Ständig in Bewegung - Goethe

Werbung
Ständig in Bewegung
Aktuelle Tendenzen experimenteller Film- und Videoarbeiten in Deutschland
( 1994 – 2004 )
Die Filme und Videoarbeiten der Reihe "Ständig in Bewegung" liegen auf vier DVDs
vor und sollen - ebenso wie diese Broschüre - einen möglichst repräsentativen
Überblick über die Entwicklungen in den vergangenen 10 Jahren sowie über aktuelle
Tendenzen in der experimentellen Filmarbeit in Deutschland geben.
Dabei stehen inhaltlich und ästhetisch komplexe Meisterwerke neben Arbeiten, die
die experimentelle Erprobung von Techniken, Fertigkeiten und die Herausbildung
persönlicher künstlerischer Handschriften in den Vordergrund stellen.
Die Auswahl wurde auf Film- und Videoarbeiten beschränkt. Wenngleich das Feld
der Medienkunst weiter expandiert, konnten Medienkunstprojekte, die nicht linear
strukturiert sind oder Interaktivität verlangen sowie mehrkanalige Arbeiten nicht
berücksichtigt werden. Die Fülle der Beiträge, die zur Auswahl standen, rechtfertigt
dieses Verfahren zugunsten einer besseren Übersichtlichkeit. Das vorliegende Filmund Videopaket knüpft an die Reihe früherer Filmpakete des Goethe-Instituts an, in
denen die Entwicklungen des deutschen Avantgarde- und Experimentalfilmschaffens
von den 20er Jahren bis Mitte der 90er Jahre dokumentiert sind.
Die Experimentalfilmgeschichte verläuft seit den Anfängen der Kinematographie als
eine Subgeschichte des Films, deren Werke jedoch wesentliche Beiträge zur
Entwicklung des Films als eigenständiger Kunstform sowie der Filmsprache und der
Filmästhetik geleistet haben. Der experimentelle Charakter dieses formal, inhaltlich
und ästhetisch sehr heterogenen Genres zeichnet sich u.a. dadurch aus, dass die
Filme, weitestgehend unabhängig von den kommerziellen Strukturen des Film- und
Kinomarktes, als freie, eigenständige künstlerische und sehr persönliche Arbeiten
entstanden und entstehen und in der Regel eine Gegenposition zum Mainstream
entwickeln. Dies gilt umso mehr für die Videokunst, die bereits seit ihren Anfängen im
Bereich der Bildenden Kunst angesiedelt ist und vielfältige Bezüge und
Wechselbeziehungen zum Experimentalfilm aufweist. Experimentelle Arbeiten auf
Film, Video oder auch immateriellen Bildspeichermedien entstehen in der Regel an
(Film-) Akademien und Kunsthochschulen und in deren Umfeld bzw. durch deren
Absolventen. Neben einigen nichtgewerblichen Kinos und einer steigenden Zahl
spezialisierter Festivals sind es Galerien, Museen und Häuser der Aktuellen Kunst
und zunehmend auch das Internet, in denen die Werke präsentiert werden. Trotz der
Vielfalt der heute zur Verfügung stehenden neuen Medien, ist das Interesse an
experimentellen Film- und Videoarbeiten groß. Dies ist insbesondere an den
zahlreichen Film- und Medienhochschulen zu verzeichnen, zumal dort die
Geschichte des Avantgarde- und Experimentalfilms seit den 20 er Jahren vermittelt
wird. Zudem basieren zahlreiche industrielle Anwendungen in Werbung, Grafik,
Internet, Musikclip und Spielfilmproduktionen auf dem reichen Fundus und der
ständigen Weiterentwicklung experimenteller filmischer Formsprachen.
Die Art der Präsentation ist im permanenten Wandel und hat durchaus Einfluss auf
Gestaltungskriterien der Künstler/innen. Bildeten Mitte der 90er Jahre
Festivalscreenings und Vorführungen in Club- und Kommunalkinos noch die
vorherrschende Form der ‚Auswertung’, so werden seit wenigen Jahren viele
Videoarbeiten und selbst Filmproduktionen auch für den Kunstmarkt und für eine
Permanentpräsentation in Ausstellungshäusern konzipiert. Diese Loops
berücksichtigen als installative Arbeit neben ihrem im Vordergrund stehenden
künstlerischen Anliegen diese spezielle Situation der Präsentation ausserhalb von
Kino und Fernsehen. Derart in mehreren Ausstellungszyklen gezeigt, kann ein Film
oder Video mitunter ein größeres Publikum erreichen als mancher Kinofilm.
Der Umgang mit experimentell gestalteten Bildern und Tönen hat sich in den letzten
Dekaden durch die Popularisierung digitaler Techniken und die wachsende
Medienkompetenz in der Gesellschaft stark gewandelt. Avantgardistische Stilmittel
von einst finden sich heute in Musikclips, Videogames oder der
Konsumgüterwerbung wieder. Das vorliegende Programm konzentriert sich jedoch
auf künstlerisch eigenständige Werke und zeigt, wie vielfältig die einzelnen Ansätze
sind. Starke Strömungen oder Schulen, wie wir sie aus der Geschichte des
Experimentalfilms kennen, sind kaum auszumachen. Die Szene ist einerseits schon
allein aufgrund der fortschreitenden technischen Entwicklungen und
unterschiedlichsten künstlerischen Herangehensweisen sowie andererseits aufgrund
unterschiedlicher Ziele, Lebensentwürfe und Wertvorstellungen ständig in
Bewegung. Zu verzeichnen ist, dass sich der aus den 70er Jahren stammende und
bis in die 90er Jahre oftmals vorherrschende selbstreferenzielle Bezug auf das
jeweilige Medium, auf die Materialität des Trägers, seine technikimmanenten
Strukturen und seine visuellen Sprache, zu Gunsten einer Auseinandersetzung um
‚Inhalte’, um neue Narrationsformen und um gesellschaftliche Bezüge verschoben
hat. Deutlich wird auch, dass die vielfältigen Relationen zwischen der Bild- und der
akustischen Ebene im Vordergrund der künstlerischen Anliegen stehen. Die digitalen
Medien, die rechnergestützten Produktions- und Präsentationsmittel, haben die
künstlerischen Möglichkeiten ernorm erweitert. Hier liegt die Betonung auf
‚Möglichkeiten’, denn die digitale Technologie unterstreicht das Prozesshafte, die
einfache Bearbeitung des Bildes bis in die kleinste Einheit, das Pixel, hinein. Die
Integration verschiedener kultureller Daten, sei es Musik, Text, Fotos, Ton und Filme,
zeichnet den Computer als „kulturelles Interface“ aus. Auch das unaufwändige ‚UnDo’, die Rücknahme der letzten Arbeitsschritte, erleichtert in der Versuchsanordnung
‚Filmproduktion’ das experimentelle Filmemachen.
Die Qualität einzelner Experimentalfilme zu bestimmen und zu bewerten fällt
allerdings schwer. Sinnvoll ist es, vom Werk auf die Intention des Autors/der Autorin
Rückschlüsse zu ziehen, um dann zu beurteilen, ob und wie dies gelungen ist. Im
Gegensatz zum Spielfilm, der erzählen und unterhalten will und dies mittels
Psychologie, Spannungsbögen, Suspense und Plot erreichen kann, steht dem
experimentellen Film und Video eine sehr viel größere Anzahl und Bandbreite an
Gestaltungsmitteln und künstlerischen Eigenentwicklungen zur Verfügung, da er
nicht gezwungen ist, die Genreerwartungen eines Kino- oder TV-Publikums zu
bedienen. Die ‚entfesselte’ Kreativität führt zum einen sicherlich zu einer
zunehmenden Unübersichtlichkeit von Gestaltungstendenzen und künstlerischen
Ansätzen, die sich vielmals einer akademischen Kanonisierung entziehen.
Andererseits – und das wird in den Arbeiten des vorliegenden DVD-Pakets auch sehr
deutlich – können von den Filmen und Videos Inspirations- und Erneuerungsschübe
ausgehen, die nicht nur Tendenzen der Bildenden Kunst aufgreifen, sondern auch
mögliche Wirkungen auf den ‚Mainstream’ haben, wie etwa die sehr ruhigen,
ambient und ‚chilligen’ Umsetzungen der jüngsten Arbeiten des Pakets, die sich sehr
von der noch vorherrschenden Tendenz der schnellen Schnitte, Jump-Cuts, CloseUps und Tempiwechsel in landläufiger Werbung und Mainstream - Musikclips
abheben.
Allerdings treten Motivation und Intentionen experimenteller Filme nicht immer
deutlich zutage. Ein Experimentalfilm oder ein künstlerisches Video kann sich,
vergleichbar einem Tafelbild oder einem Musikstück, natürlich auch allein durch
seine Anmutungsqualitäten vermitteln und erschließen. Er kann diskursive Prozesse
anstoßen und einen intellektuellen Nerv oder einen politischen oder ästhetischen
Zeitgeist treffen und so Interesse, Sympathie, Erkenntnis, Zustimmung oder gute
Unterhaltung erzielen. So, wie sich Kunstwerke mit einigem kunstwissenschaftlichen
oder kunstgeschichtlichen Hintergrundwissen dem interessierten Betrachter
erschließen, ist es für den Umgang mit Experimentalfilmen hilfreich, einige
Vorkenntnisse über die Geschichte, Themen und Arbeitsweisen experimenteller
Filme zu haben, um sie genießen zu können. Nicht zuletzt diesem Ziel dient diese
Broschüre.
Programm 1, Weltbilder - Bilderwelten
Das Programm wird eröffnet mit einer filmischen Reise in die sogenannte Neue Welt.
In ihrem Film Just in Time verfremdet, überhöht und hinterfragt Kirsten Winter den
klassischen ersten visuellen Eindruck, den New York dem dort Ankommenden bietet,
durch filmtechnische Experimente und Abstraktionen. Sie verdichtet die Neonlichter
und Kamerafahrten durch die Straßenschluchten mittels Überblendungen und
Mehrfachbelichtungen zu einem Patchwork, zu dem der Komponist Simon
Stockhausen einen adäquaten akustischen Klangteppich webt. Die vertikalen
Strukturen der Metropole gehen über in die parallelen Gleise der
Eisenbahnschienen, auf denen der technische Fortschritt in den Westen der Neuen
Welt seinen Einzug nahm. Der Film bleibt weitgehend abstrakt und ästhetisiert
visuelle Attraktionen wie etwa die filigranen Stahlkonstruktionen einer
Eisenbahnbrücke. Schwarz-weiße Landschaftsaufnahmen entlang der Bahnstrecke
mit zum Teil sehr kontemplativem Charakter stehen im Wechsel mit einem
stakkatohaften, farbig collagiertem Mittelteil aus Bild-, Sprach-, und
Schriftfragmenten. Die persönliche Handschrift der Künstlerin zeigt sich auch in den
am Tricktisch mit Öl übermalten Passagen und der eingesetzten Kratztechnik.
Die Originalaufnahmen des Films The Day Slows Down as It Progresses von
Thomas Bartels entstanden im Straßenleben von Bombay und Baroda, Indien. Im
Gegensatz zu Großstädten der westlichen Zivilisation finden sich hier noch eine
Vielzahl von handwerklichen Techniken der analogen Produktion von Bildern und
Abbildern. Ein mobilerPassbildfotograf operiert mit Kamera, Fixierer, Kontaktabzug
und Schere so, als stünde die Fotografie noch am Anfang ihrer Entwicklung. Kinound Werbeplakatmaler applizieren heimische Bollywood - Stars ebenso wie
Werbeplakate für internationale Elektronikkonzerne, mit denen die Globalisierung
langsam Einzug hält, noch per Hand auf Häuserwände. In kongenialer Weise hat
Thomas Bartels seine Filmtechnik genutzt: Einzelbildschaltungen, Zeitraffer, Zeitlupe,
Kasch, Ausschnittsvergrößerungen am Tricktisch und anderes mehr verdeutlichen
auch hier eine Könnerschaft und Reduzierung auf das wesentliche der Filmkunst,
aus der die experimentelle künstlerische Gestaltungsvielfalt erst erwächst.
In Elsewhere von Egbert Mittelstädt schwenkt die Kamera in einer langsam
fließenden, stetigen Kreisbewegung durch das Innere einer S-Bahn in Tokyo. An den
Stationen kommen und gehen die Fahrgäste, aber das Halten und Beschleunigen
des Zuges hat keinen Einfluss auf die sanfte kontinuierliche Drehbewegung der
Kamera. Auch wenn die erzählte Zeit der Bahnfahrt gerafft, fragmentiert und
überlagert wird, entsteht im Inneren - quasi wie in einem Kreiselkompass - eine
eigene Erzählzeit, deren Gesetzmäßigkeit nur ihrer eigenen unabhängigen
Rotationsbewegung unterliegt. Eine Studie über die Relativität von Zeit, Raum und
Geschwindigkeit.
Wanderlost von Timothee Ingen-Housz ist ein zweidimensionaler und auf Bildwitz
angelegter Film, oder wie der Regisseur ihn nennt, ein Bluebox –-Computer Holliday – Film mit ihm selbst als Darsteller. Es geht um die Erschaffung künstlicher
Welten, insbesondere aber um die digitale Bilderwelt und spielerische Erprobung
digitaler Bildeffekte. Der Film entstand an der Kunsthochschule für Medien Köln unter
der Leitung des britischen Experimentalfilm - Gurus David Larcher
Der Film IN von Philipp Hirsch basiert auf einer linearen, schlüssigen Geschichte. Die
surrealen Bildwelten - eingebettet und durchzogen von Realfilm - wirken rätselhaft,
wobei es weniger auf deren Dechiffrierung durch den Rezipienten ankommt als auf
die Diskussion darüber sowie über die verschiedenen Ebenen, die der Film anspricht
und die Fragen, die er aufwirft.
Carsten Aschmann nimmt in seinem Film Full Moon ein sehr ruhiges altes
Musikstück von Eden Ahbez zum Anlass für eine Montage von Bildern, die
Phantasien, Sehnsüchte und Glücksgefühle visualisieren. Es gibt einige verblüffende
Bildmotive wie muskelanimierte Tätowierungen, Sonnenblumen mit menschlichen
Umrissen etc. Eingeblendete Texte kommentieren und persiflieren die erzeugten
Stimmungen.
As if von Christian Meyer ist eine Boy-meets–Girl-Geschichte, in der reale
Schauspieler in gebauten oder gemalten Kulissen agieren. Durch die Anwendung
vielfältiger Mittel der Collage und der Mischung zwischen Realfilm, Grafik und
Bühnenbild vermittelt der Filme eine virtuelle Realität. Im Off wird der Film
durchgehend von einem Erzähler erläutert und mit lakonischem Tonfall kommentiert,
wodurch der Eindruck eines Fotoromans entsteht.
Programm 2, Ver-Ortungen / Dis-Location
In Das Schlafende Mädchen von Corinna Schnitt ist zunächst alles ruhig. Nur das
Modellspielzeug eines alten Frachtseglers treibt auf dem Wasser in einer gepflegten,
leicht hügeligen Rasenlandschaft. Eine langsame Kamerakranfahrt öffnet den Blick
auf eine Vielzahl gleichartiger Doppel- und Reihenhäuser im Landhausstil. Die
Masse der hübschen Häuser hat den Charakter einer Modellplatte: ein sauberes
Ideal, das aber menschenleer und gespenstisch verlassen wirkt. Außer einem
leichten Luftzug, den das Schiffchen nutzt, regt sich scheinbar nichts, kein Mensch,
kein Tier, kein Fahrzeug. Nur leises Vogelzwitschern ist zu vernehmen. Erst am Ende
des Filmes wird die aufgeladene Atmosphäre durch eine Stimme auf einem
Anrufbeantworter unterbrochen. Der Film wirkt wie eine Studie über Langsamkeit und
Leere. Wie die Gemälde Vermeers ist er bis ins feinste Detail durchkomponiert und
regt dennoch in seiner Rätselhaftigkeit und Uneindeutigkeit zu vielfältigen
Interpretationen an.
Crofton Road SE 5 ,eine ältere aber prototypische Arbeit von Gerd Gockell, zerlegt
die Ansichten einer belebten Londoner Straßenecke in fotografische Einzelteile.
Neben seinen verblüffenden Effekten und hohen künstlerischen Qualitäten hat der
Film auch den Charakter eines Lehrstücks über die Eigengesetzlichkeiten der
filmischen Bewegungsillusion. Einzelne Fotoabzüge aus 16-mm Filmsequenzen
werden auf einer Fläche montiert und erneut mit Hilfe der Einzelbildschaltung zu
filmischen Eindrücken reanimiert. Die Frequenz dieser Vorgänge bestimmt, dass
durch die Trägheit des Auges ab ca. 16 Einzelbildern pro Sekunde ein filmischer
Eindruck zurück gewonnen wird.
Banlieue du Vide von Thomas Köner: Einige verschneite Straßen, nachts im Schein
der Straßenbeleuchtung, nichts passiert. Im Off nur Rauschen und entfernte
Stimmen. Auf den zweiten Blick und vor dem Hintergrund, dass es Thomas Köner
gerade um diese Leere und Stille ging, die durch öffentliche Überwachungskameras
(Found Footage) rund um die Uhr aufgezeichnet werden, bekommt der Film mit
seinen subtilen Veränderungen der Bildinhalte und der Tonkomposition eine neue
ästhetische Qualität. die sich mit den frühen Arbeiten Andy Warhols vergleichen
lassen.
Der seit 1993 in New York lebende Filmemacher Caspar Stracke hat in No Damage
zwar nicht direkt Bezug genommen auf die Geschehnisse des 11. September 2001,
aber ein Film über die Wolkenkratzer Manhattans kann sich dieser Assoziation heute
nicht mehr entziehen. Im Zentrum des Videos steht die Hochhausarchitektur New
Yorks, die mehr oder weniger beiläufig Gegenstand oder Kulisse zahlreicher
insbesondere historischer Spielfilme war und ist. Aus Found Footage Material
wurden entsprechende Einstellungen und kurze Sequenzen isoliert, bearbeitet, dabei
zum Teil verfremdet und mit einigen dokumentarischen Aufnahmen vom Bau der
Wolkenkratzer zu einem Kaleidoskop vertikaler Stadtansichten neu montiert.
Die Aufnahmen zu Beacon von Matthias Müller und Christoph Giradet entstanden
vornehmlich am Meer, und zwar an unterschiedlichen Plätzen der Welt. Motive sind
Wellen, Schiffe, Leuchttürme, Aquarien, Spaziergänger am Strand und immer wieder
der Horizont, aber auch eine belebte Küstenstraße, Kondensstreifen von Flugzeugen
und ein Brautpaar. Es sind sehr ruhige Einstellungen mit Zeitlupeneffekten, denen
gemeinsam ist, dass sie Raum für Reflexionen eröffnen. Im Off liest eine
Frauenstimme langsam einen melancholischen Text des kanadischen Filmemachers
und Autors Mike Hoolboom. Die reduzierte Bildsprache mit nur wenigen
experimentellen Bildtechniken, erzeugt eine kontemplative fast sentimentale
Stimmungslage. Matthias Müller und Christoph Giradet arbeiten seit einigen Jahren
bei zahlreichen Film- und Kunstprojekten zusammen. Viele ihrer Arbeiten sind
international preisgekrönt.
Der Titel Arktis - Zwischen Licht und Dunkel lässt eine Dokumentation erwarten.
Tatsächlich zeigt uns Jürgen Reble eine Montage recht spektakulärer Aufnahmen
aus der Welt des ewigen Eises im Stil einer Natur- und Tierdokumentation, mit Tönen
unterlegt und ohne jeden Kommentar. Es handelt sich um Found Footage aus einer
Vielzahl unterschiedlicher Berichte über das Nordmeer. Diese kurzen Stücke wurden
jedoch digitalisiert und einer intensiven Nachbearbeitung ( Farbe, Blende, Zeit )
unterzogen. Das neue Material wurde so montiert, dass eine dichte Form-,
Bewegungs- und Farbkomposition entsteht, die einer imaginären Traumlandschaft
gleicht. Die Kontemplation der Wahrnehmung wird unterstützt durch die subtile
Tonkomposition, die sich, technisch ähnlich aufwändig, vornehmlich aus
Originalgeräuschen ableitet.
Programm 3, Wechselbad der Gefühle
In der Eingangsequenz aus einem alten DEFA-Film erlaubt uns Corinna Schnitt in
Living a Beautiful Life zunächst einen kurzen Blick zurück in den Garten Eden, in
dem nackte Kleinkinder und Tierbabys friedlich umhertollen. Darauf gibt ein junges
amerikanisches Ehepaar in ihrem stilvollen, mondänen Eigenheim in Los Angeles
wechselweise Statements darüber ab, wie wunschlos glücklich, erfolgreich und
zufrieden sie in ihrem Beruf, ihrem Haus, ihrer Straße, ihrer Ehe, mit ihren
Hausangestellten, Kindern etc. sind. Die polierten Oberflächen des Gebäudes und
seiner Einrichtungen scheinen nahtlos überzugehen in die perfekte, durch keinerlei
Irritationen getrübte Welt der Waren und Vorstellungen seiner Bewohner. Ein
beeindruckender Film, der grundsätzliche Zweifel an westlichen Wertvorstellungen
aufkommen lässt.
Einen starken Kontrast dazu bildet der Film S von Athanasios Karanikolas. Er zeigt
die verstörende, subkulturelle Seite Los Angeles. Wir begleiten Supermarky, einen
nicht mehr ganz jugendlichen Bodybuilder, in ein spärliches Vorstadtappartement.
Später wohnen wir einer Ganzkörpermassage eines gänzlich tätowierten Kultkörpers
(Ron Athey) bei. Auch durch das Pailettenkleid, das Supermarky "The Goddes
Bunny" überstreift, will sich Glamour in dieser Tristesse nicht einstellen. Am Ende
bricht sich das Schweigen, das bisher herrschte, in einem Gesangsduett am
Straßenrand: Franz Schuberts Lied vom Weg ohne Wiederkehr. Im hoffnungslosen
Grundtenor des Films aus Einsamkeit und Perspektivlosigkeit finden sich auch
Momente gemeinsamen Glücks, das sich aus der Verantwortung füreinander speist.
Die künstlerische Gesamtleitung der Produktion unterlag dem Berliner Filmemacher
Rosa von Praunheim.
Eine ähnliche Stimmungslage vermittelt der Film Achtung - Die Achtung von Michael
Brynntrup. Auch hier geht es um Grenzerfahrungen nicht nur der Darsteller sondern
auch des Zuschauers. Die Bilder tätowierter Körper mögen noch einen ästhetischen
Reiz vermitteln, mit Aufnahmen von Selbstpiercing und extremen Praktiken der
Selbststimulation werden jedoch visuelle Tabus gezielt gebrochen. Dennoch hat
dieser Film seine Berechtigung im Programm, denn er steht einerseits für das „Kino
wider die Tabus“ (Amos Vogel) andererseits für eine Vielzahl experimenteller
Filmarbeiten im Kontext des schwulen Milieus.
Den dritten Film in dieser Reihe bildet Living Polaroids - Who the fuck is Morrisroe
von Curtis Burz . Rund 2000 Polaroids und einige S-8mm Filme waren die
Hinterlassenschaft von Mark Morissroe, einem an AIDS verstorbenen Stricher und
Künstler, der in einer gewaltgeprägten Umgebung der Prostitution aufwuchs. Burz
zeichnet sein kurzes und intensives Leben mit zwei Schauspielern nach.
Aus den Tiefen der Melancholie heraus führt die Arbeit The Oral Thing von Bjørn
Melhus. Wie eine Reihe anderer bekannter deutscher Experimentalfilmemacher hat
auch Melhus an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig bei Prof.
Gerhard Büttenbender und Prof. Birgit Hein studiert. Dort wurden in erster Linie die
Eigengesetzlichkeiten des Mediums Films und die Entwicklung einer eigenen
künstlerischen Formsprache vermittelt. Melhus entwickelte in seinen Film- und
Videoarbeiten einen persönlichen Themenkanon: Doppelgänger und Zwillinge sowie
Medienkritik und die Auseinandersetzung mit dem Mainstream. Er arbeitet mit
bekannten Film-, Musik- oder Textzitaten, die er zerlegt und neu zusammensetzt.
Sämtliche Darstellerrollen besetzt er in der Regel mit sich selbst, wobei er eine
Vielzahl von Identitäten einnimmt. In vielen seiner Arbeiten reflektiert er die
amerikanische Medienkultur. So stehen im Zentrum von The Oral Thing TV-Prediger
und Talkshows. Er analysiert die Struktur dieser Sendungen und kombiniert hier eine
Vielzahl genretypischer Elemente wie etwa einen charismatischen Priester bzw.
Moderator, die peinliche Befragung von Studiogästen zu Tabuthemen und
persönlichen Verfehlungen, die Konfrontation und Versöhnung von Gästen und die
Instrumentalisierung des Studio-Publikums als moralische Instanz. Formale
Elemente der Wiedererkennung wie Logoanimationen, Lichtinszenierungen, abrupte
Musikeinsätze und häufige Werbepausen ergänzen die provokante Darstellung der
internationalen Medienformate.
Ron & Leo, ein Film von Oliver Husain stellt ein Zwillingspärchen vor: Teenageridole,
die langsam ihren rosa Plüschhasenkostümen entwachsen und die Gunst ihres
jugendlichen Publikums zurückgewinnen wollen. Es beginnt ein schmerzhafter
Prozess der Selbstfindung. Die Möglichkeiten digitaler Bildbearbeitung mit ihren
Bonbon-Farben nutzt Oliver Husain zu einer Betrachtung der Kultur des Teeny-Pops
und der Vorabendserien.
Die Doppelbelichtung in Mit Mir von Kerstin Cmelka ermöglicht es, aufeinander
folgende Aktionen auf eine Bildebene zu belichten. In diesem Fall wurde der Effekt
genutzt, um den Eindruck eines auf einem Bett liegenden und sexuell agierenden
Frauenpaares zu erzeugen. Tatsächlich ist es eine Frau, die sich mit sich selbst
beschäftigt. Ein Doppelgänger oder Zwillingsmotiv, eine Form der Visualisierung von
Autoerotik und Selbstverliebtheit.
Mit Selbstbildnis, Studie Nr. 2 von Wolfgang Lehmann klingt das Wechselbad der
Gefühle dieses Programmblocks aus. Auch hier zeigt sich, dass gerade der
Experimentalfilm Möglichkeiten der Selbstreflexion eröffnet. Der Filmemacher ist
oftmals sein eigenes Sujet. Selbstporträts und Aktdarstellungen entwickeln sich in
diesem Fall jedoch durch ausgefeilte Aufnahme- und Schnitttechniken zu einem
eigenständigen Kunstwerk, dessen ästhetische Qualität über das Abbildhafte weit
hinaus auf die Materialität des Filmes und die Zeitbezogenheit des Filmischen weist.
Programm 4, Struktur und Zeichen
Land Unter von Cornelius Kirfel hat nur eine Einstellung. Eine langsame Kamerafahrt
vom Dach eines Autos gefilmt, nachts durch ein stille städtische Wohnstraße, vorbei
an Häuserzeilen mit gepflegten Altbauten und davor parkenden Fahrzeugen. Im Off
eine musikalische Komposition mit Meeresrauschen und Mövengeschrei. Alles ist
friedlich. . Im Einvernehmen mit der gegebenen Situation soll es nach Meinung des
Filmemachers auch so bleiben. Der Film strahlt eine große Akzeptanz und die
Gelassenheit des nächtlichen Augenblicks in einer leicht fließenden Einheit von
Bewegung und Bild aus
Zahlreiche Videokunstarbeiten stehen in der Tradition des Strukturellen Films. Ihnen
liegt ein klar strukturiertes Konzept zugrunde, nach dem die Aufnahme oder die
Postproduktion erfolgen. Das ist auch in Rack von Volker Schreiner der Fall. Hier
wurden Geschehnisse in einem Treppenhaus, mit drei Kameras, von drei
Standpunkten aus, zu drei Zeitpunkten gefilmt. Die Montage ermöglicht die
Neuordnung des unterschiedlichen Bildmaterials im Reißverschlussprinzip.
Unterschiedliche Perspektiven, Räume, und Zeiten werden verwoben.
Es entspricht der gewohnten Rezeption von Filmen, dass der Schnitt Einstellungen
beendet und die Montage unterschiedliche Einstellungen in eine Reihenfolge bringt.
Dies ist zwar die Regel, nicht aber im Film Blümchen von Sebastian Jochum: Es gibt
hier einen chronologischen Strang, in dem sich ein junger Mann an den Fuß einer
Treppe setzt und eine Katze lockt. Auf und vor der Treppe passieren im Folgenden
Dinge, die nicht gleichzeitig stattgefunden haben können. Vermeintlich sehen wir nur
eine Einstellung, keinen Schnitt, keine Montage. Die gleiche Szene wurde zu
unterschiedlichen Zeitpunkten mehrfach gedreht und ‚nahtlos’ ineinander kopiert.
Zum anderen wurden einzelne Bildteile montiert, so dass zeitlich unterschiedliche
Geschehnisse gleichzeitig erscheinen. Ermöglicht wird dies durch eine besondere
Schnitttechnik und die digitale Integration von Bildinhalten.
In The Source von Tim Coe sehen wir auf den ersten Blick nur einige Personen
kommen und gehen. Auf den zweiten Blick bemerkt man, dass die Szenerie aus
immer der gleichen Person besteht; identische Klone oder Replikanten, die in
wachsender Zahl vor und hinter einander her gehen ohne sich zu berühren oder zu
stören. Zunächst erfährt man eine visuelle Attraktion, die der Erfahrung und
gewohnten Wahrnehmung zuwider läuft und nur durch Animation und Duplizierung
am Schnittcomputer entstehen kann. Zunehmend rückt die diskursive Ebene der
Arbeit in den Vordergrund, ihre Reflexion über die Praxis der digitalen
Bildbearbeitung in den Alltagsmedien, die seriellen Vervielfältigungen in den
Massenszenen Hollywoods bis hin zur Reproduktion biologischer „Massenware“.
Jivan ´Up There´ von Marc Comes beinhaltet von Sphärenklängen unterlegte Bilder,
die ihre visuelle Attraktion aus Mehrfachbelichtungen, zerstäubenden
Wasserernebeln und rituell anmutenden Handlungen eines androgynen
Heranwachsenden ziehen, wie etwa beim akkuraten Falten einer großen Filzdecke.
In seiner verdichteten Ästhetisierung beschreibt der Film einen Übergang, eine
Initiation mit starken Anklängen an pränatale Erinnerungen.
Der Film Falcon von Karo Goldt erschließt sich dem Zuschauer über seine
‚vorsichtigen’ Farbverschiebungen und Strukturkompositionen.. Hinter den aus
orangefarbigen Nebeln aufscheinenden grafischen Strukturen verbirgt sich eine am
Computer bearbeitete Fotografie des Cockpitfensters eines F16 Kampfflugzeuges
(Falcon genannt).
In Persuaders von Peter Simon steht eine junge Frau im grauen Mantel in einer
tristen Landschaft und schaut in die Kamera, deren Inneres sie fokussiert.. Es folgt
ein Textinsert „You are here“. Danach eine zweite junge Frau im roten ärmellosen
Hemd, die ebenfalls mit dem Blick ins Kameraobjektiv etwas zu entdecken sucht.
Beide Frauen werden von Doppelgängern begleitet, deren Erscheinen offenbar nicht
auf Mehrfachbelichtungen beruht, da die Körper sich nicht optisch durchdringen. Mit
ähnlicher Neugier, wie die der Protagonisten, versucht der Zuschauer den digitalen
Effekten und der Gesamtkomposition der Arbeit auf den Grund zu gehen.
Auch in No Sunshine stellt Bjørn Melhus mehrere Personen gleichzeitig dar.
Wiederholungen und Spiegelungen sind zentrale Motive. Seine Kostüme sind
artifiziell, so trägt er eine Haarplastik und fingerlose Handschuhe, die an
Spielzeugfiguren erinnern. Viele seiner Arbeiten sind auf den ersten Blick eingängig,
und der Ton weckt Erinnerungen, aber dieses vertraute Gefühl hält nicht an, da die
seriellen Bild und Tonwiederholungen das Gesehene und Gehörte in Frage stellen
und zur Reflexion zwingen. So auch in No Sunshine. Das Video basiert auf einem
alten Stevie Wonder Song, der in Satzfragmenten ebenso zitiert wird wie dessen
Remake von Michael Jackson. Die In ihrer schmerzhaften Erinnerung an den Verlust
der Kindheit und in der Reflexion über ihren Selbstfindungsprozess führen die
Zwillingsfiguren einen Dialog aus Textbausteinen und Versatzstücken der Pop-Welt
und des Medienalltags.
Schlag auf Schlag von Anna Anders ist ein kleiner prägnanter Angriff auf die
Sehgewohnheiten. Wechselnde Gegenstände zertrümmern das trennende Glas
zwischen der filmischen Wirklichkeit und dem Publikum.
Doppelbelichtungen und schwarz-weiße, auf dem Kopf stehende Bilder, greifen in
Privat Physik von Felix Höfler und Herwig Weiser Theorien des Chaosforschers Prof.
Otto E. Rössler auf, die sich mit der Frage befassen, ob die Welt eine Maschine oder
ein Traum ist,. Oder vielleicht beides, wenn die Erkenntnis stimmt, dass eine solche
mathematisch exakte Maschine nur Teil eines sauber konstruierten Traums ist. Die
starke Affinität der Experimentalfilmemacher zu Wissenschaft und Philosophie zeigt
sich insbesondere dann, wenn diese Gelegenheiten bieten, quasi um die Ecke zu
denken und die Grenzen der Wahrnehmung zu erweitern.
Drama, Strings and Horns von Gunther Krüger
Ein einminütiges filmisches Nachrichtendokument des DDR-Fernsehens über einen
Polizeieinsatz 1968 gegen Demonstranten in Westdeutschland wird in zahlreichen
Wiederholungen extrapoliert. Diesem Rhythmus folgt die unterlegte Musik, die eine
dramatisierende Funktion über das Stilmittel der sich kontinuierlich verlängernden
Schleife (Loop) entwickelt.
Utrechter Hütte von Franz Höfner
Zum Abschluss des Programms folgt etwas Handfestes. Ein Stilmöbel-Wohnzimmer
wird komplett zerlegt und an Ort und Stelle in Form einer kleinen Hütte wieder neu
aufgebaut.
Damit ist nicht nur eine praktische Entsorgung ungeliebten Mobiliars gegeben,
sondern auch ein Grundprinzip experimenteller Film- und Videoarbeiten im dekonstruierenden Umgang mit dem Mainstream sinnfällig veranschaulicht. Es fragt
sich allerdings, wie stabil und wetterfest eine solche Hütte ist, denn die Kunst ist ein
fragiles Kulturgut. Obwohl sie sich der permanenten Diskussion stellt, sollte sie nicht
nur dem freien Spiel der Kräfte ausgesetzt sein, sondern sie benötigt das oftmals
schützende Dach komplexer Strukturen von Ausbildungsangeboten, Produktionsund Förderinstrumenten ebenso wie die sozialen Räume der Präsentation und
Rezeption.
Jochen Coldewey, November 2004
Herunterladen