Afrika1 - Online

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Edition
www.online-roman.de
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Erzähl mir was
von Afrika
Band 1
Herausgegeben von
Ronald Henss
Dr. Ronald Henss Verlag
Edition
www.online-roman.de
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Originalausgabe
März 2005
Dr. Ronald Henss Verlag
Sudstraße 2
D-66125 Saarbrücken
[email protected]
Edition
www.online-roman.de
© Alle Rechte bei den Autoren
Umschlaggestaltung: Ronald Henss unter Verwendung
eines Fotos von Michel Quenneville (Vorderseite)
und Manfred Vaeth (Rückseite)
Druck und Bindung: Druckerei Pirrot
Trierer Straße 7
D-66125 Saarbrücken
1. Auflage 1.000 Exemplare + Print on Demand
Printed in Germany
ISBN 3-9809336-2-8
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Inhalt
Über dieses Buch
Vorwort des Herausgebers
Carmen Caputo: Nagobi und ihre Träume
Unbarmherzig brannten Sonnenstrahlen auf die
staubbedeckte Erde Namibias und ließen die Luft
vor Hitze flimmern. Seit Monaten hatte es nicht
mehr geregnet. Die Trockenheit hatte …
Didier: Babas balle
Man kann beim besten Willen nicht behaupten, dass
er ein besonders sympathischer Junge war, der kleine Baba. Dafür war er viel zu sehr von sich selbst
überzeugt und das, was man eine große Klappe …
Anne Grießer: Die Geschichte vom unglaublich
fruchtbaren Opa Yongai
Als Kinder fürchteten wir uns sehr vor Opa Yongai.
Nicht dass er jemals etwas Böses zu uns gesagt hätte, überhaupt erhob er niemals seine Stimme, lächelte stattdessen freundlich, wenn wir an seiner …
Birge Laudi: Das Buschmannohr
Theo hockte zwischen Umzugskisten in der fast leer
geräumten Wohnung seines Großvaters und sortierte
Bücher. Wählte, welche er mitnehmen wollte. Legte
beiseite, die nicht in sein Interessengebiet fielen …
Hassan Aftabruyan: Als uns Kalal vom Staub erzählte
Hier ist überall Staub. Es ist wirklich Staub, kein
Sand, sondern feiner Staub, der sich festsetzt. Wie in
Westernfilmen, in verlassenen Städten. Aber ich bin
hier in keiner Stadt. Manu bin ich und im …
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Regina Besting: Der Mann auf dem Dach
Der Falke sitzt auf dem Dach. Schweigend, observierend. Sie nennen ihn den Falken weil er bevorzugt von hohen Positionen aus arbeitet. Er ist gut.
Nicht der Beste, aber ausreichend für diesen Job …
Christiane Stüber: Sinnverkehr(t)
Eine Wolkendecke – halb Nebel, halb Luftverschmutzung – verhüllt den Berg. Wüsste man es
nicht besser, könnte man fast vergessen, dass er sich
dort inmitten der Stadt erhebt. Manchmal vergisst …
Margit Breuss: Nachbarn
„Fadi“, ruft Amina aus der Hütte, „lass die Nassara
in Ruhe!“ Noch immer zucke ich zusammen, wenn
ich unumwunden „Nassara“ genannt werde: „Weiße“. Jedes Mal werde ich mit der Nase auf das …
V. Groß: Die Geister Afrikas
Eigentlich kann ich sagen, dass ich die Trommeln
Afrikas schon immer vernommen habe. Als Kind
bereits, wenn ich, wie vielleicht jedes Kind, von
großen Abenteuern in weit entfernten Ländern …
Susanne Weinhart: Malesch, Mädchen
Geisterschiffe auf dem Nil. Nach dem Terroranschlag der Islamisten in Kairo vom Dritten kreuzten
nur noch fast leere, blitzende Motorschiffe auf der
braunen Suppe; die langärmeligen, safaribeigen …
Mila Carnel: Fräulein Afrika
Liebe Tilda,
dann will ich dir also noch einmal
schreiben, bevor ich nach Deutschland komme, und
will versuchen, deine Fragen zu beantworten. All
die Zeitungsausschnitte über mich hast du …
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Keno tom Brooks: Briewe uit Namibia, #12 Bruder Johannes
Johannes saß auf dem nackten, festgetretenen sandigen Boden seines Steinhauses. Das Haus stand in
einer langen gleichförmigen Reihe anderer Häuser,
die wie die Glieder einer ineinander verwobenen …
Anja Labussek: Ein letztes Mal – In Memoriam
Karen (Tania) Blixen
Wenn es auf dieser Welt einen Ort gibt, der die Bezeichnung „vollkommen“ verdient, dann ist das für
mich der Gipfel des gewaltigen Ngong-Gebirges.
Wie oft habe ich in den letzten siebzehn Jahren …
Raiko Milanovic: Der Blick nach Süden
Ich folgte dem alten Pfad durch die warme Nacht,
bis ich an Großvater Apudos Zaun stieß. Hier kam
ich nicht weiter, das wusste ich ja, aber meine Füße
kannten den Weg, am Zaun entlang bis an das …
Über die Autoren
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Über dieses Buch
Vorwort des Herausgebers
Afrika – …
Ronald Henss
Saarbrücken, im März 2005
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Carmen Caputo
Nagobi und ihre Träume
Unbarmherzig brannten Sonnenstrahlen auf die staubbedeckte Erde Namibias und ließen die Luft vor Hitze flimmern. Seit Monaten hatte es nicht mehr geregnet. Die
Trockenheit hatte die Hirsefelder zerstört, auch Jams und
Maniok, und erschwerte das ohnehin mühselige Leben
noch mehr.
Nagobi saß im Schatten der Holzhütte und sah den klaren Himmelszügen nach. Nein, Regen würde es auch die
nächsten Wochen nicht geben, hatte Großvater gesagt,
nicht mit diesem Himmel, nicht mit diesem Blau.
Nagobi dachte nicht weiter darüber nach. Sie hatte andere Gedanken in ihrem kleinen, dunklen Mädchenkopf.
In ihrem Schoß lag ein kleiner angeschmuddelter
Schreibblock, der einzige Reichtum, den sie besaß. Sie
schrieb gerne, die Handschrift zog flüssig über die durchgezogenen Linien, worauf sie sehr stolz war. Der Bleistift
war alt und abgenutzt, nur kurze Zeit würde sie damit noch
schreiben können. Geld, um einen neuen Stift kaufen zu
können, besaß sie nicht.
„Er muss einfach noch ausreichen“, dachte sie energisch,
„ich muss es schaffen, ich muss einfach.“ Dabei fegte sie
etwas Staub von ihrem bunten Kleid, das Großmutter für
sie genäht hatte, und begann zu schreiben.
Schon sehr früh – Nagobi hatte gerade Laufen gelernt –
waren ihre Fantasie, ihr Ideenreichtum und ihre Neugier
auf das Leben außerhalb des Dorfes ungewöhnlich gewesen. Nagobi fragte und fragte. Sie fragte, bis sie von den
anderen Kindern belacht wurde und die Erwachsenen nur
den Kopf schüttelten.
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Die Männer ablehnend, denn Mädchen hatten nichts zu
fragen, nicht in diesem Teil der Welt. Auch wenn Missionare und Hilfsorganisationen Schulen gebaut hatten und
jeden Tag singende Kinder um sich scharten, tolerierten es
die meisten Männer nur.
Die Frauen hingegen sahen Nagobi mitleidvoll an, denn
sie ahnten, was für ein Leben ihr bevorstand und sie wussten, für ein Mädchen würde es besser sein, sich dem Dorf
und den Traditionen anzupassen, je früher, desto besser.
Das war Großmutter Ragionis Rat: „Du musst lernen zu
nicken, hörst du, Nagobi? Einfach nicken und du wirst ein
gutes Leben haben.“
Nagobi nickte nicht und weder störten sie die bösen
Blicke der Männer noch das Gelächter der Kinder. Je älter
sie wurde, umso mehr begann sie die Welt zu hinterfragen.
Eines Nachts hatte sie wach gelegen und beschlossen,
einen Traum aufzuschreiben, die Seiten in eine Glasflasche
zu stecken und in den Fluss zu werfen. Sie hatte an der
großen Wandkarte von Mutter Rutha entdeckt, dass der
kleine Fluss, der sich am Dorf entlangzieht, in den Auob
mündet, der wiederum in den Malopo und der in den großen, in den Oranie, der direkt ins weite Meer hineinfließt.
„Irgendjemand wird sie finden und die Welt verändern“,
dachte sie, drehte sich um und schlief zufrieden ein.
„Was sitzt du denn hier herum, Nagobi, es gibt genügend
Arbeit für dich!“ Verbittert starrte Martita zuerst auf das
Mädchen, dann auf den Block in seinem Schoß. „Schreiben ist etwas für Reiche, merk dir das doch endlich.“
Sie selbst hatte nie Schreiben oder Lesen gelernt. In ihrer
Kindheit hatte auf dem Dorfplatz noch keine Schule
gestanden, sie hatte nie etwas anderes gelernt als sich um
Haus und Familie zu kümmern. So war das Leben, so war
Martita geboren, so in Tradition erzogen; und sie hatte
früh gelernt es hinzunehmen.
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„Woher du nur diesen Unsinn im Kopf hast“, schimpfte
sie weiter.
Dieses Kind brachte ihr nur Ärger ein. Sogar die Dorfältesten hatten sich Gedanken über Nagobi gemacht und
Martita darauf angesprochen.
„Martita“, hatten sie gesagt, „Schreiben und Lesen akzeptieren wir inzwischen, aber die Fragerei deiner Tochter
ist bedenklich.“
Es hatte Mutter Rutha, einer deutschen Ordensschwester,
einige Monate Überzeugungsarbeit gekostet, bis die Dorfältesten zögernd den Mädchen den Besuch der kostenlosen
Schule erlaubt hatten. Aber damit war ihre Einsicht auch
am Ende. Eine Frau blieb schließlich eine Frau, ob mit
oder ohne Bildung, darüber waren sie sich einig.
„Du bist die Mutter, du musst ihr die Träume ausreden.
Du musst sie auf das Leben als Frau vorbereiten.“
Martita nickte wie sie immer nickte, wie sie es gelernt
hatte zu nicken. Von Großmutter.
„Sie haben ja Recht“, dachte Martita, „Aber soll es ihr
wirklich so ergehen wie jeder hier im Dorf? Die Zeiten
haben sich verändert, vielleicht verändern sich auch die
Köpfe der Menschen.“
Martita liebte ihre Tochter, vielleicht auch ein Stück
ihrer Träume, vielleicht auch die Hoffnung, dass diese
neue Generation Frauen, die mit Nagobi heranwuchs, stark
sein würde, stärker als sie es je gewesen war. Sie war zu
alt um es zu ändern, ihr Leben zu hart, als dass sie ihre
Energie in Träume und Ziele hätte verschwenden können.
„Ach, Mama, lass mich doch, bitte!“ Nagobi verlegte
sich aufs Betteln. „Du weißt doch, ich muss schreiben.
Wenn nicht heute, dann schreibe ich morgen oder übermorgen, Mama, bitte ... Morgen helfe ich dir auch wieder
beim Brotbacken. Bitte ...“
„Träume! Du hast nichts als Unsinn im Kopf, schon als
kleines Kind. Als ob du die Welt damit verändern könn12
test! Komm schon, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.
Vater wird schimpfen, wenn du die Steine nicht wäschst.“
Verständnisvoll aber unnachgiebig sah Martita in Nagobis Augen, strich ihr über das Haar und lächelte. „Meine
kleine Nagobi, wenn du wüsstest, wie sehr ich mir ein
besseres Leben für dich wünsche.“ Martita seufzte auf.
Nagobi bemerkte die Traurigkeit in ihren Augen. „Stell
dir nur vor, Mama, wie die Menschen am anderen Ende
der Welt meine Worte lesen werden. Kannst du dir ihre
Gesichter vorstellen? Vielleicht geht es anderen Frauen anders. Mutter Rutha erzählt uns manchmal von den Frauen
in Europa, sie leben anders als wir.“
In Nagobis Stimme lag eine Art Trotz, den zu zeigen sie
nur ihrer Mutter gegenüber wagte.
„Nein!“ Martitas Stimme wurde hart. „Aber ich kann mir
das Gesicht von deinem Vater vorstellen, wenn er heimkommt und sieht, dass du herumsitzt.“
Ohne ein weiteres Wort zu verschwenden, drehte sich
Martita um und ging ins Haus zurück.
„Ich beeile mich, Mama, ganz bestimmt“, rief Nagobi
hinter ihr her.
Sie senkte die Schultern und begann zu schreiben, Seite
um Seite, unzählige Seiten, die Bücher füllen würden,
wenn sie nur mehr Hefte und einen neuen Bleistift gehabt
hätte ...
Jeder Mensch könnte schreiben und lesen; niemand würde auf die Ungebildeten herabsehen; jede Frau würde den
Männern ebenbürtig sein, kein Mensch wäre besser als der
nächste; für jeden gäbe es genügend zu essen, zu trinken;
die Welt würde krieglos werden; lachende Kinder überall
auf der Erde, lachende Frauen; und ... und ... Nagobi
schrieb und schrieb, bis auch der letzte Rest Blei verschrieben war.
Langsam ertrank die Sonne gelbrot im Nebenfluss des
Auob.
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Sie lief ans Ufer hinunter und während das warme Wasser ihre nackten Füße umspülte, nahm sie die kleinen
Zettel, rollte sie ineinander und steckte sie in die längliche
Glasflasche, die sie seit Tagen bei sich getragen hatte.
Dann warf sie sie ins mückenbedeckte Wasser und sah
ihr nach, wie sie langsam mit den kaum fühlbaren Windzügen fortglitt.
Nagobi dachte an Mutter und an die Steine, die sie immer noch nicht gewaschen hatte. Sie beeilte sich nach
Hause zu kommen und spürte, wie sich ein warmes Gefühl
in ihrem Herzen ausbreitete.
Längst hatte Martita begonnen, sich Sorgen zu machen.
Sie stand vor der ärmlichen Hütte und wartete. „Nagobi,
wo bist du nur so lange gewesen?“ Sie nahm sie erleichtert
in die Arme.
Nagobi senkte schuldbewusst den Kopf und schwieg,
ganz entgegen ihrer sonstigen Art, den Mund nicht stillstehen zu lassen.
„Vater ist noch nicht da, geh und wasche die Steine.“
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Didier
Babas balle
Man kann beim besten Willen nicht behaupten, dass er ein
besonders sympathischer Junge war, der kleine Baba. Dafür war er viel zu sehr von sich selbst überzeugt und das,
was man eine große Klappe nennt, gesellte sich, wie meistens in solchen Fällen, noch dazu. Er war nicht der typische Loser und das wusste er. Und ich auch. Wenn ich mir
meine Volleyballmannschaft zusammenstellte, sicherte ich
mir gern Babas Künste. Zugegeben, er spielte zu eigensinnig, drosch den Ball immer gleich rüber anstatt „passe“ zu
spielen, wie das Zuspiel auf Französisch heißt. Aber im
Gegensatz zu den anderen Kleinen, die unbedingt immer
mitspielen wollten, bekam er den Ball wenigstens über das
Netz. Seine Selbstsicherheit half ihm dabei. „La balle
m’aime et moi, j’aime la balle!”, erklärte mir Baba mit
stolz geblähter Brust einmal nach einem wunderbar
herausgespielten Punkt. Ich sehe ihn noch heute vor mir:
seinen meist unbekleideten, drahtigen Oberkörper, seine
kurzen, schwarzen Locken, sein breites, weißes Grinsen,
seine schmuddelige kurze, rote Sporthose. Schwer zu
sagen, wie alt Baba war, vielleicht zehn. Die afrikanischen
Kinder bleiben ja oft länger klein und schmächtig, weil die
Reisgerichte manchen Wunsch des wachsenden Kinderkörpers unerfüllt lassen. Aber zum Volleyballspielen
reichte es allemal.
Ich sehe auch die anderen noch alle vor mir, diesen
„Kindergarten“, die versammelte Jugend von acht bis
achtzehn aus der Nachbarschaft des Centers, wie sie hinter
dem Haus auf dem steinigen Acker baggerten und pritschten, auf jenem unebenen Spielfeld, das ich im September
in einer schweißtreibenden Sammelaktion erst bespielbar
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gemacht hatte. Die dicken, roten Felsbrocken und die
vielen kleineren Steine, die ich aufgesammelt hatte, liegen
vielleicht heute noch als großer Haufen an der Rückseite
des Hauses. Ich sehe auch noch vor mir, wie Baba, Martin
oder Maldini – ihre richtigen Namen habe ich nie gekannt
– den Ball über die hohe, graue Mauer auf das Nachbargrundstück droschen. Und Baba wohnte da irgendwo und
kannte die Leute. Er war es meist, der dafür sorgte, dass
der Ball bald wieder auftauchte. „Je vais checher la balle“,
rief er selbstbewusst und peste über den Basketballplatz
zum Haupteingang des Peuple de l’Injil um vor Ort nach
dem Ball zu forschen. Meist kam „la balle“ dann in hohem
Bogen über die Mauer geflogen und das Spiel ging weiter.
„La balle“ – das französische Wort ist ja mit dem deutschen „Ball“ nicht ganz bedeutungsgleich, denn „la balle“
heißt eigentlich Kugel und „ballon“ ist der Ausdruck für
„Ball“, aber jeder, der schon einmal im französischsprachigen Afrika gewesen ist, wird bestätigen können, dass
afrikanisches Französisch seine eigenen Gesetze hat, über
die jedes Mitglied der Académie Française nur die Hände
überm Kopf zusammenschlagen kann.
Volleyball war übrigens nur eines der Freizeit-Angebote,
die unsere protestantische Missions-Außenstelle, die wir,
dem muslimischen Gepräge von Conakry gemäß, als
Peuple de l’Injil bezeichneten, für die Jugendlichen des
Viertels bereithielten. Der Name ist ein französisch-arabischer Mix und bedeutet so viel wie „Volk des Evangeliums“. Die Nennung des arabischen Begriffs „Injil“ fungiert dabei als Wink mit dem Zaunpfahl und sollte in etwa
folgende Botschaft übermitteln: „Schaut euch euren Koran
mal genau an. Wir kommen auch drin vor!“ Die amerikanischen Missionare, mit denen ich zusammenarbeitete, und
ich, die deutsche Aushilfskraft, benutzten freilich lieber
den einprägsameren und viel kürzeren Ausdruck Center.
Und das war es ja auch, dieses Haus mit Unterrichtsräu16
men, einem Lesesaal, der sonntags zum Gottesdienstraum
wurde, Tischfußball, einem Garten, einer Tischtennisplatte, Basketball- und eben dem von mir eigenhändig ins
Leben gerufenen Volleyballplatz: eine Anlaufstelle, ein Jugendtreff, ein Zentrum gegen Langeweile und Alltagsfrust.
Dass sich mit Küche, Bad und Schlafzimmer auch meine
Privatgemächer in diesem Haus befanden, war für die
meisten reine Nebensache und ich als Betreuer des Centers
eine zwar beliebte, aber letztlich austauschbare Figur. Das
bekam ich vor allem dann zu spüren, wenn ich meiner
Hauptaufgabe, Englischunterricht für Erwachsene, nachging und deswegen der Spielbetrieb in den späten Nachmittagsstunden ruhte. Da gab es manchmal wüste Klagen
und Beschwerden, wie man ihnen denn den Zutritt verweigern konnte! Auch Baba, frech und vorlaut, wie er war,
forderte gern sein Recht ein, die Spielanlagen benutzen zu
dürfen, das er mit dem Erwerb der Peuple de l’Injil-Mitgliedskarte für den eher symbolischen Preis von umgerechnet einem Dollar uneingeschränkt und auf Lebenszeit
zuerkannt bekommen zu haben meinte.
Ziemlich genau ein halbes Jahr hatte ich auf diese Weise
in der unbeschreiblich schwülen Tropenhitze und unter
fortgesetzten Angriffen bissiger Moskitos zugebracht, als
sich das ereignete, was unter dem Namen „Ereignisse vom
2. und 3. Februar“ in die jüngere Geschichte dieses bitterarmen, aber bis dahin wenigstens friedlichen Landes
eingehen sollte. Es war Freitagmorgen und irgendwie war
alles anders als sonst. Eine gespenstische Ruhe, die alles
Leben zu lähmen schien, lag über der sonst pulsierenden
Stadt. Unterbrochen wurde sie nur durch vereinzelte Knallgeräusche, die vage aus der Ferne zu mir drangen und
denen ich nicht sonderlich viel Bedeutung beimaß. In
dieser Stadt knallte es öfter mal. Die Ruhe rührte vor allem
daher, dass die Hauptstraße zum Stadtzentrum – Hauptstraßen kann man in Conakry an einer Hand abzählen –
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wie leer gefegt war. Nur vereinzelt fuhren dort Autos, wo
sich sonst die in Europa ausgesonderten Blechkisten gegenseitig über den Asphalt jagten. Als ich bei einem Blick
über die Mauer des Center-Geländes einen Armeelaster
mit bis an die Zähne bewaffneten Soldaten sah, der einsam
in Richtung Zentrum sauste, war mir klar, dass etwas nicht
stimmte.
Wenig später kam Abdourahamane, der gelegentlich für
die Mission als Nachtwächter arbeitete, und erklärte: „On
tire là-bas!“ („Da wird geschossen!“) Bald konnte ich sie
auch auf meinem Grundstück hören: die Salven aus den
Gewehren der guineischen Armee. Ausnahmezustand. Die
Zeit schien den Atem anzuhalten, der Alltag aus den
Angeln gehoben.
Per Funk wurde ich von Dan, dem Leiter der Administrativ-Abteilung der Mission, darüber informiert, dass im
Zentrum Unruhen ausgebrochen seien. Dan hörte sich
ziemlich verängstigt an. Er war „en ville“ gewesen um den
üblichen Papierkram zu erledigen und mitten in die
Tumulte geraten. Er hatte mit ansehen müssen, wie aufgebrachte Soldaten das Innenministerium stürmten, den
Minister aus seinem Büro zerrten und brutal verprügelten.
Alle Missionare wurden auf Kanal 24, den alle vom
Team gleichzeitig hören konnten, aufgefordert zu Hause
zu bleiben. Die amerikanische Botschaft habe bereits Evakuierungsmaßnahmen ins Auge gefasst. Doch noch wolle
man abwarten und vor allem dafür beten, dass Dan heil aus
der Sache herauskommen möge. Denn natürlich waren
Tausende auf der Flucht aus dem Stadtzentrum. Gleichzeitig hatte das Militär aber an allen wichtigen Verbindungsstraßen Sperren errichtet.
Einen Steinwurf vom Center entfernt befand sich eine
Tankstelle, von der es hieß, sie gehöre dem Präsidenten.
Hier tummelten sich seit dem frühen Morgen einige
Soldaten und noch viel mehr Zivilisten. Durch ein Loch in
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der Wand, die das Grundstück umgab, konnte ich sehen,
wie meine Nachbarn schwer beladen mit randvollen
Eimern und Kanistern aus Richtung Tankstelle kamen.
Als ich des besseren Panoramas wegen aufs Dach des
Hauses stieg, sah ich, was los war. Plünderer waren eifrig
damit beschäftigt, Benzin in Kanister zu füllen. Andere
brachen Teile vom Dach ab, wieder andere flohen mit
Gegenständen aus dem Verkaufsraum. Soldaten schossen
immer wieder in die Luft. Es sah nach einer völlig außer
Kontrolle geratenen Situation aus. Bis an den Horizont
säumten Schaulustige die Straße. Sie standen als endlose
Menschenkette auf den Wällen, die sich am Rand der
Hauptstraße durch die Ausbauarbeiten gebildet hatten. Die
wenigen Zivilwagen, die gelegentlich über die völlig vereinsamte Straße fuhren, wirkten wie Zugvögel, die den
Abflug nach Süden verpasst haben. Als Abdourahamane,
der es sich wie üblich, nachdem er von mir mit einem Becher Wasser versorgt worden war, auf einem der Stoffstühle auf der Veranda des Centers bequem gemacht hatte, sah,
dass ich vom Dach kam, schimpfte er mit mir: Das könne
ich nicht machen, das sei zu gefährlich. „Wieso“, fragte
ich, „es wird doch keiner auf mich schießen!“
Das vielleicht nicht, aber es gebe immer wieder Opfer
durch „balles errées“, verirrte Kugeln, zum Beispiel wenn
Soldaten in die Luft schössen. Ich verstand das nicht: Wie
soll man von einer Kugel getötet werden können? Wenn
sie senkrecht in die Luft fliegt, kann sie doch nur als
harmloses Hagelkorn wieder runterkommen, nachdem ihr
die Puste ausgegangen ist. Oder sprach Abdourahamane
von Querschlägern, wie ich sie aus Western kannte? Wie
kann es aber Querschläger geben, wenn jemand in die Luft
schießt? Oder schießen afrikanische Gewehre um die
Ecke? Abdourahamane konnte sich mir nicht verständlich
machen. Ich stieg trotzdem vorläufig nicht mehr aufs Dach
und wenn doch, dann mit einem vagen Gefühl von Furcht.
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Die Meuterei hatte auch ihr Gutes. Was sonst ein fast
lebensbedrohlicher Akt war – das Überqueren der Hauptstraße – war heute ein Kinderspiel. Auf der anderen Seite,
wo der Ortsteil Haifa beginnt, besuchte ich Samoura, einen
pensionierten Soldaten aus der Volksgruppe der Yalunke.
Als ich ihn vor einem halben Jahr kennen lernte, hatte er
mir täglich einmal sein Knie vorgeführt, in dem sich Wasser angesammelt hatte, das operativ entfernt werden musste. Das Knie sah tadellos aus, aber er konnte die kritischen
Stellen immer genau bezeichnen und wusste seinen Gesundheitszustand mit weitschweifigen medizinischen Analysen zu kommentieren. Inzwischen hatte ich mich an sein
furchtbares Französisch gewöhnt. Als Yalunke sprach er
jedes französische „eu“ „ee“ aus (also „Diee“ statt „Dieu“
um nur ein Beispiel zu nennen), und anfangs hatte ich kein
Wort seiner Ausführungen verstanden. Dennoch war Samoura, der ständig in ein herrliches Gekicher ausbrach, ein
stets unterhaltsamer, ein „formidabler“ Gastgeber. Seine
Pension, die aus Frankreich bezahlt wurde, sicherte ihm
und der undurchsichtigen Dutzendschar der mit ihm lebenden Angehörigen die nötige Anzahl Reissäcke und mir bei
jedem Besuch eine Flasche Fanta oder Cola. Die musste
einer seiner zahlreichen Sprösslinge jedes Mal eilends im
Laden um die Ecke besorgen.
Der alte Samoura kam mir, wie üblich mit nacktem
Oberkörper und kurzer Hose, gleich entgegen, als ich den
verdreckten Innenhof mit dem angeketteten Affen betreten
wollte. Mit einer eigentlich unnötigen Geste wies ich auf
das Geballer hin, von dem die Luft zunehmend schwanger
war. „C’est les militaires“, erklärte er. Die wollten mehr
Geld und begehrten gegen die Korruption auf, die verantwortlich dafür sei, dass einige Soldaten seit Monaten keinen Lohn empfangen hätten. Nun hole man sich den eben
mit Gewalt. Dem Innenminister sei es schlecht ergangen.
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Er habe dafür leiden müssen, dass der Verteidigungsminister rechtzeitig das Weite gesucht habe.
Dann gehe ich, weiter in den Ortsteil Haifa eindringend,
zu Sami, einem Kongolesen, der in der Firma seines Chefs
eine glänzende Laufbahn vor sich hatte. Er sollte die Aufsicht über eine Druckerei führen, die Tochter des Chefs
war seine Verlobte. Dann verliebte er sich in ein hübsches
Mädchen, das nicht seine Verlobte war, schlief in der
Nacht vor der Hochzeit mit ihr und – um es kurz zu machen – die Sache flog auf. Sami hat jetzt keine Arbeit und
keine Frau und natürlich auch kein Geld mehr. Aber ein
Radio hat er, mit dem man sehr gut Radio France internationale hören kann und das tun wir und hören den Bericht
eines aufgeregten Reporters, der erzählt, dass der Präsident
sich in einen Bunker unterhalb seines Palastes verkrochen
hat. Führende Militärs haben die Unruhen offenbar für ihre
Interessen genutzt. Jetzt wollen sie an die Macht, der
Präsident soll gestürzt werden. Der Palast ist von Panzern
umstellt und wird von Stalinorgeln und anderen schweren
Geschützen beschossen. Die Präsidentengarde liefert sich
mit den Aufständischen heftige Gefechte. Die Zukunft
Guineas steht auf der Kippe.
Als ich mich von Sami verabschiede und das Grundstück
verlasse, auf dem ein gutmütiger Freund ihn umsonst wohnen lässt, schauen wir auf die Kawasaki-Niederlassung
Haifa, die genau wie die Tankstelle von Vandalen-Horden
geplündert wird.
Letztere löst sich in den nächsten Stunden quasi in ihre
Einzelbestandteile auf, am Ende werden nur noch Mauern
und Metallgerüste stehen. Ich gehe, von Sami kommend,
neugierig hinüber zu dem Bienenschwarm auf der Tankstelle und werde Zeuge, wie ein Soldat einen Mann mit
seinem Gürtel peitscht, der sich unerlaubt an der Benzinspritze zu schaffen macht. Der Mann windet sich wie eine
Hyäne unter den Schlägen, aber er weicht nicht. Da schießt
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der Soldat mehrmals in die Luft. Ein Kollege tut es ihm
gleich. Das laute Geknatter ist mir nicht geheuer. Das
Chaos, das hier herrscht, noch weniger. Mir wird ziemlich
mulmig zumute. Ich spüre, dass die Stimmung jederzeit
kippen und es zu Blutvergießen kommen kann. Die Bilder
vom Völkermord in Ruanda kommen hoch. Als ich den
wilden Haufen hinter mir lasse und die paar Schritte zum
Center zurücklege, stoße ich auf Michel, einen Nachbarn
vom Volksstamm der Toma. Michel gehört auch zum
Militär. Bisher habe ich ihn nur in Zivil gesehen. Richtig
Furcht einflößend kommt er mir jetzt vor: Er hat seine
grüne Militäruniform angezogen und sich ein Militärfahrzeug unter den Nagel gerissen, neben dem er jetzt stolz
posiert. Bewaffnet ist er natürlich auch. Anscheinend hat
der Jeep kein Benzin mehr, aber das Problem lässt sich mit
einem der vielen Eimer lösen, die an diesem Tag schon
durch das Viertel getragen wurden. Wie immer verstehe
ich nur die Hälfte von dem, was die Nachbarn mir erzählen. Aber so viel ist auch mir klar: Eigentlich sollte Michel
mit dem Militärfahrzeug nicht hier und nicht jetzt stehen.
Als es dunkel wird und aus Richtung Zentrum immer
noch Gewehr- und Geschützfeuer zu hören ist, muss ich an
Silvester denken: Ja, so hört es sich bei uns zu Hause nur
zwischen null und ein Uhr am ersten Tag des Jahres an.
Silvesterstimmung will trotzdem nicht recht aufkommen.
Am nächsten Morgen kam das große Geheule. Wenn in
Afrika jemand stirbt, ist die Trauer vielleicht nicht größer
als bei uns, nur in jedem Fall viel besser zu hören. Kalil,
der manchmal als Nachtwächter im Center ausgeholfen
und wie Abdourahamane ein gewaltiges Alkoholproblem
hat, dem bereits eine vorteilhafte Karriere bei der Polizei
zum Opfer gefallen ist, macht ein ernstes Gesicht, als er
morgens zu mir auf die Veranda tritt. So ernst ist er sonst
nicht. Meistens reißt er Witze, schlägt einem auf die
Schulter und lacht laut dazu. Unnötig zu erwähnen, dass er
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sich mit Samoura bestens versteht und gewissermaßen
dessen Protégé ist. Kalils ernste Miene alarmiert mich:
Etwas Schlimmes ist passiert.
„C’est le petit Baba!”, erklärt er mir, indem er kurz mit
dem Kopf in Richtung des unüberhörbaren Gewimmers
aus der Nachbarschaft deutet.
„Quoi?“, rufe ich ebenso ungeduldig wie bestürzt aus.
„Il est mort. C’était une balle errée!“ Balle errée, dieser
französische Ausdruck, den ich gestern erst gelernt habe
und als Gefahr nicht ganz ernst nehmen konnte! Jetzt erschrecke ich über meine Unbedarftheit. In knappen Worten
schildert mir Kalil, was geschehen ist: Baba war auf dem
Markt in Taouyah um an den wenigen besetzten Ständen
für die Familie ein paar dringende Besorgungen zu machen: Reis vielleicht, Gemüse, Speiseöl. Dann habe es
einen dieser typischen afrikanischen Tumulte gegeben:
Niemand weiß, wer angefangen hat, kaum jemand, worum
es eigentlich geht, aber laut wird es, so laut wie jetzt das
Trauergeschrei – und handgreiflich. Und in Tagen wie diesen kann so etwas rasch eskalieren – bis hin zu Waffengewalt. Ein paar Soldaten standen in der Nähe, ein paar
Schüsse fielen – niemand wurde verletzt, nur einer getötet:
ein Unbeteiligter, ein Unschuldiger, ein kleiner Junge in
einer kurzen, roten Hose, der für seine Mama ein paar
Lebensmittel einkaufen wollte. Balle errée.
Ausgerechnet Baba, denke ich, der Treffsichere, der
Zielgenaue, der mit dem Ball so selbstbewusst umzugehen
wusste, der, wie er einmal sagte, den Ball liebt und der
Ball ihn, ausgerechnet Baba trifft diese tödliche balle
errée. Es ist ein blöder Witz des Schicksals, denke ich
traurig, ein selten blöder Witz, über den niemand lachen
kann.
„On va aller?“, fragt Kalil. Die Höflichkeit und der
Respekt gebieten, dass ich mich im Kreise der Trauernden
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blicken lasse, erklärt er mir, als ich Unsicherheit zeige, ob
man mich als Weißen denn dort sehen möchte.
Wie ein Schatten sitzt Babas Mutter nur ein paar Häuser
weiter in vornehmer Trauerkleidung auf einem Schemel
unter dem Unterstand der einfachen Blechdachbehausung.
Vom Vater, wie so oft in diesem Land, keine Spur. Wer
weiß, ob er je vom Tod seines Sohnes erfahren wird. Alles,
was in der Nachbarschaft an Stühlen verfügbar war, steht
im vergleichsweise großen Innenhof, der in gleißendes
Licht getaucht ist. Die Sonne kennt auch heute keine Gnade. Als ich, von Kalil geleitet, in der Trauergesellschaft
auftauche, ernte ich wohlwollende Blicke. Wie gut, dass es
Kalil gibt, denke ich. Mir wird ein Stuhl angeboten, dann
bekomme ich Wasser. Und dann sitze ich und sitze und
warte darauf, dass etwas passiert. So ist Afrika.
Schließlich bildet sich eine lange Reihe. Ich stehe auf
und reihe mich mit Kalil ein in den Zug der Trauernden.
Wortlos ziehen sie an der verwaisten Mutter vorbei. Ich
imitiere meinen Vorgänger und schüttele ihr die lahme
Hand – mehr nicht. Ich muss kein Wort sagen. Keine klingenden Schellen, keine Beileidsfloskeln, keine formelhaften Lippenbekenntnisse werden mir abverlangt. Mir gefällt
dieses schweigende Vorüberziehen, dieses Verstummen
vor der Urgewalt des Todes.
Am Montag ist der Spuk vorbei. Der sichtlich angeschlagene Präsident hält in betont einfacher Militärmontur – er
hatte sich ja Mitte der Achtziger als General selbst an die
Macht geputscht – im guineischen Staatsfernsehen eine
Ansprache und erklärt: Die Lage ist unter Kontrolle, die
Ordnung wiederhergestellt, die Schuldigen werden bestraft.
Mein Kollege Dan konnte übrigens unbeschadet aus dem
Gewühl im Zentrum entkommen. Michel hatte weniger
Glück: Er wurde ein paar Wochen später verhaftet und im
Gefängnis – sagen wir’s mal vorsichtig – nicht gut behan24
delt. Sein Schicksal steht stellvertretend für das vieler
höherrangiger Militärs. Ach ja, und Samoura: Es ist kaum
zu glauben – das alte Regime hat den Mann, der schon
unter den Franzosen diente, doch tatsächlich reaktiviert.
Samoura ist wieder Soldat!
Die Uneinigkeit der Meuternden, so ist später zu hören
und zu lesen, hat sie am Ende in diesem dreitägigen Kräftemessen den Sieg gekostet. Und den Präsidenten hat es
seinen ersten Wohnsitz gekostet: Der Palast, ein 62 Millionen Dollar teures Prestigeobjekt, ist nur noch eine Ruine.
Obdachlos ist der alte General trotzdem nicht geworden ...
Etwa sechzig Todesopfer – das ist die offizielle Zahl –
hat der gescheiterte Putschversuch gefordert, allein zwanzig durch so genannte verirrte Kugeln. Und einer von ihnen, einer von diesen vielen namenlosen Toten, hatte für
mich ein Gesicht, das bis heute nicht ganz verblasst ist.
25
Anne Grießer
Die Geschichte vom unglaublich fruchtbaren Opa
Yongai
Als Kinder fürchteten wir uns sehr vor Opa Yongai. Nicht
dass er jemals etwas Böses zu uns gesagt hätte, überhaupt
erhob er niemals seine Stimme, lächelte stattdessen
freundlich wenn wir an seiner Hütte vorüberhuschten. Er
saß bei Tag und Nacht auf seiner Veranda, wo er aß, im
Sitzen schlief, Geschichten erzählte und schließlich starb.
Manchmal hob er langsam die Hand und winkte uns zu,
doch ich sollte elf Jahre alt werden, bis ich mich zum ersten Mal in seine Nähe traute.
Es waren die Vögel, vor denen ich mich am meisten
fürchtete. Ständig flatterten und piepsten sie rund um Opa
Yongais Kopf, besonders wenn gerade junge Regendommler geschlüpft waren. Sie schissen auf die Veranda, auf die
Kleider meines Großvaters, auf sein verfilztes Haar.
Sie schleppten in ihren Schnäbeln lebende und tote Würmer heran, um ihre Jungen damit zu füttern. Und Opa
Yongai bewegte sich nie, er war wie ein Baum mit einer
mächtigen, wirren, grauhaarigen Krone.
„Warum brüten die Vögel in Opa Yongais Haar?“, fragte
ich meine Mutter häufig.
„Das musst du ihn schon selber fragen“, antwortete sie
stets.
Und mit elf Jahren traute ich mich endlich.
Zwischen seinen schwarzen, vollen Lippen steckte eine
Marihuanazigarette, so gelb wie seine Zähne, die kreuz
und quer in der dunklen Mundhöhle wuchsen, aber noch
vollständig erhalten waren. „Die Vögel!“, kicherte er kindisch. „Ja, ja, die Vögel.“ Er spitzte die Lippen um mir anzudeuten, dass er mir ein Geheimnis verraten würde. „Das
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liegt, wie so vieles in meinem Leben“, flüsterte er, „an
meiner unglaublichen Fruchtbarkeit.“
Ich machte große Augen.
„Setz dich zu mir, mein Junge. Dann werde ich dir die
ganze Geschichte erzählen.“
Zögernd ließ ich mich auf dem alten Schemel nieder, der
für Besucher bereitstand. Ich achtete allerdings darauf,
Opa Yongai und seinen Regendommlern nicht allzu nahe
zu kommen.
„Ich war damals etwa so alt wie du“, begann mein Großvater, nachdem er einen tiefen Zug genommen hatte. „Es
muss also mindestens 120 Jahre her sein. Unser Dorf war
damals viel kleiner und bei weitem nicht so modern. Es
waren jene Zeiten, als die Ahnen noch mächtig waren, als
wir nur wenig über den Islam wussten – und dennoch
fromm waren.“
Er unterbrach seine Rede um Allah zu preisen, den er auf
eine äußerst individuelle Art verehrte.
„Im Gegensatz zu dir“, fuhr er fort und zwinkerte, „war
ich ein schwächlicher Knabe. In meiner Altersklasse war
ich nicht nur der Kleinste und Dünnste, sondern auch bei
weitem der Ängstlichste. Selbst vor einem Regendommler
fürchtete ich mich, wenn er meinen Kopf umschwirrte!
Stell dir das einmal vor!
Ich war ein Bild des Jammers – vor allem für meine arme Mutter, denn sie hatte neben sieben Töchtern nur mich
als einzigen Sohn. Was hat sie nicht alles versucht, um
einen starken Jungen aus mir zu machen! Mein Hals, die
Hand- und Fußgelenke waren so üppig mit Amuletten behangen, dass ich mir einen merkwürdig schleppenden
Gang zulegte, da mich die schweren Figuren fast in die
Knie zwangen. Ich litt häufig unter Auszehrung und kein
Heiler konnte mir helfen. Ein mächtiger Feind musste mir
all diese Krankheiten auf den Leib hexen!
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Besonders schlimm wurde es immer dann, wenn man
mir den Kopf schor. Jedes einzelne verlorene Haar, so kam
es mir vor, fügte mir höllische Schmerzen und schweres
Fieber zu. Tagelang dämmerte ich vor mich hin, geschüttelt vom Frost, verfolgt von furchtbaren Träumen.
In einem solchen Zustand, mehr tot als lebendig, zog
mich meine Mutter eines Tages aus der Hütte und schleppte mich ins Nachbardorf. Dort gab es einen Wahrsager,
von dem man glaubte, er könne das ganze Leben eines
Kindes aus einer Hand voll Kaurimuscheln lesen. Warum
wir ihn nicht schon früher aufgesucht hatten? Ganz einfach: Er war nicht eben billig. Er war, ehrlich gesagt, sogar
der teuerste Wahrsager, dem ich in meinen 131 Lebensjahren begegnet bin, so teuer, dass meine Mutter den Brautpreis von vier meiner sieben Schwestern dafür ausgeben
musste, damit er mir meine Zukunft voraussagte. Da siehst
du, mein Junge, wie groß die Liebe meiner Mutter war.
Allah möge sie preisen!“
Opa Yongai gab sich seinen Erinnerungen hin und erst
als ich schon glaubte, er sei eingeschlafen, erzählte er mit
unheilschwangerer Stimme weiter.
„Fanon, der Wahrsager, war eine Furcht einflößende
Person. Sein linkes Auge war blind, doch er konnte so beweglich damit rollen, dass nur noch das Weiße zu sehen
war, während das rechte Auge völlig stillstand und gelangweilt auf das Säckchen mit den Kaurimuscheln starrte.
Das Erste, was Fanon tat, nachdem wir gezahlt hatten,
war, meine Mutter vor die Tür zu schicken. Er verscheuchte sie wie eine lästige Fliege.
‚Wenn ein Mann aus dem Leben eines Mannes liest’,
sagte er, ‚können Frauen schlimmes Unheil anrichten.’
Er warf seine Muscheln auf den Boden und betrachtete
sie so ratlos, dass ich mich schon fragte, ob mein Fall
völlig hoffnungslos sei, als plötzlich ein Geistesblitz seine
Züge erhellte. Er begann zu singen und seine Stimme
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klang sehr heiser dabei. Schließlich strahlte er und
schnalzte zufrieden mit den Fingern.
‚Gib mir ein Haar!’, befahl er ungeduldig.
Ich erschrak. Selbstverständlich wusste ich, wie viel
Schaden ein Zauberer mit Haaren oder Fingernägeln
anrichten konnte. Außerdem hatte mir meine Mutter erst
vor drei Tagen den Kopf geschoren – es gab also nichts
auszureißen.
‚Nicht vom Kopf!’, rief der Wahrsager. ‚Wenn du am
Schwanz noch keine hast, dann gib mir eine Wimper!’
Es tat weh, als ich sie mir ausriss, doch das freudige
Geheul des Wahrsagers machte den Schmerz wieder wett.
‚Du Glückspilz!’, brüllte er, nachdem er die Wimper in
eine Schale mit Öl getaucht und danach ins Feuer geworfen hatte, wo sie stinkend verschmorte. ‚Siehst du das
Leuchten des Feuers?’, rief er begeistert. ‚Die Ahnen lieben dich!’
Das war mir neu. Aber es klang gut.
‚Nun hol deine Mutter herein.’
Ich wurde sofort wieder zur Nebenfigur, als der Wahrsager meiner Mutter erklärte, was er gesehen hatte. ‚Dieser
Knabe’, begann er, ‚wird in die Geschichte eingehen als
der fruchtbarste Mann, den die Ahnen je kannten. Er wird
so fruchtbar sein, dass nie wieder jemand in seinem Dorf
Hunger leiden muss und dass hundert Hütten nicht ausreichen werden um seinen Kindern und Enkeln ein Zuhause zu geben. Seine Feinde werden in Ehrfurcht erstarren
und flüchten, sobald sie seine Fruchtbarkeit riechen. Er
wird so fruchtbar sein, dass man auch in tausend Jahren
noch Geschichten über ihn erzählen wird! – Jedoch nur
unter EINER Bedingung!’
Meine Mutter zitterte vor Freude und Aufregung. ‚Wie
lautet diese Bedingung?’
‚Der Junge darf sich nie wieder die Haare scheren! All
seine Lebenskraft sitzt allein im Haar! Nur dort kann sie
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sich entfalten! Wenn er sich die Haare abschneidet, dann
wird seine Kraft schwinden und der Knabe wird sterben.
Habt ihr das verstanden?’
Wir nickten beide atemlos und meine Mutter gab dem
Wahrsager vor Begeisterung auch noch den Brautpreis
meiner fünften Schwester.“
Opa Yongai zündete sich eine neue Marihuanazigarette
an und sagte lange nichts. Es begann zu dämmern und ich
hätte eigentlich nach Hause gehen sollen, doch nun, da ich
mich endlich in die Nähe des Alten getraut hatte, war ich
so sehr von seiner Geschichte gefangen, dass mir jede Unterbrechung wie eine unzumutbare Störung vorkam. Mit
der schwindenden Sonne hatten auch die Regendommler
ihre flattrigen Umtriebe eingestellt und auf Opa Yongais
Kopf kehrte Ruhe ein.
„Und?“, wagte ich schließlich zu fragen. „Hat sich die
Prophezeiung erfüllt?“
„Du bist ungeduldig“, tadelte Opa Yongai. „Eine Geschichte muss der Reihe nach erzählt werden. Sonst ist es
keine Geschichte, sondern eine Belehrung. Und du wärst
der erste Junge, den ich kenne, der sich lieber eine Belehrung als eine Geschichte anhört!
Nun, was der Wahrsager mir prophezeit hatte, gefiel mir
außerordentlich gut und so nahm ich es gelassen hin, wenn
die anderen Jungen meiner Altersklasse mich verspotteten,
weil ihre glatt geschorenen Schädel in der Sonne glänzten,
während sich auf meinem Kopf ein wirres Dickicht aus
drahtigem, schwarzem Haar auszubreiten begann. Ich wurde nicht mehr krank und wuchs in die Höhe, außerdem
bildeten sich erste Muskeln auf meinem schlanken Körper.
Meine Mutter platzte schier vor Stolz, wenn sie mich
Ringkämpfe mit anderen Knaben austragen sah, bei denen
ich jetzt nur noch jedes zweite Mal unterlag.
Als unsere Männlichkeit zu wachsen begann, interessierten wir uns für andere Spiele. Eines Tages maßen wir uns
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am Rande des Dorfes im Weitpissen – und obwohl mein
Schwanz von allen anwesenden Knaben der kürzeste war,
gewann ich den Wettbewerb doch mit großem Vorsprung.
Das Wunder ereignete sich einen Tag später: Genau an
der Stelle, an der mein heiliger Urin die Erde benetzt hatte,
war eine Pflanze gewachsen!
Und obwohl es nur ein ganz gewöhnliches, weit verbreitetes Unkraut war, so wusste ich doch in eben diesem
Moment, dass der Wahrsager Recht gehabt hatte! Meine
Fruchtbarkeit war so ungeheuerlich, dass ich mich fortan
hüten musste, um nicht den Neid und die Missgunst aller
anderen auf mich zu ziehen!“
Vorsichtig versuchte Opa Yongai mit dem Kopf zu
nicken, doch obwohl die Bewegung kaum auszumachen
war, purzelte ein Regendommler-Ei aus dem Nest und die
empörte Vogeldame schimpfte lautstark. Opa Yongai hatte
das Ei jedoch geschickt aufgefangen und platzierte es wieder in seinem Haar.
„In den folgenden Jahren“, fuhr er fort, „bemühte ich
mich, trotz meiner besonderen Gabe ein ganz normales Leben zu führen. Keinesfalls wollte ich meine Altersgenossen eifersüchtig stimmen! Ich ließ mir nichts anmerken
und als ich ein erwachsener Mann war, nahm ich mir zunächst nur eine einzige Frau.
Und nun stell dir vor, mein Junge: Die Ahnen wollten es
so, dass ausgerechnet diese Frau keine Kinder gebären
konnte! Nicht einmal meine außergewöhnliche Fruchtbarkeit kam dagegen an!
Nun gut, dachte ich mir. Ich würde sie deswegen nicht
verstoßen. Sicher war es eine Prüfung. Denn wenn überhaupt irgendjemand dieser armen Frau helfen konnte, dann
war es wohl ICH mit meiner besonderen Gabe. Außerdem
mochte ich Binta. Ich würde es weiterhin mit ihr versuchen und darauf warten, dass mein göttlicher Same eines
Tages aufginge. Und, nun ja, ich hatte schließlich nichts zu
31
verlieren. Ich konnte mir jederzeit eine zweite und dritte
Frau nehmen.
Andere Dinge gewannen zu jener Zeit an Bedeutung.
Der Jiwara-Bund hatte mich auserwählt, bei den rituellen
Fruchtbarkeitstänzen die weibliche Antilope zu tragen! –
Du musst wissen, mein Junge, dass damals vor etwa 96
Jahren die rituellen Tänze eine wesentlich größere Bedeutung besaßen als heute. Das Ernteglück des gesamten Jahres hing von ihnen ab! Die Ausdruckskraft des Tanzes entschied über Regen oder Dürre, über Heuschrecken, Läuse
und Ameisen, über Fülle oder Hunger.
Es war eine große Ehre, für diesen Tanz auserkoren zu
sein. Er musste lange Zeit geübt werden, damit jede Bewegung stimmte und nichts schief gehen konnte. Außerdem
durften nur die fruchtbarsten Männer des Dorfes tanzen.
Der andere Mann, der die männliche Antilope darstellen
sollte, hatte bereits fünf Söhne gezeugt und strotzte vor
Gesundheit.
Ich selbst hatte zwar noch keinen Sohn, doch meine
Fruchtbarkeit war ohnehin legendär.
Mein Haarschopf war schon damals prächtig, wenn auch
nicht so außergewöhnlich wie heute. Ich trug ihn zu einem
langen Zopf geflochten, den ich mir um den Bauch knotete, damit er mich nicht beim Tanzen behinderte. Trotzdem blieb noch eine Mähne von beachtlichem Ausmaß
übrig, die drahtig von meinem Kopf abstand. Die Männer
brauchten zwei volle Tage, um den Antilopenaufsatz darauf zu befestigen!
Ob das folgende Unglück mit dieser schwierigen Zeremonie in Verbindung stand? Ich weiß es nicht und werde
es wohl nie ergründen. Wie oft habe ich darüber nachgegrübelt! Ich bin nicht dahinter gekommen. Wir hatten
gefastet, uns gereinigt und den Masken das ordnungsgemäße Opfer dargebracht. Wir hatten mit aller Leidenschaft
getanzt, zu der wir fähig waren.
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Und dennoch! Kurze Zeit später begann die schrecklichste Dürreperiode, die unser Dorf je heimsuchte! Die
Hirse auf den Äckern verkümmerte, kaum dass sie aus der
Erde lugte, kein Tropfen Regen fiel, nichts half den Pflanzen zu überleben. Der Boden bekam Risse und war bald so
hart wie die Felsen im Nigerbett.
Was sollte ich nur tun? An mir konnte das Unglück ja
kaum liegen! Meine fürchterliche Fruchtbarkeit hat vermutlich sogar das Schlimmste noch verhindert!
Vier Jahre lang fiel kein Regen, die Hirsespeicher waren
jedoch schon im zweiten leer. Manche Männer verließen
das Dorf, gingen in die Städte und versuchten dort Arbeit
zu finden. Viele von ihnen sahen wir nie wieder.
Im dritten Jahr der entsetzlichen Dürre wusste ich, dass
ich etwas unternehmen musste. Wenn ICH nichts ausrichten konnte – wer konnte es dann?!
Weil mein schwerer Haarschopf mich bei der Arbeit
behinderte und schnelle Bewegungen sowieso unmöglich
machte, hatte ich mir vor einigen Jahren das Lesen beigebracht. Immer, wenn jemand in die Stadt reiste, bat ich
ihn mir einige Bücher mitzubringen, die ich im Schatten
meiner Veranda lesen konnte. So hatte ich im Laufe der
Zeit eine beträchtliche Bibliothek angelegt – die größte im
ganzen Dorf – was zwar nicht viel zu heißen hatte, denn es
war schließlich auch die einzige – aber immerhin!
Als ich meine Sammlung eines Tages genauer betrachtete, schlug mein Herz schneller. Unter all den Büchern über
die Behandlung von Bauchschmerzen, unter den Märchen
und Fabeln und den Abenteuern des Leopardenjägers
Mopti befand sich auch ein schmales Bändchen über Bewässerungssysteme und Brunnenbau. Ich hatte es bislang
nicht gelesen, hatte es nach wenigen Seiten weggelegt,
weil es langweilig klang und weil ich einige Wörter nicht
auf Anhieb verstand. Doch nun verschlang ich es geradezu!
33
Und als ich damit fertig war, lud ich alle Männer zu mir
auf die Veranda und erklärte ihnen genau, was sie tun
mussten. Wie gerne hätte ich ihnen geholfen, wenn mein
Haarschopf es erlaubt hätte!
Nun, sie arbeiteten auch ohne mich recht ordentlich und
es dauerte nicht lange, bis wir das modernste Kanalsystem
der gesamten Region besaßen – und den ertragreichsten
Brunnen. Die Hungersnot war bezwungen!
Ich aber setzte mich auf meine Veranda und freute mich
in aller Stille. Denn natürlich wollte ich keinen Dank für
eine Tat, die ich gar nicht wirklich vollbracht hatte – wo es
doch allein meine unerhörte Fruchtbarkeit war, die das
Dorf gerettet hatte!“
„Aber was hat ...?“, unterbrach ich Opa Yongai, doch er
blickte mir derart streng in die Augen, dass mir die übrigen
Worte im Halse stecken blieben.
„Wenn du den Rest der Geschichte hören willst, dann
musst du deine Fragen für später aufheben! Ich bin nicht
mehr der Jüngste und wenn ich den Faden einmal verloren
habe, finde ich ihn vielleicht nicht wieder! Also, wo waren
wir stehen geblieben?“
„Ähm. Wie deine unerhörte Fruchtbarkeit das Dorf gerettet hat ...“
„Ja, mein Junge.“ Zufrieden nahm er einen Zug von seinem Joint. „Es war schon eine großartige Gabe, die ich da
besaß!
Was mir inzwischen jedoch mächtigen Kummer bereitete, war die grausame Prüfung, die unsere Ahnen mir auferlegten. Ich hatte zu jener Zeit nämlich dreiundzwanzig
weitere Frauen geheiratet. Und nun stell dir vor, mein Junge: Keine dieser vierundzwanzig – die erste mitgerechnet –
hatte mir bislang ein Kind geschenkt!
Ich grübelte Tag und Nacht darüber nach, was ich tun
konnte um die Unzulänglichkeit dieser armen Geschöpfe
zu beheben. Denn natürlich war es ganz klar, dass die Ah34
nen mir alle unfruchtbaren Frauen der Gegend geschickt
hatten, damit ich ihnen half! Aber wie, um Allahs willen,
sollte ich das anstellen? Wie sollte mein göttlicher Same
aufgehen – wenn er doch stets auf trockenen Stein fiel?
Eines Nachts saß ich genauso wie jetzt mit einem Pfeiflein aus feinstem Gras auf dieser Veranda, da kam Binta,
meine erste Frau zu mir.
‚Yongai’, sagte sie. ‚Ich weiß, was dich bedrückt. Und
vielleicht kann ich dir helfen!’
‚Du?!’, fragte ich erstaunt. ‚Nun gut, lass mich hören,
was du mir zu sagen hast!’
‚Jede Nacht’, sprach Binta, ‚liegst du bei deinen Frauen.
Jede Nacht wählst du eine oder mehrere aus, um mit ihnen
die Matte zu teilen. Obwohl ich weiß, dass du – der
fruchtbarste Mann im Dorf – ein Recht auf unsere ständige
Bereitschaft hast, so glaube ich doch, du verhältst dich
unklug!’
‚Unklug? Erkläre mir das!’
‚Nun, wir Frauen wissen schließlich alle von deiner besonderen Gabe und sie schüchtert uns natürlich ein. Jede
Nacht, wenn wir überlegen, welche von uns an der Reihe
sein mag und ob sie dir einen Sohn gebären wird, dann erstarren wir vor Ehrfurcht und erhärten zu Stein. Denn natürlich möchte es jede von uns besonders gut machen und
die erste sein, die schwanger wird. Glaub mir, Yongai, du
tätest gut daran, uns gelegentlich eine Ruhepause zu gönnen, damit wir uns von unserer Ehrfurcht erholen können!
Wenn du vielleicht ... nur jede zweite Nacht kämst – und
dich in den verbleibenden von unseren Schlafstätten fern
hieltest ... Nun, ich denke, das würde helfen!’
Als Binta, meine erste Frau, wieder gegangen war, dachte ich über ihre Worte nach und kam zu dem Schluss, dass
sie weise gesprochen hatte.
Natürlich musste meine unglaubliche Fruchtbarkeit die
Frauen einschüchtern! Ich hätte selber darauf kommen
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können! Ich dankte Binta für ihren Rat und besuchte von
nun an nur noch jede zweite Nacht die Schlafhütten.
Nun, mein Junge, Allah preise die Weisheit meiner
ersten Frau! Es funktionierte! Innerhalb weniger Wochen
wurden alle vierundzwanzig Frauen schwanger!
Sie schenkten mir im Laufe der Jahre 66 Söhne und 41
Töchter von bester Gesundheit. Ganz unterschiedliche
Knaben und Mädchen waren das! Manche hatten eine so
krumme Yamsnase wie Amadou, der Schmied, andere
hatten eine ganz helle Haut, fast so hell wie der weiße
Forscher, der einige Jahre bei uns lebte. Ja, drei meiner
Söhne hatten sogar die gleiche eigentümliche Augenfarbe
wie unser Nachbar Damba, der bis dahin der einzige
Mensch mit grünen Augen war, den ich je gesehen hatte!
‚Du trägst das Leben des ganzen Dorfes in deinem
Schwanz!’, lächelte Binta, als ich ihr von meinen Beobachtungen erzählte. ‚Gepriesen sei deine Fruchtbarkeit!’“
Opa Yongai hustete und wiederholte den letzten Satz.
„Gepriesen sei meine Fruchtbarkeit! – Selbst als mein
wachsender Haarschopf mich daran hinderte, weiterhin die
Matte mit meinen Frauen zu teilen, hörte der Kindersegen
nicht auf. Mein Same wirkte noch viele, viele Jahre nachdem ich meine männlichen Rechte längst nicht mehr wahrnahm!
Seither sitze ich hier auf der Veranda und beobachte, wie
meine Enkel heranwachsen. Außerdem stelle ich mein magisches Haar den Regendommlern als Nistplatz zur Verfügung. Und wie gut ihnen das tut! Ich kann schon gar nicht
mehr zählen, wie viele Eier sie in der Zwischenzeit gelegt
haben. Es müssen Tausende sein! Ja, mein Junge. Tausende. So unglaublich fruchtbar bin ich!“
Er nahm einen tiefen Zug von seinem feinen, würzigen
Marihuana und lächelte verklärt, als das Regendommlerweibchen ihm auf die Nase schiss.
36
Birge Laudi
Das Buschmannohr
Theo hockte zwischen Umzugskisten in der fast leer geräumten Wohnung seines Großvaters und sortierte Bücher.
Wählte, welche er mitnehmen wollte. Legte beiseite, die
nicht in sein Interessengebiet fielen.
Theos Großvater war vor ein paar Tagen gestorben. In
hohem Alter. Er war Arzt gewesen. Die Großmutter wurde
seit Jahren in einem Heim betreut. Sie litt an der Alzheimer-Krankheit.
Theo hatte seine Großeltern sehr geliebt, doch es hatte
Themen gegeben, die er zeit ihres Lebens kaum zu berühren wagte. Sprach er vom Dritten Reich, von Mitschuld
und vom ‘Das müsst ihr doch gewusst haben’, da zogen
sich die Großeltern zurück, zurück in die Gegenwart:
„Sind wir doch froh, dass diese Zeit vorbei ist“ und „was
bringt es, immer darüber zu reden“ und „am besten, wenn
man das alles vergisst“. Theo und seine Geschwister hatten
es bald aufgegeben dieses Thema anzuschneiden.
Buch um Buch nahm Theo von dem Stapel, den er neben
sich auf dem Boden aufgehäuft hatte. Plötzlich hielt er
inne. Ein Buch über die menschliche Erblehre und Rassenhygiene aus der Zeit des Dritten Reiches. Der Namenszug
seines Großvaters stand auf der ersten Seite. Daneben das
Jahr. 1944. Da hatte Großvater bereits als Arzt gearbeitet.
In einem Lazarett. Theo blätterte in dem Buch. Erstaunliche Sätze standen da. Fesselten ihn. Sätze, die das Gedankengut der Ärzte in Großvaters jungen Jahren gewesen
waren.
Das klassische Werk über Rassenkreuzung ist das von
Eugen Fischer über die Rehobother Bastards. Im Jahre
1908 hat er eine Mischlingsbevölkerung, Nachkommen
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von Burenmännern und Hottentottenfrauen, im damaligen
Deutsch-Südwestafrika untersucht, die lebende Bevölkerung anthropologisch aufgenommen und die Sippentafeln
zurück bis zu den Ausgangskreuzungen verfolgt, sodass
der Grad und die Art der Mischung in jedem Falle sichergestellt waren. Das Mosaikspiel der zwischen Europäern
und Hottentotten so stark verschiedenen Rassenanlagen
trat in dieser Mischlingsbevölkerung klar hervor.
Und ...
Fischers Werk wurde Grundlage und Programm einer
neuen Wissenschaft, der Rassenbiologie, aus welcher dann
unsere heutige Rassenpolitik herausgewachsen ist.
Und weiter ...
Der Führer des Deutschen Reiches ist der erste Staatsmann, der die Erkenntnisse der Erbbiologie und Rassenhygiene zu einem leitenden Prinzip in der Staatsführung gemacht hat.
Theos Interesse war geweckt. Es ging um das, was seine
Großeltern verdrängt, worüber sie nicht gesprochen hatten.
Um die Vermischung von Rassen. Minderwertige Rassen.
Um Rassenhygiene. All das musste Theos Großvater gewusst haben. Für Theo aber war vieles neu. Mendel, ja,
dessen Gesetze hatte er in der Schule gelernt. Nicht aber,
dass alles, was rein wissenschaftliche Vererbungslehre
war, zur Legitimation für das Verbrechen an dem jüdischen Volk herangezogen wurde.
Seite für Seite blätterte er sich durch das Buch. Las hier
einen Absatz, dort eine Erklärung. Überflog manches Kapitel.
Noch eine weitere Abhandlung über Vererbungslehre
fand Theo unter Großvaters Lehrbüchern. Gedruckt im
Jahr 1934. Darin stieß er im Zusammenhang mit der Erforschung der Rehobother Bastards und ihrer körperlichen
Auffälligkeiten auf eine ungewöhnliche Geschichte. Sie
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fesselte ihn ebenso wie offensichtlich damals ihren Entdecker.
Hochinteressant ist das deutliche Herausmendeln des
Buschmannohres, das in den Erbmassen der Hottentotten
aus früheren Mischungen mit Buschleuten latent vorhanden ist und nun durch die Bastardierung eine Demaskierung erfährt.
Nie in seinem Leben hatte der Biologiestudent etwas von
Rehobother Bastards und von einem Buschmannohr gehört. Wusste nichts über Eugen Fischer und seine Verbindung zur Rassenpolitik. Deutsch-Südwestafrika war nur eine geografische Bezeichnung ohne Sinn für ihn und Worte
wie Hottentotten und Bastard kannte er lediglich aus der
Kindheit und Schulzeit als üble Schimpfworte. Doch nun
tauchten diese Begriffe in einem Zusammenhang auf wo
es um Familien ging, um Ehen, die vor langer Zeit zwischen Europäern und Bewohnern Südafrikas geschlossen
worden waren. Das war neu für ihn und aufregend.
Für den Rest des Tages versank Theo in den großväterlichen Büchern, die ihm eine bislang unbekannte Geschichte
und ferne Welt erschlossen und nie geahnte Wünsche und
Sehnsüchte hervorbrachten. All das Grauen der Rassenpolitik eines Adolf Hitler, das bei dem dürftigen Quell der
Bastards aus Rehoboth und ihrem Buschmannohr begonnen und schließlich in den Gaskammern von Auschwitz
geendet hatte, all das wurde in diesem Moment übertönt
von den reizvollen Wörtern Rehoboth und Buschmannohr.
Fremdartig und lockend. Melodisch das Rehoboth, ein
Wort wie gesungen in einer uralten Sprache. Erlauscht von
einem Ohr, das diese Melodie einer vergangenen Zeit
einfängt. Die Melodie der Geschichte eines Volkes in einem fernen Land.
Der Zauber des Fremdartigen betörte Theo. Er regte seine Phantasie an, begann seine Gedanken zu besetzen,
sickerte in seine Studien und schlich sich in seine Träume.
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Das Phantom Buschmannohr drängte sich in die Unterhaltungen mit seinen Studienkollegen, die ihn befremdet ansahen, ihn auch verspotteten.
„Die Ohrmuschel ist nichts als eine Hautfalte über einem
Gerüst aus Knorpel“, belehrten sie ihn, „und an diesem
Gebilde, das ein wenig ausschaut wie ein halbes Herz,
hängt noch ein kleiner Lappen aus Haut und Fett und das
nennt man Ohrläppchen.“ Sagten es und ließen lachend
Theo mit seiner Begeisterung für das Buschmannohr stehen.
Verletzt von ihrem Spott vergrub sich Theo fortan in
Büchereien und Bibliotheken und las sich durch die Geschichte Südafrikas. Setzte sich mit der Vergangenheit der
Rehobother Baster, wie sie sich heute selbst noch nennen,
auseinander.
Er las und lebte mit ihnen ihr Schicksal, erlitt wie sie die
Vorurteile der Apartheid in einem Land, das weiß sein
wollte und schwarz war und wo die Demütigungen der
Schwarzen durch die Weißen erst mit Nelson Mandela ein
Ende finden sollten. Er wurde zu einem von ihnen. Zu einem Baster mit dem Buschmannohr. Zu einem Mischling,
einem Farbigen, dessen Vorfahren Mitte des 17. Jahrhunderts weiße Männer und Khoi-San-Frauen gewesen waren.
Diese Frauen eines Nama-Volkes nannte man Hottentotten. Beleidigend, diskriminierend. Sie aber waren es gewesen, die das Gen für die besondere Form des Ohres in sich
getragen hatten, das latent vorhanden ist und nun durch
die Bastardierung eine Demaskierung erfährt.
Bei Theo wurde dieses Ohr zu einem imaginären Organ,
das ihn eng mit dem Volk der Rehobother Baster und mit
den Buschmännern Südafrikas verband, auch wenn er
nicht wusste, worin sich ein Buschmannohr von anderen
Ohren unterschied.
Träumend schloss Theo die Augen und alles, was er
bisher über Südafrika und Deutsch-Südwest, das heutige
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Namibia, gelesen hatte, mischte sich in seiner Phantasie zu
einem Reigen bunter Bilder, die er zu einer vermeintlichen
Wirklichkeit zusammensetzte.
Theo hörte in seiner Vorstellung die Geräusche Afrikas,
spürte die glühende Sonne auf seinem Gesicht und begleitete den langen Marsch der Baster. Ging im Geiste mit ihnen, als sie sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
in Südafrika auf den Weg machten, der in Rehoboth nahe
Windhoek sein Ende fand. Mit müden Füßen zog er neben
den enttäuschten Menschen über staubige Straßen. Wanderte wie sie neben den Ochsenwagen her. Hörte das Knarren der Räder. Lauschte dem schweren Herzschlag der 90
Basterfamilien, die der Unterdrückung durch die Buren
Südafrikas entflohen, sich eine neue Heimat in DeutschSüdwest suchten.
Theo war in seinem Herzen einer von ihnen geworden,
ein Baster, aber er schlüpfte ebenso in die Welt eines
Buschmannes. Er lebte in den Welten beider.
Sein Buschmannohr vernahm Laute, die ihm bislang
verborgen gewesen waren. Er lauschte auf das Flüstern des
Windes im trockenen Gras der Kalahari, das ferne Rufen
des Perlhuhns. Er hörte den Hufschlag einer Herde weit
hinter den Bergen, das Schleichen der Katze, den Wimpernschlag der Gazelle. Dort in der ausgedörrten Ebene
ließ sich der Strauß vorsichtig auf sein Gelege nieder,
breitete raschelnd das Gefieder über die Eier. Auf dem
heißen Sand zog eine Schlange ihre Spur. Wie ein Seufzen
drang ihre Bewegung in Theos Ohr. Er ahnte das uralte
Geriesel des Sandes vom Kamm der Düne, wie sie windgetrieben ihre Gestalt wieder und wieder veränderte. Leise
sangen Wind und Sand ihre Wüstenmelodie.
All das vernahm das Ohr. Ein Ohr, das Buschmännern in
der rauen Wirklichkeit zu überleben half. Ein Ohr, dessen
Gene sie vor langer, langer Zeit an Frauen weitergegeben
hatten, die dereinst den ersten holländischen Seefahrern
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auf südafrikanischem Boden farbige Kinder gebären sollten. Diese Kinder traten ein Erbe an, das in den Erbmassen
der Hottentotten aus früheren Mischungen mit Buschleuten latent vorhanden ist und nun durch die Bastardierung eine Demaskierung erfährt.
Fest hielt Theo dieses uralte Ohr an das Herz Afrikas gepresst. Hörte die Stimmen, die von Afrika erzählten, die
Legenden und Sagen. Und während er lauschte, meinte er
die Kochfeuer vor den Rundhütten zu riechen, den faden
Geruch von Hirsebrei. Spürte den harten ausgedörrten Boden unter den nackten Füßen. Glaubte, alles so zu sehen
und zu hören wie es sich in seinem Inneren widerspiegelte.
Theo verlor sich mehr und mehr in seinen Vorstellungen
und Phantasien. Er wollte sehen, wollte hören. Die Sehnsucht zu riechen, zu schmecken, zu fühlen wie der Süden
des schwarzen Kontinents wirklich war, begann ihn zu
verzehren. Theo, den stillen, den unscheinbaren und scheuen Biologiestudenten.
Hätte Theos Großmutter nicht bereits den Kontakt zur
realen Welt verloren, so würde sie sicher bei einer gemütlichen Tasse Kaffe zu ihren Freundinnen gesagt haben:
„Der Theo, das ist so ein lieber Junge. Brav und fleißig ist
er und so wissbegierig. Und stellt euch vor, nicht einmal
Zeit für eine Freundin hat er. Aus Theo, da wird bestimmt
einmal was ganz Besonderes.“ Das würde sie gesagt haben. Ja, all die Lobreden hätte sie auf Theo gehalten und
ihm wäre es furchtbar peinlich gewesen, auch wenn vieles
von dem, was Großmutter gesagt hätte, tatsächlich auf ihn
zutraf.
Mit seinen sanften braunen Augen blickte er unter den
mädchenhaft geschwungenen Wimpern ruhig und gelassen
hervor, strich sich mit immer wiederkehrender Geste das
Haar aus der Stirn und ging seiner Wege. Ein Einzelgänger. Kein Frauenheld. Dazu fehlte ihm die imposante Statur, das Draufgängerische. Zu klein, um die Blicke der
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Mädchen auf sich zu ziehen, das schmale, lange Gesicht zu
reizlos. Ein Bücherwurm. Hielt nichts von ausufernden
Studentenfeiern.
„Er ist langweilig“, war die einhellige Meinung der
Kommilitoninnen gewesen.
Doch seit Theo seiner Begeisterung über all das, was er
nun gelesen hatte, freien Lauf ließ, lauschten auch die
Mädchen seinen Erzählungen. Begannen sich zu interessieren für die Geschichte von Eugen Fischer, der Rassenhygiene des Hitler-Regimes, der Reinerhaltung der nordischen Rasse und der Verfolgung derer, die sie zu bedrohen
schienen. Die Untersuchungen Eugen Fischers bei den Rehobother Bastern und die Folgen davon, das alles war so
außergewöhnlich und jenseits dessen, worüber sie sich
sonst unterhielten. Und es war auch umwerfend komisch
wenn Theo vom Buschmannohr schwärmte. Hingerissen
lauschten sie dem Sonderling, der all das todernst nahm.
Immer wieder las Theo in Großvaters Büchern, prägte
sich die Sätze ein, die ihn in so kurzer Zeit in eine andere
Welt entführt hatten.
Als das Semester zu Ende ging, stand Theos Entschluss
fest. Er wollte nach Namibia fliegen. Wollte die Rehobother Baster sehen, wollte ihnen aufs Ohr schauen. Ein
nicht alltäglicher Grund, um für viel Geld eine Reise zu
einem fernen Kontinent anzutreten.
Der Großvater hatte seinem Enkel einen kleinen Geldbetrag hinterlassen. Obwohl der für das Studium gedacht
war, buchte Theo davon einen Flug nach Windhoek. Ohne
jemandem davon zu erzählen, tat er es. Strich sich das
Haar aus der Stirn und lebte still seine Afrika-Sehnsucht.
Es war eine große Überraschung für seine Kommilitonen, als Theo plötzlich zu einer kleinen Party auf einem
Grillplatz in romantischer Umgebung einlud, ohne den
Grund dafür zu nennen. Für ihn selbst aber sollte es eine
Abschiedsparty sein, Abschied vom Semester und Ab43
schied von den Studienkollegen. Eine Party zum Start in
ein unbekanntes Land.
All jene, die ihn in der letzten Zeit als Exzentriker kennen und schätzen gelernt hatten, folgten begeistert seiner
Einladung. Brachten nicht nur eine Flasche Wein, eine
Schüssel Salat oder ein Stangenweißbrot mit, sondern auch
einen Schwarm netter Mädchen. Es war eine fröhliche
Menge, die begierig auf neue kuriose Ideen des Gastgebers
wartete.
Theo genoss den Abend in lockerer Aufgeschlossenheit
und trank ganz gegen seine Gewohnheit zusammen mit
seinen Freunden ein paar Gläser Wein. Die fröhliche Entspanntheit half ihm seine Schüchternheit zu überwinden
und er warb geradezu draufgängerisch um die Gunst einer
braun gebrannten Schwarzhaarigen. Er hatte sie noch nie
gesehen. Ihre wüste Lockenpracht, die das zarte Gesicht
umspielte, wäre sicher sogar ihm aufgefallen, hätte sie am
gleichen Ort studiert wie er.
Sie hieß Elisabeth.
Es kam so wie es die Natur erfunden hat. Die beiden fanden Gefallen aneinander, rückten Körperkontakt suchend
Stück um Stück näher zueinander und ließen sich schließlich in einer innigen Umarmung in die Löwenzahnwiese
sinken. Während die Würstchen und Fleischstücke langsam auf dem Grill verkohlten und den Geruch eines KuduSteaks auf offenem Feuer in der Steppe verbreiteten, grub
Theo seine Hände in Elisabeths Haar. Er meinte, das weiche Fell eines jungen Wüstentieres im dürftigen Schatten
des Dornbusches zu fühlen und er presste sein Gesicht in
die schwarze Mähne. Roch den Westwind, der Feuchtigkeit vom Meer bringt. Atmete den Duft von dürrem Gras
und sonnenheißen Steinen. Sog den Hauch Afrikas ein.
Theo schloss hingerissen die Augen, wanderte mit dem
Mund den schlanken Hals hinauf, suchte begierig unter
dem üppigen Haarschopf nach Elisabeths Ohr und begann
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es mit der Zunge zu erforschen. Das Mädchen kicherte.
Theos Tun kitzelte und löste gleichzeitig große Wonne in
ihrem Bauch aus. Und Theos Zunge fuhr die wundervolle
Biegung der Ohrmuschel entlang, erkundete die knorpeligen dunklen Täler, Senken und Untiefen und biss lustvoll
und zärtlich in das Ohr des Mädchens.
Mit einem Ruck erwachte Theo aus seiner genussvollen
Erforschung des entzückenden Ohres. Irgendetwas stieg
aus den fernen Tiefen seines Lebens vor diesem Abend
auf. Irgendeine Erkenntnis, die er so rasch nicht zuordnen
konnte. War es die Form des Ohres? Wie ein Halbkreis
fühlte es sich an. Weder nach oben noch nach unten ausladend. Und plötzlich wusste er es: Das von ihm so heiß
begehrte Mädchenohr hatte nicht das, was seine Freunde
einst spöttisch als einen lappigen Anhang aus Haut und
Fett bezeichnet hatten. Theos Zunge und Lippen hatten ein
Ohrläppchen vermisst, einen weiteren Ort für liebevolle
Aktivitäten.
„Was ist los?“, fragte verwundert Elisabeth, schmiegte
sich in seine Arme. „Warum machst du nicht weiter?“
In der Dunkelheit des späten Abends versuchte Theo ihr
in die schwarzbraunen Augen zu sehen.
„Wer bist du?“, fragte er sie, ein wenig brüsker in seiner
Überraschung als er gewollt hatte.
„Ich bin Elisabeth, du Dummkopf. Das weißt du doch;
und ich studiere Biologie, genau wie du. Hast du was dagegen?“, konterte das Mädchen aufsässig.
„Nein, nein“, wehrte Theo ab, „nur weißt du, dein Ohr
und … ach, ich weiß nicht. Ist ja auch egal.“
Theo strich sich verwirrt das Haar aus der Stirn, dann
schlang er seine Arme erneut um die hübsche Studentin
und setzte genussvoll seine Eroberung des weiblichen Körpers fort.
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Doch jetzt löste das Mädchen sich aus der Umarmung.
Sie schob Theo weg und forschte nun ihrerseits in seinem
Gesicht.
„Sag, was war das eben? Was war mit meinem Ohr?“
Theo fuhr sich durch die Haare, wie immer wenn er eine
Sache durchdenken musste. Er überlegte, ob er es ihr erzählen sollte. Schließlich berichtete er ihr doch von dem
Buschmannohr und seinen Phantasien, seit er in dem alten
Buch seines Großvaters den Satz gelesen, der sein Leben
verändert hatte. Der Satz, den er bereits auswendig konnte:
Hochinteressant ist das deutliche Herausmendeln des
Buschmannohres, das in den Erbmassen der Hottentotten
aus früheren Mischungen mit Buschleuten latent vorhanden ist und nun durch die Bastardierung eine Demaskierung erfährt.
„Das sind keine Phantasien, Theo. Ich komme aus Namibia, aus einem Ort nahe Windhoek.“
„Und wie kommst du hierher?“
„Ganz einfach. Ich habe ein Stipendium bekommen für
einen Ferienkurs an der hiesigen Universität.“
„Du sagst, du kommst aus der Nähe von Windhoek. Aus
welchem Ort?“
Theo war plötzlich hellwach geworden. Namibia! Windhoek! Er vergaß die Küsse und das wundervolle Haar.
Wartete begierig auf Elisabeths Antwort.
„Nimm die Bibel zur Hand und schlag nach in der Genesis. Im 26. Kapitel, Vers 22, findest du den Namen meiner
Heimatstadt.“
So wie Elisabeth dieses Rätsel um ihren Heimatort abspulte, merkte man, dass es nicht das erste Mal war, dass
sie ihn auf diese Weise preisgab. Immer freute sie sich
darauf, dass dann verzweifelt nach einer Bibel gesucht
wurde.
Doch anders Theo. Voller Erregung rief er aus: „Sag
bloß, du kommst aus Rehoboth?!“
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Nun war es an ihr, erstaunt zu sein. „Woher weißt du das
denn?“
Theo erzählte ihr, wie er auf der Suche nach Informationen über Rehoboth auch auf den Ursprung des Namens
gestoßen war.
„Sind deine Eltern Rehobother Baster?“, fragte er voller
Spannung.
„Ja und nein“, antwortete Elisabeth ein wenig abwehrend. „Das ist eine lange Geschichte, Theo. Lass uns ein
andermal darüber reden. Wir sehen uns doch morgen
wieder, ja?“
Theo konnte es nicht fassen. Er hatte alles auf einmal
gefunden, was er gesucht hatte. Hielt ein doppeltes Glück
in den Händen. Ein berauschend schönes Mädchen mit einem Ohr, das anders geformt war als seines und dieses
Mädchen kam aus Rehoboth. Der Beginn eines großen
Glückes. Oder war es bereits sein Ende?
„Wir sehen uns doch morgen wieder, ja?“, hatte sie gesagt.
Am nächsten Morgen aber ging Theos Flugzeug nach
Windhoek.
Quellenhinweise. Die kursiv gesetzten Zitate entstammen den
folgenden Werken:
O. Freiherr von Verschuer (1944, 2. Auflage). Leitfaden der
Rassenhygiene. Leipzig: Georg Thieme Verlag, Seite 101 und
Seite 11.
O. Naegeli (1934, 2. Auflage). Allgemeine Konstitutionslehre.
Berlin: Verlag Julius Springer, Seite 81.
47
Hassan Aftabruyan
Als uns Kalal vom Staub erzählte
Hier ist überall Staub. Es ist wirklich Staub, kein Sand,
sondern feiner Staub, der sich festsetzt. Wie in Westernfilmen, in verlassenen Städten. Aber ich bin hier in keiner
Stadt. Manu bin ich und im Nirgendwo gelandet.
Das Lager sah gar nicht schlimm aus. Einfache Hütten
und kleine Waschstellen waren nebeneinander. Aber das
Lager fühlte sich schlimm an. Als wir nahe genug waren,
konnten wir die traurigen Augen der anderen spüren.
Augen sieht man eigentlich, wie zum Beispiel die Augen
meiner Großmutter. Sie schaute mich immer an, wenn es
draußen kalt war oder wenn ich Angst hatte.
Ich konnte die Augen meiner Großmutter nicht mehr
sehen, als sie starb. Sie wurde von einem Soldaten von
hinten in den Kopf geschossen. Einfach so. Weil sie ihm
seine Schuhe nicht putzen wollte. Mich hielt ein anderer
Soldat an den Haaren fest. Ich konnte ihn nicht sehen. Er
war nur eine Hand und eine Stimme. Ich sah die Augen
meiner Großmutter, als sie lebte, wie sie weinte, als der
Soldat seine Pistole an ihren Kopf hielt. Dann bekam ich
einen harten Schlag auf meinen Hinterkopf.
Als ich aufwachte, sah ich um mich herum Arme, Beine
und Köpfe liegen. An dem Blut klebten Fliegen, und ich
habe angefangen ganz laut zu schreien.
Niemand hörte mich. Warum haben sie das getan?
Warum haben sie mich leben lassen? Ich weiß nicht. Wir
haben in einem kleinen Dorf gewohnt. Ich weiß nicht, wo
dieses Dorf ist. Ich kann nicht mehr zurückfinden. Aber
ich kann weite Strecken laufen, rennen und gehen. Deswegen bin ich auch weggerannt, bis ich nicht mehr konnte.
Und danach noch weiter. Irgendwann waren da andere
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Kinder und ich hörte auf zu schreien. Wir alle hatten nur
wenig zu essen. Wir hatten Hunger. Wir haben uns zusammengetan und gestohlen.
Wir wurden nach einigen Tagen von einem Mann aus
Europa gefragt, ob wir nicht mit ihm kommen wollten. Er
würde uns nach Europa bringen, wo viele kinderlose Familien uns gerne aufnehmen würden. Ich hatte noch nie von
kinderlosen Familien gehört. Der einzige in meinem Dorf,
der keine Kinder hatte, war der verkrüppelte Onkel meines
Vaters.
Und natürlich gingen wir mit dem Herren in der weißen
Weste mit. Er brachte uns zu großen Lastern. Wir stiegen
auf und fuhren aus dem einen Niemandsland in das andere.
Auf der Fahrt hatten wir gute Laune, weil es genug zu
Essen gab und niemand sein Gewehr auf uns richtete.
Dann kam das Lager. Jeder musste seine Finger auf ein
blaues Kissen drücken und danach auf ein weißes Papier,
wo unsere Namen standen. Keiner von uns konnte lesen.
Ich träume nachts immer von meiner Großmutter. Sie
wollte mir das Lesen beibringen. Großmutter hatte gute
Augen, obwohl sie schon alt war. Aber ihre Augen sind
alleine gestorben. Unser Priester hat einmal gesagt, im
Moment des Todes sehnt sich die Seele nach einem Menschen, um die Last abgeben zu können. Damit die Seele zu
ihren Ahnen aufsteigen kann. Ich weiß nicht, ob Großmutters Seele ihre Last abgeben konnte oder in einem Zwischenreich noch warten muss.
In meinen Träumen stehe ich vor einem großen Baum
mit vielen weißen Früchten. Ich mache daraus eine Suppe.
Wenn ich die Suppe essen will, sehe ich, dass darin die
Augen meiner Großmutter schwimmen. Dann wache ich
hungrig auf.
In der Dunkelheit rückten wir im Lager enger zusammen
und unsere Körper berührten sich. In die besonders kleinen
Ecken legte sich meistens Lasier. Er hatte eine mandel49
braune Haut und erzählte immer, dass er einen Onkel in
Amerika hätte, der uns retten wird. Dann lachte er mit
großen weißen Zähnen. Ich vergaß die Augen meiner
Großmutter und wurde müde von der Wärme der vielen
Körper um mich herum. Meine Wunden heilten.
Plötzlich schien grelles Licht in unsere Hütte und überall
waren Stimmen. Ich schrie laut. Das Blut war wieder da
und auch die Augen von Großmutter.
Wir stiegen auf einen Laster und drängten uns aneinander. Der Sand sammelte sich in unseren Haaren. Wir hielten an. Lasier war sehr schwach und kam nur langsam vom
Laster herunter. Der Laster setzte zurück und fuhr gegen
ihn. Während sein kleiner schwacher Körper zerdrückt
wurde, sah er mich an. Alles Gute und alles Schlechte gab
er mir, und ich nahm es.
Seitdem träume ich von zwei Bäumen, von denen ich
meine Suppe mache. Ein Baum mit Augen von Großmutter und ein Baum mit Augen von Lasier. Bald werde
ich nichts mehr essen.
Ich weiß meistens nicht, was um mich geschieht. Wir
müssen immer warten. Manchmal habe ich einige Gegenstände bei mir. Bei den vielen Reisen verliere ich sie
immer wieder. Was bleibt mir außer Staub? Die Zeit mit
Kalal!
Kalal war eines Tages da und verschwand dann wieder.
Aber er hat uns seine Geschichte dagelassen. Wir alle sind
alt genug um zu wissen, dass es keine Märchen gibt. Aber
Kalal erzählte uns keine Märchen. Er war etwas älter als
wir anderen und hatte starke Muskeln. Seine Brustwarzen
waren durchbohrt und er hatte den Zahn eines Löwen in
seinem linken Ohr, also am Herzen. Er hatte das Herz
eines Löwen.
Kalal erzählte uns von dem großen Löwen, den er ganz
alleine verjagte. Der Löwe stand plötzlich vor ihm. Kalal
schlotterte vor Angst. Aber dann nahm er seinen ganzen
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Mut zusammen und warf eine Hand voll Sand auf den Löwen. Der Löwe erschrak vor dem glitzernden Sand in der
Sommerhitze und Kalal hatte ihn besiegt.
Während Kalal vom Löwen erzählte, sahen wir, dass aus
einer Hütte Rauch aufstieg. Wir rannten hin und sahen,
wie der Lageraufseher mit einem brennenden Hut auf dem
Kopf aus dem Haus gerannt kam. Kalal schaufelte seine
Hände voll Sand und Staub und warf alles über den dicken
und schwitzenden Aufseher. Der Hut hörte auf zu brennen
und vor uns stand ein staubiger, sandfarbener Aufseher.
Wir hatten Angst, er würde vielleicht wütend werden.
Aber er fing an zu lächeln, musste dann arg niesen und rief
schließlich: „Danke. Jetzt muss ich wohl duschen.“ Wir
hielten uns die Bäuche vor Lachen. Der Staub rettete den
Aufseher. Und er rettete Kalal vor dem Löwen.
Kalal ist schon lange nicht mehr bei uns, aber immer
noch genug Staub. Wenn mich in meinen Träumen die
Augen von Großmutter und Lasier aus der Suppe ansehen,
dann erzähle ich den beiden von Kalal, wie er den Aufseher mit Sand und Staub beworfen hat und wir lachen bis
zum Morgen.
Manchmal lache ich im Traum so laut, dass ich die
anderen aufwecke. Dann lachen wir zusammen weiter. Wir
sagen bei uns, dass Lachen reich macht. Eine lustige
Sache, mit dem Staub, hier im Warten auf das Irgendwo.
Ich möchte so gerne allen Menschen von meinem endlosen
Reichtum an Staubkörnern erzählen.
Das werde ich meiner kinderlosen Familie in Europa
sagen, wenn ich ein Staubkorn auf ihrem sauberen Boden
finde. Sie haben ein Haus und ein Auto, aber seit Kalal bei
uns war bin ich durch den ganzen Staub der glücklichste
und mutigste Mensch auf der ganzen Welt.
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Regina Besting
Der Mann auf dem Dach
Der Falke sitzt auf dem Dach. Schweigend, observierend.
Sie nennen ihn den Falken weil er bevorzugt von hohen
Positionen aus arbeitet. Er ist gut. Nicht der Beste, aber
ausreichend für diesen Job. Der Beste wäre vermutlich sowieso ungeeignet gewesen, dieses Mal. Und wozu unnötig
Geld ausgeben?
Er wartet, den Rücken gegen die überstehende Hausmauer gelehnt, die Beine leicht angewinkelt, die Füße beide
fest auf dem Boden. Er betrachtet die kleinen weißen Kieselsteine, die auf der Teerdecke verstreut wurden. Seine
Schuhe haben leichte Spuren hinterlassen. Es sind die
einzigen hier oben. Vor ihm hat vermutlich noch nie jemand das Dach betreten, von den Bauarbeitern vor zwanzig Jahren einmal abgesehen. Doch lange wird das nicht so
bleiben. Er versucht sich vorzustellen, wie viele Füße den
Kies hier oben bis zum Ende des Tages zertreten werden.
Er kann es nicht, es lenkt ihn zu sehr vom Wesentlichen
ab. Er wartet. Man hatte ihm gesagt, er würde um Punkt 15
Uhr nachmittags vorfahren. Und dann will der Falke bereit
sein. Noch zwanzig Minuten.
Langsam greift er in seine Jackentasche und zieht ein
Päckchen Zigaretten heraus. Ein Bier wäre ihm jetzt lieber,
ein frisches, kaltes Castle gegen die unerbittliche Hitze.
Doch er weiß, dass selbst ein kleines Bier seine Konzentration einschränkt. Und heute darf er keinen Fehler
machen. Daniel würde es ihm nie verzeihen und die Sache
wäre verloren. So ganz verstanden hatte er seinen Auftrag
nicht. Aber Daniel hatte auch nach mehrmaligem Fragen
nur gemeint, dass Verstehen nicht wichtig sei. Nur die
korrekte Ausführung zählt. Und deshalb wird er es auch
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tun. Er wird es nicht verstehen, doch er vertraut Daniel.
Der weiß schon was er tut. Immerhin spielt er eine große
Rolle in der Organisation.
Er öffnet die Schachtel. Nur noch eine einzige Zigarette.
Er hätte sich besser einteilen sollen. Er zieht sie heraus,
zündet sie an und nimmt genießerisch den ersten Zug. Der
erste Zug ist immer der beste, findet er. Doch dieses Mal
schmeckt er ein wenig bitter. Er dreht sich um, bleibt in
der Hocke, ein Knie auf dem Boden. Er darf nicht gesehen
werden. Er schaut auf den großen Braak-Platz hinunter.
Eigentlich mehr eine Rasenfläche. An der Südseite die
kleine Kirche, die durch unzählige Ansichtskarten berühmt
geworden ist. Direkt dahinter die Kleinbusse der Schwarzen. Taxis nennen die sie, doch eine offizielle Genehmigung haben die wenigsten der Fahrer. Und die Regierung
sieht natürlich tatenlos zu! An der Ost- und der Nordseite
des Platzes stehen dichte Büsche und Bäume, dahinter
kleinere Mehrfamilienhäuser. Alles unbrauchbare Positionen. Deshalb ist er hier oben; auf dem einzigen höheren
Haus der Umgebung. Und von hier aus beobachtet er die
Touristen, die diese schöne Stadt schon seit Jahren überfallen, täglich, unabhängig von Jahreszeit und Wetter.
Europäer meistens, manchmal Amerikaner und Australier.
Sie streifen umher und beschauen die Altstadt als wäre sie
ein Artefakt längst vergangener Zeiten. Was macht diesen
Menschen das neue Stellenbosch nur so interessant? Vor
einigen Jahren noch war die Stadt wirklich schön. Er hatte
sie geliebt und er war stolz gewesen, in der zweitältesten
Stadt Südafrikas aufzuwachsen. Doch heute findet er
nichts mehr an ihr. Seit sie ihre Pforten öffnen musste, für
alles und jeden, sind jeden Tag mehr Slumbewohner gekommen, die sich anmaßen, sie zu besetzen. Ein ruhiges,
weißes Leben ist seitdem nicht mehr möglich. Deshalb
sind er und sein älterer Bruder an den Oranje-Fluss gezogen, in die neue Siedlung, wo noch wahre Weiße leben,
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nach den Regeln der Moral, denen sie so lange gefolgt
waren und die sie beide sich sehnlichst zurückwünschen.
Doch der Weg dorthin ist steinig, hatte Daniel gesagt. Und
er vertraut Daniel.
Jetzt, um exakt 14:55 Uhr fährt der erste große Bus vor.
Die Schulbusse kommen. Er kennt sie. Schon seit 1987,
also Jahre vor dem Umbruch, erreichen sie mehr oder weniger pünktlich gegen 15 Uhr den Platz. Sie kommen von
der „Stellenzicht Secondary School“, einer Mittelschule
Stellenboschs im Stadtteil Jamestown. Sie wird vornehmlich von schwarzen Kindern besucht. Die Busse hielten
schon immer auf der Straße zwischen seinem Standort und
dem Platz. Die Kinder in den Bussen verteilen sich dann
auf die kleineren Taxis und werden nach Hause befördert,
wenn man diese verdreckten und verseuchten Townships
vor der Stadt überhaupt ein Zuhause nennen kann. Nahezu
zeitgleich mit dem Halten des Busses steigen sie aus.
Kleine und größere, farbige und schwarze Kinder. Wer zu
welcher Rasse genau gehört, könnte er nicht sagen. In der
heutigen Zeit, wo die Mischung der Rassen nicht mehr
überwacht wird, ist es unmöglich zu beurteilen, welches
Kind reinblütiges Stammeskind und welches ein Mischling
ist. Aber die Ordnung wird wiederhergestellt werden, eines
Tages. Dafür hat er geschworen zu kämpfen, deshalb ist er
hier.
Vorsichtig fasst er neben sich. Sicher und fest greift
seine Hand nach dem Gewehr. Er legt es auf der Mauer
auf, gestützt von seiner linken Hand und blickt durch das
Zielfernrohr. Er sieht sich die Mädchen und Jungen genau
an, jeden einzelnen. Es wäre so einfach für ihn … Schon
sieht er die weiß/grau/türkise Schuluniform des Mädchens,
das er gerade anvisiert, sich rot verfärben. Schnell setzt er
das Gewehr wieder ab. Nein. Keine Fehler. Er wird seine
Chance bekommen. Doch nicht heute. Nicht jetzt.
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Es kann jetzt jeden Augenblick so weit sein. Und tatsächlich, an der Südseite, zwischen der kleinen Kirche und
der Touristeninformation fährt in diesem Augenblick ein
unscheinbarer schwarzer BMW vor. Er hält genau in seinem Blickfeld. Ein bisschen weiter vor, und Bäume hätten
die Sicht versperrt. Ein bisschen weiter zur Kirche hin, und
eben diese hätte ihm jede Chance auf einen sauberen
Schuss genommen. Vorsichtig hebt er sein Gewehr wieder
ans Auge und beobachtet die Situation vergrößert. Die
Informationen scheinen zu stimmen. Keine Polizeieskorte.
Und auch an Leibwächtern scheint gespart worden zu sein.
Der Plan besteht darin, das Opfer auf dem Weg zwischen
dem Auto und der Kirche zu erwischen. Er beobachtet den
Fahrer um den Wagen herumlaufen und die hintere Tür
öffnen.
Und dann steigt er aus. Der Falke erkennt den Mann
sofort. Weiße Haut, weiße Haare, schwarzer Anzug, weiße
Schuhe. Die Schuhe. Sein Erkennungszeichen. Nicht dass
er heute noch eins benötigen würde. Jeder echte Südafrikaaner kennt Senator van Kuck. Der Falke zögert. Wieso
ist er hier, wieso ausgerechnet Senator van Kuck? Das
macht keinen Sinn. Er versteht es nicht. Der Senator
schaut sich um. Es ist, als hielte er seinen Kopf absichtlich
in die Schusslinie, als zögere er absichtlich. Doch wie ist
das möglich? Jetzt schaut er genau zum Falken hoch. Der
zögert noch immer. Doch dann erinnert er sich an das, was
sein Bruder Daniel gesagt hat: Verstehen ist unwichtig –
ausführen! Also zielt er und schießt. Gleichzeitig mit dem
lauten Knall fällt der Senator auf den Bürgersteig. Kopfschuss. Saubere Arbeit. Tot, bevor er aufschlug.
Er hört die Kinder kreischen und weiß, dass sie nun
unten auf dem Platz kreuz und quer laufen, nach Schutz
suchen. Zu gerne würde er sich die Szene anschauen. Doch
dafür hat er keine Zeit. Die Polizei wird schnell da sein,
die Station ist nicht weit. Sie werden alles absuchen und
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schnell auf dieses Gebäude stoßen. Der einzige mögliche
Standort für einen Scharfschützen. Sie werden hochkommen und er säße in der Falle.
Er packt er alles zusammen, so schnell er nur kann und
rennt los. Eine Stufe nach der nächsten. Ein Treppenabsatz
mehr und noch einer. Das Erdgeschoss ist erreicht. Der
Wagen steht direkt vor dem Haus. Er steigt ein, braust los.
Niemand kann ihn mehr aufhalten. Er hat es geschafft.
Doch anders als sonst verspürt er keinerlei Befriedigung
über seine Arbeit. Er ist nicht stolz, er ist nicht glücklich.
Er hat gerade einen der rar gewordenen Verfechter der
alten Ordnung getötet, einen wahren Anhänger der Sache.
Und so sehr er auch nachdenkt, er versteht den Sinn einfach nicht. Er wird Daniel noch einmal fragen müssen,
denn so, wie er sich in diesem Moment fühlt, kann er nicht
weiterleben. Doch er muss sich noch gedulden.
Erst morgen früh um acht Uhr dürfen sie sich wieder
treffen. Keine Aufmerksamkeit auf sich lenken. Er fährt
ohne Unterbrechung durch bis in die Innenstadt des etwa
50 Kilometer entfernten Kapstadt. Dort lässt er den Wagen
einfach stehen, das Gewehr, gesäubert von jeder Art von
Spuren, im Kofferraum. Den Schlüssel lässt er in der
Fahrertür stecken, wie zufällig, als hätte ein unvorsichtiger
Mensch vergessen ihn abzuziehen. So hatte es ihm Daniel
befohlen, auch wenn er sich nicht vorstellen kann, warum
er dieses schöne Auto stehlen lassen soll. Wird bestimmt
keine fünf Minuten dauern.
Zu Fuß geht er weiter in das verabredete Versteck, den
Keller eines Hochhauses. Kein Radio, kein Fernseher, nur
ein paar alte Zeitungen werden ihm die Zeit bis morgen
vertreiben. Er setzt sich auf den Boden, auf eine alte Matte
und wartet.
Die Stunden vergehen langsam. Seine Uhr zeigt 21:56
an. Vor sieben Stunden hat er den Schuss abgegeben. Und
es sind noch zehn Stunden bis er sich wieder auf den Weg
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machen muss. Schlafen wird er nicht, diese Nacht; das
kann er nie nach erledigter Arbeit. Doch dieses Mal ist es
nicht das Adrenalin, das ihn wach hält. Es ist das schlechte
Gewissen. Mit jeder Minute wird es größer. Er hat Senator
van Kuck umgebracht. Einen von drei Männern, die ihr
Amt öffentlich dafür einsetzen, die alte Ordnung des getrennten Lebens der Rassen wiederherzustellen, nachdem
die Regierung unter de Klerk so entsetzlich versagt hatte.
Zwei schwarze Männer waren seitdem Leiter des Staates
geworden und einer von ihnen war sogar ein Schwerverbrecher und genießt heute größeres Ansehen als jeder
Rockstar. Wenn es so weiterläuft wird sich der prächtige
Staat Südafrika zu einem von Buschmännern bewohnten
und von Häuptlingen regierten Urwald zurückentwickeln.
So hatte Daniel es ausgedrückt. Und er stimmt voll damit
überein. Daniel. Was der wohl gerade macht? Sitzt bestimmt zu Hause bei seiner Frau und verabschiedet sich
von der Oranje, weil er doch in ein paar Stunden aufbrechen muss.
Daniel de Seek betritt in dieser Sekunde das Hochhaus
über einen versteckten Seiteneingang. Mit leisen Schritten
steigt er die Kellertreppe hinab und öffnet lautlos die Tür.
„Hallo, Bruder.“
Erschreckt zuckt der Falke zusammen und dreht sich zur
Tür um. „Daniel! Was machst du hier, sagtest du nicht ...“
Doch sein Bruder lässt ihn nicht ausreden. „Ich weiß, ich
sagte morgen früh, acht Uhr. Doch das galt nur für den
Fall, dass alles wie geplant läuft.“
Der Falke zuckt zusammen. „Tut es das denn nicht?“
Daniel lächelt. „Ganz und gar nicht. Es läuft noch viel
besser!“ Er zieht ein kleines Taschenradio aus seinem
Rucksack hervor. „Sie haben es geschluckt, der Plan wurde bei weitem übertroffen. Hör dir das an!“
Die Nachrichten laufen bereits. Die dunkle Stimme der
Sprecherin erfüllt den Kellerraum.
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„... heute in der Altstadt von Stellenbosch zu einer Katastrophe. Vier Menschen wurden getötet und mindestens
dreißig zum Teil schwer verletzt, als polizeiliche Untersuchungen zu schlimmsten Ausschreitungen führten. Grund
der Ermittlungen war das Attentat auf Senator Wilhelm
van Kuck, der am Nachmittag gegen 15 Uhr am BraakPlatz tödlich von einer Gewehrkugel am Kopf getroffen
wurde. Van Kuck machte vor allem in den frühen neunziger Jahren auf sich aufmerksam, als er aktiv gegen den
Abbau der von der Malan-Regierung eingeführten Apartheid eintrat. Seine umstrittenen Veröffentlichungen, den
Vorteil einer weißen Oberherrschaft zum Thema, erfreuen
sich bis in die heutige Zeit größter Beliebtheit bei regierungsfeindlichen Gruppierungen. In den letzten Jahren
nahm sich Senator van Kuck mit seinen Äußerungen
zurück, doch seine Einstellung hat sich nie geändert, wie
sich an seinem Abstimmungsverhalten nachweisen lässt.
Weiteres zu diesem Thema und zu Senator van Kucks
kürzlich erfolgtem Aufenthalt in der onkologischen Abteilung des Kapstädter Groote Schuur Hospitals anschließend
in unserer Sondersendung 'Senatoren im Kreuzfeuer'.
Wer für den Anschlag aus dem Hinterhalt verantwortlich
ist, gab die Polizei noch nicht bekannt, doch es ist zu
vermuten, dass eine Gruppe radikaler schwarzer Aktivisten
den Besuch van Kucks bei der Trauerfeier eines Freundes
ausnutzte. Der Senator reiste ohne besonderen Schutz, da
er, laut einem Parteifreund, nicht auf sich aufmerksam
machen wollte. Die Trauerfeier habe Vorrang vor jeder Art
des Presserummels gehabt, mit dem Senatoren hierzulande
konfrontiert werden. Unbestätigten Meldungen zufolge
wurden heute in Kapstadt zwei junge schwarze Männer
festgenommen, in deren vermutlich gestohlenem Wagen
ein Gewehr mit Zielfernrohr gefunden wurde. Diese Verhaftungen führten zu einem Aufschrei der schwarzen Bevölkerung des Landes wie man ihn seit Jahren nicht mehr
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gesehen hat. Beginnend in Stellenbosch zieht sich inzwischen eine Welle von gewalttätigen Demonstrationen bis
hin zu Straßenkämpfen zwischen Weißen und Schwarzen
durch alle größeren Städte.
Über die Zahl der Verletzten oder Toten kann zurzeit nur
spekuliert werden, es steht jedoch zu befürchten, dass es
nicht bei den Opfern von Stellenbosch bleibt. Präsident
Mbeki erwähnte inzwischen öffentlich die Möglichkeit der
Verhängung des Notstandes, was der Polizei größeren
Handlungsspielraum ermöglichen würde. In seiner Rede
um 20 Uhr rief er die Menschen zur Besonnenheit auf.
Weiter meinte er, er sei sehr enttäuscht über die Handlung
einiger weniger Menschen, die den Annäherungsprozess
zwischen schwarzen und weißen Bürgern dieses Landes
sehr weit zurückgeworfen hätten. Das gegenseitige Verständnis sei zutiefst erschüttert und er wisse nicht, ob das
so bald zu reparieren sei. Wir halten Sie natürlich weiter
zu diesem Thema auf dem Laufenden.
Johannisburg. Der Rugbyspieler Joost van der Westhuizen gab heute in einer Pressekonferenz bekannt ...“
Daniel schaltet das Radio aus.
„Ein echter Märtyrer, meinst du nicht? Ein voller Erfolg!
Verstehst du nun?“
Und er versteht.
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Christiane Stüber
Sinnverkehr(t)
Eine Wolkendecke – halb Nebel, halb Luftverschmutzung
– verhüllt den Berg. Wüsste man es nicht besser, könnte
man fast vergessen, dass er sich dort inmitten der Stadt
erhebt. Manchmal vergisst man es tatsächlich für ein paar
Tage, weil es hier unten im urbanen Tal so viel Zerstreuung gibt. Die Kapstädter sagen, dass der Berg ihr Ruhepol
ist, dass sie nur ihm ihre entspannte Art zu verdanken
hätten. Man spricht hier gern von Energien und geheimnisvollen Kräften. Das gehört genauso zum Alltag wie zertrümmerte Fensterscheiben und durchstochene Reifen.
Kapstadt ist meine neue alte Heimat. Nach einem Jahr in
Deutschland bin ich hierher zurückgekehrt. Dabei hatte ich
mit diesem Land und seinen Menschen bereits gründlich
abgeschlossen. Ich hatte mich in Berlin sehr wohl gefühlt
und die Stadt mit dem massiven Berg, dem Ozean drum
herum und meiner zerbrechlichen Liebe nicht einmal besonders vermissen wollen. Doch als ich eines Abends
allein am menschenleeren S-Bahnhof Bellevue stand, hat
sich etwas in mir herumgedreht. Das war nach einem Konzert gewesen. Ich war wunderbar melancholisch gestimmt.
Die Künstlerin hatte von unglücklichen Lieben und sehnsuchtsvoller Einsamkeit gesungen und ich hatte heftig applaudiert. Ich hatte dazu geraucht und ein Glas Rotwein getrunken. Es war schön, sich so genüsslich mit dem Leiden
zu identifizieren. Ich kam mir dabei außerordentlich erhaben vor. Ein ganz spezielles Gefühl. Wie ich mich allerdings hinterher über der Großstadterde weiterhin so herrlich erhaben und speziell fühlen wollte, kam mir plötzlich
ungebeten zu Bewusstsein, dass es furchtbar kalt war –
was mich Ende Februar freilich nicht weiter verwundern
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sollte – und dass ich gleich in eine leere Wohnung
zurückkehren müsste. Die nächste Bahn würde in fünf
Minuten kommen. In diesen fünf Minuten war es mir nicht
möglich, die Romantik des Alleinseins heraufzubeschwören. Ich fror im modischen, aber viel zu dünnen
Mantel, meine Nase lief, ohne dass ich ein Taschentuch
dabeigehabt hätte. Kurz bevor die Bahn endlich einfuhr,
blies der frostige Februarwind durch die Halle. Dieser eisige Wind, der mir damals in Herz und Knochen fuhr, flüsterte eindringlich, dass es hier kein Zuhause für mich gäbe.
Ein Haus braucht einen Ofen, jedenfalls im Winter, auch
wenn der manchmal rußt. Mein Haus war an einem anderen Ort. Und so blies mich der kalte Berliner Wind eines
Tages sanft zurück, hinab in die dampfende Stadt im Süden.
Da bin ich nun, in einer Stadt, in der es gerade Frühling
wird. Auf meinem Fensterbrett blüht eine Osterglocke. Es
ist September. Am Morgen laufe ich die zehn Minuten bis
zur Hauptstraße, der Main Road. Ich bin die einzige weiße
Frau, die sich um diese Zeit zu Fuß vorwärts bewegt,
hauptsächlich in Gesellschaft von dicken schwarzen Nannies, die im langsamen Wiegeschritt auf dem Weg zu ihren
weißen Arbeitgebern sind. Der Tankwart an der BP Tankstelle winkt mir freundlich mit seiner stählernen Handprothese zu. Ich weiß nicht, wo er die Hand verloren hat. Wir
haben noch nie miteinander gesprochen. Wenn man kein
Auto hat, kommt man selten mit einem Tankwart ins Gespräch. Man winkt nur. Landmine? Angola? Ich werde ihn
fragen, auch ohne Auto. Morgen vielleicht.
An der Brücke rennt ein Mann in verschlissenen Kleidern mit gehetztem Blick an mir vorbei. Er trägt einen dürren Hund auf dem Arm. Hund und Herrchen schauen mich
für den Bruchteil einer Sekunde verängstigt an. Ein paar
Schritte weiter liegt zerbrochenes Glas auf dem Gehweg
verstreut. Eine blond gelockte Dame und ein junges Mäd61
chen mit Handtasche suchen die Böschung ab. Der chromblitzende Jeep steht mitten in der Kurve, die Warnblinkanlage flackert nervös. „Wo ist er, wo ist er nur?“, fragt
das Mädchen. Ich überlege: Was haben die beiden Frauen,
das zerbrochene Glas auf dem Gehweg, das Auto und der
rennende Mann mit dem Hund miteinander zu tun? Wie
lange wird es dauern, bis jemand dem aufgeregten Mädchen die paillettenbestickte Handtasche entwendet? Ich
kann keinen Schaden am Fahrzeug entdecken, alle Scheiben sind intakt. Hat sie den Hund angefahren? Aber warum ist er dann mit ihm weggerannt? Und woher kommt
das zersplitterte Glas auf den Gehweg?
Ohne meine Überlegungen zu einem nennenswerten Ergebnis führen zu können, trotte ich weiter zum Fish &
Chips Stand am Busbahnhof. Die Abgase der gelben Uraltbusse, die man zuversichtlich immer noch „Goldene Pfeile“ nennt, vermischen sich in schönster Synergie mit zwei
stinkenden Fehlzündungen und den entrüsteten Rufen einer Marktfrau. Ich kaufe mir eine Tüte Calamari mit Pommes zum Frühstück und stelle mich schließlich wartend an
die Straße. Die Luft riecht nach verbleitem Benzin, Öl,
Fett und Knoblauch. Ein Kirchenchor singt und tanzt vorm
Eingang zum Shoprite, der südafrikanischen Antwort auf
Aldi. Daneben ist ein Schild aufgestellt, auf dem die Künste eines afrikanischen Wunderheilers und Astrologen angepriesen werden. Dem Namen des Spezialisten ist mutig ein
„Professor“ vorangestellt. Man weiß sich in einer modernen Stadt der südlichen Hemisphäre durchaus auch dem
europäischen oder europäisierten Zweifler glaubwürdig zu
machen. Es hätte mich in diesem Moment nicht verwundert, wenn plötzlich von irgendwoher ein Hare Krishna,
ein Quäker oder ein Zeuge Jehovas aufgetaucht wäre. Religion ist hier sehr dynamisch und wird feilgeboten wie
überreife Avocados: im Zehnerpack. Man sucht sich die
besten Stücke aus dem Sack und bäckt sie mittels erhöhter
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Herzenswärme zu seinem eigenen Hoffnungskuchen zusammen. Konsistenz bedeutet nichts. Hauptsache es funktioniert und man kann dazu tanzen.
Keine zwei Minuten später zerrt mich ein junger Mann
zu seinem Taxi. Er spricht Afrikaans, nicht das feine Afrikaans der Leute aus Kirstenbosch, sondern eben das der
Taxifahrer und Fischer vom Kap. Das ist breit und voller
lieb gemeinter Obszönitäten, die die feinen Vorortburen
nie freiwillig in den Mund nehmen würden. Ein zweiter
kommt hinzu, versucht mich abzuwerben, verspricht, dass
sein Taxi sofort weiterfahren wird und nennt mich vertraulich „Schwester“. Bei beiden Konkurrenten fehlt ein
Schneidezahn. Irgendwer hat mir erzählt, dass die so
genannten „Cape Coloureds“ annehmen, dass wir Frauen
solche Zahnlücken sexy fänden. Mag sein. Mein Geschmack ist es allerdings nicht und ich reagiere auf Flirtversuche aus einem unterbestückten Mund gewöhnlich mit
einem abwehrenden Grunzen.
Ich bleibe unentschlossen zwischen den beiden Kampfhähnen stehen und kaue an einem Tintenfischring bis
schließlich ein drittes Fahrzeug direkt neben uns anhält.
Aus den Fenstern dringt ein lauter Hip-Hop Beat auf die
Straße. „Na dann“, denke ich und krieche auf den letzten
freien Platz, der zu zwei Dritteln aus dem Schoß einer
großrähmigen Zulu-Frau besteht. Der Geldeinsammler des
Taxis ist so zufrieden mit seinem Fang, dass er die Tür
noch einmal aufreißt und seine beiden verdutzten Kollegen
mit einem Redeschwall erlesener Gemeinheiten belegt.
Das ganze Taxi freut sich mit ihm über seinen Erfolg.
Wenn man selbst nicht viel zu lachen hat, und das trifft
hier auf die meisten zu, dann nimmt man gern an der Freude seiner Mitmenschen teil. Das gefällt mir. Nachdem ich
es mir auf dem Schoß der Zulu-Frau einigermaßen bequem
gemacht habe – nicht ohne zuvor einen Teil ihrer ShopritePlastiktüten umzuarrangieren – fange ich an, die Insassen
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zu zählen. Das mache ich immer so. Es ist mir zur Gewohnheit geworden seitdem auf einer meiner Fahrten ein
Feuer im Kleinbus ausgebrochen war und ich aus dem
Fenster auf die Straße hatte klettern müssen. Ich komme
auf neunzehn. Das schließt den Fahrer und den schreienden Geldeinsammler mit ein. Während der halsbrecherischen Fahrt öffnet Letzterer wieder und wieder die Tür seines Fahrzeuges, lehnt sich hinaus und schreit: „Mowbray,
Kap Tu.“ „Kap Tu“ steht für Cape Town und bedeutet in
der Taxisprache so viel wie der zentrale Busbahnhof im
Zentrum der Stadt.
Mit mir hat es noch einen weiteren Weißen in den Kleinbus verschlagen. Er ist dürr und trägt eine Halskrause. Er
fragt, wie viel er zahlen müsste, wenn er noch unter siebzig sei. Der Geldeinsammler schmunzelt angesichts der
seltsamen Frage. Der Mann seiner Frau sei schon über
siebzig, seiner Ex-Frau natürlich. Er findet seinen Kommentar amüsant und bringt mit seinem Heiterkeitsausbruch
bald auch alle anderen zum Lachen. Doch dann wird er
still und beschäftigt sich angelegentlich mit seinem Münzbeutel. Auch er hat eine Zahnlücke, die man nun aber nicht
mehr sehen kann, weil das Lächeln auf seinen Lippen erstorben ist. Der mit der Halskrause erklärt ungefragt, dass
er eigentlich erst 58 sei und aus Mozambique stammt. Es
klingt fast so als wäre ihm das gerade wieder eingefallen.
In Mozambique sei die Lage schlimm. Trotzdem will er
jetzt von Kapstadt nach Durban und schließlich zurück
nach Maputo fahren. Und das alles im Taxi. Die restlichen
Passagiere schauen ihn mitleidig an und fragen sich, ob er
das überleben wird. Die meisten sind noch nie über
Kapstadt und seine Randbezirke hinausgekommen. Wozu
auch? Vielleicht, so denken sie, sollte man den weißen
Sonderling lieber am Falkenberg Krankenhaus abgeben.
Das ist die nächste Klapsmühle auf dem Weg zur Stadt.
64
Der Fahrer dreht die Musik bis zum Anschlag auf. Er ist
guter Laune und singt hingebungsvoll in den Verkehr hinein. In der nächsten Kurve purzeln wir alle durcheinander. Ein paar Orangen rollen über den Boden. Die Bässe
dröhnen durch unsere Glieder; die Stimmung ist
beschwingt. Selbst die verschleierte Greisin, die man beim
letzten Halt mühsam im Wagen verstaut hat, wiegt ihren
Kopf im Takt. Nun – etwas anderes wäre ihr vermutlich
auch nicht übrig geblieben, denn es ist so eng, dass wir
entweder alle stillsitzen oder alle wippen müssen. Zum
Zeitvertreib stelle ich mir dieses Szenario versetzt in die
Berliner U-Bahn vor, die U2, um genau zu sein, vielleicht
an einem Samstagabend, wenn alles dicht gedrängt steht
und Herr und Frau Gemahl ihr Abonnement für die Philharmonie wahrnehmen wollen. Er mit exakt gekämmtem
Verlegenheitsscheitel, sie mit Silberbrosche und artig geknüpftem Seidentuch. Und dann plötzlich: ein deftiger
Hip-Hop Sound aus dem Lautsprecher. Ob diese beiden
dann ihre scheue Verklemmung von sich werfen und sich
locker unters Volk mischen würden? Das wäre doch eine
willkommene Abwechslung im neongelben Einerlei. Ich
lächle vor mich hin. Ein kleines schwarzes Mädchen, das
mich schon seit ein paar Minuten mit großen Augen anschaut, lächelt zurück.
An der islamischen Fleischerei verlangt die Greisin wild
gestikulierend hinausgelassen zu werden. Schreien hätte
bei der Lautstärke auch nichts genützt, schon gar nicht,
wenn man wie sie einen dicken Schleier vor dem Mund
trägt. Kurz entschlossen schiebe ich mich hinter ihr aus
dem Taxi. Hier habe ich früher gewohnt. Lang ist’s her. Es
fühlt sich jedenfalls wie eine Ewigkeit an. Auf einem
Plakat lese ich, dass es heute im Gemeindezentrum eine
„Ganzheitliche Messe“ gibt. Ich habe mich schon immer
gefragt, was es mit diesen monatlichen Zusammenkünften
auf sich hat. Also schlendere ich neugierig die schmalen
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Gassen hinunter. Die Straßen vor den kleinen bunten
Häuschen sind enger und gewundener als alle anderen in
Kapstadt. Künstler, Verrückte und Studenten haben sich in
diesem Viertel, das nach seiner Sternwarte benannt ist,
eingenistet. Die Fassaden sind brüchig. Überall bröckelt
der Putz. Ich gehe an der Moschee vorbei, schaue mir die
Auslagen einer indischen Galerie an. An der Ecke entdecke ich den rotblauen Holzzaun von Alfred wieder.
Alfred hat vor ein paar Jahren aufgehört, als gewöhnlicher
Bettler zu arbeiten und ist zum Geschäftsmann geworden.
„Black Empowerment“ nennt man das hier. Er sucht mit
seiner Frau den Müll aus der weißen und muslimischen
Nachbarschaft zusammen und verkauft die besseren Stücke preisgünstig weiter. Früher hätte er das nicht gedurft.
Da gab es Regeln. Heute ist er integraler Bestandteil des
südafrikanischen Recyclingsystems. Alte Kinderwagen,
Gießkannen, Blumentöpfe, all das haben er und seine Frau
ordentlich hinter dem rotblauen Holzzaun aufgeschichtet.
Wie er zu dem kleinen Häuschen gekommen ist, weiß natürlich keiner so recht. Wahrscheinlich hat er es leer vorgefunden und ist mit seiner bescheidenen Habe einfach eingezogen. Alfred kennt mich nicht mehr. Dabei ist es nicht
mal zwei Jahre her, dass ich ihm den alten Poolfilter abgekauft hatte. Den verwenden wir in unserer Kommune als
Grill im Garten. „Zwei Jahre“, denke ich, „mein Gott!“
Das Gemeindezentrum ist rundherum zugeparkt. Auf
dem Rasen hat sich die Hippiegemeinschaft der Stadt eingefunden. Man trägt das Haar zerzaust und hat sich orangefarbene Bänder um den Kopf gewickelt. An Töpfern und
Kartenlegern streife ich vorsichtig entlang und dringe
schließlich ins Gebäude vor. Drinnen sieht es wie in einem
lang verlassenen Krankenhaus aus, das nur noch einmal im
Monat für die Liebhaber des „Ganzheitlichen“ seine knarrenden Pforten öffnet. Auf der ersten Etage kann man sich
selbst finden, so sagt man mir jedenfalls. Die Werkzeuge,
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die mir dazu angeboten werden, heißen Kundilini-Yoga,
Shiatsu und Tarot. Als ich etwas ratlos von einem Experten zum nächsten blicke, spricht mich eine grauhaarige
Dame an. Sie trägt einen riesigen Kristall an ihrer Halskette. Normalerweise würde sie dreißig Rand verlangen,
aber sie wollte mir gern aus meinem Geburtsdatum ein
grundlegendes Profil erstellen, und zwar umsonst. Ich
hätte so eine interessante Aura. Ich beschließe, das als
Kompliment aufzufassen, und lasse mich auf dem wackligen Klappstuhl vor ihrem Pult nieder. Meine Geburtsdaten
werden alsdann auseinander genommen, wieder zusammengezählt, in kleine Kästchen eingetragen, dann einzeln
umkringelt. Am Ende erfahre ich, dass ich sehr kopflastig,
aber auch intuitiv sei, intelligent und doch kreativ, dass ich
einen Verlust erlitten hätte (nein, genauer wollte sie sich
dazu nicht äußern, aber ich würde aus selbigem zu lernen
haben) und dass ich viel Raum um mich bräuchte. Ich höre
für ein Weilchen zu und pflichte ihr dann entschieden bei.
Ich brauche tatsächlich viel Raum und würde daher ganz
intuitiv die Räumlichkeit verlassen wollen. Sie nickt verständnisvoll. Ich werde den Eindruck nicht los, dass hier
alle ständig verständnisvoll nicken. Bei ihr hätte es auch
lange gedauert bis sie begriffen hätte, man könne es nicht
erzwingen, aber es würde schon noch werden. Sie hätte
früher als Sekretärin in Johannesburg gearbeitet und gar
nicht gewusst, wie stark sie der inneren Heilung bedurfte,
der Heilung, die sie erst hier unten am Kap erfahren sollte.
Johannesburg, die Stadt der Geschäftsleute, Banken und
Gangster hatte sie beinahe kaputt gemacht. Ich hätte eine
gute Energie um mich herum, sagt sie. Ich soll sie nutzen.
Ich bedanke mich höflich und bekomme eine Visitenkarte
überreicht. Elaine ist ihr Name. Ich frage Elaine, warum
sich in Kapstadt das spirituelle Leben zu einer solchen
Blüte entfaltet hat. „Es ist der Berg“, sagt sie bedeutungsschwer. „Aha“, denke ich, „das erklärt es dann wohl.
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Berlin hat nämlich keine Berge. Da ist alles schön platt.“
Dann stelle ich unversehens die Frage, die mich wirklich
bewegt: Ich frage Elaine, ob sie vielleicht wüsste, warum
mir heute Morgen dieser Mann mit dem dürren Hund auf
dem Arm begegnet war und was der mit dem zerbrochenen
Glas auf dem Gehweg, dem Auto in der Kurve und den
zwei suchenden Frauen zu tun gehabt hätte. Die Frage
erscheint mir nun ungeheuer wichtig. Aber da reicht sie
mir einfach nur die Hand und wünscht mir einen guten
Tag. Enttäuscht verlasse ich die Etage der Heiler, Masseure und Wahrsager und besorge mir ein Stück Karottenkuchen und eine Tasse Kaffee. Damit bleibe ich erschöpft auf
dem Treppenabsatz sitzen und betrachte den Menschenstrom um mich herum. Sie alle scheinen dieses ganz
bestimmte Leuchten in den Augen zu haben, das Leuchten
derer, die auf der Suche sind. Ich ziehe meinen Notizblock
aus der Tasche und schreibe: „Unter all den Suchenden
fühlte ich mich plötzlich ein wenig verloren.“ Dann verbrühe ich mir die Zunge am Kaffee, blicke grimmig zum
allgegenwärtigen Berg empor, der sich mittlerweile seiner
Wolkenhülle entledigt hat, und enteile schließlich dem
orangefarbenen Treiben.
Doch wie man es auch dreht und wendet, in einer jeden
Stadt gibt es Dinge, die einen einfach immer wieder einholen – manchmal sogar an ein und demselben Tag. Als ich
nach einer weiteren vergnüglichen Taxifahrt – diesmal zur
Abwechslung mit einem gesprächigen Jazzliebhaber – auf
dem Heimweg bin (das zerbrochene Glas liegt immer noch
auf dem Gehweg), kommen mir zwei meiner Mitbewohner
in ihrem alten VW-Käfer entgegen. Ob ich nicht Lust hätte, mit ihnen zum Hare Krishna Tempel zu kommen. Dort
gäbe es ein kostenloses Abendessen. In punkto kostenlose
Nahrungsmittel bin ich außerordentlich verführbar. Die haben mich schon zu den seltsamsten religiösen Veranstaltungen geführt, wenn ich mal wieder kein Geld oder keine
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Lust zum Einkaufen gehabt hatte. Ich klettere also auf den
Rücksitz und lasse mich zu den Krishnas fahren. Wir sind
spät dran. Das Tanzen und Singen ist schon vorbei. Es
geht ans Essen. Der Raum ist blumengeschmückt. Räucherkerzen verströmen ihren Duft. Ich setze mich auf den
Fußboden und bekomme sofort einen Pappteller und eine
Plastikgabel in die Hand gedrückt. Dann kommt ein schöner Krishna-Mann nach dem anderen zu mir, kniet nieder,
lächelt bezaubernd und tafelt mir eine beträchtliche Portion auf. So ähnlich muss es im Paradies sein, hoffe ich. Ich
bin so mit dem Essen beschäftigt, dass ich dem Mädchen
neben mir, das mir beharrlich ihre Philosophie auseinandersetzt, kommentarlos zuhöre. Nach dem letzten Gang –
das Aufstehen bereitet mir bereits Mühe – stellt sie mir
den Prediger vor. Ich frage ihn, was er denn da für eine
gelbe Markierung auf der Nase trüge. Er antwortet nachsichtig, dass das der Fußabdruck Krishnas sei. Aus echtem
Lehm vom Ganges. Natürlich. Sein weltlicher Name ist
Steven; den geistigen kann ich mir nicht merken. Der Prediger will wissen, ob ich an einen persönlichen Gott glaubte. Ich antworte treuherzig, dass ich sozialistisch sozialisiert sei und daher nur an Marx glauben dürfe, dass der
aber ganz sicher eine Persönlichkeit gewesen sei. Das
Lächeln des Predigers verliert keinen Deut an Innigkeit. Er
hat Erfahrung. Unverdrossen fährt er in seinem Interview
fort. Ob ich denn nicht glaubte, dass ein ganz bestimmter
Zweck hinter meinem Aufenthalt in Kapstadt stünde,
etwas was mich meinem Dharma näher bringen würde. Ich
lasse mir erklären, was ein Dharma ist, überlege und sage
dann: „Das Einzige, was mich wirklich interessiert, ist,
warum dieser Mann am Morgen mit seinem dürren Hund
an mir vorbeigerannt ist und was das mit dem zerbrochenen Glas auf dem Gehweg, dem Auto in der Kurve und
den zwei suchenden Frauen zu tun gehabt hat.“ Wenn er
darauf eine Antwort wüsste, wäre ich sehr dankbar und
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würde auch gern noch einmal über mein Dharma nachdenken. Doch da reißt er unvermittelt seine Arme in die Höhe
und alle fangen an zu singen: Hare Krishna, Hare Krishna,
Hare Rama, Hare Rama, Hare Krishna, Hare, Hare. Im
Englischen klingt das „Hare, Hare“ wie „Hurry, hurry!“ –
„Beeil Dich!“ Das scheint mein Stichwort zu sein. Ich
greife mir noch ein letztes Dattelbällchen mit Haselnussfüllung für den Weg und empfehle mich. Auf die wirklich
wichtigen Fragen hatten die hier also auch keine Antwort.
Draußen ist die Dämmerung schon vorbei. Das geht hier
schnell. Grad war’s noch Tag, schon ist es Nacht. Keine
sanft fließenden Übergänge. Die gibt es in dieser Stadt, in
diesem Land, nicht. Obwohl man es als Frau um diese
Tageszeit wirklich nicht tun sollte, gehe ich zu Fuß nach
Hause. Ich habe keine Lust, auf die anderen zu warten. Um
mir Mut zu machen, starre ich in den dunkelblauen Himmel. „Die Sterne sind hier nicht dieselben wie in Deutschland“, murmle ich sinnlos vor mich hin (nicht dass man sie
in Berlin oft zu Gesicht bekommen hätte, aber man kennt
sie ja ein bisschen von den gelegentlichen Wochenendausflügen nach Brandenburg). Kein Wunder also, dass ich zuweilen die Orientierung verliere. Aber wenn man sich
wirklich verirrt, kann man sich in Kapstadt immer noch
auf den Berg verlassen. Der wird erst in ein paar Millionen
Jahren vom Meer aufgefressen werden. Und bis dahin – so
überlege ich später gähnend in meinem vorgewärmten Bett
– würde ich vielleicht herausgefunden haben, was der
rennende Mann mit dem verängstigten dürren Hund auf
seinem Arm, das zerbrochene Glas auf dem Gehweg, das
Auto in der Kurve und die zwei suchenden Frauen an
diesem Morgen zu bedeuten gehabt hatten. Aber vielleicht
hätte ich die Frage bis zum nächsten Morgen auch vergessen.
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Margit Breuss
Nachbarn
„Fadi“, ruft Amina aus der Hütte, „lass die Nassara in
Ruhe!“
Noch immer zucke ich zusammen, wenn ich unumwunden „Nassara“ genannt werde: „Weiße“. Jedes Mal werde
ich mit der Nase auf das gestoßen, was offensichtlich ist:
Ich bin anders. Doch eine „Andere“ zu sein oder als solche
bezeichnet zu werden, ist nicht dasselbe. Und Fadimatou
besteht darauf, mich bemerkenswert zu finden.
„Aber Mama“, ruft sie in die Hütte, „die Nassara trägt
den Kochtopf wie ein Baby.“
Ich starre auf den Topf mit Reis, den ich in den Händen
halte.
„Fadimatou“, sagt Amina, tritt aus der Hütte und fasst
ihre Tochter am Arm, „sie kann nichts dafür. Ihre Haare
sind einfach zu rutschig.“
„Ach, lass sie nur“, beschwichtige ich und stelle den
Topf auf die Erde, „sie hat ja Recht. Wo käme man auch
hin bei euch, wenn man die Hände zum Tragen bräuchte.“
Tatsächlich ist es anstrengend gewesen, den Reistopf den
Hügel heraufzuschleppen. Vorbei am letzten Maisfeld des
Dorfes über den schmalen, ungeschützt der Sonne ausgesetzten Pfad bis zur Familie Ousoumanou, meinen Nachbarn. Der Reis ist mein Geschenk. Die Familie hatte mich
zum Essen eingeladen und ich war mir nicht sicher gewesen, was ein passendes Geschenk zu diesem Anlass wäre.
So war ich in Gedanken durchgegangen, was ich selber im
Lauf der Woche geschenkt bekommen hatte: Reis, eine
meterlange Bananenstaude, einen lebenden Hahn und eine
Tomatenmarkdose, gefüllt mit gebratenen Termiten. Am
liebsten hätte ich natürlich eine Termitendose mitgenom71
men. Doch die Termiten hatte ich längst weitergeschenkt
und ich selber verstehe mich leider nicht auf die Zubereitung von Termiten. Den Hahn hatte ich, unwillig ihn zu
köpfen, eine Nacht lang in einer Kiste im Wohnzimmer
untergebracht. Am nächsten Morgen brachte ich den armen Kerl, der vom stundenlangen Protest völlig erschöpft
war, zum Haus des Bürgermeisters, wo er sich sogleich in
die dortige Hühnerschar eingliederte. Und so blieb mir nur
die Wahl zwischen einem Topf Reis und einer Bananenstaude. Natürlich hatte ich mich für das leichtere Mitbringsel entschieden.
Die Ousoumanous, ich weiß nicht ob sie wirklich so
heißen, jedenfalls steht Amina Ousoumanou auf dem Heft
der Gesundheitsstation, wo ich die Nachbarin kennen
gelernt habe, leben zwar nur zweihundert Meter hügelaufwärts hinter unserem Haus, doch auf diesen zweihundert
Metern verändert sich die Welt. Unser Haus ist das letzte
im Dorf, das ans Strom- und Wassernetz angeschlossen ist.
Das Haus ist außen weiß getüncht, es verfügt über blau
gerahmte Fenster mit klappbaren Glasscheiben und Moskitogittern dahinter und eine blaue Tür, die am Boden nicht
dicht abschließt, was die Kinder des Dorfes in Verzückung
versetzt. Durch den Türspalt fällt in der Dunkelheit Licht,
und dieses Licht zieht Termiten an, die dort zuhauf von
den Kindern eingesammelt werden können. Hinter dieser
Tür befindet sich unsere Küche. Gleich hinter der Tür
liegen jeden Morgen die Termiten, die sich in der Nacht
durch den Türspalt durchgedrängt haben: Immerhin etwa
zwei Hände voll pro Tag. In dem schmalen Raum befinden
sich rechts der Gasherd und der Kühlschrank, links die
Abwasch. Leider ist die Abwasch nicht ans Abwassernetz
angeschlossen, sodass sie nicht im herkömmlichen Sinn zu
verwenden ist. Wir waschen das Geschirr in großen Bottichen, das Abwasser schütten wir hinter das Haus. Neben
der Küche gibt es ein Wohnzimmer mit einem Esstisch
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und acht Stühlen, was in Anbetracht unserer Besucher stets
etwas knapp bemessen ist; daneben steht eine Sitzgarnitur,
etwas altmodisch zwar, aber sie erfüllt ihren Zweck. Hier
finden zwölf Besucher Platz, wenn sie sich ein bisschen
zusammendrängen. Leider hatten wir die Krätze in den
Sitzpolstern und es war gar nicht leicht, sie wieder herauszubekommen, sodass wir über die Sitzgarnitur praktisch
wochenlang Quarantäne verhängen mussten. Hinter dem
Wohnraum geht es weiter zur Dusche und zu den beiden
Schlafräumen, einen für meine Kollegin, einen für mich.
In der Dusche gibt es fließendes Wasser und eine Spültoilette, beides mit dem Abwassersystem verbunden. So
können die sanitären Einrichtungen regelgerecht benützt
werden, wenn es im Dorf gerade Diesel gibt, denn mit
Diesel werden die Stromaggregate betrieben, die ihrerseits
wieder die Wasserpumpen betreiben. Und nicht zu vergessen: Unser Haus hat ein Wellblechdach. Wenn der tropische Regen auf dieses Dach trommelt, ist im Inneren des
Hauses zwar kaum eine Unterhaltung möglich. Doch das
Dach hat den Vorteil, dass es nicht alle paar Jahre erneuert
werden muss, was uns sehr recht ist.
Aminas Haus liegt hinter den Maisfeldern des Bürgermeisters, außerhalb der Strom- und Wasserzone. Es ist das
dritte von links im Anwesen ihrer Familie. Im ersten
wohnt Tante Aissatou, habe ich erfahren, im zweiten Djeinabou, deren Verwandtschaftsgrad ich vergessen habe,
und im dritten eben Amina mit ihren drei Jüngsten. Harouna zieht gerade aus, hat mir Amina stolz erzählt, er ist jetzt
zehn und baut sein erstes Haus drüben bei seinen Brüdern.
Das Gerüst aus Ästen stehe schon, er baue noch kein Ziegelhaus meint Amina, er wachse ja noch heraus und werde
irgendwann ein größeres Haus brauchen. Aminas Haus ist
aus Lehmziegeln gemauert und strohbedeckt. Das sei aber
kein Problem, hat mir Amina versichert, das Ausbessern
der Dächer sei Männerarbeit. In Aminas Haus steht ein
73
großes Bett für sie und die Kinder. Daneben türmen sich
Kochtöpfe, die großen zuunterst, fünf Stapel nebeneinander, die meisten mit Blumenmotiven verziert. Diese Kochtöpfe sind blitzsauber, im Gegensatz zu den rußgeschwärzten Töpfen, die vor dem Haus liegen. Amina bewahrt darin
ihre Habseligkeiten auf und ich denke mir, dass das sehr
praktisch ist, wenn man so oft übersiedelt wie die Familie
Ousoumanou, denn Amina muss ihre Sachen nicht erst in
Bananenschachteln verpacken wie ich schon so oft im
Leben. Halbnomaden sind eben aufs Umherziehen eingestellt. Ich weniger, obwohl ich den Arbeitsplätzen nachziehe wie die Familie Ousoumanou den Weidegründen.
Aminas Haus hat einen einzigen Raum. Dort wird geschlafen, aufbewahrt und bisweilen auch gegessen, zusammengesessen und geredet. Gekocht wird meist im Freien. Nur
wenn es regnet, kocht Aminas Familie im Kochhaus, das
eigentlich kein richtiges Haus ist, sondern nur ein Dach
über einer Feuerstelle. Und dann gibt es noch den Ort, den
Aminas Familie „ha ladde“ nennt, „im Wald“. Wenn Amina sagt, sie gehe in den Wald, geht sie aber natürlich nicht
in den Wald, sondern zu einem Erdloch hinter dem Haus,
das durch Matten vor Blicken und Kriechtieren geschützt
ist. Ich suche manchmal dort Zuflucht, wenn unsere Toilettenspülung nicht funktioniert, weil wieder einmal die
Wasserpumpe ausgefallen ist.
Welches Haus des Anwesens Dieudonné Ousoumaou
gehört, weiß ich noch nicht. Dieudonné ist Aminas Mann.
Er war als Säugling an Malaria erkrankt und wurde damals
von seiner Familie zum Missionskrankenhaus gebracht. Da
die Familie Ousoumanou sehr arm war, konnte sie nicht
bezahlen, doch die Missionsleute haben sich erbarmt und
den kleinen Kerl gratis behandelt. Zum Dank dafür musste
die Familie Ousoumanou das Kind aber Dieudonné
nennen, „Gottgegeben“ also, was vielleicht in der Familie
Ousoumanou gar nicht so sehr aufgefallen wäre, da die
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Familie sehr gläubig ist und täglich fünfmal zu Allah betet.
Leider haben die Missionsleute darauf bestanden, dass der
arme Dieudonné seinen Namen genau so, nämlich französisch trägt, was in der Familie Ousoumanou seltsam
fremdländisch klingen muss, weil niemand in der Familie
Französisch spricht. Andererseits wissen in Dieudonnés
Familie viele wohl gar nicht, was der Name bedeutet, und
möglicherweise klingt es für sie etwa so wie Soraya Müller oder Dean Unterleitner, was in Österreich ja auch etwas
fremdländisch anmutet, aber durchaus in Mode ist. Amina
jedenfalls weiß, wo ihr Mann den Namen herhat, sie hat es
mir erzählt, als sie mit Haoua, ihrer Jüngsten, wegen
Malaria in der Gesundheitsstation war. Heutzutage ist es ja
kein Problem mehr, wenn die Kinder schöne, biblische
Namen wie Haoua tragen, was so viel wie Eva bedeutet.
Meinen Namen spricht Amina ungefähr französisch aus:
Marguerite. Das klingt für mich fremd und bereitet mir
Unbehagen, aber wenn man einen Namen hat, den es nicht
gibt, muss man eben Kompromisse eingehen. Meistens
werde ich ohnehin „Nassara“ genannt. Dafür könnte ich
nach den hiesigen Gebräuchen einfach „Kind“ rufen, wenn
ich ein Kind ansprechen will. Das würde die Sache sehr
vereinfachen, ist mir aber zu unhöflich. Deshalb bin ich
auch immer befangen mit Kindern, deren Namen ich vergessen habe, und das sind fast alle. Inzwischen haben sich
sieben um mich versammelt und ich kenne nur Fadimatou,
die ich Fadi nennen darf. Fadi erklärt den anderen Kindern
gerade, dass meine Haare zu glatt sind um darauf Milchkalebassen zu transportieren, es sei mir geradewegs nicht
einmal möglich, einen kleinen Kochtopf Reis auf dem
Kopf zu transportieren. Fadi möchte eine Haarsträhne von
mir haben.
Wenn ich ganz still stehe, kann ich eine Kalebasse mit
Mais auf meinem Kopf halten. Der Mais ist wichtig. Je
schwerer die Kalebasse, desto leichter lässt sie sich ausba75
lancieren. Fadi hat für das Experiment eigentlich Milch
vorgeschlagen, aber ich bevorzuge Mais.
„Du musst dir die Haare flechten“, sagt sie, „dann wirst
du eines Tages auch Milch tragen können.“
Ich schweige, denn ich fürchte, dass die Kalebasse ins
Schwanken gerät, wenn ich den Mund bewege.
„Mama“, ruft Fadi stolz, „schau, ich habe es der Nassara
beigebracht.“
Amina schlägt vor, ein Foto zu machen. Mit mir und den
Kindern und der Kalebasse auf meinem Kopf. Wenn ich
einen Fotoapparat hätte, würde sie das für mich tun. Raffiniert, denke ich. Amina will wohl Fotos von den Kindern
haben. Von jedem einzeln und von allen zusammen. Den
Kindern, den Cousins, den Nichten und Neffen. Jede Mutter will das. Eine Erinnerung an die Zeit, als die Kinder
noch krabbelten, sich Käfer in den Mund steckten oder
gerade die erste Zahnlücke hatten, wie im Moment Fadi.
„Ja“, erwidere ich und halte die Kalebasse fest, „Das
werden wir tun.“
Und ich werde ein Foto an meine Familie in Europa
schicken: Ich, mit der Kalebasse auf dem Kopf und rundherum die Kinder. Und insgeheim hoffe ich, dass meine
Familie erkennen wird, wie glatt meine Haare sind.
76
V. Groß
Die Geister Afrikas
Eigentlich kann ich sagen, dass ich die Trommeln Afrikas
schon immer vernommen habe. Als Kind bereits, wenn
ich, wie vielleicht jedes Kind, von großen Abenteuern in
weit entfernten Ländern träumte. Und auch dieses schwarze Mädchen, um das sich meine Geschichte in gewisser
Weise dreht, habe ich schon immer gesehen.
Mein Name ist Jim, Jim Locke, und als meine Reise begann, war ich gerade 14 Jahre alt. Meine Eltern waren
beide gestorben und mein Patenonkel, der mich zu sich genommen hatte, war kein besonders herzlicher Mann. Vor
Jahren schon hatte man ihm wegen der Schulden sein
Geschäft, das er als Färber von Stoffen betrieben hatte, genommen, und nun suchte er Trost im Alkohol, war verbittert und mürrisch. Ständig beklagte er sich darüber, dass er
mich durchfüttern müsse, obwohl er zu Lebzeiten meiner
Eltern niemals irgendwelche Hilfe von diesen bekommen
hatte.
Eines Morgens eröffnete er mir, er habe für mich auf einem Schiff angeheuert, und wies mich an, mich reisefertig
zu machen.
So verließ ich Bristol, die Stadt in der ich geboren und
aufgewachsen war, um zur See zu fahren. Ich war nicht
unglücklich darüber, glaubte ich doch, nun ein neues Leben beginnen zu können, ein freies Leben, weitab von den
beengenden schmutzigen Gassen meiner Heimatstadt und
den ewigen Nörgeleien meines Onkels. Mit meinem Bündel in der Hand lief ich am Hafen umher und spähte auf
die Schiffsrümpfe, wo irgendwo der Name meines Schiffes, der „Stuart Withling“, auftauchen musste. Ich kannte
mich aus, denn schon seit Jahren war ich an den Docks he77
rumgeschlichen, hatte die abfahrenden Schiffe beobachtet
und die heimkehrenden Seemänner bewundert, deren Haut
braun gebrannt und dick wie Leder war, die von ihren Reisen und Abenteuern erzählten und bei Dunkelheit in den
Tavernen ihre Shantys sangen und dazu tanzten. Nun also
sollte ich selber ein Seemann werden.
Endlich entdeckte ich durch die Menge der Menschen,
die Fässer von den Schiffen rollten und schwere Bündel
ausländischer Stoffe an den Kais stapelten, den weißen
Schriftzug meines Schiffes. Es war ein sonniger Vormittag
im Jahre 1744, die Möwenschreie gellen mir noch heute
im Ohr und noch immer rieche ich den Geruch von Salz
und Teer, der, wie ich später feststellen sollte, so typisch
war für die Häfen der Welt.
Bald stand ich also vor der „Stuart Withling“, einem ansehnlichen Klipper, der, wie ich nebenbei bemerkte, frisch
gestrichen war. Ein durchschnittlicher Dreimaster wie er
seit Jahren schon in Gebrauch war, um Handelswaren über
die Meere zu bringen. Ich lief die Schiffsplanke hinauf und
sah mich nach dem Mann um, der fürs Anheuern zuständig
war. Ich fand ihn, übergab ihm das Schreiben, das mein
Onkel mir mitgegeben hatte, machte mein Kreuz an die
dafür vorgesehene Stelle der Besatzungsliste und erfuhr,
dass ich als Schiffsjunge an Bord genommen war.
Während der ersten Nacht, die ich unter Deck in den
engen Mannschaftsquartieren in meiner Hängematte verbrachte, hörte ich einiges über die bevorstehende Reise.
Tatsächlich war ich ja an Bord gegangen, ohne das
Geringste über Ziel und Auftrag des Schiffes zu wissen.
Nun lag ich also hier, während sich das Deck nach und
nach mit den Seemännern füllte, die auf dieser Reise
meine Gefährten sein sollten; grobschlächtige Kerle in
allen Altersklassen und darunter manch wirklich finsterer
Geselle, der mir einen gehörigen Schrecken einjagte. Ich
drückte mich tiefer in meine Hängematte und war froh,
78
dass mich niemand so recht zur Kenntnis zu nehmen
schien. So lauschte ich ihren Gesprächen, während sie
Rum tranken und Tabak rauchten. Viele Geschichten erstaunten mich doch sehr, Berichte von seltsamen Vorkommnissen, von Seeungeheuern, Klabautermännern und
fremden Ländern, von Kannibalen und glänzenden Städten
aus purem Gold; das berüchtigte Seemannsgarn, wie ich
später erfuhr. Aber ich schnappte auch einiges Brauchbares auf. So erfuhr ich, dass wir im Auftrag einer Londoner Handelsgesellschaft nach der Goldküste unterwegs
sein würden um dort die Waren, die wir geladen hatten,
hauptsächlich Waffen, Branntwein und Baumwollstoffe,
gegen Gold, Elfenbein und Pfeffer zu tauschen. Unser Kapitän, den ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht an Bord
gesehen hatte, war ein Portugiese oder Spanier namens
Don Felipe, ein verwegener Mann und, wie es hieß, ehemaliger Freibeuter.
Allmählich sank ich in einen unruhigen Schlaf und ich
träumte von den fernen Küsten jenes dunklen, geheimnisvollen Kontinents, der unser Ziel sein sollte. Wilde exotische Tiere bevölkerten meine Traumlandschaften, Löwen
und Elefanten und allerhand anderes merkwürdiges Getier,
das ich aus einem Buch meines Onkels kannte, das dieser
stets sorgfältig in seiner kleinen Bibliothek aufbewahrt
hatte. Ich sah in meinen Träumen ebenso die Bewohner
dieses fernen Kontinents. Ich sah sie so wie ich sie von
meinen früheren Beobachtungen am Hafen kannte. Ausgemergelte, halb verhungerte Gestalten von schwarzer Hautfarbe, gebückt und niedergedrückt, in Ketten darauf wartend, was mit ihnen geschehen würde. Ich hatte gelernt,
dass diese Wesen nicht mehr waren als eine Vorstufe der
zivilisierten Menschheit, dem Affen näher als uns Europäern. Hin und wieder wurden einige von ihnen nach England gebracht. Zumeist jedoch brachte man sie, wie ich
wusste, nach Amerika, in die neue Welt, wo sie niedrige
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Arbeiten verrichteten, auf den Feldern oder als Bedienstete
der hohen Herrschaften. Immer wieder sah ich jedoch in
meinen Träumen auch das schwarze Mädchen, das mich
anlächelte und mir zuwinkte. Eine Merkwürdigkeit, die
erst später Bedeutung gewinnen sollte.
Am nächsten Morgen ging es los. Die Pfeifen ertönten
und die Wanten füllten sich mit gewandten Kletterern, die
sich anschickten die Segel zu setzen. Der Anker wurde
gehoben und das Schiff setzte sich in Bewegung. Wir
segelten durch den Kanal von Bristol hinaus aufs offene
Meer und schlugen sodann einen südlichen Kurs ein, der
uns entlang des europäischen Festlandes über den nördlichen Wendekreis hinaus zu den geheimnisvollen Küsten
Afrikas bringen sollte.
Die Zeit des Müßiggangs war vorbei. Ich wurde fürs
Erste dem Schiffskoch zugeteilt und verbrachte von nun an
endlose Stunden in der engen stickigen Kombüse, wo ich
half das Essen zuzubereiten. Zuweilen trug ich dem Kapitän und seinen Offizieren Mahlzeiten auf oder wurde dazu
verpflichtet, das Deck zu schrubben oder im Mastkorb
Ausschau nach anderen Schiffen zu halten. Mir blieb nur
wenig Zeit um mich träumerischen Gefühlen hinzugeben
und mich in den unbeschreiblichen Sonnenuntergängen
auf offener See zu verlieren. Abends fiel ich todmüde in
meine Hängematte und schlief traumlos wie ein Stein bis
zum nächsten Morgen. Aber ich war sehr neugierig und
lernte viel über das Handwerk der Seemänner. Ich lernte
bald, die See zu lieben und genoss nach anfänglichen
Schwierigkeiten die ewige träge Bewegung unseres
Schiffes, das andauernde Geräusch der gegen die Bordwand anrollenden Wellen, die salzige Luft und den freien
Blick über einen gewölbten Horizont, der durch nichts
behindert wurde.
Während unserer gesamten Reise blieben wir von französischen Galeonen und marodierenden Freibeutern ver80
schont, nicht zuletzt wegen des Geschicks unseres Kapitäns, der, immer wenn ein fremdes Schiff in Sichtweite
kam, nicht zögerte, die entsprechende Flagge hissen zu
lassen, die uns als ein befreundetes Schiff auswies. Nach
einer kurzen Zwischenlandung bei Cap Verde, wo wir
Proviant und Trinkwasser an Bord nahmen, gelangten wir
nach beinahe anderthalb Monaten auf See unbehelligt an
unser Ziel. Schon von weitem leuchteten die weiß getünchten Mauern der Festung Cape Coast, auf einer hohen
Klippe über dem Meer gelegen, im gleißenden Sonnenlicht. Gemächlich segelten wir in Richtung der Festung
und schließlich warfen wir unweit der Küste unseren
Anker und refften die Segel.
Wir waren am Ziel unserer Reise angekommen. Vor uns
lag die Goldküste Afrikas. Ich muss gestehen, dass ich
sehr aufgeregt war, als ich zum ersten Mal die Ufer dieses
sagenumwobenen Kontinents aus der Nähe zu Gesicht bekam. Doch ich sollte bald noch engere Bekanntschaft mit
diesem Land machen. Der Kapitän, mit dem ich mich
während der Fahrt angefreundet hatte, und der offensichtlich meine ständige Neugier und Lernbereitschaft wohlwollend zur Kenntnis genommen hatte, kam kurz nach
unserer Landung zu mir und fragte mich, ob ich ihn bei
seinem Landgang begleiten wolle. Natürlich willigte ich
sofort ein und die Begeisterung muss meinen Augen einen
strahlenden Glanz verliehen haben, denn Don Felipe
lächelte und schien sich mit mir zu freuen. Was für ein
guter Kerl er doch eigentlich war, unter dieser rauen
Schale des draufgängerischen Kapitäns. Ich muss sagen,
dass ich ihn sehr mochte. Vielleicht galt er mir damals
bereits als eine Art Ersatz für den Vater, den ich so früh
verloren hatte.
So bestiegen wir, während der Rest der Mannschaft sich
an das Abladen der Ladung machte, eine Schaluppe und
wurden über das sanfte Meer hinüber an Land gerudert.
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Gebannt starrte ich zu der strahlenden Festung auf den
Klippen, die langsam größer und größer wurde. Nie zuvor
hatte ich etwas Prachtvolleres zu Gesicht bekommen.
Wir erreichten die schmale Pier und gingen an Land. Ein
ausgetretener Weg führte die Klippe hinauf zur Festung.
Schon nach wenigen Metern wurde mir bewusst, wie sehr
der ewige Meereswind an Bord die Hitze gemildert hatte,
denn hier an Land war es unerträglich heiß, so dass mein
Hemd bald durchgeschwitzt war und nass an meinem Körper klebte. Unser kleiner Trupp näherte sich der Außenmauer Cap Coasts und ich sah die großen, schweren Kanonen, mit denen die Festung bestückt war. Auf den Mauern
patrouillierten Wachen mit Hellebarden. Die Festung
schien keineswegs so friedlich wie sie gewirkt hatte.
Herrschte hier etwa Krieg? Während wir uns dem Tor näherten, durchschritten wir eine Ansammlung von provisorischen Handelsständen, die überall um die Anlage herum
aufgebaut waren; manche größer und stabiler, mit einem
Leinendach zum Schutz gegen die unerbittliche Sonne,
andere nur durch ein Stück Stoff auf dem Boden gekennzeichnet, auf dem die Waren ausgebreitet lagen. Mich
beschlich ein ungutes Gefühl, eine Unsicherheit angesichts
der Massen von dunkelhäutigen Menschen, und erstmals
wurde mir bewusst, dass in diesem Teil der Welt wir, die
wir von weißer Hautfarbe waren, die Minderheit darstellten. Ein befremdliches Gefühl, das sich in eine unbestimmte Angst verwandelte. Umso erleichterter war ich,
als wir durch das geöffnete Tor ins Innere der Festung gelangten. Hier überwogen Menschen unserer Rasse. Soldaten, Händler, Bedienstete bevölkerten das Innere der Mauern. Don Felipe setzte mich davon in Kenntnis, dass er nun
unverzüglich die Geschäftsverhandlungen in Angriff
nehmen wolle und ich mich in dieser Zeit hier umsehen
könne. Er selbst wäre für mindestens zwei Stunden in der
Palaverhalle beschäftigt, wo es für mich sicher langweilig
82
wäre. Die Palaverhalle, so erklärte er mir, war der Ort, an
dem sich alle, die irgendwelche Geschäfte tätigen wollten,
versammelten um ihre Konditionen auszuhandeln. Aus
purer Neugierde begleitete ich ihn bis zum Eingang dieses
seltsamen Ortes, warf kurz einen Blick in die weite, nach
den Seiten fensterlose Halle, in der ein unglaubliches Getümmel und ein undurchdringliches Gewirr von Stimmen
herrschte. Dann beschloss ich, ein wenig auf eigene Faust
durch die Festung zu streifen. Der Kapitän hatte mir
versichert, dass einem englischen Jungen innerhalb der
Anlage keine Gefahr drohte. Im Notfall sollte ich seinen
Namen oder den Namen unseres Schiffes verwenden,
wenn es aus irgendeinem Grund galt mich auszuweisen.
So zog ich unbesorgt los um die Geheimnisse von Cape
Coast zu enthüllen. Leider entsprachen meine träumerischen Erwartungen in keiner Weise der Realität. Bald
musste ich feststellen, dass das Innere der Festung sehr
schmutzig war und deutliche Verfallserscheinungen zeigte.
Niemand schien sich um die Instandhaltung der Anlage zu
kümmern. Selbst die Soldaten, die ich unterwegs beobachten konnte, wirkten nicht gerade so, als verrichteten sie
ihren Dienst mit großer Freude und ehrlichem Pflichtbewusstsein; viele waren betrunken und ihre Uniformen ungepflegt, unordentlich, ja geradezu verdreckt. Keine Spur
jener Disziplin und Korrektheit, die ich aus England von
den Soldaten unserer Majestät gewohnt war. Der Dienst
hier schien seinen Tribut zu fordern.
Nach einiger Zeit, in der ich über die Mauern und Wehrgänge gestreift war um mir die schweren Kanonen anzusehen und einen Blick über das Meer auf unser Schiff zu
werfen, das neben vielen anderen vor der Küste lag, entschloss ich mich etwas tiefer in die Räume der Festung
vorzudringen. Dort würde es kühler sein als oben auf den
Mauern, auf die die Sonne unerbittlich nieder brannte. So
gelangte ich in tief gelegene Gewölbe, die mir wie große
83
Katakomben erschienen. Ich vernahm gellende Schmerzensschreie, knallende Peitschenhiebe und eine Sinfonie
rasselnder Eisenketten. Durch schattige tunnelartige Hallen
näherte ich mich, neugierig geworden, der Quelle der
erschütternden Geräusche. Doch ich kam nicht weit. Als
ich um eine Ecke bog, traf ich auf zwei Soldaten, die mir
mit gekreuzten Hellebarden den Weg versperrten. Barsch
machten sie mir klar, dass ich hier nichts verloren hätte,
gaben sich aber glücklicherweise damit zufrieden, dass ich
mich einsichtig zeigte und umkehrte. Zuvor jedoch gelang
es mir noch einen Blick auf die Szenerie hinter den beiden
Uniformierten zu werfen, in ein Gewölbe, überfüllt von
schwarzen Leibern, die aufs Engste zusammengepfercht
waren. Mehrere Soldaten schienen irgendeine Ordnung in
den konturlosen Haufen der Menschen bringen zu wollen.
Sie versuchten verschiedene Gruppen zu bilden, wobei sie
ihre Peitschen auf die Rücken der Gefangenen niederschnellen ließen, herumbrüllten und ihre Opfer mit Tritten
malträtierten. Sie behandelten diese Menschen wie Vieh.
Das ganze Gewölbe war verdreckt und es stank nach Urin
und Kot. Angewidert suchte ich das Weite. Die schrecklichen Bilder aber gingen mir nicht mehr aus dem Kopf
und noch heute erschauere ich bei dem Gedanken an jene
unmenschlichen Szenen.
Draußen im Hof bemerkte ich entlang der Innenseite der
weiß getünchten Mauer eine Reihe alter schwarzhäutiger
Menschen. Es schienen Händler zu sein, denn wie auch die
anderen vor der Festung hatten sie bunte Decken und Tücher vor sich ausgebreitet, auf denen ich die verschiedensten Gegenstände erkennen konnte, geschnitzte Figuren,
Federschmuck, aus Holz und Elfenbein gefertigte Kunstgegenstände. Um mich von dem eben Erlebten abzulenken, vertiefte ich mich in die Betrachtung der wunderschönen Schmuckstücke, die hier feilgeboten wurden.
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Nach einer Weile bemerkte ich, dass mich einer der
Händler unentwegt ansah. Er schien noch älter als die
anderen zu sein. Seine dunkle, fast schwarze Haut war
faltig und wirkte wie Pergament. Seine Haare waren von
Grau durchzogen. Er war entsetzlich dürr und seine Augen
blickten verschleiert. Zu meinem Erstaunen und, wie ich
zugeben muss, allergrößten Entsetzen winkte er mich mit
seiner knochigen Hand zu sich. Dabei stieß er gutturale
Laute aus, die ich nicht verstehen konnte. Der Alte winkte
und rief ohne Pause. Es dauerte ein wenig, bis ich fähig
war zu reagieren. Schließlich ging ich zu ihm. Sofort verzog sich sein Gesicht zu einem breiten zahnlosen Lächeln
des Glücks, was mir absurd vorkam, da ich immer noch
nicht wusste, was er eigentlich von mir wollte. Er zog
mich zu sich herunter und wiederholte, soweit ich es verstand, immer wieder dasselbe Wort: „Allijah … Allijah“,
wobei er glücklich lachte und Freudentränen weinte. Er
umarmte mich wie einen lange verlorenen Sohn, betastete
mein Gesicht mit seinen rauen Händen, als könne er nicht
glauben, dass ich wirklich vor ihm stand. Ich verspürte
eine seltsame unnatürliche Kälte bei der Berührung des
Alten; eine Kälte, die mich am ganzen Leib erzittern ließ.
Mir wurde unheimlich zumute. Ich befürchtete, irgendetwas Dummes oder gar Verbotenes getan zu haben, und
versuchte mich aus seiner Umarmung loszureißen. Endlich
gab er mich frei. Immer noch lachend vor Glück nahm er
einen Gegenstand, der vor ihm auf der Decke gelegen
hatte, und hielt ihn mir auffordernd hin. Es war eine wunderschöne Kette. Violett-silbern schimmernde Muscheln
waren daran aufgereiht und die Kette hielt eine kleine,
klobige Figur aus schwarzem Holz. Er streckte mir das
Schmuckstück entgegen und forderte mich offensichtlich
auf, sie an mich zu nehmen. „Allijah … Allijaaah …“,
sagte er immer wieder. Anscheinend sollte dies ein Geschenk sein. Verlegen griff ich nach der Kette und auf
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seine eindringlichen Gesten hin legte ich sie mir um den
Hals. Der Alte nickte zufrieden und sprach nun die ersten
Worte, die ich verstand. Mit einem gräulichen Akzent, der
die Worte kaum noch als Teil des Englischen erkennbar
werden ließ, hörte ich ihn sagen: „Du behalten … ziehen
nicht aus … nicht aus … niemals ziehen aus … lassen an
… dich schützen … dir helfen.“
Ich verstand: Es handelte sich um eine Art Talisman. Ich
lächelte und versuchte ihm klarzumachen, dass ich begriffen hatte und die Kette gerne anbehalten würde, wenn
ihm so viel daran lag. Er wirkte, als sei ihm eine tonnenschwere Last von den Schultern gefallen, und ich stand da
und verstand noch immer nichts.
In diesem Moment sah ich Don Felipe den Hof betreten
und schon hörte ich ihn nach mir rufen. Ich verabschiedete
mich von dem Alten und beeilte mich, zum Kapitän zu
kommen. Hinter mir hörte ich jenes seltsame Wort, das der
Alte leise flehend von sich gab: „Allijaah … Allijaaah …“
Ich erreichte den Käpten und seine beiden Begleiter und
nach einigen scherzhaften Bemerkungen über die Kette,
die ich nun trug, wurde mir eröffnet, dass dies noch nicht
das Ende unseres Ausfluges war. Die eigentlichen Abenteuer standen mir erst noch bevor. Ich erfuhr, dass wir
einen Ausflug ins Landesinnere unternehmen würden, wo
wir am Abend jemanden treffen sollten, der uns mit besonderen Waren beliefern würde. Ich ahnte nicht, worum es
sich bei diesen Waren handelte, die die Männer als
„schwarzes Ebenholz“ bezeichneten.
Nach kurzen Vorbereitungen brachen wir am frühen
Nachmittag auf in Richtung des vereinbarten Treffpunktes,
der etwa drei Stunden entfernt landeinwärts lag. Die Sonne
stand wie ein glühender Ball über unserem kleinen Trupp,
der aus mir, dem Kapitän und einem einfachen Matrosen
unseres Schiffes bestand. Gequält von der sengenden Hitze
trabte ich auf dem Maulesel, den man mir als Reittier
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zugewiesen hatte, hinter den beiden Männern auf ihren
Pferden und den mitgeführten Packtieren her. Wir ritten
die Klippe hinunter, auf der die weiße Silhouette Cape
Coasts aufragte, und schlugen einen staubigen Weg ein,
der uns in eine Landschaft versetzte, die nicht die geringste
Spur von Zivilisation aufwies. Weite, steppenartige Grasebenen durchsetzt mit vereinzelten Wasserlöchern und
dünnen Flussläufen, an denen unzählige Tiere um das
Leben spendende Nass kämpften; exotische Vögel, die ich
nie zuvor gesehen hatte; Raubtiere, die aus dem Wasser
hervorschossen, schwerfällige Fluss-Kolosse mit monströsen Mäulern, die sie so weit aufrissen, als wollten sie alles
um sich herum verschlingen. Am hitzeflirrenden Horizont
sah ich gewaltige Herden gehörnter rehartiger Tiere, die
mit unglaublicher Geschwindigkeit und Eleganz dahinsprangen. Ich war wie betäubt von der Vielfalt des Lebens
unter diesem strahlend blauen Himmel, dessen Farbe so
intensiv war wie es sich ein Europäer nicht vorzustellen
vermag. Weit hinter der Ebene ragten majestätische Gipfel
auf, gekrönt von weißem Glanz. Dieses Land war atemberaubend schön und blieb von diesem Tag an für immer
meiner Vorstellung vom Paradies verwandt.
Die Zeit verging wie im Flug, während ich nicht genug
davon bekommen konnte, alles mit begierigem Blick in
mich hineinzusaugen. Schließlich näherten wir uns jenem
See, der unser Bestimmungsort war. Wir stiegen ab und
richteten uns darauf ein zu warten. Wir schlugen ein Zelt
auf und fertigten uns eine provisorische Feuerstelle.
Während wir zusammensaßen und warteten, erzählte
Don Felipe merkwürdige Geschichten, die sich um den
See rankten, an dem wir lagerten. Ein Zwischenhändler in
Cape Coast hatte davon berichtet. Vor ein paar Jahren
hatte in der Gegend ein blutiges Massaker stattgefunden.
Über hundert Eingeborene, Aschanti-Krieger, waren von
englischen Soldaten und gedungenen Söldnern grausam
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niedergemetzelt worden. Der Boden war mit Blut getränkt
und das Wasser des Sees hatte sich zur Gänze rot gefärbt.
Furchtsam lauschte ich den Worten Don Felipes, den seine
Erzählung nicht im Geringsten zu bewegen schien. Vielmehr schien er belustigt, als er nach der Schilderung des
Massakers ein spöttisches Grinsen aufsetzte und uns zuraunte, dass diese Gegend seit jenem Tag als verflucht
galt. Die Händler erzählten sich haarsträubende Geschichten über den Ort, an dem wir unser Lager aufgeschlagen
hatten, Geschichten von geisterhaften Erscheinungen, von
den Seelen der toten Aschanti-Krieger, die keine Ruhe finden konnten und darauf brannten, sich an den weißen Unterdrückern zu rächen. Ich erschrak und mir wurde mulmig
zumute. Verstohlen sah ich mich um. Mir war mit einem
Mal als würden glühende, hasserfüllte Augen auf mir ruhen, hinter meinem Rücken, unsichtbar, unberechenbar.
Als Don Felipe sah, dass ich bleich geworden war, brach
er in lautes Gelächter aus, das am Seeufer einen großen
Schwarm Vögel kreischend in den Himmel aufsteigen ließ
und sich in der Weite der Landschaft verlor.
Nach dem Essen wurde der Kapitän zunehmend unruhiger. Seine gute Laune war verflogen. Immer wieder stand
er auf und blickte über die Ebene. Der vereinbarte Zeitpunkt war längst überschritten. Auch ich machte mir Sorgen, denn ich legte keinen Wert darauf, an diesem Ort zu
übernachten. Ich griff nach dem Amulett, das der alte
Händler mir gegeben hatte. „Vielleicht“, so dachte ich,
„wird es mich schützen.“
Eine Stunde später, der Himmel hatte sich inzwischen in
ein phantastisches Farbenspiel verwandelt, näherte sich
vom Ostufer des Sees ein Reiter. Der Mann erreichte uns,
zügelte sein Pferd mit einer Härte, die das Tier in den
Hinterläufen einknicken ließ und unser Lager mit einer
Staubwelle überschüttete. Er sprang ab und brachte Don
Felipe die Nachricht, die mich in blankes Entsetzen
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versetzte: Die Kolonne war aufgehalten worden und würde
nicht vor dem nächsten Morgen zu uns stoßen. Don Felipe
fluchte und wies uns mit barscher Stimme an, die Übernachtung vorzubereiten. Ich ahnte, dass es eine schlaflose
Nacht für mich werden würde.
Nachdem wir uns bei Einbruch der Nacht ins Zelt zurückgezogen hatten, Don Felipe, der Matrose und ich, lag
ich noch einige Zeit wach und lauschte den Geräuschen
dieses Landes, die wie eine fremdartige Melodie um uns
herum erklang. Durchbrochen wurde diese Melodie, die
schön und beängstigend zugleich war, nur durch das
schnarrende Schnarchen des Kapitäns, der in der Dunkelheit neben mir lag und sorglos wie ein Kind seinen Träumen nachstieg. Der Bote, der uns die Nachricht gebracht
hatte, war trotz unserer Einladung entschlossen, die Nacht
im Freien zu verbringen. Er war, seinen eigenen Worten
nach, mit diesem Land vertraut, es machte ihm nichts aus,
unter freiem Himmel zu übernachten. Mich graute bei dem
Gedanken, die Nacht außerhalb des Zeltes verbringen zu
müssen, und ich hielt seinen Entschluss für das Zeichen
großen Mutes.
Ein erstickter Schrei riss mich aus dem Schlaf. Noch
bevor ich ganz zu mir gekommen war, bemerkte ich den
Kapitän und den Matrosen, die beide zu ihren Waffen
gegriffen hatten und aus dem Zelt stürmten. Ich hörte
Schüsse und lautes Fluchen. Dann erneut ein Schrei; ein
Todesschrei, den ich, wie so vieles andere, das ich in
diesem Land erlebte, nie mehr vergessen sollte. Ängstlich
hob ich die Plane, die den Zelteingang bedeckte, ein Stück
nach oben und schob mich mit angespannten Muskeln aus
dem Eingang, jederzeit zur Flucht bereit.
Was ich sah, raubte mir den Atem. In der mondbeschienenen Dunkelheit gewahrte ich eine Anzahl wild aussehender Männer. Ungewöhnlich große und schlanke Erscheinungen, bewaffnet mit langen Speeren, mit bemalten
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Gesichtern, die Köpfe mit Federschmuck verziert. Es
musste sich um Aschanti-Krieger handeln, jene auf Rache
sinnenden Untoten, von denen Don Felipe gesprochen
hatte. Und tatsächlich: Ein Schuss, den der Kapitän auf
eine der Erscheinungen abfeuerte, blieb ohne Wirkung.
Die Kugel jagte glatt durch das Wesen hindurch und ließ
es unverletzt. Die Geister Afrikas! Entsetzt sah ich, wie
nur wenige Meter vom Zelteingang entfernt ein Krieger
seinen Speer in den am Boden liegenden Körper des
Matrosen stieß. Sein Gesicht war hassverzerrt und sein
einziges Ziel schien es zu sein, den Tod zu bringen. Mir
blieb nichts als die Flucht. Ich schoss aus dem Zelt, bereit
um mein Leben zu laufen. Doch ich kam nicht weit. Aus
dem Nichts erschien ein Krieger und versperrte mir den
Weg. Gelähmt blieb ich stehen, unfähig irgendetwas anderes zu tun als dem Schrecken ins Auge zu sehen. Der Untote hob seine Waffe und in diesem Augenblick, ich weiß
nicht, wie ich in diesem furchtbaren Moment auf solch
absurde Gedanken verfiel, nahm ich die ganze Schönheit,
die ganze Eleganz dieses schwarzen Kriegers wahr. Den
Stolz, den er empfand, seine Liebe zu diesem Land, in dem
er gelebt hatte, zu seinen Stammesbrüdern, seiner Familie,
seinen Kindern. Ich erkannte die Würde der uralten Kultur,
die diese Menschen geschaffen hatten, die Prächtigkeit
ihrer Mythen, ihrer Götter, und zugleich sah ich die Erniedrigung, die ihnen zugefügt wurde, von denjenigen, die
in ihr Land gekommen waren und die sie wie wilde Tiere
behandelten, sie in die Sklaverei verschleppten und ihrer
Heimat beraubten. All die Kinder, die ihre Eltern verloren
hatten, all die toten Krieger, hingeschlachtet aus purer
Gier. All das sah ich in diesem einen Augenblick, der, wie
ich dachte, mein letzter sein würde.
Aber ich wurde gerettet. Es war das Amulett, das mein
Leben bewahrte. Aus irgendeinem Grund, den ich damals
nicht erahnen konnte, den ich aber heute, Jahre später zu
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akzeptieren gelernt habe, ganz einfach weil es keine andere Erklärung gibt, hielt der Krieger mitten in der tödlichen
Bewegung seines speertragenden Armes inne und starrte
mit großen, geisterhaften Augen auf das Amulett auf meiner Brust.
„Allijah“, hörte ich ihn mit dunkler, weit entfernter
Stimme sagen. Dann drehte er sich um und rief, lauter
diesmal, das Wort seinen Gefährten zu, die gerade dabei
waren, den wütend um sich schlagenden und brüllenden
Don Felipe einzukreisen. „Allijah … Allijah ...“
Plötzlich war alles so abrupt zu Ende wie es begonnen
hatte. Die Aschanti-Krieger ließen von uns ab, ihre Erscheinungen begannen zu verblassen. Immer durchsichtiger wurden ihre Körper und auch der Krieger vor mir verblasste. Im letzten Moment tat er etwas Außergewöhnliches. Er lächelte. Das Gesicht war nun friedlich, ja freundlich, als er die Hand hob, durch die ich bereits die dahinter
liegende Landschaft sehen konnte, und mir über den Kopf
strich. Ich spürte eine unermessliche Kälte und die Angst
kam zurück. Aber nichts geschah. Der stolze Krieger löste
sich auf und verschwand. Stille fiel über das Lager.
Der Matrose und der Bote waren tot. Ihre Leichen lagen
blutüberströmt im Mondlicht auf der staubigen Erde. Don
Felipe hatte überlebt. Verwundet zwar, aber noch bei Kräften schleppte er sich zu mir herüber, während ich immer
noch wie versteinert stand und mit der rechten Hand das
Amulett hielt, das uns beiden das Leben gerettet hatte.
Gemeinsam durchwachten wir die Stunden bis zum Morgengrauen.
Als die Kolonne unseres Handelspartners auftauchte,
waren wir gerettet. Die Waren, die sie uns lieferten, waren
Sklaven, schwarzes Elfenbein. Es handelte sich um eine
kleine, etwa zwanzigköpfige Gruppe ausgewählter, besonders gesunder und kräftiger Menschen, die wir nach England bringen sollten, wo sie zur exklusiven Freude eines
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hohen Lords als Diener und Küchenmägde angestellt werden sollten. Es schmerzte mich, diese Menschen in Ketten
zu sehen, denn mein Herz war für sie erwacht. Zu viel hatte ich im Angesicht des Todes gesehen und über sie erfahren. Ich flehte Don Felipe an, sie frei zu lassen. Zwar
reagierte er freundlich und ich glaubte Mitgefühl und
Verständnis in seinen Augen zu sehen. Aber mein Flehen
nutzte nichts. „Es ist ein Geschäft, Jim“, sagte er, „Nichts
weiter. Ich muss meine Pflicht erfüllen und diese Kreaturen nach Bristol bringen. Es tut mir Leid, Junge.“ Tränen
der Wut füllten meine Augen.
Dann sah ich das Mädchen. Ich erkannte sie sofort. Das
kleine Mädchen aus meinen Träumen. Verloren stand sie
inmitten der Gruppe von Sklaven, die für unser Schiff bestimmt waren. Ich fragte mich, wie sie wohl hierher gelangt war, da doch ansonsten nur Erwachsene der Gruppe
angehörten. Aber das alles spielte nun keine Rolle mehr.
Sie war hier und sah mich von unten herauf mit ihren großen, wunderschönen dunklen und geheimnisvollen Augen
an.
Wir standen inzwischen am Kai von Cape Coast und
warteten mitsamt unserer unheiligen Fracht auf das Beiboot, das uns zur „Stuart Withling“ zurückbringen würde.
Entschlossen und mit dem sicheren Gefühl, dass er meine
Bitte nicht abschlagen konnte, sprach ich Don Felipe noch
einmal an. Ich bat ihn, mir nur dieses eine Kind zu überlassen. Ich versprach, mich um sie zu kümmern, für sie zu
sorgen. Er willigte ein. Er wusste wohl genau, dass er mir
sein Leben verdankte, mir und dem Amulett, das ich nach
wie vor um den Hals trug. Ich nahm das Mädchen auf den
Arm, wo es wie selbstverständlich den Kopf an mich
schmiegte und seine Arme um mich schlang.
Wir ruderten zu unserem Schiff, zogen den Anker ein
und hissten die Segel. Während wir langsam Fahrt aufnahmen, stand ich mit dem Kind auf meinen Armen an der
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Reling und sah ein letztes Mal hinüber nach Afrika, jenem
geheimnisvollen Kontinent, der mein Schicksal geworden
war. Zuletzt glaubte ich am Kai eine Gestalt zu sehen, die
mir winkte. Es war eine Frau, gekleidet in bunte Tücher.
Sie weinte. Das Kind auf meinen Armen hob die Hand und
winkte zurück.
Heute lebe ich mit Allijah in Bristol. Mein Onkel war
während meiner Reise zur Goldküste gestorben und hatte
mir Werkstatt und Haus hinterlassen. Mit Hilfe einiger
alter Geschäftsfreunde und der Unterstützung Don Felipes,
der niemals vergaß, was in jener Nacht in Afrika geschah,
und sich immer um mich gekümmert hat, gelang es mir,
die Färberei wieder in Betrieb zu setzen und unser Auskommen zu sichern. Allijah geht es gut und trotz mancher
Schwierigkeit, die wir aufgrund dummer und grausamer
Vorurteile durchleben mussten, kann ich sagen, dass wir
glücklich sind. Erst vor kurzem hat Allijah mir von ihrer
Familie berichtet, von ihrem Vater, dem stolzen AschantiKrieger, der am „Geistersee“ im Kampf gefallen war, ihrer
Mutter, die damals auf dem Marsch, der Allijah zu mir
brachte, an Entkräftung gestorben war, und schließlich von
ihrem lange schon verstorbenen Großvater, der als einer
der Ersten in Cape Coast mit den Weißen Handel getrieben
hatte. Zufall? Vielleicht. Aber wer gibt uns eigentlich das
Recht, unsere Sicht der Dinge als das einzige Vernünftige
über alle anderen Sichtweisen zu erheben?
Ich jedenfalls trage das Amulett noch immer und werde
es bis zu meinem letzten Atemzug nicht ablegen.
Zur See bin ich jedoch nie wieder gefahren. Ich denke,
es gibt Männer, die auf vielen Reisen um die ganze Welt
ihrem Schicksal entgegengehen. Ich dagegen fand mein
Schicksal bereits auf meiner ersten Reise … nach jenem
fernen Kontinent voller Mythen und unerklärlicher Geheimnisse … Afrika.
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Susanne Weinhart
Malesch, Mädchen
Geisterschiffe auf dem Nil. Nach dem Terroranschlag der
Islamisten in Kairo vom Dritten kreuzten nur noch fast
leere, blitzende Motorschiffe auf der braunen Suppe; die
langärmeligen, safaribeigen Personen an Deck erschienen
vom Ufer aus wie Leprakranke, die man nicht mehr an
Land lassen wollte. Ein dahintreibender Zauberberg, Davos mit Schwimmflügeln.
„Die riechen förmlich nach Malariaimpfung“, meinte
mein Vater. Weicheier, hieß das.
Auch beim Essen im La Palme d’Or waren wir fast eine
Viertelstunde das Knetspielzeug von zwei Polizisten, die
allein durch ihr Rasierwasser einen Raum schachmatt halten konnten. Der eine Polizist jonglierte mit meinen Tampons aus dem Camelbak, der andere richtete seine Wumme
auf einen jung wirkenden Polen, der eben ein ägyptisches
Baby abgelichtet hatte. Handschellen rasteten ein, er wurde über den Tisch geschmissen, dass der bunte Porzellankrug mit dem Besteck auf dem Boden zerbarst. Dann, behutsam, wie ein Entlaufener aus einem Altersheim, wurde
er abgeführt, was ihm passierte, konnte ich mir vage und
gleichzeitig in Zeitlupe vorstellen. Ich fühlte nichts mehr,
steckte festgekorkt in einem Flaschenhals der Erschöpfung. Mein Vater sah ihnen nach wie zwei uniformierten
Rockstars nach ihrer dritten Zugabe. Dieser Blick war eine
einzige Ode an die Obrigkeit. Zwanzig Berliner Mauern
waren zwischen uns. Die Tampons lagen auf den blauen
Fliesen wie Angelköder zwischen den Splittern des Kameraobjektivs, der Gabeln und Messer, der Baguettebrösel;
ich räumte meinen Rucksack wieder ein und fand den Reisepass glücklicherweise in einem feuchten roten Pulli.
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Meine Wasserflasche war ausgelaufen. Mein Vater aß sein
zweites Mussaka mit militärischer Demut. Der Krankenhausverband beulte ihm die Hose aus.
Vor zwei Stunden waren wir mit dem maroden Geländewagen im islamischen Kairo angekommen. Mein Vater
war als Erstes humpelnd hinter einem türkis fächelnden
Vorhang eines Barbiers am Bab el Nasr (Tor des Sieges)
verschwunden, nachdem er mir einen Packen weißer, mit
Blutstropfen ornamentierter Tücher in die Hände gestoßen
hatte. Wenn man sie auf dem sandigen Boden ausbreiten
wollte, würde man sehen, dass es zerrissene Bettlaken
waren, alte, schmucklose, mitgiftfähige Bettlaken, zu gut
gewebt um sie schmerzlos zerreißen zu können. Wenig
touristenlike stand ich mit tränenden Augen vor dem unscheinbaren Stadttor und verfluchte Kairo, Kontaktlinsen
und kriegsnostalgische Väter. Ich versteckte meine langen
Haare unter einem Baseballcap und wurde trotzdem erbarmungslos angemacht. Drei Fellachen, die den Vorgang beobachteten, amüsierten sich über mein „Fi muschkila?“
(Gibt’s ein Problem?). Wahrscheinlich sprach ich es falsch
aus.
Wir hatten Bernd, den Kriegskameraden meines Vaters,
schon einmal besucht, in einem katholischen Nürnberger
Vorort kurz vor Sylvester, als ich ungefähr neun war. Er
hatte uns Dias von seinem Forschungsjahr in Windhuk
gezeigt, wobei ich meistens seine Frau zwischen dunkel
glänzenden Einheimischen mit nacktem Oberkörper bewundern musste. Dazwischen unzählige Dias von anemonenähnlichen Blüten und undefinierbarem Kraut. Bernd
servierte Erasco-Hühnersuppe in Teetassen. Bernds Frau
Diane war in Windhuk geblieben, was Bernd locker mit
der Bemerkung „Da hab ich noch mal Glück gehabt“ kommentierte. Dabei spielte er mit der Klinge eines Schweizer
Offiziersmessers und schnitt sich in den Daumen. Ich hatte
damals furchtbare Angst vor dem Besuch. Mein Vater
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hatte mir erklärt, ohne Bernds Hilfe wäre er beim Aufstand
im Warschauer Ghetto eingesetzt und nicht in den Zug
nach Frankreich aufgenommen worden, ohne Bernd wäre
er wohl tot, Bernd hatte für ihn in Ostpreußen in letzter
Minute den Rucksack gepackt, und mich hätte es dann
natürlich auch nicht gegeben. „Ohne Bernd wärst du auch
nicht da. Also sei bloß nett zu Bernd. Zick ja nicht rum,
hörst du?!“ Ich musste Bernd also für mein Leben danken,
so schien es. Ich war also stumm wie eine patronenleere
MP dagesessen, in einem kratzigen Pulli, den ich sonst wie
Gräserpollen mied, und hatte zusammen mit meinem vor
Unterwürfigkeit schwitzenden Vater Bernds Pläne angehört. Bernd war Oberleutnant a.D. und nebenbei Diplombiologe und wollte eine Forschungsstation in der Nähe von
El Alamein aufmachen. In meiner Phantasie war das damals in der Nähe von Frankfurt. Maingegend eben. Arme
Frankfurter Fauna, Bernd kam. „Da kenn ich doch noch
jeden Halm“, prahlte er und sprach von seinem Minentrupp. „Mädchen, da unten liegen noch Minen, da ist das
Sylvesterfeuerwerk bei euch in München Peanuts.“ „Papa,
fahren wir auch nach El Alamein?“, fragte ich atemlos vor
Schreck. „Klar, Hajo, ihr kommt mich besuchen, das ist
ein Befehl!“ Bernd knallte zwei kühl gestellte Bierflaschen
auf den Tisch, als müsste er damit vierzig Ameisen zerdrücken. Das war ein Befehl mit Damoklescharme. Ich vergaß
ihn irgendwann im Gymnasium.
Mein Vater kam aus dem Haus des Barbiers, als mich
ein Bakschischjäger an der Bluse zog. Sofort ließen die
Männer von mir ab und brachen in wieherndes Gelächter
aus. „Heil Hitler“, kreischten sie, eigentlich „El Itla“, und
streckten ihre dunklen Arme wie angespitzte Lanzen nach
ihm. Der Barbier hatte meinem Vater ein Hitlerbärtchen
verpasst und die Haare scharf gescheitelt. Er sah zum
Fürchten aus, mit seinen schwarzen, öligen Haaren und der
sich vor Sonnenbrand pellenden Gesichtshaut. Einen Spie96
gel hatte es beim Barbier wohl nicht gegeben; ich klärte
ihn nicht auf, sondern hielt ihm wortlos den Bettlakenwust
hin, den er sich wieder um das rechte Bein wickelte. „Fahr
du“, befahl er weinerlich bis aggressiv bzw. aggressiv bis
weinerlich. Meine Augen brannten wie Pfannen, als ich
den Jeep anließ. Die Lederfläche meines Sitzes kochte, er
schien an meiner sandigen Jeans zu kleben. Hinter dem
grünen verbeulten Jeep liefen bestimmt vierzig Kinderfüße
her, ich sah ein zerlumptes Mädchen im zerkratzten
Außenspiegel, das uns Steine und Sand hinterherwarf. Sie
traf uns nicht mehr und traf mich doch.
Wir waren nicht direkt nach El Alamein gefahren. Wider
Erwarten zeigte sich mein Vater dankbar ob meiner Begleitung und erklärte sich zu einem „Sixpack Kultur“, wie
er es nannte, bereit. In Alexandria, dem Hort aufmüpfiger
Wissenschaftler und versunkener Bibliotheken, gerieten
wir als Erstes in eine Beerdigung. „Können die nicht auf
dem Friedhof rumhüpfen wie jeder normale Mensch?“,
fragte mein Vater und fixierte, bis auf den kleinsten Nerv
angespannt, eine schreiende Frau, die sich auf unserer Motorhaube aufstützte. Sufis taumelten zu Trommelklängen,
die in den klaustrophilen Gassen wie Peitschenschläge widerhallten, in eine Ekstase hinein. Wir schwitzten, als ob
wir es wären, die sich bewegten. Instinktiv krallte ich meine Finger um das Lenkrad. Ich fragte mich, ob das tatsächlich alles Verwandte waren oder professionelle Klageweiber, ich hatte mal gehört, dass es so was noch irgendwo
gab, es erinnerte mich dunkel an Martial-Epigramme.
Männer waren weit und breit nicht zu sehen. Mir gefiel
diese laute Art der Trauer nicht. Aber ich spürte, dass es
eine gesunde Art der Trauer war – man ließ sie zu wie den
Hunger. Und irgendwann hatte man gegessen. Wir kamen
fast eine Stunde weder vor noch zurück.
El Alamein hatte den Gesichtsausdruck eines Sandkorns.
Es wirkte mit allen anderen Dörfern hier völlig austausch97
bar, wie ein Hustenbonbon unter anderen. Von Alexandria
aus waren es ungefähr 120 Kilometer Fahrt gewesen, mein
Vater hatte sich dreimal übergeben, er hatte in einer Raststätte Leitungswasser getrunken, was er natürlich bestritt.
„Für wie dumm hältst du deinen Vater? Bloß, weil ich
nicht studiert habe wie du? Ha!“ Leichenblass spie er beim
„Ha!“, wie um seine Worte Lügen zu strafen, auf die einzige Landkarte, die wir von dem Gebiet hatten. Ich konzentrierte mich auf das fremde Straßenlabyrinth um uns herum,
es war schlicht ein Wunder, dass wir Alexandria verlassen
konnten, ich heftete mich an die Fersen eines französischen Lkws und fuhr mir über die entzündeten Augen. Die
arabischen Zahlen auf den wenigen Richtungsschildern
waren im Vorüberfahren nahezu unmöglich zu entziffern,
die sprunghaften Autos schienen sogar aus dem Boden zu
hupen, wie ein Gräberchor. Malesch, Mädchen. Malesch
ist freundliche Resignation.
Als ich von der Abschlussfeier am Campus zurück in
meine WG am Josephsplatz gekommen war, ging das Telefon in meinem Zimmer. Ich beachtete es nicht und ging
zu Welf in die Küche. Er räumte die undichte Geschirrspülmaschine aus und sah mich missbilligend an, als er
mich bemerkte. Ich küsste ihn, die Heimat.
„Dein Telefon geht schon den ganzen Nachmittag.
Nonstop! Geh ran, sonst erschlag ich den Typen noch.“ Er
stürmte in sein Zimmer und drehte laut den Schlüssel
herum. Dann übte er entnervende Tonleitern auf dem
Saxophon.
Julia, unsere Mitbewohnerin, schaute mit nassen Haaren
aus dem Bad heraus. Ich trank einen Rest Milch aus dem
Tetrapak auf dem Küchentisch. „Das interessiert mich jetzt
aber auch, wer das ist.“
Seufzend ging ich in mein Zimmer, dessen Boden man
unter dem stabilobunten Bücherkopienteppich nur erahnen
konnte.
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„Ja?“
„Ich bin’s. Wo treibst du dich eigentlich rum am
helllichten Tag? Wieder mit diesem Welf oder einem von
deinen ergebenen Sklaven, von denen mir deine Mutter
erzählt hat?“
„Mein Vater“, flüsterte ich Julia zu, damit sie verschwand.
„Ach sooo“, meinte sie und tropfte ins Bad zurück.
„Was ist los, weshalb rufst du an?“
Ich hatte gerade in der Großen Aula mein Diplomzeugnis in Informatik erhalten, ein sehr gutes für die hiesige
Universität, aber das würde meinen Vater so interessieren
wie Diabetikerzwiebackrezepte. Ich vergaß augenblicklich,
dass ich auf etwas stolz sein konnte. Als hätte ich gerade
einen Fußball in das Klofenster der Polizei gekickt, so
fühlte ich mich.
„Ich fahr übermorgen runter. Du weißt schon.“
Was wusste ich? Was? Nachfragen würde ich nicht.
„Afrika. Ich hab’s Bernd Weihnachten geschrieben.
Zwei Flugtickets hab ich schon gekauft, von MünchenRiem ab.“
Afrika und Bernd, Bernd und Afrika, die Wörter tauchten auf wie rote Bojen, die man vergeblich unter Wasser
drücken wollte. PLOPP. Afrika. PLOPP. Bernd. Als ich
auflegte, hatte ich zwei voll gekrakelte DIN-A4-Seiten,
einen abholbereiten Vater (Dienstag, 12:30 Uhr, Bahnhof
München-Pasing, PÜNKTLICH!!) und seit fünf Jahren zum
ersten Mal wieder mit diesem abholbereiten Vater gesprochen. Über Bernd und Afrika, die unversinkbaren Bojen.
„Wie lang willst du noch in Kairo bleiben?“ Wir hatten
gerade das Ägyptische Museum besichtigt, beziehungsweise versucht zu besichtigen. Total überfüllt. Im abgedunkelten Mumiensaal sah ich von den meisten Toten in
den mit Edelgas gefüllten Glassärgen nur ein Stück Laken.
In der Früh waren wir relativ ziellos durch die nördliche
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Totenstadt geschlendert, Zehntausende von Menschen lebten hier in den Oberbauten der noch intakten Grabanlagen,
blühendes Leben in den Friedhöfen, wenigstens hatten sie
Strom und Wasser. Ich schämte mich, dass ich in dem
Elend rumspazierte wie im Englischen Garten. Ganz
Ägypten kam mir bald wie ein einziges Grab vor, die
darauf herumhetzenden Menschen wie einstudierte Totentänzer. Ich hing mit meinem Vater an einem der Busse, mit
denen in Kairo täglich vier Millionen Menschen unterwegs
waren, in einem hydraähnlichen, feuchtwarmen Menschenknäuel an der Tür, der ganze Bus schien nach rechts
abzudriften. Ein Mal hatte der Fahrer gehalten und ein parkendes Auto weit zur Seite geschoben, vorsorglich schien
hier niemand die Handbremse anzuziehen. Eine verfallene
Straßenbahn rumpelte vorbei, sie fuhr um ihr Leben. In der
Querstraße trieb man eine Ziegenherde heim, man hörte ab
und zu ein zartes Glockengebimmel, wie aus einer anderen
Zeit. Ich wollte wenigstens Pyramiden sehen, bevor wir zu
Bernd fuhren. Etwas Erhebendes vor dem Erniedrigenden.
„Heute noch, dann geht’s nach Alamein. Wir sind früh genug da.“
Wir mieteten uns Pferde, die erstaunlich günstig waren,
mein Vater, der gewöhnlich bereit war, zwei Stunden über
Preise zu verhandeln, ließ den Mund zuschnappen wie ein
satter Karpfen. Ich suchte mir in dem Überangebot eine
ruhige Stute aus, die weit ausschritt und offensichtlich
gesund war. Es war ein großartiges Gefühl, wieder im Sattel zu sitzen, die Dunstglocke Kairos hinter sich zu lassen,
die geometrische Klarheit der Pyramiden von Giseh schemenhaft am Horizont. Danach wollten wir noch zur Pyramide von Sakkara reiten, drei Stunden schweißtreibender
Ritt ungefähr. Zehn Minuten flog ich nur dahin, an der
völkerbewanderten Cheopspyramide vorbei. Als ich mich
nach einem strengen Galopp umdrehte, erkannte ich meinen Vater in einiger Entfernung auf dem schwarzen Wal100
lach, den er sich ausgesucht hatte. Er buckelte und stieg.
Zögernd kam ich zu ihm zurückgeritten, der Wallach hatte
ihn schon abgeworfen und ich eine Heidenmühe, das nervöse Tier am Halfter zu fassen zu kriegen und zu beruhigen. Das Maul des Tieres war blutig gerissen, der Vorgänger meines Vaters musste ihn böse herangenommen haben.
Flüssigkeit tropfte auf den Sand, das Pferd hatte panisch
geweitete Augen und versuchte zu steigen, ich konnte
mich kaum im Sattel halten. Nebenbei musste ich eine
Schar heranstürzender Dragomanen abwimmeln, die
Tausend-und-Eine-Nacht-Märchen auf Lager hatten, gegen
Bakschisch natürlich. Mein Vater rappelte sich fluchend
auf und hielt sich den Rücken. „Scheißgaul!“ Die Sphinx
von Giseh hatte das alles schon tausend Mal gesehen. Sie
grinste. Um uns herum traf man bereits Vorbereitungen für
die Light and Sound Show.
In der S-Bahn nach Riem redeten wir nur das Nötigste.
Wir wussten beide, wie wir das Ganze einzuordnen hatten.
Das war eine alte Rechnung. Nach der Fahrt, gleich wie sie
ausging, gab es nichts mehr zwischen uns. Meine Mutter
würde als Verbindungsglied nicht mehr genügen. „Sie sind
Vater und Tochter? Wie Sie sich ähnlich sehen! Und Sie
unternehmen gemeinsam eine Reise? Ist das nett!“ Wir
sahen uns tatsächlich mehr als ähnlich. Die dicken dunklen
Haare, die braunen Augen, die gleichen kleinen Ohren, das
undurchsichtige Lächeln. Mein Vater wirkte, wenn er seinen Bart nicht getragen hätte, sogar weiblich. Natürlich
störte ihn das nicht unerheblich. „Was macht dein Studium?“ Mein Vater sprach zu seiner tarnfarbig gefleckten
Sporttasche, aus der er eine Bifi fischte. Ich ließ den Blick
aus dem Fenster wandern, München noch einmal umknabbern. Zwei Wochen musste das reichen. „Passt schon.“
„Die Bifis werden auch immer kleiner.“ Er verschlang ein
großes Stück.
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Mein Vater bekam einen Schuss ins Bein, als er Bernd
aus der Hütte zerrte. Er schrie auf, es blutete so sprudelnd
als würde er Marcomar nehmen, der Knochen war nicht
betroffen. Ich packte die zerwühlten Bettlaken von der
Pritsche und zerriss sie in Streifen, dass mir die Hand
brannte. Irgendwo hörte ich ein Auto wegfahren. „Drück
das drauf und lass Bernd endlich los!“, schrie ich meinen
Vater an, der unter Schock zu stehen schien. Er rührte sich
nicht, gab keinen Laut von sich, starrte auf Bernds Nacken. Plötzlich kamen vier Polizisten aus den Sträuchern
und packten meinen Vater und Bernd. Bernd ließen sie
gleich wieder fallen. Mit mir wussten sie anscheinend
nicht, was sie machen sollten. Blut war an meinen Händen.
Einen Polizisten kannte ich von gestern, er hatte an der
Küste eine amerikanische Schwimmerin verhaftet, die
einen Bikini trug. Er hatte eine stacheldrahtartige Narbe,
quer über das ganze Gesicht. Unverwechselbar. Er sah
mich an wie eine Wespe im Bierglas. Ich dachte, ich sehe
die Sonne nicht wieder.
Wir waren ungefähr acht Kilometer westlich von El Alamein und fuhren an dem deutschen Ehrenmal für die Gefallenen des Zweiten Weltkrieges vorbei, ein Monolith auf
einem Hügel. „Und das ging 1942 nur drei Wochen, wenn
du dir das vorstellst, was das für ein Abschlachten in
kürzester Zeit war – unfassbar! Rommel – Montgomery,
beides ausgezeichnete Generäle ... ausgezeichnete Generäle ... hat Hitler nicht honoriert, was Rommel geleistet hat
in dieser Hölle.“ Mein Vater schien zwischen Schwärmen
und Schrecken zu schwanken. Er hatte sich erstaunlich
schnell von seiner Diarrhöe erholt. Ich sah ihn von der
Seite an. „Rossnatur“, sagte er, meine Gedanken erratend.
Ich hing den linken Arm leichtsinnig aus dem Fenster, die
Finger klebrig von einer Ananas, streifte das bügeleisenheiße Blech der Seitentür. Wir passierten auf dem Weg
nach Alamein Friedhöfe über Friedhöfe über Friedhöfe
102
von alliierten und deutschen Afrikacorpssoldaten, an
einem hielten wir und blieben kurz an ein paar Kreuzen
stehen. Lange konnte man das Stehen nicht aushalten, die
Luft war knochentrocken. Das Wasser lief mir den Rücken
hinunter, in Richtung Erich Günther, Jahrgang 1919 – ich
ging in die Hocke, alles flirrte vor meinen Augen. Das
langärmelige Hemd umklebte die Wirbelsäule wie ein verrutschtes Pflaster, die geschlossenen Lederschuhe schienen
zu schmelzen. Der Wasserkanister. – Mein Vater zog mich
hoch, er konnte es wohl gar nicht mehr erwarten, Bernd zu
sehen, Bernd zu imponieren, Bernd zu überraschen, Bernd
zu danken, Bernd anzubeten, Fliegen umschwirrten uns.
Erich Günther, leb wohl! – Eine Schlange sonnte sich auf
einem glatten Begrenzungsstein.
Bernd hatte es hinter verriegelten Türen getan, neben
ihm lief ein kleiner markenloser Tischfernseher. Es stank
erbärmlich. Die zwei Jungen, die uns zu Bernds Hütte
geführt hatten und jetzt kreischend Bakschisch einforderten, waren von dem Anblick nicht im Mindesten erschrocken und liefen lachend davon. Man sah ihn durch das
Seitenfenster, seit ein paar Wochen musste er dort in dem
Taustück hängen. Ich hatte so was noch nie gesehen. Ich
hatte noch nie tote Augen gesehen, tote Haut. Ich drehte
den Fernseher ab, mein Vater schnitt das dicke Seil mit
einer Machete durch, der leblose Körper polterte zu Boden
wie eine Marionette, deren Schnüre man losließ. Das Gesicht hatte die lehmige Farbe der Wände angenommen, ich
erkannte es nicht mehr. Das war nicht mehr der NürnbergBernd. Er hatte lange, verfilzte graue Haare, ein sackähnliches Hemd, einen dicken weißen Bauch, der sich gegen
die braun gebrannten Arme abhob. „Fotografier ihn“, sagte
mein Vater leise. Ich fotografierte mit zitternden Händen.
Würde bestimmt ein Spitzenfoto werden. Er sammelte ein
paar von Bernds Sachen ein, darunter einen Kompass und
militärische Abzeichen, Barometer, Blechgeschirr. „Was
103
hast du mit ihm vor?“ „Begraben, was sonst.“ Was sonst,
klar. Er legte einen Arm um Bernd und schleifte ihn durch
die aufgesprengte Tür. Sofort fielen Schüsse.
Die Einheimischen kamen zusammengelaufen und redeten laut auf die Polizisten ein. Sie gestikulierten mit einer
Leidenschaft, als wäre das Letzte, was sie taten, den Tathergang zu schildern. Ich war froh, dem Quartett nicht
allein gegenüberstehen zu müssen Froh? Heilfroh! Mein
Vater stöhnte und glitt mit schmerzverzerrtem Gesicht zu
Boden. Ich war unfähig, ein Wort zu sagen, einen Zeh zu
bewegen, die Zunge, den Kopf, wusste nicht, wen ansehen,
wohin mit den Händen, wie atmen. Schließlich trat eine
schwarz umhüllte Frau auf mich zu und wischte mit einem
Stück Zeitung das braun verkrustende Blut von meinen
Händen. Noch nie war ich für eine Geste so dankbar gewesen. Ein dicker Polizist schleifte den noch dickeren Bernd
umstandslos zum Polizeiauto, die Fersen hinterließen auf
dem weichen Boden serpentinartige Schleifen. Er wurde in
den Kofferraum gerollt, ein schwarzer Plastiksack über
ihm ausgebreitet. Zwei Polizisten schoben uns ununterbrochen schimpfend zum Jeep, ich ließ mich hinter den Fahrersitz fallen wie erlegtes Wild, mein Vater hievte sich
hoch, alle Adern in seinem Gesicht waren bläulich hervorgetreten. „Bernd ... Was passiert jetzt mit Bernd?“, röchelte er. „Er war mein Freund ... er hat mich nicht im Stich
gelassen!“ Den letzten Satz brüllte er. Ein Polizist flößte
ihm Schnaps ein, den er sofort ausspuckte. „Leave Egypt,
soon as possible“, das verstand ich noch. Dann wurde mir
für Sekunden schwarz vor Augen. Ich hatte immer noch
den verendenden Geruch in der Nase. Die Polizisten hatten
es nicht gemerkt, sie diskutierten heftig untereinander. Als
ich den Motor anließ, waren sie mit ihren Gedanken wohl
schon bei der Ausschlachtung von Bernds Hütte – der
weltberühmten Wetterstation von El Alamein. Heiter-wolkige Aussichten. Mein Vater brüllte wieder. Zum ersten
104
Mal sah ihn weinen, verzweifelt, wie ein eingesperrtes
Tier. Ich musste mich zwingen, ihm über den Kopf zu
streichen. Vielleicht würde Bernd ja einen Platz auf dem
Soldatenfriedhof finden. Neben Erich Günther, zum Beispiel. Erich Günther. 23, wie ich. Ich gab den Einheimischen alles aus unserm Jeep, das mir entbehrlich schien.
Ein jüngerer Polizist kniff mir in die Wange. „Malesch,
German girl. El Alamein is no good place for Germans.
Remember?“ Ich hörte ihr Lachen noch kilometerweit.
Krankenhaus, Restaurant, Autovermietung, Flughafen.
Im Bus wurde mein Vater von seinem Sitznachbarn zu ihm
nach Hause eingeladen, was er nur mit einem Kopfschütteln quittierte. Das Komische am Ramadan war, dass man
nach Sonnenuntergang erst recht prasste. Nach Hause. Ich
hatte nur noch ein kurzärmeliges Hemd gehabt, das sauber
war. Arme als Sexsymbol. Bis zum Flughafen würde das
gehen, hoffte ich. Neben mir saßen Frauen. Eine hatte
Schischas, Wasserpfeifen, gekauft. Wieder rollten wir
durch diese Stadt, die ein Ameisenhaufen war, in dem man
es nur zwischen A und B, aber nie in A und B, aushielt.
Am Flughafen Kairo bat mich in der Damentoilette eine
ältere Frau um Kaugummi. Überall waren Löcher in den
Wänden, durch die man Einsicht hatte, man brauchte Kaugummis oder Datteln zum Verstopfen. Auf der Kaugummipackung waren Bilder der Papyruspflanze zu sehen, das
Wappenzeichen der Pharaonen. Eine halbe Stunde bis zum
Einchecken. Ich konnte es noch gar nicht glauben. Ein
Ägypter saß neben meinem Vater auf der Wartebank und
erzählte detailliert von einem Film, den er neulich im Kino
gesehen hatte. Ägypter sind filmbesessen. Mein Vater
kramte in seiner Sporttasche nach Taschentüchern und
nickte abwesend. Vor ein paar Tagen hätte er den Mann
neben ihm wohl zum Teufel gejagt. „Na?“, fragte er, als er
mich sah. „Amun sei mit dir“, lächelte ich gequält. „Am
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besten auch noch Anubis und Osiris.“ Der Ägypter verstummte.
Ich hatte Welf nicht erreichen können, wahrscheinlich
hatte er ein Bigbandkonzert oder war beim Basketballspielen; ich hinterließ ihm eine Nachricht, dass wir um 23:30
Uhr in München-Riem landen würden und es wäre Malesch, wenn er uns nicht abholen würde. Eine braun gebrannte Frau im Flugzeug meinte, dass wir alle zu beneiden wären. „Wer weiß, wann man wieder gefahrlos nach
Ägypten fliegen kann?“ Von gefahrlos konnte keine Rede
sein. Jedenfalls nicht jenseits der Clubhotelzäune. Jemand
rief über den Gang. „Und am Strand die Teerklumpen an
den Füßen?“ Mein Vater sagte die ganze Zeit so gut wie
gar nichts. Ich war mir sicher, dass er das, was wir erlebt
hatten, meiner Mutter nicht erzählen würde. Niemandem,
er würde es immer mit sich tragen, wie Steine im Schuh.
Als wir Tomatensaft tranken, sagte er plötzlich: „Vier
Wochen früher. Vier Wochen bloß.“ „Was meinst du?“ Ich
schlief beinahe beim Trinken ein. „Wenn wir Bernd vier
Wochen früher besucht hätten.“ Er war dabei, sich in einen
Schuldkomplex hineinzureden, hineinzudenken, hineinzuflüchten, wahrscheinlich schon die ganze Fahrt von El
Alamein. Ich reagierte nicht. Man konnte nie quitt sein. So
einfach kam man nicht davon.
Welf lachte acht Minuten am Stück, samtig wie sein Saxophon. „Fang mich!“ Wir rannten wild am Chinesischen
Turm vorbei, die Glöckchen blitzten feucht in der Sonne,
es war noch ruhig, 9:00 Uhr. „Keine Lust auf das Aristoteles-Seminar? Hmm?“ Welf konnte man alles erzählen. Ihn
ekelte es regelrecht körperlich an, Dinge weiterzuverbreiten. Alles, was an die Außenwelt kam, ging durch ein engmaschiges Sieb. Nächste Woche hatte ich meinen ersten
Arbeitstag als Informatikerin bei einem Münchner Versicherungskonzern. Ich freute mich nicht auf die Arbeit, aber
auf den geregelten Tagesablauf. Wie lange Letzteres
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anhalten würde, wusste ich natürlich nicht. „Deine Mutter
hat gestern übrigens angerufen, als du in der Metro warst“,
keuchte Welf. Er hielt sich an einem Stoppschild fest. „Du
sollst vorbeikommen, wenn du Zeit hast.“ Meine Mutter.
Das Seitenstechen ließ nach.
Flugzeuglandungen waren immer noch Kunst. Mein
Vater und ich taumelten Halt suchend in den Shuttlebus,
Afrika in den Beinen. Wir hatten nicht viel Gepäck, es
ging am Förderband recht schnell. Schon stand Welf da,
unbewegt wie ein Baum. Mein Vater gab ihm die Hand,
was mir erst im Auto ins Bewusstsein kam. Was war da
passiert. Welf fragte gar nichts, er drückte mich an sich
und trug mich mehr zu seinem Golf, als dass ich ging.
„Entschuldige, dass du so spät anrücken musst, Welf“,
murmelte ich. „Wir haben einen Flieger früher genommen.“ Er lächelte. Ich schlief im Wagen sofort ein. Meine
Wimpern schienen Gewichte zu stemmen. Als ich aufwachte, rüttelte mich mein Vater an der Schulter, wir standen vor seiner schmiedeeisernen Haustür in Polling. Licht
brannte unangenehm hell. Ich stieg aus, Welf machte von
innen die Tür zu. Mein Vater hatte das Gepäck schon in
der Wohnung und stand verloren am Gartentor herum. Ja.
Ja. Die Rechnungen, die alten. Im Rückspiegel sah ich ihn
seine Sporttasche umarmen.
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Mila Carnel
Fräulein Afrika
New York, 19.7.53
Liebe Tilda,
dann will ich dir also noch einmal schreiben, bevor ich
nach Deutschland komme, und will versuchen, deine Fragen zu beantworten. All die Zeitungsausschnitte über mich
hast du gesammelt! Ich werde dich in Berlin besuchen,
vielleicht magst du ja mit an den Rhein kommen; warst
mir immer eine gute Freundin und ich wüsste dich gerne
beim Festakt an meiner Seite, wenn Herr Adenauer mich
um meine Arbeit ehrt.
Wie das also zuging?
Von dem Fred musste ich weggehen, als er sich mit seiner Frau aussöhnte. Sie war plötzlich wieder da, nachdem
sie ihn mit so viel Drama verlassen hatte. Er machte mir
eine „anständige Erklärung“, wie er es nannte, damit jeder
wusste, woran er war. Ich wusste es dann doch nicht, bin
viel in den Straßen von Berlin umhergezogen. Beim Hinterhof-Karl konnte ich beizeiten unterkommen. Die Stadt
war mir wie eine große, fröhliche Familie – die mich aber
verstoßen hatte. Da war in einer Kirche eine Filmvorführung von der „Mission der Weißen Väter“, gab meine
letzten Groschen, es sei eine Gabe für die Mission, hieß es
und sah den Film. So dunkel die Menschen und so anders
und so wenig am Leib und doch so stolz. Einer der Missionare mit weißem Bart und Tropenhelm sprach anschließend davon, dass sie immer gesunde Menschen christlicher Gesinnung suchen für Afrika, da wusst’ ich: Ich will
fort! Und geh ganz höflich zu dem Rauschebart und frag
ihn: Was ist ihm eine “christliche Gesinnung“ und was
macht man da in Afrika? Treu im Glauben soll man sein
108
und eine gute Ehefrau und ein Beruf sei wichtig, und ich
denk: Das schaff ich ihm alles und er schafft mich auf ein
Schiff nach Afrika.
Ich wusste plötzlich, was ich all die Jahre in Berlin
gesucht hatte: Die Aufregung, was von Abenteuer, die
Menschen und ich in allem. Ich hörte noch den ganzen
Abend die Trommeln, die sie von einer Walze abgespielt
hatten, und das war dann mein Puls, meine Unruhe. Ich
sprach mit Karl darüber und sagte ihm: „Du willst mich
doch, dann lass mich deine Frau werden und wir gehen
nach Afrika.“ Das war ihm nur zum Lachen, er wollt in
seinem Hinterhof bleiben, bei seinen Knöpfen und
Kaninchen und sagte mir, ich sollte doch in den Zoologischen gehen, da wär oft Völkerschau. Ich sag ihm, er hat
einen Tag zum Überlegen – ich käm nach Afrika! Ich
schrieb dem Fred einen Brief mit Lebewohl und so. Und
denk dir: Am nächsten Morgen ganz in der Früh ist der
Fred plötzlich da, schlecht sieht er aus, meinen Brief hat er
dabei, und sagt, ohne mich kann er dann auch nicht sein.
Und überhaupt, was wären das für Zeiten: Alle wollten
einem die Welt erklären, aber sagen doch nur warum sie
schlecht ist. Viele Parolen gibt es, aber keine Arbeit.
„Elli, ich möchte mit dir nach Afrika!“
„Was sagt denn deine Frau dazu?“
„Die sagt, sie erstickt an meinen Ansprüchen und wir
würden aneinander doch nur unglücklich werden.“
Und so geben Fred und ich das christlich gesinnte Paar
vor den weißen Vätern, einen Trauschein hat uns der Karl
gemacht und weil der Fred Zeichner ist, sagen sie, er soll
Bibelbilder malen; und ich kann Maschine schreiben, das
ist gut für die Verwaltung, denn je wilder das Land, desto
wichtiger die Verwaltung. Bald sind wir in Bremerhaven
und auf dem Schiff; ich habe keinen zum Hafen kommen
lassen, wäre ich doch vielleicht schwach geworden, hätte
ich ihre Tränen gesehen. Als wir auf hoher See sind und
109
die Wellen uns schwanken lassen, weiß ich: ich bin jetzt
kein Korken mehr, der in der Stadt umhergesprudelt wird,
jetzt wird alles anders.
Wir kamen nach Daressalam. Mit uns waren BethelMissionare und solche von den Weißen Vätern, und dort
wo der Zug seinen letzten Halt hatte, war eine Musikkapelle in weißen Uniformen angetreten und spielte entschlossen aus schwarzen Gesichtern einen Marsch. Am
Rande des Bahnsteigs standen Eingeborene, dürftig mit
Webtuch bekleidet, zwei auch mit Raubtierfell; sie standen
dort auf lange Stöcke gelehnt, den Fuß des einen Beins am
Knie des anderen Beins; standen dort wie seit Zeitaltern,
sahen Züge kommen, Deutsche, Engländer, Missionare
und jetzt bin ich da und es ist das Aufregendste in meinen
Leben, aber ihnen ist das eins.
Die Hütten der Einheimischen sind rund, unser Haus ist
rechteckig und hat eine Tapete aus Krabbeltierchen, vor
denen ich zunächst einen Graus hatte. Dann bekamen wir
ein Hausmädchen, das zur „Agnes“ getauft war und nie
lächelte und seine beiden kleinsten Kinder mitbrachte,
davon eines stillte, das sollte ich ihr abgewöhnen, sagten
die anderen Weißen, aber wie soll man einer Mutter das
Nähren abgewöhnen? Bei mir ist es ja nichts geworden mit
Kindern. In Berlin habe ich mir nie Gedanken darüber
gemacht, aber hier in Afrika, da war doch alles mit Kindern; und Fred und ich waren uns sehr nahe, obwohl es zu
Anfang eine Gewöhnung war, weil unser Haus keine Fenster hatte, nur Tücher, und die Türen konnte man nicht absperren und da spazierten Hühner und Hunde und Ziegen
an unserem Bett vorbei.
Aber wenn ich dann sehe, wie die Frauen sich quälen mit
dem Kinderkriegen, hab’ ich sie nicht beneidet, auch unsere Agnes war immerzu schwanger und ihr Mann wollte
nicht, dass sie zu Weißen geht, sie verderben die Frauen
110
und die Kinder, sagte er, aber Agnes kümmerte das so
wenig wie die Belehrungen über ihren nackten Busen.
Mit mir war die erste Schreibmaschine hierher gekommen. Ein jedes Mal, wenn ich auf ihr tippte, liefen die
Einheimischen am Fenster des Amtsraums zusammen. Mir
erklärte jemand, dass sie das Geräusch für die Nachricht
halten, so wie bei den Trommeln und also dastanden, um
etwas zu verstehen. Sie müssen mich für sehr dumm
gehalten haben, weil mein Lärm keinen Sinn für sie machte. Ich habe zuerst in der Missionsverwaltung gearbeitet,
da hatte es noch viele Deutsche, auch wenn das Land jetzt
den Engländern gehörte. Ich musste Anzeigen tippen,
wenn einer der Eingeborenen zu lange Hosen trug, denn
sie durften nur bis zu den Knien gehen. Nur die Weißen
durften lange Hosen tragen. Aber die Anzeige wegen dem
nackten Busen von Agnes habe ich nicht geschrieben. Sie
hatte ja ein Kind davor, habe ich gesagt, das ist so gut wie
angezogen.
Und dann war da also Mr. L., ein Deutsch-Amerikaner,
der am Ufer unseres Sees nach Knochen grub und er kam
immer wieder zu mir: „Sehen Sie, Fräulein Elli, das ist ein
Stück von einem Kiefer und das von einem Wirbel und das
von einem Schädel.“ Wo denn all die toten Menschen herkommen, wollte ich wissen. „Hominiden“, sagte er und
dass Mensch und Affen gemeinsame Vorfahren hatten und
danach suchte er. Die Missionare meinten, es sei Sünde, so
etwas zu behaupten, und es sei Sünde, dass ich mich mit
Mr. L. abgebe, und dass sie von mir enttäuscht wären. Sie
haben mich entlassen, aber das machte nichts: Ich fing an,
für Mr. L. zu arbeiten; er brauchte wen, der seine Aufzeichnungen abtippte. Anfangs verstand ich gar nicht, was
ich da schrieb, war ja alles in Englisch, aber mit der Zeit
lernte ich etwas von der Sprache. Mr. L. sagte immerzu,
ich sei begabt, und das hat noch keiner zu mir gesagt, und
er erklärte mir alles unermüdlich und fragte mich auch:
111
„Miss Elli, passt das zu den Knochen von gestern?“ Und
ich nummerierte und sortierte alles in Kästchen, saß bald
auch im Sand und siebte und wo ich ihn früher wegen jedem Kieselstein rufen musste, da konnte ich die Knochen
dann selbst herausfinden. Der Fred hat auch für ihn gearbeitet, denn vieles musste gezeichnet werden, der Fundort,
die Umgebung, aber dann bekam Fred Fieber und starb.
Ich schrieb es seiner Frau und wollte die Leiche nach
Deutschland schicken, aber da war inzwischen der Krieg
ausgebrochen und da einen Sarg hinzuschicken, wäre doch
wie Eulen nach Athen gewesen.
Dann brachte Agnes ihren Mann um. Sie kam zu mir,
Blut auf dem Busen, ein Kind auf dem Arm, das andere an
der Hand. Sie musste weg wegen der Familie ihres Mannes, die sonst Rache nehmen würde. Wegen der Behörden
hatte sie keine Angst, die wären jetzt mit dem großen
Krieg beschäftigt, die kümmere es nicht, wenn ein Bantu
den anderen umbringt. Und ich dachte mir, sie ist doch so
gescheit und viel zu schade zum immer nur Kinderkriegen
und Putzen und Kochen und es tat mir Leid, dass sie in die
Berge gehen musste.
Und dann ging Mr. L., weil es ihm zu unsicher wurde.
Ich beschloss zu bleiben. Die Engländer luden mich immer
wieder vor, weil sie befürchteten, ich sei eine deutsche
Spionin. Einmal durchsuchten sie alles und brachten die
Knochen durcheinander und wie sie sahen, dass ich geduldig alles wieder sortierte, wurden sie sehr höflich, nannten
mich eine Forscherin und ließen sich alles erklären. Viele
Tage habe ich dann am Seeufer zugebracht und die Knochen gesucht. Manchmal kam Agnes herunter und half mir
mit dem Essen und brachte mir viel bei über das Wetter
und die wilden Früchte und die Raubtiere, die am Wasser
besonders gefährlich sind.
Nach dem Krieg kehrte Mr. L. zurück und als er sah, was
ich alles gesammelt hatte, kamen ihm die Tränen – und na112
türlich, weil ich gesund und lebendig war. Er machte sich
an die Auswertung und stellte fest, dass es zwei Skelette
waren, und das wurde eine Sensation. Er nahm mich mit
nach Kapstadt und telegraphierte in alle Welt und als er in
die USA sollte, um die Funde zu präsentieren, sagte er, ich
müsse mit als seine Assistentin! Was hatte ich eine Aufregung, weil ich dachte, man merkt doch, dass ich nichts
gelernt habe, und dann nennen sie mich eine Betrügerin.
Aber alle wollten mit mir sprechen und trotz meines
schlechten Englisch nannten sie mich ein „Fraulein-Wunder“ und immer wieder musste ich ihnen von Afrika erzählen. Es kam ein Foto von mir in die Zeitung, wo ich den
rekonstruierten Schädel halte und auf derselben Seite war
eins von Ingrid Bergman und wie ich das sah, dachte ich
mir, jetzt bin ich eine richtige Berühmtheit geworden mit
den alten Knochen. Mr. L. sagte, es wären die Gebeine
von einer Frau und einem Mädchen, und abends beim
Einschlafen habe ich mich oft gefragt, wie mag ihr Leben
wohl gewesen sein? Ich versuchte mir vorzustellen, wie sie
gelebt haben, was sie da am See gemacht haben, welche
Vorstellung sie vom Leben hatten und ich fragte mich, ob
jemand irgendwann einmal meine Knochen finden und
darüber philosophieren würde.
Wir kehrten mit einem ganzen Team nach Afrika zurück,
es waren Leute von der Universität, und ich sollte ihnen
erklären, wie man es anstellt, eine Ausgrabung zu beginnen, alles abzustecken und Buch zu führen. Dann fingen
meine Beschwerden an und als sich herausstellte, dass ich
operiert werden muss, bot Mr. L. an, alles in den USA zu
arrangieren. Aber es war eben mein Wunsch, zuvor noch
einmal nach Deutschland zu kommen und erhielt dann
auch die Einladung zur Ehrung wegen Forschung und Völkerverständigung.
Wie seltsam es sein wird, alles wieder zu sehen! Ich
freue mich auf euch weit mehr als auf den Empfang beim
113
Herrn Reuter. Und dann fällt mir ein, es war ja Krieg und
viele sind tot, wie meine Mutter. Und jetzt ist eine kleine
Stadt am Rhein Hauptstadt und ein gewöhnliches Mädchen
vom Rhein bekommt eine Ehrung.
Ich bin zuversichtlich, was meine Gesundheit betrifft,
ich habe hier eine Aufgabe, zu der ich zurückkehren möchte. Wir sehen uns in Berlin; ich schicke dir ein Telegramm
aus Bremerhaven. Viele Papiere muss ich mir noch beschaffen für Westdeutschland und die sowjetische Zone
und Berlin, du weißt ja: Je wilder das Land, desto mehr
Verwaltung.
In Liebe
Deine Elli
114
Keno tom Brooks
Briewe uit Namibia, #12 Bruder Johannes
Johannes saß auf dem nackten, festgetretenen sandigen
Boden seines Steinhauses. Das Haus stand in einer langen
gleichförmigen Reihe anderer Häuser, die wie die Glieder
einer ineinander verwobenen Kette vom Stadtrand Swakopmunds in die Wüste hinausreichten. Es bestand nur aus
zwei Räumen mit kleinen glaslosen Fenstern, die die Wüstenhitze in stetigem Luftstrom ins Haus ließen. Ein Regal
mit ein paar alten Töpfen auf den verstaubten Brettern, ein
schon lange nicht mehr benutzter Holzherd und ein paar
Decken waren alles, was Johannes besaß.
Den Slum der Armen, die Mondesa, konnte man direkt
von der einzigen Zufahrtstraße nach Swakopmund, der
„Kaiser-Wilhelm-Allee“, sehen. So hatte die Regierung
Häuser in der Mondesa errichten lassen, um den zahlungskräftigen Touristen nicht schon bei der Anfahrt den Urlaub
zu verderben. Die Armut wurde hinter Steinfassaden versteckt, aber die Menschen lebten nicht besser als vorher in
ihren Hütten aus Pappe und Blech. Johannes wohnte in der
7th Avenue, einer kleinen staubigen Sandpad, an deren
gegenüberliegender Straßenseite die neu angekommenen
immer noch ihre Hütten aus Abfällen und Unrat errichteten. Die Regierung duldete das, solange die Hütten nicht
fest gebaut waren, nur Pappe, Holz und anderer Abfall lose
zusammengefügt wurde. Regen gab es in der Wüste nicht.
Die Bauwerke mussten nur die Sonne des Tages mildern
und die Kälte der Nacht abhalten. Von Zeit zu Zeit kamen
Beamte mit einem Bautrupp und bauten wieder einen
Straßenzug mit zehn oder zwölf Häusern, rissen einige der
Unterschlüpfe und Hütten jenseits der 7th Avenue ab und
verschwanden wieder. Das Material ließen sie liegen, denn
115
ein Abtransport war nicht notwendig. Es fand noch am
gleichen Abend wieder Verwendung an anderer Stelle.
Es waren zu wenig Häuser für die vielen Menschen, die
durch die Wüste aus dem Inland kamen um hier, in dem
Touristenort an der Küste, ihr Glück zu machen. Und es
gab zu wenig Arbeit, zu wenig Wasser und zu wenig Geld.
Johannes schlug mit einem Stein auf eine kleine Batterie,
die vor ihm auf einem festen Teil des Bodens lag, aber der
Stein war brüchig wie Krokant und kleine Splitter bedeckten den Boden rund um die Batterie. Neben ihm stand eine
alte Plastikschüssel, verkratzt und dunkel, in der eine
sämige Flüssigkeit schwamm. Er hatte schon ein paarmal
hineingespuckt, denn Johannes wusste, dass viel Spucke
auch viel Alkohol bedeutete. Das Pombe hatte er gestern
schon aus Maismehl und etwas Zucker angesetzt. Jetzt
musste er nur noch die Batterie aufschlagen, damit die
Batteriesäure das Pombe stark machte. Stark wie den
Löwen der Wüste.
Neben Johannes auf dem Boden lag sein Sohn auf einer
alten, zerrissenen Decke. Schon seit Wochen konnte er
nicht mehr aufstehen. Er war krank. Vigs. Die Weiße
Krankheit. Er hatte schon früher davon gehört, aber alle
hier in der Mondesa sagten, die Weiße Krankheit sei nur
eine Erfindung der Weißen, damit sich die Schwarzen
nicht mehr vermehren, damit sie keine Kinder kriegen und
die Weißen das Land übernehmen können. Er hatte nie an
die Weiße Krankheit geglaubt; und auch die Frau, die
regelmäßig in den Ort kam und den Männern und Frauen
erklärte, wie sie ein Plastiktütchen über einen Holzstock
ziehen mussten um keine Krankheiten und keine Kinder zu
bekommen, war von der Regierung bezahlt. Sie steckten
unter einer Decke. Die Regierung, das wusste Johannes,
die Regierung bekam ihr Geld von den Weißen. Aus
Deutschland und aus Amerika. Außerdem hatte er schon
gehört, dass das mit dem Stock nicht funktionierte. Einige
116
hatten das ausprobiert, aber der Stock mit dem Plastiktütchen in der Ecke des Zimmers hatte nicht vor Schwangerschaft und Krankheit geschützt. Schlechter Zauber. Johannes glaubte lieber an die Fetischmänner. Die wussten einen
Zaubertrank aus Kuduschwänzen und Gepardenohren, aus
Pavianleber und Nashornhorn zu brauen. Aber es wurde
immer schwieriger, die Zaubertränke zu bekommen, weil
die Weißen immer besser aufpassten, die Tiere immer weniger und die Zaubertränke immer teurer wurden.
Johannes schlug mit seinem Stein fester auf die Batterie
und die Schweißnaht begann sich langsam nach außen zu
stülpen.
Ah, es würde ein gutes Bier werden, ein starkes Bier. Er
musste nur noch etwas Geduld haben, bis er diese Batterie
aufhatte. Nur etwas Geduld. Der Stein in seiner Hand
zerbröckelte fast vollständig unter dem nächsten Schlag
und er nahm einen anderen von dem Haufen, den er sich
zurechtgelegt hatte.
Jetzt lag sein Sohn hier auf dem Boden und konnte nicht
arbeiten. Seine Frau war schon lange mit einem Ovambo
aus der Stadt verschwunden. Der hatte Geld. Ovambos
hatten immer Geld. Sie waren die Regierung, saßen in ihren schwarzen Mercedeslimousinen mit Klimaanlage und
ließen sich durchs Land fahren. Das Geld, die Wirtschaftshilfe, die Entwicklungshilfe, die Zuwendungen, die sie für
Namibia erhielten, verteilten sie in ihren Familien und nur
wenig blieb für die Projekte, für die die Menschen in Europa überall sammelten und spendeten. Ah, die Ovambos aus
dem Norden. Eingewandert aus Angola, haben sie hier
heimlich die Macht übernommen, haben die Ureinwohner,
die Buschmänner wie Karnickel gejagt und wie Schweine
abgeschlachtet. Die Herero und Damara verdrängt, die
Mischlinge in Rehoboth ins Abseits gestellt. Ihre eigenen
Landsleute, Flüchtlinge vor dem großen Krieg jenseits der
Grenze hungerten in Lagern wie Osire und hatten keine
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Zukunft. Oh ja, die Ovambos, die Herren im Land. Die
Regierung. Schlimmer als die Weißen. Schlimmer als
Vigs.
Johannes hatte noch vier Kinder, zwei Söhne und zwei
Töchter. Aber die Töchter waren schon lange verschwunden, irgendwo in Windhuk, in der großen Stadt lebten sie
immer wieder bei anderen Männern, hatten selbst schon
Kinder. Aber alle waren krank. Die anderen Söhne arbeiteten beide in Swakopmund, reinigten Teller in Hotels und
Restaurants, leerten Mülltonnen, machten Hilfsarbeiten für
60 Namib Dollar im Monat. Davon konnten sie nicht
leben. Oft stahlen sie Dinge, die sie in der Nachbarschaft
für ein paar Cent, ein Bier oder etwas Dacha verkauften.
Wenn sie erwischt wurden, gingen sie für ein paar Tage
ins Gefängnis. Dann lungerten sie wieder in der Siedlung
oder in Swakop herum, bis sie irgendwo einen Gelegenheitsjob fanden. Manchmal gingen sie nachts auf Raubzug
und stahlen in den Gärten draußen in Vineta oder dem
Weißen-Viertel Kramersdorf Möbel und Wäsche. Aber das
war auch gefährlich, denn die Mauern um die Häuser hatten Glasscherben auf ihren Kronen und scharfe Hunde bewachten das Gelände. Da war es schon einträglicher, unvorsichtigen Touristinnen die Handtaschen zu stehlen. Oft
hatten sie so schon Hunderte von Dollars erbeutet, die aber
nie lange anhielten. Die Familie hatte viele Mitglieder und
alle wollten leben.
Wenn solch ein Geldsegen über sie hereinbrach, dann
stiegen sie in den Bus und fuhren nach Norden, hoch ins
Okawango, wo sie empfangen wurden wie Stammesführer.
Sie gaben ihr Geld großzügig aus, bezahlten Hochzeiten
und Feiern, unterstützten diesen und jenen, gaben hier und
da ein paar Dollar und fuhren, war das Geld verbraucht,
mit dem Bus wieder zurück nach Mondesa. Im Okawango
hielt man sie für reich, und nicht wenige versprachen jedes
Mal nachzukommen und auch ihr Glück zu machen.
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Johannes war gerade erst von solch einer Fahrt zurückgekommen. Sie waren zu einem Initiationsritus nach Hause gefahren und er, Johannes, der Bruder des Vaters des
Mädchens, der Onkel, Onkel Johannes hatte nach alter
Tradition das Mädchen entjungfern dürfen. Sie war zwölf
oder dreizehn Jahre alt und hatte feste Brüste und ein
schmales Becken. Oh ja, trotz seiner 35 Jahre war er kein
alter Mann, das Feuer brannte noch in ihm obwohl er sich
im Augenblick nicht wohl fühlte. Das wusste auch die
Frau von nebenan, die er manchmal, wenn das Pombe
besonders stark und er voller guter Geister war, besuchte.
Dann schliefen sie direkt auf dem steinigen, sandigen
Boden miteinander und er vergrub sich in die schwitzenden Fleischberge, besorgte es dieser schwarzen Mama wie
ein Zwanzigjähriger. Dann fühlte er sich wieder jung und
kraftvoll und unbesiegbar wie ein Löwe in den Sümpfen
des Okawango. Es störte ihn nicht, dass die Nachbarin
auch mit anderen schlief, mit allen, die ihr Essen und
etwas Dacha brachten oder einen guten Schluck Pombe.
Er war besser als alle anderen. Oh ja, er war ein guter
Liebhaber. Er hatte viele Frauen gehabt, viele Nichten ins
Leben gerufen. Er hatte groote Ballas und einen dicken
Piel, er würde noch lange die Frauen glücklich machen.
Nur in letzter Zeit fühlte er sich schwach, verließ das
Haus nur noch um sich vorne auf die kleine Mauer an der
Straße zu setzen. Aber das war bestimmt nur vorübergehend. Zu wenig zu essen. Jeden morgen Millipap mit etwas Fett und Zucker, manchmal, wenn Geld da war, gab es
auch Millipap mit Tomaten und Zwiebeln. Fleisch hatte er
schon lange nicht mehr gegessen. Außer bei den Festen,
aber dann wurde ihm auch immer schlecht von dem vielen
ungewohnten Essen und er musste sich oft übergeben.
Nein, nein, er würde schon wieder auf die Beine kommen
und seinem Piel Arbeit geben.
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Die Batterie vor ihm platzte mit einem leisen Knirschen
auf. Johannes warf den Stein zur Seite, nahm die Batterie
geschickt mit einer Hand auf und beförderte sie mit einem
Schwung in die Plastikschüssel neben ihm, damit kein
Tropfen der bräunlichen Säure verloren ging. Er leckte
sich die Lippen. Das würde ein gutes Pombe werden. Ein
Fest. Er würde damit hinübergehen zu seiner Nachbarin.
Sie würden trinken und irgendwann würde er sie fragen:
„Wil jy met my naai?“ Und sie würde ihn nehmen und an
sich drücken und er würde wieder in ihr versinken und
schwitzend und schreiend das Leben genießen. Er musste
nur noch Geduld haben, bis das Bier fertig war, bis die
Batteriesäure ihre Wirkung beendet hatte, bis das Bier
ordentlich schäumte. Dann ...!
Neben ihm stöhnte sein Sohn. Fiebrig und unruhig
wälzte er sich schwitzend auf der Decke. Johannes versuchte ihn zu ignorieren. Er konnte ihm nicht helfen, hatte
keine Medikamente, kein Essen. Der Fetischtrank, den er
aus dem Okawango mitgebracht hatte, war verbraucht.
Sein Sohn hatte alles getrunken. Etwas hatte auch Johannes probiert, nur ein wenig, einen kleinen Schluck, weil es
ihm auch so schlecht ging; und wenn der Zauber bei
seinem Sohn wirkte, dann könnte er doch auch ihm etwas
helfen?! Jetzt war nichts mehr da und seinem Sohn ging es
nicht besser. Johannes hatte in einer alten Plastikflasche
etwas Wasser von dem öffentlichen Wasseranschluss, der
einen Großteil des Viertels versorgte, geholt und seinem
Sohn damit die Stirn gekühlt. Trinken mochte er schon seit
gestern nicht mehr. Immer erbrach er alles, fühlte sich hinterher noch schlechter und Johannes musste die grünliche
Flüssigkeit mit einem alten Lappen vom Boden wischen.
Die anderen beiden Taugenichtse waren wieder irgendwo
in der Stadt betteln, stehlen oder auf der Suche nach
Arbeit. Martin, der ältere der beiden wollte unbedingt nach
Lüderitzbucht. Dort hatte man die Kaianlage ausgebaut
120
und große Touristenliner legten jetzt dort an. Da war Geld
zu machen. Vielleicht ist er dorthin? Vielleicht auch zu
dem Herero, der das neue Bestattungsgeschäft oben in der
10th Avenue aufgemacht hat. Der stellte aus den Brettern
der abgerissenen und verlassenen Behausungen Särge her.
In letzter Zeit starben viele hier in der Mondesa und zu
Hause im Okawango. Zu viel schlechter Zauber. Aber ein
gutes Geschäft. Der kleine Friedhof draußen in der Wüste
wuchs schneller als Mondesa.
Johannes rührte mit einem Stock in dem weißlich schäumenden Gebräu vor seinen Füßen.
Ah, sein Pombe würde gut werden. Alles würde gut werden. Seine Söhne würden Arbeit finden, sein Jüngster gesund werden und sie würden noch viele Feste feiern und
viele Nichten zu Frauen machen. Seine Schmerzen würden
gut werden, sein Hunger würde vergehen und die Nachbarin würde mit ihm Liefde machen sooft er wollte.
Johannes nahm die Schüssel mit beiden Händen, hob sie
an den Mund und begann mit tiefen Zügen zu trinken.
121
Anja Labussek
Ein letztes Mal – In Memoriam Karen (Tania) Blixen
Wenn es auf dieser Welt einen Ort gibt, der die Bezeichnung „vollkommen“ verdient, dann ist das für mich der
Gipfel des gewaltigen Ngong-Gebirges. Wie oft habe ich
in den letzten siebzehn Jahren dort oben gestanden und
meinen Blick schweifen lassen: Unter mir reichte weites
Grasland bis hin zum Fuß des Kilimandscharo, auf der anderen Seite erstreckte sich die dürre Mondlandschaft der
afrikanischen Tiefebene. Es war ein imposantes Farbenspiel aus Gelb-, Grün- und Brauntönen, in dem jedes Detail seinen tiefen Sinn hatte. Immer, wenn ich dort stand,
überkam mich das Gefühl, einen Blick in die Seele Afrikas
zu werfen.
An diesem Augustnachmittag des Jahres 1931 war jedoch etwas anders, als ich wieder hinaufstieg. Morgen
schon würde ich die Rückreise in mein Geburtsland Dänemark antreten und meine afrikanische Farm für immer
verlassen müssen. Das Bewusstsein, diese Landschaft zum
letzten Mal zu sehen, hatte meine Wahrnehmung in eigentümlicher Weise geschärft und meinen Sinnen eine Intensität verliehen, die geradezu körperlich schmerzte. Lange
hatte ich mich davor gescheut, doch nun war es an der
Zeit, nicht nur von den Ngong-Bergen, sondern auch von
Denys Abschied zu nehmen.
Er hatte mich schon erwartet. „Ich wusste, dass du noch
einmal kommen würdest“, begrüßte er mich.
„Die letzten Wochen war ich damit beschäftigt, die Farm
aufzulösen und meine persönlichen Angelegenheiten zu regeln“, sagte ich und war erstaunt, wie gefasst meine Stimme klang. „Es gab so vieles zu bedenken. Morgen nehme
122
ich ab Mombasa das Schiff nach Europa. Aber ich kann
nicht abreisen, ohne mich von dir zu verabschieden.“
„Du bist eine bemerkenswert tapfere Frau. Das alles
muss dir ungeheuer schwer fallen.“
„Denys, was würdest du empfinden, wenn der einzige
Platz, an dem du dich wirklich zuhause fühlst, nicht mehr
deine Heimat sein kann?“, fragte ich ihn nachdenklich.
„Ich wäre vor allem dankbar“, antwortete er, „dankbar,
dass ich das Glück hatte, viele Jahre an einem solchen Ort
gelebt zu haben, der mein Innerstes zum Schwingen
bringt. Das ist mehr als die meisten Menschen je erfahren
dürfen.“
„Wird denn nicht dadurch die Trauer über das, was jetzt
verloren ist, nur noch größer?“, hielt ich ihm entgegen.
„Was um Himmels willen soll ich in Dänemark anfangen?
Das Land ist mir fremd geworden, es wird mich einengen
und mir die Luft zum Atmen nehmen.“
All der Kummer, den ich mühsam unterdrückt hatte,
brach nun aus mir heraus. „Denys, warum hast du mich
nicht unterstützt? Als ich dich am nötigsten gebraucht
hätte, hast du mich allein gelassen. Gemeinsam hätten wir
vielleicht das Geld aufgebracht, um die Farm zu retten.
Aber nun ist es zu spät.“
„Mir ist klar, dass du dein Herzblut in diese Kaffeefarm
gesteckt hast. Trotzdem musst du den Tatsachen ins Gesicht sehen.“ Denys’ Tonfall war sanft und doch eine Spur
ungehalten. „Das Farmgelände ist für den Kaffeeanbau
ungeeignet, es liegt viel zu hoch, als dass dort etwas
gedeihen könnte. Glaub’ mir, wann immer ich bei dir auf
Bogani war, habe ich mich dort genauso wohl gefühlt wie
du. Aber die Farm war durch und durch unrentabel und
mein Geld hätte sie nicht retten können, es hätte höchstens
ihren Niedergang etwas hinausgezögert.“
Im Grunde wusste ich, dass Denys Recht hatte und dass
ich nicht gegen seine handfesten Argumente ankommen
123
konnte. Das ärgerte mich. „Du hast gut reden“, antwortete
ich heftiger als ich wollte. „Du hattest schließlich deine
Safaris und die Fliegerei, ich aber nur die Farm. Sie war
mein Lebenswerk.“
„Du sagst es – sie war dein Lebenswerk, jetzt ist sie es
nicht mehr. So hart das klingen mag: Es ist an der Zeit,
deine bewundernswerte Energie für neue Aufgaben einzusetzen.“
„Wofür denn? Ich habe doch nichts gelernt. Ein paar
Malkurse damals an der Kunstakademie in Kopenhagen
und einige Geschichten, die ich abends aus Langeweile auf
der Farm geschrieben habe – das ist alles, was ich je zustande bringen konnte.“
„Deine Geschichten ... wie habe ich mich immer darauf
gefreut, dass du sie mir vorliest, wenn ich von meinen Reisen auf die Farm zurückgekehrt bin. Und es war wunderbar, wie wir sie gemeinsam weitergesponnen haben. Versprich mir, nicht mit dem Schreiben aufzuhören, wenn du
wieder in Dänemark bei deiner Familie bist.“
„Ach, ich weiß nicht, ob ich überhaupt talentiert bin“,
wandte ich ein. „Malen und Schreiben, das habe ich immer
gerne getan. Aber wer sagt, dass die Dinge einem auch
wirklich gelingen, nur weil man sie gerne tut?“
„Wage es einfach! Afrika hat dir so viele Impulse gegeben, jetzt liegt es an dir, sie umzusetzen und etwas zu
erschaffen, was dich unsterblich macht.“
„... was dich unsterblich macht“, wiederholte ich und
musste unwillkürlich lachen. „Entschuldige Denys, aber es
klingt so komisch, wenn du das sagst. Du bist schließlich
...“, ich stockte, als ich das Wort aussprechen musste, „...
tot.“
Es war eine Tatsache und doch erschien es mir immer
noch unwirklich, dass ich hier an seinem Grab stand. Das
Gras war grün und kurz wie ein geschnittener Rasen. Ich
selbst hatte einen Stapel weiß getünchter Steine von der
124
Farm heraufgebracht und sie zu einem Viereck angeordnet,
um die Stelle zu markieren. Drei Monate lag Denys’ Flugzeugabsturz zurück, der ihn mit nur 44 Jahren aus dem Leben gerissen hatte. Und meine Trauer über seinen Tod war
eins geworden mit der Trauer um mein verlorenes Afrika.
Oft hatte ich sein Grab vor Augen gehabt, als ich in den
vergangenen Wochen meine Farm auflösen und alles verkaufen musste, was mir ans Herz gewachsen war. Nächtelang hatte ich gegrübelt, ob es nicht das Beste sei ihm zu
folgen. Aber es wäre keine Lösung gewesen. Denn ich
sehnte mich ja gerade nach Freiheit und Lebendigkeit,
fürchtete mich vor Leere und Isolation – und was sonst
hätte ich vom Tod erwarten können? Ich wollte leben,
nicht sterben.
Denys hatte Recht gehabt. Afrika war mir das Tor zu einer Welt voller Poesie gewesen, und dafür war ich zutiefst
dankbar. Ich dachte an die Löwen, denen ich bei Sonnenaufgang in die Augen geschaut hatte. An das verdorrte
Steppengras, das nach dem Regen wieder anfing, in zartem
Grün zu sprießen. An das helle Kreuz des Südens am
nächtlichen Sternenhimmel. Und wenn es mir gelang,
einen Funken dieser Poesie in mein neues Leben hinüberzuretten, ihn in Worte zu kleiden und unvergänglich zu
machen, dann würde ich eines Tages bereit sein, ein Leben
jenseits von Afrika zu akzeptieren.
Ich spürte, es war an der Zeit zu gehen.
„Weißt du was, Denys?“, fragte ich laut, obwohl mir in
diesem Moment überdeutlich bewusst war, dass ich ganz
allein auf dem Berg stand. „An welchem Ort der Welt ich
in Zukunft auch bin, ich werde immer daran denken, ob es
gerade in Ngong regnet.“
Ein letztes Mal glitt mein Blick über die majestätische
Landschaft und die Grabstätte. „Adieu“, murmelte ich.
Dann drehte ich mich um und begann mit dem Abstieg,
ohne noch einmal zurückzuschauen.
125
Raiko Milanovic
Der Blick nach Süden
Ich folgte dem alten Pfad durch die warme Nacht, bis ich
an Großvater Apudos Zaun stieß. Hier kam ich nicht
weiter, das wusste ich ja, aber meine Füße kannten den
Weg, am Zaun entlang bis an das Tor.
„Mzee“, rief ich, „mach auf! Ich bin zurück!“
Licht flammte auf, eine Tür öffnete sich und Großvater
lugte zur Tür heraus. Die Tür ruckte noch einmal und flog
auf, dann rannte Akinyi heraus.
„Mzee, mach auf, mach auf! Es ist Mgeni!“ Sie lachte
und tanzte vor dem Tor, bis der alte Mann kam zu öffnen.
„Mgeni, wie schön! Seit wann bist du zurück?“
Ich kam nicht weiter als „Gut“ zu sagen, weil Akinyi
versuchte an mir hochzuklettern. Sie ließ von mir ab und
rannte ins Haus um Jibu zu holen. Er kam und hatte nichts
Besseres zu tun als über meine Verspätung zu bemerken
und über meine Blässe zu sticheln. Aber wir lachten zusammen und ich nahm es ihm nicht krumm.
Akinyi schaffte es, noch mehr Menschen aus dem Haus
zu locken, die mich mit Fragen, Geschwätz und Gelächter
überschütteten. Alle Fenster waren erleuchtet und Akinyi
tanzte mit den Kindern und rief mit heller Stimme nach
noch mehr Tänzern. Freunde und Verwandte kamen. Doch
bevor der Hof meines Großvaters zum Tollhaus wurde,
nahm Großmutter die Sache in die Hand. Sie scheuchte die
Kinder zu den Frauen, rief gebieterisch nach Essen und
Bier, beschimpfte Koch wie Mägde und ließ den alten
Herd, trotz lautstarken Protestes, anfeuern um selber zu
kochen. Alles lachte und schwatzte, lärmte und tanzte
während es aus der Küche immer besser roch und ich mich
endlich zurücklehnen konnte.
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Wir aßen im Wohnzimmer, alle Möbel an die Wand gerückt, auf dem Boden. Es war schön, wieder im Kreis der
Familie zu sitzen, auf den alten Bastmatten, inmitten von
Tellern und Töpfen und freundlichem Geschwätz. Ich hatte
schon lange nicht mehr so gesessen oder gegessen, aber
ich hielt mit, so gut ich konnte, obwohl Großmutter mit
noch einem Teller aus der Küche kam.
„Nimm noch, mein Junge. Das hier ist richtiges Essen.
Nicht das moderne Zeug aus dem Flugzeug.“
Sie konnte Mikrowellen nicht leiden, weil sie ihr die
Vorfreude beim Kochen nahmen. Ich drückte den Teller
schwach gegen ihre fürsorgliche Hand und erreichte ein
Patt, sodass er vor mir auf den Boden sank. Jibu grinste
schadenfroh und meinte, dass die Reise mir nicht nur die
Farbe, sondern auch den Appetit genommen hätte. Ich
knuffte ihn und er schubste zurück.
Großvater räusperte sich. „Ihr wart diesmal auf
Mallorca?“
„Ich bin Ski gefahren, Großvater. Richtig Ski gefahren.
Auf echtem Schnee! Kolja hat es mir gezeigt.“
„Kolja?“, fragte Großmutter.
„Nikolaj, vom Moskauer Institut. Wir mussten so oder
so jeden Tag vom Gletscher herunter, da, meinte Kolja,
könnten wir auch Skier nehmen und ein bisschen Spaß
haben.“
Großmutter runzelte die Stirn und schüttelte ungläubig,
fast tadelnd den Kopf. „In der Kälte? Bei Eis und
Schnee?“
„Es macht Spaß, Großmutter. Es knirscht leise, wenn
man über den Schnee gleitet und die Schneeflocken glitzern in der Sonne. Es ist wunderschön.“
Ich holte meinen Laptop heraus und zeigte Bilder. Die
Familie kicherte, als sie mich auf dem Bildschirm erkannten; ein schwarzes Gesicht in einem orangenen Parka vor
dem Gletscher des Soler Massivs.
127
„Und die Flüchtlinge?“, fragte Großvater nachdem mein
Laptop die Runde gemacht hatte.
„Auf dem Gletscher sind natürlich keine, sie drängen
sich alle an der Küste. Die ist noch eisfrei, aber ...“
Großvater nickte müde. „Ich weiß, fast zweihundert Millionen Menschen.“
Niemand sprach und Akinyi schaute erstaunt in die Runde, bevor sie sich wieder an mich kuschelte.
Großvater tippte an den Laptop. „Ihr habt das Gutachten?“
Ich nickte. „Ja, es ist fertig.“
„Wie sind die Aussichten?“
Ich holte tief Luft. „Der Gletscher am Soler Massiv ist
bereits an die hundert Meter stark und wird weiter
wachsen.“
„Und die Küste?“
„Das kann niemand mit Bestimmtheit sagen. Es gibt zu
viele Variablen, weißt du, aber wir haben eine fünfzigprozentige Wahrscheinlichkeit ermittelt, dass sie eisfrei
bleibt.“
„Also wisst ihr es nicht genau.“
Ich nickte.
„Und die Menschen?“
„Sie können nicht bleiben. Egal, ob die Küste eisfrei
bleibt oder nicht, die bewohnbare Zone wird schrumpfen.“
„Und das Festland? Wie ist deine Prognose?“
„Die Gleiche wie für die Inseln, Großvater. Der Rest des
Golfstroms wird die Westküste warm halten, aber das
Hauptland wird in ein paar Jahren vereisen. Ich kann dir
die Wachstumsraten zeigen ...“
Er schüttelte den Kopf, als ich nach dem Laptop griff.
Ich legte meine Hand auf seine. „Da ist noch was, Großvater.“
„Gibraltar?“
128
„Ja, Gibraltar. Es wird vollständig zufrieren. Nächstes
Jahr schon. Und dann ist der Landweg nach Afrika offen.“
Es war still geworden im Raum. Ich hatte schnell geredet, nicht darauf geachtet, dass meine Stimme immer kratziger wurde, als ich alles heraussprudelte. Großvater wartete, bis ich mich geräuspert und einen Schluck Bier genommen hatte. Vielleicht wollte er selbst eine Pause, denn
er fragte nicht weiter und schaute auch niemanden an,
sondern blickte auf den Teller vor sich. Die Stille dauerte
an, bis Großmutter sich schwer auf Jibu stützte, der ihr
beim Aufstehen half. Sie ging zur Klimaanlage und
schaltete sie ab und öffnete ein Fenster. Die Kälte sei nicht
gut, weder für ihre alten Knochen noch für uns, sagte sie.
Niemand widersprach.
„Das ist sicher?“, fragte Großvater schließlich und ich
nickte wieder.
„Gibraltar wird vollständig vereisen. Das musst du dem
Rat mitteilen, Großvater. Mach ihnen klar, dass es kommen wird. Sprich mit dem Präsidenten. Das Gutachten darf
nicht bei irgendeinem kleinen Funktionär hängen bleiben!“
Er hob die Hand. „Nächste Woche tagt der Präsidialrat.
Bis dahin ist Zeit.“
Jibu mischte sich ein. „Dann sag ihnen auch, dass sie
unser Land stehlen wollen.“
Er hatte leise, aber bestimmt gesprochen. Ich war mir
nicht sicher, an wen es gerichtet war, aber ich antwortete
darauf. Was hätte ich sonst tun sollen? „Red keinen
Unsinn. Europa vereist. Eine Eiszeit kommt, verstehst du?
Das ist keine Ausrede.“
Er nickte nur und schaute mich mit altbekannter Sturheit
an. „Sie werden kommen und sich hier breit machen.“
Jibu wartete nicht auf Antwort, überging mein lahmes
„Sie wollen raus aus der Kälte“ und setzte noch einen
drauf: „Die Weißen sind selber schuld. Sie nehmen sich
alles und lassen nur Abfall zurück.“
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„Sprich nicht von ihnen als ob es Heuschrecken wären!“,
rügte Großmutter ihn, doch er war nicht zu bremsen.
„Aber es stimmt doch! Irgendeine Ausrede werden sie
schon finden um uns zu bestehlen. Erst stahlen sie Menschen, dann Rohstoffe und jetzt kommen sie wegen der
Wärme.“
Akinyi richtete sich plötzlich in meinem Schoß auf.
„Stimmt das, Onkel Mgeni? Kommen die Weißen um die
Wärme zu stehlen?“
Ich antwortete etwas Belangloses, sprach drauflos, redete
von dem weiten Weg und dem großen Wasser zwischen
Europa und Afrika, alles um Akinyi zu beruhigen. Aber
gerade das Seichte genügte nicht. Ich konnte ihr den
Schatten nicht beiseite reden und kannte auch keinen
Zauberspruch um die Angst zu vertreiben. Ich zog sie
einfach an mich und funkelte meinen Bruder böse an.
„Was ist mit den Menschen, Mgeni?“
„Wir haben den Gletscher untersucht, Großvater. Zu den
Flüchtlingen hatten wir keinen Kontakt.“
„Warum nicht, Mgeni?“
Ich zuckte mit den Schultern. Warum wohl? Wir sollten
das Gletscherwachstum abschätzen und wie lange die Eiszeit dauern würde. Zwei Wochen hatten wir auf dem Soler
Massiv verbracht, hatten den Gletscher untersucht und geprüft, hatten gemessen und uns den Kopf zerbrochen um
ihm mit den Mitteln der Wissenschaft näher zu kommen.
Wir waren, und ich senkte unwillkürlich meinen Kopf, nur
wegen des Eises gekommen. Ich schauderte.
„Auf dem Weg zum Heliport“, begann ich „sahen wir
ein Lager. Die Leute hocken zwischen Windfängen und
Felsen. Es ist ja nicht nur das Eis, der Wind selbst ist kalt,
müsst ihr wissen.“
Großmutter beugte sich vor und nickte. Akinyi entspannte sich auf meinem Schoß.
130
„Die Flüchtlinge sehen die Hubschrauber. Die vom Roten Kreuz, die der Armee und natürlich unsere. Die Helis
heben in alle Richtungen ab, aber die Menschen blicken
nur denen nach, die in den Süden fliegen.“
Ich erinnerte mich. Ein Bild stieg in mir auf, wie die
Flüchtlinge, das Eis im Rücken, das Wasser vor sich, auf
Mallorcas hellem Sandstrand standen und uns nachschauten, bis ich sie und sie den Hubschrauber nicht mehr sehen
konnten.
Meine Stimme wurde lebhafter. „Sie stehen am Strand
mit ihren Alten, mit ihren Kindern und schauen uns nach.
Sie winken nicht, sie rufen nicht, und manchmal heben sie
ihre Kleinen hoch. Sie stehen da und man sieht ihnen an,
wie sie sich nach der Wärme sehnen, wenn sie uns fortfliegen sehen. Selbst die Kinder, die zu jung sind um etwas
anderes als Eis und Schnee zu kennen, folgen uns mit
ihren Blicken. Sie alle, sie alle haben den Süden im Blick.“
Ich schaute in die Runde. Alle schienen in Gedanken
versunken. Großvater schaute zu Boden und nickte wie jemand, der seine Erwartung bestätigt sieht. Großmutter
schaute Akinyi an und niemand sprach, bis Jibu sich räusperte um seine Kehle und sein Gewissen zu befreien.
„Sie werden kommen. Wir müssen uns vor ihnen schützen.“
„Wovor müssen wir uns bei halb erfrorenen Alten und
Kindern schützen?“ Ich konnte es mir nicht verkneifen.
„Es wird Gesindel kommen. Und Krankheit.“
„Ein Grund mehr, ihnen zu helfen. Sollen wir unsere
Türen vor Alten und Kranken verschließen?“
Er schwieg verstockt.
„Sollen wir sie ins Eis zurückschicken, Jibu? Es sind
doch unsere Verwandten; der Mensch ist vor drei Millionen Jahren in Afrika entstanden.“
Er schnaubte verächtlich. „Verwandte? Erinnere dich
besser daran, was sie mit uns gemacht haben. Malaria,
131
Beri-Beri, Aids. Jahrzehnte – es dauerte Jahrzehnte, bis
wir Medikamente statt Ausreden bekamen! Und selbst
dann wollten sie noch ein Geschäft daraus machen. Ein
Geschäft mit Krankheit und Tod.“
Er knirschte mit den Zähnen, aber diesmal ließ ich nicht
locker. „Ja, Jibu, es geht um Erinnern. Was werden sie tun,
wenn wir sie nicht aufnehmen? Wenn das Eis wieder geht,
werden sie sich daran erinnern, wie wir sie behandelt
haben. Und was dann?“, fragte ich.
„Wer weiß, wann das sein wird und ob es dann noch
Weiße gibt. Sollen sie doch selber sehen, wie sie zurechtkommen. Uns haben sie auch im Stich gelassen.“ Er holte
tief Luft. „Mach dir nichts vor. Dass die Weißen plötzlich
so freundlich zu uns sind, liegt an der Kälte und sonst
nichts. Die wollen nur raus da!“
Großmutter, die bis dahin geschwiegen hatte, mal Jibu,
mal mir mit Stirnrunzeln, Verständnis, Belustigung und
Mitleid gefolgt war, sagte schlicht: „Wie wir alle, Jibu.“
Ich erwiderte nichts. Weder auf die kalte Wut meines
Bruders noch auf Großmutters Einwurf. Mir war klar, dass
mein Volk die afrikanischen Wunden arrogant vor sich
hertrug wie einen Orden. Aber ich hatte immer gehofft,
dass wir es besser machen würden als unsere Vorfahren
und uns nicht nur von Wut leiten ließen. Die meisten, ich
schaute Jibu an, der stur zurückblickte, waren nicht wie
Nelson Mandela, sondern wie die Weißen und er – mein
Bruder.
Akinyi war in meinem Schoß eingeschlafen. Ich musste
trotz meiner trüben Gedanken lächeln. Sie hatte meinetwegen getanzt und sich gefreut, mit mir gegessen und sich
vertrauensvoll in meinen Schoß gekuschelt, während wir
über die Eiszeit stritten. Sie vertraute mir, dass sie in meinen Armen geborgen war, dass, wenn sie aufwachte, ich da
wäre und Großmutter immer einen vollen Teller für sie
hätte und alle Erwachsenen dafür sorgen würden, dass sie
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weiter tanzen und lachen konnte, egal ob die Welt zufriert
oder nicht. Ich hatte ihr die Angst nicht fortreden können,
aber sie war ruhig eingeschlafen, weil sie darauf vertraute,
dass wir für sie sorgen würden.
Großmutter stand schwerfällig auf und schüttelte den
Kopf darüber, welch missratenen Enkel ihr das Leben nur
beschert hatte, während sie die Teller forträumte. Trotzdem drehte sie sich in der Küchentür, die Hände voller
Geschirr, um und fragte beinahe heiter: „Nun, Alter. Weißt
du, was du dem Rat sagen wirst?“
Großvater blickte verdutzt auf, seine Hand fuhr zu einem
Teller, der nicht mehr da war, und schaute erst Großmutter
und dann uns an. Betrachtete besonders Jibu und mich und
ließ seinen Blick schließlich auf Akinyi ruhen. Sein
Rücken straffte sich.
„Ja, natürlich!“
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Über die Autoren
Hassan Aftabruyan Geboren 1968 in Tabriz (Iran). Studierte Philosophie und Germanistik. Er lebt in Köln und
arbeitet als Unternehmensberater. Neben wissenschaftlichen Texten und Fachveröffentlichungen hat er begonnen
Romane, Kurzgeschichten und Theaterstücke zu schreiben.
Interessen: Kochen, Aikido und das damit verbundene
Reisen.
Regina Besting Geboren 1983 in Olpe im Sauerland.
Lebt und studiert seit kurzem in Siegen. Sie schreibt seit
vielen Jahren Kurzgeschichten und Gedichte, doch „Der
Mann auf dem Dach“ ist ihre erste Veröffentlichung. Sie
liebt Afrika, die Schauplätze der Geschichte hat sie selbst
mehrmals besucht, doch selbstverständlich sind Handlung
und Personen reine Fantasie.
Margit Breuss Geboren 1970 in Bregenz, von Beruf
Ärztin, lebt in Innsbruck. Veröffentlicht Kurzgeschichten
in Anthologien und Literaturzeitschriften.
Keno tom Brooks Lebt seit 1958 und schreibt seit 1972
in Mittelhessen, USA, Kanada, Namibia, Tunesien, Frankreich und Italien. Heute bei Palmbyte Online-Verlag,
Syntax-acut.de und anderen. Fünfzehn „Briewe uit Namibia“ sind das Ergebnis einer mehrmonatigen Fußwanderung durch Namibia.
Carmen Caputo
Jahrgang 1965. Lebt in Iserlohn.
Schreibt seit 1995. Mitglied der Autorengruppe „Federstift“. Zahlreiche Veröffentlichungen von Lyrik und Kurzgeschichten, Lyrikausstellungen und Lesungen, Italieni136
sche Leseabende. Herausgeber von Pablo, kostenl. Cafehausblättern. Literaturpreise: Preisträgerin KUI-Literatur,
Iserlohn (2002); 2. Preis internationaler Lit.-Preis Fürstenwalde Deutschland/Polen/Russland (2004); 3. Preis Märkische Krimigeschichte, Märkischer Kreis (2004); 1. Preis
Wettbewerb „Born to write“ Tropen Verlag, Köln (2004).
Lyriklesung Radio Unerhört Marburg (2004). Arbeitet zurzeit an einem Buch über einen süditalienischen Emigranten und einem Lyrikband.
Mila Carnel Geboren 1970 in Köln. Ausbildung zur
Buchhändlerin, Studium der Literaturwissenschaften
(Amerikanistik/Germanistik). Mitarbeiterin „Federwelt“Literaturmagazin. Seit 2003 Tätigkeit als freie Lektorin/Texterin. Mitglied „Quo Vadis“, Verein für den
deutschsprachigen historischen Roman. Mitglied der Literaturgruppe „Lauschtour“. Diverse Veröffentlichungen
von Kurzprosa und Lyrik. Bonner Kurzgeschichtenpreis,
Jokers-Lyrik-Preis. Lesungen im Literaturhaus Köln, Haus
der Sprache und Literatur Bonn u.a.
Didier wurde 1967 in dem beliebten holsteinischen Kurort Bad Bramstedt geboren und machte hier 19 Jahre
später auch sein Abitur. Nach dem Studium der Philologie
und Theologie in Hamburg und Lausanne war er Missionar in Westafrika, anschließend unter anderem tätig als
Soap-Autor, TV-Redakteur (für Pro-Sieben) und Publizist.
Neben einigen Kurzgeschichten und Gedichten veröffentlichte er 2001 sein erstes Buch „König ohne Krone“, das
aufwühlende Psychogramm eines jugendlichen Mörders.
In den Startlöchern steht darüber hinaus die Jugendkrimireihe „Karl und seine Freunde“. Seit 2003 lebt Didier zurückgezogen in einem entlegenen Winkel der Mandschurei
(Nordostchina), wo er an einer Universität Deutsch lehrt.
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Anne Grießer Geboren 1967 in Walldürn im Odenwald.
Die Leidenschaft für gute Geschichten hat mir meine
Großmutter mit auf den Weg gegeben. Sie konnte wunderbar erzählen: Märchen, erfundene Geschichten und
wahre Begebenheiten aus ihrem eigenen, bewegten Leben.
Ich konnte nicht genug davon bekommen und begann
schon früh, mir selbst Geschichten auszudenken. Nach
dem Abitur zog ich nach Stuttgart und studierte Öffentliches Bibliothekswesen. Aber der Beruf hatte zu viel mit
Verwaltung und zu wenig mit Büchern zu tun. Ich zog
nach Freiburg, wo ich ein Zweitstudium in den Fächern
Volkskunde, Ethnologie und Germanistik begann und
1996 abschloss. Nach der Magister-Prüfung wurde ich
Reisemagazin-Autorin und Redakteurin bei einem kleinen
Verlag in Köln, bei dem ich viel lernte und auch veröffentlichte. Gleichzeitig schrieb ich Drehbücher für das KrimiMitmachtheater der MordsDamen in Freiburg, denen ich
seit 1998 angehöre. Mein erstes Buch erschien 2001 unter
dem Titel: „Was war los in Freiburg 1950-2000“. Seit
2000 lebe ich als freiberufliche Autorin in Freiburg. Ganz
ohne Nebenjobs ging es aber nicht: Ich arbeitete als
Schlussredakteurin beim Burda-Senator-Verlag in Offenburg, als Reiseleiterin auf Mallorca und als Export-Sachbearbeiterin bei der Firma UPS. Zurzeit schreibe ich für
mehrere Zeitschriften, arbeite an einem Hörspiel für den
Südwestrundfunk, schreibe Kurzgeschichten in den Genres
Krimi, Fantasy und Märchen, und veranstalte gemeinsam
mit den MordsDamen regelmäßige „Dunkel-Krimi-Abende“ bei denen in einem traditionsreichen Freiburger Keller-Restaurant während des Essens im Stockdunkeln Kriminalhörspiele (von mir verfasst) vorgetragen werden.
V. Groß Geboren 1967 in Saarbrücken. Studium der Erziehungswissenschaft, Sozialpsychologie und Sprachwissenschaft, danach zahlreiche Jobs. Lebt in Wadgassen,
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Saarland. Seit frühester Jugend Beschäftigung mit „Phantastik“, sowohl als Leser wie auch als Autor von Kurzgeschichten. Seit 2003 Veröffentlichungen im Internet und in
verschiedenen Anthologien, u.a. im Dr. Ronald Henss Verlag und als Stammautor der SF-Anthologiereihe des Wurdack-Verlages. Für die nahe Zukunft geplant sind eine
Sammlung eigener Storys („Psyche und Phantastik“), die
zu einer Anthologiereihe ausgebaut werden soll, sowie ein
phantastischer Roman.
Anja Labussek Jahrgang 1969, lebt in Düsseldorf und
arbeitet als Redakteurin in einem technischen Fachverlag.
Sie schreibt Kurzgeschichten verschiedener Genres und ist
Mitglied in zwei Internet-Autorengruppen.
Birge Laudi Geboren 1938 in Tachau im Sudetenland.
Nach der Vertreibung aufgewachsen in Steinbach am
Wald in Oberfranken. Studium der Medizin in Erlangen
und Wien. Seit 1964 verheiratet und wohnhaft in Erlangen.
Nach der Berufstätigkeit an verschiedenen medizinischen
Einrichtungen und örtlicher sowie überörtlicher ehrenamtlicher Tätigkeit in der evangelischen Kirche bin ich jetzt
im Ruhestand und fröne meiner Liebhaberei von Katzen
und Kartoffeln, Büchern und Flohmärkten, Sukkulenten
und Faulheit. Kurzgeschichten schreibe ich erst seit drei
Jahren.
Raiko Milanovic 1958 in Münster i.W. geboren. Mein
Vater ist Jugoslawe, meine Mutter stammt aus Lettland –
ich betrachte mich daher als Europäer (was sonst?!). Ich
habe in Aachen Luft- und Raumfahrttechnik studiert und
bin in der Forschung tätig. Ich lese gern und viel, treibe
lieber Sport als ihn mir anzusehen und kam zum Schreiben, als mich, wieder mal, eine schlechte Science-FictionGeschichte ärgerte. Ich war überzeugt, ich könne das
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besser und kann seitdem nicht mehr davon lassen. Wenn
mich meine Kinder lassen, arbeite ich an einem ScienceFiction-Roman. Meist samstags morgens mit Pink Floyd
oder Sting unterm Kopfhörer und einige Lichtjahre weit
draußen. „Der Blick nach Süden“ ist meine erste Veröffentlichung.
Christiane Stüber Geboren 1978 in Gotha (Thüringen).
Studierte Philosophie in Deutschland, Wales und Südafrika. In Kapstadt schrieb sie Beiträge für verschiedene Frauenzeitschriften. In dieser Zeit wurde auch ihre Kurzgeschichte „Between two Platforms“ in einer südafrikanischen Anthologie veröffentlicht. Momentan lebt sie in
Leipzig, arbeitet an ihrer Doktorarbeit und unterrichtet.
Susanne Weinhart Geboren 1979 in Garmisch-Partenkirchen. Wohnort: Murnau am Staffelsee. Studium der
Germanistik, Politischen Wissenschaften und Soziologie
an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Teilnahme an MANUSKRIPTUM. Münchner Kurse für Kreatives
Schreiben mit Dagmar Leupold und Jo Lendle. Schreibt
Prosa, Lyrik, Drehbücher und Hörspiele. Publikationen/Wettbewerbe: Münchner Hefte. Zeitschrift junger
Literatur 02/2003; DUM – Das ultimative Magazin
28/2003 und 29/2004; „Meine schöne, hässliche Geliebte –
Gedichte und Geschichten aus der Hohenzollernstraße“,
hrsg. von Marta Reichenberger und Tatiana Hänert,
München, Oktober 2003; Gewinnerin des „Gepunkteten
Trikots“ des Wettbewerbs Literatour de France 2004 des
Charlatan-Verlages. Publikation in der Anthologie „Das
gelbe Buch der Spitzenschreiber. Literatour de France
2004“, Blauhut & Fuchs 2003. Teilnehmerin der Endausscheidungslesung des 17. Internationalen Jungautorenwettbewerbs der Regensburger Schriftstellergruppe International, Oktober 2004.
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Edition www.online-roman.de
im Dr. Ronald Henss Verlag, Saarbrücken
Abenteuer im Frisiersalon.
Kurzgeschichten aus dem
Internet.
Edition www.online-roman.de
Dr. Ronald Henss Verlag
Saarbrücken, 2004
ISBN 3-9809336-0-1
156 Seiten
10,00 Euro (Deutschland)
10,30 Euro (Österreich)
Das Buch enthält eine Auswahl der besten Beiträge
zum Kurzgeschichtenwettbewerb „Abenteuer im Frisiersalon“.
21 Autoren aus Deutschland und Österreich präsentieren eine bunte Mischung: Mal ernst, mal heiter,
nachdenklich, spannend, sentimental, skurril, phantastisch, …
In Vorbereitung:
Erzähl mir was von Afrika. Band 2
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Noch mehr Kurzgeschichten aus dem Wettbewerb
„Afrika“
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144
Edition www.online-roman.de
im Dr. Ronald Henss Verlag, Saarbrücken
Heiligabend überall.
Kurzgeschichten zum
Weihnachtsfest
Edition www.online-roman.de
Dr. Ronald Henss Verlag
Saarbrücken, 2004
ISBN 3-9809336-1-X
130 Seiten
8,90 Euro (Deutschland)
9,20 Euro (Österreich)
Alle Jahre wieder … wollen Menschen Weihnachtsgeschichten lesen.
19 Weihnachtsgeschichten von 17 Autorinnen und
Autoren aus Deutschland, Österreich und der
Schweiz.
In Vorbereitung:
Erzähl mir was von Afrika. Band 2
ISBN 3-9809336-3-6
Noch mehr Kurzgeschichten aus dem Wettbewerb
„Afrika“
www.ronald-henss-verlag.de
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Kurzgeschichten online lesen und veröffentlichen
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