hinausläuft. Alles
braucht seine Zeit, bis es sich über Widerstände zu sich selbst entwickelt. So braucht auch
das Durchlaufen der eben abgehandelten Formen des Bewusstseins seine Zeit.
Im Blick auf das Sein im Hier und Jetzt verschwindet diese im Handeln bewusster
Individuen entworfene Zeit. Angelus Silesius drückt das in den Versen aus: „Du selbst
machst die Zeit,/das Uhrwerk sind die Sinnen;/Hemmst du die Unruh nur,/so ist die Zeit
von hinnen.“ Dies verweist auf einen weiteren Modus der Zeit.
4. Überlasse ich mich dem Strom der Zeit, dann verlieren angesichts des universellen
Bewusstseins die Dimensionen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ihre
Bedeutung und es ist ein Erleben der Gleichzeitigkeit von allem möglich. Ein Leben im
Hier und Jetzt erfordert ein klares Bewusstsein der eigenen Endlichkeit und ein
Überschreiten der Grenze von Zeit in conspectu aeternitatis. Dies meint der deutsche
Mystiker Jakob Böhme (1575 - 1624), wenn er schreibt: „Wem Zeit ist wie Ewigkeit/ Und
Ewigkeit wie die Zeit,/ Der ist befreit/Von allem Streit.“
Was hier mit dem Begriff Zeit zu demonstrieren versucht wurde, ließe sich grundsätzlich mit
jedem Begriff tun. Versuchen wir diese Deutung noch am Begriff des Raumes
nachzuvollziehen.
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1. Physikalischer Raum: Es ist der geometrische Raum als äußere Wirklichkeit gemeint, der
reale Raum mit seinen drei Dimensionen.
2. Der überschaubare Erlebnisraum: Es ist der Raum, den ich in meinem Handeln gestalte. Es
ist damit die Erfahrung verbunden, dass eine Person, die weit weg ist, mir näher sein kann,
als eine, die neben mir sitzt. Ich unterscheidet sich von seinem Erleben als raum-zeitliches
Geschehen. Der Raum ist die Hindergrundgewissheit für das alltägliche Leben, der Raum
als Konkretes, als Empfindung.
3. Die bewusste Erfüllung und Gestaltung des Raumes: Jede Person braucht ihren
Aktionsraum für ihre Selbstverwirklichung, nicht beliebig, sondern in der Anerkennung
des Raums, den andere brauchen. Raum gilt hier also als bergender Lebensraum.
Allgemein gilt für diese Bewusstseinsform, dass es bewusstes Leben ist, das Entwerfen
eines Lebenskonzepts. Ich bin, wozu ich mich im Handeln mache, Selbstbewusstein.
4. Aufhebung des Raumes - Allgegenwärtigkeit: Allgemein gesprochen wird deutlich, dass
sich jede Person selbst in einem unendlichen Prozess des Werdens befindet.
Erich Heintel (1968, S. 57 - 64) hat in der gleichen Absicht mehrere Formen von Innen
unterschieden:
1. Ein räumliches Innen: Hut in der Schachtel, Hirmasse im Kopf
2. Komperative Innerlichkeit
3. Innerlichkeit des Begirffs
4. Innerlichkeit des Geistes
Einheit von Sagen und Handeln
Philosophieren ist Handeln wie Denken ein Handeln ist. Philosophie ist nicht bloßes
Konstruieren, sondern setzt ein Achten auf sich selbst voraus, um sein Leben
nachkonstruieren zu können. Was soll Philosophie anderes analysieren als das Leben selbst,
wie es sich im Denken niederschlägt. Wer ein reicheres Leben hat, hat eine reichere
Philosophie, umspannend nicht nur die Erde, sondern auch den Kosmos und auch ein
„göttliches“ Bewusstsein. Warum soll man der Wissenschaft wegen, weil im
Wissenschaftsbetrieb durch manche ihrer Vertreter Regeln aufgestellt werden, was gedacht
werden kann – und das wird dann bald zu einem gedacht werden darf – nicht an den Reichtum
des Lebens halten und alle Fragen zulassen, auch die vom Sinn überhaupt. Die Philosophie
oder das Denken ist für alle Phänomene des Lebens offen zu halten, auch für die, die es
eigentlich nicht geben „dürfte“.
Ein Philosoph, der nicht seine Voraussetzungen formuliert und einfach zu reden beginnt, ist
unredlich. Denn Philosophiern kann nur sich selbst Deutung der eigenen Welt sein. Kriterium
von Wahrheit kann demnach letztlich nur sein, wenn das, was jemand sagt, mit dem
übereinstimmt, was er tut. Jeder Erkenntnisprozess beruht auf einem bewussten Handeln, d.h.,
einem Handeln, dessen Ausgang vorweggenommen wird. Wir bilden so gesehen dauernd
Annahmen (- Hypothesen) über die Wirklichkeit, die sich im Handeln bestätigen oder nicht.
Dadurch baut sich uns unsere Welt auf.
Was ist aber dieses reale Leben? Wo können wir es fassen? Unsere eigentliche Realität ist,
dass wir mit anderen handelnde Individuen sind. Die Grundlage unseres Denkens liegt also in
dieser vorausgesetzten Wirklichkeit als Handelnde, auf die wir uns beziehen müssen, sollen
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unsere Konstruktionen über die Wirklichkeit eine Nachkonstruktion dieser sein. Nochmals,
die vorausgesetzte Wirklichkeit erschließt sich in unserem Handeln.
Es sollte klar sein, dass der Denkprozess selbst ein Handeln ist. Es wird etwas behauptet,
verglichen, bewertet, entschieden. Was wir jeweils tun, sollte klar vermittelt sein, damit ein
anderer den Gedankengang in gleicher Weise nachvollziehen kann. Bewertungen sollten offen
gelegt, Entscheidungen begründet werden. Da wir uns auf einer metatheoretischen Ebene
bewegen, kann das nicht anders erfolgen, als dass wir verschiedene Behauptungen einander
gegenüberstellen und uns fragen, welche Konsequenzen sich aus der einen und welche sich
aus der anderen Behauptung ergeben, und welche der Konsequenzen wir wollen, wir unter
dem Gesichtspunkt unserer Bewertungen, die ihren letzten Grund in einer uns gewünschten,
uns glücklich machenden Lebenspraxis haben, wollen können. Die Frage ist also, können
unsere Annahmen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen zu einem guten Leben – und
wir fügen hinzu – für alle führen. Es ist also nicht von einem partikularen Glück, sondern von
einem für uns alle die Rede.
Kann ich wissen, was für den anderen Glück ist? Die Antwort ist eindeutig "Nein". Aber was
zu tun möglich ist, dass wir uns das, was uns Glück bedeutet, einander mitteilen, bewusst den
anderen oder die anderen in unsere Überlegungen einbeziehend. Im Diskurs kann sich zeigen,
was jeweils den einzelnen Glück bedeutet und ob und wie, unter welchen Bedingungen dies
allgemein werden kann. Bewahrheiten wird sich das wiederum nur im Handeln.
Daher muss Wissenschaft an der Erfahrung entwickelt werden und nahe genug am Handeln
bleiben, dass das Wissen konkret ist und für sich Handlungsrelevanz besitzt. Eine solche
Wissenschaft bindet sich bewusst an durchführbare Handlungspläne, die auch für andere
mitteilbar sind. Teils hat sich der Wissenschaftsbetrieb schon so sehr von Handlungen, vom
Handeln losgelöst, dass die Aussagen nicht mehr im eigentlichen Sinn verstanden werden.
Daher brauchen wir wieder eine Wissenschaftsmethodik, die zugleich Wissenschaftsdidaktik
ist. Die Wissenschaftsmethodik muss allgemein gelten, weil sonst die Gefahr besteht, dass
sich Wissenschaft so weit verselbständigt und in abstrakte Modelle davon triftet, dass wir uns
möglicherweise von der Basis der Wissenschaft loskoppeln und wir nicht mehr zur Basis
zurückfinden, wodurch es auch zu einem Verlust des Verstehens der abstrakten Modelle
kommen kann, wodurch wir in eine allgemeine Barbarei zurückgerieten. Ortega y Gasset
(1883 - 1955), spanischer Sozialphilosoph, hat ein solches Gedankenexperiment in seinem
Hauptwerk „Der Aufstand der Massen“ (1931, 1960) durchgespielt.
Wir brauchen also eine Wissenschaft, die voll auf Erfahrung bis in jede Einzelheit aufgebaut
ist. Denn bei unserem heutigen Wissen gibt es viele Ansatzpunkte, an denen das Wissen linear
weitergedacht zur Katastrophe führt. Das an Handlungspläne gekoppelte Denken ist immer
auch ein vernetztes Denken. Denn wenn umgekehrt die Regel gilt, dass nichts getan wird, was
nicht nachvollzogen werden kann, dann ist das die beste Gewähr für ein Denken in
Regelkreisen, denn im Handeln bekommen wir unmittelbar Rückmeldung für unser Tun. Dies
ist dann zugleich eine humane Wissenschaft, die das Maß des Menschlichen beachtet, das mit
dem Leben arbeitet und sich nicht zum Herrn über das Leben aufspielt.
1. Axiom dieser Wissenschaft ist also: Nur darüber kann ich etwas wissen, was ich
erfahrbar nachvollzogen habe. "Erfahrbar" soll nun nicht heißen oder gleichgesetzt werden
mit "beobachtbar" und „quantifizierbar". Es heißt vielmehr direkt auf Handeln bezogen und
damit auch nachvollziehbar. Zu beachten ist, dass dies wiederum nicht wiederholbar heißt.
Wenn der Satz gilt, dass "alles fließt" und man niemals in denselben Strom steigen kann – und
dieses Wissenschaftskonzept folgt eher einem solchen Paradigma –, dann kann
Wiederholbarkeit sich nur auf eine abstrakte, reduzierte Wirklichkeit beziehen. Das Kriterium
der Nachvollziehbarkeit meint, dass die Handlung so gedanklich durchdrungen ist, dass ein
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vollständiger Handlungsplan vorliegt, der die Handlung bis in Einzelheiten so präzise
beschreibt, dass bei veränderten Bedingungen diese jeweils mitbedacht werden können. Es
geht also um Handlungsabläufe, die in unterschiedlichen Kontexten vorkommen, Handlungen
in und mit der natürlichen Umwelt bis hin zu metatheoretischen oder philosophischen
Erörterungen. Immer geht es um Handeln mit Wirklichkeiten. Auch das Denken ist eine
Wirklichkeit und sofern kann man auch mit dem Denken handelnd verfahren.
2. Erst gedanklich durchdrungene Erfahrung ist wirkliche Erfahrung. Sie ist erst dann
aufgeklärte, bewusste Erfahrung, die systematisch Erfahrung ermöglicht. Wahrnehmung oder
Erfahrung ohne den Begriff ist blind (Kant 1956, S. 95). Erst dann wird Erfahrung mitteilbar
und von einem anderen nachvollziehbar. Schritt für Schritt muss dem anderen gezeig werden,
wie man zu einem bestimmten Wissen gekommen ist. Auch wenn das Handeln an soziale
Interaktionen angebunden ist oder gar an Handlungen, deren Akteur ich alleine bin. Natürlich
gibt es da letzte Einheiten, die vorauszusetzen sind. Es gibt undefinierte Prädikate.
Empfindungen oder Sinneseindrücke, z. B. die Empfindung von Schmerz oder der
Sinneseindruck "rot" sind solche letzte Einheiten. Vielleicht kann ich meinen Schmerz
überhaupt niemanden mitteilen und gibt es eine „Privatsprache“ (Wittgenstein) oder besser
einen Bereich, den ich anderen nicht mitteilen kann. Und doch fragt der Arzt danach, ob der
Schmerz dumpf, ziehend, stechend usw. ist, um diagnostizieren zu können oder besser, um
Anhaltspunkte für die Diagnose bekommen zu können. Wir werden uns auch nur über
Vergleiche einigen können, ob wir unter einem bestimmten Sinneseindruck das Gleiche
meinen. Wir müssen also entweder ähnliche Erfahrungen schon gemacht haben oder erst
machen, wenn wir uns einigen wollen bzw. wenn wir sie mitteilbar machen wollen.
Dieser Erfahrungen, Empfindungen, Sinneseindrücke und damit verbundenen symbolischen
und gedanklichen Repräsentationen muß ich mir also bewusst sein oder sie mir bewusst
machen. "Höre auf dich selbst, symbolisiere es und bringe es in einen Zusammenhang der
Beschreibung." Das muss jeder leisten, wenn er sich mitteilbar machen will.
3. Erfahrung ist handlungsgebunden. Handlungen sind die Analyseeinheiten, Handlungen
verschiedenster Art. Handlung ist das genus der Definition, die verschiedenen Handlungsarten
die differentia specifica. Handlungen können einfach und sehr komplex sein. Es fragt sich,
was jeweils als Handlungseinheit gefasst wird. Es ist sinnvoll, komplexe Einheiten in kleine
zu zerlegen. Vom Grundsatz der Mitteilbarkeit her ergibt sich, dass komplexe Handlungen so
weit in Elemente aufgelöst werden, dass sie eindeutig werden. Es sollte aber klar bleiben, dass
nur die Handlung eine Einheit ist, die gewährleistet, dass der Sinn der Handlung erhalten
bleibt.
4. Erfahrungen sind nur als nachvollziehbar verwertbar. Wirklich nachvollziehbar sind
aber nur Handlungen, für die es Anweisungen gibt. Wenn ich jemandem eine Anweisung gebe
und er befolgt sie in dem von mir gemeinten Sinn, d. h. er führt sie nach meiner Vorstellung
aus, dann weiß ich am besten, dass er sie verstanden hat.
5. Was selbst entdeckt wurde, wird am besten verstanden. Um etwas selbst zu entdecken,
muss eine Person selbst in die Materie eintauchen. Mitteilen wird also Situationen des SelbstEntdeckens herstellen und wird sich nicht mit Bereitstellung von Material begnügen, das
gebraucht wird, um den Entdeckungsvorgang zu ermöglichen. Der Historiker Leopold von
Ranke (1795 - 1886) hat den Satz geprägt: Die Wissenschaft ist die Geschichte ihrer
Entdeckungen. Daher sollte man nie Resultate vorlegen, sondern veranlassen, daß der Prozess
der Entdeckung nachvollzogen wird. Das gilt für alle Wissenschaften, nur dass die
Gegenstände spezifisch sind und mit ihnen auch die Methoden. Für den didaktischen Prozess
ist auch noch bedeutsam, dass die Lernenden mit Lebensvorgängen nur konfrontiert werden,
was sie damit tun, ist ihre Sache. Es hilft nicht, sie auf die Bedeutsamkeit eines Gegenstandes
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hinzuweisen, wenn es nicht für sie wichtige Lebenszusammenhänge gibt, in denen sie es
brauchen. Ist dieser Zusammenhang klar oder offensichtlich, dann bedarf es auch keiner
zusätzlichen Motivation.
Motivation hat mit urmenschlichen Bedürfnissen zu tun. Wenn nicht sie Pate stehen, wird
Lernen und Lehren bald abstrakt. Die Lernenden verlieren die Freude, die sie haben können,
die Freude am Entdecken, am Erkunden von Welt, am Wunsch sich auszukennen, sich in der
Welt zurechtzufinden. Lernen macht Freude. Wenn das nicht geschieht, dann in der Regel
deshalb, weil Lernen erzwungen wird oder personfremde Dinge verlangt werden bzw.
überhaupt nicht personorientiert vorgegangen wird. Der Gegenstand ist dann wichtiger als die
Person. Man spricht dann von lernzielorientiert und gibt sich gesellschaftsorientiert in dem
Sinn, dass damit den Menschen geholfen werde, ist dabei aber rein gesellschaftserhaltend und
nicht gesellschaftskritisch. ... Letzteres verlangt, dass Personen zu sich selbst gekommen, sich
und ihre Wünsche, Bedürfnisse, Wertungen artikulieren können. Das kann nicht gelernt
werden, wenn sie fremdbestimmt werden. Daher muss ich Menschen Entscheidungen selbst
treffen lassen. Daraus folgt das
5. Axiom: Wissenschaft ist frei, nur gebunden an die Wahrheit des Gegenstandes, seine
Sachgemäßheit und das eigene Ich, das wir handelnd werden und sind. Das Aufstellen
von Kriterien für Wissenschaftlichkeit ist in der Regel mehr an Übereinstimmung orientiert,
an abstrakten Regeln der Nachprüfbarkeit. Streng genommen hat jeder Gegenstand sein
eigenes Bestätigungsverfahren. Es gibt keine zwei gleichen Dinge - Prinzipium
individuationis (Leibniz 1960, S. 12). Es gibt keine zwei Blätter, die gleich sind. Im
allgemeinen genügt es nach Arten zu unterscheiden. Es kommt darauf an, was ich mit den
Dingen oder mit Sachverhalten handelnd tun möchte. Was darf ich noch tun und was darf ich
nicht mehr tun, um einen Sachverhalt nicht zu verändern und dann ein Konstrukt zu
untersuchen. Durch die Regeln der Wissenschaftlichkeit werden Sachverhalte in der Regel zu
Konstrukten gemacht und diese werden dann untersucht. Es gehört zumindest zur
wissenschaftlichen Redlichkeit, dies zu beachten und in die Interpretation der Ergebnisse
einzubeziehen. Es kommt auch immer auf den Standpunkt des Beobachters an.
Wird die Frage nach dem Beobachter als dem Konstrukteur der Wirklichkeit zugelassen, dann
ist immer auch die Frage nach der Güte des Instruments der Beoachtung selbst zu stellen (vgl.
Maturana 1996).
Die andere Voreinstellung ist die, so offen als möglich die Dinge anzuschauen, ihnen so offen
als möglich zu begegnen, sich auf sie einzulassen. Der Streit zwischen "harten" und "weichen"
Daten ist ein Streit der Wissenschafter an den Dingen vorbei. Dies gilt im besonderen für die
Sozialwissenschaften, auf die man die Regeln, die einer anderen Wissenschaft angehörten und
Gegenstände anderen Typs untersucht, der Physik übertrug. Man muss sagen „angehörten",
denn seit Einstein hat sich die Methodologie der Physik bedeutend verändert. Der Standpunkt
und die Manipulationen des Beobachters werden einbezogen. So müssten alle abstrakten und
abstrahierenden Regeln aufgegeben werden, um die Dinge sprechen zu lassen. Alles hängt an
der Wahrhaftigkeit und Redlichkeit des Wissenschafters. Regeln können frei aber auch unfrei
machen. Sie machen nur frei, solange man noch keinen Überblick hat. Ist dieser gegeben,
binden Regeln. Wesentlich kommt es wieder darauf an, das, was ich tue, um einen
Gegenstand zu erfassen, gedanklich so zu durchdringen, einen so klaren Plan meines
Handelns zur Erfassung des Gegenstandes zu machen, dass es für andere mitteilbar ist.
6. Lernen gibt es nur im ununterbrochenen Zusammenhang von Erfahrungen. Das
schulische zerstückelnde Lernen macht interesselos, ist lebensfeindlich. Der Zusammenhang
von Erfahrung hat zwei Aspekte: 1. Der Zusammenhang muss im Lernenden stattfinden. Der
Lehrer/Billdner kann versuchen, entsprechende Materialien und Situationen bereitzustellen, an
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Karl Garnitschnig (2003) Bildung
denen der Lernende diese Erfahrung machen kann. 2. braucht es eine Kontinuität des Lebens,
eine Kontinuität von Beziehungen zu Dingen, sozialen Situationen und Personen, damit die
Lernenden auch ausreichend Zeit haben, ihre Erfahrungen machen zu können.
Das was man oft gemeinhin als Lernprobleme bezeichnet, sind eigentlich Probleme der
Institution, denn sie lässt weder die Lernenden noch die Lehrenden so sein, wie das Leben es
fordert. Beispiele dafür gibt es täglich. Wenn der eine oder andere Lehrende doch etwas
lebenförderliches tut und tun kann, dann geschieht es gegen Widerstand.
Es sollte klar sein, dass solches Lernen Zeit braucht. Der Lernende muss die Möglichkeit
haben, eine Atmosphäre vorfinden, in der es mit den Dingen in Beziehung treten kann, frei
nach der Vorlage seine Erfahrungen machen kann. Da darf es auch "Fehler" geben, besser
Abweichungen von der Vorlage, weil dies den spielerischen Aneignungsprozess fördert, die
Kontinuität zwischen der eigenen Erfahrung, der Körperrückmeldung und dem Gegenstand.
Der Umgang mit dem Gegenstand muss als Austauschprozess zwischen Körper,
Empfindungen, Wahrnehmungen, Verstandesprozessen und den Dingen erlebbar sein können.
Dialektik
Es ist zwischen einer Gegenstands- oder Realdialektik und einer Bewusstseinsdialektik zu
unterscheiden. Erstere meint, die Realität, die Geschichte wiesen Widersprüche auf und
bewegten sich in der Aufhebung der Widersprüche und je neuer Entstehung von
Widersprüchen fort.
Für die Bewusstseinsdialektik ist die Realität, über die gesprochen wird, die Einheit von
Subjekt-Objekttivität, also die von Menschen nachkonstruierte Wirklichkeit. Der Mensch mit
seiner Ausstattung an psychischen Funktionen und seinen Kategorien der Weltbeschreibung
erfasst die Welt in spezifischer Weise. Wir erfassen nicht die Welt an sich – das ist eine bloße
Denkkatigorie – sondern die Welt ist die über unsere Lebensgeschichte erfahrene, gedeutete,
reflektierte Welt. Dies ist unsere Realität, die letzte tragende Einheit, hinter die wir nicht
zurückblicken können. Jenseits ihrer mag es einen Angelpunckt geben, durch den unsrer
jetziges Bewusstsein aus den Angeln gehoben werden mag, aber zum gegenwärtigen
Zeitpunkt ist es eben dieses durch unsere Lebensgeschichte, die die Gattungsgeschichte mehr
oder weniger in sich enthält, so und so gewordene Bewusstsein. Entsprechend ist ihre
Dialektik der Versuch der Vereinigung von Gegensätzen, die wir im Handeln und bei dem
Versuch, unser Handeln zu erfassen, erfahren.
Pädagogik (aber auch Therapie) sind, wenn sie nicht von dem Grundsatz ausgehen, dass jede
Person in ihrer Eigenart als „vollkommener Mensch“ zu sehen ist, der den Maßstab für seine
Entwicklung in sich trägt, zum Scheitern verurteilt, weil man nur mit den Kräften der Person
arbeiten kann. Der gesamte pädagogische und therapeutische Prozess soll dahin wirken, dass
eine Person ihre Kräfte, ihre Fähigkeiten frei zum Ausdruck bringen kann, um so zu ihrem
Selbstausdruck zu kommen. Damit ist auch das Ziel des therapeutischen Prozesses formuliert:
der Klient soll Zugang zu seinen eigenen Ressourcen bekommen.
Daher muss die Entwicklung der Person aus ihr selbst heraus erfolgen können. Pädagogik und
Therapie wären so gesehen „Lösen, Freilegen, Abbauen“, „damit die Seele selbst nach ihrem
inneren Gesetz wieder tätig und lebendig wird, was sie ‘von Natur her’ ist“ (Flitner 1924,
1987, S. 9).
Der Mensch ist von allem Anfang an Mensch, hat potentiell alle Möglichkeiten des
Menschseins in sich, die aber erst in sozialen Prozessen zu dem werden, zu dem sie werden
können. Bei entsprechend anregender Umwelt baut der Organismus die gesamte
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Karl Garnitschnig (2003) Bildung
Handlungskomplexität durch Differenzierung einfacher Grundfunktionen und -operationen
auf. Er ist aktiv und wählt aus dieser Umwelt jene Informationen aus, die er auf Grund seiner
Dispositionen zu erfassen in der Lage ist. Der Organismus also kann zwar nur – ausgedrückt
im Reiz-Reaktionsschema – auf diese Reize reagieren, auf die er zu reagieren in der Lage ist,
aber der Organismus ist ein aktives Instrument der Reizselektion.
Die anfängliche Angewiesenheit des Kindes auf Bezugspersonen, die so geringe
Festgelegtheit auf Instinktregulierungen ist der Preis und zugleich die Chance für die
unwahrscheinlich große Plastizität und Lernfähigkeit des Kindes. Bekommt allerdings das
Kleinkind die Zärtlichkeit, das Vertrauen, die Achtung und die Einfühlung in seine
Bedürfnisse nicht von allem Anfang an, bekommt es zu geringe Anregung aus seiner Umwelt
oder wird es in seinen Aktivitäten gebremst oder eingeschränkt, dann bleibt es hinter seinen
Möglichkeiten zurück. Die so versäumte Entwicklung seiner Fähigkeiten kann später nur mit
mehr Anstrengung und nicht mehr in der gleichen Perfektion erreicht werden (vgl. Nikitin
1984). Wird ein Kind durch äußeren Druck gar daran gehindert, seine Gefühle und in
Übereinstimmung mit ihnen zu leben, wird es neurotisch. Es wird seine Gefühle nach innen
oder nach außen abspalten (Gruen 1990), bzw. beginnen, Abwehrmechanismen aufzubauen,
um seine innere Welt gegen die Ansprüche und Bedrohungen von außen einigermaßen
aufrecht erhalten zu können. Dabei nimmt allerdings das Individuum in Kauf, Teile der
Realität verzerrt oder überhaupt nicht mehr wahrzunehmen. Dies gilt auch noch für den
Erwachsenen.
Der Mensch als Einheit von Körper, Seele und Geist
Eine postulierte Einheit von nicht aufeinander rückführbaren Entitäten läßt sich als
kybernetisches Modell mit Rückmeldeschleifen verstehen. Welchem dieser Entitäten die
Steuerung zugeschrieben wird, bzw. welche dieser Entitäten faktisch die Steuerung hat, davon
wird die Konstruktion des Konzepts bestimmt. Das Konzept mit der größeren Reichweite, das
also mehr erklärt und das in der Lage ist, andere Konzepte zu umfassen, sollte das
bestimmende Konzept sein, weil die anderen Konzepte gegenüber diesem Konzept
reduktionistisch sind. Das bestimmende Konzept sollte aber in der Lage sein, die anderen
Konzepte in sich zu integrieren.
Anthropologisch ist nun interessant, dass der Mensch zwar nicht spezialiserte Organe hat,
dass er aber eine äußerst differenzierte Fähigkeit der Reizverarbeitung besitzt, und dass die
Verbindung zwischen Reizauslösung und Reaktion sehr lose ist. Man kann sich eine Skala
zwischen einer völligen Reizgebundenheit bis hin zu einem hohen Grad von Reizlosgelöstheit
vorstellen.
Der Mensch ist durch seine seelisch-geistige Struktur dazu in der Lage, auf seinen
Organismus zu achten, so dass es ihm möglich ist, zwischen dem Reiz und der Auslösung der
Reaktion einen bewussten Verarbeitungsprozess dazwischen zu schalten, so dass er die
Reaktion auf einen Reiz selbst gestalten kann. Dieser Prozess muss aber von jedem Menschen
selbst geleistet werden, soll er stattfinden. Sofern und soweit ein Mensch dies leistet und je
differenzierter er das tut, schreiben wir ihm mehr oder weniger Personsein zu.
Der zur existentialistischen Philosophie zu zählende Maurice Merleau-Ponty (* 1908) und der
in seinem Denken Hegel, Husserl, Heidegger verpflichtet ist, hat sich wie kein anderer in
scharfen Analysen um die Einheit von - wie er es formuliert - Materie, Leben, Geist bemüht.
Er fasst sie in seiner transzendentalen Einstellung1 nicht als „drei Realitätsordnungen oder
1
Nach ihm ist die Transzendentalphilosophie jene, die jede nur denkbare Realität als Bewußtseinsobjekt
behandelt.“ (Merleau-Ponty 1976, S. 234)
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Karl Garnitschnig (2003) Bildung
drei Seinsarten“ sondern als „drei Bedeutungsebenen oder drei Einheitsformen“. So ist der
Leib „kein in sich geschlossener Organismus“, sondern er „wird ausschließlich definiert durch
seine Tätigkeit, die alle möglichen Integrationsstufen aufweisen kann.“ (Merleau-Ponty 1976,
S. 235) Man müsse sich in diesem Bereich einer besonders sorgfältigen Diktion bemühen.
„Die Seele wirkt auf den Leib ein“ wäre besser zu formulieren als „das leibliche Geschehen
[wird erst auf] einem höheren Niveau integriert.“ „Der Leib wirkt auf die Seele ein“  das
Verhalten lässt sich „in den Begriffen der vitalen Dialektik oder durch die bekannten
psychologischen Mechanismen“ verstehen. „Mit einem Wort, die angebliche Wechselwirkung
reduziert sich auf ein Wechselspiel oder eine Substitution von Dialektiken.“ (ebd.)
Unter diesem Aspekt ist jedes leibliche Phänomen zugleich seelisch-geistig und umgekehrt.
„Die Zufälle unserer leiblichen Konstitution können stets eine solche Entdeckerrolle
übernehmen, vorausgesetzt, sie werden nicht erduldet als reine Tatsachen, die uns
beherrschen, sondern sie entwickeln sich auf dem Wege der Bewußtmachung zu einem Mittel,
unsere Erkenntnis zu erweitern.“ (Beispiel der angeblich visuellen Anomalie El Grecos)
(ebd.).
„Dieselbe sensorische oder konstitutionelle Schwäche kann eine Ursache der Unfreiheit sein,
wenn sie dem Menschen eine monotone Seh- und Handlungsweise aufzwingt, aus der er nicht
mehr herausfindet, wodurch ein Anlaß für die größere Freiheit, wenn der Mensch sich ihr als
eines Instrumentes bedient. Das setzt voraus, daß er selbst erkennt, an statt immer bloß zu
gehorchen. ... Für ein Wesen, das das Bewußtsein seiner selbst und seines Leibes erworben
hat, das zur Dialektik von Subjekt und Objekt gelangt ist, ist der Leib nicht mehr Ursache der
Bewußtseinsstruktur, er ist zu einem Bewußtseinsobjekt gekommen.“ (ebd.)
Daher lässt sich auch das „Wahrnehmungsverhalten, wie die Wissenschaft es untersucht, ...
nicht ... in der Terminologie von Nervenzellen und Synapsen [definieren], es ist nicht im
Gehirn und nicht einmal im Körper“ (ebd.), es ist als eine zu analysierende Größe für sich zu
sehen.
Unsere Welt ist die Welt, wie wir sie auf der Basis unserer Weltbeschreibung kennen. Wann
immer wir beginnen, über Welt nachzudenken oder über unsere Erkenntnis von Welt, leben
wir schon in einem bestimmten Bezugssystem. Das Bezugssystem ist am besten, das die
Inhalte des Bewusstseins am differenziertesten wieder zu geben vermag. Warum eine Realität
ausschließen
Individualität ist schon von Natur aus gegeben, sofern jedes Seiende individuell ist.
Differenziertheit in der Reizverarbeitung ihrerseits hängt nun wieder von der Bewusstheit der
Wahrnehmung und Kreativität der Person ab, also über die Vorstellungskraft Information so
zu verarbeiten, dass völlig neue Zusammenhänge gesehen werden, so dass neue Ereignisse
kreiert werden können, eine Realität des Bewusstseins.
Hartmut von Hentigs Bildungsbegriff
Hartmut von Hentig fasst in seinem Buch „Bildung. Ein Essay (1996) seine Argumentation in
14 Sätzen zusammen, die hier wörtlich wiedergegeben werden.
„1. Die Antwort auf unsere behauptete oder tatsächliche Orientierungslosigkeit ist Bildung –
nicht Wissenschaft, nicht Information, nicht die Kommunikationsgesellschaft, nicht
moralische Aufrüstung, nicht der Ordnungsstaat.
2. Für die Bestimmung der Bildung, die dies leistet, sind die Kanonisierung von
Bildungsgütern, die Entscheidung für ein bestimmtes Menschenbild, die Analyse der
gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse (zur Ermittlung der geforderten
‘Qualifikationen’) gleichermaßen untauglich.
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Karl Garnitschnig (2003) Bildung
3. Der Mensch bildet sich.
4. Das Leben bildet.
5. Die Schule hat aus Bildung Schulbildung gemacht.
6. In der wissenschaftlichen Zivilisation sind daraus das Mittel und das Kriterium der
akademischen Berufslaufbahn geworden.
7. Die ‘Rückkehr’ zur Bildung ist pädagogisch geboten - ein Fortschritt.
8. Alle Menschen sind der Bildung bedürftig und fähig.
9. Für die allen Menschen geschuldete Bildung gibt es gemeinsame Maßstäbe und geeignete
Anlässe.
10. Das muß Folgen für die Gliederung unseres Bildungswesens haben.
11. Bei geeigneter Stufung des institutionalisierten Lernens können beide Elemente der
Bildung – das platonische und das pragmatische – zu ihrem Recht kommen.
12. Die Oberstufe ist die Stufe der Wissenschaftspropädeutik, der Berufswahl und der
Überleitung in die Berufsausbildung.
13. Die Fächer der herkömmlichen Schule sind brauchbare Anlässe für die gedachte Bildung.
14. Alle Bildung ist politische Bildung: eine kontinuierliche, zugleich gestufte Einführung in
die polis.“ (S. 11 f.)
Als „Maßstäbe“ für Bildung gibt Hartmut von Hentig sechs an:
„Erstens: Abscheu und Abwehr von Unmenschlichkeit.“ (S. 76)
„Zweitens: Die Wahrnehmung von Glück.“ (S. 78)
„Drittens: Die Fähigkeit und der Wille, sich zu verständigen.“ (S. 82)
„Viertens: Ein Bewußtsein von der Geschichtlichkeit der eigenen Existensz.“ (S85)
„Fünftens: Wachheit für letzte Fragen.“ (S. 94)
„Sechstens: Die Bereitschaft zur Selbstverantwortung und Verantwortung in der res publica.“
(S. 96)
Im weiteren führt Hartmut von Hentig „Bildungsanlässe“ aus, über die Bildung im genannten
Sinn erworben werden kann:
1. Geschichten. (S. 104)
2. Das Gespräch (S. 113)
3. Sprache und Sprachen (S. 116)
4. Theater (S. 118)
5. Naturerfahrung (S. 120)
6. Politik (S. 124)
7. Arbeit (S. 130)
8. Feste feiern (S. 133)
9. Die Musik (S. 135)
10. Aufbruch. Damit meint Hentig: „Fast alles, was ich zu den bisher genannten
Bildungsanlässen und -mitteln gesagt habe, kann der großen Vereinnahmung der jungen
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Karl Garnitschnig (2003) Bildung
Menschen durch die abendländische und bürgerliche Kultur dienen – einer ungewollten
Domestizierung. Es zivilisiert sie, und das heißt in den meisten Fällen auch: es pazifiziert sie.
Das tut die gute Schule überhaupt. [...]
Darum ein letzter Anlaß für die Bildung, die in der Tat Anpassung und Unterwerfung nicht
beabsichtigt: Laßt die Kinder ausbrechen, gebt ihnen nicht nur Gelegenheit, sondern – wo
nötig – einen guten Grund, die Familie, die Schule, die Stadt zu verlassen. Die Verhältnisse
ermutigen sie nicht dazu – dann tut ihr es, Eltern und Lehrer!“ (S. 136)
Im Anschuß an diese Aufzählung bemerkt Hartmut von Hentig: „Zehn Quellen, Anlässe,
Mittel der Menschenbildung – die Zahl zehn bekundet Willkür. Es hätten auch acht oder
fünfzehn sein können. Wo die Frage lautet:’ Aus welchen Anlässen ereignet sich Bildung?’,
wird nicht erwartet, dass die Antwort vollständig ist, sondern verständig. Wenn die meine das
ist, dann aufgrund des gewählten Verfahrens.
Einen Vorzug hat diese Darstellung von Bildung anhand ihrer Anlässe auf jeden Fall: Sie
konstituiert keine Zweiklassengesellschaft, hie Gymnasiasten, da Nichtgymnasiasten, hie
volkstümlich Gebildete, wie es einst hieß, da akademisch Gebildete; es wird auch keine
Bildungs-Einheitsbrei angerührt, sondern aus diesen Quellen und an diesen Anlässen kann
sich jeder nach seinem Maß bilden, nicht zuletzt, weil man mit ihnen allen – anders als mit
unseren Geschichts- oder Physik- oder Mathematikunterricht – in frühester Kindheit anfangen
kann und weil kein Ende der Bildungseinrichtung, kein Examen die so verstandene Bildung
abschließt.“ (S. 137)
Seit der Moderne haben die Staaten selbst die Bildung ihrer Bürger zu ihrem Anliegen
gemacht. Dies ist wohl selbstverständlich als bei der Komplexität gesellschaftlicher Prozesse
Bildung und zwar eine hohe Bildung und Ausbildung die Voraussetzung für das Fortbestehen
und die Entwicklung des Staates ist. Sofern Bildung als Ausbildung in dem Sinn verstanden
wird, als durch sie die gesellschaftlichen Strukturen reproduziert werden, ist sie bloß
restaurativ. Sofern aber Bildung die Bedingungen und Tatsachen unserer Existenz betrifft,
wird sie evolutionär verstanden. Unsere Bildung umfasst auch unsere Sinnentwürfe, also
weltanschauliche Fragen. Diese sind in demokratischen Staaten dem einzelnen Bürger als
Menschenrecht garantiert.
Literatur
Bateson, Gregory: Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und
epistemologische Perspektiven.- Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1994, 5. Aufl.
Benner, Dietrich: Allgemeine Pädagogik. Eine systematisch-problemgeschichtliche
Einführung in die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns.- Weinheim,
München: Juventa, 2001, 4., völlig neu bearbeitete Aufl.
Flitner, Wilhelm: Gesammelte Werke. Band 4: Die Pädagogische Bewegung. Beiträge Berichte - Rückblicke. - Paderborn u.a.: Ferdinand Schöningh, 1987
Groot-Hoff, Hans.-H.: Pädagogik.Frankfurt/M.: Fischer 1975
In:
ders.
(Hrsg.):
Pädagogik.-
Fischerlexikon,
Gruen, Arno: Der Verrat am Selbst. Die Angst vor Autonomie bei Mann und Frau. –
München: dtv, 1986
Gruen, Arno: Der Wahnsinn der Normalität. Realismus als Krankheit: eine grundlegende
Theorie zur menschlichen Destruktivität. – München: dtv, 1990
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Karl Garnitschnig (2003) Bildung
Heintel, Erich: Die beiden Labyrinthe der Philosophie. Systemtheoretische Betrachtungen zur
Fundamentalphilosophie des abendländischen Denkens. Band 1: Einleitung. 1. Teil:
Neopositivismus und Diamat (Histomat). – Wien, München: Oldenbourg, 1968
Hentig, Hartmut von: Bildung. Ein Essay.- München, Wien: Carl Hanser, 1996
Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. – Hamburg: Meiner, 1956
Leiniz, Gottfreid Wilhelm: Monadologie. – Stuttgart: Reclam, 1954
Novalis: Blütenstaub. Aphorismen.- In: Deutsche Aphorismen.- Stuttgart 1978
Ortega y Gasset, José: Der Aufstand der Massen. – Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt, 1960
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