Uwe Tellkamp: Der Turm - Evangelischer Kirchenkreis Trier

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Uwe Tellkamp: Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land. Suhrkamp. Frankfurt/ Main 2008
Der Roman umfasst knapp 1000 Seiten (S.15 – 973) und ist gegliedert in zwei Bücher
(I. Die pädagogische Provinz; II. Die Schwerkraft); es sind insgesamt 72 Kapitel.
Die Romanhandlung beginnt in Dresden, und zwar in einem Villenviertel am rechten Elbufer,
genannt der „Turm“ bzw. „die Turmstraße“ (fiktiver Ortsteil Dresdens, der dem realen Stadtteil
„Loschwitz-Weißer Hirsch“ ähnelt) und sie spielt auch im weiteren Verlauf des Romans vorwiegend
in Dresden bzw. in der näheren Umgebung von Dresden, dem sog. „Tal der Ahnungslosen“.
Die Handlung erstreckt sich zeitlich vom 04.12.1982 (50.Geb.R.Hoffmanns) bis zum 09.11.1989.
Dargestellt werden die Schicksale einer Großfamilie; es sind dies die verschwägerten Familien
Hoffmann, Rohde und Tietze mit ihren Eltern, Geschwistern und Kindern;
Die einzelnen Kapitel stehen - abgesehen von einigen, wenigen eingeschobenen Rückblenden - in
chronologischer Reihenfolge.
Erzählt wird aus drei verschiedenen Perspektiven, aus der
- Perspektive des Vaters, Richard Hoffmann
- Perspektive des Sohnes, Christian Hoffmann
- Perspektive des Onkels von Christian, Meno Rohde
Diese unterschiedlichen Perspektiven ermöglichen eine Innensicht in verschiedene Milieus:
- in das des Klinikbetriebs und der medizinischen Versorgung (Richard Hoffmann),
- in das Oberstufen- und Internatsschülerdasein und später (in Band II) in Militärwesen und
Soldatenleben (Christian Hoffmann)
- und in das Schriftsteller-, Verlags- und Zensurwesen (Meno Rohde).
Die Perspektiven wechseln, zuweilen sogar mitten im Kapitel; es gibt auch Kapitel, in denen alle
drei Perspektiven, ergänzt durch Briefausschnitte und Tagebucheinträge in bunter Folge montiert
werden.
Alle drei Erzählprotagonisten leben im Turmviertel (Christian nur bis zu seiner Einberufung im
Herbst 84). Dieses Turmviertel ist kein typisches DDR-Arbeiter-Plattenbauviertel, sondern ein
Überbleibsel des alten Dresden. Es liegt in bevorzugter Lage auf dem rechten Elbufer mit Blick
über die Stadt (vergleichbar mit dem Trierer Markusbergviertel) und es besteht aus ziemlich
heruntergekommenen Jugendstilvillen, die schon bessere Zeiten erlebt haben und die jetzt von
Bildungsbürgern bewohnt werden, viele mit akademischer Ausbildung oder sonstwie privilegiert,
die dort ihre Nische gefunden haben.
Dies gilt z.B. für Christians Onkel,
Meno Rohde, 42 J., geb. 1940 in Moskau als Sohn emigrierter Kommunisten, er ist studierter Zoologe.
Meno kann jedoch wegen seines zeitweiligen Engagements in der evangelischen Studentengemeinde
(während des Prager Frühlings 1968) nicht als Biologe tätig sein, sondern ist Lektor für die Dresdner
Edition des Hermesverlags Berlin, der dort seltene und teure Bücher herstellt.
Meno Rohde ist geschieden; seine Frau Hanna lebt in Prag und ist Ärztin in der Botschaft der
DDR.
Meno ist ein genauer Beobachter und umfassend wissenschaftlich und künstlerisch gebildet.
Aus beruflichen Gründen hat Meno viel mit verschiedenen Schriftstellern zu tun, so auch mit der
Nachwuchsschriftstellerin Judith Schevola (=Angela Krauß), die er auf dem in der DDR besonders
schwierigen Weg zur Veröffentlichung ihrer Bücher über Zweitlektor, Zensor, Oberzensor und
Ministerium betreut, bei erwünschten Kürzungen und Veränderungen berät und ggf. auch über
Ablehnungen informiert.
Weil seine Eltern in der Stalinzeit im Moskauer Exil waren und dort ideologisch geschult wurden,
hat Meno auch Zugang zu Dresdens „roter Aristokratie“, bis hin zum Bezirkssekretär Borsano
(=Modrow).
Meno steht der Kulturpolitik der DDR recht kritisch gegenüber, vermeidet es aber „Farbe zu
bekennen“, sondern hat sich mit dem System arrangiert und beobachtet nur. Dass die Flucht in eine
Nischengesellschaft keine Lösung ist, erkennt Meno; dies führt aber nur dazu, dass er ein poetisch
überhöhtes Tagebuch niederschreibt. Auszüge aus Menos Tagebuch finden sich immer wieder in
einzelnen Kapiteln des Buchs in Kursivdruck.
Außerdem kümmert er sich rührend um die Mitglieder seiner Großfamilie, insbes. um seinen
Neffen Christian, und er treibt in seiner Freizeit biologische Studien.
Der Vater Christians,
Richard Hoffmann, 50 J., erfolgreicher Unfallchirurg, Oberarzt im sog. Johannstädter Krankenhaus,
der jetzigen Dresdner Medizinischen Akademie, verheiratet mit Anne, geb. Rohde, 37 J.,
Krankenschwester.
Er steht dem politischen System und dem Staat DDR ebenfalls distanziert-kritisch gegenüber.
Auch er hat sich weitgehend arrangiert und sucht seine Freiheiten im privaten Bereich. So unterhält
er seit 5 Jahren ein Verhältnis mit der Dekanatssekretärin der Medizinischen Akademie, Josta
Fischer (30 J.) und hat mit ihr eine uneheliche Tochter, von der die Familie nichts weiß.
Immer donnerstags nach Dienstschluss, wenn er vorgibt schwimmen zu gehen, besucht er seine
„Zweitfamilie“. Dies macht ihn gegenüber der Stasi für Spitzeltätigkeit erpressbar. (vgl. Kap.20,
Gesräch über Kinder)
Auch nachdem Josta geheiratet und das Verhältnis beendet hat, lässt er sich auf ein weiteres
Verhältnis mit der Medizinstudentin Reina Kossmann ein. Reina ist die ehemalige Mitschülerin
und Freundin (zumindest damals schon die Brieffreundin) des Sohnes Christian.
Es bleibt im Buch offen, ob Reina neben ihren verschiedenen Liebeleien auch noch für die Stasi
spitzelt. Zumindest bestehen diesbezüglich Befürchtungen und es wird vor ihr gewarnt.
Gegen Ende des Romans verliert Richard Hoffmann seine Lebensdynamik und erkrankt an
„endogener Depression“. Dies geschieht, als seine „Verhältnisse“ offenbar geworden sind, sich
seine Frau Anne dem RA Sperber (= RA Vogel) zugewendet und sich außerdem entschlossen hat,
„die Vorsicht zu verlassen“ (S.937) und 1989 aktiv in der Dresdner Bürgerrechtsbewegung
mitzuarbeiten.
Die Hauptperson des Romans, der Sohn
Christian Hoffmann, 17 J., Schüler im Internat Waldbrunn (fiktiver Ort im Erzgebirge, der dem
Ort Dippoldiswalde ähnelt); er besucht im Internat das 1. Jahr EOS (11. Schuljahr), um dort ein
möglichst gutes Abitur abzulegen, damit er anschließend Medizin studieren kann.
Für die Zulassung zum Medizinstudium benötigt er nicht nur hervorragende Zensuren, sondern
muss auch besonderes gesellschaftliches Engagement nachweisen. Also ist er faktisch gezwungen,
seinen Wehrdienst in der NVA durch freiwilligen Wehrdienst auf drei Jahre zu verlängern. Er
empfindet ebenso wie eigentlich alle Mitglieder der Familie große Distanz zum System der DDR,
will aber auch nicht auffallen. Dies hat ihn zum zurückhaltenden Beobachter gemacht, der vielerlei
liest und viel lernt. Außerdem interessiert er sich für Literatur, Philosophie und Musik und spielt
beachtlich gut Cello.
Aber als Jugendlicher, der sich gerade in der Pubertät befindet, der noch dazu (aus seiner Sicht)
von starker Akne entstellt wird, neigt er naturgemäß ebenso zu Unbesonnenheiten und
Dummheiten, sei es auch nur, um seine vermeintlichen Schwächen zu kompensieren.
Aus Zeitgründen - und auch um die Zuhörerschaft hier nicht mit zu vielen Einzelheiten überzustrapazieren - möchte mich jetzt im weiteren Verlauf vorwiegend auf die Kapitel beschränken, die
aus der Perspektive des Sohnes Christian Hoffmann geschrieben sind.
Diesen Weg beschreitet auch das 2009 erschienene Hörbuch von Heide Böwe, gelesen von
Sylvester Groth (Der Hörverlag, München 2009, 8 CDs, ISBN: 978-3-86717-415-2)
Die Konzentration auf den Hauptprotagonisten Christian Hoffmann ist auch durch Buchtitel und
Romangattung gerechtfertigt.
Durch den Buchtitel des I. Buchs „Die Pädagogische Provinz“ und die Ortsangabe am Ende des
ersten Kapitels (Auffahrt) „Er war zu Hause, im Turm“ erhalten wir deutliche Hinweise auf die
beiden Erziehungs- oder Bildungsromane von Goethe „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ und
„Wilhelm Meisters Wanderjahre“: Die Hauptperson Wilhelm Meister erhält dort in einem schwer
zugänglichen Turm von der Turmgesellschaft (einer Geheimgesellschaft nach Art der Freimaurer)
seinen Lehrbrief und er bringt dann ziemlich zu Anfang der „Wanderjahre“ seinen Sohn Felix in
die Pädagogische Provinz, um sich der eigenen Ausbildung zum Wundarzt widmen zu können.
Damit ist auch die Romangattung deutlich angezielt; es handelt sich bei Tellkamps „Turm“ebenfalls
um einen Erziehungs- oder Bildungsroman, wobei wir im Folgenden besser den Terminus
„Entwicklungsroman“ verwenden sollten, den Melitta Gerhard eingeführt hat.
Dass es sich bei Christan Hoffmann und dessen künftiger Entwicklung allerdings um einen
gegenüber Goethe sehr verwandelten Wilhelm Meister handelt, dazu wird später noch einiges
mehr auszuführen sein.
- (Verteilung und Erläuterung des beigfügten Arbeitsblattes zur Struktur der Christian-Handlung) -
Das erste Buch „Die Pädagogische Provinz“ beginnt mit dem Besuch Christians in der Turmstraße,
um mit der Familie und weiteren offiziellen Gästen, insbes. mit Kollegen des Vaters aus der Klinik,
den 50. Geburtstag seines Vaters am 04.12.1982 zu feiern.
In den ersten fünf Kapiteln wird die Geburtstagsfeier des Vaters Richard Hoffmann beschrieben,
die jetzt nur summarisch betrachtet werden soll:
Christian kommt zu einem Wochenendbesuch vom Internat nach Hause, fährt die Standseilbahn
hinauf zum Turmviertel, wird von seinem Onkel Meno an der Bergstation abgeholt und erlebt das
tiefverschneite Turmviertel als eine quasi verzauberte Welt. Interessant sind neben den
Naturschilderungen die in diesem Zusammenhang auftretenden Hinweise auf Märchenhaftes,
und zwar auf Geschehen und Gestalten aus Hauffs Märchen,
so z.B. in der Kapitelüberschrift des 2. Kapitels „Mutabor“ (= ich möge verwandelt werden), aus
der „Geschichte von Kalif Storch“:
„Und Christian dachte: Ja. Hier sind wir. Hier bist du zu Haus. Und wenn ich hineingehe, die Türschwelle
überschreite, werde ich verwandelt werden.“
Einen weiteren Hinweis finden wir im Namen von Menos Kater „Chakamankabudibaba“, der aus
„Die Errettung Fatmes“ stammt. Es folgen dann in Kap.8 noch die Namen „Fatme“ und
„Almansor“ (Die Geschichte Almansors). Und in den Kap.28 und 30 finden wir zusätzlich noch
Hinweise auf „Die Geschichte von dem kleinen Muck“ und „Zwerg Nase“.
Christian nimmt dann im Turmviertel in der Gaststätte Felsenburg als Cellist trotz eines „Missgeschicks“ (weil seine a-Saite reißt) mit einer gelungenen musikalischen Aufführung an der
offiziellen Geburtstagsfeier teil, ebenso an der sich dort anschließenden privaten Nachfeier.
Die offizielle Feier wirkt merkwürdig gespalten. Sie zeigt in der Ansprache des Chefarztes Prof.
Müller, Richards Vorgesetztem, eine regimetreue Oberfläche; heimlich werden jedoch politische
Witze ausgetauscht, auch über Honecker und über Breschnew, der knapp 4 Wochen vorher am
10.11.82 gestorben war:
Bemerkenswert sind auch die Geschenke, die Vater Richard erhält:
Die Klinikkollegen schenken ihm ein Aquarell des Erzgebirgsmalers Curt Querner (1904 – 1976),
betitelt: „Tauwetterlandschaft“.
Und die Familienmitglieder schenken ihm ein wertvolles Barometer, sog. „Vorkriegsware“.
Buffet, Geschenke und Geselligkeit können jedoch nur vordergründig über bestehende
Unzuträglichkeiten hinwegtrösten. Die Familienmitglieder berichten von der schwierigen
Versorgungslage, die Überbleibsel des teuren Buffets werden an die Familie verteilt.
Auf dem Heimweg tadelt Anne ihren Mann Richard wegen unvorsichtiger politischer Redereien
„Was sind die vier Hauptfeinde des Sozialismus? Frühling, Sommer, Herbst und Winter.“ (S. 75)
und sie warnt vor dem Schwager Ulrich, der Parteimitglied ist.
Am Folgetag, vor dem und beim Sonntagsfrühstück erlebt Christian viele Unzulänglichkeiten des
Turmquartiers, so beim Ofenanschüren die Kälte der Wohnung Menos, schwarzen Schimmel in dem
gemeinsam mit Fam. Lange genutzten Bad und einen sich anbahnenden Streit zwischen den Hausbewohnern und einer neu in der Villa zugezogenen Mietpartei wegen der Nutzung des Wintergartens.
In den anschließenden Kapiteln, wobei wir uns, wie bereits gesagt, nur auf diejenigen, die von
Christian handeln, beschränken wollen; in diesen Christian-Kapiteln erleben wir ihn in seiner
Freizeit im Internat Waldbrunn, wenn er an seine Mitschüler, vor allem auch an die Mädchen,
denkt oder sich in Auslandspostkartenphantasien dem Fernweh hingibt.
Am besten von den Mädchen gefällt ihm Verena. (Kap.8)
Er ist jedoch wegen seiner Akne sehr gehemmt und wagt es nicht, ihr seine Sympathie zu zeigen;
außerdem scheint sie mit Klassenkamerad Siegbert zu gehen.
Um am Ende der EOS einen sehr guten Notenschnitt aufweisen zu können, der ihn zum
Medizinstudium berechtigt, lernt Christian in Waldbrunn sehr eifrig – wir würden sagen: richtig
streberhaft – und lädt sich in der unterrichtsfreien Zeit zusätzlich gewaltige Pensen auf, die vielfach
nicht haften bleiben und ihn wohl auch reifemäßig überfordern (Kap.12).
Erste Schulschwierigkeiten deuten sich an, als seine Mitschülerin Verena es wagt, bei einer
Geschichtsarbeit (Thema: Woran ist die Gesetzmäßigkeit des Siegs des Sozialismus über den
Kapitalismus zu erkennen? ...) ein leeres Blatt abzugeben (Kap.16) und sich weigert, eine Ausrede
(Unpässlichkeit) zu gebrauchen. Nach der Rückgabe der „Arbeit“, die mit „ungenügend“ bewertet
werden müsste, wird eine FDJ-Leitungssitzung einberufen und der Klassenlehrer informiert.
Verena muss sich vor dem Klassenkollektiv rechtfertigen; ihre Entschuldigung („Ich wusste nicht,
was ich schreiben sollte.“ S.197), wird nicht akzeptiert, sondern von der Mitschülerin Swetlana als
bewusste Provokation hingestellt. Verena weicht schließlich der Konfrontation aus und behauptet,
dass sie Monatsbeschwerden hatte.
Auch der Frühling, der sich inzwischen im Erzgebirge zeigt, hat etwas Unschönes, wenn nicht
sogar Falsches an sich:
Tauwetter im Erzgebirge. Das Grau der Schindeldächer in den Dörfern kam wie eine steinerne Haut zum
Vorschein, alt und abgearbeitet, stumpf geworden unter den Schlägen von Wind und Wetter. ...“ S.192/ 193
In Kapitel 26 „Wolken im April“ erfahren wir dann von einem Gespräch der enger befreundeten
Klassenkameraden (Christian, Jens, Falk, Siegbert, Verena und Reina) über die bevorstehende
„freiwillige“ Verpflichtung der Jungen zur NVA, wobei drei der vier sich notgedrungen und
weitgehend opportunistisch motiviert für die Selbstverpflichtung aussprechen, um die weitere
berufliche Karriere nicht zu gefährden. Nur Falk sagt: „Ich mach das nicht mit.“
Am 25.04.83 ist es schließlich so weit, die vier Jungen werden einzeln nacheinander ins
Direktorzimmer gebeten. Falk sagt nichts beim Herauskommen; keiner bittet ihn stehenzubleiben.
Siegbert verpflichtet sich für 4 Jahre, weil er zur Handelsmarine will, und Christian verpflichtet
sich für 3 Jahre, um seine Bewerbung für einen Medizinstudienplatz zu unterstützen.
Die Argumente für das Verpflichtungsgespräch hatte er zuvor mit seinen Eltern an mehreren
Wochenenden durchgeprobt (und dabei erstmals seit vielen Jahren eine Ohrfeige von seinem Vater
erhalten, weil er den undemokratischen Charakter der hiesigen Streitkräfte zu erwähnen gewagt
hatte.
Im Gespräch wundert sich Christian über sich selbst, denn er hat das Bedürfnis, dem Direktor
zuzustimmen und will ihn nicht enttäuschen; er vermeidet deshalb Phrasen und beginnt „ehrlich zu
lügen“(S.330). Er hat dies zuhause mit dem Schauspieler Orré, einem Patienten des Vaters, geübt.
Seine Argumente für den „dreijährigen Ehrendienst“ sind:
- Jedem geistig Tätigen, gerade auch einem zukünftigen Arzt, tue es gut, längere Zeit mit
einfachen Menschen zusammenzuleben.
- Es dürfe sich nach dem menschenvernichtenden Krieg des Hitlerfaschismus nie wieder ein
solcher Krieg wiederholen.
- Die DDR sei ein humanistischer Staat, seine Armee diene dem Frieden, „bewaffnet, doch
als Friedensheld“ (W.Busch „Fuchs und Igel“)
Der Direktor ist mit Christians Vorstellung zufrieden und sagt: „Jugendfreund Hoffmann, ich bin
stolz auf ihr Bewusstsein.“
Was Christian im Nachhinein erschüttert, ist, dass er gegenüber seinem Mitschüler Falk, der sich als
einziger geweigert hatte, kein Mitleid empfindet, sondern Verachtung, obwohl er die Zwiespältigkeit
seines Verhaltens und des Verhaltens seiner Eltern klar erkennt. Sie hatten ihn zur Aufrichtigkeit
angehalten, „Aufrichtigkeit, auch und gerade dann, wenn es brenzlig wurde.... Gleichzeitig übten sie
mit ihm das Lügen ...“ (S.332)
Nach den Prüfungen in Geschichte und Geographie, darf Christian im Frühsommer seine
Klassenkameraden nach Dresden in die übers Wochenende leerstehende Wohnung Menos
einladen. (Meno ist auf einem Verbandskongress in Berlin.) (Kap. 31)
Christian zeigt seinen Mitschülern das Turmviertel und wundert sich über Reinas Sommersprosssen. Im Garten schenkt Christian Reina eine Rose.
Am Abend feiern die Internatsschüler zusammen mit Christians Cousinen und Cousins und mit
Hilfe der Beziehungen der Schriftstellerin und Bekannten Menos, Judith Schevola (=Angela Krauß),
in der Paradiesvogel-Bar. Dort ist Christian vom Disko-Lärm so genervt, dass er das Lokal verlässt,
während die andern beim Tanzen sind.
Bei einem sich anschließenden nächtlichen Spaziergang mit Verena durchs Turmviertel - er will
ihr sein Elternhaus zeigen - wird er von ihr wegen seines Verhaltens kritisiert, weil er in der Ecke
sitzen geblieben ist, während die andern tanzten und fröhlich waren. Sie nennt ihn unreif, was
schade sei; sie meint, dass er keine Kritik vertrage, arrogant sei und feige. (S.415f)
Größeres Unheil kündigt sich an, als die Jungen des 11. Schuljahres vor den Sommerferien für
zwei Wochen ins Wehrlager fahren müssen. (Kap. 33)
Christian erhält wie alle andern auch eine hellgrüne Uniform. Diese legt er schon zu Hause an und
lässt sich die Haare kurz schneiden. Als ihn beim Friseur ein pensionierter Oberst aus dem
Turmviertel (ehemaliger Generalstäbler aus Rommels Afrikakorps) wegen des Uniformtragens
kritisiert, ist er enttäuscht, dass der Oberst sein Verhalten nicht versteht:
„In dem Moment, in dem er die Montur erhalten hatte, war auf seine Freiheit ein Schatten gefallen, war die
Frist bis zur Abreise vergiftet – und er hatte das Bedürfnis nach Würde: nach außen hin passte er sich an,
innerlich sagte er: Ich trage diese Kleidung, ich habe sogar kurze Haare, ich tue mehr als verlangt ist, und ihr
habt trotzdem keine Macht über mich. Den eigentlichen Grund überspielte er: Damit der Abschied erträglicher
würde, zog er die Uniform schon vorher an.“ ( S.435)
Im Wehrlager lernt Christian mit dem Unteroffizier Hantsch zum ersten Mal einen Menschen kennen,
dem es Vergnügen bereitet andere zu kommandieren, über sie Macht auszuüben, indem er ihre Schwächen herauszufinden und sie damit zu demütigen versucht. Bei Christian sind es v.a. die Aknepickel.
Ihn empört diese schamlose Gemeinheit und Brutalität und er lehnt sich innerlich dagegen auf.
Doch auch die Internatsschüler sind keine Engel:
Als der Mitschüler Siegbert auf einer Marschpause eine grausame Tierqälerei begeht (er schneidet
einem Frosch beide Hinterbeine ab und beobachtet interessiert, wie sie zucken), sticht ihm Christian
zur Vergeltung in den Oberschenkel und dreht das Messer so, dass die Wunde tüchtig blutet.
Hantsch will den Vorfall als tätlichen Angriff untersuchen und bestrafen lassen. Doch die Klassenkameraden halten zusammen. Siegbert behauptet, er habe kein Messer gehabt, er sei vielmehr in
etwas Spitzes gefallen. Die mehrfach durchgeführte Suche nach der Tatwaffe bleibt ergebnislos
(Falk hatte das Messer gefunden und direkt vergraben), sodass der Vorfall als Unfall gewertet
werden muss.
Aber Hantsch hat in der zweiten Woche doch noch seinen Triumph; er ertappt Christian beim
Lesen von „Nazi-Literatur“.
Christian sagt nicht, dass er die Lebensbeschreibung des U-Boot-Kommandanten Günther Prien
„Mein Weg nach Scapa Flow“ von Siegbert ausgeliehen bekommen hat. Im Buch war hinten eine
Hakenkreuzfahne abgebildet und ein Foto von Hitler, wie er Prien das Ritterkreuz verleiht.
Siegbert ist zu feige, sich selbst zu melden.
Die Schule und die Eltern werden von diesem Vorfall verständigt, es droht Christians Relegation,
die Anklage vor dem Militärstaatsanwalt oder dem Jugendrichter und die Einweisung in einen
Jugendwerkhof. Die Familie ist entsetzt, der Vater versucht ihn zu schützen, indem er ihm eine
Verteidigungsstrategie vorschlägt:
„ Du sagst, dass du dieses Buch gelesen hast, weil du die Denkweise von Faschisten kennenlernen wolltest. Weil
du verstehen wolltest, wie Hitlers Machtergreifung möglich war. Du hast dir darüber Informationen erhofft ...
Du argumentierst Rotfront. Hast du verstanden? – Ob du verstanden hast!“
(S. 452)
Mit Glück gelingt es dem Vater, RA Sperber (=RA Vogel) einzuschalten, und Christian kommt
schließlich einigermaßen gut aus der Affäre heraus. Er wird nicht relegiert und sogar zum
Studium der Medizin in Leipzig nach Ableistung seines Militärdienstes zugelassen.
Noch während sein Zulassungsverfahren in der Schwebe ist, fährt Christian in die Sommerferien,
die er z.T. mit Onkel Meno und seinen Klassenkameraden Reina, Verena, Siegbert und Falk im
Haus seines verreisten Großvaters in Bad Schandau im Elbsandsteingebirge verbringt.
Es sind dies die letzten unbeschwerten Tage des Schülers Christian, die hier am Ende des ersten
Buches im Kapitel 36 „Erste Liebe“ dargestellt werden.
Sie wandern viel. Eines Abende unternehmen Reina und Christian einen Waldspaziergang und
sprechen u.a. auch über ihre Zukunftspläne. Reina will vielleicht statt Chemie Medizin studieren. Sie
sagt Christian, ihr habe noch nie jemand eine Blume geschenkt (wie er dies in Dresden getan hatte).
„Reina lachte fröhlich, nahm plötzlich seine Hand, und er zog sie zu spät zurück.
War es das nun? Sollte das die erste Liebe sein? Ein bebendes alles umstürzende Großgefühl, wie er es bei
Turgenjew gelesen hatte. Reina seine Julia, und er ein außer Rand und Band geratener Romeo? – Er war
enttäuscht, wenn er in sich hineinhorchte. Das war es nicht, was er sich vorgestellt hatte. ...“ (S.487)
Die Klassenkameraden unterhalten sich auch über letzte Sinnfragen: „Ob es Gott gibt,was glaubt ihr?“
Verena sagt, dass sie daran glaube. Christian spielt den Advokatus Diaboli und zitiert die Parteilinie
‚Religion ist Opium für das Volk’, die er kritisch hinterfragt, ‚woher wissen die das eigentlich?
Reina verteidigt Marx und Lenin, die schließlich lange über das Problem nachgedacht hätten und
etwas klüger als Christian gewesen seien.
Im darauf folgenden Disput outet sich Christian: „Weil sie (die unterrichtenden Lehrer) uns belügen!“
Sein Freund Siegbert prophezeit Christian schließlich:
„Du wirst dich noch wundern, wie’s draußen zugeht. Du bist mit ’nem Silberlöffel im Mund geboren ... Für
jemanden, der Arzt werden will, bist du reichlich hochnäsig ...“ (S.491)
Reina versucht später, Christian auszufragen, ob er gerne in diesem Lande lebe und er antwortet
vorsichtig mit zustimmendem Gebrummel ...
Am Ende des Gesprächs eröffnet Reina Christian , dass sie auf ihn warten würde, und er verliebt
sich total in sie. Verena warnt ihn vor Reina: „Ich glaube, sie ist eine von denen.“ Aber er ist nun
verliebt, überlegt, wo sie sein erster Kuss berühren solle, damit sie den nicht vergessen würde.
Tante Gudrun, der er telefonisch davon erzählt (weil er seine Eltern nicht beunruhigen will)
bestärkt ihn: „Du brauchst eine Freundin .... Du bist nur einmal jung.“
Aber sein Onkel Meno warnt ihn nachdrücklich:
„Wenn sie dich denunziert? – Danach zu urteilen, was du mir erzählt hast, solltest du damit rechnen. ...
Christian war verletzt; Meno schien es zu spüren, er sagte: ‚Sie küssen dich, und sie verraten dich im gleichen
Atemzug. Es muss nicht immer so sein. Aber manchmal ist es so, und du kannst nichts riskieren ...’
‚Du solltest allmählich begreifen lernen, dass du dich in diesem Land nicht wie ein kleines Kind benehmen
kannst’“ (S.497)
Abschließend erzählt er ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit ein Familiengeheimnis, das
Großvater Kurt an seinem 70. Geburtstag seinen Kindern gestanden habe: Er habe die Großmutter
während des Exils in der Sowjetunion angezeigt.
Damit endet das erste Buch.
Im Nachspann „Interludium: 1984“ werden verschiedene, auch für Christian wichtige Ereignisse des
Herbsts und Winters 1983 sowie des Frühjahrs und Sommers 1984 bis zu den Sommerferien kurz
gestreift.
Christian war zum Medizinstudium zugelassen worden. Seit Beginn der 12. Klasse hatte er kaum noch
gelernt; seine Noten hatten sich verschlechtert. Er musste eine Klassenarbeit nachschreiben, weil er
darin als einziges Merkmal der sozialistischen Literatur genannt hatte: „Sie lügt.“ Aber er hatte das
Abitur nach dem 12. Schuljahr gut bestanden.
Siegbert war wegen mangelnden gesellschaftlichen Engagements bei der Handelsmarine abgelehnt
worden.
Christian hatte nicht – wie vom Vater geplant – einen Druckposten bei den Sanis erhalten, sondern
wurde vom Wehrkreiskommando den Panzersoldaten zugeteilt.
Und Cousine Muriel wurde in einen Jugendwerkhof eingewiesen:
„Sie war verwarnt worden und hatte dennoch im Staatsbürgerkundeunterricht immer wieder ihre Meinung gesagt.“
(S. 509)
Den Abschluss des 1. Buches bildet ein Auszug aus den amtlichen Richlinien für die Jugendwerkhöfe:
„Das Ziel der Umerziehung in einem Jugendwerkhof besteht darin, die Besonderheiten in der
Persönlichkeitsentwicklung zu überwinden, die Eigenheiten im Denken und Verhalten der Kinder und Jugendlichen
zu beseitigen und damit die Voraussetzungen für eine normale Persönlichkeitsentwicklung zu schaffen „(S. 509)
Im Hinblick auf Christians weitere Entwicklung erscheint dies als Menetekel.
Gleichschaltung wurde angestrebt, individuelle Entwicklung der Jugendlichen war, wenn überhaupt, nur
in diesem Rahmen erwünscht.
Christian wird in der Folgezeit während seines Militärdienstes ähnliche Einwirkungen erfahren.
Im zweiten Buch, betitelt „Die Schwerkraft“,
begleiten wir Christian auf seinem Weg durch die Militärzeit.
Zeitlich reicht dieser Lebensabschnitt von Herbst 1984 bis Herbst 1989
Christian hat seinen Aufenthaltsort verändert; er lebt nicht mehr im Turmviertel, sondern in
verschiedenen Militärstandorten, zuerst muss er sich im „Ausbildungszentrum Q“ der
„Unteroffizierschule Schwanenberg“ (fiktiver Ort im Braunkohle-Tagebau-Gebiet) einfinden.
Interessanterweise beginnt das 2. Buch (Kap.37) mit einer Hinabfahrt der Standseilbahn, diesmal
benützt von der Schriftstellerin Judith Schevola (= Angela Krauß), der Bekannten von OnkelMeno.
(Im 1. Buch beginnt das 1. Kapitel mit Christians „Auffahrt“ in das Turmviertel.)
Christian selbst treffen wir erst im folgenden Kap. 38 „Einberufung. Er fährt mit der Straßenbahn
Linie 11 weg von Turmviertel und Standseilbahn, hin zum Neustädter Bahnhof, nicht zu dem
Hauptbahnhof von Dresden. Im Sekundenstil werden dabei die Fahrteindrücke aufgeführt. Neben
Beobachtungen von Gebäuden und Verkehrsgeschehen treten Erinnerungen an das Turmviertel und
seine Bewohner in kaldeiskopartiger Weise, er denkt an Bücher, an verschiedenartige Gerüche, an
Äpfel und deren Geschmack, an Reina ... Ihm ist klar, dass er jetz für längere Zeit Abschied nimmt von
seinem Zuhause; er kommt sich vor wie ein Schwimmer, den man zu Trainigszwecken am Beckenrand
mit Gummischnüren festgeschnallt hatte; aber statt schließlich erschöpft zurückgezogen zu werden,
wird er abgerissen (S.529). Christian empfindet es deutlich, dass er jetzt abgerissen wird vom
Schutzraum seiner Familie im Turmviertel, in dem er bisher gelebt hatte.
Die Grundausbildung in Schwanenberg wird in Kapitel 39 „Rosa ist die Waffenfarbe“ indirekt – über
verschiedene Briefe, zumeist an die Eltern – dargestellt.
Die Wochen sind ein Schock für Christian. Er erlebt sinnlose Warterei, schickanöse Einkleidung,
unsinnige Ordnungserziehung mit vielfachem Spindbau, Umziehübungen, sog. „Maskenball“,
Nachtalarme, Marschieren mit Gasmaske und Geländedienst bis zur völligen Erschöpfung. Dazu
kommen noch panzerspezifische Tätigkeiten wie Panzerreinigen und -neuanstreichen sowie Übungen im
Tauchbecken.
Am 3. Advent werden die Neuen in ein Winter-Feldlager nahe der polnischen Grenze verlegt und
machen dort bei großer Kälte ihre ersten Erfahrungen mit dem Panzerfahren, dazu gehören:
Aufmunitionieren, Stellungen ausheben, Handgrantenwurf, Bedienen des Panzer-MG sowie das Fahren
mit dem T 55.
Weihnachtsurlaub wird nicht erteilt; stattdessen müssen die Rekruten Wache schieben bis
Silvesterabend und erhalten GWA (Gesellschaftswissenschaftliche Ausbildung, sog.
Rotlichtbestrahlung).
Den ersten Urlaub erhält Christian Mitte Mai 1985 zur Hochzeit seiner Cousine Ina (Kap.43). Diese
heiratet den jungen Chirurgen Dr. Wernstein und ist bereits im 7. Monat schwanger. Christian hatte als
Wehrdienstleistender im 2. Halbjahr keinen Urlaubsanspruch und den Urlaub nur bekommen, weil er
dem über die Urlaubsanträge gebietenden Spieß seiner neuen Einheit in der Garnisonsstadt Grün
(fiktiver Ort nahe Chemnitz; vielleicht Grüna) einen Auspuffkrümmer für dessen Fiat Polski aus Onkel
Menos Tauschvorräten versprechen konnte.
In Dresden fühlt er sich seltsam unbeteiligt und weicht seiner Mutter aus:
„Alle diese Dinge gingen ihn auf einmal wenig an; das Haus, die Menschen: alles erschien ihm fremd. Die
Zivilkleidung, die er trug, kam ihm wie etwas Unerlaubtes, ihm nicht Zustehendes vor – (S.613).
Die kirchliche Trauung und Hochzeitsfeier haben nicht nur wegen der fortgeschrittenen
Schwangerschaft der Braut einige komische Züge:
Das Brautpaar verspätet sich wegen einer Autopanne, weil kein Taxi aufzutreiben ist; der Bräutigam
muss sich erst noch im Pfarrhaus die Reparaturspuren abwaschen. Außerdem ist der Kantor erkrankt
und der zur „Vertretung“ bestellte Schallplattenhändler hat den Phonokoffer vertauscht (Beerdigungsstatt Hochzeitschoräle ...), sodass die musikalische Familie zum Improvisieren gezwungen ist: Sie
singen und summen a capella den Mendelssohnschen Hochzeitsmarsch von der Empore.
Zurück in der Grüner Kaserne erhält Christian sofort die „Quittung“ für sein außerplanmäßiges
Entfernen von der Truppe (Kap 44). Obwohl er ordnungsgemäß Urlaub erhalten hat, plündern die
Unteroffiziere des 6. Halbjahres seine Tasche aus, weil er sie nicht um Erlaubnis gefragt habe, sie
verprügeln und demütigen ihn (u.a. Kopf in die Kloschüssel, weil er nicht laut genug antworte usw.).
Hier macht Christian mit dem in der NVA wohl von der russischen Armee übernommenen System
der Dedowtschina (russ. Großväterherrschaft) schmerzhafte Bekanntschaft. Denn es ist auch in Grün
üblich, dass die Ältergedienten die Jüngeren als Arbeitssklaven ausbeuten, sie dabei schikanieren und
misshandeln; auch üble sexuelle Beleidigungen und homosexuelle Übergriffe kommen vor.
Dabei gilt nur das Recht des Stärkeren; Vorgesetzte übersehen die Übergriffe grundsätzlich, auch
wenn sie als Offiziere selbst nicht daran beteiligt sind.
Worunter Christian noch mehr als unter Schmutz und körperlichen Misshandlungen leidet, das ist die
dabei zutage tretende Brutalität und Kulturlosigkeit. Er, der sich als sog. „Brille“ (=Abiturient)
sowieso in einer Außenseiterstellung befindet, entdeckt nun, dass es für viele „ein Spaß sein konnte,
wenn jemand verprügelt wurde“ (S.649), ein Spaß, Macht zu haben und als Panzerfahrer Kraft und
Gewalt auszuüben. Auch die verrohte Sprache setzt ihm zu: „auf die Schnauze hauen“, MPi entsichern
und feuern, „dass die Fetzen fliegen“, „ficken“, ein Wort, das er zu Hause nie ausgesprochen hätte.
Er wird immer mehr zum Einzelgänger, der sich zurückhält, wenig spricht, in der Freizeit auf die
Toilette geht, um in Ruhe einen Brief zu schreiben oder zu lesen.
Nach Ablauf des zweiten Halbjahres, bei seiner sog. „Taufe“ (er wird gefesselt unter einen T 55
gelegt und überrollt) erhält er den Spitznamen „Nemo“ (lat. Niemand, S. 651). Der Spitzname
ähnelt dem Namen seines Onkels Meno; außerdem ist es der Name des Helden aus einem seiner
Lieblingsbücher: Kapitän Nemo aus Jules Vernes „20 000 Meilen unter dem Meer“.
Den ihm nach dem ersten Militärjahr zustehenden E.U. (Erholungsurlaub) kann Christian im
August 85 mit der Familie auf Hiddensee verbringen (Kap. 48); Vater Richard übt dort in
Fuhlendorf (fikt. Ort auf Hiddensee; vielleicht Neuendorf) im Wechsel mit Onkel Niklas
vertretungsweise das Amt des Dorfarztes aus.
Christian spricht während des Urlaubs wenig und weicht seiner Mutter aus:
„Christian spürte, dass sie mit ihm sprechen wollte, aber er hasste Sentimentalitäten: Tränen, Eingeständnis von
Schwäche, Verzweiflung, er dachte den ganzen Frauenkram eben; er stellte sich vor, seine Mutter würde ihn ...
windelweich machen: wozu? Was hätte es geändert?“ (S. 667)
Im November 85 kommen neue Rekruten nach Grün. Unter diesen verschreckten Unglückswesen
befindet sich eine Ausnahme, Steffen Kretzschmar, den sie sofort wegen seines Aussehens
„Pfannkuchen“ nennen. Er kommt als Fahrer in den T 55 zu Christian, der inzwischen Panzerkommandant geworden ist. Pfannkuchen Kretzschmer ist als gelernter Schmied aus dem JahrmarktHalbweltmilieu von der körperlichen Kraft her den Ältergedienten überlegen; er lässt sich nicht
einschüchtern, auch nicht „taufen“, und er macht Burre, den Unglückswurm der Kompanie, zu
seinem Leibsklaven – ohne dass die anderen zu Christians Verwunderung dagegen protestieren.
Eines Nachts, als er vor dem Einschlafen an sein Cello denkt,
„hatte Christian das Gefühl, sein Körper würde davontreiben, eine Auflösung geschähe in der Gegend des
Atemholens, etwas franste aus ...“(S.697)
„Die EOS mit ihren Problemen, die Abiturprüfungen ... schienen unendlich lange zurückzuliegen; sein Zeitsinn
sagte: in einem anderen Leben.“ ... „ Es peinigte ihn, dass die anderen so mit Burre umsprangen. Das war nicht
gerecht ... Was konnte man tun? Was kann ich tun? –
Eine Eingabe schreiben. Alles erzählen, die Verhältnisse hier, die Wirklichkeit. ...
Aber die Briefkästen wurden observiert, und der im Regiment erst recht. ...“ (S.699)
Christian glaubt, dass bei einer Überprüfung alles vertuscht werden würde.
Er kann Burre in diesem System nicht helfen. Tags darauf sieht er, wie Burre vor dem Stabsgebäude
des Regiments steht und sich vor dem Hineingehen hastig umblickt. Auch er ein Spitzel?!
Die entscheidende Wende zum Schlimmen in seiner Militärzeit erlebt Christian ein halbes Jahr
später im April 86. Seine Panzerkompanie soll im Rahmen einer Gefechtsübung unter Ernstfallbedingungen (incl. Ausgabe scharfer Munition) bei Torgau mit ihren T 55 - Panzern die Elbe
durchqueren.
Das Ereignis wird bezeichnenderweise im Kapitel 55 „Unterwasserfahrt“ dargestellt.
Das Kapitel ist relativ umfangreich (26 S.).
Die spannende Vordergrundhandlung lässt sich in sechs Abschnitte einteilen:
- Gefechtsalarm (Waffenempfang - Aufmunitionieren der Panzer - Fahrt zum Bahnhof)
- Christians Unfall beim Verladen der Panzer ( Sturz mit dem T 55 vom Transportwaggon)
- Vorbereitungen für die Flussdurchquerung (dabei Ablösung des regulären Fahrers
„Pfannkuchen“ durch den unfähigen Burre)
- vom Kompaniechef angeordnete Unterwasserfahrt trotz Dichtungsmängeln des T 55
- das Tauchfahrtunglück mit Volllaufen des Panzers, Absterben des Motors und Versagen der
Lüftung; einem Panzer, der jetzt große Ähnlichkeit mit einem havarierten U-Boot hat
- die Ausstiegsvorbereitungen aus dem unter Wasser liegengebliebenen Panzer
Die Handlung wird strukturiert, belebt und erhält quasi kaleidoskopartigen Charakter durch dazwischenmontierte Briefe bzw. Briefentwürfe, Briefausschnitte etc.
Der Ausgang des Tauchfahrtunfalls wird demgegenüber weitgehend ausgespart und nur in dem
das Kapitel abschließenden Brief Christians an Reina, die ihn besuchen will, angedeutet:
„Mein Fahrer ist bei einer Übung verunglückt und im Lazarett gestorben. Ich habe eine Dummheit gemacht,
meinen Kompaniechef angegriffen. Jetzt bin ich wieder in der Kaserne, weiß nicht, was sie mit mir machen
wollen. Es ist möglich, dass ich Ausgang bekommen kann, denn fast das ganze Regiment ist noch auf Übung, und
ich habe zwar offiziell Kompaniearrest, kenne aber den Schreiber recht gut, der die blanko unterschriebenen
Urlaubsscheine verwaltet. ...“ (S.778)
Erst in den Folgekapiteln werden Einzelheiten von Christians Rebellion nach dem Panzerunfall
nachgetragen:
Christian hat nach erfolgter Rettung, als er den verunglückten Burre aus dem geborgenen Panzer
heraushängen sieht, seinen Kompaniechef mit der Panzeraxt angegriffen und jähzornig gebrüllt:
„Sie elendes Schwein, .. Sie haben ihn in den Tod geschickt (S.804). So was ist nur in diesem
Scheißstaat möglich“ (S. 799).
Sein regulärer Fahrer „Pfannkuchen“ Kretzschmer hat ihn zwar vor Tätlichkeiten zurückgehalten,
ihm aber öffentlich in der geäußerten Kritik zugestimmt.
Für beide bedeutet dies einen Verstoß gegen § 220 Strafgesetzbuch „Öffentliche Herabwürdigung
der Öffentlichen Ordnung“, der ein Militärstrafgerichtsverfahren nach sich ziehen wird.
Noch ist dieses aber nicht eingeleitet. Es herrscht noch Ruhe vor dem großen Sturm.
In dieser Zwischenzeit erhält Christian Besuch von seiner ehemaligen Mitschülerin Reina, die
inzwischen auch Medizin in Leipzig studiert und ihr praktisches Jahr in einer kleinen Klinik
abgeleistet hat – und die vielleicht für die Stasi spitzelt.
Reina hat in der Zwischenzeit auch Christians Eltern in Dresden besucht - und sich (wie in Kap. 57
„Schwebstoffe“ mit 5 Wörtern angedeutet) auf ein Liebesverhältnis mit Christians Vater Richard
eingelassen. Aber das erfährt Christian erst später während seines Strafverfahrens, weil die Stasi
davon Kenntnis hat. Dort erfährt er auch, dass er eine (uneheliche) Schwester hat.
Er hat für Reina Blumen kaufen wollen, es gab jedoch nur Alpenveilchen; und auch sie bringt ihm
einen Topf Alpenveilchen mit.
Reina erzählt von den anderen Klassenkameraden: Verena hat einen Ausreiseantrag gestellt und
wurde sofort exmatrikuliert; Siegbert hat sich von ihr getrennt und studiert jetzt Pädagogik, Sport
und Geographie. Swetlana ist vom DDR-Sozialismus enttäuscht zurück in die UdSSR gegangen und
studiert jetzt in Leningrad; sie war in Christian verliebt, nur Reina wusste es. Und Reina hat
während ihres praktischen Jahres als sozialistische Hilfe in einem Pflegeheim miterleben müssen,
dass Patienten im Rentenalter in den Westen fahren und sich dort Medikamente besorgen mussten,
ebenso dass sie nur gegen Westgeld behandelt wurden. „Ein Pfleger sagte: Wer Westgeld hat, dem
wisch ich die Scheiße ab. Die alten Knacker kommen doch rüber, ich nicht.“ (S. 790)
Es kommt zu Ende von Reinas Besuch auch zu einer kurzen und desillusionierend geschilderten
Liebesbegegnung: Er küsst sie in einem von Schuttresten verschmutzten Hausflur ... Sie kauert
danach an der Wand und weint ...
Christians Strafverfahren sowie die anschließende Strafverbüßung in der Industrieregion Leuna,
Halle, Bitterfeld werden in den Kapiteln 60 „Die Reise nach Samarkand“ und
61 „Die Karbidinsel“ dargestellt.
Sein Prozess wird am 06. Juni 1986 in Dresden durchgeführt. Trotz seines Verteidigers, des RA
Sperber/ Vogel, erhält Christian 1 Jahr Strafarrest, den er im Militärgefängnis Schwedt (Nahe
der poln. Grenze) abzubüßen hat.
Eine Art Tiefpunkt ist dort der als Diszipinarmaßnahme ausgesprochene ca. einwöchige
Dunkelarrest im sog. „U-Boot“: Er kann sich wie ein Blinder nur mit Hilfe des Tastsinns
orientieren, hockt nackt im Dunkeln auf dem blanken Fußboden und hat viel Zeit nachzudenken:
„Die Idee, dass er nun im Innersten des Ssytems angekommen sein musste, ließ Christian eine lange Zeit in der
noch längeren Dunkelheit der Zelle nicht los. Er war in der DDR, die hatte befestigte Grenzen und eine Mauer.
Er war bei der Nationalen Volksarmee, die hatte Kasernenmauern und Kontrolldurchlässe. Er war Insasse der
Militärstrafvollzugsanstalt Schwedt, hinter einer Mauer und Stacheldraht. Und in der Militärstrafvollzugsanstalt
Schwedt hockte er im U-Boot hinter Mauern ohne Fenster. Jetzt war er ganz da, jetzt musste er angekommen
sein. Er musste er selbst sein ...
Er hockte nackt auf dem Fußboden, aber die einzige Erkenntnis, die kam, war, dass man fror, wenn man einige
Zeit nackt auf Steinen hockte. Dass man Hunger und Durst hatte ... Jetzt, dachte Christian, bin ich wirklich
Nemo.Niemand.“ (S. 827)
Im Juli 86 werden die Strafgefangenen in den sog. „Orient“ verlegt (So wird der Chemiebezirk um
Leuna, Halle und Bitterfeld wegen seiner vielfarbigen Dämpfe im Häflingsjargon genannt; die
Hauptzone hat den Namen „Samarkand“). Die Häftlinge arbeiten zusammen mit zivilen Arbeitern aus
der Region unter denkbar ungesunden Arbeitsbedingungen und erhalten bei Normerfüllung 17% des
regulären Lohns. Christian und „Pfannkuchen“ werden in einer Karbidfabrik bei Halle-Neustadt
eingesetzt. Das Karbid dient als Grundstoff für Azetylen-Schweißgas.
Die Fabrik liegt auf einer von schaumigen Wellen umspülten Saaleinsel. In der Fabrik wurde Karbid
im Lichtbogenverfahren bei ca. 3000° Celsius aus Branntkalk und Koks zusammengeschmolzen.
Christian gehört zur Frühschicht.
Der Tagesablauf: 4.00 Wecken, Frühsport und Morgentoilette; es gab allerdings nur Wasser, wenn
Samarkands Industriebetriebe keinen Wasserbedarf hatten; das Wasser war nicht trinkbar und roch
nach faulen Eiern. Die Frühschicht begann bei Tagesanbruch und dauerte 12 Stunden:
„Einerseits war das gut, denn danach nussten die Strafgefangenen nicht mehr auf den Acker: exerzieren,
Sturmbahn, Taktik, Schutzausbildung. Andererseits waren es zwölf Stunden in einer Atmosphäre, wie sie
Christian nicht für vorstellbar gehalten hätte“ (S. 832)
Hitze und Flugasche sind Hauptbelastungen für die Sklavenarbeiter:
„Auf Pfannkuchens Schultern lagen nach etwa zehnminütigem Warten Epauletten aus grauem Pulver, die
Käppis schneiten ein, die Stiefel .... Die ersten Wartenden begannen zu husten. Der Staub drang zwischen die
Zähne, in die Augen, was sie entzündete, er scheuerte die Leisten wund.“ (S. 830)
Christian hat die Aufgabe, die Schmelzmasse des Ofens, die ab 2.200° zum Verklumpen neigt,
flüssig zu halten. Dazu muss er mit meterlangen Eisenstangen, genannt „Ruten“ in der Glut
herumstochern.
„Christian hatte, wenn er vor dem Ofen die Ruten bediente, das Gefühl, zu einem neuartigen Lebewesen, einem
Zwitter aus Fischotter (Schweiß, die ofenabgewandte Seite) und Broiler (zur Ofenöffnung) geschmolzen zu
werden.“ (S.835)
„Christian dachte: Das halte ich nicht durch. Christian dachte: Aber hier kommst du nicht raus.
Immerhin Christian war klüger geworden.Klüger sein hieß, die Klappe halten....“ (S.833)
Christian hat trotz bestehendem Fraternisierungsverbot bei der Arbeit und während der Pausen
Kontakte zu den Stammkräften, die ihn anlernen und die keine Strafgefangenen sind, aber die
gleichen miserablen Arbeitsbedingungen haben.
In ihm geht im Frühherbst 86 nach seiner Eingewöhnungszeit etwas Seltsames vor:
„Der Widerstand, den Christian lange in sich gespürt hatte – gegen die Gesellschaft, den Sozialismus, wie er ihn
erlebte und sah -, schwand, wich einem Gefühl des Einverstandenseins mit allem. Es war richtig, dass er hier
war. Er war ein Gegner der Armee und des Systems, und deshalb wurde er bestraft. Kein Land der Welt fasst
seine Gegner mit Samthandschuhen an. Christian spürte: Hier an diesem Ort, dem von Braunkohletagebauen
und vergifteten Flüssen zerfressenen Chemie-Reich, war er richtig, hier war sein Platz.. Er hatte seinen Platz in
der Gesellschaft gefunden, hier wurde er gebraucht ...“ (S. 840)
Mitten im strengen Winter 86/ 87 wird Christian dann auf einen anderen Arbeitsplatz in der
Produktion versetzt, der ebenfalls zur Abteilung Konsumgüterproduktion des Chemischen
Kombinats gehört. Die Arbeit dort ist wesentlich leichter, erfordert allerdings große Sorgfalt und
Genauigkeit: Er muss Orden, Medaillen und Verdienstplaketten herstellen, entgraten, lackieren,
emaillieren, die Anstecknadeln anlöten und spitz schleifen. (Kap. 64. Fakultativ: Nadelarbeit)
Meister Traugott Pfeffer verlangt ausgezeichnete Qualitätsarbeit, denn
„Orden und Ehrenzeichen bekommen meist ältere Menschen, ihr ganzes Leben wird in einem solchen Stückchen
Metall symbolisiert, da sollten sie es über sich bringen, die Nadeln wirklich gerade anzulöten, nicht jeder sieht
sein Leben gern krumm gestochen oder schief hängen.“ (S.856)
Eine skurrile Einzelheit soll hier nicht unerwähnt bleiben: Nach drei Monaten kommt Christian, der
bisher zur Zufriedenheit Pfeffers gearbeitet hat, in die B-Schicht, die nachts arbeitet. Er muss dort
zusammen mit 4 Philosophen, die ebenfalls zur „Bewährung in der Produktion“ verurteilt sind, eine 7bändige Proust-Ausgabe der „Recherche“ lesen, der „Suche nach der verlorenen Zeit“;
anschließend diskutieren die Fünf dann vermittels schriftlicher Bleistiftnotizen über die Entfremdung
in der Entwickelten Sozialistischen Gesellschaft.
Die erste Hälfte des Jahres 1987 überspringt der Erzähler. Mutter Anne hat sich wegen der sexuellen
Eskapaden Richards (Josta, Reina) von ihrem Mann innerlich losgesagt. Wir erfahren, dass sie in
seiner Begleitung zu einem Tête-á-Tête mit RA Sperber geht.
Richard wartet gemeinsam mit Sperbers Ehefrau (die eine moderne Ehe führen) vor der Tür bis das
intime Treffen beendet ist. Und RA Sperber versichert Anne bei der Verabschiedung von dem
Schäferstündchen, das ausgeblendet bleibt: „Meine Bemühungen, ihrem Sohn das Medizinstudium
wiederzuverschaffen, werden sehr wahrscheinlich Erfolg haben.“ (S.866)
Wir treffen auf Christian erst wieder im Sommer 87 nach der Verbüßung seines 12-monatigen
Strafarrests (Juni 87); er wird von Bruder Robert, der inzwischen auch seinen Wehrdienst ableistet,
in Grün besucht. Sie unterhalten sich über die auf Urlaub befindlichen Eltern und ihre „neue“
Halbschwester. Robert nimmt die Ereignisse leicht. Er sagt über die Eltern: „Sind schon okay“ und
über Lucie: „’n Schwesterchen hab’ ich mir ... schon immer gewünscht.“
Auch die weiteren Ereignisse des Jahres 1987 werden in Kap. 66 „Nach dieser Unterbrechung
gingen die Tage ... dahin“ sehr gerafft dargestellt.
Christian muss noch (incl. Der 1-jährigen Nachdienstzeit) bis Herbst 89 seinen Militärdienst
ableisten. Er ist jetzt Stubenältester, wird von den andern „mit einer Mischung aus Scheu und
Respekt“ angesehen. Keiner fragt ihn nach Schwedt und Samarkand; er hatte auch unterschreiben
müssen, zu schweigen. Deutlich sichtbar wird die in ihm vorgegangene Veränderung:
„Das Reden wurde ihm fremd, er beschränkte sich, wenn es unumgänglich wurde, auf das nötigste. Er hatte
unterschrieben. Er wollte nicht zurück (nach Schwedt). Das Brot schmeckte ihm. Die Kameraden waren nett, ...
Die Panzer waren gut. Die Sonne war schön. „ (S.877)
Im kaltenWinter, Anfang 88, erhält er VKU (Verlängerten Kurzurlaub) und fährt nach Dresden.
Doch die Stadt erscheint ihm zu ihrem Nachteil verändert.
Er übernachtet in Menos Wohnung und erlebt auch dort eine unfreundliche Atmosphäre:
Die Wohnung ist ausgekühlt; er muss zum Duschen ins öffentliche Badehaus gehen, weil Bad und
Toilette inzwischen einen Nutzungsplan haben; der Wintergarten darf nicht mehr von der Hausgemeinschaft genutzt werden, sondern gehört jetzt zur Wohnung der Kaminskis;
und zwei Möbelpacker wollen (ohne Erlaubnis, wie sich später herausstellt) Onkel Menos wertvolle
Zehnminutenuhr abholen, was Christian glücklicherweise verhindern kann.
Der Sommer 88 beginnt mit einer Marienkäferplange; Christians Einheit kommt zum Arbeitseinsatz
in der Volkswirtschaft. Wieder geht es nach Samerkand, doch diesmal in den Braunkohletagebau;
Christian fährt auch nicht als Strafgefangener. Er arbeitet als Gehilfe auf einem Abraumbagger und
ist zur Nachtschicht eingeteilt, weil dort die meisten Arbeitskräfte fehlen.
„Er war der dritte Mann auf dem Bagger. Seine Aufgabe bestand darin, das Schaufelrad zu reinigen. ... Nach der
Eingewöhnung (turnte) Christian behend wie ein Orang-Utan über die Streben, Roste und geländerten Stege nach
oben und vorn auf den Auslegerkran, an dessen Ende, ungefähr fünfzehn Meter vom Baggerrumpf entfernt,
Christians Arbeit begann: die am Rand festgebackenen Erdmassen abzuschlagen. Dazu benutzte er eine Spitzhacke,
... wenn Frost die Erde verharschen ließ, ein nicht zur Standardausrüstung gehörendes Fleischerbeil ...
Der Baggerführer machte sich einen Jux daraus, das Rad nach exakt zehn Minuten, manchmal auch eher und
nur so zur Probe und ’zum Munterwerden’, wie er sagte, einzuschalten ... Das an der Schaufelradabdeckung
festgewalzte Erdreich hatte, wenn es nicht fror, die Beschaffenheit von Kork; ....
Wenn es fror, wurde das Erdreich in der Minute, die er ... bis zum Schaufelrad brauchte, hart wie ein
Baumstamm, dann hieb und spaltete und scherte Christian die schwarzbraune Masse nur span- und splitterweise
ab, unter Leibeskräften, gejagt von der Angst, vom plötzlich andrehenden Rad erfasst zu werden. „ (S. 886)
Viel hat sich nicht geändert gegenüber seiner Zeit als Strafgefangener; er leistet fast die gleiche
Sklavenarbeit wie auf der Karbidinsel und befindet sich in der gleichen menschenfeindlichen
Umgebung, diesmal in einem horizontweiten „Konglomerat von aufgewühlter Erde, Schlamm,
Abraumhalden, Kohleflözen ...“(S.888), einer Art Mondlandschaft.
Die letzten Kapitel des Buchs handeln von den Ereignissen des Wendejahrs 1989; sie werden von
Menos Tagebuchauszug „Mahlstrom“ eingeleitet.
Die gesamte Gesellschaft der DDR scheint wie in der Horrorerzählung von Edgar Allan Poe „Der
Sturz in den Mahlstrom“ in einen verderbenbringenden Strudel geraten zu sein.
Die Ereignisse werden dazu parallel montiert aus der Sicht der verschiedenen Erzählprotagonisten
dargestellt. Deshalb müssen wir unseren Blick jetzt auch wieder mehr auf Dresden richten.
Zum Jahreswechsel 88/ 89 kommt wiederum ein gewaltiger Kälteeinbruch. Der wirkt sich diesmal
besonders katastrophal auf den Braunkohletagebau und damit auf die Energieversorgung der DDR
aus. Die Braunkohle friert ein. In den Gebieten südlich der Elbe, so auch in Dresden fällt deshalb
der Strom aus; es kommt in Dresden zu vielen Wasserrohrbrüchen und Verkehrsnotstand.
Noch mehr Soldaten werden in den Tagebau verlegt; sie werden in Zeltlager und zusätzlich in die
vorhandenen Quartiere verlegt, sodass sich in Christians Stube nun 60 statt 20 Mann befinden. Sie
müssen in zwei 12-Std-Schichten arbeiten und schlafen und können sich wegen Wassermangels
kaum waschen.
Auch das Trinkwasser friert ein und die Verpflegung kommt nicht durch; sie müssen zeitweise
hungern.
Christian und „Pfannkuchen“ riskieren einen Einbruch, werden aber von der Besitzerin „Schanett“,
die sie vom Tagebau kennen, erwischt, müssen den verursachten Schaden abarbeiten, indem sie
Honig schleudern und erhalten zum Abschied einen Schuhkarton voll Bienenstich.
Als im Frühjahr und Sommer 89 aufgrund der politischen Ereignisse in der Prager Botschaft und
an der ungarischen Grenze auch in Dresden die Wogen immer höher gehen, artikuliert und formiert
sich hier zunehmend politischer Widerstand, vor allem in Friedensgruppen im kirchlichen Bereich
und in Umweltgruppen. Auch Christians Mutter Anne entscheidet sich, wie bereits anfangs erwähnt,
trotz der allgegenwärtigen Angst, aktiv mitzuarbeiten und „die Vorsicht zu verlassen“ (S. 937).
Vater Richard hingegen resigniert schnell und erkrankt an endogener Depression.
Die Politprominenz Dresdens feiert stattdessen ein Kostümfest (Kap. 70. „Walpurgisnacht“), das fatal
an eine andere Horrorgeschichte von Egar Allan Poe erinnert „Die Maske des roten Todes“.
Während es in der Bevölkerung gärt, feiert die Politprominenz und erkennt die Zeichen der Zeit nicht.
Von Christian erfahren wir in diesem Zeitraum wenig. Er hat seinem Vater über einen Zivilbediensteten der Kaserne einen Brief geschickt, in dem er den Vater fragt, wie er sich verhalten soll:
„Was soll ich tun, wenn sie mir befehlen? Du hast uns immer zur Aufrichtigkeit erziehen wollen, aber Du selbst
hast gelogen. Deine Reden über das Duckmäusertum, damals, vor der ’Felsenburg’ ... der Kurs (im aufrichtig
Lügen S.332) bei Orré, Deine Mahnungen und Vorwürfe im Wehrlager, Du erinnerst Dich? Was soll ich tun? Die
Kaserne steht in Alarmbereitschaft, wir haben Ausgangs- und Urlaubssperre, die Telefone nach draußen sind
abgestellt, es gibt keine Zeitungen mehr. Wenn sie mir befehlen: schlag zu – was soll ich tun?“ (S. 955 f)
Vater Richard trägt den Brief bei sich, aber er zeigt ihn Christians Mutter Anne nicht; er weiß selbst
nicht, was er tun soll und ist zu keiner zielgerichteten Aktion fähig.
Die Situation eskaliert, als die Züge mit den Prager Botschaftsflüchtlingen über Dresden fahren
müssen. Kaum haben die sechs Züge mit den Botschaftsflüchtlingen Dresden passiert, ist die Prager
Botschaft schon wieder überfüllt.
Es kommt am 03.10.89 zu einer Demonstration vor dem Dresdner Hauptbahnhof. Ausreisewillige
hoffen, auf einen der von Bad Schandau her kommenden Ausreisezüge von der Prager Botschaft zu
gelangen zu können; Polizei riegelt den Bahnhof ab. Auch Passagiere mit Fahrkarten zu anderen
DDR-Zielen werden kontrolliert und zurückgewiesen; es kommt dabei zu Rangeleien und Prügeleien.
Onkel Meno, der zu einem Verlagstermin nach Berlin fahren will, wird ebenfalls verprügelt.
Jetzt richtet sich der Blick des Erzählers wieder auf Christian. Dieser hat nun fast fünf Jahre
Militärdienst abgeleistet und will endlich nach Hause. Doch sein Regiment wird am 05.10.89 mit
Schlagstöcken ausgerüstet und von Polizisten im Schlagstockgebrauch geschult:
Die Soldaten sollen in Dresden zum Einsatz kommen. Sie sind unsicher, ob sie der offiziellen
Information, es gehe gegen „Randalierer“ und „konterrevolutionäre Gruppierungen“ glauben
können. Einer droht „Pfannkuchen“, der das bezweifelt, er werde ihn anzeigen.
Christian widerspricht ihm: „Du wirst niemand anzeigen“ und Pfannkuchen fügt hinzu: „Hier hat
keiner was gehört.“ (S. 960) Die Greuelmeldungen von einem aufgehängten Polizisten und dem
zerstörten Dresdner Bahnhof seien Ammenmärchen.
In Dresden angekommen, erscheint Christian die Stadt wie etwas Fremdes, Ungekanntes.
Er scheint nicht mehr dazuzugehören. Er kommt auf der Prager Straße zum Einsatz:
„Geschrei, Befehle, Drohungen. Rücksichtslos. Durchgreifen. Der Gegner. Konterrevolutionäre Aggression.
Verteidigung der Heimat der Arbeiter-und-Bauern. ...
Die Soldaten schlossen sich in Hundertschaften zusammen, bildeten eine Kette, indem sie die Arme
unterhenkelten. Christian ging in der zweiten Reihe neben Pfannkuchen. Vom Hauptbahnhof drang dumpfes,
rhythmisches Klopfen. ’Voor-wäärts’ schrien die Offiziere. Christian spürte, wie seine Beine weich wurden, das
gleiche Gefühl wie bei der Urteilsverkündung im Gerichtssaal, jetzt fliegen können, etwas tun können, das den
Wahnsinn beendete .....
Die Soldaten blieben vor der Heinrich-Mann-Buchhandlung stehen, sperrten die Prager Straße ab. Christian sah
Anne (seine Mutter).
Sie stand ein paar Meter entfernt vor der Buchhandlung in einer Menschengruppe und sprach auf einen
Polizisten ein. Der Polizist hob den Stock und schlug zu. Einmal, zweimal. Anne fiel. Der Polizist bückte sich und
prügelte weiter. Trat zu. Bekam sofort Verstärkung, als jemand aus der Gruppe versuchte, ihn abzuhalten. Anne
hatte die Arme vor das Gesicht gelegt, wie ein Kind. Christian sah seine Mutter, die am Boden lag und von einem
Polizisten getreten, geprügelt wurde. Lampen glitten vorbei wie Taucher. Um Christian war ein leeres Gebiet, ein
verlorenes Dunkel, in das alles rutschte, was er an Schweigen und Schutz und Gehorsam angesammelt hatte. Er
nahm den Knüppel in beide Hände und wollte sich auf den Polizisten stürzen, um ihn zu schlagen, bis er tot war,
aber jemand hielt Christian, jemand umklammerte Christian, jemand schrie: ’Christian! Christian!’ und
Christian schrie zurück und heulte und strampelte mit den Beinen und urinierte vor Ohnmacht, dann war alles
vorbei, und er hing in Pfannkuchens Schraubstockgriff ....
Pfannkuchen trug ihn nach hinten, Christian schluchzte, Christian wollte tot sein. (S.961f)
Christian wird am nächsten Tag von einem Hauptmann der Militärpolizei vernommen. Er hat zuvor
eine Beruhigungsspritze bekommen und sagt nur nüchtern, feststellend:.„Schwedt“.
Der Hauptmann antwortet, nachdem er Christians Akte studiert hat: „Ich glaube nicht, dass Schwedt
sinnvoll wäre. Nein. Ich glaube, sie brauchen ... Urlaub“ und stellt ihm einen Urlaubsschein aus.
Einzige Auflage ist, dass er direkt (und nicht über Dresden) nach Bad Schandau zu seinem Großvater
fahren solle. Doch diese humane Behandlung durch den Militärpolizisten kann Christians endgültigen
Bruch mit dem System nicht mehr rückgängig machen. Sein Aufbäumen, als die Mutter geschlagen
wird, verbildlicht, dass er – trotz aller Angst – endgültig mit dem Zwangsstaat DDR gebrochen und
sich von ihm gelöst hat.
An einem Novembertag werden Christian und Pfannkuchen endlich aus dem Militärdienst entlassen.
Sie tragen zu ihrer Zivilkleidung die traditionelle Reservistenaufmachung.
Christian kommt sich dabei lächerlich und anachronistisch vor, als ob sich jetzt, wo man andere
Sorgen hatte, noch irgend jemand für sie und ihre Geschichten interessieren würde.
Pfannkuchen und Christian verabschieden sich kurz und bündig mit einem „Tschüß“.
Der Romanschluss ist damit erreicht; er wirft viele Fragen auf. Dies gilt sowohl für den vor der
Schlussseite eingeschobenen Auszug aus Menos Tagebuch als auch für den Schlussabschnitt :
„.... aber dann auf einmal ...
schlugen die Uhren, schlugen den 9. November,’Deutschland einig Vaterland’,
schlugen ans Brandenburger Tor:“ (S.973)
Im Tagebuchausschnitt auf der letzten Seite greift Meno das im Eingangsabschnitt „Ouvertüre“
gezeichnete Bild des in einem Strudel versinkenden Atlantis auf, das er für die untergegangene
DDR verwendet.
Sie versinkt in einem Mahlstrom aus ekligen Abwässern, in dem vor allem Parteizeitungsbrei und
Propagandamaterial treiben. Mit ihr verschwindet auch die auf S. 965 beschriebene „Sprachstanze“,
über die das Presseamt der Regierung in Orwell’schem „Newspeak“ die offizielle Sprachregelung
des Systems betrieben hat.
WICHTIGSTES KRITERIUM DER OBJEKTIVITÄT IST DIE PARTEILICHKEIT ,GENOSSE! OBJEKTIV SEIN
HEISST PARTEI ERGREIFEN FÜR DIE HISTORISCHE GESETZMÄSSIGKEIT FÜR DIE REVOLUTION
FÜR DEN SOZIALISMUS!
Mit diesem 09. November 1989 ist auch für Christian Hoffmann eine neue Zeit angebrochen.
Wie ist seine Entwicklung im Hinblick auf das Romanende einzuordnen?
Christian erhoffte sich wohl – wie seine Eltern und die übrige Großfamilie – mit dem Wohnen und
Leben in dem bildungsbürgerlich geprägten Milieu des Turmviertels einen Schonraum zu besitzen,
der ihm das Dasein in der DDR erträglich machen würde.
Doch diesen Schonraum muss er zur Ableistung der Wehrpflicht verlassen; eine Verweigerung hätte
schwerwiegende Nachteile für seine Studien- und Berufsziele (Medizinstudium, medizinische
Forschung) gehabt. Er erlebt beim Militär und dann im Militärstrafvollzug den totalitären Staat,
der ihn umerziehen will, mit allen Zwangsmaßnahmen und Härten, sodass er schließlich
verstummt und sich anpasst.
Erst über das Erlebnis auf der Prager Straße, als er auf Befehl des Staates gegen seine demonstrierende Mutter vorgehen soll und sieht, wie sie von Polizisten misshandelt wird, verliert er seine
Furcht vor der Staatsgewalt. Rasend vor Zorn lehnt er sich auf und wird so innerlich frei.
So ist er auch bereit für den 09. November und die Deutsche Einheit.
Was diese Einheit für ihn bringen wird, bleibt allerdings offen.
Darauf weist wohl der Doppelpunkt hin, der statt eines Schlusspunkts am Romanende steht. ...
Auch das Turmviertel ist mit der DDR untergegangen.
Abschließend soll noch auf größere Ähnlichkeiten in der Biographie Christian Hoffmanns und
Uwe Tellkamps hingewiesen werden:
Uwe Tellkamp (geb. 1968 in Dresden) ist drei Jahre jünger als Christian (geb. 1965), ebenfalls Sohn
eines Arztes und im Villenstadtteil „Weißer Hirsch“ (Oskar-Pletsch-Str.10) aufgewachsen. Nach
dem Abitur verpflichtete er sich, um sein geplantes Medizinstudium abzusichern, in der NVA zum
dreijährigen Dienst als Uffz auf Zeit und war dort bis Oktober 89 tätig als Panzerkommandant.
(dies und das Folgende: Interview vom 3.10.08 mit Gerrit Bartels, Tagesspiegel Berlin)
Weil seine Einheit am 05.10.89 den Befehl erhält, gegen eine Gruppe von Oppositionellen (Gruppe 20)
vorzugehen, unter denen er seinen Bruder vermutet, verweigert er den Befehl, wird für zwei Wochen
inhaftiert und danach beurlaubt. Tellkamp hat nicht im Militärgefängnis Schwedt eingesessen!
Nach seinem Ausscheiden aus der NVA war er als Gehilfe auf einem Braunkohlebagger, als Hilfsdreher
in einem Lichtmaschinenwerk und ab 1990 als Hilfspfleger auf einer Dresdner Intensivstation tätig.
Nach dem Ende der DDR studiert er in Leipzig, New York und Dresden Medizin, arbeitet dann in einer
unfallchirurgischen Klinik in München, gibt den Arztberuf jedoch schon 2004 zugunsten seiner
Schriftstellertätigkeit auf.
Er ist verheiratet (1 Sohn, 1 Tochter); Hauptwohnsitz ist ab 2009 Dresden, Stadtteil „Weißer Hirsch“
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