Film + Gebet Filmdienst 1997

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„MEINE SEELE HAT EINEN KLEINEN AUSFLUG GEMACHT“
- DAS GEBET UND SEINE FACETTEN IN NEUEN FILMEN
FILMDIENST 1997/11
Film und Medizin, Film und Architektur, Film und Mode, Film und Psychologie - warum nicht,
zur Abwechslung, einmal Film und Gebet? Weil dem Kino ohnehin nichts mehr heilig ist, wie
vielfach behauptet wird, und weil die große Mehrheit des Publikums nicht wegen der
Besinnung, sondern wegen der Unterhaltung die teuren Eintrittskarten kauft. Stellt das
Phänomen des Betens auf der Leinwand, auch dort, wo es nicht nur affirmativ, sondern auch
kritisch und zweifelnd getätigt wird, also einen Anachronismus dar, über den man höchstens
noch lächeln oder witzeln kann? Mit dem Hinweis, daß wir ohnehin in einer Zeit der
Gottesvergessenheit leben, die der Gebetskultur nicht gerade förderlich ist. Bei einer
solchen Lagebeurteilung sollte man allerdings nicht vergessen, daß ein paar der
anerkanntesten Cineasten sich nicht gescheut haben, ihre Protagonisten nicht nur „lieben“
oder schießen, sondern eben auch beten zu lassen. Bisweilen sogar auf sehr fromme Weise.
So bittet beispielsweise Johannes im dänischen Film „Ordet“ von Carl Theodor Dreyer Gott
mit größtem Vertrauen darum, „er möge mir auch heute wieder zur Seite stehen“, und in
Tarkowskijs „Opfer“ will Alexander, ein „Guru“, der von vielen Zuschauern für geisteskrank
gehalten wird, die Welt mit Beten und Opfern vor dem Untergang retten.
DER HERR IST MEIN HIRTE ...
Ein solches Vertrauen in den lieben Gott und in die Möglichkeiten, von ihm erhört zu
werden, ist heute weitgehend verlorengegangen. Dennoch sind die Bittrufe an ihn oder doch
an eine „höhere Macht“ auch im Bereich der Filmkultur nicht ausgestorben.
Überraschenderweise läßt sich in einer ganzen Reihe von neueren Filmen (aus aller Welt)
eine bunte Palette von Gebetsversuchen, Gebetsformen und Gebetsfragmenten eruieren, so
daß die Versuchung nahe liegt, von einer Renaissance des Gebets im Film zu sprechen. Sie
präsentiert sich mit vielen Facetten, kritischen und weniger kritischen! Das letzte Beispiel,
das in Erinnerung bleibt, findet sich im tschechischen Film „Kolya“ von Jan Sverak. Dort
werden am Anfang, bei der Beerdigung in einer etwas sterilen Trauerhalle, eher
„geschäftsmäßig“, aber auch mit einer Spur von tschechischem Humor, Verse aus dem
bekannten Psalm 23 „Der Herr ist mein Hirte“ vorgetragen. In der Schlußsequenz, wo der
kleine Kolya auf dem Flugplatz mit eben dieser Strophe von seinem temporären Pflegevater
Abschied nimmt, bekommt sie aber einen tieferen Sinn und wird gleichsam zum Leitmotiv
für die ganze Story und zu einem Schlüssel für die Interpretation dieses sympathischen
„kleinen“ Films.
ÄUßERE UND INNERE GEBETE
Daß im Bereich des Betens falsche, sprich scheinheilige und pharisäerhafte Haltungen und
Motive mit echten und ehrlichen seelischen Dispositionen koexistieren, ist bereits im neuen
Testament (bei Mt. 6.6) nachzulesen. Dort wird den Glaubenden empfohlen, sich beim Beten
und Bekennen ins „stille Kämmerlein“ zurückzuziehen, statt in der Öffentlichkeit eine Show
abzuziehen. Vermutlich hat Spike Lee über diese Stelle hinweggelesen, als er „Get on the
Bus“ („Auf engstem Raum“) konzipierte und inszenierte. Denn da wird „The Truth of Prayer“
durch zu viele „Hallelujas“ und „Amen“ so arg strapaziert, daß der Eindruck von
Indoktrination, „Katechese“ und „Predigt“ entsteht. Das Gegenteil von einer solchen Gebets, Bekenntnis- und Pilgerdemonstration läßt sich beim verunsicherten Kartäusermönch in
„Broken Silence“ von Wolfgang Panzer ausmachen, der auf seiner Odyssee von Europa nach
Asien „das Leben“ kennenlernt. Nicht nur das äußere, sondern auch das innere, denn er
betet, beichtet und will die Wahrheit über sich selbst erfahren: modern, zweifelnd und
differenziert: „Ich zweifle nicht an Gott - aber ich zweifle an mir selbst!“ Der Tradition
entsprechend, gehört auch derartiges Suchen, Zweifeln und Fragen zum Gebet. Die
alttestamentlichen Psalmen sind voll von solchen „Daseinsanalysen“, und Thomas von Aquin
hat das •Beten als „Desiderii Interpres“, als Dolmetscher menschlicher Sehnsüchte und
Gefühle „definiert“.
Den meisten Zeitgenossen fällt es schwer, sich in der traditionellen Gebetssprache (der
Kirchen) zu erkennen und zu finden. Der Traditionsbruch und der Traditionsverlust ist
beträchtlich groß geworden. Dieser Sachverhalt wird von Markus Imhoof in seinem neuesten
Werk „Flammen im Paradies“ kurz, aber vielsagend und augenzwinkernd gestreift. Dadurch,
daß die hübsche Europäerin, die im fernen Südindien als „Pfarrersfrau“ einem
strenggläubigen weißen Missionar an die Seite gestellt werden soll, nicht mehr imstande ist,
am Tisch das „Vater Unser“ auswendig mitzubeten!
ERINNERUNGEN AN STERBEN UND AN VERSTORBENE
Am unverzichtbarsten bleibt das Gebet - gleichsam als antropologische Ur-Dimension - auch
heute noch im Umfeld von Sterben, Tod und Trauer. Deshalb die vielen Bilder von
Beerdigungen und Grabgebeten in Filmen. Sie stammen nicht nur aus dem christlichen
Einzugsgebiet, sondern umfassen beispielsweise auch den buddhistischen Kulturraum, wie
man aus einer ganzen Reihe von neuen südkoreanischen Filmen (z.B. von Bae Chang Ho, Kim
Eung-Soo, Im-Kwon Taek u. a.) erfahren kann.
Einen unverwechselbaren Stellenwert beanspruchen Klage- und Trauergebete in der
jüdischen Tradition. Darauf haben Hans Stürm und Beatrice Michel in ihrem neuen Film
schon mit dem Titel „Kaddisch“ hingewiesen. Denn „Kaddisch“ heißt das Gebet, das jüdische
Kinder für ihre verstorbenen Eltern und für alle Verstorbenen verrichten. Hier tun sie es am
Grabe eines Toten, der Auschwitz überlebte - gleichzeitig aber auch zur Erinnerung an alle
Opfer des Holocaust.
In unseren westlichen Breitengraden wirken Trauerrituale und Grabgebete eher verkrustet
und steif. Ganz am Rande weist das „Leben ist eine Baustelle“ von Wolfgang Becker auf
diesen Umstand hin. Die Gebete, die dort am Grabe des verstorbenen Vaters verrichtet
werden, sind zwar Zeugnis einer langen Tradition, aber sie vermögen die Herzen der
„Zuschauer“ am Grabe kaum mehr zu erreichen und zur Nachdenklichkeit zu bewegen.
Dieser Effekt ergibt sich eher, wenn auch unfreiwillig, aus dem Statement des
hinterbliebenen Sohnes. Der bittet am Schluß darum, „daß wir nicht alle sterben müssen“,
und dann legt er das Geständnis ab, „daß er immer darauf gewartet habe, daß das Leben
endlich mal anfängt - wo es doch immer nur weitergeht ...“ Das ist ein Zwischenruf, der
durchaus Gebets- und Besinnungscharakter in Anspruch nehmen darf, weil er die Banalität
des Bestehenden und seine oberflächlichen Konstruktionen in Frage stellt - und eine
Sehnsucht nach dem „mehr als alles“ (Dorothee Solle) in petto hält!
EXISTENTIELLE HILFERUFE
Wenn jugendliche Menschen Schmerz-und Verlusterfahrungen zu verarbeiten haben, tun sie
es in der Regel mit eigenen, improvisierten Worten, weil ihnen, wie bereits angedeutet, die
Tradition dafür kaum mehr zur Verfügung steht. Auch der Adressat ihrer Hilferufe ist
mehrheitlich ein ferner oder ein abwesender Gott. Beziehungen zu ihm werden in
Notsituationen aber dennoch gesucht. Eindrücklich ist das im Film „Le jeune Werther“ („Der
junge Werther“) von Jacques Doillon der Fall, wo Gymnasiasten aus Paris am Grabe eines
ihrer Kameraden, der Selbstmord verübte, eine neue Art von Klage- und Frage-Psalmen
buchstabieren. Sogar mit der Hoffnung, „erhört“ zu werden und Antworten „von oben“ oder
„von innen“ zu bekommen. Ähnlich läßt sich das Schlußbekenntnis im autobiografischen
Werk des Aids-Kranken Cyrill Collard „Les nuits fauves“ („Wilde Nächte“) interpretieren, der
inzwischen an seiner Krankheit gestorben ist. Es heißt: „Ich will nicht verrecken, ich will
leben“ - und es mündet ein in das Bekenntnis zum Leben mit der kühnen Affirmation: „Ich
bin lebendig, ich stehe im Leben!“ Ob diese Feststellung oder dieser Wunsch nicht auch als
eine Art von Dankgebet zu interpretieren ist?
Bei islamischen Jugendlichen scheint die Beziehung zur Praxis des Gebets ungebrochener zu
sein als im säkularisierten Westen. Das geht aus dem letzten Film „Essalda“ von Mohamed
Zran aus Tunesien hervor. Dort, wo am Schluß, in einer großen Ansammlung von
Jugendlichen, das Erbarmen Gottes auf einen toten Kameraden (er stürzte sich aus
Verzweiflung von einem Telefonmast in die Tiefe) und auf die Jugend des ganzen Landes, die
mit ihrer Identität zu kämpfen hat, herabgerufen wird. Die Bitte mag für westliche Ohren
etwas pathetisch klingen, aber die Demarche ist echt und verlangt Respekt! Mehr oder
weniger überzeugend wirkt auch das „Come back“ zu Gebet und Glauben der 15jährigen
Marysia im polnischen Film „Fräulein Niemand“ von Andrzej Wajda. Der etwas bemüht
wirkende „Klassenwechsel“ von einem katholisch-bäuerlichen zu einem
künstlerischemanzipierten gott- und gebetslosen Polen scheitert an dem Bewußtsein einer
Modernität ohne Fundament und weist möglicherweise zurück zu einem
Fundament(alismus) ohne Modernität!
DIE ZÖLLNER UND DIE PHARISÄER
Die Auseinandersetzung mit dem religiösen Fundamentalismus gehört, auch im Film, zu den
Themen der Zeit. Sie erklärt zu einem Teil wahrscheinlich auch das „Comeback“ und das
Hinterfragen des Gebetes in seiner „strenggläubigen“, starren und bisweilen auch sehr
rechthaberischen Form. Spielarten davon sind am Rande von „Larry Flynt - Die nackte
Wahrheit“ von Milos Forman auszumachen, auch wenn der allzu fromme, leicht ironisch
inszenierte evangelikaie Bekehrungsversuch scheitert und die Figur des
fundamentalistischen Reverend Falwell stark überzeichnet ist. Deutlicher sind
entsprechende Hinweise in der Neuauflage von Henry Millers „Hexenjagd“ durch Nicholas
Hytner ausgefallen. Auch jene an die biblischen „Pharisäer“ und „Zöllner“. Denn am Schluß
des Films wird gleich zweimal das Vater Unser, aber mit einem verschiedenen Unterton
gebetet. Glaubwürdig von John Proctor vor seiner Hinrichtung als Dank für die Befreiung von
dem Bösen und für den eigenen Mut, die Wahrheit nicht verdrängt zu haben. Ambivalenter
tönt dasselbe Gebet aus dem Munde der lokalen Prominenz und all der Leute, die ihr
Gefolgschaft leisten, denn die verurteilt, grenzt aus und kämpft, „bis jeder Zentimenter
dieser Provinz wieder Gott gehört“!
Verurteilt und ausgegrenzt durch eine kleine „gottes-fürchtige“ schottische Gemeinde wird
auch Bess in „Breaking the Waves“ von Lars von Trier. Sie hat Angst, ihre (protestantische)
Identität zu verlieren. Auch in diesem Film wird relativ viel und wortreich gebetet, gesungen
und „geglaubt“. Die kleine, unerfahrene Bess tut es auf ihre subjektive und naive Weise.
Dennoch wird sie zur „Sünderin“, weil sie einen Fremden liebt. Als solche darf sie, nach
ihrem rätselhaften frühen Tod, nicht auf dem Friedhof der“Rechtschaffenen“ und der
Rechtgläubigen beerdigt werden... Zwei unterschiedliche Welten des Betens und der
Gottesvorstellungen, die seiner Praxis zugrunde liegen, stellt auch der brasilianische Film
„Ein Himmel voller Sterne“ von Tata Amaral zur Diskussion. Sie gewinnen Profil durch die
unterschiedliche Lebenseinstellung von zwei Frauen, die sich auch in ihrem Beten
widerspiegelt. Die Mutter ist rechthaberisch und ichbezogen. Sie betet demzufolge, den
üblichen Klischees entlang, zu einem „strafenden“ Gott, der für ihre Interessen gradzustehen
hat. Die Tochter, die maßlosen Bedrohungen und (sexuellen) Gewaltanwendungen
ausgeliefert ist, nimmt Zuflucht zum alttestamentlichen „Miserere“ und findet darin ein
bißchen Trost und Halt.
KOSMISCHE GEBETE
Als meditatives Verweilen bei sich selbst kennt das Gebet in allen Religionen und Kulturen
auch die Dimension der Stille und des Schweigens. Das Wahrnehmungspotential dafür
scheint im östlichen, slawischen Teil Europas und irr asiatischen Fernen Osten allerdings
größer zu sein als im Westen. „Warum Bodhi-Dharma in den Orient aufbrach?“ von Yong
Kyun Bae ist ein unvergeßliches Beispiel dafür geblieben. Die innere Einstellung, die
(buddhistische) Suche nach Erleuchtung und der Hunger nach Geistigkeit charakterisieren
den ganzen Film als eine Art von kosmischem Gebet, das Ruhe vermittelt. Ähnlich
umfassende spirituelle Grundlagen zum Thema „kosmisches Beten“ hat in der (früh)christlichen Tradition Origines, ein geistlicher Autor aus dem 3. Jahrhundert, gelegt.
Zu den herausragendsten neuesten Beispielen für diese Gattung kontemplativer Filme
gehören „Mutter und Sohn“ (Deutschland/Rußland 1997) von Alexander Sokurow und „Der
schlafende Mann“ („Nemuro Otoko“, 1996) von Kohei Oguri aus Japan. Sokurows (filmisch;)
Mutter wird heimgesucht von der Sehnsucht nach dem Tod. Ihr Sohn begleitet sie auf
diesem Weg, der auch - zaghafte - Hoffnungen und Räume für neue, lichtvollere Ziele und
Horizonte offen läßt. „Warte auf mich, Mutter, dort wo wir uns verabredet haben!“ Der
„schlafende Mann“ im japanischen Dorf hat durch einen Unfall sein Bewußtsein verloren
und wird von seinen Angehörigen liebevoll gepflegt. Auch deshalb, weil sie mit (s)einem
„Erwachen“ rechnen. Damit wird eine Präsenz des Ewigen im Zeitlichen und des Unendlichen
im Endlichen signalisiert. „L'eau - dela - interpelle le monde“ - das Jenseits ruft und reicht ins
Dieseits hinein - gibt der japanische Regisseur zu bedenken.
So gibt es in beiden Werken Ausblicke auf erfüllte Daseinsmöglichkeiten „in einer Welt voll
Bitterkeit“, wie sie zum Beten auch gehören. Sie werden durch eine faszinierende Bild-und
Schöpfungspoesie und durch eine behutsame Lichtdramaturgie ahnbar gemacht.
Erläuternde Kommentare sind selten und auch gar nicht nötig. Dennoch ist der Zuschauer
dankbar für ein paar karge Worte, die bei der Deutung weiterhelfen. „Meine Seele hat einen
kleinen Ausflug gemacht“ heißt eines davon, das mir in Erinnerung bleiben wird.
Ambros Eichenberger, FILMDIENST 1997/11
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