Zur Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf

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Zur Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf.
Ein Diskussionsbeitrag des Wissenschaftlichen Beirats
des Beauftragen für Umweltfragen des Rates der EKD,
1991², EKD-Text 41.
kopiert von der CD-Rom „Die Denkschriften der EKD“
(die entsprechenden Seitenzahlen sind oben eingestellt)
Herausgegeben
vom Kirchenamt der
Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)
Herrenhäuser Straße 12
3000 Hannover 21
D:\68630092.doc
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Inhaltsübersicht
Vorwort - ............................................................................................................... Seite 3
I. Einleitung - ....................................................................................................... Seite 5
II. Grundlegende Einsichten - ............................................................................ Seite 6
III. Wie weit reicht die Verminderung der Gewalt? - ..................................... Seite 12
IV. Mitgeschöpfliches Verhalten konkret - ....................................................... Seite 15
1. Schlachtung - ............................................................................................... Seite 16
2. Nutztierhaltung - ......................................................................................... Seite 19
3. Züchtung - ................................................................................................... Seite 20
4 Tierversuche - ............................................................................................... Seite 20
5. Jagd - ........................................................................................................... Seite 22
6. Pelzgewinnung - .......................................................................................... Seite 23
7. Delikatessen, Schmuck- und Modeartikel - ................................................ Seite 25
8. Tötung von Tieren als Freizeitbeschäftigung - ........................................... Seite 25
9. Heim- und Hobbytiere - .............................................................................. Seite 25
10. Tierhandel - ................................................................................................. Seite 26
11. Zoo- und Zirkustiere - ................................................................................. Seite 26
12. Wildtiere - ................................................................................................... Seite 27
V. Aufgaben von Kirche und Politik - ............................................................... Seite 28
VI. Schluß - .......................................................................................................... Seite 30
Anhang: Auszüge aus kirchlichen Erklärungen - ............................................ Seite 33
Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats des Beauftragten für
Umweltfragen des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland - ........... Seite 51
Nachwort .............................................................................................................. Seite 51
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Vorwort
Der hier vom Wissenschaftlichen Beirat des Beauftragten für Umweltfragen vorgelegte
Diskussionsbeitrag ist keine Stellungnahme der evangelischen Kirche, die eine gegenwärtig
geführte Debatte abschließt. Er weist vielmehr auf Probleme hin, die wie in der Gesellschaft
so auch unter Christen umstritten sind. Unumstritten dagegen ist die Aufgabe, zusammen mit
einem neuem Naturverständnis auch ein neues Verhältnis der Menschen zu den Tieren als
ihren Mitgeschöpfen zu finden.
Die mit der technischen Zivilisation eingetretene Fremdheit des Menschen gegenüber seinen
elementaren Lebensgrundlagen stört auch das Verhältnis zwischen Menschen und Tieren. Die
Fremdheit äußert sich auf der einen Seite in der Einschätzung der Tiere als bloßer Sachen, als
Gebrauchs- und Verbrauchsgüter, ohne Respekt vor ihrem Eigenwert, auf der anderen als
Verklärung des Verhältnisses von Menschen und Tieren, die den eschatologischen Frieden
schon in der Schöpfung realisieren möchte und für die Widersprüche in der von uns
vorgefundenen Welt blind ist.
Hier das richtige Maß zu finden, die Aufgaben des Tierschutzes konkret beim Namen zu
nennen, notwendige Veränderungen nicht durch die Einsprüche einer schlechten Realität zu
blockieren - dazu soll auch dieser Beitrag voranhelfen.
Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland hat aufgrund der hier veröffentlichten
Ausarbeitung selber engagiert und kontrovers diskutiert. Er dankt den Mitgliedern des
Wissenschaftlichen Beirats für viele Anregungen und Anstöße. Vom Fortgang der Diskussion
erhofft er zu unser aller Nutzen mehr Klarheit, ob das Ziel der Verminderung der Gewalt
zwischen Mensch und Tier vom biblischen Zeugnis her weitergeführt werden darf zu der
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radikalen Position einer prinzipiellen Ablehnung von Gewalt, anders gesagt: in welcher
Weise ein Schöpfungspazifismus eschatologische Hoffnung bleiben muß und wieweit er
schon jetzt das Handeln leiten soll.
Hannover, im Oktober 1991
Dr. Hartmut Löwe
Präsident im Kirchenamt
der Evangelischen Kirche in Deutschland
-5-
I. Einleitung
(1) Das Verhältnis der Menschen zur Schöpfung beginnt sich zu verändern - wenn auch erst
als Folge der Einsicht, daß mit der Natur ihre eigenen Lebensgrundlagen in Gefahr geraten.
Das Gefühl für die Kostbarkeit der Natur ist gewachsen. Die Natur hört auf, nur Umwelt als
Nutzungs- und Gestaltungsbereich der sich als Mittelpunkt und alleinigen Zweck der
Schöpfung verstehenden Menschen zu sein: Immer deutlicher wird sie als Mitwelt
empfunden.
(2) Auch die Kirchen haben im letzten Jahrzehnt mehrfach zu Fragen der Verantwortung für
den Bestand der Schöpfung Stellung genommen. Mit ausgelöst wurden die kirchlichen
Äußerungen durch den Vorwurf, Theologie und Kirche hätten sich durch die Duldung oder
gar Propagierung eines ausbeuterischen Verständnisses des Herrschaftsauftrags „Macht euch
die Erde untertan“ mitschuldig gemacht an der sich seit den 60er Jahren immer deutlicher
abzeichnenden Gefährdung der natürlichen Grundlagen des Lebens. Im Ergebnis dieser
Diskussion besteht Einverständnis, daß die heutige Krise nicht einfach der
Wirkungsgeschichte der biblischen Beauftragung des Menschen, als Treuhänder Gottes über
die Erde zu herrschen, zugerechnet werden kann, daß vielmehr verschiedene Traditionen und
Entwicklungsstränge in der Neuzeit dazu geführt haben, die Natur bloß noch als Material zur
Optimierung des menschlichen Nutzens anzusehen und zu behandeln. In dieser Sicht sind
freilich auch Christen, Kirchen und Theologie befangen. Um so notwendiger ist ein
Umdenken im Verhältnis zur Natur.
Dies wurde im übrigen nicht erst in den letzten 20 Jahren erkannt. Schon 1854 hatte der
dänische Bischof Hans Lassen Martensen gefordert, der Natur mit Humanität zu begegnen (s.
unten Ziffer 58), und 1959 - lange bevor „Umweltschutz“ zum gängigen Begriff wurde - hatte
der Zürcher Theologe Fritz Blanke das Wort von der Mitgeschöpflichkeit geprägt, um damit
den
traditionellen
Begriff
der
Mitmenschlichkeit
in
den
umfassenden
Schöpfungszusammenhang zu bringen.
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(3) Das Mensch-Tier-Verhältnis nimmt an den Wandlungen im Verhältnis zur Natur teil.
Augenscheinlich wird dies bis hinein in das Gebiet des Rechts: Der Zweck des 1986
verabschiedeten novellierten Tierschutzgetzes wird in § 1 dahingehend gefaßt, „aus der
Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden
zu schützen“. Neuerdings zeigen sich mit dem „Gesetz zur Verbesserung der Rechtsstellung
des Tieres im bürgerlichen Recht“ von 1990 erste Ansätze, die rechtliche Einordnung von
Tieren als Sachen zu überwinden.
(4) In kirchlichen Stellungnahmen ist das Mensch-Tier-Verhältnis bis heute immer nur im
Kontext anderer, weiterer Themen - wie der Verantwortung für die Schöpfung, des
Lebensschutzes oder der Neuorientierung der Landwirtschaft - behandelt worden; die
wichtigsten Texte sind im Anhang abgedruckt. Doch was fehlt, ist ein eigenständiger, die
Probleme des Mensch-Tier-Verhältnisses im Zusammenhang bearbeitender Beitrag, der dem
Gewicht der Frage nach dem Verhältnis zum Tier als Mitgeschöpf gerecht wird und vor allem
die Konsequenzen aus den vorliegenden grundsätzlichen Überlegungen für die verschiedenen
konkreten Aufgabenfelder des Tierschutzes entfaltet. Dies soll im folgenden geschehen.
II. Grundlegende Einsichten
(5) Für die christliche Sicht des Verhältnisses von Mensch und Tier bleibt grundlegend, wie
die Bibel, vor allem' in ihren Aussagen über die Welt als Gottes Schöpfung, dieses Verhältnis
bestimmt.
Mensch und Tier gehören zusammen als Geschöpfe: Beide geben sie sich ihre
Lebensmöglichkeiten, ihren Lebensraum und ihre Lebensversorgung, nicht selbst. Sie
verdanken ihr Leben Gott, dem Schöpfer und Erhalter. Das schließt sie zusammen in
Abhängigkeit und Angewiesensein (Ps 104,27-30) und verwehrt dem Menschen, sich in
Hochmut grundsätzlich vom Tier abzusetzen und über es zu erheben.
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(6) Die Geschöpfe Mensch und Tier sind ihrerseits nur ein Teil des großen Gesamtgefüges der
Schöpfung. In ihm vollzieht sich das Wunder, daß Leben stetig und ohne das Zutun der
Menschen da ist und Bestand hat. Je genauer die Erscheinung des Lebens untersucht wird,
desto mehr bietet sie Anlaß zu dankbarem Staunen. In solches Staunen führt gerade auch die
Betrachtung der Tierwelt. Allerdings darf es kein flüchtiges Gefühl sein, sondern muß gelernt
werden und als bleibende Einstellung Handeln und Verhalten bestimmen. Es gibt Grund für
die Erwartung, daß Menschen, die Tiere in der Haltung dankbaren Staunens wahrnehmen,
ihnen auch mit mehr Achtung und Scheu begegnen.
(7) Eine solche Betrachtungsweise führt auch zu der Einsicht, daß weder die Lebewesen noch
die unbelebten Teile der Welt darin aufgehen, für die Menschen und ihren Nutzen dazusein.
Noch vor ihrer Nutzung durch Menschen haben sie einen Nutzwert für andere Lebewesen und
für den Lebensprozeß insgesamt. Schon dies legt den Menschen bei ihrem Umgang mit der
Natur und so auch mit den Tieren Rücksichten auf; sie dürfen sich nicht nur an ihren eigenen
Interessen ausrichten, sondern müssen die möglichen Auswirkungen auf die
Lebensmöglichkeiten anderen Lebens mitbedenken. Vor allem aber haben die Mitgeschöpfe
der Menschen unabhängig von ihrem Nutzwert einen eigenen Sinn und Wert.
(8) In diesem Kontext ist die Beauftragung der Menschen zur Herrschaft über die Tiere und
über die Erde insgesamt (1.Mose 1,27f; Ps 8,7-9) zu lesen und zu deuten. Sie macht auf
fundamentale Unterschiede zwischen den Menschen und ihren Mitgeschöpfen aufmerksam.
Von der unveräußerlichen Würde und dem uneingeschränkten Lebensrecht jedes einzelnen
kann nur beim Menschen die Rede sein. Insofern bleibt es auch durchaus sachgemäß, von
einer Sonderstellung des Menschen gegenüber der Natur zu sprechen. Nicht die besondere
Stellung selbst ist strittig, sondern die Art und Weise, in der sie wahrgenommen wird.
Herrschaft verlangt Demut. Als Gottes Ebenbild hat der Mensch maßzunehmen am Urbild.
Dann muß aber alle Ausübung von Macht auf die Bewahrung der Schöpfung gerichtet sein
und in liebender Sorge und hegendem Bewahren geschehen.
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(9) Die Sonderstellung des Menschen unter seinen Mitgeschöpfen schließt die Aufgabe ein, in
besonderer Weise Verantwortung wahrzunehmen. Allein der Mensch kann die Folgen seines
Handelns für Mitmensch und Mitgeschöpf erkennen und daraus Folgerungen ziehen; allein
der Mensch kann darum auch an der Schöpfung schuldig werden.
(10) Die biblischen Texte leiten aber nicht nur an, über das Wunder des Lebens zu staunen
und die Größe der Verantwortung des Menschen zu erkennen. Sie zwingen auch zu einer
nüchternen, illusionslosen Sicht der kreatürlichen Welt: Alles Leben wird in engen Grenzen
gelebt. Damit entstehen Konkurrenz, Aggression und der Kampf ums Überleben. Das
Verhältnis der Tiere untereinander ist von Gewalt geprägt und läßt den menschlichen
Betrachter nicht selten erschrecken über die Grausamkeit und Brutalität des kreatürlichen
Lebens. Aber auch zwischen Menschen und Tieren herrscht Gewalt (1.Mose 6,13; 9,1-4).
Solange es Leben auf der Erde gibt, wird dieser Zustand andauern. Tierliebe und
Menschenliebe können zueinander in Spannung treten. Ganz offenkundig wird dies etwa bei
Krankheitserregern. Wenn Menschen von der Tötung tierischen Lebens leben oder zur
Abwehr von Gefahren Tiere töten, dann ist dies wohl ein Zeichen der - in der Sprache der
Theologie - „gefallenen“ Welt, jedoch nicht in sich bereits individuelle Schuld und Belastung
des Gewissens.
(11) Das bedeutet freilich keine Rechtfertigung für eine gedankenlose, ungehemmte Nutzung
oder gar Ausbeutung der Tiere durch die Menschen. Die Legitimation, Leistungen und Leben
der Tiere in Anspruch zu nehmen, bleibt innerhalb der Klammer des Auftrags zu einer
Herrschaft in liebender Sorge und hegendem Bewahren. Dies zeigt sich in den einschlägigen
biblischen Texten schon am Verbot des Blutgenusses 1.Mose 9,4, das von Juden und
Moslems bis heute eingehalten wird. Dieses Bluttabu ist Ausdruck einer tiefen Achtung und
Scheu vor Gott, der den Tieren das Leben gibt und darum die Verfügungsgewalt über ihr
Leben besitzt. Wo bewußt bleibt, daß wir Menschen in der Tat vom Opfer anderen Lebens
leben, wird auch der Umgang mit diesem anderen Leben von Ehrfurcht bestimmt sein. Heute
geschieht
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das Töten von Tieren in der Regel ohne persönliche Beteiligung des Nutzers und zudem in so
riesigen Zahlen, daß das Tier nicht mehr als Opfer in einem religiösen Sinne, sondern als
bloße, beliebig nutzbare Ressource wahrgenommen wird.
(12) Wenn die Menschen ihre Herrschaft über die Tiere in liebender Sorge und hegendem
Bewahren ausüben, ergeben sich konkrete Veränderungen und Verwandlungen in dem
zwischen ihnen bestehenden Verhältnis der Gewalt: Sie laufen auf eine Verminderung der
Gewalt hinaus. Dabei geht es insbesondere darum, die Zufügung von Leiden und Schmerzen
zu begrenzen oder ganz zu vermeiden. Das Gewaltverhältnis zwischen Mensch und Tier ist
zwar grundsätzlich unaufhebbar und besteht qualitativ fort. Aber Gewalt kann so und kann so
ausgeübt werden, ihr quantitatives Ausmaß läßt sich beeinflussen. Darauf zielt auch die
Mahnung des Alten Testaments, barmherzig mit den Tieren umzugehen: „Der Gerechte
erbarmt sich seines Viehs; aber das Herz der Gottlosen ist unbarmherzig“ (Spr 12,10; vgl.
2.Mose 20,10). Man kann noch einen Schritt weitergehen und im Sinne der Ausweitung der
mitmenschlichen zu einer mitgeschöpflichen Ethik die Aussagen des Neuen Testaments über
die Werke des lebendigmachenden Geistes (Gal 5,22f; Eph 5,9) auf das Verhalten gegenüber
den Tieren beziehen: Liebe, Friede, Güte, Treue, Sanftmut und Gerechtigkeit müssen sich im
Umgang mit allem Lebendigen bewähren. Ein Wort aus dem letzten Jahrhundert besagt, daß
das „Vieh im Stall“ an seiner Behandlung merkt, „wenn der Bauer sich bekehrt“.
(13) Auf eine Verminderung der Gewalt ist auch die Verpflichtung zur Humanität gerichtet.
Nur auf den ersten Blick wirkt es befremdlich, den Umgang von Menschen mit Tieren am
Maßstab der Humanität zu messen. Aber die Menschlichkeit des Menschen steht in allem,
was er tut, auf dem Spiel. Sie bewährt sich zum Beispiel darin, daß er die Kräfte der Vernunft,
die ihm gegeben sind, einsetzt und den Empfindungen des Mitgefühls Raum gibt. Ein
gedankenloser oder ein brutaler Umgang mit den Tieren ist nicht menschlich. Es besteht
Grund zu der Befürchtung, daß Gedankenlosigkeit und Brutalität im Verhalten gegenüber
dem
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Mitgeschöpf Tier durchschlagen auf das Verhalten gegenüber dem Mitgeschöpf Mensch.
(14) Im Verhältnis zu den Tieren geht es jedoch nicht allein uni Barmherzigkeit und
Humanität, sondern auch um Gerechtigkeit. Viele sehen in dieser Forderung eine unzulässige
Gleichstellung von Mensch und Tier. Dabei wird verkannt, daß Gerechtigkeit nicht nur eine
Pflicht unter Gleichgestellten ist; sie ist vielmehr gerade auch gegenüber Hilflosen,
Unterdrückten und Unmündigen, somit auch gegenüber Tieren zu erfüllen. Die Forderung
nach Gerechtigkeit zielt dabei keineswegs darauf, Tiere wie Menschen zu behandeln. Die
Mensch-Tier-Unterschiede werden nicht eingeebnet, sondern beachtet: Das Tier ist nicht nur
wegen seiner Nähe zum Menschen und nach Maßgabe seiner Menschenähnlichkeit zu
akzeptieren, sondern gerade auch in seiner Andersartigkeit, die nicht als abwertender Mangel
zu verstehen ist. Den Menschen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen bedeutet, ihnen ein
Leben in Menschlichkeit zu sichern; entsprechend verlangt Gerechtigkeit im Blick auf die
Tiere, sie tiergerecht, insbesondere artgerecht zu behandeln. Die artgerechte Behandlung von
Tieren hat zur Voraussetzung, ihnen Bedürfnisse zuzugestehen - und zwar, bezogen auf den
Menschen, sowohl gleiche als auch andere - und sich mit diesen Bedürfnissen vertraut zu
machen.
(15) In jüngster Zeit ist das Problem deutlicher ins Bewußtsein getreten, daß der
Eigentumsbegriff in der Anwendung auf Lebewesen ungeklärt ist. Für den Rechtsbegriff des
Eigentums ist es kennzeichnend, daß die Sache selbst, an der das Eigentum besteht, der
Verfügung über sie keine immanenten Schranken setzt und Eingrenzungen der ungehinderten
Verfügungsgewalt über das Eigentum (wie etwa die in Art. 14 des Grundgesetzes verankerte
Norm der Sozialpflichtigkeit) erst nachträglich hinzutreten. Aber ein Tier kann schwerlich in
ebendem Sinne als Sache verstanden werden, wie dies z.B. bei einem Buch oder einer Aktie
oder einem Haus der Fall ist. Erst kürzlich sind daraus für das bürgerliche Recht in der
Bundesrepublik Deutschland erste Konsequenzen gezogen worden (s. oben Ziffer 3). Können
Tiere aber überhaupt als Größen gelten, an denen Eigentum zu begründen ist? Die biblischtheologische Sicht muß sich ohnehin an dem
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Bekenntnis orientieren: „Die Erde ist des Herrn und was darinnen ist, der Erdkreis und die
darauf wohnen“ (Ps 24,1). Alle Eigentums- und Rechtsvorstellungen, die Menschen
entwickeln und von denen sie sich in ihrem Umgang mit der Natur leiten lassen, sind dem
Respekt vor Gottes Rechtsvorbehalt auf seine Erde einund zuzuordnen. Zu denken gibt in
diesem Zusammenhang, daß noch das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 ein
Eigentum an Tieren nur im Außenverhältnis gegenüber den Bestreitern dieses Rechts, nicht
aber im Innenverhältnis zu den Tieren selbst kennt. Darin steckt die Einsicht, daß Menschen
mit den Mitgeschöpfen, die in ihrer Verfügung stehen, nicht nach freiem Belieben verfahren
dürfen.
(16) Das Mensch-Tier-Verhältnis ist aus biblisch-theologischer Sicht nicht vollständig
beschrieben, wenn sich der Blick allein auf die Welt, wie sie ist, richtet. Diese Perspektive
verhilft zu der nötigen Nüchternheit. Aber der nüchterne Realismus verkommt zu einem SichAbfinden mit den gegebenen schlechten Verhältnissen, wenn er nicht umgriffen wird von der
Vision einer anderen, neuen Welt. Für die biblischen Texte ist es kennzeichnend, daß alle
Aussagen über Mensch und Tier im Licht der Erwartung einer anderen, neuen Welt und des
Friedens in und mit der Schöpfung stehen. Die Schöpfungsgeschichte (1.Mose 1,29f) bewahrt
die Erinnerung daran auf, daß die von Gott sehr gut gemachte Welt kein Blutvergießen unter
Tieren und Menschen kannte: Beiden wird pflanzliche Nahrung zugewiesen. Dieser
Schöpfungsfrieden ist dann Gegenstand alttestamentlicher Verheißungen der kommenden
neuen Welt: „ Da werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den
Böcken lagern ...“ (Jes 11,6-9; vgl. 65,17ff). Paulus bezieht die „Herrlichkeit, die an uns
offenbart werden soll“, ausdrücklich auf „die ganze Schöpfung“, die „bis zu diesem
Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet“ (Röm 8,18-25). Alle diese Hoffnungen werden
aufgerufen und wachgerufen, wenn wir im Vaterunser beten: „Dein Reich komme“ (Matth
6,10). Die kommende neue Welt und darum auch der Frieden mit der Natur sind für den
christlichen Glauben das Werk Gottes. Menschen können die Verhältnisse des Reiches Gottes
nicht heraufführen. Aber wie es im Blick auf die Verhält-
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nisse unter Menschen Anfänge und den Vorschein der kommenden Erlösung gibt (vgl. 2.Kor
5,17ff; Gal 5,16ff; Eph 4,17), so kann die neue Schöpfung auch im Verhältnis zu den Tieren
durch ein entsprechendes Handeln der Menschen zeichenhaft sichtbar werden.
III. Wie weit reicht die Verminderung der Gewalt?
(17) Die Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats sind sich darin einig, daß das Verhältnis
zwischen Mensch und Tier unaufhebbar auch von Gewalt geprägt ist, daß aber das Maß der
von den Menschen ausgeübten Gewalt vermindert werden kann und muß (s. oben Ziffer 1013). Unterschiedliche Auffassungen treten hervor, wenn die Frage zu beantworten ist: Wie
weit reicht die Verminderung der Gewalt? Einige Mitglieder des Beirats sehen die
Notwendigkeit und die Möglichkeit, die Gewalt gegen Tiere nicht bloß zu begrenzen und
einzudämmen, sondern in weiten Bereichen fortschreitend zu überwinden und aufzuheben.
Sie verstehen dies als eine radikale Ethik der Mitgeschöpflichkeit.
(18) Die Vertreter der weitergehenden Auffassung lassen sich von Überlegungen leiten, mit
denen die in Teil II dargestellten grundlegenden Einsichten teils zuspitzend interpretiert, teils
überschritten werden. Sie argumentieren dabei in folgender Weise:
Der Zustand des verheißenen Schöpfungsfriedens ist der Richtpunkt, an dem sich die
Zielvorstellungen zu orientieren haben. Dabei wird die Grenze durchaus gewahrt, die
Verwirklichung des Reiches Gottes nicht von Menschen zu erwarten; in ihren Herzen soll es
zwar beginnen (Lk 17,21), aber letztlich können Menschen nichts zuwege bringen als
Stückwerk. Jedoch kann auch für diesen bloßen Versuch die eschatologische Hoffnung, also
die Vorstellung von der kommenden neuen Welt, unmittelbar handlungsleitend werden. Die
Welt soll nicht bleiben, wie sie ist, sondern im Lichte des Reiches Gottes und in Richtung auf
den Schöpfungsfrieden verwandelt werden. Wenn schon das Verhältnis der Gewalt unter
Tieren sich dem menschlichen Einfluß weithin entzieht, dann rechtfertigt dieser Umstand
keineswegs, auch dort auf Veränderungen zu verzichten, wo sie möglich sind: nämlich im
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Verhältnis zwischen Mensch und Tier. Die Orientierung an der Vorstellung vom verheißenen
Schöpfungsfrieden verleiht dem Denken und Handeln zugunsten der Mitgeschöpfe eine starke
Dynamik. Die daraus folgende zugespitzte Ethik der MenschTier-Beziehung ist dabei nicht
utopischer und unerreichbarer als die zwischenmenschliche Ethik der Bergpredigt, ohne die
das Liebesgebot des Neuen Testamentes seinen Glanz verlöre.
In der Friedensdiskussion ist auch der Frieden mit der Schöpfung ins Auge zu fassen. Mit
Recht wird immer gesagt, daß der Friedenswille in der unmittelbaren Umgebung des
Menschen beginnen muß; aber das bezieht sich nicht nur auf die Mitmenschen, sondern
ebenso auf die Tiere.
Auf Albert Schweitzer geht die Forderung einer allgemeinen „Ehrfurcht vor dem Leben“
zurück. Entsprechend kann in der biblisch-christlichen Ethik eine Tendenz festgestellt
werden, dem Liebesgebot eine immer größere Reichweite zu verschaffen - bis hin zum
Verständnis des Sterbens Jesu als Erlösung für die ganze, auch die außermenschliche
Schöpfung (Kol 1,20). Mit den Kriterien von Ehrfurcht und Liebe sind aber dem Umgehen
mit Tieren enge Grenzen gesetzt. Eine Nutzung der Tiere ist nur zulässig, solange sie weder
mit Schmerzen noch mit Leiden zugunsten erhöhter Produktionsleistung für den Menschen
verbunden ist und solange die geschöpfliche Würde der Tiere gewahrt bleibt. Auch das Leben
der Tiere ist grundsätzlich geschützt. Die Tötung von Tieren ist lediglich als Akt der
Barmherzigkeit geboten, um ein nicht zu behebendes Leiden zu beenden, oder sie muß als
Folge einer Notwehrhandlung und in vergleichbaren Extremsituationen hingenommen
werden. Die Ausübung von Gewalt gegenüber Tieren ist so lange mit Schuld verbunden, wie
die handelnden Menschen nicht über das bisherige Maß der Gewaltminderung hinausgehen
und die erforderlichen Verzichtleistungen auf sich nehmen.
Die Vertreter einer radikalen Ethik der Mitgeschöpflichkeit halten im übrigen noch
Zuspitzungen in einzelnen Punkten der grundlegenden Einsichten für erforderlich. Die
Aussage, daß der Mensch eine unveräußerliche Würde und ein uneingeschränktes
Lebensrecht hat, ist nicht strittig; aber der Begriff der Würde ist
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nicht auf die Menschen zu begrenzen; die Tiere haben an der allgemeinen geschöpflichen
Würde teil. Weiter ist zu fragen, ob sich die Menschen, wenn sie von der Tötung anderen
Lebens leben, wirklich von jeder Gewissensbelastung frei fühlen dürfen; die Kirche hat die
Pflicht, auf eine Schärfung der Gewissen hinzuwirken. Die Feststellung, daß die Legitimation,
Leistungen und Leben der Tiere in Anspruch zu nehmen, innerhalb der Klammer von
liebender Sorge und hegendem Bewahren zu verstehen sei, bleibt solange mit einem
Widerspruch belastet, wie der Anspruch auf das Leben der Tiere nicht kritischer als bisher
überprüft wird. Es ist richtig, daß Gerechtigkeit auch gegenüber den Tieren ein Doppeltes
verlangt: ihre Gleich- oder Ähnlichbehandlung, soweit sie den Menschen - etwa in Bezug auf
Schmerz- und Leidensfähigkeit - gleich oder ähnlich sind, ihre Andersbehandlung, wo es die
Unterschiede rechtfertigen oder verlangen; nun bedeutet der Tod gewiß für ein Tier etwas
anderes als für den Menschen, schon weil das Tier vom Tod nichts weiß; aber die Frage, ob
dieser Unterschied auch ausreicht, eine so gravierende Andersbehandlung, wie wir sie
verbreitet erleben, als gerecht anzusehen, ist bisher noch kaum diskutiert worden.
(19) Der Gedanke der Gewaltminderung besitzt eine innere Dynamik. Er schließt schon als
solcher die ständige Auseinandersetzung über das notwendige und mögliche Maß der
Gewaltminderung ein. Diese quantitative Komponente erleichtert das Gespräch zwischen den
unterschiedlichen Auffassungen zu den Aufgaben des Tierschutzes. Die Auseinandersetzung
über die Reichweite der Gewaltminderung hat aber auch eine grundsätzliche Komponente:
Dabei geht es um die Ermächtigung der Menschen zur Gewalt gegenüber den Tieren, wie sie
in 1.Mose 9,2 ausgesprochen ist. Diese Ermächtigung wird von der radikalen Ethik der
Mitgeschöpflichkeit als letztlich unvereinbar mit dem neutestamentlichen Liebesgebot und
damit als ein zu überwindender Zustand angesehen. In Teil II wird sie dagegen ausdrücklich
als ein bleibendes Merkmal der kreatürlichen Welt festgehalten, um eine rigoristische Sicht
und die damit verbundene Überforderung zu vermeiden. An diesem Punkt läßt sich im
Wissenschaftlichen Beirat der Dissens nicht überbrücken.
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IV . Mitgeschöpfliches Verhalten konkret
(20) In den vorausgegangenen drei Teilen sind die Grundsätze und Ziele in der
Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf diskutiert worden. Die
Schwierigkeiten, die sich bei der konkreten Umsetzung der Grundsätze und Ziele einstellen,
wurden allenfalls angedeutet. Um diese Konkretisierung soll es im folgenden gehen. Dazu
werden einige ausgewählte Konfliktfelder thematisiert.
(21) Von Anfang an ist bei der konkreten Umsetzung der Grundsätze und Ziele darauf zu
achten, daß die Forderung nach Barmherzigkeit, Humanität und Gerechtigkeit gegenüber den
Tieren nicht genau in dem Augenblick aufgegeben wird, wo sie Veränderungen im
vorfindlichen Mensch-Tier-Verhältnis nach sich zieht. Es darf nicht sein, daß die Grundsätze
und Ziele auf ein Podest von Denkschriften oder feiertäglichen Erklärungen gestellt werden,
auf dem Boden des alltäglichen Handelns aber ein kompromißlerisches Sich-Arrangieren mit
den gegenwärtigen Verhältnissen Platz greift. Minimierung von Gewalt ist als Leitlinie nur
dann annehmbar, wenn dabei nicht untragbare Zustände in bedauerliche Notwendigkeiten
umformuliert und Halbheiten, mit denen man bequem leben kann, schon als Lösungen
ausgegeben werden. Es ist nicht Sache der Kirche, die christliche Ethik dahingehend zu
prüfen und anzupassen, wie sie mit der menschlichen Schwäche und Bequemlichkeit
verträglich ist.
(22) Quantifizierende Fragen sind legitim und wichtig: Wieviel Bewegungsraum ist für eine
artgerechte Haltung erforderlich? Auch: Welche Kosten verursacht eine bestimmte
Anforderung? Aber Tierschutz läßt sich, wenn er denn tatsächlich „aus der Verantwortung des
Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden ... schützen“ soll
(Tierschutzgesetz § 1), nicht mit quantifizierenden Kategorien allein erreichen. Er erfordert
vielmehr die Bereitschaft, sich der Infragestellung der Qualität des üblich gewordenen
Umgangs mit den Tieren zu öffnen und, wo sie sich als unausweichlich aufdrängen, die
nötigen, vielleicht schmerzlichen Konsequenzen zu ziehen.
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(23) Barmherzigkeit, Humanität und Gerechtigkeit sind unteilbar. Wird eingeschärft, daß sie
das Verhältnis zum Tier bestimmen sollen, so ist zugleich daran zu erinnern, daß sie auch
gegenüber den Menschen' gelten, die - aus welchen Gründen auch immer die Nutzung von
Tieren beruflich betreiben. Für das zum Teil skandalöse Ungenügen des Tierschutzes tragen
im allgemeinen und in erster Linie nicht die Angehörigen der mit der Tiernutzung befaßten
Berufe Verantwortung, sondern die Lebensweise der gesamten Gesellschaft. Sie verlangt, was
in Barmherzigkeit, Humanität und Gerechtigkeit gegenüber den Tieren gar nicht erreicht
werden kann. Ein bestimmtes Produkt möglichst billig haben zu wollen, aber die
Erzeugungsweise zu verurteilen ist töricht und unfair. Überdies haben nur wenige Tierhalter
oder Experimentatoren in ihrer Berufsausbildung Überlegungen zur moralischen
Vertretbarkeit ihres Handelns anzustellen brauchen. Tierethische Fragen müssen aber ein
integraler Bestandteil aller auf die Nutzung von Tieren abgestellten Ausbildungsgänge
werden.
(24) Die Unteilbarkeit der Ethik verlangt im übrigen auch, im Eintreten für den verbesserten
Schutz von Tieren alle Mittel und Wege auszuschließen, die unter ethischen Gesichtspunkten
ihrerseits fragwürdig oder offenkundig unvertretbar sind. Wer einen weitergehenden
Tierschutz will und sich dabei auf ethische Forderungen beruft, muß auch bei der Wahl seiner
eigenen Mittel ethische Maßstäbe anlegen und gegenüber seinen Konfliktpartnern auf unfaire
Methoden wie Unterstellungen, Pauschalverurteilungen oder militantes Vorgehen verzichten.
Selbst das persönliche Versagen von Menschen, für die Mitgeschöpflichkeit ein Fremdwort
ist, gibt Tierschützern nicht das Recht, nun ihrerseits die Mitmenschlichkeit aus ihrem
Wortschatz zu streichen.
1. Schlachtung
(25) Die Schlachtung von Tieren zum Zwecke der menschlichen Ernährung ist der am
meisten verbreitete Ausdruck des Gewaltverhältnisses zwischen Mensch und Tier und stellt
darum für die Förderung mitgeschöpflichen Verhaltens das schärfste Problem dar. Jährlich
werden in der alten Bundesrepublik Deutschland pro
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Kopf der Bevölkerung ca. 100 kg Fleisch, davon etwa 21 kg vom Rind, 60 kg vom Schwein
und 7,5 kg Geflügel, verbraucht; dies bedeutet, daß im Jahr rund 45 Millionen Großtiere,
insbesondere Schweine, Rinder, Kälber und Schafe, dazu 303 Millionen Hühner, Enten,
Gänse und Puten für den menschlichen Verzehr produziert und geschlachtet werden.
Prinzipiell läßt sich auf der Basis der in Teil II entfalteten Überlegungen gegen die Tötung
von Tieren zum Zwecke der menschlichen Ernährung nichts einwenden, und die große
Mehrzahl der Menschen tut dies auch nicht. Die in Teil III dargestellte radikalere Position
lehnt das Töten von Tieren ohne zwingende rechtfertigende Gründe jedoch grundsätzlich ab.
Da
jedenfalls
für
den
gesunden
Erwachsenen
Fleisch
nach
heutigen
ernährungswissenschaftlichen Erkenntnissen - solange andere eiweißliefernde Lebensmittel
ausreichend vorhanden sind - für eine gesunde und vollständige Ernährung nicht nötig ist,
gebe es keine ausreichende Legitimation, Tiere für Ernährungszwecke zu schlachten.
(26) Der Dissens in der prinzipiellen Frage bleibt bestehen. Jedoch ist das Maß an praktischer
Übereinstimmung breiter, als der prinzipielle Dissens zunächst vermuten läßt:
Der heutige Fleischkonsum in Deutschland ist im Vergleich zu , früheren Zuständen exzessiv.
Dies hängt wesentlich auch damit zusammen, daß Fleischnahrung über lange Zeit ein Privileg
der oberen Stände war und in der sozialgeschichtlichen Entwicklung nun für breitere
Bevölkerungskreise zum Statussymbol wurde: An der täglichen Fleischmahlzeit zeigte sich,
was man sich inzwischen ebenfalls leisten konnte. Diese soziale Indikatorenfunktion der
Fleischnahrung ist eigentlich hinfällig, wirkt aber im praktischen Verhalten noch nach. Der
ernährungswissenschaftliche Befund besagt nicht nur, daß jedenfalls im Blick auf den
gesunden Erwachsenen für eine. gesunde und vollständige Ernährung Fleisch nicht nötig ist;
eine fleischarme Ernährung kann sogar risikoarmer und daher gesunder sein. Schon dies
spricht für eine nachhaltige Reduzierung des heutigen Fleischkonsums.
Hinzu kommen die problematischen Umstände bei der Haltung (s. dazu den folgenden
Abschnitt IV 2), dem Tiertransport und der Schlachtung, die sich als Folgeerscheinungen des
hohen
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Fleischkonsums einstellen. Es ist etwas anderes, ob eine Familie - wie es früher nicht selten
geschah - einige Tiere zur eigenen Versorgung hält und schlachtet oder ob der übermäßige
Fleischkonsum einer Bevölkerung von 80 Millionen Menschen durch eine entsprechende
industrielle Produktion befriedigt wird.
(27) Dies gilt insbesondere im Blick auf die Praxis in den Schlachthäusern. Sicher geht es
heute dort nicht mehr so brutal zu wie früher oder wie in einigen anderen Ländern. Doch
immer noch sind die Qualifizierungsanforderungen für Mitarbeiter in den Schlachthäusern zu
gering. Der Druck kostengünstiger Leistung diktiert das Tempo des „Durchlaufs“, und zwar
auch bei der Betäubung. Sie müßte eigentlich besonders schonend und sorgfältig
vorgenommen werden und verlangt ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und Präzision. Über
längere Zeitabschnitte ist dies aber nicht durchzuhalten. „Pannen“ sind bei der Arbeit in den
Schlachthäusern unvermeidbar und gehen zulasten der Tiere. Das gilt besonders häufig für die
vollautomatisierte Geflügelschlachtung.
(28) Bei der rituellen Schlachtung sollte zugunsten der Tiere bedacht werden, daß der Kern
der religiösen Vorschriften nur verlangt, den Blutentzug am noch lebenden Tier
vorzunehmen. Genau diese Forderung wird durch die Betäubung beim weiter schlagenden
Herzen nicht in Frage gestellt. Eine solche Betrachtung findet schrittweise auch bei Juden und
Moslems Zustimmung.
(29) Freilich blieben, selbst wenn in Bezug auf die Schlachtung den Mißständen abgeholfen
werden könnte, immer noch die trotz formaler Schutzvorschriften beschämenden Zustände
beim Transport lebender Tiere oft über mehrere Tage. Die Versuchung, beim Transport
möglichst viele Tiere pro Raumeinheit unterzubringen und an den Betreuungskosten zu
sparen, ist immer noch groß; denn die Kontrolle ist wenig effektiv, und bei „Verlusten“
springt die Versicherung ein. All dies geschieht nicht etwa aus Not, sondern weil es
wesentlich billiger ist, „lebende Ware“ zu verschicken, als das Fleisch in Gefriercontainern zu
liefern: Nichts hält Fleisch länger und billiger frisch als ein schlagendes Herz.
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(30) Bei der Fleischproduktion bestimmt der Wettbewerbsdruck das Maß der den Tieren
zugemuteten Leiden: Die große Mehrzahl der Verbraucher will möglichst billige
Fleischerzeugnisse. Die Fleischwerbung hilft, die tatsächlichen Probleme und Mißstände zu
verdrängen: Sie zeigt immer nur „glückliche“ Rinder und Schweine. Auf der individuellen
Handlungsebene sind Fleischverzicht oder Reduzierung des Fleischkonsums mögliche
Beiträge zu einer Änderung der Verhältnisse - dies um so mehr, als bei wachsender Einsicht
in die Mißstände heutiger Fleischproduktion der Fleischkonsum eben doch zu einer
Gewissensbelastung wird. Auf der strukturellen Ebene können die Anforderungen an Haltung,
Transport und Schlachtung der Tiere so verschärft werden, daß Fleisch erheblich teurer wird
und der Preis in stärkerem Maße eine regulatorische Funktion erhält.
2. Nutztierhaltung
(31) Daß Menschen unter ethischen Gesichtspunkten das Recht haben, Tiere zu eigenem
Nutzen zu halten, ist im Prinzip nicht strittig. Dies gilt jedenfalls für die Haltung von
Milchvieh, von Legehühnern, von Wollschafen u.ä. (zur Frage von Schlachtvieh s. den
vorangegangenen Abschnitt IV 1, zur Pelztierhaltung s. unten Abschnitt IV 6). Immerhin
erinnert die Regelung im Sabbatgebot (2.Mose 20,10), wonach die Tiere an der Sabbatruhe
der Menschen teilhaben sollen, daran, daß Nutztiere nicht ausschließlich unter dem
Nutzengesichtspunkt betrachtet werden dürfen als seien sie bloße Maschinen -, sondern
Mitgeschöpfe sind und darum Anteil an Gottes gnädiger Einrichtung des Sabbat haben. Es
genügt im Blick auf die Nutzung von Tieren nicht, Tierquälerei zu unterlassen; sie als
Mitgeschöpf zu achten heißt, sich an ihrem Wohlbefinden zu freuen und es zu fördern. Schon
die bloße Wahrscheinlichkeit haltungsbedingter Schmerzen oder Leiden macht schonendere
Haltungsformen zur Pflicht. Daraus ergeben sich auch die Forderungen, die übliche
Amputationspraxis weiter zu beschränken und das betäubungslose Kastrieren zu verbieten.
(32) Wie eine Haltung von Nutztieren, bei der sie als Mitgeschöpfe geachtet werden, in den
verschiedenen Bereichen konkret aussehen muß, führt in zahlreiche kontroverse Einzelfragen.
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Dazu hat sich 1984 die im Anhang mit ihren einschlägigen Abschnitten abgedruckte
Denkschrift „Landwirtschaft im Spannungsfeld“ eingehend geäußert, so daß an dieser Stelle
weitere Ausführungen nicht erforderlich sind. Die Probleme der Nutztierhaltung haben sich
seit 1984 noch verschärft; dies wird vor allem an den verschiedenen Hormonmast-Skandalen
in der alten Bundesrepublik Deutschland, bei denen freilich bezeichnenderweise nicht der
Umgang mit den Tieren, sondern die gesundheitliche Gefährdung der Menschen durch den
Fleischkonsum das Ärgernis ausgelöst hat, und an den großen auf dem Gebiet der ehemaligen
DDR fortbestehenden Tierproduktionsbetrieben mit Massentierhaltung deutlich.
3. Züchtung
(33) Die Züchtung ist eine besondere Form der Tiernutzung und darum prinzipiell nicht
anders als die Tiernutzung im allgemeinen zu beurteilen: Hat der Mensch das Recht, Tiere zu
nutzen, dann schließt dies ein, die Nutzung durch Züchtung zu verbessern. Doch sind dabei
auch Grenzen zu beachten: Gesundheit und Wohlbefinden der Tiere dürfen nicht
beeinträchtigt werden; die Erfordernisse des Lebensraums und der Lebensweise der
betreffenden Art müssen berücksichtigt werden, die selbständige Lebensfähigkeit der Tiere,
auch in natürlicher Umgebung, muß gewährleistet bleiben; die Artgrenze - soweit sie sich in
der konventionellen Tierzüchtung überhaupt überspringen läßt - ist eine Mahnung zur
Vorsicht. Diese Grenzmarkierungen gewinnen noch an Bedeutung angesichts der von der
Gentechnik eröffneten neuen Möglichkeiten in der Tierzüchtung (s. dazu im Anhang den
Auszug aus: „Einverständnis mit der Schöpfung“).
4. Tierversuche
(34) Über keine Frage des Tierschutzes ist in den letzten Jahren so erbittert gestritten worden
wie über die Tierversuche. Dies ist angesichts der Größenordnung des Problems nicht nur
verständlich, sondern auch notwendig. Zum ersten Mal liegen aufgrund des neuen
Tierschutzgesetzes auch amtliche Zahlen vor: Der Bericht der Bundesregierung nennt für das
Jahr 1989 die Zahl
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von 2,64 Millionen Tieren, die in der alten Bundesrepublik Deutschland in genehmigungsund anzeigepflichtigen Versuchen verwendet wurden; darin sind jedoch nicht enthalten alle
Tiere, die zur Organentnahme, zu Ausbildungszwecken oder zur Gewinnung von Impfstoffen
gebraucht wurden. Immerhin gibt es begründete Annahmen, daß die Zahl der Tierversuche
insgesamt rückläufig ist - sicherlich auch ein Resultat der intensiven öffentlichen
Auseinandersetzung über das Problem.
(35) Die Unterschiede, ja Gegensätze in den Auffassungen über Tierversuche lassen sich nicht
vollständig ausräumen. Wer, wie es in Teil II geschieht, der Nutzung von Tieren bis hin zu
ihrer Tötung durch die Menschen zustimmt, der wird sich prinzipiell auch nicht gegen
Tierversuche wenden. Wer hingegen, wie es bei der in Teil III dargestellten weitergehenden
Auffassung der Fall ist, die Rechtfertigungsgründe für die Tötung von Tieren sehr restriktiv
faßt und die Tötung nur zur Abwehr von Gefahren und zur Deckung des elementaren
Lebensbedarfs zuläßt, der wird Tierversuche nur in äußerst begrenztem Umfang oder
überhaupt nicht akzeptieren. Bei Fortbestehen dieses Dissenses, auch in der Kirche, ist das
Maß der Übereinstimmung gleichwohl groß:
(36) Die Zahl der Tierversuche muß so weit wie möglich gesenkt werden. Darum sind der
Einsatz von Ersatzmethoden (wie Tests an Zellkulturen) und die Forschung an solchen
Ersatzmethoden voranzutreiben. Vor allem müssen in der Genehmigungspraxis entschieden
höhere Anforderungen an den Versuchszweck gestellt werden als bisher: Nach § 7 Abs. 3 des
geltenden Tierschutzgesetzes ist bei einem Tierversuch zu prüfen, ob „die zu erwartenden
Schmerzen, Leiden oder Schäden der Versuchstiere im Hinblick auf den Versuchszweck
ethisch vertretbar sind“; die Erfahrung der ersten Jahre nach Inkrafttreten des novellierten
Gesetzes hat gezeigt, daß bisher jedenfalls Tierversuche nur in ganz seltenen Ausnahmefällen
aus ethischen Gründen abgelehnt werden.
(37) Schmerzen und Leiden müssen bei den Versuchstieren auf das unvermeidliche Maß
eingeschränkt werden. Bei Tierversuchen werden immer noch zu viele und zu sensible Tiere
eingesetzt; das Tierschutzgesetz und seine Handhabung haben diesen
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Mangel bisher nicht beseitigen können. Weiterhin müssen die in § 9 des Tierschutzgesetzes
eingeräumten Ausnahmen, die Eingriffe an narkosefähigen und narkosebedürftigen Tieren
auch ohne Betäubung zulassen, nicht nur strengstens begrenzt, sondern auch konsequent
überwacht werden. Noch darüber hinaus geht die Forderung - die auch von Mitgliedern des
Wissenschaftlichen Beirats vertreten wird -, daß überhaupt keine solchen Ausnahmen
zugelassen werden dürfen.
Die Zufügung von Schmerzen und Leiden gegenüber einem Mitgeschöpf führt ohnehin in
eine starke Spannung zu der grundsätzlichen Verpflichtung, barmherzig und human mit ihm
umzugehen. So erklärt sich wohl auch eine verbreitete Neigung, die Schmerz- und
Leidensfähigkeit bestimmter Tiere in Frage zu stellen oder nur eingeschränkt anzuerkennen.
Doch eine bereits als wahrscheinlich anzunehmende Schmerz- und Leidensfähigkeit ist
ethisch relevant.
5. Jagd
(38) Die Tätigkeit des Jägers hat eine lange kulturgeschichtliche Tradition. Sie bleibt auch
unter den heutigen, veränderten Verhältnissen im Rahmen der Hege und Pflege von Wald und
Flur notwendig und im Sinne der Nutzung des Wildtierbestandes für die menschliche
Ernährung -jedenfalls für die meisten - ethisch vertretbar. Gesetzliche Vorschriften und
Regelungen auf Verbandsebene sorgen bei der Ausübung der Jagd - wie entsprechend in
anderen Bereichen des Umgangs mit Tieren - für Begrenzungen und Auflagen. Auch aus
mitgeschöpflicher Sicht ist nichts dagegen einzuwenden, wenn der Jäger kranke, verletzte
oder altersschwache Tiere waidgerecht tötet; sofern das Tier schon leidet, ist dies sogar ein
Akt der Barmherzigkeit. Zum Schutz des Waldes und des biologischen Gleichgewichts hat
der Mensch nach der Ausrottung von Bären und Wölfen kaum eine andere Wahl, als
regulierend einzugreifen. Nicht zu vertreten ist es allerdings, diejenigen Tierarten, die als
Jagdkonkurrenten verbleiben, systematisch zu verfolgen, um so den Regulierungsauftrag des
Jägers möglichst ungeschmälert zu erhalten. Die Bedenken gegen die Tötung von Tieren zu
Nahrungszwecken, wie sie in
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Abschnitt IV 1 wiedergegeben wurden, gelten entsprechend auch in diesem Zusammenhang.
(39) Die Jagd wird verbreitet auch als Freizeit- und Gesellschaftsvergnügen ausgeübt. Das
Vergnügen an der Jagd entspringt tiefsitzenden menschlichen Verhaltensmustern. In ethischer
Betrachtung stellt sich aber die Frage, ob der Mensch so bleiben soll, wie er ist, oder ob er
sich im Sinne der Mitgeschöpflichkeit fortentwickeln, also verändern soll. Dabei geht es
darum, ob das Töten von Tieren jemals eine Form der Vergnügung sein kann und sein darf,
m.a.W ob sich das Opfer tierischen Lebens mit dem menschlichen Wunsch nach Freizeit- und
Gesellschaftsvergnügen rechtfertigen läßt. Diese Frage ist um so dringlicher, als die
Teilnehmer an Jagdgesellschaften nicht immer die besten Schützen sind und Tieren unnötige
Schmerzen und Leiden bereiten können. Die problematischen Erscheinungen der Jagd
verbinden sich im wesentlichen mit ihrer Organisation als Freizeit- und
Gesellschaftsvergnügen: Die Tierbestände werden durch besondere Maßnahmen wie etwa
überhöhte Zusatzfütterungen „hochgehegt“, um das lange und mühsame Ansitzen zu
verkürzen; leergeschossene Reviere werden durch importierte Wildfänge aus anderen Ländern
oder durch gezüchtete und kurzfristig ausgewilderte Tiere zur Jagdsaison „aufgefüllt“; der
Anreiz, Rekorde und Trophäen zu sammeln, wird verstärkt. Ethisch ist damit die Aufgabe
gestellt, die Freizeit- und Gesellschaftsaktivität der Jagd durch Formen der Vergnügung zu
ersetzen, die nicht mit dem Töten von Tieren einhergehen.
6. Pelzgewinnung
(40) Wie die Jagd so hat auch die Gewinnung und Bearbeitung tierischer Pelze eine lange
kulturgeschichtliche Tradition. Pelzbekleidung war in der Vergangenheit ein notwendiges
Mittel, sich gegen Kälte zu schützen - in einigen begrenzten Kulturräumen ist sie das bis
heute. Über Jahrzehnte war der Pelzmantel hierzulande ein unverdächtiges und weithin
anerkanntes Statussymbol. Etwa seit Ende der 70er Jahre wird ein leidenschaftlicher und zum
Teil militanter Streit um die Herstellung und die Benutzung von Pelzwaren ausgetragen. Es ist
nur folgerichtig, daß diejenigen
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auch im Wissenschaftlichen Beirat -, die das Töten von Tieren nur zur Abwehr von Gefahren
und zur Deckung des elementaren Lebensbedarfs akzeptieren, der Pelzgewinnung ablehnend
gegenüberstehen: Die Notwendigkeit, sich hierzulande ausgerechnet mit Hilfe von
Pelzbekleidung gegen Kälte zu schützen, besteht nicht mehr; dennoch Pelzbekleidung zu
tragen stelle unter diesen Umständen einen ethisch nicht zu rechtfertigenden Luxus dar.
Dieses Urteil wird nicht von allen als zwingend angesehen. Freilich stellt sich bei der
Gewinnung von Pelzbekleidung die Frage nach dem rechtfertigenden Grund für das Töten
von Tieren mit besonderer Schärfe, so daß nicht ausgemacht ist, ob die radikale Position nicht
eines Tages die herrschende sein wird.
(41) Einstweilen bleiben hier wie im Falle der Schlachtung und der Tierversuche
Auffassungsunterschiede bestehen. Doch lassen sich auch Übereinstimmungen namhaft
machen:
Die Pelzgewinnung darf nicht zur Ausrottung bedrohter Tierarten beitragen; diese Einsicht
hat bereits zu staatlichen Export-/ Import-Begrenzungen und -Verboten und zu freiwilligen
Selbstbeschränkungen der einschlägigen Berufsverbände geführt; jedoch lassen sich
Umgehungs- und Täuschungsmanöver nicht ausschließen, so daß persönlicher Verzicht und
Teilnahme an Boykottmaßnahmen wichtige individuelle Handlungsmöglichkeiten bleiben.
Die Nutzung tierischer Felle (und Häute) ist nicht als solche problematisch; wo Tiere aus
anderen Gründen getötet werden (oder sterben), kann gegen die Verwendung ihrer Felle (und
Häute) nichts eingewendet werden.
Solange Tiere speziell zur Pelzgewinnung gezüchtet werden, kann dies nur toleriert werden,
wenn artgerechte Haltung und eine schonende Tötung gewährleistet sind, was bis jetzt in der
Regel noch nicht der Fall ist. Es ist nicht einzusehen, warum Säugetiere, wenn sie
wirtschaftlich genutzt werden, wesentlich schlechter untergebracht werden dürfen als bei der
Gehegehaltung im Zoo. Die Verteuerung der Pelztierhaltung ist ein erwünschter Nebeneffekt.
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7. Delikatessen, Schmuck- und Modeartikel
(42) Die Herstellung einiger sogenannter Delikatessen - wie z. B. Gänsestopfleber oder
Froschschenkel - ist mit Tierquälerei verbunden. Die menschliche Freude an einem
besonderen Gaumengenuß kann aber tierquälerische Handlungen niemals rechtfertigen.
Die Nutzung tierischer Stoffe verliert auch dann ihre Legitimität, wenn ihre Gewinnung das
Weiterbestehen der betreffenden Art gefährdet. Dies gilt z.B. für Elfenbein- und
Krokodillederprodukte. Gerade die Elfenbeinschnitzerei hat eine bis weit in das Altertum
zurückreichende Tradition. Doch hat der Gesichtspunkt des Tier- und Artenschutzes
unbedingten Vorrang vor kulturgeschichtlichen Traditionen.
8. Tötung von Tieren als Freizeitbeschäftigung
(43) Im Zusammenhang der Jagd ist bereits festgestellt worden: Jede Freizeitbeschäftigung,
die mit dem Töten von Tieren einhergeht, setzt sich kritischen Rückfragen nach dem
rechtfertigenden Grund für dieses Opfer tierischen Lebens aus. Ethisch ist die Aufgabe
gestellt, den Wunsch nach Freizeitvergnügen auf eine andere Weise und mit anderen
Aktivitäten zu befriedigen. Dies gilt auch für den Stierkampf oder das weitverbreitete
Sportangeln. Daß Fische als kaltblütige Tiere schmerzunempfindlich seien, hat sich als höchst
fragwürdige Annahme erwiesen. Daraus ergibt sich die Anfrage an die Sportangler, warum
sie, anders als die Schützen, nur zu einem kleinen Teil den möglichen Weg der. Sublimierung,
d.h. der Umorientierung ihrer, Aktivitäten gegangen sind; die große Mehrheit der Schützen
schießt heute nicht mehr auf Lebewesen, sondern auf Papierscheiben oder Tontauben und
trägt so auch ihre Wettkämpfe aus.
9. Heim- und Hobbytiere
(44) Heim- und Hobbytiere können eine Chance sein, Mitgeschöpflichkeit, also die mit einem
Tier verbindenden emotionalen Kräfte, aber auch die Verantwortung für sein Wohlbefinden,
konkret zu erleben. Häufiger Anlaß, ein Tier im Haus oder in die
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Familie aufzunehmen, ist das Drängen der Kinder. Gerade Kinder können an einem Tier
innerhalb der Familie Freude an der und Verantwortung für die Schöpfung elementar
erfahren. Aber die Eltern müssen bereit sein, die Folgen auf sich zu nehmen und
einzuspringen, wenn ein Kind Fehler macht oder überfordert ist. Auch alte Menschen sollten
Vorsorge für den Fall treffen, daß sie selbst nicht mehr in der Lage sind, ihr Tier zu betreuen.
Verwerflich ist es, Tiere in der Urlaubszeit „freizulassen“, d.h. einfach auszusetzen und einem
oft schrecklichen Schicksal auszuliefern. Auch ohne böse Absicht können Tiere mißhandelt
werden, wenn sie etwa artwidrig gehalten, die meiste Zeit allein gelassen oder falsch gefüttert
werden.
10. Tierhandel
(45) Die Zahl der Heim- und Hobbytiere ist immer noch im Wachsen. Zählt man nur Hunde
und Katzen, so liegt Frankreich mit 300 pro 1000 Einwohnern an der Spitze, die alte
Bundesrepublik Deutschland mit 103 eher im Mittelfeld der europäischen Länder. Die Liebe
zum Tier ist längst kommerzialisiert und als Wachstumsbranche erkannt worden, und zwar
nicht nur beim Tierhandel selbst, sondern ebenso in den Zulieferbranchen für Tiernahrung,
Käfige, Körbchen, Aquarien, Terrarien, Spielzeug, Dressurgerät, Reinigung, Kosmetik oder
Literatur. Besondere Aufmerksamkeit erfordern die Umstände beim Transport der für den
Handel bestimmten Tiere und die oft fragwürdigen, gelegentlich kriminellen Importpraktiken.
Häufigere Kontrollen und spürbarere Sanktionen sollten dafür sorgen, daß die geltenden
Bestimmungen in stärkerem Maße eingehalten werden.
11. Zoo- und Zirkustiere
(46) Die Haltung von Tieren im Zoo und ihre Dressur oder ihre Verwendung im Zirkus sind
immer noch umstritten. Dabei muß durchaus anerkannt werden, daß die Einrichtung von Zoos
den Zielen des Tier- und Artenschutzes insgesamt dienlich sein kann und daß eine
Entwicklung zum Besseren - etwa von den höfischen Menagerien zu den weitläufigen, auf
artgerechte Haltung ausgerichteten Tierparks - stattgefunden hat. Aber es gibt weiter
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hin artwidrige und insofern tierquälerische Haltung und Dressur: In der Absicht, möglichst
viele Tiere zu zeigen, werden diese dann im Zoo auf zu engem Raum und unter Bedingungen
gehalten, die den Tieren nicht ausreichend Bewegungs-, Kontakt- und
Rückzugsmöglichkeiten bieten. Für Besucher ist wesentlich, die Tiere nicht zu reizen, nicht in
Gefahr zu bringen und die Fütterungsvorschriften nicht zu mißachten. Im Zirkus ist die
Unterbringung der Tiere in der Regel schlechter als im Zoo; aber sie stumpfen nicht ab, wenn
einfühlsame Pfleger und Tierlehrer mit ihnen umgehen.
12. Wildtiere
(47) Für Tiere, die außerhalb der Obhut von Menschen leben, haben diese keine unmittelbare
aktive Sorgepflicht. Aber die menschliche Zivilisation hat Auswirkungen auf das Leben der
Wildtiere. In dieser Hinsicht bestehen sehr wohl Pflichten der Menschen: Sie haben alles zu
meiden, was die Lebensräume und Lebensmöglichkeiten der Wildtiere zerstört oder
beschädigt und die Artenvielfalt bedroht; sie haben darüber hinaus aktiv dazu beizutragen,
daß die Lebensräume und Lebensmöglichkeiten der Wildtiere bewahrt und - wo nötig wiederhergestellt werden und die Artenvielfalt erhalten bleibt. Insofern ist Tierschutz Teil des
Arten- und Biotopschutzes.
In dieser Beziehung kommt es zu ständigen Konflikten zwischen den Belangen des
Tierschutzes und Nutzungsinteressen der Menschen. Das zeigt sich etwa schon daran, daß
viele Freizeitaktivitäten - z.B. Surfen, Skifahren, Reiten, vor allem aber die an die
Motorisierung geknüpften Betätigungen - die Lebensräume von Wildtieren in Anspruch
nehmen und ihr Leben durch Unruhe, Lärm und Müll beeinträchtigen. Auch die
Intensivierung der Flächennutzung und Verkehrswegeprojekte greifen massiv in die
natürlichen Lebensräume ein. Hier sind komplexe Abwägungen erforderlich, für die
angemessene Bewertungsmaßstäbe und auch nur ein befriedigendes Verfahren (z.B. unter
Einschluß der Verbandsklage) bis heute nicht gefunden sind.
(48) Eine eigene Kategorie bilden verwilderte Tiere wie z. B. Stadttauben oder streunende
Katzen. Schon der Verzicht auf gedankenlose Fütterung trägt dazu bei, die Bestände zu
verklei-
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nern. Übergroße Bestände müssen auf jeden Fall reduziert werden. Aber auch hier gilt die
Pflicht, jede Grausamkeit zu vermeiden.
V. Aufgaben von Kirche und Politik
(49) Verbesserungen beim Schutz der Tiere sind im wesentlichen in die konkrete
Verantwortung derer gestellt, die mit Tieren umgehen und sie und ihre Produkte nutzen.
Diese persönliche Verantwortung kann nicht an die strukturelle oder institutionelle Ebene
abgegeben werden. Gleichwohl können auch Kirche und Politik hier auf ihre Weise zu einer
stärkeren Achtung der Tiere als Mitgeschöpfe beitragen.
(50) Zum Auftrag der Kirche gehört es, >den Mund aufzutun für die Stummen und für die
Sache aller, die verlassen sind< (Spr 31,8). Zu diesen gehören auch die Tiere.
(51) In Unterricht und Gottesdienst hat die Kirche wichtige Möglichkeiten, in den Kindern,
den Heranwachsenden und den Erwachsenen die Liebe zur Schöpfung zu wecken und den
Grund für ein sorgfältiges, barmherziges, humanes Umgehen mit allen Geschöpfen zu legen.
In gottesdienstlichen Texten spielen Tiere vorläufig eine bescheidene Rolle. Beispiele bieten
im Gesangbuch vornehmlich einige Lieder zum Lob des Schöpfers (z. B. EKG 197,3; 232,6;
370,1; 371); die Verantwortung für Wohlergehen und Wohlbefinden der Mitgeschöpfe
kommt im jetzigen Gesangbuch überhaupt nicht vor. Es wäre freilich unbillig, von Texten
vergangener Jahrhunderte zu erwarten, daß sie bereits die Probleme der Gegenwart
widerspiegeln und aufnehmen. Die Gebete der Kirche sind, wenn es um Klage, Bitte und
Fürbitte geht, weitgehend schöpfungs- und insbesondere tiervergessen; dabei könnte sich die
gottesdienstliche Gemeinde durch die Einbeziehung der Mitgeschöpfe in die sonntägliche
Fürbitte gerade Rechenschaft darüber geben, was die Bitte des Vaterunser „Dein Reich
komme“ für die ganze Kreatur bedeutet; kleine Anfänge finden sich seit 1986 in dem jedes
Jahr von der Evangelischen Kirche in Deutschland und dem Bund der Evangelischen Kirchen
(in der ehemaligen DDR) herausgegebenen Formular für einen
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„Bittgottesdienst für den Frieden in der Welt“ (z.B. 1989: Wir „bitten für die ganze
Schöpfung: Du hast sie wunderbar gemacht. Schärfe unsere Sinne, das Wunder des Lebens in
Demut und Dankbarkeit zu erkennen, störe uns auf, daß wir das Seufzen und Stöhnen um uns
her nicht überhören. Fördere alle Anstrengungen, die Gewalt gegen unsere Mitgeschöpfe zu
vermindern“).
(52) Überall, wo die Kirche mit ihren Einrichtungen, Häusern und Mitarbeitern in die
Öffentlichkeit hineinwirkt, hat sie - ob sie will oder nicht - eine Vorbildfunktion. Diese
Funktion ist auch im Blick auf einen schöpfungsverträglichen Lebensstil ernstzunehmen; so
hat beispielsweise eine Reihe von Evangelischen Akademien in ihren Speiseplänen das
Fleischangebot deutlich eingeschränkt. Soweit in kirchlichen Anstalten landwirtschaftliche
Betriebseinheiten bestehen, müssen Aufzucht und Haltung der Tiere artgerecht erfolgen und
von liebender Sorge geprägt sein.
(53) In die kirchlichen Umweltbeiräte auf den verschiedenen Ebenen sollten, wo immer dies
persönlich möglich ist, auch Fachleute für Tierschutzfragen berufen werden.
(54) Auf der politischen Ebene ist die Forderung noch uneingelöst, den Umweltschutz und
damit auch den Tierschutz im Grundgesetz zu verankern. Die Formulierung muß so gefaßt
werden, daß die Nötigung, bei jeder Entscheidung zum Umweltschutz abzuwägen zwischen
dem Nutzungsinteresse der Menschen und dem Eigenwert des betroffenen nichtmenschlichen
Lebens, verstärkt wird. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat vorgeschlagen, ein
Staatsziel Umweltschutz im Grundgesetz folgendermaßen zu formulieren: „In Verantwortung
für die Schöpfung schützt der Staat die natürlichen Grundlagen des Lebens.“
(55) Die Tierschutzgesetzgebung bedarf der Weiterentwicklung. Einzelne Hinweise wurden
in Teil IV gegeben. Der Tierschutz hängt aber nicht nur von geeigneten Vorschriften ab; die
gegenwärtigen Mängel betreffen auch den Gesetzesvollzug.
(56) Nach dem Vorbild des Bundeslandes Hessen sollten auch in den anderen Ländern
staatliche Tierschutzbeauftragte bestellt
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werden, die als Anwälte der stummen und unmündigen Kreatur auftreten.
(57) Von wachsender Bedeutung für den Tierschutz wird die Entwicklung übernationalen
Rechts in der EG sein. Dabei muß verstärkt darauf geachtet werden, daß neben der Förderung
der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit auch die Belange des Tierschutzes beachtet werden.
Die Kirchen haben bisher auf EG-, gesamteuropäischer und globaler Ebene noch keine
wirkungsvollen Instrumente geschaffen, um ihre Einsichten und Anregungen zu einer
Verantwortung für die Tiere als Mitgeschöpfe in die politische Willensbildung einzubringen.
VI. Schluß
(58) Nicht ohne Grund ist gesagt worden: „Wie die Hausfrau, die die Stube gescheuert hat,
Sorge trägt, daß die Türe zu ist, damit ja der Hund nicht hereinkomme und das getane Werk
durch die Spuren seiner Pfoten entstelle, also wachen die europäischen Denker darüber, daß
ihnen keine Tiere in der Ethik herumlaufen ... Entweder lassen sie das Mitgefühl gegen die
Tiere ganz weg, oder sie sorgen dafür, daß es zu einem nichtssagenden Rest
zusammenschrumpft“ (Albert Schweitzer).
Doch hat es in der außerchristlichen wie der christlichen Welt genug Denker und Dichter
gegeben, die in den zurückliegenden Jahrzehnten und Jahrhunderten für die leidende Kreatur
ihre Stimme erhoben haben. Sie mahnen die Verantwortung an, die wir den Tieren als unseren
Mitgeschöpfen schulden. Was diese Stimmen in großer Klarheit und Treffsicherheit
ausgesprochen haben, ist noch lange nicht eingeholt:
Es „ist alle Willkürlichkeit in der Art, die Natur zu behandeln, alles unnütze Verderben, alles
muthwillige Zerstören von Übel und verwerflich. Mit Einem Worte können wir sagen: Der
Mensch muß die Natur mit Humanität behandeln, das heißt in der Weise, welche mit der
eigenen Würde des Menschen, das heißt mit der Würde der menschlichen Natur
übereinstimmt. Alsdann wird er auch die einzelnen Naturerzeugnisse, jede der Creaturen
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ihrer natürlichen Beschaffenheit und der vom Schöpfer ihr gegebenen Bestimmung gemäß
behandeln, und, während er die Natur als Mittel für seine Zwecke behandelt, sich zugleich
erinnern, daß alles Leben auch Zweck an sich selber ist. Als Gottes Ebenbild auf Erden soll
Mensch nicht allein die Gerechtigkeit Gottes abspiegeln, welche im ganzen Umfange der
Schöpfung Gesetz und Ordnung, Maß und Grenze aufrechterhält, sondern auch die Güte
Gottes, welcher `Allen gütig ist und sich aller seiner Werke erbarmet' (Psalm 145,9). Denn
Gott hat kein Gefallen an dem Tode und Untergange Dessen, was da lebt, sondern gönnet von
Herzen jedem der lebenden Wesen das kurze Leben, die kurze Freude und Erquickung, für
welche es empfänglich ist, und das mitten unter allem diesem Sterben und Vergehen, unter
aller dieser gegenseitigen Quälerei und Zerstörung, welcher die Natur unterworfen ist - einem
Fluche, der nicht eher kann hinweggenommen werden, als nachdem das Reich Gottes
vollendet und die herrliche Freiheit der Kinder Gottes geoffenbart sein wird“ (Hans Lassen
Martensen 1854).
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Anhang: Auszüge aus kirchlichen Erklärungen
I. Zukunft der Schöpfung - Zukunft der Menschheit. Erklärung der Deutschen
Bischofskonferenz zu Fragen der Umwelt und der Energieversorgung, Hirtenschreiben
der deutschen Bischöfe 28, Bonn 1980
......
(II2) Der Mensch ist nicht das einzige Geschöpf. Gott wollte, daß es nicht nur den Menschen
gibt, das Wesen, zu dem er Du sagt und das Du sagen kann zu ihm. Er hat auch Lebewesen
und Dinge geschaffen, die nicht sprechen, nicht mit Bewußtsein und Willen Gott
verherrlichen können. Dinge, die einfach da sind. Der Mensch braucht sie. Aber sind sie nur
dazu da, daß der Mensch sie braucht? Ist das, was wir nie brauchen werden, sinnlos?
„Braucht“ der Mensch nicht auch die Erfahrung, daß es das Unerreichbare, Geheimnisvolle
gibt, jenes, das vordergründig keinen bestimmten Zweck erfüllt, sondern einfach da ist? Wir
sind in Gefahr, auch den Menschen nur noch nach dem zu bewerten, wozu er brauchbar ist.
Wenn aber der Mensch nur nach Nützlichkeit und Brauchbarkeit beurteilt wird, ist es mit
seiner Menschlichkeit zu Ende. Der Mensch ist mehr als das, wozu er dienlich ist. Und doch
ist er auch verpflichtet, den anderen, dem Ganzen zu dienen. Machen wir nicht eine ähnliche
Erfahrung mit der nichtmenschlichen Schöpfung auf Erden? Sie ist da, damit wir sie
brauchen. Aber sie ist mehr noch da, um einfach da zu sein. Beides schließt einander nicht
aus. Wo wir aber die Dinge nicht mehr sie selber sein lassen, sondern wo sie uns nur noch
Werkzeug, Rohstoff, Material, Energiequelle sind, da nehmen wir uns selbst die Welt. Und so
werden wir neu zu Sklaven dessen, wovon wir uns befreien wollten: unserer Abhängigkeit
von der Schöpfung. Für den Menschen gilt der Vorrang des Seins vor dem Haben. Bei der
nichtmenschlichen Schöpfung könnte man von einem Vorrang des Seins vor dem
Nützlichsein sprechen.
(II3) ... Die biblischen Religionen, Judentum und Christentum, entzaubern durch den
Schöpfungsglauben eine Natur, die als unbezähmbare Übermacht den Menschen bannt,
ängstigt, fasziniert. Der Mensch wird freigesetzt zu einem nüchternen, wir dürfen sagen
rationalen Umgang mit den Dingen. Aber rationaler Umgang ist nicht Beliebigkeit, erst recht
nicht Zerstörung. Was der Mensch zerstört, kann er nicht beherrschen, als Gottes Ebenbild hat
er Maß zu nehmen am Urbild; dann aber heißt Beherrschen liebende Sorge, hegendes
Wahren. Im biblischen Verständnis schließt das Beherrschen die Verantwortung für die
Beherrschten mit ein. Dies gilt auch und gerade für das Verhältnis des Menschen zu seinen
Mitgeschöpfen (vgl. Ps 8) ...
......
(III2) Frohe Botschaft von der Schöpfung, Spiritualität christlichen Weltverhaltens - das
verlangt von uns, die Grundverhältnisse der Schöpfungsordnung anzunehmen. Daraus ergibt
sich nicht unmittelbar ein energie- und umweltpolitisches Konzept. Es wäre zudem nicht
Sache der Bischöfe, ein solches zu erstellen. Wohl aber ist es notwendig, einige wichtige
Konsequenzen zur Sprache zu bringen, an denen Politik, Wirtschaft, Technik nicht
vorbeiplanen dürfen.
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Wir sind verpflichtet, den Grundbestand der Schöpfung in seinem ganzen Reichtum zu
wahren. Sicher ist der Mensch darauf angewiesen und dazu berechtigt, von den Vorräten
dieser Erde, auch von den Pflanzen und Tieren, zu leben. Im Unterschied zum Menschen als
Personwesen haben Pflanzen und Tiere kein unantastbares individuelles Lebensrecht. Wohl
aber gehört die Vielfalt der Arten in Pflanzen- und Tierwelt zu jenem Grundbestand der
Schöpfung, den der Mensch als Beherrscher und Gestalter dieser Welt zu hüten hat. Dabei
geht es nicht bloß um das Belassen von Einzelexemplaren, also um etwas wie eine Arche
Noach, in welcher der Mensch einen Rest von Schöpfung gegen eine von ihm selbst
veranstaltete Sintflut schützte. Nein, die pflanzlichen und tierischen Arten brauchen
Lebensraum, in dem sie sich entfalten. Das Lebendige soll leben können, nicht nur um der
Nützlichkeit für den Menschen willen, sondern um der Fülle, um der Schönheit der
Schöpfung willen, einfach um zu leben und dazusein. Natur ist von Natur aus immer
verschwenderisch. Wer nur nach Gesichtspunkten der Nützlichkeit fragt, verstößt ungeahnt
und ungewollt oft genug auch gegen die der Nützlichkeit.
- Wir Menschen sind berechtigt, Leistungen und Leben der Tiere in Anspruch zu nehmen. Es
ist jedoch nicht zu verantworten, daß Tiere, die fühlende Wesen sind, ohne ernste Gründe,
etwa bloß zum Vergnügen oder zur Herstellung von Luxusprodukten, gequält und getötet
werden.
......
II. Landwirtschaft im Spannungsfeld zwischen Wachsen und Weichen, Ökologie und
Ökonomie, Hunger und Überfluß. Eine Denkschrift der Kammer der Evangelischen
Kirche in Deutschland für soziale Ordnung, Gütersloh 1984
......
(78) ... Wenn die Kirche die Barmherzigkeit Gottes verkündet, gilt diese dann nicht auch den
uns anvertrauten Tieren? Müßte ein solches christliches Verständnis nicht auch die
Konsequenz haben, daß das Tier nicht nur in seiner bloßen Verwertbarkeit und Nützlichkeit
gesehen wird? „Der Gerechte erbarmt sich seines Viehs“ (Sprüche 12,10). Sensibilität für
tierisches Leid ist in der Kirche, von wenigen abgesehen, nicht aufgebracht worden. Es ist
kein Zufall, daß wir heute auf Stimmen wie Franz von Assisi hören. Ebenso schenken wir
dem ethischen Grundsatz Albert Schweitzers neue Beachtung: „Ich bin Leben, das leben will
inmitten von Leben, das leben will.“ In Schweitzers Ehrfurcht vor dem Leben wird Leben
immer als Wettstreit konkurrierender Konfliktpartner gedacht. Alle Kreatur gehört mit den
Menschen in Solidarität zusammen.
......
(87) Die Artenvielfalt läßt sich auf Dauer nicht erhalten, wenn für Tiere und Pflanzen nur
einige Rückzugsgebiete übrig bleiben, in denen wirtschaftliche Nutzung derzeit gerade nicht
interessant ist. Es gibt immer mehr ermutigende Beispiele für wirksamen Naturschutz durch
Initiative von Einzelpersonen und Gruppen. Aber das reicht noch nicht aus. So ist die
Schaffung und Erhaltung von Feldrainen mit nur geringem materiellen Aufwand verbunden.
Für den Schutz
- 34 -
von Pflanzen und Tieren sind sie dann von großem Nutzen, wenn sie mit den angrenzenden
Feldern und Flächen verzahnt und nicht isoliert sind. Durch Anlage oder Schonung von
Hecken und Feldgehölzen, durch Schonung besonders wertvoller Lebensräume wie Feuchtund Magerwiesen (Verzicht auf Trockenlegung bzw. Aufdüngung) kann jeder
landwirtschaftliche Betrieb einen Beitrag zum Umweltschutz leisten. Beachtung müssen in
diesem Zusammenhang auch Flächen erfahren, die sich an Waldrändern als Übergangszonen
zu Feldern erstrecken.
......
(89) In keinem anderen Bereich der Landwirtschaft ist die Produktion so durchgreifend
umgestellt worden wie in der Nutztierhaltung. Der Zwang, immer preiswerter und zugleich
nachfragegerecht zu erzeugen, um wettbewerbsfähig zu bleiben, und der Wunsch, an der
allgemeinen
Einkommensentwicklung
teilzuhaben,
führte
zu
neuartigen
Produktionssystemen, die eine Tierhaltung in großen Beständen (Intensivtierhaltung) rationell
ermöglichen. Diese wurden durch Fortschritte in der Züchtung und in der Haltungshygiene,
durch neue Stallformen und Fütterungsmethoden bei Einsatz von Zusatzstoffen erreicht.
Die modernen Produktionsmöglichkeiten haben dazu beigetragen, daß dem Verbraucher heute
preiswerte tierische Erzeugnisse in großem Ausmaß bei in der Regel guter Qualität angeboten
werden. Auch schwere Arbeit in den Ställen konnte erleichtert und Verbesserungen bei der
Hygiene ermöglicht werden. Gleichwohl werden heute teilweise bedenkliche Folgewirkungen
sichtbar, auch wenn in der Bundesrepublik Deutschland - mit Ausnahme der Hühnerhaltung
die Tierhaltung heute noch durch bäuerliche Bestandsgrößen geprägt ist (13,6 % der
Milchkühe stehen in Beständen ab 40 Tieren und 23,5 % der Mastschweine in Beständen ab
400 Tieren).
(90) Moderne Produktionssysteme erfordern vielseitig ausgebildete Fachleute, benötigen aber
gleichzeitig auch weniger Arbeitskräfte. Sie begünstigen die Produktion in größeren Einheiten
bei hohem Kapitaleinsatz. Moderne Produktionssysteme aber schaffen für das Tier oft eine
künstliche Umwelt. Dadurch kann es einem ständigen Streß unterworfen sein, welcher u.U.
wiederum mit weiteren Maßnahmen aufgefangen werden muß. Dadurch werden dann
Negativfolgen artwidriger Haltung verdeckt. Große Tierbestände sind mit hohen Risiken
behaftet
und
bedürfen
einer
regelmäßigen
Beobachtung
durch
Tierärzte.
Rückstandsuntersuchungen von tierischen Produkten in größerem Umfang sind notwendig
geworden.
(91) Moderne Systeme der Tierhaltung begünstigen Großbetriebe. Von ihnen geht ein
zunehmender Konkurrenzdruck auf Betriebe mit kleinen und mittleren Beständen aus. Bei der
Entwicklung von Großbeständen stand die Rationalisierung im Vordergrund und nicht in
erster Linie das ganzheitliche Wohlbefinden des Tieres. Dabei ist weiter problematisch, daß
der Kontakt zwischen Betreuer und Tier im Vergleich zur bäuerlichen Tierhaltung nicht mehr
so intensiv ist. Die Rückführung der großen Mengen anfallender Exkremente in den
Naturkreislauf ist bei mangelnder Lagerkapazität und/oder begrenzter landwirtschaftlicher
Nutzfläche fragwürdig; Boden und Grundwasser sind gefährdet, insbesondere wenn regional
eine Spezialisierung auf bestimmte Tierarten stattgefunden hat.
- 35 -
(92) Die Landwirtschaft im Voll-, Zu- und Nebenerwerb ist so zu fördern, daß die
aufgezeigten unerwünschten Entwicklungen in der Tierhaltung gestoppt und, wo notwendig,
rückgängig gemacht werden. Die landwirtschaftliche Tierhaltung ist durch Einführung
entsprechender Abgaben, die ethisch, ökologisch und volkswirtschaftlich begründbar sind, auf
Bestandsgrößen und Haltungssysteme einzuschränken, die eine artgemäße Betreuung und
damit einen verantwortungsvollen Umgang mit den Nutztieren erlauben.
Betriebe mit Tierbeständen, die flächenunabhängig gehalten werden, sollten gegenüber
anderen stärker durch Abgaben belastet werden. Außerdem ist verstärkt dafür zu sorgen, daß
von diesen Betrieben keine Gefahr für die Umwelt z.B. durch mangelhafte Beseitigung der
tierischen Exkremente ausgehen kann. Der Markt für Arzneimittel und Futterzusätze muß
weiterhin streng überwacht werden. Die Rahmenbedingungen sollten einen verminderten
Verbrauch dieser Mittel ermöglichen. Durch intensive Schulung und Beratung der Tierhalter
sowie durch ausreichende Überwachung ist die Qualität tierischer Erzeugnisse (Lebensmittel)
zu sichern und zu verbessern.
......
(147) ... Bei der Durchsetzung seiner Lebensinteressen sollte der Mensch immer auch die
Lebensinteressen der anderen Kreatur angemessen berücksichtigen und Leid so weit wie
möglich verringern. Wenn aus ethischen Gründen auf kostengünstigste Ausnutzung
technischer Möglichkeiten verzichtet werden muß, ist dafür zu sorgen, daß auch die anderen
Länder in der EG ähnliche Regelungen und Gesetze einführen und durchsetzen. Die Einsicht,
daß eine Veränderung nur durch ein gemeinsames Vorgehen aller EG-Länder herbeigeführt
werden kann, darf in unserem Lande nicht als Alibi dienen, abzuwarten und notwendige
Schritte hinauszuzögern.
Notwendig ist deshalb:
- die EG-weite Einschränkung der landwirtschaftlichen Tierhaltung durch Einführung
entsprechender Abgaben, die ethisch, ökologisch und volkswirtschaftlich begründet sind, auf
Bestandsgrößen und Haltungssysteme, die eine artgemäße Betreuung und damit
verantwortlichen Umgang mit den Nutztieren gewährleisten;
- die Verhinderung regionaler Schwerpunktbildungen der intensiven Tierhaltung dann, wenn
dies zu unzumutbaren Belastungen führt;
- die Einschränkung von Massentierhaltungen ohne eigene Futterversorgung durch
entsprechende Änderungen in der Agrarförderung, durch steuerliche Maßnahmen und durch
Änderungen in Umweltschutzgesetzen von Bund und Ländern;
- eine wirksame Einschränkung der gewerblichen Tierhaltung durch gesetzliche Maßnahmen
und durch die gemeinsame Bereitschaft des bäuerlichen Berufsstandes.
......
- 36 -
III. Verantwortung wahrnehmen für die Schöpfung.
Gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und
der Deutschen Bischofskonferenz, Gütersloh 1985
......
(34) Nicht allein menschliches, sondern auch tierisches und pflanzliches Leben sowie die
unbelebte Natur verdienen Wertschätzung, Achtung und Schutz. Die Ehrfurcht vor dem
Leben setzt voraus, daß Leben ein Wert ist und daß es darum eine sittliche Aufgabe ist, diesen
Wert zu erhalten. Das Leben ist dem Menschen vorgegeben; es ist seine Aufgabe, dieses
Leben zu achten und zu bewahren. Es obliegt seiner Verantwortung, Sorge für seine Umwelt
zu tragen. Dies erfordert Rücksicht, Selbstbegrenzung und Selbstkontrolle. Der Maßstab
„Ehrfurcht vor dem Leben“ enthält ein Moment unbedingter Beanspruchung und
Verpflichtung, ein Schaudern vor den Folgen des Gebrauchs der Macht, das den Menschen
zurückhalten soll, diese Macht zur Selbstvernichtung zu mißbrauchen. Die Ehrfurcht vor der
Bestimmung des Menschen und das Schaudern und Zurückschrecken vor dem, was aus dem
Menschen und seiner Umwelt werden könnte und was uns als denkbare Möglichkeit der
Zukunft vor Augen steht, enthüllt uns das Leben als etwas „Heiliges“, das zu achten und vor
Verletzungen zu schützen ist.
(35) Die Ehrfurcht vor dem Leben bewirkt auch eine Scheu vor dem rein nutzenden
Gebrauch, eine Haltung der Beachtung und Schonung. So gesehen schließt sie eine „Ehrfurcht
vor dem Gegebenen“ mit ein, sie weckt Wertebewußtsein und Schadenseinsicht. Diese
Ehrfurcht vermittelt auch Einsicht in gegebene Grenzen, Einsicht in die Endlichkeit und
Vergänglichkeit, vor allen Dingen Einsicht in die Verletzlichkeit der Schöpfung und
Mitkreatur. Ehrfurcht vor dem Leben bezieht sich nicht nur auf menschliches, tierisches und
pflanzliches Leben, sondern im weiteren Sinne auf die „unbelebte“ Natur mit ihren
Lebenselementen (Wasser, Boden, Luft) und ihren funktionalen Kreisläufen als Lebensraum.
Sie sind nicht als tote Gebrauchsgegenstände zu verstehen, sondern als Teil der
Lebensbedingungen des Menschen und seiner Mitkreatur. Wir Menschen müssen uns, um mit
Sokrates zu sprechen, auf die Kunst des Hirten verstehen, dem am Wohl der Schafe gelegen
ist, dürfen sie also nicht bloß unter dem Blickwinkel des Metzgers betrachten.
(48) Innerhalb der Schöpfungsordnung kommt dem Menschen in Unterscheidung von den
Mitgeschöpfen eine Sonderstellung zu. „Macht euch die Erde untertan und herrscht über alle
Tiere!“, so läßt sich der göttliche Weltauftrag in knapper Form wiedergeben. Die beiden
Schlüsselworte „unter-machen/unterwerfen“ und „herrschen“ müssen weit behutsamer
gedeutet werden, als dies vielfach geschah. Sie dürfen nicht im Sinne von „Unterdrückung“
und „Ausbeutung“ verstanden werden.
(51) Das Herrschen des Menschen über die Tierwelt hebt sich von der Unterwerfung des
Bodens nach biblischem Sprachgebrauch deutlich ab. Es erinnert an das Walten eines Hirten
gegenüber seiner Herde (Ezechiel 34,4; Psalm 49,15). Gott legt dem Menschen das Leiten
und Hegen der Tiergattungen auf (Genesis 1,26.28). Der Mensch soll Übergriffen einer
Tierart auf die andere wehren, um
- 37 -
auch auf diese Weise die Tiere vor ihren Feinden zu schützen. Wie wenig aber die Tiere
menschlicher Willkür freigegeben werden, sieht man auch daran, daß der erste
Schöpfungsbericht Mensch und Tier nur vegetarische Nahrung zuweist. Auch die
Nahrungszuweisung für die Tiere wird in den Segen, der über den Menschen ergeht,
eingeschlossen (Genesis 1,29f), seiner Fürsorge unterstellt. Der Herrschaftsauftrag des
Menschen und seine sachgemäße Ausübung stehen und fallen mit der Gottebenbildlichkeit.
Sie gilt dem Menschen innerhalb und außerhalb des Gottesvolkes; sie ist unabhängig von
Geschlechtszugehörigkeit, Rassen und Klassen. Nur wenn und solange der Mensch in seiner
einzigartigen, unmittelbaren Gottesbeziehung lebt - genau dies ist mit Gottesebenbildlichkeit
gemeint- und wenn er nach der Weise Gottes, als Beauftragter Gottes eine Herrschaft ausübt,
entspricht dies dem Willen Gottes.
......
(56) Die von Gott gewollte Erhaltungsordnung nach der Sintflut schränkt das hinfort
zugestandene Nutzen, Ausbeuten und Töten tierischer Wesen durch den Menschen mit einem
gewichtigen rituellen Vorbehalt ein: „Allein esset das Fleisch nicht mit seinem Blut, in dem
sein Leben ist!“ (Genesis 9,4) Dem alttestamentlichen Menschen gilt das Bluttabu als das
Zeichen eines letzten Respekts vor der Verfügungsgewalt Gottes über die Tiere.
Grundsätzlich ist dadurch das Tier mehr als eine Sache. Dem Tier eignet durch das von Gott
gegebene Leben ein Eigenwert vor Gott, den der Mensch zu respektieren hat.
(57) Der eigene Rang tierischen Daseins macht erst begreiflich, daß im alttestamentlichen
Sühneritual u.U. tierisches Leben stellvertretend für das menschliche vor Gott in den Tod
geschickt werden kann (Levitikus 17,11). Hieran wird zugleich erkennbar, daß es eine
Rangordnung des Lebens gibt, die das menschliche Dasein über jedes tierische stellt.
(58) Daraus ergibt sich selbstverständlich, daß das Verhältnis des Menschen zum Tier ethisch
zu bestimmen ist: „Der Gerechte erbarmt sich seines Viehs, aber das Herz der Gottlosen ist
grausam“ (Sprichwörter 12,10). Das alttestamentliche Gesetz stellt deshalb auch das
Verhältnis zu Tieren und Pflanzen unter gewisse göttliche Sanktionen (Levitikus 19,19.23;
Deuteronomium 22,6f u.ö.). Tierquälerei ist für die biblischen Autoren ein religiöses
Vergehen. Zwischen dem Eigentümer und seinem Tier waltet eine Art Gemeinschaftsbezug.
Das Tier ist mehr als nur ein Objekt zur Verwertung seines Fleisches, sein Wert geht über die
bloße Nützlichkeit seiner Leistung hinaus.
Die christliche Ethik wird sich nicht auf menschliches Leben allein beziehen können, sondern
muß tierisches und pflanzliches Leben, ja auch die leblose Natur mit einbeziehen.
......
(94) Entschiedener und umsichtiger als bisher müssen Christen und Kirchen ihren eigenen
Beitrag zur Erhaltung und Verbesserung der Lebensbedingungen in unserem Land und
unserer Welt leisten. Bürger, Wissenschaftler und Techniker, Unternehmer und Politiker
erwarten zu Recht, daß die Kirchen sie in ihren Anstrengungen um die Sicherung unserer
Zukunft nicht allein lassen. Unter Berufung auf ihre Verantwortung für das individuelle,
jenseitige Heil dürfen sie
- 38 -
sich nicht aus ihrer Verantwortung für die Gestaltung dieser Welt heraushalten. Von ihrem
Selbstverständnis her haben die Kirchen einen vierfachen Beitrag einzubringen: das Licht der
Wahrheit, die Kraft zur sittlichen Entscheidung, den Dienst der Versöhnung zwischen den
widerstreitenden Positionen und Interessen und die Hoffnung ...
(95) Der Glaube an Gott, den Schöpfer, Erlöser und Vollender der Welt, prägt das Denken
und Verhalten des Menschen tiefgreifend und nachhaltig. Gerade die harte Kritik an den
Kirchen, sie hätten das Licht der Wahrheit von der Schöpfung sträflich unter den Scheffel
gestellt oder sie hätten das Irrlicht der selbstherrlichen Ausbeutung der Welt in der Geschichte
entzündet, bestätigt indirekt doch die Macht, die man der geistlich-geistigen Orientierung
bzw. Desorientierung zuschreibt. Die entscheidende Antwort auf diese teilweise nicht ganz
unberechtigte Kritik kann nur lauten: Die Kirchen müssen ihre Lehre vom Menschen als
Ebenbild Gottes und von der Welt als Schöpfung Gottes klarer und verständlicher
formulieren, ihr Gehör verschaffen und die sittliche Verantwortung, die der Glaube verlangt
und freisetzt, auch über den Kreis der Gläubigen hinaus plausibel und einladend verkündigen.
In Predigt und Unterricht, in Lied und Gebet sollte der erste Glaubensartikel dazu anleiten,
der Natur staunend in Dank und Lob des Schöpfers gegenüberzutreten und so ein
Naturverhalten einzuüben, das über zweckrationales Nützlichkeitsdenken grundsätzlich
hinausgeht.
Zumal in unserem Lande stehen den Kirchen hierfür Einrichtungen zur Verfügung, die es zu
nutzen gilt: Gottesdienst und Predigt, Gemeindekatechese und .Erwachsenenbildung,
theologische Fakultäten und Akademien, Kirchentage und wissenschaftliche Kongresse. Nicht
nur die öffentliche Breitenwirkung, auch der sachkundige Dialog mit Wissenschaftlern und
Entscheidungsträgern in Wirtschaft und Politik sind Ziele, wofür die Kirchen alle verfügbaren
Kräfte mobilisieren müssen. Wir Christen sollten uns angesichts der heute anstehenden
Überlebensfragen von Menschheit und Welt und der bitteren Erfahrungen aus der Zeit des
Dritten Reiches daran erinnern, daß auch verlegenes Schweigen und unschlüssiges Handeln
schuldig machen können.
......
IV. Gottes Gaben - Unsere Aufgabe. Die Erklärung von Stuttgart. Forum
„Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ der Arbeitsgemeinschaft
christlicher Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland und Berlin(West) e.V. (20. 22.Oktober 1988), EKD-Texte 27, Hannover 1989
......
4.Bewahrung der Schöpfung
4.1 Theologische Einleitung
Gott hat die Welt geschaffen und bleibt in seiner Schöpfung gegenwärtig. Ihre Bewahrung ist
allen Menschen von Gott aufgetragen (vgl. Gen 2,15). Wir Christen glauben, daß die gesamte
Schöpfung von der Liebe Gottes getragen bleibt, die sich in Jesus Christus offenbart.
- 39 -
Christen aller Konfessionen bekennen den dreieinigen Gott als Schöpfer, Erhalter, Erlöser
und Vollender der Welt. Sie preisen Gott als den Schöpfer des Himmels und der Erde: „Herr,
wie zahlreich sind deine Werke! Mit Weisheit hast du sie alle gemacht, die Erde ist voll von
deinen Geschöpfen“ (Ps 104,24). Von Jesus Christus bezeugt die Bibel: „Denn in ihm wurde
alles geschaffen, im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare, Throne und
Herrschaften, Mächte und Gewalten; alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen. Er ist vor
aller Schöpfung, in ihm hat alles Bestand“ (Kol 1,16f). Alles Geschaffene ist vom Geist
Gottes, dem Liebhaber des Lebens, durchwaltet und wird dadurch geheiligt.
In Jesus Christus wurde Gott Mensch und nahm damit das Leiden der menschlichen und der
außermenschlichen Schöpfung auf sich. Durch sein Kreuz und seine Auferstehung ist er den
Weg zur Erlösung der gesamten Schöpfung gegangen. In seiner Nachfolge erwarten wir, vom
Heiligen Geist geleitet, den neuen Himmel und die neue Erde, die uns als Vollendung der
Welt verheißen sind.
Gott hat den Menschen als Teil seiner Schöpfung erschaffen. Alle Mitgeschöpfe haben ihren
eigenen Wert, der darin begründet liegt, daß sie von Gott gewollt sind. Die Ehrfurcht vor dem
Leben verbietet es, Tier- und Pflanzenwelt vornehmlich unter dem Gesichtspunkt ihres
Nutzens und der Verwertbarkeit für den Menschen zu sehen. Das gilt auch für die unbelebte
Natur.
Gott hat dem Menschen jedoch auch eine besondere Stellung in seiner Schöpfung
vorbehalten: Er hat ihm den Auftrag gegeben, als sein Abbild Verantwortung für die
Mitgeschöpfe wahrzunehmen.
Es gehört zur Verantwortung für Gottes Schöpfung, menschliches Leben, sei es stark oder
schwach, groß oder klein, jung oder alt, von Anfang bis Ende zu schützen. Es darf in all
seinen Erscheinungsformen nicht ausgebeutet, verletzt oder gar zerstört werden. Zur
Schöpfungsverantwortung gehört daher auch der Schutz des ungeborenen Lebens. Als
schwächste Form menschlichen Lebens braucht es diese besondere Achtung seiner Würde.
Unsere Schuld besteht darin, daß wir immer wieder aus egoistischen Motiven die uns
gezogenen Grenzen verletzen und der Schöpfung nicht mehr behebbare Schäden zufügen. Die
Natur ist vorwiegend zum Rohstofffür eine verschwenderische Produktion von Konsumgütern
geworden.
Die Schöpfung ist uns zur Gestaltung und zur Pflege anvertraut. Mit der Anmaßung
grenzenloser Herrschaft über die Natur mißachten wir unseren Auftrag und erweisen uns so
als Sünder. Zudem gefährden wir das ökologische Gleichgewicht und riskieren unsere
Zukunft wie die der kommenden Generationen. Mit dieser Praxis tun wir der Schöpfung
Gewalt an.
Umkehr zu Gott ist daher notwendig. Begründet ist diese Umkehr in der tiefen Überzeugung,
daß Gott Freude an seiner Schöpfung hat und sie liebt. Es gilt, die Dankbarkeit für das
Geschenk der Schöpfung wiederzugewinnen und unsere tägliche Verantwortung für das
Geschaffene so wahrzunehmen, daß wir in den Lobpreis der gesamten Schöpfung einstimmen
können. Der Mensch darf die Früchte und Schätze der Erde dankbar nutzen. Aber gerade
darin soll er Abbild Gottes sein, daß er wie Gott fürsorglich, liebevoll die Schöpfung hegt und
pflegt. Das
- 40 -
aber heißt heute, viel größere Anstrengungen zu unternehmen, um die Gewalt gegen die
Schöpfung zu vermindern.
Zum Schutz der heiligen Gabe des Lebens müssen und können wir uns um ein neues Denken
und um einen neuen Lebensstil bemühen. Auch wenn die endzeitliche Befreiung des
Menschen, die Befriedung der Natur und die Erlösung von den Mächten des Bösen und des
Todes noch ausstehen, so können schon jetzt Zeichen der neuen Schöpfung sichtbar werden.
Unsere Hoffnung ist in Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi begründet. In Christus hat
die Erlösung der Schöpfung begonnen. In dieser Hoffnung glauben wir an die Auferstehung.
So können wir uns nicht mit der Todesherrschaft abfinden.
„Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung: Das Alte ist vergangen.
Neues ist geworden“ ( 2 Kor 5,17). Wer an das ewige Leben glaubt, setzt sich auch für die
Vermehrung irdischer Lebensmöglichkeiten gegen alle zerstörerischen Tendenzen ein. Er
braucht nicht zu resignieren und zu kapitulieren, sondern kann inmitten aller Zwänge nach
Möglichkeiten des neuen Lebens Ausschau halten: im Verhältnis zu sich selbst, zu den
Mitmenschen und den übrigen Mitgeschöpfen sowie im Umgang mit der ganzen Natur. Im
Gottesdienst preisen wir Gott als Schöpfer. Wir lassen uns erinnern an unseren Ort in seiner
Schöpfung inmitten der anderen Kreatur. Wir danken für die Gabe der Schöpfung und des
Lebens. Wir erfahren und feiern die befreiende Wirkung von Gottes Wort und Sakrament.
Gemeinsam lassen wir uns zu mutigem Handeln herausfordern.
4.2 Wahrnehmung der Verantwortung
Wenn wir als Christen, und sei es auch nur bruchstück- und zeichenhaft, den verheißenen
Frieden Gottes in dieser Schöpfung aufzeigen wollen, müssen wir umdenken. Ausgehend
vom biblischen Schöpfungsauftrag gilt es, mit Hilfe der menschlichen Vernunft Maximen für
das konkrete Handeln in der Welt zu entwickeln.
Wir müssen ablassen von Machtphantasien über die Schöpfung und demütig die Grenzen
unseres Handlungsspielraums und unsere eigene Begrenzung anerkennen. Wir müssen
Abschied nehmen von dem Glauben an ein unbegrenztes Wachstum und an Fortschritt ohne
Ende und uns am Maßstab des Lebens und dessen, was dem Leben dient, orientieren.
Bei der Verwirklichung dieses Umdenkens sind wir häufig konfrontiert mit starken
Interessenkonflikten. Oft stehen z.B. Wirtschaftlichkeit, Besitzstandswahrung und vermehrung, politisches Machtstreben und Sicherung von Arbeitsplätzen gegen die
Bestrebungen der Umwelterhaltung; ökonomische Interessen beanspruchen im allgemeinen
Vorrang vor ökologischen Interessen.
......
4.35 Arten- und Tierschutz
Eine wichtige Aufgabe der Bewahrung der Schöpfung ist der Artenschutz. Die Vielfalt der
Schöpfung ist ein Abglanz der Herrlichkeit Gottes, und sie ist unbedingte Voraussetzung für
die globale ökologische Stabilität.
- 41 -
Viele Tier- und Pflanzenarten sind durch zahlreiche Umweltbelastungen bedroht bzw. bereits
verschwunden (Rote Listen). Veränderungen ihres Lebensraumes und Belastungen der
Nahrungskette durch Schadstoffe sind Ursachen ihrer Bedrohung.
Ein effektiver Schutz der bedrohten Tier- und Pflanzenarten ist deshalb nur möglich als
Biotopschutz (Bereit- und Wiederherstellung von Lebensräumen), der auch gegen
wirtschaftliche und militärische Interessen durchgesetzt werden muß. Biotopschutz kann sich
nicht auf voneinander isolierte Flächen beschränken, vielmehr ist ein Austausch zwischen
Biotopen notwendig. Folgende Ansatzpunkte für politische Entscheidungen sehen wir:
- erhebliche Ausweitung der Naturschutz- und Landschaftsschutzfläche;
- Renaturierung von Gewässern und Feuchtgebieten;
- Schutz ökologisch wertvoller Gebiete vor Tourismus;
- Förderung und Unterstützung einer ökologisch vertretbaren Landwirtschaft;
- ökologisch vertretbare Flächenstillegungen in der Landwirtschaft;
- bedarfsgerechte Düngung und rückstandsfreier Pflanzenschutz zur Vermeidung schädlicher
Auswirkungen auf das Grundwasser und das Leben in Flüssen, Seen und Meeren.
Eine
umweltverträgliche
Landwirtschaft
darf
nicht
durch
unterschiedliche
Rahmenbedingungen in verschiedenen Ländern erschwert werden. Deshalb müssen die
bestehenden Wettbewerbsverzerrungen abgebaut werden.
Auch den klassischen Anliegen des Tierschutzes muß mehr Beachtung geschenkt werden.
In der Alkohol-, Tabak- und Kosmetikproduktion müssen Tierversuche unterbleiben. In der
medizinischen Forschung müssen Tierversuche eingeschränkt werden. Tierquälerei, aus
welchen Motiven auch immer, muß stärker als bisher geächtet werden. Artgerechte
Tierhaltung ist zu fördern. Nicht artgerechte Massentierhaltung soll schrittweise verboten
werden, weil sie nicht nur erhebliche Leiden für die Tiere mit sich bringt, sondern auch die
Umwelt beeinträchtigt.
......
V. Gott ist ein Freund des Lebens. Herausforderungen und Aufgaben beim Schutz des
Lebens. Gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland
und der Deutschen Bischofskonferenz, Gütersloh 1989
.....
II. Besinnung auf die Botschaft der Bibel
.......
(4) Gott schützt das Leben
Trotz der Sünde und ihrer zerstörerischen Folgen bleibt das Leben auf der Erde erhalten.
Denn Gott schützt das Leben. Schon in der Urgeschichte (Gen/1 Mose
- 42 -
1-12,3) zeigt die Bibel, wie Gott dem Anwachsen des Fluches, der Lebensminderung und zerstörung Kräfte der Lebensbewahrung und des Segens entgegenstellt. Am Ende der
Sintflutgeschichte wird von einer Selbstbindung Gottes berichtet, und damit kommt die
Zuversicht auf, daß niemals wieder, solange die Erde steht, eine derart umfassende
Vernichtung des Lebens stattfinden wird: „Ich will die Erde wegen des Menschen nicht noch
einmal verfluchen; denn das Trachten des Menschen ist böse von Jugend an ... Solange die
Erde besteht, sollen nicht aufhören Aussaat und Ernte, Kälte und Hitze, Sommer und Winter,
Tag und Nacht“ (Gen/1 Mose 8,21f). Diese Verse formulieren eine abgründige, aber gültige
Erkenntnis: Der Mensch bleibt, wer er ist, „böse von Jugend an“; aber Gott zieht eine andere
Konsequenz, er legt sich darauf fest, daß nicht noch einmal eine solche Zerstörung eintreten
wird, und bekräftigt dies im Zeichen des Regenbogens durch den Noach-Bund (Gen/1 Mose
9,8ff).
Das Vertrauen, daß Gott alles Lebendige liebt und schont, kommt in großer Eindringlichkeit
noch einmal in einem späten Text des alten Israel zum Ausdruck: „ Du liebst alles, was ist,
und verabscheust nichts von allem, was du gemacht hast; denn hättest du etwas gehaßt, so
hättest du es nicht geschaffen. Wie könnte etwas ohne deinen Willen Bestand haben, oder wie
könnte etwas erhalten bleiben, das nicht von dir ins Dasein gerufen wäre? Du schonst aber
alles, weil es dein Eigentum ist, Herr, du Freund des Lebens. Denn in allem ist dein
unvergänglicher Geist“ (Weisheit Salomos 11,24-12,1).
Freilich bewahrt sich die Bibel, auch wenn sie Gott „Freund des Lebens“ nennt, einen
nüchternen Blick für die harte und erschreckende Realität der Lebensphänomene. Leben lebt
immer auch auf Kosten anderen Lebens. In der „sehr guten“ Schöpfungswelt von Gen/1 Mose
1 ist Tieren und Menschen das pflanzliche Leben als Nahrung zugewiesen (V 29f). In der
vorfindlichen Welt, die vom Einbruch des Bösen gezeichnet ist, herrscht Feindschaft
zwischen den Lebewesen, reißt der Wolf das Lamm, werden Tiere für die menschliche
Ernährung geschlachtet, ja sogar: bringen Menschen einander um. Immerhin macht die
biblische Urgeschichte sehr deutlich, daß pflanzliches und tierisches Leben dem Menschen
keineswegs selbstverständlich zur Verfügung steht; der Eingriff in anderes Leben bedarf der
besonderen Freigabe und Ermächtigung durch Gott, wie sie im Blick auf die tierische und
menschliche Ernährung in Gen/1 Mose 1,29f bzw. Gen/1 Mose 9,2f gegeben werden.
Übergriffe auf andere Menschenleben sind prinzipiell gegen Gottes Ordnung; sie werden
darum mit Sanktionen bedroht (z.B. Gen/1 Mose 9,5f); kategorisch fordert das 5. (6.) Gebot: „
Du sollst nicht morden!“
Das Wirken Gottes als eines Freundes des Lebens soll im Wirken der Menschen seine
Entsprechung finden. Das 5. (6.) Gebot markiert hier nur eine äußerste Grenze. Die Werke
des lebendig machenden Geistes sind Liebe, Friede, Güte, Treue, Sanftmut, Gerechtigkeit
(Gal 5,22f; Eph 5,9), die sich im Umgang mit allem Lebendigen bewähren müssen. Darum
heißt es auch im Alten Testament über das Verhältnis des Menschen zum Tier: „Der Gerechte
weiß, was sein Vieh braucht, doch das Herz der Frevler ist hart“ (Spr 12,10).
- 43 -
(6) Das Seufzen und Stöhnen der Kreatur
Das Neue Testament sieht den Leidenszustand der Schöpfung und die vielfältigen
Minderungen und Verletzungen des Lebens in einer Perspektive der Hoffnung. Am
eindrücklichsten geschieht dies bei Paulus im 8.Kapitel des Römerbriefs: „Die ganze
Schöpfung wartet sehnsüchtig auf das Offenbarwerden der Söhne Gottes. Die Schöpfung ist
der Vergänglichkeit unterworfen, nicht aus eigenem Willen, sondern durch den, der sie
unterworfen hat; aber zugleich gab er ihr Hoffnung: Auch die Schöpfung soll von der
Sklaverei und Verlorenheit befreit werden zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes.
Denn wir wissen, daß die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in
Geburtswehen liegt“ (Röm 8,19-22).
An diesem Abschnitt wird deutlich: Das Neue Testament und insbesondere die paulinischen
Briefe, denen gelegentlich eine Orientierung allein am menschlichen Individuum und an der
Erlösung des einzelnen unterstellt wird, haben die gesamte Kreatur und Lebenswelt im Blick;
der Zustand der kreatürlichen Welt wird als Existenz in Unfreiheit, Nichtigkeit, Seufzen und
sehnsüchtigem Harren qualifiziert; zwischen der Erlösung der Menschen und der Erlösung
der ganzen Kreatur besteht eine Beziehung. Daraus ergibt sich auch, daß die Menschen die
Wende im Zustand der außermenschlichen Schöpfung nicht selbst herbeiführen können: Der
Geduld der Christen in der Gegenwart entspricht das Warten und Seufzen der Schöpfung;
beides ist eine Gestalt der Hoffnung. Aber wie es im menschlichen Leben Anfänge und
Vorzeichen der kommenden Erlösung gibt (z.B. 2 Kor 5,17ff; Gal 5,16ff; Eph 4,17ff), so kann
die neue Schöpfung auch in der gesamten Lebenswelt durch entsprechendes Handeln und
Verhalten der Menschen zeichenhaft sichtbar werden.
......
III. Der Lebensraum Erde
......
3. Der Auftrag des Menschen: Bebauen und Bewahren
Der christliche Glaube sieht in Schöpfungswelt und Leben keine in ihrer Vorgegebenheit
unantastbaren Größen. Vielmehr versteht er die Erde als einen Lebensraum, der dem
Menschen anvertraut ist, um ihn zu „bebauen“ und zu „hüten/bewahren“ (Gen/ 1 Mose 2,15),
also ihn in pfleglicher Behandlung zu nutzen, zu kultivieren und zu gestalten. Eingriffe in
fremdes Leben sind so zugleich legitimiert und begrenzt.
Damit ist dem Menschen eine Sonderstellung gegenüber der Natur und den anderen
Lebewesen eingeräumt und zugemutet. Das entspricht bereits dem phänomenologischen
Befund: Der Mensch ist im Vergleich mit höheren Tieren durch seine biologische
Antriebsstruktur weniger auf bestimmte Lebensziele festgelegt. Er geht darum nicht in seiner
Umwelt auf, sondern schafft sich seine Welt. Die Fähigkeit zu rationaler, vorausschauender
Planung und zur sprachlichen Kommunikation spielt dabei eine wichtige Rolle. Im
Unterschied zu den anderen Lebewesen kann sich der Mensch zu den ihm schicksalhaft
vorgegebenen Bedingungen verhalten, sich ihnen anpassen, aber auch sie umbilden und sich
anver-
- 44 -
wandeln. Im Menschen kommt das ihn umgreifende und übergreifende Leben zu sich selbst;
in ihm wird es sich seiner bewußt und erfährt sich als sich selbst überantwortet. Der Vorrang
des Menschen, sich zu seinem eigenen und zu allem anderen Leben verhalten zu können, ist
der Kern seiner Autonomie, seiner Selbstbestimmung; sie ist nicht absolut, sondern
verantwortlich vor Gott auf die Umwelt und Mitwelt bezogen.
Der erste Schöpfungsbericht (Gen/1 Mose 1,28) spricht ebenso wie Psalm 8 ausdrücklich von
einer Herrschaftsstellung des Menschen. Die Formel vom „Bebauen und Bewahren“ (Gen/1
Mose 2,15) korrigiert den Herrschaftsgedanken nicht, sondern interpretiert ihn. Das Handeln
des Menschen gegenüber der belebten und unbelebten Natur bleibt auch beim Bebauen und
Bewahren die Ausübung von Herrschaft. Darum führt es auch in die Irre, das Verhältnis des
Menschen zu den anderen Lebewesen als eines der Partnerschaft zu beschreiben. Der Mensch
ist in der Ordnung der vorfindlichen Welt (Gen/1 Mose 1-2 mit Gen/1 Mose 9) von Gott
ermächtigt worden, die ihm vorgegebene Welt unter Eingriff in fremdes Leben zu bearbeiten
und dabei etwa Bäume zu fällen, Holz zu verarbeiten, Verkehrs- und Bewässerungssysteme
zu errichten, Tiere zu züchten und abzurichten oder Tiere zu Nahrungszwecken zu schlachten.
Technik und Industrialisierung liegen grundsätzlich trotz der damit verbundenen
Umgestaltung der Natur durchaus in der Linie der biblischen Beschreibung der Rolle des
Menschen in der Schöpfungswelt. Auch der Verstand des Menschen mit seiner Neugier und
seinem Erfindungsreichtum ist eine gute Gabe Gottes. Aber er kann auch verkehrt und gegen
Gott und das Leben gebraucht werden. Die Versuchung, die Wissenschaft und Technik
darstellen, und die geradezu religiöse Überhöhung, die sie immer wieder gefunden haben und
finden, erfordern noch eine kritische Auseinandersetzung ... Aber die biblische Überlieferung
bietet keinen Anhaltspunkt, Wissenschaft und Technik von vornherein unter Verdacht zu
stellen oder gar eine Haltung der Wissenschafts- und Technikfeindlichkeit einzunehmen. In
den vergangenen Jahrhunderten sind in Wissenschaft und Technik Entdeckungen gemacht
und Entwicklungen vorangetrieben worden, die für ungezählte Menschen segensreiche Folgen
gehabt haben. Es genügt, in diesem Zusammenhang an die Ablösung körperlicher
Schwerstarbeit durch Einsatz von Maschinen, an die Steigerung der landwirtschaftlichen
Erträge durch die künstliche Düngung oder an die Überwindung der meisten Seuchen und
Epidemien zu erinnern. Auch die gegenwärtigen gravierenden Umweltgefährdungen werden
sich nicht gegen Wissenschaft und Technik, sondern nur mit Hilfe der Wissenschaft und einer
intelligenteren und umweltschonenderen Technik bewältigen lassen.
Allerdings sind die Herrschaftsaussagen von Gen/1 Mose 1 und Ps 8 vielfach in die Richtung
von Ausbeutung und Unterdrückung der Natur mißdeutet und dieser Auslegung gemäß
praktiziert worden. Die Entwicklung von Wissenschaft und Technik hat Instrumente der
Machtausübung bereitgestellt, die mit ihren verlockenden Möglichkeiten einen ständigen
Anreiz bieten, natürliche Ressourcen zugunsten des Menschen zu verbrauchen bzw. zu
verändern. Demgegenüber ist die Formel von „Bebauen und Bewahren“ eine wichtige
näherbestimmende Interpretation zur Art und Weise der Herrschaft. Diese Herrschaft muß
nämlich im Rahmen des Schöpferwirkens Gottes zugunsten allen Lebens geschehen, sich also
in den Dienst des Lebens auf der Erde stellen. Darum ist dem Menschen im
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Umgang mit der natürlichen Welt alles eröffnet zur Fristung und Freude seines Lebens, sofern
und solange er die Folgen seines Handelns nach dem Maß menschlicher Einsicht prüft, auch
anderen Menschen und den künftigen Generationen die vorgegebene Schöpfungsqualität ihrer
Lebenswelt nicht zerstört und dem anderen Lebendigen jetzt und künftig Leben und
Lebensmöglichkeit in seinem eigenständigen Daseinsrecht wahrt. Die Tötung
außermenschlichen Lebens ist auf die Deckung des Lebensbedarfs und die Abwehr von
Gefahren zu beschränken.
Gegenüber der heutigen Lebensweise und technisch-industriellen Produktion und ihren
Folgen stellen sich von diesen Kriterien her ernste Anfragen. So haben etwa die Zersiedelung
der Landschaft und die Entwicklung des Verkehrs Dimensionen angenommen, die mit
erheblichen Eingriffen in die natürliche Umwelt teuer bezahlt und für die Menschen selbst zur
drückenden Last werden. Unter den neueren technischen Entwicklungslinien sind es vor allem
zwei, auf die sich die Kritik gerade auch vieler Christen richtet: Atomtechnik und Gentechnik.
Das mit der Atomtechnik gegebene ungeheure Energiepotential findet seine Parallele in der
von der Gentechnik ermöglichten bzw. angestrebten Fähigkeit zu schnellem und gezieltem
Eingriff in das Erbgut des Menschen selbst wie des außermenschlichen Lebens. Auch
Atomtechnik und Gentechnik sind nicht als solche schlecht. Freilich sind sie, wie zumal die
militärische Nutzung der Atomtechnik gezeigt hat, in besonderem Maße gefährdet durch die
zerstörerischen Kräfte der Sünde, durch Lebensverachtung, vermessene menschliche
Selbstüberschätzung, Machtstreben oder Gewinnsucht.
......
4. Der Eigenwert der Mitgeschöpfe des Menschen
Die Mitgeschöpfe des Menschen dürfen nicht nur und nicht zuerst unter dem Gesichtspunkt
des für ihn gegebenen Nutzwerts betrachtet werden. Zwar ist der Mensch legitimiert,
pflanzliches und tierisches Leben zu seiner Ernährung, seiner Versorgung und seiner Freude
zu gebrauchen und zu verbrauchen. Die Mitgeschöpfe gehen aber in ihrem Nutzwert für den
Menschen nicht auf. Die Blume ist nicht allein dazu da, damit der Mensch sich an ihr freut;
das Huhn ist keine bloße Eierlegemaschine zur Bereitstellung menschlicher Nahrung; viele
Pflanzen und Tiere haben überhaupt keinen erkennbaren und benennbaren unmittelbaren
Nutzen für den Menschen. Das pflanzliche und tierische Leben samt den niederen Formen des
Lebens hat zunächst einen Nutzwert für andere Lebewesen neben dem Menschen und für den
Lebensprozeß insgesamt; schon dies legt dem Menschen bei seinem Umgang mit der Natur
Rücksichten auf; er darf sich nicht nur an seinen eigenen Interessen ausrichten, sondern muß
die möglichen Auswirkungen auf die Lebensmöglichkeiten anderen Lebens mitbedenken.
Von allem aber haben die Mitgeschöpfe des Menschen unabhängig von ihrem Nutzwert einen
Eigenwert, nämlich darin, daß sie auf Gott als den Schöpfer bezogen sind, an seinem Leben
Anteil haben und zu seinem Lob bestimmt sind. Einen eigenen Wert und Sinn zu haben
bedeutet nicht, daß jedes individuelle Lebewesen oder jede Art erhalten werden müssen. Aber
wo der Gedanke des Eigenwerts Anerkennung findet, kann er als Begrenzung und Korrektur
dienen gegenüber einer Haltung, der das außermenschliche Leben nichts als Material und
Verfügungsmasse in der Hand des Menschen darstellt.
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Die Frage des Eigenwertes der Mitgeschöpfe des Menschen spielt auch in die aktuelle
Diskussion um die Verankerung des Umweltschutzes im Grundgesetz hinein. Die
evangelische und die katholische Kirche haben sich dafür ausgesprochen, in der Formulierung
eines Staatsziels Umweltschutz nicht auf die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen
abzustellen, sondern aus Verantwortung für die Schöpfung umfassender vom Schutz der
natürlichen Grundlagen des Lebens oder vom Schutz der Natur und Umwelt zu sprechen. Die
Kirchen erneuern und unterstreichen ihr Votum an dieser Stelle. Denn jede den Eigenwert des
außermenschlichen Lebens nicht berücksichtigende Formulierung des Staatsziels würde in der
Zukunft geradezu als Vorwand dienen können, Eingriffe zu legitimieren, die im Interesse des
Menschen und der Wahrung seiner Rechte jeweils für erforderlich gehalten werden, die
Schöpfungswelt als ganze in ihrer lebensnotwendigen Vielfalt aber bedrohen. Es ist abwegig,
aus dem Standpunkt der Kirchen bzw. den in die gleiche Richtung gehenden Vorschlägen
einen Schutzanspruch für jedes einzelne Lebewesen herauszulesen; geschützt werden sollen
die Lebensmöglichkeiten für die notwendige Vielfalt von Lebewesen. Bei jeder
umweltpolitisch relevanten Entscheidung ist abzuwägen zwischen dem Nutzungsinteresse des
Menschen und dem Eigenwert des betroffenen außermenschlichen Lebens; gerade auf die
Nötigung zu dieser Abwägung kommt es an.
......
VI. Einverständnis mit der Schöpfung. Ein Beitrag zur ethischen Urteilsbildung im
Blick auf die Gentechnik und ihre Anwendung bei Mikroorganismen, Pflanzen und
Tieren. Vorgelegt von einer Arbeitsgruppe der Evangelischen Kirche in Deutschland,
Gütersloh 1991
......
I. Orientierung über den Sachstand
......
Die Gentechnik selbst (im Sinne der Genmanipulation) wird im Blick auf Säugetiere
vornehmlich in der Grundlagenforschung eingesetzt. Anwendungsmöglichkeiten mit dem Ziel
der Resistenzbildung gegen Krankheiten und Umwelteinflüsse und insbesondere der
Leistungssteigerung werden erprobt. In diesem Zusammenhang dient die Genomanalyse dazu,
einerseits Abweichungen von der normalen genetischen Ausstattung festzustellen und
andererseits bestimmte Gene zu identifizieren. Das längerfristige Ziel ist es, Erbkrankheiten
möglichst zu eliminieren, mit erwünschten Merkmalen weiterzuzüchten und damit die Zucht
zu verbessern.
Ein weiteres Feld gentechnisch betriebener Tierzucht ist die Herstellung bestimmter
Labortiere. Mit Hilfe der Gentechnik ist es zunehmend möglich, für spezielle Fragestellungen
die geeigneten Versuchstiere nicht nur auszuwählen, sondern unmittelbar zu erzeugen.
Vorteile verspricht man sich hier vor allem für die Prüfung von Arzneimitteln. Weiterhin wird
gemeinhin davon ausgegangen, daß mögliche Therapien von Gendefekten am besten an
Tieren studiert werden können, denen der entsprechende Defekt eingepflanzt worden ist. So
wird die
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Tumormaus in der Krebsforschung, die Aids-Maus bei der Untersuchung der
Immunschwäche und der Testung von Stoffen, die als Arzneimittel in Frage kommen
könnten, eingesetzt. Die bewußte Herstellung genetisch defekter Tiere hat ihre eigene ethische
Problematik: Es stellt sich die Frage, ob der Tatbestand der Tierquälerei vorliegt. Ein auch nur
als wahrscheinlich anzunehmendes Schmerzempfinden von höheren Tieren ist dafür ein
wichtiges Kriterium. Für den handelnden, biologisch forschenden Menschen muß es ein
Gebot der Selbstachtung sein, daß die Produktion von kranken Tieren nicht ohne Not
geschieht. Die ethische Frage gilt freilich auch schon für die Technisierung der Tierhaltung
allgemein: Hier hat sich eine Umformung zur bloßen Tierproduktion vollzogen, die in der
Intensivhaltung ausschließlich der Herstellung nützlicher Funktionsabläufe dient.
Die Herauszüchtung von wenigen tierischen Hochleistungsrassen, die durch die Gentechnik
noch erheblich beschleunigt wird, kann schon mittelfristig zu einer genetischen Verarmung
des Viehbestandes führen. Die Anpassung an sehr begrenzte künstliche Lebensbedingungen,
die bei transgenen Schweinen bereits Krankheitscharakter erreicht hat, macht solche
Züchtungsprodukte gegen die verschiedensten Störfaktoren äußerst anfällig. Die Zucht von
Schweinen und Rindern ist nur sinnvoll, wenn auf die Erhaltung der Fruchtbarkeit und der
Gesundheit geachtet wird. Leistungen lassen sich nicht sprunghaft verbessern. Die allgemeine
Abnahme der Rassenzahl, zunehmende Anpassungsschwierigkeiten und die Produktion
kranker Tiere können langfristig auch ökonomisch zu empfindlichen Rückschlägen führen.
Das gilt allgemein für alle Tierzüchtungen. Doch durch die Gentechnik erhöht sich die
potentielle Gefahr.
Die Erhaltung und Pflege der genetischen Vielfalt bei Tieren ebenso wie bei Pflanzen ist
schon außerhalb aller ethischen Gesichtspunkte ökonomisch dringend geboten. Die heutige
Artenvielfalt der Organismen ist naturgeschichtlich in sehr langen Zeiträumen entstanden. Sie
innerhalb einer oder zweier Generationen drastisch zu reduzieren - täglich stirbt mindestens
eine Art aus - bedeutet eine elementare Veränderung des natürlichen Gleichgewichts und
damit der Lebensbedingungen auf der Erde.
......
V. Zum Umgang mit der Gentechnik: Perspektiven für Wahrnehmung, Urteil und Handeln
......
a) Artgerechtheit
Die Lebewesen begegnen den Menschen in einer Vielheit von Arten. Lebensraum und
Lebensweise jeder Art stehen in einem Wechselverhältnis von Anpassung, Lernen und
fremder Einwirkung. In dieser Wechselwirkung bildet sich, verändert sich und bewahrt sich
die Identität der Arten innerhalb bestimmter Grenzen ihrer Entwicklung und innerhalb
bestimmter Zeiträume. Eine Art kann nicht beliebig jeder Anpassung und Veränderung
ausgesetzt werden.
Die Menschen besitzen im Maße der ihnen zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen
Erkenntnis Einsicht in die Lebensfähigkeit der Arten. Sie wissen
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und können dieses Wissen noch vermehren -, welcher Lebensraum und welche Lebensweise
einer Art gerecht werden. Es geht auch hier um Gerechtigkeit im Sinne der Verträglichkeit:
Artgerechte Lebensverhältnisse und ein artgerechter Umgang sind daran zu messen, ob sie
mit den Erfordernissen des Lebensraums und der Lebensweise des betreffenden Lebewesens
vereinbar sind. Dies läßt einen gewissen, aber nicht einen beliebigen Raum für Abweichungen
und Veränderungen. Es ist gut, beim Umgang vor allem mit Pflanzen und Tieren das
verfügbare Wissen über den artgerechten Lebensraum und die artgerechte Lebensweise als
Hinweis auf eine notwendige Grenze ernstzunehmen. Die Einsicht in Anforderungen der
Artgerechtheit ist eine Mahnung zur Vorsicht.
Die vorliegenden Erfahrungen mit der gentechnischen Veränderung von Pflanzen und Tieren
unterstreichen die Berechtigung dieser Mahnung. So hat die Anpassung an sehr begrenzte
künstliche Lebensbedingungen bei transgenen Schweinen schon jetzt Krankheitscharakter
erreicht. Die auf Leistungssteigerung abgestellte Zucht ist nur solange sinnvoll, wie auf die
Erhaltung der Gesundheit geachtet wird ...
b) Artgrenzen
Wie im Falle der Artgerechtheit ist die Artgrenze eine Mahnung zur Vorsicht. Zwischen den
Arten besteht eine natürliche Barriere, die in der Regel eine spontane Kreuzung und
Vermischung verhindert. Organismen, die bei einer Überspringung der Artgrenzen entstehen,
sind nicht fortpflanzungsfähig. Die Artgrenze stellt eine offenkundig sinnhafte Gegebenheit
dar, die nicht ohne Not übergangen werden sollte. Jedenfalls ist sorgfältig zu prüfen, ob
Gründe namhaft gemacht werden können, die die Nichtbeachtung der Artgrenze rechtfertigen.
Dabei sind die Unterschiede zwischen Pflanzen und Tieren entsprechend zu berücksichtigen.
Auf keinen Fall ist die Neukombination von Erbmaterial unterschiedlicher Arten ein Vorgang,
der zum Gegenstand von spielerischen Versuchen oder von ungehemmten Experimenten
werden darf ...
c) Artenvielfalt
Die Artenvielfalt der Natur ist Grundlage und Bedingung des Lebens ... Der evolutionäre
Prozeß ist auf einen großen `Genpool' angewiesen. Eine Verarmung des genetischen
Bestandes schränkt die Entfaltungsmöglichkeiten des evolutionären Prozesses ein. Die
Artenvielfalt bedeutet aber in einem noch elementareren Sinne einen erhaltenswerten
Reichtum. Schon für die Menschen selbst gilt: Verschiedenartigkeit und Fülle ist zugleich
eine lockende Weite. So wenig aber ein Einheitstyp Mensch erstrebenswert ist, so wenig soll
es eine `Natur von der Stange' geben. Daß der Reichtum der Artenvielfalt und unsere Freude
an ihr letztlich nicht erklärlich sind, besagt keineswegs, daß er vernachlässigt werden kann. Es
ist den Menschen gegenwärtig nicht möglich, das notwendige und wünschenswerte Maß der
Vielfalt festzulegen, und es ist auch die Frage, ob sie es überhaupt wollen sollen. Die
Menschen können aber dazu beitragen, die Bedingungen zu erhalten, unter denen die Natur
die ihr eigene Vielfalt zu bewahren und zu entfalten imstande ist. Die Aufbewahrung von
Samen in Genbanken bietet langfristig keine hinreichende Sicherheit für die Erhaltung der
Artenvielfalt.
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d) Fehlerfreundlichkeit
Gentechnische Veränderungen von Lebewesen zielen im allgemeinen darauf, sie auf den
menschlichen Nutzen hin zu „verbessern“. Die Verbesserung ist auf bestimmte Funktionen
oder Eigenschaften bezogen. Ein solches gezieltes Vorgehen entspricht dem technischen
Vermögen, bestimmte Funktionen oder Eigenschaften von Werkstoffen und Maschinen zu
optimieren. Dabei kommt es erfahrungsgemäß zu einer weitgehenden Spezialisierung von
Arbeitsabläufen, die jeweils durch Programme der Koordination wiederum in einem
einheitlichen Produktionsprozeß verbunden werden. Optimierung und Spezialisierung
bedingen eine geringe Fehlertoleranz. Der kleinste technische Defekt und die kleinste nicht
vorgesehene Abweichung in der Bedienung können nicht korrigiert oder kompensiert werden.
Bereits ein Minimum an Ölverlust wird einem hochgezüchteten Motor gefährlich.
Die Gentechnik überträgt dieses Prinzip technischer Entwicklung auf Lebewesen und ihr
Zusammenspiel. Darin weicht sie von den im evolutionären Prozeß gegebenen Verhältnissen
markant ab. Denn in diesem sichert gerade die Fehlerfreundlichkeit der Organismen ihr
Überleben auch gegenüber einem breiten Spektrum nicht vorgesehener bzw. vorhersehbarer
Belastungen und Abweichungen. Der Begriff der Fehlerfreundlichkeit bezeichnet die
eigentümliche Verbindung von Fehleranfälligkeit und Fehlertoleranz: Organismen sind
zweifellos äußerst fehleranfällig; zugleich ist ihnen - etwa durch den Überschuß an
Funktionen, die durch Mutation hervorgerufenen Abweichungen, das Immunsystem oder die
Wundheilung - ein hohes Maß an Fehlertoleranz eigen. Übergenaue Tüchtigkeit für eine
bestimmte gegebene Situation ist ein Mangel an Fehlerfreundlichkeit und läuft auf Stagnation
und schließlich Versagen bei neuen Herausforderungen hinaus. Nur eine Pflanze mit einem
hohen Maß an Anpassungs- und Kompensationsmöglichkeiten kann Fehlernährung oder
Veränderungen am Standort ertragen und ausgleichen.
Wie für jede Technik ergibt sich auch für die Gentechnik daraus die Anforderung, sich mehr
an der Fehlerfreundlichkeit des evolutionären Prozesses als an der Optimierung und
Spezialisierung technischer Entwicklungsprozesse zu orientieren. Auch ökonomisch gesehen
lohnt es sich nicht, extrem anfällige oder schutzbedürftige Kulturen zu produzieren, die aber
hohe Nebenkosten verursachen. Selbst wenn die ökonomische Rechnung, auf begrenzte
Zeiträume und Verantwortlichkeiten bezogen, aufgeht, fallen die Nebenkosten lediglich zu
einem späteren Zeitpunkt oder außerhalb der eigenen Zuständigkeit an. Der Blick auf das
evolutionäre Prinzip erfordert aber eine weiträumige Rechnung.
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Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats des
Beauftragten für Umweltfragen des Rates
der Evangelischen Kirche in Deutschland
(Oktober 1991)
Günter Altner, Heidelberg
Annette Beleites, Schwerin (Gast)
Claus-Benedict von der Decken, Jülich
Hans Diefenbacher, Heidelberg
Gabriele Hundsdörfer, Bonn
Hans Kiemstedt, Hannover (Vorsitzender)
Udo Krolzik, Hamburg
Heinrich Freiherr von Lersner, Berlin
Hans-Joachim Luhmann, Stuttgart
Jürgen Salzwedel, Bonn
Martin Schrenk, Homburg/Saar
Udo Ernst Simonis, Berlin
Gotthard M. Teutsch, Bayreuth
Adelheid von Wahlert, Ingersheim
Beauftragter für Umweltfragen des Rates der EKD:
Kurt Oeser, Mörfelden
Geschäftsführer:
Hermann Barth, Hannover
- 51 Nachwort
Für die im Herbst 1991 veröffentlichte Ausarbeitung zum Mensch-Tier-Verhältnis ist eine 2.
Auflage erforderlich geworden. Schon daran zeigt sich, daß die Fragen der Verantwortung des
Menschen für das Tier als Mitgeschöpf eine erfreuliche Aufmerksamkeit finden. Wenige
andere ethische Beiträge aus der Evangelischen Kirche in Deutschland haben in den letzten
Jahren ähnlich lebhafte und engagierte Reaktionen, in Zustimmung wie in Ablehnung
hervorgerufen. Das Mensch-Tier-Verhältnis ist kein fernliegendes und kein abstraktes Thema.
Auf den verschiedenen Handlungsfeldern betrifft und berührt das mitgeschöpfliche Verhalten
konkret die alltäglichen Lebensvollzüge vieler Menschen.
Die Ausarbeitung verstand und versteht sich ausdrücklich als „Diskussionsbeitrag“. Sie
beteiligt sich an einer in Gang befindlichen Debatte - mit einer wohlüberlegten, markanten,
für manche anstößigen Positionsbestimmung, nicht aber mit dem Anspruch, eine definitive
Stellungnahme der evangelischen Kirche zu formulieren, oder gar die Debatte abzuschließen.
Diesem Selbstverständnis entspricht es, wenn der 2. Auflage ein Nachwort beigegeben und
darin eine Zwischenbilanz gezogen wird. Besondere Beachtung verdient dabei der
Gesichtspunkt, der im Vorwort nachdrücklich hervorgehoben ist: Vom Fortgang der
Diskussion erhofft der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland „zu unser aller Nutzen
mehr Klarheit, ob das Ziel der Verminderung der Gewalt zwischen Mensch und Tier vom
biblischen Zeugnis her weitergeführt werden darf zu der radikalen Position einer prinzipiellen
Ablehnung von Gewalt, anders gesagt, in welche Weise ein Schöpfungspazifismus
eschatologische Hoffnung bleiben muß und wieweit er schon jetzt das Handeln leiten soll.“
1. Betroffenheit und Wahrhaftigkeit
Die Diskussion über die Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf und so
auch die Reaktionen auf den vorliegenden Beitrag kennzeichnet nicht selten ein
leidenschaftlicher, erregter Ton. Denn viele beteiligen sich an dieser Diskussion als
Betroffene: als Landwirte, die ihr Auskommen auf Schlachtviehhaltung und damit auf den
Fleischkonsum der Bevölkerung begründet haben, als Jäger und Angler, die diese Tätigkeiten
durch persönliche Ausübung und durch Verbandsarbeit verbunden sind, als Mitglieder in
Tierschutzorganisationen, die sich mächtigen Partikularinteressen gegenübersehen und vom
Leiden der Tiere innerlich aufgewühlt sind, oder als Wissenschaftler und Beamte, die sich mit
je ihren Möglichkeiten für einen sachgemäßen Tierschutz einsetzten. Es ist ebenso
verständlich wie berechtigt, wenn dieser Personenkreis einen Diskussionsbeitrag der Kirche,
„ihrer“ Kirche, daraufhin abklopft, ob er seiner Lebenssituation, seinen Bemühungen, seinen
Argumenten gerecht wird.
Hier sind Defizite sichtbar geworden, die mit der wünschenswerten Kürze der Ausarbeitung
nur zum Teil zu entschuldigen sind. Manches ist allerdings auch überlesen worden und
verdient, in Erinnerung gebracht zu werden, so die Ausführungen in Ziffer 23:
„Barmherzigkeit, Humanität und Gerechtigkeit sind unteilbar. Wird eingeschärft, daß sie das
Verhältnis zum Tier bestimmen sollen, so ist zugleich daran zu erinnern, daß sie auch
gegenüber den Menschen gelten, die - aus welchen Gründen auch immer - die Nutzung von
Tieren beruflich betreiben. Für das zum Teil skandalöse Ungenügen des Tierschutzes tragen
im allgemeinen und in erster Linie nicht die Angehörigen der mit der Tiernutzung befaßten
Berufe Verantwortung, sondern die Lebensweise der gesamten Gesellschaft.“ Viele, die
beruflich von der Tiernutzung abhängig sind, reagieren auf kritische Feststellungen und
Fragen wohl auch deshalb so heftig, weil sie diese im Lichte unsachlicher und demagogischer
Kritik sehen, die ihnen sonst begegnet ist.
- 52 Leidenschaftlichkeit und Heftigkeit haben in dieser Diskussion einen legitimen Platz.
Verdrehung und Verleumdung aber machen eine produktive Auseinandersetzung unmöglich.
Wenn etwa in einer Verbandszeitschrift zu lesen ist: „Sind die Jäger organisierte Tierquäler?
Nach Auffassung der EKD ist diese Frage zu bejahen“, so ist das nicht nur ohne jeden Anhalt
an dem Diskussionsbeitrag, sondern vergiftet und belastet den notwendigen Dialog. Die
Pflicht zur Wahrhaftigkeit obliegt insbesondere Journalisten und Medien. Ihre
Berichterstattung und Kommentierung ersetzt für nicht wenige die Lektüre des Originals. Wer
sich aber auf einen Artikel wie den von Helmut Schoeck (in der „WELT am SONNTAG“
vom 29. Dezember 1991) stützt, kommt nicht ins Gespräch mit dem Original, sondern wird
durch groteske Verfälschungen in die Irre geführt.
2. Sachkunde und Genauigkeit
Der Diskussionsbeitrag behandelt nicht nur Grundfragen des Mensch-Tier-Verhältnisses,
sondern ebenso eine Reihe von konkreten Handlungsfeldern mitgeschöpflichen Verhaltens.
Dies setzt Sachkunde voraus; wer bei den Experten und Praktikern der verschiedenen
Handlungsfelder Gehör erwartet, muß in seiner Darstellung der Probleme zeigen, daß er mit
dem Sachverhalt vertraut ist. Der Erwerb solcher Sachkunde ist keineswegs daran gebunden,
in den jeweiligen Handlungsfeldern selbst als Experte oder Praktiker tätig zu sein. Der
Diskussionsbeitrag belegt dies durchaus. Von verschiedenen Seiten ist aber kritisch gefragt
worden, ob die Autoren des Diskussionsbeitrages nicht gut daran getan hätten, in der
Vorbereitungsphase Fachgespräche abzuhalten oder Anhörungen durchzuführen. Dieser
Vorschlag hat prinzipiell viel für sich. Die zeitliche Begrenzung seiner Tätigkeitsperiode und
die Struktur seiner Arbeit haben es im konkreten Fall dem Wissenschaftlichen Beirat aber
unmöglich gemacht, so zu verfahren.
Der Preis sind einige Fehler und Ungenauigkeiten, die im vorgelegten Text enthalten sind und
die bei einer Erörterung des Entwurfs mit Experten und Praktikern unschwer zu eliminieren
gewesen wären. So ist in Ziffer 25 davon die Rede, daß jährlich „in der alten Bundesrepublik
Deutschland pro Kopf der Bevölkerung ca. 100 kg Fleisch ... verbraucht“ werden - ohne
präzisierend hinzuzufügen, daß dies eine Bruttozahl ist und der Fleischverzehr pro Kopf der
Bevölkerung ca. 63 kg (so der Stand von 1991) beträgt. In Ziffer 28 ist im Blick auf die
rituelle Schlachtung die verschiedene Position der orthodoxen Juden zu wenig berücksichtigt
und zugleich versäumt worden, das Dilemma zischen den Anforderungen des Tierschutzes
und dem verfassungsrechtlich garantierten Grundrecht auf freie Religionsausübung zu
würdigen. Die Aussagen in Ziffer 38 über „Jagdkonkurrenten“ und „Regulierungsauftrag“ des
Menschen sowie in Ziffer 39 über das „Auffüllen“ leergeschossener Reviere durch importierte
Wildfänge oder kurzfristig ausgewilderte Tiere sind zu pauschal und teilweise
korrekturbedürftig. Schließlich redet Ziffer 43, wo neben dem Stierkampf speziell das als
Wettkampf organisierte Fangen von Fischen (Wettangeln) in Blick genommen werden sollte,
fälschlich vom „Sportangeln“ und verkennt dabei, daß Sportfischerei ein Traditionsname ist
und die gesamte nicht erwerbsmäßig betriebene Fischerei bezeichnet.
Fehler und Ungenauigkeiten dieser Art sind bedauerlich, auch wenn sie im Falle des
Diskussionsbeitrags Details und keine tragenden Aussagen betreffen. Es ist angeregt worden,
für die 2. Auflage einen durchgesehenen und verbesserten Text zu erstellen. Aber dies
scheitert schon an dem Umstand, daß die Tätigkeitsperiode des verantwortlichen
Wissenschaftlichen Beirats im November 1991 endete. Der Diskussionsbeitrag dokumentiert
den Erkenntnisstand eines bestimmten Personenkreises in einer bestimmten zeitlichen
Situation und bedarf der Ergänzung, Korrektur und Weiterführung durch andere, neue Texte.
- 53 -
3. Dissens und Dialog
Die Diskussion über das Mensch-Tier-Verhältnis führt gegenwärtig, in der Kirche nicht
anders als in der Gesellschaft insgesamt, in Kontroversen, die sich nicht überwinden lassen.
Daß Dissense auftreten, bei den grundsätzlichen Fragen ebenso wie im Blick auf die
konkreten Handlungsfelder, kann nicht überraschen; entscheidend ist, wie mit ihnen
umgegangen wird.
Der Diskussionsbeitrag selbst offenbart einen tiefgehenden Dissens unter seinen Autoren. Er
betrifft die Reichweite der Gewaltminderung gegenüber den Tieren, wird im III. Teil (Ziffer
17-19) prinzipiell verhandelt und im IV. Teil (Ziffer 20-48) mehrfach aufgegriffen. Der
Wissenschaftliche Beirat hat sich bei der Vorbereitung des Diskussionsbeitrages dafür
entschieden, den Dissens weder zu verschweigen noch durch einen faulen Kompromiß zu
verwischen, ihn vielmehr offenzulegen und zum Gegenstand des Dialogs zu machen. In
diesem Dialog zeigt sich bereits innerhalb des Beirats, daß der Dissens jedenfalls partiell
keineswegs unüberbrückbar ist und durch geduldiges Aufeinanderhören der Konsens
innerhalb des Dissenses verbreitert werden kann (vgl. vor allem Ziffer 25ff, 34ff und 40f).
Freilich hat sich in den Reaktionen auf den Diskussionsbeitrag auch gezeigt, daß dieses
differenzierte Vorgehen bei den Lesern Unklarheit und Verwirrung hervorrufen kann. Der
Text, genau gelesen, vertritt als Generallinie unmißverständlich die Position der
Gewaltminderung, die darauf aus ist, die Gewalt gegen Tiere zu begrenzen und einzudämmen.
Er gibt aber Raum zur Selbstdarstellung auch der abweichenden Position des Gewaltverzichts,
in der es darum geht, die Gewalt gegen Tiere fortschreitend zu überwinden und aufzuheben,
und er läßt - ganz im Sinne seines Selbstverständnisses als eines für neue Einsichten offenen
Diskussionsbeitrages - jedenfalls an einer Stelle (Ziffer 40) offen, „ob die radikale Position
nicht eines Tages die herrschende sein wird“. Mehrfach sind Spitzensätze der abweichenden
Position aus Ziffer 18 zum Gegenstand kritischer Anfragen an den Diskussionsbeitrag
insgesamt gemacht worden. Daran wird erkennbar, daß es offenbar nur unzureichend
gelungen ist, Generallinie und abweichende Position in ihrem Verhältnis verständlich zu
machen.
Gleichwohl bleibt es, auch für die Auseinandersetzung mit dem Diskussionsbeitrag,
grundsätzlich der richtige Weg, den Dissens offenzulegen, zum Gegenstand des Dialogs zu
machen und in geduldiger Annäherung partiell zu überbrücken. Ein gelungenes Beispiel für
einen solchen Umgang mit den Kontroversen um den Diskussionsbeitrag ist der Dialog
zwischen dem Deutschen Jagdschutz-Verband e.V. und dem Kirchenamt der Evangelischen
Kirche in Deutschland. In der abschließenden Pressemitteilung vom 25. Mai 1992 heißt es
u.a.:
„..Die Vertreter des DJV-Präsidiums wiesen insbesondere darauf hin, daß die in den Ziffern
38, 39 und 43 des Diskussionsbeitrages vorgetragenen Ansichten über die Jagd den Realitäten
und dem besonderen Bemühen der Jägerschaft um eine Humanisierung der Jagd nicht gerecht
würden, sondern geeignet seien, daß Ansehen der Jäger und ihre Bemühungen um die
Bewahrung der Schöpfung herabzuwürdigen. Beide Seiten heben gerade gegenüber einer
besonders kritischen Beurteilung des Diskussionsbeitrages hervor, daß in Ziffer 38 die
Berechtigung und Notwendigkeit einer waidgerecht ausgeübten Jagd im Rahmen der Hege
und Pflege von Wald und Flur ausdrücklich anerkannt und bestätigt werden.
Übereinstimmend wurde festgestellt, daß die Frage nach der ethischen Begründung der Jagd
angesichts der modernen gesellschaftlichen Entwicklung und der zunehmenden Naturferne
der meisten Menschen ihre Berechtigung hat. Im Laufe der vergangenen Jahrhunderte habe
sich ein Prozeß vollzogen, in dem sich die Jagd unter den Gesichtspunkten der
- 54 Humanisierung und der Achtung des Tieres als Mitgeschöpf verändert habe; dieser Prozeß
gehe weiter. Es gelte, die Menschen auf ihre enge Verbindung zu Natur- und Tierwelt wieder
aufmerksam zu machen. Auch von Seiten der Vertreter des Kirchenamtes wurde eingeräumt,
daß manche Formulierung dieser Aufgabe nicht gerecht werde...“
4. Radikalität und Nüchternheit
Der Dissens in der grundlegenden Frage - nämlich ob die Position der Gewaltminderung
weitergetrieben werden dürfe oder müsse zu einer Position des Gewaltverzichts - besteht auch
in den Reaktionen auf den Diskussionsbeitrag fort. Wolfgang Böhme wendet sich (im
„Rheinischen Merkur“ vom 17. Januar 1992) dagegen, die Argumentation eines
„Schöpfungspazifismus“ in einer kirchlichen Veröffentlichung zur Diskussion zu stellen,
dadurch aufzuwerten und sozusagen „hoffähig“ zu machen, weil „ethische Radikalismen und
theologische Übertreibungen der Sache, um die es geht, nicht dienen, sondern der
begründeten Forderung, das Verhältnis von Mensch und Tier sensibler und >humaner< zu
gestalten, Abbruch tun.“ Erich Gräßer hingegen urteilt (in den „Evangelischen
Kommentaren“ Heft 1/92, S. 8), daß „mit der Forderung nach Gewaltminderung viel zu wenig
verlangt“ wird: „Die Exzesse verlangen das kompromißlose Nein ... Die Ethik der Ehrfurcht
vor allem Leben (Albert Schweitzer) ist noch längst kein kirchliches Allgemeingut.“
Wir tun gut daran, uns vor falschen Alternativen zu hüten, und sollten Radikalität ebenso wie
Nüchternheit auf beiden Seiten der Kontroverse einfordern: Radikalität bedeutet, die
Probleme an der Wurzel anpacken; dies verlangt - und das ist zwischen den kontroversen
Positionen auch nicht umstritten -, Tiere nicht länger als Objekte der Nutzung zu betrachten,
sie als Mitgeschöpfe anzusehen und mit der Mitgeschöpflichkeit ernst zu machen. Die
Vorstellung eines umfassenden menschlichen Gewaltverzichts gegenüber den Tieren verträgt
sich nicht - so die Generallinie des Diskussionsbeitrags - mit den Bedingungen des Lebens auf
der Erde. Aber auch wer aus der Mitgeschöpflichkeit eine Position des Gewaltverzichts
ableitet, muß nüchtern damit rechnen, daß der in Gang befindliche Wandel unseres
Verhältnisses zur Natur (Mitwelt) und zu den Tieren (Mitgeschöpfe) mit einzelnen Schritten
sich vollzieht; der Gedanke der Gewaltminderung kann aufgrund seiner inneren Dynamik
weitreichende Konsequenzen haben. Die Schritte der Gewaltminderung beharrlich
fortzusetzen - ist dieses nüchterne Programm nicht zugleich ungemein radikal?
Hannover, im August 1992
Dr. Hermann Barth
Oberkirchenrat im Kirchenamt der
Evangelischen Kirche in Deutschland
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