HELMUT THIELICKE FRAGEN DES CHRISTENTUMS AN DIE MODERNE WELT FRAGEN DES CHRISTENTUMS ' AN DIE MODERNE WELT FRAGEN DES CHRISTENTUMS AN DIE MODERNE WELT Untersuchungen zur geistigen und religiösen Krise des Abendlandes von HELMUT THIELICKE Dr. theol. Dr. phil. ordenti. Professor an der Universität Tübingen J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen 1947 Alle Rechte vorbehalten — Printed in Germany G. Μ. Ζ. F. O. Visa N° 960/R de la Direction de l'Education Publique Autorisation N° 2.192 de la Direction de l'Information Druck von H. Laupp Jr in Tübingen Einband von Heinr. Koch, Großbuchbinderei, Tübingen Meinet Frau in gemeinsamer Erinnerung an die schweren Jahre, die dies Buch entstehen ließen. INHALTSVERZEICHNIS VORBEMERKUNG: Absicht und Entstehung des Buches . . . ERSTES KAPITEL: DIE SÄKULARISATION UND IHR MENSCHENTYP. Das Schicksal des Nihilismus und seine Überwindung ................................................................................................... Fragen des Christentums an die moderne Welt i. - Die seelsorgerlichen Gespräche Jesu. Die Umkehrung der Apologetik 5. Das Verstummen der Fragen an das Christentum 8. - Woher rührt dies Verstummen? 11. - Das Dunkel über dem Leben: Die Schicksalsnacht 13. - Fragen des evangelischen Glaubens in die Resignation des Schicksalsglaubens 15. - Der Ausfall der Wahrheitsfrage 18. - Haltung und Halt 22. - Krisis des Wahrheitsbegriffs 32. - Das Verhängnis des Pragmatismus 38. - Religion und Massenproblem 41. - Die Heraufkunft des Nihilismus 44. -Die Lage des Säkularismus im Spiegel des Neuen Testaments 47. Verdrängung der Gottesfrage und moderner Lebensstil 51. - Ausblick 57. Exkurs zum ersten Kapitel: Ernst Jüngers Überwindung des Nihilismus 60. ZWEITES KAPITEL: KIRCHE, DOGMA, BINDUNG. Die Scheu des religiösen Menschen vor der Kirche . . . . . . . Reden und Verhüllen 71. - Die Kirche als das unheimliche „ganz andere" 73. - Begegnung mit Christus 76. - Der Glaube des Menschen an sich selbst 80. - Die Bindung an den Schöpfer und die Bindung an die Schöpfung 83. - Der Glaube an die Schöpfung in seinem positiven und seinem zersetzenden Sinn 87. - Der Sturz in das Chaos durch die Selbsterhöhung des Menschen 96. Exkurs zum zweiten Kapitel: Psychotherapie und Seelsorge. Eine Frage an die Mediziner 108. 9 DRITTES KAPITEL: TREIBENDE FAKTOREN DER VERWELTLICHUNG: TECHNIK UND ZIVILISATION. Christus und das technische Zeitalter ................................................................... Der Einbruch der Technik in die moderne Welt 124. - Fünf Fragen nach der Beziehung von Technik und Christentum 128. - Der weltanschauliche Glaube des technischen Zeitalters 131. - Die Krise des technischen Fortschrittsoptimismus 133. - Das Doppelantlitz des technischen Phänomens 136. - Die Technik als Werk des Menschen 144. - Der Aufstand der Mittel 149. -Das Wagnis „Mensch" 153. - Die Dämonisierung des Menschen und seiner Technik 157. - Zusammenfassung: Die Selbstenthüllung des Menschen durch die Technik 161. - Der Realismus der unsichtbaren Welt 164. VIERTES KAPITEL: ÜBER DIE WIRKLICHKEIT DES DÄMONISCHEN. Das Geheimnis der überpersönlichen Mächte Der Ort der Verfallenheit 170. - Die Kategorie des Dämonischen 173. - I. Die personhafte Macht des Bösen 176. - Der Ursprung des Bösen als Geheimnis 181. - Der Begriff des „Dia-bolos" 184. - Die Anfälligkeit des Herzens 186. - Der Begriff „satanas" 190. - II. Der Machtcharakter des Dämonischen 193. - III. Die Anonymität des Dämonischen 198. - IV. Die Formen seiner Machtausübung 203. - V. Christus in der Auseinandersetzung mit der dämonischen Macht 210. FÜNFTES KAPITEL: DIE CHRISTLICHE BOTSCHAFT AN DEN MENSCHEN DES SÄKULARISMUS. Umrisse einer neuen Predigtgestalt ....................................................................................... . Geschichte und Heilsgeschichte 218. - Die seelsorgerliche Solidarität 222. - A. Die sachlichen Probleme. I. Noch einiges zur theologischen Begründung 227. - II. Die Gegenwartsbegründung 229. - III. Konkrete Aufgaben: Die „geschichtliche" Predigt 235. Predigt und Propagandarede 238. - IV. Gegen die Flucht in die Innerlichkeit und gegen die Interpretation der Zeitgeschichte 242. V. Prinzipien und Umrisse der „geschichtlichen" Predigt (vom Vollzug des Wächteramtes) 248. -B. Methodische Probleme. Belastete Begriffe 258. - Die Doppelseitigkeit der Existenz 260. Die richtige Stellung des christlichen Vokabulars 262. Konkretisierung und Zerlegung der Begriffe 266. -Ergebnis 270. 10 VORBEMERKUNG Das vorliegende Buch bemüht sich um eine geistige Bestandaufnahme darüber, welche Rolle die Säkularisation (die „Verweltlichung") in der gegenwärtigen Krise des Abendlandes spielt. Es wird zu dem Ergebnis kommen, daß die Säkularisation der schlechthin entscheidende Faktor, daß sie Ursache oder zumindest Bedingung" jener Krise ist. Nur wer diese Diagnose richtig gestellt hat, bekommt echte Möglichkeiten der Wiedergenesung zu Gesicht. Das versuchen wir an den verschiedensten Lebensgebieten zu zeigen : an der modernen Weltanschauungsbildung, am Existenzgefühl, am Lebensstil, an den einzelnen Kulturgebieten und an der Technik. Wir werden bei diesen Analysen immer wieder auf das letzte Dezennium in Deutschland zu sprechen kommen. Und zwar aus einem doppelten Grunde : E r s t e n s hat in der Weltanschauung des Nationalsozialismus die Säkularisation ihre schärfste nur denkbare Ausprägung gefunden und damit einen überaus instruktiven Höhepunkt an Prägnanz gewonnen. Deshalb kann eine Untersuchung, die den Nationalsozialismus auf diese seine Hintergründe untersucht und die der Überzeugung ist, daß er η u r „theologisch" zu verstehen sei, nicht einfach m i t veralten, wenn die historische Erscheinung, die selbst nur symptomatischen Rang besitzt, der Vergangenheit angehört. Der Baum, der sich in diesen giftigen Früchten verraten hat, ist mit der Liquidierung jenes Systems noch keineswegs selber tot. 11 Z w e i t e n s : Die Folgen, die das vergangene Regime durch Propaganda, durch „Schulung" und vor allem durch seine ganze Atmosphäre in den Menschen gezeitigt hat, sind ebenfalls nicht mit aufgehoben, wenn das System dieser Menschenbehandlung äußerlich sein Ende erreicht hat. Wir können auf Schritt und Tritt beobachten, wie unter der Decke veränderter Begriffe und Programme weithin dieselben Kategorien des Sehens wirksam sind und unser Blickfeld bestimmen. So verfolgt dieses Buch neben der Aufgabe, die geschichtlichen Hintergründe sachlich (und das heißt in diesem Falle : „theologisch") durchzuklären, auch das ausgesprochen praktische Ziel, die Vergangenheit in einem echten Sinne liquidieren zu helfen und den Aufbruch zu n e u e n Ufern anzuregen. Da der Verfasser diesen Aufbruch nicht durch verträumte Ideale oder durch irgendeine „Zukunftsmusik" hervorlocken möchte, sondern da er ihn nur in einem sehr nüchternen und harten Sinne als „Umkehr" und „Heimkehr" verstehen kann, wird in und zwischen den Zeilen seines Buches immer wieder das Gleichnis vom „Verlorenen Sohn" auftauchen (LukasEvangelium 15, 11 ff.). Uber die Vorgeschichte des Buches werden den Leser folgende Angaben interessieren: Es ist aus Vorträgen erwachsen, die der Verfasser in vielen Städten unseres Vaterlandes während der Kriegs jähre gehalten hat und deren Grundgedanken durch unzählige Aussprachen, vor allem mit Angehörigen der jüngeren Generation, bereichert und schärfer profiliert wurden. Nachdem der Verfasser - auf Grund dieser Vorträge — 1942 durch ein Reise- und Redeverbot für das gesamte Reichsgebiet in die Stille verwiesen war, schrieb er das vorliegende Buch im Jahre 1943 nieder. Auf Anforderung des ökumenischen Rates in Genf wurde das Manuskript (natürlich nicht auf dem offiziellen Wege !) über die Schweizer Grenze geschafft und erschien im Jahre 1944 zunächst anonym in Genf. Diese erste Auflage wurde vor allem in die deutschen Kriegsgefange 12 nenlager in aller Welt geschickt und hat dort als Grundlage für Arbeitsgemeinschaften, vor allem bei improvisierten Hochschulkursen, gedient. Das ist auch jetzt noch so. Dem Verfasser sind darüber zahlreiche Berichte zugegangen, die ihn freuten und die ihn zu der Hoffnung ermutigten, daß das Buch nun im Vaterlande selbst einen ebenfalls klärenden und weiterhelfenden Dienst tun könne. Von der zweiten Auflage an, d. h. nach der Beendigung des Krieges, erschien das Buch im Auslande mit vollem Namen. Gegenwärtig schwebende Übersetzungspläne bestärken den Verfasser in der Annahme, daß man auch andernorts erkannt hat, wie wenig es bei der Säkularisation um ein bloß, innerdeutsches Problem geht und wie sehr andererseits die deutsche Problematik des letzten Dezenniums geeignet ist, klassische Illustrationen für jenes gesamtabendländische Verhängnis zu liefern. Vielleicht daß darin die tragische Mission unseres Vaterlandes in den vergangenen Jahren seiner tiefsten Selbsterniedrigung zum Ausdruck kommt : jenes Verhängnis in allen seinen Formen ausgelebt zu haben und darin sichtbar zu machen, in welche Fremde und an welchen „Schweinetrog" es führt (Lukas-Evangelium 15, 16). Wenn ich mich entschlossen habe, in der Titulatur den andernorts1) heftig von mir abgelehnten Begriff „Christentum" beizubehalten, so deshalb, weil ich damit auf die Begrifflichkeit nicht weniger Leser eingehen möchte, die ich mir gerade für dieses Buch wünsche. (Sie werden ihn beim Lesen der Arbeit schon früh genug wieder loswerden.) Den begriffsempfindlichen theologischen Zunftgenossen gegenüber, die sicher nicht alle Sinn für eine derartige Erwägung besitzen, tröste ich mich mit dem Gedanken, daß sie vielfach erst dann, wenn sie die Gelegenheit zu einem ersten großen Ärger gehabt und weidlich ausgenützt haben, die nötige Gelassenheit zu gewinnen pflegen, deren eine echte Lektüre be*) „Der Glaube der Christenheit", Göttingen 1947, 1. Kapitel. 13 dürftig ist. Und wer bei dem ersten Schritt gleich den Stiefel voll Wasser bekommt, schreitet nachher vielleicht um so unbekümmerter fort. Da ich schon einmal bei der „Zunft" bin, möge noch eine letzte Bemerkung gestattet sein: Man wolle doch bitte zurückhaltend sein mit dem Vorwurf, es sei für die Theologie eine „ g e f ä h r l i c h e " Sache, sich qua „Theologie" mit dem Gegenstandsbereich einer Kulturkritik überhaupt einzulassen. In meinen Tübinger Seminarübungen sind bei allen Teilnehmern zwei Begriffe streng verpönt: nämlich einmal der Begriff „irgendwie" (weil er ein Zeichen geistiger Unschärfe ist und darum auch am liebsten von ästhetisierenden Frauenzimmern angewendet zu werden pflegt; nur wer es schon in seinem Stil zu etwas gebracht hat, darf ihn gelegentlich einmal verwenden, wenn es um die Erzeugung dessen geht, was der Photograph eine „künstlerische" und also beabsichtigte „Unschärfe" nennt); und ferner der Begriff „gefährlich", weil Gefahr eben — kein theologischer Begriff ist. Wäre er es doch, so hätte es nie so etwas wie eine theologia militans gegeben, sondern statt dessen nur ein verkrampftes Gehen mit steifen Knien, wie wenn ein ängstlicher und ungeschickter Mensch auf dem Eise geht und außerdem noch fortgesetzt Ausschau halten muß, ob ihn nicht ein Lotterbube zu Fall bringen oder eine Räuberbande ihm sein Hab und Gut nehmen will. Wir sind uns im folgenden immer dessen bewußt, daß jeder theologische Gedanke, der sich vielleicht mit den Mächten der Zeit auseinandersetzt, eben diese Mächte zugleich in sich birgt und daß er - neben dem echten Gehalt an Vollmacht und Wahrheit — zugleich die Funktion des trojanischen Pferdes besitzt, in dessen Bauch fremde Ideologien verborgen sitzen und wohl getarnt in die Stadt Gottes eingeschmuggelt werden. Gerade Fachgenossen gegenüber kann ich darauf verzichten, theologiegeschichtliche Exempel dafür zu statuieren. 14 Wer um die Vergebungsbedürftigkeit alles theologischen Denkens weiß, wird damit ganz von selbst vorsichtig und wahrscheinlich sogar skeptisch—zum mindesten gegenüber der Aussage f o r m seiner Gedanken. Aber er ist beides vielleicht etwas weniger verkrampft als die Leute, die statt von Vergebungsbedürftigkeit immer nur von „Gefahr" sprechen und die die Hand überhaupt nicht vom Alarmknopf hinwegbekommen. Ist es deshalb zu gewagt, wenn ich sage : Ein theologischer Gedanke wird vor dem Jüngsten Gericht nicht durch das bestehen, was er „in re" i s t (welche heimlich und unheimlich vom Zeitgeist erfüllte Theologie irgendeiner Epoche könnte dann überhaupt anders plaziert werden als zur Linken Gottes bei der Bocksherde oder gar in der Hölle?), sondern ein theologischer Gedanke wird danach gemessen werden, wohin er blickt und ob er beharrlich genug am Kreuze gehangen hat. Auch auf ihn bezieht sich das Wort der Rechtfertigungslehre Luthers: Justus in spe. Läßt sich nicht die ganze reformatorische Rechtfertigungslehre auf diese Formel bringen und sich gleichsam in Kategorien der Perspektive ausdrücken? Und sollte das, was dem M e n s c h e n recht ist, nicht auch billigerweise von seinen G e d a n k e n gelten - sogar von seinen t h e o l o g i s c h e n Gedanken ----------- ? Tübingen, Februar 1947. Helmut Thielicke. 15 Ich habe in den letzten Jahren mehr und mehr die tiefe Diesseitigkeit des Christentums kennen und verstehen gelernt. Der Christ hat nicht immer noch eine letzte Ausflucht ins Ewige, sondern er muß das irdische Leben wie Christus gan^ auskosten, und nur indem er das tut, ist der Gekreuzigte und Auferstandene bei ihm und ist er mit Christus gekreuzigt und auferstanden. Das Diesseits darf nicht vorzeitig aufgehoben werden. Dietrich Β ο η h o e f f ' e r , hingerichtet durch die Gestapo im Frühjahr 194j ............... Selbst die Erde verweht und die Götter sterben. Doch Dauer hat der Tod. Die Vergeblichkeit hat Dauer. Dauer hat, die uns hält, die Nacht. Zu fragen ziemt uns nicht. Uns ziemt zu fallen; jedwedem auf seinem Schilde. Josef Weinheber, Adel und Untergang. ERSTES KAPITEL DIE SÄKULARISATION UND IHR MENSCHENTYP DAS SCHICKSAL DES NIHILISMUS UND SEINE ÜBERWINDUNG „Fragen des Christentums an die moderne Welt" Die Art unserer ThemasteUung ist vielleicht ungewöhnlich. Denn in der Regel verläuft die Frage in umgekehrter Richtung : Die „moderne Welt" pflegt das „Christentum" zu fragen. Sie fragt es entweder echt und aus wirklicher Not, nämlich aus der bedrängten Hoffnung heraus, es sei vielleicht in der Lage, ihr (der „modernen Welt") eine Antwort auf entscheidende Lebensfragen zu geben, vor denen sie selbst in hilfloser Menschlichkeit und mit bangen Ahnungen steht. Oder aber die „moderne Welt" fragt in hämischer Ironie : Was ihr denn die museale Gestalt dieses Christentums noch zu bieten haben könne, ihr, die sich längst auf eigene Füße gestellt habe, ihr, die sich aus unkontrollierbaren Jenseitsbindungen losgerungen und den leuchtenden Lebenstag des Diesseits entdeckt habe und die nun in diesem Lebenstag ihr Kämpfen und Lieben und Leisten zu vollführen gedenke! Stehen die Dome der alten Zeit nicht wie „Fossilien" da - s o kann die rhetorische Frage dann lauten —, „die in unsere Städte wie in späte Sedi1 Τ h i e 1 1 c k e, Fragen des Christentums. I mente eingeschlossen sind", nur daß es uns unglaublich fern liegt, ja unmöglich scheint, „von diesen Massen auf die Lebensmacht zu schließen, die ihnen zugeordnet war und die sie bildete"? „Was in den bunten Schalen lebte und was sie schuf, das Hegt uns ferner als die Ammoniten der Kreidezeit; und leichter stellen wir aus einem Saurierknochen, den wir in einer Schiefergrube finden, das Bild des Tieres, das dazu gehörte, wieder her. Man kann auch sagen, daß die Menschen von heute diese Werke sehen, wie ein Tauber die Formen von Geigen und Trompeten sieht" 1). In dieser Frage der Gegenwart an das Christentum enthüllt sich ihr heimlich oder offen rhetorischer Charakter, der nicht mehr f r a g t , sondern nur noch in Frage s t e l l t . Wenn nicht alles trügt, scheint aber in den letzten Jahren der Starkstrom neu erwachter und erregender Fragen die Sicherungen jener blasierten Rhetorik oder auch Resignation zu durchschlagen, und zwar in steigendem Maße. Es ist wohl immer so, wenn die Völker und Menschen plötzlich an der Grenze ihrer selbst stehen, wenn apokalyptische Gesichte in ihnen zum Durchbruch ringen und sie plötzlich der Frage standhalten müssen, w a s denn wohl zu Ende sei : sie s e l b e r oder jenes längst T o t gewähnte? Es geht ihnen dann wie dem Reisenden, der im Eisenbahnabteil sitzt und sich plötzlich fahrend wähnt, während doch nur der Zug des Nachbargeleises sich in Bewegung gesetzt hat. Meinen wir nicht auch (oder h a b e n wir nicht gemeint), wir selber führen in neue Räume hinein und ließen die alten Stationen jahrtausendealter Aufenthalte zurück, während es in Wirklichkeit umgekehrt war, nämlich s o : W i r waren es, die standen; und etwas anderes, das wir für stehengeblieben hielten, war dabei, sich in Bewegung zu setzen und uns zu verlassen? Nichts anderes als das E v a n g e l i u m ist es, das sich dergestalt aufgemacht hat und uns mit so entschlossenem Schritt zu ver*) Ernst Jünger,. Gärten und Straßen, Berlin 1942 S. 24. Ζ lassen scheint, daß wir heute bereits angstvoll fragen können, ob es jemals zu einer erneuten Begegnung kommen könnte. W e r ist denn über w e n hinausgewachsen? Wir beginnen an uns selber zu zweifeln und auf das „Ewig Gestrige" (das s c h e i n b a r „Ewig Gestrige") zu hoffen, weil es das ewig Zukünftige sein könnte. Wir spüren dunkel, daß wir nicht so einfach die „Fragenden" sind — sei es die echt oder aber die ironisch Fragenden —, sondern daß wir die „Gef r a g t e n " sein könnten und daß die „frohe Botschaft", statt Gegenstand unserer kritischen Blicke zu sein, auf einmal selber Augen bekäme und uns mit Blicken umklammerte, von denen wir uns nie träumen ließen. Aber sei dem auch, wie ihm sei : In der Öffentlichkeit, die ja immer hinter dem untergründigen und vorausdeutenden Geschehen herhinkt, ist es noch so, daß die G e g e n w a r t die kritisch oder hämisch oder sehnsüchtig Fragende ist. Und der Historiker muß feststellen, daß die christliche Theologie sich allzu bereit dieser Fragerichtung gefügt hat : Das geht schon deutlich aus dem Namen jener theologischen Disziplin hervor, die vor allem eine solche Auseinandersetzung zu treiben hat: Aus der „Apologetik". Ihre Funktion besteht darin, Rede und Antwort zu stehen. Sie hat von jeher den Büchermarkt überschwemmt mit zahllosen Broschüren, die alle betitelt waren : „Antwort an ..." oder auch „Christentum und ... Naturwissenschaft", „Christentum und . .. Mythos des 20. Jahrhunderts", Christentum und ... Anthroposophie", usf. Diese Haltung der Apologetik ist zweifellos verhängnisvoll. So sehr solche Auseinandersetzungen notwendig sind und so sehr sie vor allem aufklärenden Sinn für jene breiten Schichten besitzen, die von Schlagworten und Antichristen-tümern beunruhigt werden, ohne bis zum Hintergrund des jeweiligen geistigen Geschehens vorzudringen, so verhängnisvoll ist doch das Pathos der „Antwort": Zunächst muß 1* 3 einem ja schon der natürliche Menschenverstand sagen, daß das Christentum auf diese Weise das Gesetz des Denkens und des Handelns seinem Gegner überläßt, daß es ihm die Initiative in die Hand gibt, kraft deren er die geistige Ebene und den Raum bestimmt, in welchem der Kampf der Geister zum Austrag kommen soll. Aber viel wichtiger als diese methodisch-taktische Seite des Frageund Antwortspiels ist die s a c h l i c h e Seite des Problems. Aus s a c h l i c h e n Gründen nämlich kehrt die Bibel die Fragerichtung geradezu um: Die erste zwischen Gott und Mensch sich ereignende Frage lautet jedenfalls nicht : „Gott, wo bist du"? — so daß also der M e n s c h die Initiative des Fragens besäße — sondern sie lautet umgekehrt, nämlich „Mensch, wo bist du"? — und das ist die Frage Gottes, die aus eigener Initiative den Menschen überfällt, so sehr überfällt, daß der Mensch sich verstecken muß und ganz und gar in die Verteidigung übergeht. Wo Gott als der Herr gefürchtet und geliebt wird,/ist e r immer der Fragende und sind w i r immer die Gefragten. Und es ist deshalb nicht von ungefähr, daß die Frage „Wo ist Gott" erst die späte Frage einer abgefallenen Zeit ist, und zwar einer Zeit, die den Menschen zum Herrn und zum Träger der Initiative gegenüber Gott proklamiert hat: Gott hat ja diesem späten Menschen „g e m ä ß" zu sein und muß mit dieser „Gemäßheit" seine Anerkennung erkaufen. D i e s e r Mensch also fragt: „Wo ist Gott"? Er fragt wohl nur deshalb, weil er die u m g e k e h r t an i h n gestellte Frage nicht mehr vernommen hat-sonst würde er das Anachronistische und Widernatürliche seiner eigenen Frage verstehen. G o t t hat gefragt — da können Menschen nur schweigen. 22 Die seelsorgerlichen Gespräche Jesu. Die Umkehrung der Apologetik Dasselbe zeigt sich in höchster Plastik beim Verkehre Jesu mit seinen Menschenbrüdern. Man kann da folgende Beobachtung machen: Wo die Menschen von sich aus eine Frage an Jesus stellen, z. B. : „Wie kann ein Mensch wiedergeboren werden"? — „Wie kann ich das ewige Leben ererben"?, da antwortet Jesus niemals d i r e k t . Meist stellt er sogar eine Gegenfrage mit dem Ziel, sein Gegenüber in ein Gespräch zu verwickeln und in diesem Gespräch zuerst einmal die gestellte Frage zu k o r r i g i e r e n . Zum Beispiel fragt der reiche Jüngling: Was muß ich tun, daß ich das ewige Leben ererbe? Jesus kann ihm darauf keine direkte Antwort geben, einfach deshalb nicht, weil der Mann offenbar keinerlei Vorstellung von dem hat, was er da fragt. Die Ratlosigkeit dieses Mannes ist nämlich so groß, daß er nicht nur keine Antwort auf seine Frage weiß (wie man nämlich zum ewigen Leben komme), sondern daß er nicht einmal richtig weiß, wie und in welche Richtung hinein er fragen soll. (Auch heute kann man das ja bei vielen religiösen Diskussionen feststellen.) Der reiche Mann will ein Rezept. Schon daran zeigt sich, daß er sich unter dem ewigen Leben etwas völlig Falsches vorstellt und folglich auch nicht richtig nach ihm fragen kann. Darum drängt ihn Jesus, zunächst einmal seine Frage ganz anders zu stellen. Das geschieht so, daß er ihn der befremdlichen Zumutung aussetzt, alles zu verkaufen und ihm dann nachzufolgen. Natürlich sagt Jesus das nicht, um damit das Programm eines allgemeinen und höchst grotesken Finanzgebarens aufzustellen. (Wohin sollte das führen? Und wie verantwortungslos wäre es, nun andern den eigenen Reichtum aufzuhängen?) Sondern er fordert den reichen Jüngling zum Verkauf seiner Güter nur deshalb auf, damit dieser sich einmal die Frage vorlegen muß: Was ist mir lieber: Mein Lebensstandard, meine öffentliche Geltung und mein Einfluß — o d e r jenes 23 ewige Leben, jenes Reich Gottes, nach dem ich zu fragen wagte? Was ist mir lieber: „Gut, Ehr, Kind und Weib" -o d e r „das Reich, das uns doch bleiben muß" ? Sollte der reiche Mann nicht bereit sein, Gott ü b e r alle Dinge zu lieben, so daß er eben auch a l l e Dinge für ihn hinzugeben bereit wäre, dann würde seine so fromm klingende Frage nur ein geistiger und religiöser Luxus, eine allgemeine Interessiertheit für transzendente Angelegenheiten sein, nicht mehr. Das Reich Gottes kann aber niemals Gegenstand dieser höchst unverbindlichen und das Leben nicht weiter tangierenden Interessiertheit sein. Das Reich Gottes ist entweder alles oder nichts für uns. Es ist entweder in Kraft, d. h. Dynamit für unser ganzes Leben, oder wir haben keinen Hauch von ihm verspürt. Darum muß der reiche Mann in so drastischer Weise an das eigentliche Geheimnis seiner Frage herangeführt werden. Er muß sich auf den Zahn fühlen lassen, ob es ihm auch ernst ist mit seiner Frage, ob er also das Reich Gottes wirklich i n seiner das ganze Leben überwiegenden und überwältigenden Totalität gesehen hat, o d e r ob er nur nach ihm gefragt hat, wie man nach dem Wetter fragt. Und siehe da: Der reiche Jüngling steht unmutig auf und geht traurig von dannen, „denn er hatte viele Güter". Er hat also die Frage nach dem Reiche Gottes n i c h t ernst genommen. Er war n i c h t bereit, irgendein Opfer dafür zu bringen. Er wollte es n i c h t tief genug in sein Leben hineinlassen. Nun ist es heraus und die Katze aus dem Sack. So geht Jesus mit den Fragen der Menschen um. Ehe sie sich's versehen, sind sie selber die Gefragten. Ihre Frage nach Gott und seinem Reich springt auf sie selbst mit unerhörter Wucht zurück. Sie meinen, aus eigenem Interesse und je nach der geistigen oder frommen Laune die Zone um Gott betreten zu können. Aber indem sie es tun, treten sie in ein elektrisches Kraftfeld ein, und der Schlag Gottes rührt sie an. Es ist schon so: N i c h t d i e W e l t f r a g t n a c h G o t t , sondern Gott fragt die Welt. 24 Vielleicht ist es gut, sich den gleichen Tatbestand noch von einem weiteren Punkt her klarzumachen, der diesmal von Paulus bezeichnet wird und auf jener durchgängigen biblischen Linie liegt. Auch die Frage des modernen Menschen: Kann man Gott überhaupt erkennen? müßte von der Schrift her (Rom. i, i8fT.) ebenfalls korrigiert werden, nämlich dahin, daß das Problem gar nicht lautet: Kann ich Gott erkennen? Sondern bin ich bereit, Gott anzuerkennen? Bin ich bereit,, seinen Willen zu tun ? Denn nur wer den Willen tut meines Vaters im Himmel, wird inne werden, ob diese Lehre von Gott sei, ob sich also Gott in diesem Zeugnis zu erkennen gibt und somit erkannt werden kann (Joh. 7, 17). Nur wer aus der Wahrheit i s t , d.h. wer die Wahrheit t u t , wer ausihr l e b t , d e r hört hier die Stimme, niemand sonst (Joh. 18, 37). Mit religiöser Begabung jedenfalls hat dieses Hören nichts zu tun, um so mehr aber mit der „Einstellung" meines Lebens. So springt also auch meine erkenntnistheoretische Frage nach Gott auf mich selbst zurück: Ich bin nun meinerseits gefragt, ob ich aus jener Anerkennung Gottes heraus lebe, in der allein ich meine Aμgen zu ihm erheben kann, um im Lichte des Glaubens etwas von ihm zu sehen. Wir sehen also, wie verkehrt die Einstellung der „Apologetik" ist, wenn sie sich immer nur als die Antwortende und nicht mehr als die Fragende versteht. Die Kirche Jesu Christi hat im Namen Gottes die Welt viel mehr zu fragen, als sie zu antworten hat. D e r christliche Glaube ist keineswegs eine simple oder geradlinige Antwort auf die Lebenspr o.blematik des r e l i g i ö s e n M e n s c h e n . Jesus a n t w o r t e t sozusagen nicht, sondern er s t e l l t uns allererst die tiefsten Fragen. Und diese Stimmung des fragenden Zugehens sollte auch unserer Botschaft erhalten bleiben. 25 Das Verstummen der Fragen an das Christentum Zu diesen die Apologetik destruierenden Erwägungen kommt noch eine historische Beobachtung hinzu: die Beobachtung nämlich, daß die gegenwärtige Welt im allgemeinen stumm geworden ist in ihren Fragen an den christlichen Glauben (auch wenn es von Kriegsjahr zu Kriegsjahr von Aus-' nahmen zu wimmeln beginnt). Es gab solche Fragen an das Christentum zu gewissen Zeiten zweifellos : Das n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e Zeitalter stellte mit der Lautstärke und im Gleichtakt eines Sprechchores die Frage: Wie sich denn die Welt der Wunder, wie • sich überhaupt der transzendente Eingriff Gottes in unsere Welt vereinigen lasse mit deren in sich geschlossener Immanenz und mit dem kausalbestimmten Ablauf ihrer Erscheinungen. Das Zeitalter des H i s t o r i s m u s stellte in der gleichen Übereinstimmung die Frage, ob man denn den Glauben der Kirche auf sogenannte historische Fakten gründen könne, die derart im Halbdunkel des Mythos und in historisch kaum noch aufzuhellenden Lebensräumen herumgeisterten (was „wissen" wir denn vom Leben Jesu und von dem der Urgemeinde? Sind wir nicht angewiesen auf tendenziöse und einseitige Quellen, die keinerlei protokollarischen Wert besitzen, sondern selbst schon Verkündigung sein wollen? ! usw.). Ich sagte, es g a b solche kritischen Zeitfragen an das Christentum. Der historisch und naturwissenschaftlich erwachende neuzeitliche Mensch rieb sich gleichsam verwundert die Augen und stellte die Frage, wie sich denn die christliche „Weltschau", von der er herkomme, noch vereinbaren lasse mit der neuen Sicht der Dinge, die ihm die Wissenschaften vermitteln. Eine kurze Schrecksekunde lang stellte auch der neuzeitliche Mensch noch diese Fragen, selbst wenn es meistens eine rhetorische Frage, ein Ausruf der Verwunderung, war. Es war der Versuch, sich mit Hilfe dieser Frage neu zu orientieren. 26 Diese Fragen aber werden jetzt durchschnittlich nicht mehr gestellt; höchstens innerhalb der Gemeinde selbst, und zwar von dem geistig wachen und bewußt in der Zeit lebenden Teil ihrer Glieder. Die andern, „Draußenstehenden", haben sich im Banne der öffentlichen Meinung daran gewöhnt, die Frage des Christentums nicht mehr unter dem Gesichtspunkt „wahr" oder „unwahr" anzusehen, sondern unter dem unverbindlichen und den eigenen Rückzug ermöglichenden Gesichtspunkt: „veraltet" oder „das Neueste". Jedenfalls scheint es mir typisch zu sein, daß auch die entsprechenden Veröffentlichungen der theologischen Literatur, die sich mit der Frage „Historie und Evangelium", oder „Naturwissenschaft und Christentum" befassen, in der Regel nur innerhalb der Gemeinde, aber nicht von der „Welt" gelesen werden, obwohl sie doch gerade der Auseinandersetzung mit dieser „Welt" und ihrem neuen wissenschaftlichen Selbstverständnis gewidmet waren1). Die Welt, insofern sie außerhalb der Kirche steht, hat aufgehört, nach der Beziehung des vermeintlich „absoluten Christentums" zu den Relativitäten moderner Forschungsergebnisse zu fragen und von der Spannung zwischen beiden aufx) Vgl. 2. B. die Bücher von Kahler, E. Weber, oder selbst die Bücher von Karl Heim. Der Krieg - ich schrieb dies im August 1943 - hat freilich auch hier eine deutlich sichtbare Wandlung gebracht. Die Frage nach der Kirche ist in den letzten Kriegsjahren schon recht vernehmlich, ist nach Kriegsende unüberhörbar geworden. Ob sie eine echte und eine letzte Frage ist, hängt selbst wieder davon ab, ob sie durch die Antwort der Kirche und die apokalyptischen Gerichte unserer Zeit zu einer wirklichen Frage nach Christus gewandelt (Joh. 6, 68) wird. Es könnte ja auch sein Gott wolle das in Gnaden verhüten -, daß in dieser neuerwachten Frage wiederum ein verwundertes „Die-Augen-reiben" zum Ausdruck käme : Wie kommt es, daß diese Institution die Zeiten des Zerbruchs überdauert hat? Ob es wohl möglich ist, in der Zeit des Nihilismus und der inneren Heimatlosigkeit hier einen neuen Wohnort, eine neue „Bindung", zu finden? Ob es nur um eine solche Interimsfrage geht, die wir aus den letzten Jahrzehnten ja zur Genüge kennen, oder um eine echte und n e u e Frage, das wird sich erst noch zu zeigen haben. 27 geregt zu werden. Nur die Kirche selber, insofern sie" a u c h in der Welt steht und Welt in sich hat, nur der geistliche Mensch, insofern er auch natürlicher Mensch ist und deshalb von allen Weltanschauungs- und geistigen Fragen mitbewegt wird, weiß sich weiter gefragt. (Daher kommt es wohl auch, daß der geistig wache Teil der christlichen Gemeinde in den letzten Jahrzehnten zum schlechthinnigen Träger unserer Kultur überhaupt geworden ist, denn das genannte „Mitbewegt-sein" ist die einzige Form kulturschöpferischer Wachheit, die der abendländische Lebensraum noch besitzt.) Es ist aber eben bezeichnend: Alle diese Fragen der Auseinandersetzung (Christentum und Naturwissenschaft; natürliche Religion und Dogmenglaube ; Geschichtliches und Übergeschichtliches am Christentum usw.) tauchen n i c h t m e h r i n e i n e m D i a l o g z w i s c h e n - K i r c h e u n d W e l t auf, sondern nur noch i n e i n e m M o n o l o g d e r K i r c h e m i t s i c h s e l b s t — mit sich selber als einer darum Wissenden, daß sie auch in der Welt steht und > daß jene Fragen so in ihr selber aufbrechen. Deshalb haben alle Äußerungen der Kirche zu weltanschaulichen und geistigen Fragen in der Praxis nicht etwa den Charakter der Auseinandersetzung nach außen, sondern den Charakter des Trostes in der Anfechtung nach i n n e n . Es handelt sich um ein Selbstgespräch des geistlichen Menschen mit dem natürlichen Menschen in uns selber. S o ist die geistige und weltanschauliche Lage. Und zwar handelt es sich, soweit ich richtig sehe, dabei nicht um eine statistische Augenblicksfeststellung, die im nächsten Augenblick überholt wäre, sondern u m das Ergebnis eines seit langem abrollenden geistigen und geistlichen Prozesses, der seine innere und dauernde Gültigkeit hat. Deshalb haben alle Feststellungen, die wir im folgengenden treffen, nicht den Charakter einer Zeitschilderung; 28 sondern umgekehrt sind die Zeitschilderungen die Illustration jenes inneren Prozesses, den man nur theologisch verstehen kann. Wir versuchen nichts Geringeres als eine theologische Interpretation des säkularen Menschentums überhaupt und meinen allerdings, daß unsere Zeit eine besonders prägnante Phase für die Beobachtung dieses anthropologischen Phänomens darstelle. Es geht uns also nicht um Statistik, sondern um Theologie. Woher rührt dies Verstummen? Wir stellen nun einfach die Frage, wie jenes Verstummen der religiösen Frage und besonders auch der Frage nach dem Christentum zu verstehen sei. Die ä u ß e r e n Gründe, die man dafür anführen könnte, sind doch nur die Folgen einer i n n e r e n Situation, von der noch zu reden sein wird. Zu diesen ä u ß e r e n Gründen gehört vor allem die Entkonfessionalisierung des ö f f e n t l i c h e n L e b e n s , die wir seit der Aufklärung in stets wachsender Form und 'mit einer letzten Aufgipfelung während des nationalsozialistischen Dezenniums beobachten können. Der Krieg bietet uns dafür eindrückliche Illustrationen: Jeder Christ, der Soldat wurde, weiß das : Die Botschaft, die er auf der Kasernenstube oder im Kasino auszurichten versucht, stößt nicht so sehr auf Gegenargumente als vielmehr auf die schlechthinnige Argumentslosigkeit. Sie stößt nicht auf Wider-Worte, sondern auf Wertlosigkeit. Er hat das Gefühl, Antwort auf Fragen zu geben, die gar nicht gestellt wurden, und selber Fragen anzurühren, die zu keiner Antwort zu nötigen scheinen. Wenn aber doch eine der berühmten „religiösen Debatten" aufklingt, so ist das — vom Grenzfall der Front und der Todesnähe abgesehen — in der Regel nicht auf ein „religiöses" als vielmehr auf ein „menschliches Interesse" zurück II zuführen: Wie kommt es nur — in dieser Frage gründet jenes Interesse — wie kommt es nur, daß d e r , den wir aus den und den Gründen so gern haben und schätzen, der wahrhaftig nicht auf den Kopf gefallen ist und in jeder Weise seinen Mann stellt, daß der „noch" ein Christ ist? Der Impuls zu solchen Debatten kommt also zumeist nicht aus echten und sachlich bedingten Fragen, sondern aus einer persönlichen Verwunderung; er ist nicht „theologisch", sondern „anthropologisch" bedingt. Man hat, um dies Verstummen der Frage zu erklären, auf den sogenannten „Schwund der metaphysischen Substanz" beim modernen Menschen verwiesen, wie er ganz besonders innerhalb der stark säkularisierten Landstriche, nicht nur in Deutschland, zu beobachten sei. Für diesen Menschentyp existiere die Wirklichkeit Gottes, die Wirklichkeit der Vorsehung, des Gerichtes, der Gnade überhaupt nicht mehr; der Welthintergrund sei ihm zum undurchschaubaren und unerfragbaren „Schicksal" geworden. Ich darf im folgenden kurz berichten, wie ich im Nachdenken über diese Frage selbst weitergeführt worden bin : Zu Anfang des Krieges schrieb ich ein kleines Buch über die Frage: „Wie kann Gott das zulassen . . -?"1) Ich habe darin die alte Theodizee-Frage behandelt, die angesichts des Krieges, so meinte ich, in neuer und unerhörter Wucht aufbrechen würde. Die Menschen werden vor der Frage stehen : E i n e s kann nur stimmen : E n t w e d e r der Gott der Liebe o d e r aber Blut, Terror, Grauen. Da wir aber nur das Blut der Erschlagenen und Verbrannten und nur die Schutthaufen unserer großen Städte sehen, so wird der Gott der Liebe wohl eine Lüge sein. Denn er paßt nicht zur Wirklichkeit des Grauens, und außerdem ist er unsichtbar und unkontrollierbar, während das Grauen sichtbar und kontrollierbar ist. *) »Wo ist Gott", Göttingen 1939/40, 4. Aufl. 30 So etwa schätzte ich die kommenden Fragen ein. Kurt Ihlenfeld antwortete mir darauf im „Eckart": Die Frage „Wie kann Gott das zulassen" sei nicht eigentlich d i e Frage unserer Zeit, und zwar einfach deshalb nicht, weil für den heutigen Durchschnittsmenschen Gott gar keine so greifbare Realität sei, daß dieser „Normal"-Mensch überhaupt unter dem Widerspruch zwischen der angeblichen Liebe Gottes auf der einen Seite und der Grausigkeit des Weltgeschehens auf der andern Seite zu leiden vermöchte. Der Mensch frage in der Regel weder nach dem Sinn des Geschehens überhaupt noch erst recht nach der göttlichen Liebe, die sich in den Weltläufen zum Ausdruck bringe. Er stehe o h n e zu fragen im Dunkel der Welt, das sich d o c h nicht durchdringen lasse. Er lasse das Dunkel dunkel bleiben und verharre in Resignation. Tatsächlich ist dieses Stehen im Dunkel und dies Im-Dunkel-stehenbleiben - w o l l e n die beherrschende Situation, mit der die christliche Botschaft zu rechnen hat. Das Dunkel über dem Leben: Die Schicksalsnacht Wir sprechen zuerst von diesem Dunkel über dem menschlichen Leben, in das hinein nicht mehr gefragt werden kann. Zum Teil kommt in dieser Resignation angesichts des LebensDunkels ein ehrliches Ignoramus zum Ausdruck. Bei säkularen Beerdigungen kann man sich oft davon überzeugen. Der Grundriß einer Durchschnittsbeerdigung dieser Art ist ungefähr so: Wir wissen nicht, woher der Mensch kommt und wohin er geht. Dunkel liegt über den Horizonten. „Das Leben ist eine Schleife, die sich im Dunkeln schürzt und löst" 1). Nur die kleine Wegstrecke zwischen den Horizonten ist beleuchtet: x) E.Jünger, „Das abenteuerliche Herz", i . Fassung; Berlin 1929. 31 Und diese Wegstrecke stellt unsern Erdentag dar mit seinen Aufgaben. An d i e müssen wir uns halten. Jedes Nachdenken darüber hinaus führt zum Grübeln, das den Willen zum Handeln lähmt, oder zu einer Relativierung der diesseitigen Dinge, die sie madig macht, die die Begeisterung für sie ernüchtert und wiederum das Handeln lähmt. Die „religiöse Frage" ist, von hier aus gesehen, also ein Starren in Nacht und Dunkel und Abgrund und wird deshalb lebensbedrohlich: Wenn du lange in einen Abgrund blickst, so blickt der Abgrund schließlich auch in dich hinein (Nietzsche). Es ist nun freilich klar, daß dieser Blick in der Tat das Handeln lähmen muß. Wenn wirklich der Horizont der Welt, wenn unser letztes Woher und Wohin in Dunkel getaucht ist, dann ist eben der „religiöse Blick" ein Blick ins Dunkel, das man gewaltsam durchdringen und erhellen möchte. Und dieser Blick lenkt von dem Erdentag, in dem wir unsere Pflicht und unsere Ecke haben, a b. Daher rührt auch die Entwertung des G e b e t e s in der öffentlichen Meinung. Denn das Gebet kann von der geschilderten Position oder vielmehr Negàtion aus natürlich nichts anderes mehr sein als ein Reden ins Dunkle, als ein Zeitdiebstahl an den Aufgaben unseres Lebenstages. Darum ist es nur natürlich, wenn das alte Wort „Bete und arbeite" im Namen jenes realistischen Lebenstages verwandelt wird in das andere „Arbeite — das s e i dein Gebet!" Ich sagte: Nach der genannten Einstellung müsse der „religiöse Blick" notwendig vom Erdentag und seinem realistischen Arbeitsbereich a b l e n k e n . Der Unterschied des „Blickes" geht einem manchmal an mittelalterlichen und modernen Porträts auf: Die Augen der mittelalterlichen Menschen scheinen oft merkwürdig verloren auf Horizonte zu schauen — freilich nicht auf einen dunklen, sondern auf einen erleuchteten Horizont. Jedenfalls ist ihr Blick so eingestellt, 32 daß er durch das Nächstliegende hindurchzugehen scheint, daß ihm dies Nächstliegende sozusagen transparent wird für die Welt, die sich dahinter erhebt und auf die doch alles Diesseitige hin angelegt ist und hindrängt. Schauen wir dagegen die Photos typischer Menschen unserer Zeit an, vielleicht gerade führender und aktivistischer Naturen (Politiker, Industrielle, Sportler), so ist ihr Blick — um in der Fachsprache der Photographie zu sprechen — sozusagen auf wenige Meter eingestellt: es ist so, als ob sie die unmittelbar vor ihnen liegende Aufgabe im Auge hätten oder einen G e g n e r fixierten, als ob sie jedenfalls von einem Gegenstande beherrscht seien, der unmittelbar vor dem Zugriff ihres Handelns liegt. Es ist das moderne Auge, das in den Vordergründen verharrt und die Ferne des Horizontes verloren hat oder verschmäht. — Wir fassen zusammen : Das letzte Woher und Wohin des Lebens scheint dem säkularen Menschen verborgen. Danach zu fragen ist deshalb müßig. Diejenigen, die sich hauptamtlich damit befassen, gelten gleichsam — und nicht nur „gleichsam", sondern gemäß einer nicht unmaßgeblichen Zeitschriftenäußerung *) als „arbeitslos". Im Namen der realistischen Tagesaufgaben ist das träumende Verweilen in metaphysischen Wolkenkuckucksheimen oder das schwermütige Stieren in die jenseitige Nacht a b z u l e h n e n . Fragen des evangelischen Glaubens in die Resignation des Schicksalsglaubens Hier beginnt die erste Frage christlichen Glaubens an die Verleugnung der letzten Woher- und Wohinfrage : Für die biblische Sicht der Dinge besteht nämlich ein umgekehrtes Verhältnis von R e a l i s m u s und T r a u m . *) „Schwarzes Korps" 1938. 33 „Realismus" bedeutet hiernach : mit der Tatsache des Reiches Gottes rechnen und sein ganzes Leben darauf einrichten, weil sonst alles in diesem Leben Geleistete vergeblich ist. I n s o f e r n ist dann das mit realistischer Tatkraft und mit einem taktisch gewiegten Blick für Erfolgsmethoden angepackte und gemeisterte Leben gerade träumerisch und wolken-kuckuckshaft, weil es nicht mit dem Bleibenden rechnet, sondern „auf das Fleisch sät", das doch verwest. Ein biblischer Vertreter dieses Wolkenkuckucksträumer-tums ist der reiche Kornbauer. Äußerlich gesehen ist er ein realistischer Tatmensch und Rechner (Lk. 12, 16 ff.). Nach einer Rekordernte entwirft er einen 4- oder einen 10-Jahres-plan, baut seine Lagerräume um und treibt eine planmäßige Vorratswirtschaft. Im Gefühl seiner absoluten Autarkie und der unerschütterlichen Sicherheit seiner Lebensbasis sagt er: „Liebe Seele, du hast einen großen Vorrat auf viele Jahre ; habe nun Ruhe, iß, trink und habe guten Mut". Aber er hat den wichtigsten Faktor in seine Lebenspläne n i c h t einkalkuliert: den Faktor „Gott". Er wäre in der Tat in jeder Hinsicht die wichtigste Größe gewesen: nicht nur weil er die Lebensbedingungen (und gerade die durch die Rekordernte g e s e g n e t e n Lebensbedingungen!) gibt oder versagt, sondern weil er uns auch bleibt und zwar a l l e i n bleibt, wenn der Tod uns zum Abschied vom Leben und seinen guten oder schlechten Bedingungen zwingt. Denn wir Menschen sind abgesehen von allen Lebensgütern und abgesehen von der materiellen oder geistigen Atmosphäre, die wir um uns herum bilden, immer noch „etwas", wir gehen niemals in alledem auf, wir.haben noch ein Selbst jenseits von aller Habe, mit der wir uns behängen, aber eben nur „behängen". Und l e t z t e n Endes kommt alles darauf an, wie wir für dieses Selbst sorgen, das wir unterhalb und innerhalb aller „Anhängsel"' noch sind. Haben wir es aufgehen lassen in jenen Anhängseln der materiellen Welt, haben wir also unser Leben - um den 34 biblischen Ausdruck zu gebrauchen — vom „Fleisch" her aufgebaut, so stehen wir, wenn uns der Tod die Anhängsel nimmt, verlassen, nackt und frierend da, denn unsere Existenz ist uns unter den Füßen hinweggezogen. Wir stürzen buchstäblich ins Bodenlose. Haben wir dagegen unser Leben in Gemeinschaft mit Gott geführt und sind mit ihm in „Frieden", so trägt uns diese Gemeinschaft über den Verlust aller diesseitigen Existenzbasen, über den Verlust von Gut, Ehr', Kind und Weib, ja selbst über den Tod hinweg. Darum ist der kluge landwirtschaftliche Rechner des Gleichnisses eben d o c h kein Rechner und kein Realist gewesen (obwohl er die eiskalten Augen eines brutalen Tatsacheri-menschen gehabt haben mag), sondern er war ein Träumer und — ein N a r r , das heißt u n k l u g in einem letzten aber entscheidenden Sinne: „Du Narr! Diese Nacht wird Gott deine Seele von dir fordern und wes' wird's sein, das du bereitet hast? Also geht es, wer sich Schätze sammelt und ist nicht reich in Gott" (Lk. 12, 20 f.). Der echte Lebensrealismus weiß um die ausschlaggebende Bedeutung des „Reich-Seins in Gott". Wer dieses Wissen nicht hat, baut sein Haus auf Sand und träumt von Felsen. Die Bibel interessiert sich aber viel weniger dafür, ob man mit den berühmten „beiden Beinen" in der Wirklichkeit steht, als vielmehr dafür, w o r a u f man mit diesen Beinen steht. Man kann die ganze Welt gewinnen und doch Schaden nehmen an seiner Seele. Dann aber ist der ganze Weltgewinn Traum und Schaum gewesen. Andererseits aber ist es nur natürlich und logisch, daß von diesem Träumertum der Welt her gerade der wache Realismus der Bibel als Traum und die eigene Träumerei als Realismus gewertet werden muß: „... denn ein Wacher ist immer Träumer unter Trunkenen" (Rilke, Stundenbuch S. 89). Wir vollziehen nunmehr einige scharfe Gegenüberstellungen von Τ räum erei und Realismus: 2 Τ h i e 1 i c k e, Fragen des Christentums. *35 , Der ist ein Träumer und baut auf Sand, der ohne jenen „Boden" im Leben stehen und seine Existenz erbauen und sichern möchte. Und der ist ein Realist, der zuerst nach diesem „Boden", nach dem Reiche Gottes, trachtet und im Gefolge dieses Trachtens, auf der L i n i e dieses Trachtens, sich das andere „zufallen" läßt, sozusagen „mit"nimmt. * Es herrscht also, biblisch gesehen, eine sehr genaue und totale Umkehrung von Realismus und Traum : T r ä u m e r ist der, der in der Unwahrheit existiert und darum sein Leben auf eine falsche Karte setzt, auch wenn er m i t dieser falschen Karte dann noch so gewandt spielt. Die Erbauung des babylonischen Turmes konnte als eine Realleistung großen Stils erscheinen. Aber der Name, in dem er errichtet wurde, die Karte, auf die man setzte, war falsch : daß nämlich Gott n i c h t sei. So war er nichts anderes als ein steingewordener Traum, der in sich zusammenstürzte und seine Anbeter unter den Trümmern begrub oder sie in die Fremde schleuderte. Viel mehr als auf die Summanden innerhalb einer mathematischen Klammer kommt es auf das positive oder negative Vorzeichen an, das davor steht. Auf das V o r z e i c h e n ! Die unbestreitbar große und imposante „Summe" der babylonischen Bauleistung hatte nur e i n e n Fehler : Das Vorzeichen vor ihrer Klammer war negativ. Wir haben mehr und mehr verlernt, auf das Vorzeichen zu sehen, in dessen Namen wir handeln. Wir verlassen uns statt dessen in trügerischer Sicherheit auf die beachtlichen Summen an .Leistung und Fortschritt, zu denen wir es i η der Klammer unseres Lebens und Kulturniveaus gebracht haben. Der Ausfall der Wahrheitsfrage ' Diese Abwendung von der Vorzeichenfrage, von der Frage nach dem Woher und Wohin, hängt nun mit einem tieferen 36 weltanschaulichen Grunde zusammen. Man kann sich diesen Grund folgendermaßen klarmachen : M a r x und E n g e l s haben in dem bekannten „Kommunistischen Manifest" die Lebensgebiete : Kunst, Religion und Moral als „Ideologien", als bloße Spiegelbilder, bezeichnet. Spiegelbilder sind unwirklich. Sie wollten mit dieser Feststellung also sagen: Jene drei Lebensgebiete sind keine eigenständigen Realitäten, sie sind nur der unwirkliche Reflex einer andern und zwar der e i g e n t l i c h e n Wirklichkeit, nämlich ein Reflex der ö k o n o m i s c h w i r t s c h a f t l i c h e n Vorgänge. Je nachdem, wie eine Zeit auf ökonomischem Gebiet strukturiert ist, ist auch ihre Kunst, ihre Moral, ihre Religion. Diese befinden sich in einem Zustande völliger funktionaler Abhängigkeit. Ein sozialistisches Zeitalter bringt eine andere Sittlichkeit, auch eine andere Kunst hervor als ein kapitalistisches. Man wird sagen dürfen, daß diese Ab-Wertung der drei geistigen Hauptgebiete zur „Ideologie", zum unwirklichen Spiegelbild, ein Kennzeichen des Säkularismus überhaupt sei. Als wirklich lebens t r a g e n d e Realität kann man sich nur eine m a t e r i e l l e Größe vorstellen. Es ist deshalb typisch, daß dieselbe Wertung auch in der hinter uns liegenden Weltanschauung, ebenso aber in den übrigen weltanschaulichen Ausprägungen des Säkularismus, zum Ausdruck kommt: Hans H e y s e ζ. Β. bringt, in treuer Gefolgschaft von Alfred Rosenberg, in seinem Buch „Idee und Existenz" durchaus den Primat des Bios vor dem Logos, zum Ausdruck. Hier ist nur ein ganz kleiner Größenwechsel in der Bestimmung der Lebensbasis vorgenommen worden: An die Stelle des Ökonomischen ist die biologische Lebenssubstanz, ist Rasse und Blut getreten — und der Gestaltwandel der Götter und Lebensfundamente wird sich voraussichtlich in diesem Stile noch weiter vollziehen. Der Geist kommt also — um eine dieser Weltanschauungen 2* *9 als Paradigma herauszugreifen — aus dem Blut. Also kommt natürlich auch die W a h r h e i t , die der Geist intendiert, aus dem Blut. Daraus ergibt sich eine wichtige Folgerung: Es gibt dann nämlich keine Wahrheit mehr, die ü b e r mir steht und an die ich autoritativ gebunden wäre. Die Wahrheit ist ja mein P r o d u k t . Jede Frage nach der Wahrheit kehrt gleichsam wie ein Bumerang zu mir zurück. Es gibt keinen Himmel über mir, in den sie geschleudert werden könnte. Ich bin eingesperrt wie in einen Spiegelsaal. Die gläsernen Wände begrenzen mein Gesichtsfeld. Ich kann nicht sehen, was außen, was drüben, was überhaupt außer mir noch da ist. Statt dessen sieht mich von allen Seiten mein eigenes Bildnis an. Es gibt kein echtes Gegenüber mehr. Tch bin der einzige geworden in meiner Welt. Immer nur ich. Ist das aber so, dann ist wiederum eine einschneidende Folgerung zu ziehen: Die Frage nach Herkunft und Sinn jedes Lebens hört auf. Diese Frage verläuft in Ausweglosigkeit. Denn sie ist die Frage nach dem Wohin und Wofür, die im letzten sinnlos geworden ist. „Das Wort, welches keinerlei Beziehung zum Objektiven mehr hat, verliert den Wahrheitsgehalt, den Wirklichkeitsgehalt; es gibt hinfort nur noch ein Spiel mit Worten, das unverbindlich ist"1). Die Sinnfrage hört also ganz einfach deshalb auf, weil das gültige und vom Menschen abgelöste Objektive, das j e n s e i t s und u n a b h ä n g i g - von ihm Geltende und Seiende, nicht mehr existent ist. So gewiß die Sinnfrage aber das jenseits meiner Existierende und das Über-mich-hinausweisende meint, so gewiß hört sie auch auf, sobald dieses mich Transzendierende nicht mehr für mich da ist. *) Hans Jürgen Baden, Das rei. Problem der Gegenwart bei Jakob Böhme, Leipzig 1939. 38 Damit wird zugleich eine Beobachtung in ihren Hintergründen verständlich, die wir alle machen können: Daß die Sinnfrage weithin aufgehört hat, erregend zu sein oder auch nur noch g e s t e l l t zu werden, begründet man häufig mit der „Sturheit" des heutigen Menschen, d. h. damit, daß jedem der Gang seines Lebens und Tages bis ins kleinste, sogar bis in die Freizeitgestaltung mehr oder weniger vorgeschrieben sei und der Mensch deshalb verlerne, nach rechts und links und erst recht nach oben und unten zu blicken, daß er gleichsam die drei Goetheschen Ehrfurchten verlerne und nur noch stur geradeaus und auf das Nächstliegende blicke. Der äußerst populäre Soldatenausdruck „Sturheit" dient also hier zu einer psychologischen Erklärung des Un-Metaphysi-schen und der damit gegebenen Suspendierung der Sinnfrage. Auf Grund unserer Überlegungen möchte ich nun die u m g e k e h r t e These aufstellen: Die Suspendierung der Sinnfrage liegt n i c h t an der Sturheit des säkularisierten Menschen. Sondern umgekehrt beruht die Sturheit darauf, daß man die Sinnfrage nicht mehr stellen kann und daß einem deshalb gar nichts anderes übrig bleibt, als „stur" geradeaus und weder über noch unter sich zu blicken. Diese Feststellung ist ein Zeichen dafür, wie manche typischen Erscheinungen unseres modernen Lebens überhaupt nicht von der Ebene dieses Lebens selbst her zu erklären sind — und ebenso nicht von der Psychologie her, die auf jener Ebene geschrieben wird —, sondern wie diese Erscheinungen nur t h e o l o g i s c h zu verstehen sind. Diese Art Interpretation des Lebens scheint uns ein neuer und ungeheuer aufgabenreicher Zweig der theologischen Anthropologie zu sein *). *) Einen Teil davon habe ich in meinem Buch „Tod und Leben" (Genf 1945; Tübingen 1946) zu verwirklichen gesucht. 39 Haltung und Halt Mit diesem Scheitern an der Sinnfrage, man kann auch sagen : mit dieser Aufhebung der Transzendenz, in der es allein so etwas wie „Sinn" gibt, hängt noch eine weitere Erscheinung zusammen. Ich bemühe mich, sie in einer These vorweg zu formulieren: Es gibt für den säkularisierten Menschen k e i n e n l e t z t e n „H a 11" (der ja nur in der Verbundenheit mit einer letzten Wirklichkeit bestehen könnte), s o n d e r n n u r n o c h „H a l t i i n g". Um das zu verstehen, muß man allerdings zunächst an d i e Lebenssituationen denken, die weniger im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit stehen, die aber im Einzelleben einen viel umfangreicheren Raum einnehmen als jene öffentlichen. Man darf z. B. weniger daran denken — um ein sehr populäres und öffentliches Beispiel zu nennen —, daß ich als Soldat ja wirklich eine Art „Halt" besitze, wenn ich das Opfer, sogar das Opfer meines Lebens, zu bringen habe. Denn in diesem Falle ist das V a t e r l a n d ja mein Halt, dem ich mich zu opfern bereit bin. Das ist in diesem Falle das sinngebende Ziel meines Kämpfens und Sterbens — natürlich auch da mit gewissen Vorbehalten, die viele im Laufe dieses von der Schuldfrage besonders belasteten und auch an i n n e r e n Konflikten reichen Krieges bitter in der eigenen Seele erfahren. — Viel schwieriger und auch greifbarer wird die Frage, ob ich einen „Halt" habe, dann, wenn ich vor Probleme meines p e r s ö n l i c h e n Lebens gestellt bin, für die mir der säkulare Mythos keine Antwort gibt: wenn ich z. B. vor die Frage des Leides, vor die ausweglose Problematik einer langen und quälend zum Tode führenden Krankheit gestellt bin—oder auch vor ein Familienunglück, vor eine der vielen Einzelkatastrophen und Welt-Einstürze, die die Bombenangriffe mit sich bringen, oder vor das Hinweggerafftwerden in den besten Jahren — und vieles andere. 40 Ich habe das einmal erlebt, als ich an das Sterbebett eines jungen, aus der Kirche ausgetretenen Soldaten gerufen wurde. (Ich erwähne das nicht, um Histörchen zu erzählen, sondern weil diese Geschichte von großer symptomatischer Kraft ist.) Es handelte sich um einen blutjungen Medizin-Studenten, der an einer Leukämie jämmerlich und qualvoll zugrunde ging, der also nicht für eine Idee und nicht auf dem Schlachtfeld starb, sondern an einem inneren und von seinem Kampfe ganz unabhängigen Leiden. Die Mutter und seine Schwester, die an seinem Sterbelager weilten, hatten ebenso wie der junge Soldat selbst jede Verbindung zum christlichen Glauben aufgegeben. Im Gegenteil: sie waren aktiv und führend innerhalb der fanatisch antichristlichen Ludendorff-Bewegung tätig. Sie benahmen sich während dieses trostlosen Sterbens überaus gefaßt und tapfer. Als ich nachher der Mutter einige anerkennende Worte über ihre Haltung sagte, antwortete sie : „Haltung ja — aber schauen sie bitte nicht dahinter; das ist alles nur Maske nach außen; in mir sieht es grauenvoll aus. Ich habe überhaupt keinen Halt." Als ich dann darauf einging und sie nach dem Wieso fragte, ergab sich in einem längeren Gespräch folgende Antwort, die ich abgekürzt und auf den entscheidenden Punkt zugespitzt wiedergebe. Sie meinte: Dies Geschehen passiert in einer Dimension, in die hinein die völkischen Sinngebungen, von denen ich bisher ausschließlich lebte, überhaupt nicht reichen. Denn dieser Junge i s t ja gar nicht für Deutschland oder für eine sonstige Idee gestorben. Er ist ja jämmerlich an einer Krankheit zugrunde gegangen, die irgendein privatisierender Rentner auch haben kann. Es gibt keine überpersönliche Idee, die da trösten könnte, denn es ist ja ein ganz persönliches, ein „privates" Geschehen. Es ist etwas, was in das Koordinatensystem des vaterländischen oder auch jedes sonstigen Idealismus nicht einzuordnen ist. Wo ist da ein HaltPI 41 Daß die Mutter sich nach der Kirche zurücksehnte, um wieder „Halt" zu gewinnen, soll nicht als nutzanwendende erbauliche Schlußfeststellung erwähnt sein, sondern nur deshalb gesagt werden, weil sie unbewußt und inmitten ihrer bewundernswerten Gefaßtheit die richtige Gegenüberstellung von „Haltung" und „Halt" vollzog. Gerade in jener Dimension also, in der man typisch „allein" ist, wo sich unser eigenstes Schicksal nicht in überpersönliche Zusammenhänge und allgemeine Sinngebungen einordnen läßt, kommt der Unterschied von „Haltung" und „Halt" heraus. Ein viel gelesenes Buch unserer Zeit: „Und eines Tages öffnet sich die Tür. Briefe zweier Liebenden" 1) schlägt unbewußt in dieselbe Kerbe. Es handelt sich um zwei junge Menschen unserer Zeit, die keineswegs die Absicht haben, über religiöse Probleme zu korrespondieren. Es sind ganz einfach Liebesbriefe. Aber gerade darum sind die am Rande stehenden religiösen Äußerungen besonders unbefangen gemacht und also instruktiv. Es werden dort ganz entsprechende Aussagen über die E i n s a m k e i t des Menschen gemacht, die nicht in irgendeinem Gemeinschafts-Mythos aufgeht; „... ich möchte gerne g l a u b e n , aus meiner innersten Einsamkeit heraus, die auch die Liebe nicht mehr teilen kann, nicht deine Liebe, nicht die Liebe meines Volkes, keines andern Menschen Liebe und Zuneigung. Ich möchte gern glauben, daß doch einer da ist, der mit seiner Liebe in diese Einsamkeit dringen kann . . . Ich muß auch in meiner letzten Einsamkeit angerufen und verpflichtet werden. Auch dort, wohin Menschen und menschliche Ansprüche nicht mehr dringen können. Und ich habe das Gefühl, solange wir nicht Raum und Stille in uns schaffen, diesen Ruf und diese Verpflichtung zu hören, bleibt ein leerer Kern in unserem Innern und wir sind ohne H a l t " (S. 225). l) Herausgegeben von Walter Keßler, Warneck-Verlag Berlin 1940. 42 Ich versuche von hier aus nun, einige möglichst prägnante Umschreibungen der Begriffe „Halt" und „Haltung" zu geben: Einen „H a 11" habe ich, wenn ich das Vertrauen zu einer väterlich waltenden Liebe habe, die auch über dem Sinnlosen und Rätselhaften meines Lebens waltet, deren Gedanken ich zwar nicht verstehe, denen ich aber doch vertraue, weil ich den kenne, der sie denkt. Ich darf dieses Vertrauen haben, seitdem mir gerade das Urbild allés Rätselhaften, nicht vernünftig Aufgehenden — nämlich das Kreuz von Golgatha — zum Zeichen einer Liebe geworden ist, die sich als letzter Halt in mein Leben geben will. Und nun ist es typisch : Die b i b l i s c h e n Menschen ringen in schwerem, sinnlos scheinendem und sozusagen w i d e r Gott zeugendem Geschehen nicht um „Haltung", sondern um „Halt". Es wird uns nicht berichtet, daß Hiob bei einem bestimmten Grade des Leidens einen Nervenzusammenbruch erlitten und im Gefolge dieses Zusammenbruchs Fassung und Haltung verloren habe. Sein Zusammenbruch erfolgte nicht auf dem Gebiet der Nerven und der Haltung, sondern deshalb, weil ihm plötzlich die Sinnhaftigkeit seines übermäßigen. Leidens nicht mehr einsichtig war, so daß sich eine Krise seines Glaubens an den allmächtigen und barmherzigen Gott ergab. Er verlor nicht die Haltung, sondern den H a l t — und im Gefolge d i e s e s Verlustes d a n n allerdings auch die Haltung. Ebenso rührt die Verzweiflung des Täufers Johannes im Gefängnis nicht von einer Krise der Haltung, von seinen nervösen und physischen Gefangnisstrapazen her, sondern von einer Krisis seines Haltes: Ihm wich einfach der Boden unter den Füßen, als er den scheinbaren Widerspruch entdeckte zwischen den Tatsachen, daß er, der Vorläufer des Messias, hilflos im Gefängnis schmachtete, ohne daß ihm sein Meister half, während dieser Meister selbst frei im Sonnenlicht umherging 43 und mit seinen Jüngern das messianische Werk ausrichtete. Etwas konnte an dieser Situation nicht stimmen. W a r er wirklich der verheißene und bisher von ihm geglaubte Messias, dann d u r f t e und k o n n t e er seinen Wegbereiter nicht im Elend umkommen lassen, Da er ihn aber doch im Gefängnis ließ und ihm n i c h t half, war er vielleicht gar nicht der Messias? Dann aber wäre sein Lebenswerk auf einer Illusion aufgebaut gewesen und sein Gefängnisleiden wäre nicht mehr durch einen höheren Sinn, wäre nicht mehr durch ein Martyrium geadelt. D e s h a l b schickte er aus dem Gefängnis die verzweiflungsvolle Botschaft: „Bist du, der da kommen soll, oder sollen wir eines andern warten?" (Mt. I i , 3; vgl. auch Joh. 10, 24). Darin schwingt die bange Frage mit: „Sollte ich mein Leben auf eine falsche Karte gesetzt haben?" D a m i t hätte er dann den Halt verloren. Er hätte ihn auch d a n n verloren, wenn er (mit Verzweiflung im Herzen) gefaßt und „mit Haltung" in den Tod gegangen wäre. Halt hat es immer mit dem objektiven und außerhalb meiner liegenden Grunde zu tun, auf dem ich stehe. H a l t habe ich also, wenn ich den Frieden Gottes habe, wenn ich mein Leben unter seiner tröstenden und zielsicheren Hand geordnet sehe. (Dabei ist zu betonen, daß „Frieden" ja wiederum nicht auf einen subjektiven Zustand, also auf die Ruhe des Herzens beschränkt ist, sondern daß „Friede" einen objektiven Zustand bedeutet: nämlich das In-Ordnung-sein mit Gott, also die Beziehung zu einem Außerhalb = meiner; die Ruhe des Herzens ist gleichsam nur ein „Nebenprodukt" dieses objektiven Zustandes.) Um H a l t u n g dagegen bin ich bemüht, wenn ich k e i n e n Sinn d. h. wenn ich kein letztes Woher und Wohin sehe und einfach stehen bleibe. In seinem Buch „Der Mensch und die Technik" hat Oswald Spengler für diesen Menschen der Haltung das Bild des Soldaten von Pompeji geprägt, den man vergessen hat abzulösen, als die Lavamassen des Vesuvs 44 über die Stadt hereinbrechen, und der nun einfach stehen bleibt. Er hat bei alledem keinen inneren H a l t : weder das Pathos des Märtyrers hält ihn, noch leidet er für eine Idee, noch kann ihn irgendein sonstiger Sinn trösten inmitten seines Sterbens. Im Gegenteil: die nackte Sinnlosigkeit grinst ihn an; aber er bleibt stehen; er hat „Haltung angesichts des Nichts". Er hat also das, was man „heroischen Nihilismus" nennen könnte. Ernst Jünger hat für diese Haltung den überaus prägnanten Begriff des „Abenteuers" geprägt. Damit dürfte wohl folgendes gemeint sein (das so bei Jünger nicht explizit ausgesprochen ist, das aber deutlich hörbar zwischen allen Zeilen steht): Ernst Jünger ist ja der Dichter des Kampfes, sein gesamtes Schrifttum ist eine Auslegung des Kampferlebnisses, das er als junger Pour le Mérite-Trâger des ersten Weltkrieges gehabt hat. „Der Kampf als inneres Erlebnis" ist das durchgängige Thema all seiner Aufzeichnungen. Trotzdem bezeichnet er den Menschen nicht eigentlich summarisch als Kämpfer. Denn der Kampf ist immer bestimmt durch ein Ziel. Das Kämpferische an sich, kraft dessen der Mensch die Beine nicht ruhig halten kann, das Kämpferische ohne Ziel und Sinn g i b t es nicht; ebensowenig wie es einen Glauben ohne ein Woran oder eine Liebe ohne ein Zu-wem gibt. (Der Ausdruck „Gläubigkeit", der einen vom Objekt und damit auch vom Objektiven gelösten Zustand der Seele bezeichnen will, ist deshalb ebenso unsinnig und dekadent, wie es etwa der Ausdruck „Liebigkeit" anstatt „Liebe" — auf dessen Heraufkunft ich noch warte — sein würde). Es gibt keinen Marsch ohne Ziel und auch keinen Kampf ohne Ziel. Nun stellten wir aber fest, daß es für den säkularisierten, vom Jenseits seiner selbst abgeschnittenen Menschen kein letztes Woher und Wofür mehr gibt, daß für ihn nur das Dunkel über und hinter dem Horizont seines Lebens existiert - jenes Dunkel, in dem die Schleife seines Lebens geschürzt und gelöst wird. Infolgedessen gibt es 45 auch kein echtes Kämpfertum mehr für ihn, da die Ausrichtung auf einen hintergründigen Sinn fehlt. Wenn ich mich nicht täusche, ist ein wenig davon auch in den modernen Kriegen und ihren Begründungen zu spüren : Es geht um Ölquellen, Lebensräume, wirtschaftliche Einflußzonen, Markteroberungen usw. Alle diese Ziele sind aber immer nur Mittel zum Zweck der materiellen Existenz. Angesichts der erstrebten materiellen Existenz stehen aber sofort die weiteren und eigentlichen Fragen auf. Für was soll nun die gesicherte Existenz leben? Es ist dieselbe Frage, die auch der von Seelsorge und Glauben gelöste Arzt offen läßt: Der Zweck seines Schaffens ist die Gesundheit. Gesundheit aber ist niemals Zweck, sondern Mittel zum Zweck x). Und da der Mensch ein Ganzes ist, kann man ihn nie von seinem Zweck lösen. Daß man das auf allen Gebieten dennoch tut — kriegerisches und ärztliches Handeln sind nur zwei willkürlich herausgegriffene Beispiele — ist ein Zeichen für die Erkrankung des modernen Lebens in der Tiefe. Deshalb spricht Ernst Jünger angesichts der vom Sinn abgeschnittenen Menschenexistenz nicht vom k ä m p f e r i - s e h e n , sondern vom „ a b e n t e u e r l i c h e n Herzen" 2) : Ein „Abenteuer" ist zwar a u c h ein Kampf. Aber einer, in den man plötzlich geworfen ist, ohne daß man recht wüßte, wie man hineinschlidderte. Ein Abenteuer ist ferner ein Kampf, der ohne ein weitergreifendes, über ihn hinausliegendes Ziel geführt wird. Man ist beim Abenteuer ganz vom Augenblick selbst, nicht von der Zukunft erfüllt; man verfolgt nur den e i n e n Zweck, den Kampf zu bestehen und sich durchzuschlagen. Abenteuer ist ein Kampf ohne Woher und Wohin, ohne Grund, Sinn und *) In diesem Problem sieht Viktor v. Weizsäcker, Heidelberg, immer wieder die Sinnfrage des ärztlichen Berufs gestellt. 2) „Das abenteuerliche Herz, Aufzeichnungen bei Tag und Nacht" Berlin 1929; 2. Fassung: „Figuren und Capriccios, Hamburg 1938/42. 46 Z i e l . Abenteuer lebt im Augenblick. Deshalb beschreibt der Begriff des „Abenteuerlichen" sehr genau die Haltung angesichts des Nichts: die Haltung, die nicht von einem Sinn gehalten ist, die zur Gebärde — man könnte auch sagen -die zur Maske erstarrte Gestalt des Kämpferischen. Gelegentlich kommt diese Einsicht auch bruchstückweise bei weltanschaulichen Kampfgesprächen zum Ausdruck, bei denen die Gegner sich ausnahmsweise gegenseitig achten. Es kann dann am Ende vorkommen, daß einer von beiden Gegnern eine Sympathieerklärung für den andern abgibt etwa in dem Sinne : Wir sind zwar völlig anderer Ansicht und wir bauen jeweils unser Leben auf einen völlig andern Grund. Aber in e i n e m sind wir doch einig: in der Haltung, mit der wir unsern Standpunkt vertreten. Ich habe bei einer solchen Versammlung einmal einem solchen „Kameraden von der andern Front" erklären müssen: Das letzte Wort müsse doch der Abgrund bleiben, der zwischen uns liege. Denn letzten Endes komme es nicht aμf die Haltung, sondern auf d a s an, w o v o n man gehalten sei. Aber die Bemerkung des Kameraden war typisch und in gewisser Weise auch notwendig: er war in charakteristischer Weise ein heroischer Nihilist, dem die Gebärde des Kämpferischen in ihrer Eigenschaft als Gebärde genügte. Da er dem Nichts gegenüberstand und also die objektive Bindung an „das Andere" nicht mehr kannte, konnte er auch den objektiven Abgrund zwischen ihm und seinem christlichen Gesprächspartner nicht mehr verstehen. Das Kämpfertum des säkularisierten Menschen erstarrt zur Maske des „Abenteurers"; es wird zur Trostlosigkeit der „Haltung angesichts des Nichts". Ernst Jünger und Martin Heidegger sind die größten philosophischen Interpreten dieser Tatsache1). *) Vgl. Mattin Heidegger, Sein und Zeit, 3. Aufl., Halle a. d. S.,. 1931. Siehe dazu auch mein Buch „Tod und Leben", bes. den Abschnitt über Heidegger. 47 Den entscheidenden Unterschied zwischen „Haltung" und „Halt" kann man sich auch an gewissen charakteristischen Liedern klar machen: Das Lied Luthers „Ein feste Burg ist unser Gott" ist ein Lied des H a l t e s . In ihm wird von der Burg gesungen, die wir mitten in den Anfechtungen des Lebens unser eigen nennen dürfen, in der wir geborgen sind und einen Halt haben. An die Stelle dieses Liedes — man verzeihe die Drastik des Ver-gleichs — ist heute ein anderes Lied getreten, ein Lied, gegen das ich an sich nichts einwenden möchte, das manchem gute Dienste getan haben mag, aber das doch auf letzte weltanschauliche Abgründe deutet. Ich meine das Lied: „Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern." W a r u m kann den Seemann das nicht erschüttern? Das weiß er selbst nicht. Es macht ihm einfach Freude, sich nicht erschüttern zu lassen und den wildesten Wogen die Zähne zu zeigen. Es ist das typische Lied der Haltung, die weiter nicht nach ihren Gründen fragt, sondern „einfach" s t e h t . Dasselbe Phänomen läßt sich endlich an der F r e u d e aufweisen. Der Engel der Weihnacht verkündet: „Siehe, ich verkündige euch große Freude : d e n n euch ist heute der Heiland geboren." Der Engel begründet es also ausdrücklich, w a r u m man sich freuen darf. Das Evangelium der Weihnacht besteht geradezu darin, daß uns dieser G r u n d zur Freude mitgeteilt wird : der Heiland ist geboren. Hätte Gott in seiner Güte diesen „Grund" (daß nämlich der Heiland geboren ist) η i c h t in die Welt eintreten und Geschichte werden lassen oder hätte er ihn vor der Welt geheimgehalten, so wäre eben ganz und gar k e i n Grund zum Freuen da. Die Finsternis würde weiter über den Völkern lasten und das Dunkel über der Welt brüten. Alles wäre aussichtslos, und das einzige, was man hören müßte, wäre kein Lobgesang, sondern ein Schrei nach Erlösung. Die Menschen hätten keinen Grund sich zu freuen, wenn nicht trotz allen Dunkels nun eben 48 d o c h der Heiland geboren wäre. Nun hat die Freude einen Grund, an den sie sich hält, sie hat einen H a l t . Vor einigen Jahren lautete — wohl in einem untergründigen Anklang an die christliche Freudenbotschaft der Weihnacht — das Motto des Weihnachts-Rundfunk-Programms: „Freut euch des Lebens". W a r u m man sich freuen sollte, war nicht dazu gesagt. Es wurde kein „Halt" geliefert. Es wurde die Freude als „Haltung" als eigentlich grundlose, aber eben zum Leben notwendige Haltung gefordert. Ähnliches kann man auch bei der nazistischen Institution , „Kraft durch Freude" beobachten. Die heimliche Schlußfolge, die ihrer Benennung zugrunde Hegt, lautet doch wohl so : Die Kraft, die der Mensch zum Leben notwendig braucht, kann er nur aus einer optimistisch und freudig gestimmten Gemütsart, nicht aus Kopfhängerei und Depression beziehen. Alles Schöpferische stammt aus Freude 1). Daß allerdings die Freude selbst wieder aus einer bestimmten Kraft, aus einem „Halt" herrührt — wie wir es vorhin nannten — wird nicht dazu gesagt. Es wird überhaupt nicht verraten, von wo man nun die lebensnotwendige und Kraft erregende Freude i h r e r s e i t s beziehen soll. Faktisch g i b t es ja auch für den entbundenen, aus dem Frieden gefallenen Menschen diese Bezugsquelle, diesen „Grund", gar nicht. Deshalb muß man zu andern Mitteln greifen, um sie zu erregen. Man muß zu physiologischen Mitteln der Zwerchfellerschütterung greifen. Man macht das mit nervenaufpeitschender Musik, mit Attraktionen, Sensationen artistischer Art, mit dem Stimulanz des Massenrausches, mit Unterhaltung, Zerstreuung und Ablenkung. Wir alle kannten und kennen ja KdF- und andere Veranstaltungen zur Genüge, um diesen Versuch, Freude auf physiologische Weise zu erregen, lebendig vor Augen zu haben. Physiologisch erregte Freude ist aber die Freude ohne Grund und Halt. Natürlich drückt sich auch die echte Freude *) Vgl. Schillers Lied an die Freude. 49 und das echte Lachen physiologisch a u s . Aber das physiologische Geschehen (etwa die Zwerchfellerschütterung) ist dann nur das Symptom des eigentlichen Geschehens in der Seele. Statt dessen ist beim säkularisierten Menschentum, besonders wenn es durch das bindungslose Kollektiv gekennzeichnet ist, nur noch das S y m p t o m , aber nicht mehr die W i r k l i c h k e i t der Freude geblieben. Mit andern Worten: nur die Maske ist stehen geblieben, das Gesicht aber entschwunden; nur die Haltung ist noch da, aber der Halt ist vergessen. Damit man mich übrigens nicht mißversteht: Ich klage hier keine Institution an, sondern ich klage den Säkularismus selbst an, dessen Ausdrucksform jene Institutionen nur sind. Und man wird sicher sein dürfen, daß der Säkularismus sich nach der Liquidierung dieser Institutionen neue und ähnliche Formen der Unterhaltung suchen wird, ebenso wie er sie ja auch vorher schon besessen hat. Kino, Varieté, Kabarett und Rundfunk hatten auch vorher schon dafür gesorgt und werden weiter dafür sorgen, daß die Freude als bloße „Haltung" ihren Platz behält. „Kraft durch Freude" hat nur vorhandene Impulse aufgenommen und ins Gigantische aufgetrieben. Krisis des Wahrheitsbegriffs Aus dieser Haltlosigkeit im letzten ergeben sich zwei wichtige Konsequenzen: ι. E i n m a l : Es wird niemals nach religiöser W a h r h e i t gefragt. — Äußerlich macht sich dies Verstummen der Wahrheitsfrage bemerkbar in dem H a ß g e g e n a l l e s D o g m e n m ä ß i g e auf religiösem Gebiet. Dieser Haß ist keineswegs, wie man denken könnte und wie der Haß sich auch selbst interpretiert, aufklärerisch bedingt, er rührt also nicht aus intellektuellem Ressentiment oder aus erkenntnistheoretischen Bedenken. Das kann schon darum nicht sein, weil jede Weltanschauung einschließlich aller un- und gegen 50 christlichen ausgesprochen dogmatische, d. h. undiskutier-bare Voraussetzungen hat. Nein, die Ursache für die Suspendierung der Wahrheitsfrage liegt wo anders : Es kann von der säkular-mythischen Voraussetzung aus keine Wahrheit geben, in deren Licht wir enthüllt würden und die uns unser eigenes Antlitz in all seiner Abgründigkeit unter den Augen Gottes entlarvte, so daß wir dann sagen müßten: Herr, der du die Wahrheit bist, Herr, gehe von mir hinaus, ich bin ein sündiger Mensch. Wir stellten in diesem Sinne ja schon fest und führen diesen Gedanken weiter fort : Wahrheit kann für das mythisch säkularisierte Denken nicht etwas sein, das ü b e r uns steht und richtend und entlarvend auf uns zukommt. Daher rührt übrigens auch das Unverständnis gegenüber den mittelalterlichen Glaubenskriegen, die trotz aller macht- und wirtschaftspolitischen sowie anderer Nebengeräusche eben doch dadurch charakterisiert waren, daß sie um Wahrheiten geführt wurden, die ü b e r beiden Parteien standen und sozusagen gleichermaßen von ihnen intendiert wurden Diese verbindende Klammer und dieses den einzelnen und das einzelne Volk Transzendierende fehlt im Säkularismus. Deshalb auch das grenzenlose Nebeneinanderherleben und Sich-nicht-verstehen. Ich wiederhole : Wahrheit kann nicht mehr etwas sein, das über uns steht und richtend und entlarvend auf uns zukommt *) Wie unendlich unterscheiden sich davon die modernen (säkularisierten) Wcltanschauungskriege I Diese werden im Zeichen eines neuen Polytheismus, d. h. heraufgekommener Volksgötter und eigner Absolutsetzungen geführt, die ein verbindendes Band Sur andern Partei mehr oder weniger vermissen lassen. Es gibt weithin kein verbindendes Wertsystem mehr. Damit hängt auch der Schwund der Ritterlichkeit zusammen (denn Ritterlichkeit bedeutet immer die Anerkennung des Wertcharakters des andern, abgesehen von der augenblicklichen - aber wirklich augenblicklichen! - Anormalität des Kriegszustandes) sowie die Degradierung des andern zum „Untermenschen". Das letztere liegt nicht so sehr an den verübten Grausamkeiten des andern, sondern daran, daß es keinen verbindenden und für beide verbindlichen Begriff des Menschen mehr gibt. 3 Τ h i e 1 i c k e , Fragen des Christentums. 51 und darüber entscheidet — um mit den Worten des JohannesEvangeliums zu sprechen — ob wir in der Wahrheit sind oder nicht. Denn dort, wo diese Wahrheit auf uns warten müßte, ist ja im säkularen Mythos das Dunkel, das, wohin man nicht mehr sehen kann, das unkontrollierbare „Drüben". Das Denken, das die Wahrheit zu intendieren hätte, ist nach jener, Schau ja selbst eine Funktion des Bios oder des ökonomischen usw. (Rosenberg, Heyse und zahllose andere Autoren), ist eine selber unwirkliche Ideologie, ein Spiegelbild über jener materiellen Grundsubstanz des Lebens. Was das bedeutet, kann man sich an Rosenbergs bekanntem Satz klar machen: Rasse sei Seele von außen und Seele sei Rasse von innen gesehen. Beides seien nur verschiedene Seiten derselben Sache. (An dieser These dürfte sich auch nach der Beseitigung Rosenbergs nichts ändern. Denn selbstverständlich wird der Biologismus ähnliche Thesen mit etwas verändertem Vokabular auch weiterhin produzieren. Und dieser Biologismus ist natürlich eine von Rosenberg völlig losgelöste Erscheinung. Dieser hatte sich ja nur zum verhängnisvollen politischen Herold des Biologismus gemacht und ihn auf den Rassenbegriff hin zugespitzt.) Da die Religion also nach jener Konzeption der S e e l e entstammt, ist sie selber nichts anderes als ein metaphysisches Spiegelbild der Bios-Grundlage. Eine erstaunliche Wiederholung der Feuerbachschen Religionsdeutung: Religion als Projektion des Ichs, in diesem Falle des b i o l o g i s c h bedingten Ichs ! Hier ist auch die Wurzel zweier wichtiger Erscheinungen zu finden, die wir bereits andeuteten: E i n m a l nämlich wird von hier noch d a s klar, was wir zu Anfang als die „Argumentslosigkeit" des säkularen Menschen gegenüber dem Christentum bezeichneten, als die „Widerwortlosigkeit", auf welche die Botschaft weithin stößt: Da 52 die christliche Botschaft selbst als Ideologie, als eine der Seele entsteigende und über ihr schwebende Dunstschicht aufgefaßt wird, lohnt es sich nicht, sie über den persönlichen Bezirk des andern hinaus ernst zu nehmen. Genau so wenig, wie sich über den „Geschmack" streiten läßt — weil'er ganz einfach eine persönliche Eigenschaft des einzelnen, aber keine objektive Größe ist — genau so wenig läßt sich über den Glauben streiten. Es geht dabei eben nicht um eine objektive und vom Menschen ablösbare Schicht. F e r n e r ist hier die Wurzel für die These zu finden, Religionen müßten „artgemäß" sein. In der Tat: von hier aus gesehen, k ö n n e n sie in ihrer Eigenschaft als Spiegelbilder ja gar nichts anderes sein. Viel wichtiger dabei ist freilich, daß sie auch m e n s c h e n g e m ä ß sein sollen. (Der Begriff artgemäß bedeutet nur eine Spezialisierung und in gewisser Weise auch eine Tarnung des Begriffes menschengemäß.) Damit, daß man sich die Religion „menschengemäß" wünscht, verfolgt man das innerste Interesse, daß es j a nichts geben möchte, was ü b e r mir steht und nicht von meinen Gnaden . und in Abhängigkeit von meinen Wünschen und Werturteilen lebtl Daß es j a keinen Richter geben möchte, der mich in Frage stellen und über mich verfügen kann ! Eine in sich identische Wirklichkeit — und Gott ist ja auf mir gewachsen! — kann sich aber nicht in Frage stellen. So hat sich der Mensch Gott vorher auf den Leib geschrieben, ehe er an ihn glaubte. So ist dieser zum Gott „nach Maß" geworden, der glatt anliegt und keine Druckstellen und Widerstände ergibt. Darum ist auch die Grundhaltung dieses säkular religiösen Menschen durchaus m o n o l o g i s c h , nicht d i a l o g i s c h . Er kennt kein personhaftes Gegenüber mehr, auf das er bezogen wäre und mit dem er im Austausch des Gespräches stände. Diesen Monologcharakter können wir an zwei Beispielen erläutern : 3* 53 ι. Das uns allen sattsam bekannte „Schwarze Korps", dessen einzelne Jahrgänge sicher ihre Bedeutung als Selbstdarstellungen eines konsequenten Säkularismus behalten, brachte einmal in einem Artikel über das Wunder (24. August 1939) einige Äußerungen über das Gebet, etwa folgenden Inhalts: Das Gebet sei eine notwendige Form der Besinnung, auf die man in dem verzehrenden und verschlingenden Betrieb unserer Zeit nicht verzichten könne. Natürlich müsse man anders beten, als der Christ das tue, der von der Illusion eines ihm gegenüberstehenden und ihn hörenden Gottes ausginge. Der Mensch, der das Christentum überwunden habe, müsse sich vielmehr von diesem Strohmann im Jenseits, von dieser künstlichen Hilfskonstruktion1) lösen und seine „betende" Besinnung als ein Zwiegespräch mit sich auffassen. — So steht also dieses Menschentum in einer bedrängenden Einsamkeit mit sich selbst, und unser Bild von dem „Eingespeirt-sein in den Spiegelsaal" gewinnt von hier aus noch einen neuen Sinn. 2. Der Gott der säkular „Gottgläubigen" hat in der Regel nur zu segnen und zu bejahen, was w i r immer schon getan haben. Er ist nicht der „andere", dem ich begegne, der auch einmal w i d e r mich sein kann und vor dem ich ohne Anspruch stehe. Nein: „I c h habe die Initiative und das Gesetz des Handelns, das Gesetz der A k t i o n in der Hand". Und der Gott der unverbindlich „Gottgläubigen" lebt dann in der segnenden — R e - Aktion darauf. Von hier aus ist dann natürlich auch der Gedanke unfaßlich, daß ein A b g r u n d zwischen Gott und Mensch sein könnte; unfaßlich das, was die biblische Botschaft vom Gericht Gottes sagt: daß Gott nämlich zunächst nicht ein art-und menschen g e m ä ß e r , sondern zunächst einmal ein menschen w i d r i g e r Gott ist, weil w i r der gottwidrige Mensch sind. x) Die vorstehenden Ausdrücke sind zur Verdeutlichung von m i r gebraucht. 54 Alle diese Gedanken m ü s s e n unverständlich bleiben, wenn wir Gott nach unserem Bilde geformt haben und wenn er nur noch die ideologische Spiegelung unserer selbst ist. Dann gibt es keine echte Begegnung mehr mit ihm, sondern nur noch den Monolog mit uns selber. Dieser Monolog aber ist unverbindlich und verpflichtet zu gar nichts ; Gott ist dann nur eine Funktion meiner selbst; und diese Funktion besteht darin, daß er m e i n Tun und Lassen lediglich und nachträglich noch „sanktioniert". Noch einmal zitiere ich, um das zu verdeutlichen, das Mädel aus dem „Briefwechsel zweier Liebenden" 1): „. . . Wir haben Gott verloren, das ist alles. Ich weiß, was du sagen willst. Daß wir Gott nicht verloren haben, sondern ihn nur anders begreifen, nicht mehr als Richter und Herrn der Schöpfung, sondern i η der Schöpfung, als das innere Schicksal der Schöpfung, als die in aller Schöpfung lebende Kraft, als die Allmacht über und in uns allen. Es mag das alles sein, mein Lieber. Es ist gewiß so. Im Grunde verpflichten d i e s e Gedanken aber zu g a r n i c h t s . Man kann im Grunde j e d e s Leben damit rechtfertigen, was man auch immer lebt". (Sperrungen von mir.) Gerhard Schumann, den ich später noch ausführlicher zitiere, sagt einmal, daß vieles Laute unserer Zeit, vieles Über-schriene daher rühre, daß „wir reden, weil es tödlich uns umschweigt" „verlor'ner Gott, läßt du dich wiederfinden?" Wissen wir jetzt, was damit gemeint ist, daß es uns tödlich „umschweigt"? Dies tödliche Umschwiegensein ist nur der ins Akustische übersetzte Eindruck, den wir früher — innerhalb der optischen Dimension — als das Dunkel über dem Lebenshorizont bezeichneten: Wir leben im Monolog. Und wenn wir unsere Stimme erheben, hören wir nur unser eigenes Echo. Wir leben eingesperrt und toteinsam im Spiegel*) „Und eines Tages öffnet sich die Tür" S. 224. 55 saal, der in tausendfältigen Brechungen nur. unser eigenes Bild zurückwirft. Das Verhängnis des Pragmatismus Aus dieser Einstellung ergibt sich notwendig, daß Gott nicht mehr autoritativ als Herr ü b e r mir steht, sondern daß er mein Untergebener ist. Er hat eine bestimmte Funktion in meinem Leben auszuüben. Welche Funktion? Nun, vielleicht hat er im Zusammenhang mit religiösen oder religionsähnlichen Zeremonien ein wenig Feierlichkeit in mein Leben zu bringen, nach der ich als Mensch nun einmal von Zeit zu Zeit ein sentimentales Bedürfnis hege. Es ist deshalb auch bezeichnend, daß alle säkularen Imitationen kirchlicher Kulte auf den Gesichtspunkt der Feierlichkeit und der Aufmachung hin angelegt sind. Und es ist ebenfalls bezeichnend —was wir in anderer Weise schon bei der Analyse der „Freude" fanden —, daß von den echten religiösen Wirklichkeiten sozusagen nur die physischen und psychischen N e b e n Wirkungen in schauerlicher Ruinenhaftigkeit geblieben sind. Denn natürlich hat echte religiöse Wirklichkeit etwas mit Feierlichkeit zu tun. Aber diese Feierlichkeit ist in keiner Weise der Z w e c k kirchlicher Handlungen (ζ. B. des Gottesdienstes und des Sakramentsvollzugs) oder des Glaubensaktes, sondern sie ist eine Nebenwirkung — nichts anderes. Der Pfarrer, dem nach der Taufhandlung die Angehörigen versichern, es sei sehr feierlich gewesen, wird schmerzlich von dieser Äußerung berührt sein, weil er feststellen muß, daß die Taufgemeinde im völlig Peripherischen stecken geblieben ist. Sie hat offenbar die Botschaft der Taufe, die „Wort"-Verkündigung (im strengen Sinne!) nicht ernst genommen, sondern die Worte nur als Stimmungsimpuls zur Erregung der Feierlichkeit aufgefaßt. Jeder, der als Geistlicher mit solchen Situationen seine Erfahrungen gemacht hat, weiß, wie das Verharren in den Nebenwirkungen die schauerlichste Neutrali 56 sierung und Sterilisierung der Botschaft mit sich bringt, die sich denken läßt. Der Kirchenschlaf ist ein weitaus gesegneteres Unternehmen als dieser Blitzableiter der Feierlichkeit, der den göttlichen Strahl abfängt und ablenkt. — Indem also Gott nur noch als Garant und Erreger von „Feierlichkeit" gilt, ist er zum Knecht des Menschen geworden. Zugleich wird wieder einmal das Wesen der „Haltung" als einer den säkularen Menschen bestimmenden Grundeigenschaft deutlich. Denn Feierlichkeit ist in typischer Weise „Haltung", die nicht weiß, wovon sie gehalten und erregt ist und der es auch gleichgültig ist, wer hier als Erreger funktioniert : der Gott der Kirche oder der Gott der parteiamtlich Gottgläubigen oder wer sonst immer. Eine andere Funktion, die Gott in diesem Zusammenhange noch haben könnte, bestände darin, daß er uns das stärkende Bewußtsein verleiht, mit den Absichten der Vorsehung übereinzustimmen. Gerade die „weltgeschichtlichen Individuen" haben immer wieder die Neigung verraten, die von ihnen veranlaßten Welt-Umwälzungen nicht nur auf ihre eigene Kappe zu nehmen. Ein wenig graut ihnen allen vor der These, daß M ä n n e r die Geschichte machen und daß s i e also die verantwortlichen Träger der unübersehbaren Lawinen-Geschehnisse und geschichtlichen Kettenreaktionen sein könnten. So nehmen sie den Schutz, den ihnen die säkulare Religion zu gewähren scheint, gerne in Anspruch: sie lassen sich entlasten durch die sogenannten „Absichten der Vorsehung", die sie mit ihnen zu haben scheint und als deren Vollstrecker sie sich fühlen. So wird also Gott (jedenfalls insofern er „mein" Gott sein will) vernichtet dadurch, daß man ihn in die Welt hineinnimmt und zur Funktion des Lebens macht. Er hört dann für mich auf, ein ernsthaftes Du zu sein, er hört überhaupt auf, eine „Wirklichkeit" zu sein und läßt mich als die e i n z i g e Wirklichkeit in bedrängender Einsamkeit zurück. „Einziges Fazit der religiösen Emanzipation, das sich mit hinlänglicher 57 Sicherheit ziehen läßt: der Mensch ist auf eine fast hintergründige Weise heimatlos geworden. Man hat es einmal sarkastisch so formuliert: im Lauf dieser Emanzipation sei Gott von der Welt verschluckt und zur Göttlichkeit verdaut worden. . . . Gott wurde in der Tat durch die Welt absorbiert. . . . Nimmt man die göttlichen Realitäten in den Menschen hinein, so werden sie schließlich vollkommen zum Verschwinden gebracht, sie werden mit dem Menschen zur Deckung kommen. . . . Von hier aus gesehen hat die sogenannte religiöse Emanzipation . . . den Charakter einer atheistischen Chemie: die göttlichen Stoffe gelangen im Stoff der Welt zur Auflösung, will sagen, sie sind nicht mehr" 1). Aus alledem ergibt sich eine weitere wichtige Folge: Stehe ich so selber im perspektivischen Mittelpunkt der Welt, und ist außer mir nichts, so wird d e r M e n s c h d a s M a ß a l l e r D i n g e , sogar das Maß Gottes. (Das ist auch dann der Fall, wenn es sich nicht um den individuellen Menschen, sondern um seine überindividuelle Existenz als Volk, als Rassengemeinschäft oder auch als Menschheit handelt.) Es ergibt sich dann ein Bewertungsmaßstab für die Religion, der etwa dem in der juristischen Debatte wiederholt aufgeklungenen entspricht: „Was meinem Volke nützt, ist gut, was ihm schadet ist schlecht". Entsprechendes hätte dann notwendig für den G l a u b e n zu gelten, wobei es übrigens wiederum völlig gleichgültig ist, ob an die Stelle des Begriffs „Volk" der abstraktere der „Gesellschaft" oder der „Gemeinschaft" oder der des „Staates" tritt. Das Volk ist nur regierbar — soviel besagt dann der genannte Satz — insofern es sich an gewisse metaphysische Realitäten oder auch Illusionen gebunden weiß. „Dem Volke muß seine Religion erhalten bleiben" - dies verhängnisvolle Wort war zweifellos von *) Hans Jürgen Baden, Das religiöse Problem der Gegenwart bei Jakob Böhme, Leipzig 1939. 58 Kaiser Wilhelm I. echt gemeint, es hat aber im Lauf des weiter galoppierenden Säkularismus unter der Hand den Charakter des Zweckgedankens angenommen. Dadurch hat „die Religion" in der öffentlichen Meinung einen p r a g m a t i s c h e n S i n n bekommen, d. h. sie ist das Mittel zu einem Zweck geworden und wird als solches Mittel von der politischen Planung eingesetzt. Religion und Glaube dienen damit einer bestimmten „Absicht", und viele fühlen denn auch die Absicht — und sind verstimmt. Religion und Massenproblem Seit der Revolution von 1918 dürften alle maßgebenden oder wenigstens sich verantwortlich wissenden Kreise die Frage gestellt haben, wie dieses auseinanderbrechende Volk wieder „in Form", „in Fasson" zu bringen sei. Denn eines ist ja klar: Solche Form ist nicht durch Gewalt zu erreichen; ein Volk kann nicht auf die Dauer auf Bajonetten sitzen. Solche Form ist nur durch eine neue B i n d u n g zu erreichen, und zwar durch eine Bindung innerster Art. Ich wage nun die Behauptung, daß die Frage nach dieser Bindung d a s Problem unseres Jahrhunderts sei. Und zwar ist sie ein abgeleitetes Problem: Die Ober-Frage, der sie ent- » stammt, ist die Frage der Masse, die Frage des bindungslos gewordenen Kollektivs, das durch das Proletariat der großen Städte repräsentiert ist und auch in mächtigen und wachsenden Wucherungen in das flache Land hinein ausstrahlt. In der Literatur, sowie in den öffentlichen und privaten Diskussionen der letzten 50 Jahre läßt sich deutlich die Bemühung erkennen, eine Bindungsmacht auszumachen, die der drohenden nihilistischen Aushöhlung entgegenwirken könnte. Sicher ist dabei oft der Blick auf die „Bindungsmacht Christentum" gefallen und die Frage gestellt worden, ob der christliche Glaube bzw. die ihn vertretenden Kirchentümer willens und in der Lage seien, den wurzellos gewordenen Massen 59 eine neue Bindung zu vermitteln. Übrigens kann man in Hitlers „Mein Kampf", wenigstens in den ersten Auflagen, noch genau dieses Abtasten der Konfessionen spüren. Dieses Buch steht deutlich im Zwielicht zwischen der Tendenz zu einem pragmatisch aufgefaßten und entsprechend verfälschten Christentum und einem flagranten Neuheidentum. Das gleiche wird sich von dem berühmten und berüchtigten Punkt 24 des nazistischen Parteiprogramms über den verlogenen Begriff des „Positiven Christentums" behaupten lassen. Aus Gründen, die hier nicht weiter zu untersuchen sind, hat man sich aber zum C h r i s t e n t u m als solcher maßgebenden Bindungsmacht n i c h t entschließen können1). Vielleicht hat zu diesem Entschluß die Erwägung beigetragen, daß die christlichen Kirchen die Massen ja nicht mehr besitzen und daß sie nicht einmal ihren eigenen Bereich vor der Auswanderung haben schützen können; es sei also nicht zu empfehlen, mit ihrer Hülfe die ausschwärmenden Geister und Ungeister wieder zurückzupfeifen. Bei tieferschauenden Geistern mag auch der Gedanke eine Rolle gespielt haben, daß das Evangelium — vielleicht im Unterschied zu dem mixtum compositum, das man im allgemeinen „Christentum" nennt — wesensmäßig gar nicht ein derart überwölbender Mythos sei. Dostojewski hat ja im „Großinquisitor" das Christentum, insofern es Bindungs- und Machtmythos sein will, als Abfall aus Untreue charakterisiert. Das Evangelium stellt die Menschen vielmehr vor die E n t s c h e i d u n g und damit vor die Möglichkeit der S c h e i d u n g . Es steht sozusagen wie ein Brückenpfeiler im Strom der Menschheit, und die Wasser scheiden sich an ihm. Hat Jesus sich nicht immer wieder den einzelnen, oft den Ärmsten, Kränksten und für die Gemeinschaft Ausfallenden geSchon darin, daß man sich zu so etwas „entschließen" bzw. n i c h t entschließen kann, kommt der anthropozentrische Charakter dieser Grundhaltung zum Ausdruck. 60 widmet und hat er sich nicht umgekehrt vor der Masse und vor etwa zu feiernden Propagandaorgien zurückgezogen?! Der einzelne sah sich vor eine erregende und sein Leben aus den Fugen hebende Frage gestellt, wenn er Jesus begegnete Man kann aber „Dynamit" nicht zum „Kitt" machen. Angesichts dieser Unmöglichkeit, das Christentum als Mythos und weltanschauliche Bindungsmacht herbeizuzitieren, brach sich der Ruf Bahn : „Aber es m u ß eine Religion, ' es m u ß ein Mythos, es m u ß auch ein Kult her ! Und wenn wir keinen übernehmen können, so müssen wir eben selbständig einen schaffen". Genau wie man die Materialien, die nicht importiert werden können, durch Werkstoff zu ersetzen sucht, genau so meint man nun auch einen religiösen Werkstoff fabrizieren zu können. Die Stunde dieses Rufes ist die Geburtsstunde des „Mythos des 20. Jahrhunderts". Es ist die Mittel-zum-Zweck-Religion, die als Bindungsmacht konstruiert wurde. Am Anfang steht also nicht, wenn man so will, ein „religiöses Erlebnis", geschweige denn eine „Offenbarung", sondern am Anfang steht ein P ro b le m: das Problem politischer und volklicher Gestaltung, die Not der säkularisierten, bindungslosen und darum wieder zu bindenden M a s s e . Offenbar handelt es sich hierbei keineswegs nur u m ein Phänomen unserer d e u t s c h e n Weltanschauungsgeschichte. Dieser Pragmatismus ist vielmehr ein Kennzeichen des gesamten Säkularismus, in welchen geographischen Breiten er auch auftauchen mag. E i n Beispiel möge statt vieler genannt sein. Ein hervorragender nationaler Führer Indonesiens äußerte 2) bei seinem Gespräch über die neuen nationalen Religionen zu dem Missionswissenschaftler Frey*) Daß das Evangelium nicht bei einzelnen stehen bleibt, sondern auf dem Weg über ihn auch zur Gemeinschaftsmacht wird, ist selbstverständlich. Das sei nur am Rande betont, um dem Mißverständnis zu begegnen, als ginge es hier nur um das zeitliche und ewige Schicksal des „einzelnen", als sei also Religion - „Privatsache". 2) „Das Erwachen der jungen Christenheit im Osten" S. 185 und 188. 61 tag : „Nur wenn Indonesien seine natürliche Aufgabe erfüllt, die Brücke des Verstehens zu sein zwischen Ost und West, kann die Weltkatastrophe vermieden werden". — „Ich machte ihn darauf aufmerksam", schreibt nun Freytag, „wie das, was in der nationalen Bewegung Niederländisch-Indiens wirklich lebendig sei, zugleich volklich beschränkt sei. Es gäbe wohl einen batakschen, javanischen, sundanesischen usw. Nationalismus, aber keinen indonesischen." Darauf sagte er mir: „Denken Sie denn, ich glaube an Indonesien? Das ist mir nur ein Phantasiegebilde ohne wirklichen Hintergrund. Aber die Völker brauchen solche Lügen, denn sonst schwängen sie sich nicht auf." An diesem Beispiel sieht man, wie alle geistigen Werte — in diesem Falle eine n a t i o n a l e Ideologie, kein religiöser Glaube — in der Mühle des Pragmatismus zermahlen werden und als Lüge herauskommen. Man könnte auch hier von der obengenannten atheistischen Chemie sprechen, die nur zersetzende Wirkungen hat. Die Mittel-zum-Zweck-Tendenz jener weltanschaulichen Propaganda ließe sich auf die Formel bringen „Kraft durch Illusion". Die Heraufkunft des Nihilismus Von hier aus ergibt sich nun notwendig eine neue religiöse Krise: Angesichts der aufgezeigten Mittel-zum-Zweckstel-lung des Religiösen werden sich die „propagandistisch" davon betroffenen Menschen in z w e i K l a s s e n scheiden, die man überall beobachten kann und die auch bleiben werden, wenn sich die Frontstellungen und weltanschaulichen Programme gründlich geändert haben werden: Ich möchte diese beiden Klassen den „exoterischen" und den „esoterischen" Menschentyp nennen: Der e x o t e r i s c h e Typ setzt sich aus solchen Menschen zusammen, auf die jenes dem Zweck dienende religiöse Mittel zugeschnitten ist, die also durch den Zweckmythos gebun 62 den und mit produktiven Illusionen (vgl. das indonesische Beispiel) erfüllt werden sollen. Sie sind gleichsam die Naiven, welche die „Absicht" nicht durchschauen, sondern unbewußt und willig auf sie eingehen. Aus ihr besteht die große Masse — jedenfalls während der ersten Zeit eines solchen Mythos. Je mehr diese Masse aber ihre Erfahrungen macht, um so mehr merkt auch sie, wie sie mit alledem „behandelt" werden soll. Nach dem Besuch eines Kinos, bei dem irgendein Tendenzfilm gezeigt wurde, war ich oft erstaunt, in welchem Maße auch (oder gerade?) j u n g e Menschen die Tendenz durchschauten und im Durchschauen sich als immunisiert erwiesen. Man wird folgendes Gesetz aufstellen dürfen: daß die große Masse, je länger der Tendenz-Mythos anhält, eine um so schärfere Witterung für seinen Charakter als Tendenz bekommt, auch wenn sie gegenüber den momentanen Eindrücken (Kultfeiern, Propagandatricks usw.) anfällig bleibt und so den erstrebten Zweck weithin erfüllen hilft. Aber trotz allem wird man sagen dürfen, daß der Satz von den kurzen Beinen, die die Lüge habe, auch auf d i e s e r Ebene nicht ohne Geltung sei. Der e s o t e r i s c h e Typ dagegen besteht aus solchen, welche die Zweckhaftigkeit der säkularen Religion durchschaut haben und sie deshalb nicht mehr auf sich selber beziehen können. Das ist ja ganz logisch: Während die W a h r h e i t etwas ist, das über mir steht und an das ich gebunden bin — auf das ich auch keinen Einfluß habe, selbst wenn ich es zehnmal nicht wahr haben oder ändern möchte —, so ist das M i t t e l , das ich zu einem Zweck gebrauche, in meine Hand gegeben; es ist mein Instrument und ich bin sein Herr. Habe ich dieses Verhältnis, habe ich also meine Herrschaft e i n m a l durchschaut, so kann ich dieses Verhältnis nicht mehr umkehren, d. h. dann kann ich mich nicht mehr gläubig darunterstellen. Mit andern Worten: Wer einmal die säkulare Religion durch 63 s c h a u t h a t , k a n n n i c h t m e h r a n s i e g l a u b e n . Und da er nichts mehr über sich hat, da er Gott in die Faust genommen hat statt ihn anzubeten, ist er dem Schicksal des Nihilismus ausgeliefert. Der engere Orden der Wissenden ist ein Orden von Nihilisten, unci es fehlt auch nicht an dem entsprechenden Zynismus, der das offen ausspricht. Nietzsche hat die Heraufkunft des Nihilismus richtig beobachtet ; seine ehrlichsten Bekenner sind Oswald S p e n g l e r und Ernst J ü n g e r . Der Nihilismus ist ein Gericht und wie alle Gerichte unentrinnbar ; man erwirbt ihn nicht so, wie man eine „Weltanschauung" erkämpft, sondern man zieht ihn sich zu wie eine Krankheit, die zu „erleiden" ist. Er ist eine Heimsuchung Gottes am 3. und 4. Glied, während die Generation der „Väter" noch in Traumbildern schwelgt und die Geburt des pragmatischen Gottes verkündet. Indem er aber als ein Gericht G o t t e s zu verstehen ist, wird zugleich deutlich, daß er nicht als eigengesetzlicher Prozeß aus seiner eigenen Immanenz heraus verstanden werden kann. Er ist selber das Mittel in der Hand eines Höheren. Von hier aus wird er als ein Interim begriffen werden müssen : als Interim auf ein völliges Ende oder als Interim auf eine „neue angenehme Zeit" hin. Es kann aber nicht zweifelhaft sein, wer an diesem völligen Ende oder aber in der „neuen angenehmen Zeit" als der Herr in Erscheinung treten wird1). *) Es erscheint mir wichtig, hier anmerkungsweise verschiedene Vorausahnungen des Nihilismus zu verzeichnen, die Nietzsche gehabt hat: „Unsere ganze europäische Kultur bewegt sich seit langem schon mit einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst, auf eine Katastrophe los. Was ich erzähle, ist die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte. Ich beschreibe, was kommt, was nicht mehr anders kommen kann: die Heraufkunft des Nihilismus". XV, 137. „Was bedeutet Nihilismus? Daß die obersten Werte sich entwerten. Es fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das Warum." XV, 145. „Der Nihilismus als psychologischer Zustand wird eintreten müssen, wenn wir einen ,Sinn* in allem Geschehen gesucht haben, der nicht darin ist, so daß der Sucher endlich den Mut verliert." XV, 148. 64 Die Lage des Säkularismus im Spiegel des Neuen Testaments Wie ist die geschilderte geistige und geistliche Situation vom Neuen Testament her zu beurteilen? Hat es wirklich Sinn — um unsere Ausgangsfrage jetzt nochmals zu wiederholen —, von einer Schrumpfung des religiösen oder metaphysischen Erkenntnis organs zu sprechen? Natürlich gibt es eine solche Schrumpfung. Ein populäres Beispiel dafür ist die Abstumpfung des Gewissens. Aber gerade im Zusammenhang mit den Gewissensfragen würde es keinem Menschen einfallen, eine Abstumpfung oder Schrumpfung als einen rein mechanischen oder physiologischen Prozeß zu begreifen. Die Abstumpfung des Gewissens wird selbstverständlich immer als Schuld und damit als Produkt einer Willensrichtung und d a m i t wiederum als ein Vorgang innerhalb meiner Verantwortlichkeit aufgefaßt. Denn die „Abstumpfung" ist ja gerade das Ergebnis einer Summe von Verfehlungen, eines dauernden Sich-gehen-lassens im Sinne von laisser faire, und eben damit das Ergebnis eines willentlichen Vorgangs, der allerdings dann zu seiner Selbstaufhebung führt. Schon hier wird sichtbar, daß es sich bei diesen Schrump-fungs- und Abstumpfungsvorgängen um eine tiefere als die psychologische oder physiologische Schicht handelt. Paulus spricht in Rom. ι , 18 ff. davon, daß die Heiden d e s h a l b bei den falschen Göttern, bei den tier- oder menschenähnlichen Göttern ankommen, weil sie die Wahrheit „in Ungerechtigkeit niederhalten", weil sie also die Wahrheit nicht wahrhaben w o l l e n . Paulus vertritt hier die Tatsache, daß unser W i l l e bei dem, was wir für wahr oder nicht wahr erklären, entscheidend mitspricht. Es ist eben keineswegs so, daß etwa unsere Vernunft sich in einer reinen Sphäre des Geltens bewegte und unmittelbar auf die Wahrheit hin angelegt wäre. Vielmehr ist die Vernunft — um ein Bild zu gebrauchen — immer eine Frau, die jemandem gehört: sie gehört 65 e n t w e d e r der Bereitschaft, unserer Ursprünglichkeit treu zu sein und unter Gott als seine Kinder zu leben. O d e r sie gehört dem Willen, autonom zu werden und unser eigener Herr zu sein. Das Wichtigste ist aber an beidem die Feststellung, daß eben die Vernunft immer jemandem g e h ö r t. Es handelt sich nur um die Frage, ob die Vernunft eine „legale Frau" oder ob sie — um mit Luther zu sprechen — eine „Hure" ist, die sich jedermann an den Hals wirft und bereit ist, jeder Abgötterei, jeder Leidenschaft und jedem Zeitgeist den nötigen geistigen Unterbau zu liefern und das Alibi ihres Arguments zur Verfügung zu stellen. Gewisse Intellektuelle, die ihre geistige Apparatur jeder neu aufkommenden ideologischen Macht zur Verfügung stellen, bieten dafür ja ein eindrückliches Beispiel. Aber sie sind nur extreme und verzerrte Symptome einer Tatsache, die überall besteht: daß nämlich, wie Kierkegaard sagt — „nicht die Gründe die Überzeugung tragen, sondern die, Überzeugung die Gründe trägt", d. h. daß die Überzeugung sich gleichsam „nachträglich" von der Vernunft die Gründe liefern läßt und sich damit rational zu legalisieren sucht. Für diesen Hang.der Vernunft (eben der gefallenen, hörig gewordenen Vernunft) hat auch die weltanschauliche Rassenideologie ein unfreiwilliges aber instruktives Beispiel geliefert: Sie hatte von ihrem weltanschaulichen Ausgangspunkt her ein ganz bestimmtes „Interesse" daran und eine bestimmte „Voreingenommenheit" dafür, daß bestimmte biologische Tatsachen in der Rassentheorie gelten möchten. Sie verstand sich dabei ganz eindeutig als vorausgehende Schrittmacherin der wissenschaftlichen Biologie: Was sie aus dem „Instinkt" heraus zu wissen meinte, werde die Wissenschaft mit ihren gründlichen und deshalb langsameren Methoden „dermaleinst" nachzuweisen haben. Gerade an diesem Beispiel wird sichtbar (gerade ein Zerrspiegel macht oft recht drastische Enthüllungen), wie nachträglich die Vernunft ihre Argumente 66 liefert, und wie abhängig sie ist von dem, was der Mensch wahrhaben will. Was hier in schwer zu ertragendem und verkommenem Bewußtsein geschieht, geschieht doch unbewußt überall. Unser Denken ist entscheidend durch Furcht und Hoffnung bestimmt: „Was man wünscht, das glaubt man gern"; „der Wunsch ist der Vater unserer Gedanken". Der Großtyrann sagt in Bergengruens Buch „Der Großtyrann und das Gericht" (S. 71 f.) ganz entsprechend: „ . . . und ist mir bekannt, daß in jedem Menschen gleichzeitig zwei Menschenbahnen laufen: eine, welche sich nährt von den unanfecht-lichen Erkenntnissen seiner Urteilskraft, und jene zweite, welche ihren Ausgang hat und ihr Ziel sucht in dem, dessen er zum Lebenkönnen bedarf." Was er aber zum Lebenkönnen zu bedürfen meint, entscheidet sich natürlich an dem, was er hofft und was er fürchtet. Der Denkakt pflegt auf dem Rücken von Furcht und Hoffnung zu reiten. Die moderne Es^stenz-philosophie hat deshalb recht, wenn sie die Akte des Denkens ganz in den Dienst der Existenzauslegung des Menschen, d. h. in den Dienst seines vorgegebenen Selbstverständnisses stellt. Der Mensch erfährt nicht das, was er ist, aus dem Syllogismus seiner Vernunft; sondern umgekehrt hat er ein vorgegebenes Verständnis seiner selbst; und jener Syllogismus ist ihm nun nachträglich behilflich, dieses Verständnis zu entfalten. Wenden wir diese Erkenntnis auf die Frage des Glaubens an, leuchtet uns ohne weiteres das Pauluswort ein, daß man die Wahrheit über Gott „in Ungerechtigkeit niederhalten" (Rom. ι, 18), daß man sie folglich „nicht wollen" könnte. Paulus begründet das auch konkret damit, daß jene Heiden sich nicht in ihrer Geschöpflichkeit verstehen, daß sie Gott nicht loben und preisen und4 nicht von ihm abhängig sein wollen. Man kann eben Gott nur dann erkennen, wenn man zu einer bestimmten Bereitschaft, zu einem bestimmten Ge4 Τ h i e 1 i c k e, Fragen des Christentums. ¡ 67 horsam, zu einer bestimmten Hingabe entschlossen ist. Ohne diese Existenzhaltung ist der Glaube nicht möglich, weil man ihn dann nicht wünschen kann. „An Gott glauben ist nun an und für sich zwar nicht schwer, für jeden wenigstens, der keine Ursache hat, ihn nicht zu wünschen und bei welchem daher der Wunsch der Vater des Gedankens ist. . . . Aus diesem Grunde ist ein wirklicher Glaube an Gott ohne einen gleichzeitigen Entschluß zum Guten eigentlich unmöglich für jedermann; das ist die ewige Quelle des Atheismus, der in irgendeiner Form immer wiederkehrt" (Hilty) 1). Der Schrumpfungsvorgang, von dem wir sprachen, kann also nicht einfach in einem physiologisch zu verstehenden Organverlust bestehen, sondern er besteht in der ganzen, vom Willen geleiteten Einstellung der Existenz, die schließlich den, welchen sie nicht wahrhaben w i l l , auch nicht mehr für wahr h ä l t . Es ist keine Organ-, sondern eine Existenzfrage. Es ist nicht so, als ob man keine Antenne für diese Realitäten hätte, sondern man stellt den Radio-Apparat ab. Nur wenn ich bereit bin, Gott a η zuerkennen, kann ich ihn auch erkennen. (Es ist eben n i c h t umgekehrt!). „Wer aus der Wahrheit i s t , der höret meine Stimme". Wer aber die falsche „Einstellung" zu Gott hat, bekommt ihn überhaupt nicht ins Visier. Nun wird sich natürlich sofort die Frage ergeben — oder ist sie nicht in alledem schon beantwortet? —, was den Menschen und besonders den Menschen des Säkularismus bewegen könnte, Gott jene Anerkennung zu versagen und damit einer Art Schrumpfung seiner religiösen Erkenntnis zu verfallen : *) Vgl. auch H a m a n n : Ausgabe Dietrich S. 120. Ferner Ps. 119 V. 100: „Ich bin klüger denn die Alten; (warum? etwa weil ich eine klarer denkende Vernunft besitze? Nein!) d e n n i c h h a l t e d e i n e G e b o t e", ich befinde mich also in der rechten Existenzhaltung gegenüber Gott; beachte auch Pascal, „Gedanken" (herausg. von Guardini) S. 173, die ganz entsprechenden Gedanken). 68 Gott anerkennen heißt ja (im Blick auf Gesetz und Evangelium): daß wir uns dem Gerichte Gottes stellen, uns von ihm zerbrechen, von ihm heimsuchen und heimholen lassen und ganz neu beginnen müssen, weil wir die Fremde erkennen, in der wir uns befinden. Dieses „Stirb und Werde", das darin für unser aller persönliches Leben beschlossen liegt, ist immer zunächst schmerzhaft. Das Licht Gottes tut immer zuerst weh, weil es ein schmerzhaftes und entlarvendes Licht ist, ehe es dann das erleuchtende und wärmende Licht eines neuen Lebenstages wird, in dem wir unter der Vergebung Gottes leben dürfen1). Das Nicht-Vorhandensein der Wahrheit Gottes im Säkularismus ist also kein „Tatbestand", der nur zu konstatieren wäre und zwar als das Ergebnis eines eigengesetzlichen psychologischen Prozesses zu konstatieren wäre -, s o n d e r n e s i s t e i n e „ T a t " d e s M e n s c h e n . Mit einem modernen und geläufigen Terminus könnte man diese „Tat" als „V e r d r ä n g u n g " bezeichnen. Die letzte Frage wird aus dem Leben eliminiert. Schon der Lebensstil im Zeitalter der Säkularisation ist dafür charakteristisch: Verdrängung der Gottesfrage und moderner Lebensstil 1) ι . Der heutige Mensch vermag in den seltensten Fällen allein zu sein. Es „ödet" ihn dann an. Wer oder was ist dieses *) Bei dem angedeuteten Verhältnis von Gesetz und Evangelium handelt es sich selbstverständlich nicht um ein historisches Nacheinander von Sterben und Werden. Erst indem wir uns heimgeholt wissen, wird uns oft genug nachträglich der Schrecken über die hinter uns liegende Fremde ankommen. Eigentlich ist das die typische Reihenfolge des Büß- und Umkehrgeschehens. Uns kommt es in den obigen Sätzen hauptsächlich auf die Feststellung an, daß der dem christlichen Glauben Fernstehende immer nur das „Absterben", das „Lassen" und den Schmerz der Änderung sieht. Das alles pflegt für ihn das erste zu sein. 2) Vgl. zum folgenden auch verwandte Gedankengänge in meinem Buch: Tod und Leben (Genf 1945, Tübingen 21946), von dem ich hier einige Formulierungen übernehme. 4* 69 „Es"? Ist es nicht die' Leere jenes Ortes, an dem eigentlich „Er" stehen sollte? Müssen wir nicht so etwas lesen aus der Leere des Blickes, mit dem die Menschen durch die Straßen gehen und in der Untergrundbahn sitzen? Schon Pascal sagt in einer merkwürdigen Vorwegerkenntnis der Säkularisation: das sei der Jammer seines Jahrhunderts, daß die Menschen nicht allein in einem Zimmer bleiben könnten (Budenangst). Der Mensch findet in der Tat die unmöglichsten Formen, um dem Alleinsein auszuweichen : Das Faltboot ist meist mit einem Koffergrammophon versehen, damit man sich wenigstens eine andere Stimme vortäuscht und nicht allein ist. Daß es auch d a n η mitgenommen zu werden pflegt, wenn man zu mehreren ist, ist nur ein Zeichen dessen, daß, wenn das Gegenüber des g ö t t l i c h e n Du geschwunden ist, auf die Dauer auch das Gegenüber des m e n s c h l i c h e n Du schwindet und dann jenes Gespräch erlischt, das der unter Gott stehende Mensch mit Worten oder auch im Schweigen mit dem andern führt (Walter Flex). Am erschütterndsten hat wohl Jean Paul von dieser Ich-Einsamkeit angesichts des entschwundenen Gottes gehandelt („Predigt des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei") : ,,. . . . das ganze geistige Universum wird durch die Hand des Atheismus zersprengt und zerschlagen in zahllose quecksilberne Punkte von Ichs, welche blinken, rinnen, rinnen, irren, zusammen- und auseinanderfliehen, ohne Einheit und Bestand. Niemand ist im All so sehr allein als ein Gottesleugner — er trauert mit einem verwaiseten Herzen, das den Vater verloren, neben dem unermeßlichen Leichnam der Natur, den kein Weltgeist regt und zusammenhält, und der im Grabe wächst; er trauert so lange, bis er sich selber abbröckelt von der Leiche. Die ganze Welt ruhet vor ihm wie die große halb im Sande liegende Sphinx aus Stein; und das All ist die kalte eiserne Maske der gestaltlosen Ewigkeit." 70 Dann folgt der verzweifelte Ausruf: „. . . . wie ist jeder so allein in der weiten Leichengruft des Alls ! Ich bin nur neben mir — O Vater ! o Vater ! wo ist deine unendliche Brust, daß ich an ihr ruhe? Ach, wenn jedes Ich sein eigener Vater und Schöpfer ist, warum kann es nicht auch sein eigener Würgengel sein? . . ." Auch die ganztägige Benutzung des Rundfunks, gleich, ob man „hört" oder ob man — wie in den meisten Fällen - seinen Klang nur als Geräuschkulisse zum Arbeiten und Reden braucht, ist dafür ein Kennzeichen. Wir können nämlich folgende Beobachtung machen: Der Mensch braucht neben dem, was ihn gerade beschäftigt und womit er sich „gegenständlich" befaßt, sozusagen noch etwas, das ihn „ungegenständlich" engagiert. Beispiel: Ein Mensch befindet sich in einer traurigen oder gar verzweifelten Stimmung. Um sich abzulenken und von seinen trüben Gedanken loszukommen, besucht er ein Varieté, dessen Unterhaltung ihn tatsächlich für einige Stunden fesselt und ihm ein kurzes Vergessen seiner selbst gewährt. Trotzdem wird es ein großer Unterschied sein zwischen einem Menschen, der aus Gründen der Depression die Varieteunterhaltung aufsucht, und einem andern Menschen, der sich in heiterster Laune befindet und jene Unterhaltung benutzt, um dieser Heiterkeit ein Ventil und einen Ausdruck zu verschaffen. Beim ersteren bleibt auch dann, wenn er gegenständlich von den Bühnenvorgängen aufs heftigste gefesselt ist, ein Empfinden dafür erhalten, daß der ungegenständliche Hintergrund seiner Seele nicht in Ordnung ist und daß ein dunkler Begleiter hinter seinem Rücken steht. Sein Lachen wird anders klingen und gequälter sein als das des Heiteren. (Wir kennen diese Vorgänge und Hintergründe des Fröhlichseins ja alle — und wahrlich nicht nur aus dem Parkett des Varietés.) Z u e i n e r g a n z e n F r ö h l i c h k e i t g e h ö r t e s , daß der Hintergrund des Lebens 71 i n O r d n u n g i s t , daß wir in Frieden mit Gott sind. Erst dann kann es in einem totalen Sinne heißen: Freuet euch in dem Herrn allewege (Phil. 4,4). E s i s t d i e F r e u d e v o r d e m g e o r d n e t e n H i n t e r g r u n d . Und diese Freude kann paradoxerweise auch dann bestehen, wenn im Vordergrund nicht der Humorist des Varietés, sondern wie bei Paulus der Kerkermeister steht. Ich sagte : Der Mensch braucht außer dem, was ihn gegenständlich beschäftigt, noch einen ungegenständlichen Hintergrund seines Lebens. Und nun frage ich: Gewinnt von hier aus die Geräuschkulisse des dauernd angestellten Radios nicht einen neuen Sinn? Und zwar einen t h e o l o g i s c h e n und überhaupt n u r auf dieser Ebene einsichtigen Sinn? Was ist denn eine Geräuschkulisse, die ich bei der Arbeit oder beim Gespräch sozusagen um mich herum aufbaue, anders als ein Ersatz für diesen ungegenständlichen Hintergrund meines Lebens, der eben n i c h t in Ordnung ist, weil ich keinen Frieden mit Gott habe ? Ist diese Geräuschkulisse nicht der Versuch, mich nicht nur nach vorne zu sichern (indem ich mich nämlich von meiner gegenständlichen Arbeit hinnehmen lasse), sondern zugleich der Versuch, auch das übrige, das Hintergründige in mir, die n i c h t von der Arbeit engagierten Bereiche in mir noch mit Beschlag zu belegen und sozusagen zu beschäftigen? Radio plus Arbeit — als Kennzeichen des säkularisierten Lebensstiles — sind der Versuch, mein gesamtes Ich niederzuhalten und zu engagieren, damit keine von den schrecklichen Stimmen der Fremde, der Öde und der Verlassenheit in mir hochkommen kann. D a s ist die Theologie des Rundfunks, wenn man den Lebensstil bedenkt, in den er eingefügt ist. 2. Damit hängt eine weitere Erscheinung des modernen Lebens zusammen: der Z e i t m a n g e l , den jeder v e r w ü n s c h t und den doch die meisten positiv w ü n s c h e n . 72 Unter Soldaten kann man besonders deutlich diese Beobachtung machen: Es gibt für die meisten nichts Schlimmeres, als eine dienstfreie Stunde zu durchleben, in der keine Unterhaltung geboten wird und die man aus irgendeinem Grunde nicht verschlafen kann. Man weiß nicht, wie man über diesen „garstigen breiten Zeitgraben" hinüber soll, man hat geradezu so etwas, was ich als „zeitliche Platzangst" bezeichnen . möchte. Aus dieser Mentalität stammt das schreckliche Wort, daß man die Zeit „vertreiben" oder gar „totschlagen" müsse. Man vertreibt im allgemeinen nur Feinde. Also ist die Zeit mein F e i n d . Ich muß sie vertreiben, weil sie auf die Ewigkeit oder auf das Nichts zuführt. Darum lärmt man in der Sylvesternacht, weil das Gras der Zeit hier besonders vernehmlich wächst. Man vertreibt die Zeit und meint die Ewigkeit, weil sie eine ungeklärte und deshalb quälende Frage ist. ' Und es spielt auch nicht die geringste Rolle, daß der säkularisierte Mensch für die Ewigkeit konstant gewisse verhüllende Chiffren wählt: etwa die Worte „Torschluß" oder „Tod" oder „Nach uns die Sintflut" oder „Schicksal" — und wie sie alle heißen mögen. Unterhalb seiner Geheimsprache für die letzten Wirklichkeiten weiß er ganz genau, worum es geht, zum mindesten unbewußt. Er ist immer besetzt und m u ß sich besetzen lassen. Von wem? Sollte darauf eine persönliche Größe, sollte darauf der „Herr dieser Welt" die Antwort sein müssen? 3. Alles, was an die Grenzen der Menschlichkeit gemahnt, ist aus dem sichtbaren Leben getilgt. Auf den Straßen sind keine Leichenzüge zu sehen, der Schrei der Gebärenden verhallt hinter schalldichten Klinikwänden, die Schrecken des Krankseins sind dem Augenschein entzogen, die Irren sind an die unsichtbare Peripherie des Lebens oder gar a u s dem Leben gedrängt. In Kino und Theater sieht man nur lachendes Leben. Und selbst die historischen Filme der letzten 73 Jahre, in denen Gestalten erscheinen, die Selbstmord begangen haben, pflegen dieses Ende in einen „versöhnlichen Schluß" umzudichten *). Wenn irgendwo, so werden hier Furcht und Hoffnung als gestaltende Mächte der Lebensanschauung sichtbar. 4. Der mittelalterliche Mensch erholte sich, indem er sich „sammelte" ; der heutige erholt sich, indem er sich „zerstreut"; beide Formen der Erholung verhalten sich zueinander wie zentripetale und zentrifugale Tendenz. Auf das Zentrum kann man sich nur zurückziehen, wenn man sich hier geordnet weiß. Vor dem Zentrum muß man aber f l i e h e n , wenn die eigentlichen Lebensfragen nicht geordnet sind. Dann muß man wünschen, sich selber loszuwerden, nicht mehr zu sein — freilich nicht vernichtet und tot zu sein, sondern den genußfähigen Teil des Ich noch leben und sich ausleben zu lassen. Dieses Fliehen-vor-sich-selbst, diese vorübergehende Selbstzerstäubung in Atome nennt der säkularisierte Mensch „Zerstreuung"; und er wagt es, darunter Freude und Amüsement zu verstehen. Sein zerstreutes Lachen ist aber nichts anderes als eine Tat der Verzweiflung. „Immer spielt ihr und scherzt? Ihr müßt? o Freunde, mir geht dies In die Seele, denn dies müssen Verzweifelte nur." (Hölderlin) Die letzten Fragen sind ein öffentliches Geheimnis geworden. Sie sind verdrängt und dennoch da. In Tod, Leid und Schuld brechen sie auf. Hier zeigt sich die fürchterliche Hilflosigkeit des religiös ausgebrannten Menschen. Hier ist die seelsorgerliche Aufgabe. Es ist eben unmöglich, daß ein Volk je wieder vergessen könnte, daß es einmal im Lichte Gottes, unter der Wahrheit, wandeln durfte und daß ihm vergönnt war, sich selber und Gott im Lichte dieser Wahrheit zu sehen. Man kann das nicht vergessen. Das deutsche Volk schleppt das Erbe des Evangeliums in tausend Kanälen seiner Tradition, seines Denkens *) Diesel, Friedrich List u. a. 74 und seines unbewußten Ethos mit. Ich sage: Man kann das nicht „vergessen". Man kann das nur „verdrängen". Darum gibt es auch kein nachchristliches Heidentum, kein „Neuheidentum", sondern nur Unruhe und Angst des heimlich d e n n o c h Wissenden, Unruhe und Angst hinter der Maske des Menschen, der „Haltung" bewahrt inmitten der Unwahrheit, aus der er existiert. Es sind Unruhe und Angst eines Wissenden, den der 139. Psalm beschreibt, wenn er die heimlichste Sehnsucht jenes Wissenden so interpretiert, daß er ihn bitten läßt: „Finsternis möge mich decken" — eine Finsternis, in der ich vor Gott sicher und unauffindbar bin — um dann sogleich fortfahren zu müssen: „so muß doch' die Nacht um mich her licht sein." Ausblick Wenn man Gott verloren hat, hat man den Grund verloren, auf dem man steht; insofern hat man sich selbst verloren. Man erschrickt vor der zurückbleibenden Leere. Nicht nur die Physik, auch der Mensch hat und kennt einen horror vacui. Diesem Schatten, der von nichts mehr geworfen wird (um ein Bild Jean Pauls zu gebrauchen), fürchtet der Mensch zu begegnen. Deshalb stürzt er sich in künstliche Füllungen. Diese Füllungen aber bestehen keineswegs nur in Exzessen. Auch eine bestimmte Form der Arbeit vermag diesen Dienst zu tun. Damit hängt es zusammen, daß die Verdrängung des Nichts mit großen Lebensleistungen zusammengehen kann, genau so wie die Verdrängung der Angst mit Heroismus. Aber gerade w e i l das so ist, tritt uns die Wahrheit des biblischen Gedankens entgegen, daß es nicht auf den Inhalt der Klammer, sondern auf das Vorzeichen ankommt. Dieser Mensch der Leere und des Mittelpunktes, der Mensch inmitten des verdunkelten Horizontes, vor sich selber fliehend und erfüllt von dunklen.Ahnungen, wird erschütternd sicht 75 bar gemacht von Gerhard Schumann in seinem Gedichtband „Wir aber sind das Korn". Man möchte sagen: in dieser fast hellseherischen Schau kann der säkularisierte Mensch sich selber nicht sehen. Diese Helle kann nur im Lichte Gottes selbst gesehen sein — oder aber in der über einem zusammenschlagenden Nacht, die in ihren dunkelsten und verzweifeisten Stunden immer wieder die Anamnesis an jene Konturen im Lichte beschwört. Es ist die Schau des Menschen der Nacht, wie man sie nur vom Hellen aus sehen kann, und die man nicht zu vergessen vermag, wenn man selbst wieder dieser Nacht verfällt: Wir sind die Mitte von der Welt umkreist. Wir sind sehr stolz, doch innen lauert Angst. Verlorner Gott, läßt du dich wiederfinden? Wir reden, weil es tödlich uns umschweigt. Wir jagen, die aus Angst zur Tat Verfluchten, Die immer nur die eigne Fratze zeigt. Wir hören schon das Schreiten des Gerichts. Wir tun, als ob wir eifrig etwas suchten, Und wissen schon: Wir finden nur das Nichts. Man wird verstehen, daß es von hier aus keine geradlinige Weiterentwicklung geben kann, vor allem nicht so etwas wie „Vollendung der Reformation". Wir sind in einer Sackgasse schlimmster und verhängnisvollster Art. Es gibt von hier aus nur den gleichen Ruf zum „Zurück", in dem alle echten Reformationen der Kirche gründeten: zurück nämlich zu dem in Gericht und Gnade an den Menschen ergehenden Wort, zu dem fleischgewordenen Wort, das die Mitte der Geschichte ist. Es geht wahrhaftig nicht darum, das Rad der Zeit, das Rad der Geschichte z u r ü c k z u d r e h e n . Es geht überhaupt nicht um ein Problem der Zeit, sondern um den H e r r n der Zeit. Und es geht überhaupt nicht um das Rad der Geschichte, sondern um die Achse, um die es schwingt. Es geht um die M i t t e . 76 Deshalb darf man das „Zurück" nicht zeitlich mißverstehen, sondern als jenes metanoeite des Neuen Testaments, als jene Umkehr, jene „Heimkehr", die der 90. Psalm in die Worte faßt: Kehret wieder, Menschenkinderl Es ist das Ergreifen, das Wiederergreifen einer Bestimmung, der wir untreu geworden sind. Es ist die Rückkehr zu einem Frieden, der in der Christnacht ausgerufen wurde und aus dem wir gewichen sind in eine Friedlosigkeit und eine Fremde, von der die Steine schreien. 77 EXKURS ZUM 1. KAPITEL Exkurs über Ernst Jüngers Überwindung des Nihilismus Bis hierher, d. h. bis zu dieser Forderung der „Heimkehr", stand der Text dieses Buches fest und war auch so in seiner Schweizer Ausgabe bereits veröffentlicht, als mir im Oktober 1945 eine Äußerung Ernst Jüngers im Manuskript bekannt wurde, die betitelt ist: „Der Friede. Ein Wort an die Jugend Europas. Ein Wort an die Jugend der Welt." Wir haben im vorliegenden Kapitel E. Jünger, den klassischen Verdichter der Kampfinstinkte, den Menschen der „Haltung" und des „abenteuerlichen Herzens" als Interpreten und Repräsentanten eines konsequenten ,heroischen Nihilismus* dargestellt. Wir sahen in ihm in gewisser Weise den Fortsetzer Nietzsches, wenn wir an die heroischtragische Grundstimmung seiner Dichtungen, an die aristokratische Einsamkeit, an die hohe Rangeinstufung des Instinkts und der metarationalen Kräfte sowie an die Größe und schlackenlose Helle des literarischen Stils denken. Wiederholt mußten wir bei der Analyse der abendländischen Situation, besonders hinsichtlich der politischscheinidealistischen Weltanschauungen zum Ausdruck bringen : „das endet im Nihilismus" -und zwar eben in jenem von Ernst Jünger in höchster Prägnanz zum Ausdruck gebrachten Nihilismus. Aber diese Diagnose und Prognose kann nicht vollzogen werden, ohne noch die weitere Frage zu stellen: I s t denn der Nihilismus überhaupt ein „Ende"? Wenn man auf die 78 Gesetzmäßigkeit menschlicher Entwicklungsbahnen blickt, scheinen sich zwei Möglichkeiten der Fortsetzung jenseits des Nihilismus zu ergeben: E n t w e d e r die Potenzierung des Nihil, d. h. die völlige Entpersönlichung des Menschen und seine Degradierung zur bloß exemplarischen Kollektivexistenz (wobei man freilich wiederum ernstlich fragen könnte, ob diese konsequente „Selbst"-Verleugnung des Menschen überhaupt eine echte Möglichkeit sei und ob die Menschlichkeit des Menschen sich nicht zumindest in untergründiger Weise bleibend zum Wort melden müsse. Biblisch ist die Sache jedenfalls zweifellos so, daß der Mensch auch im Stande der konsequenten „Selbst-veirleugnungv" auf seine Menschlichkeit hin angesprochen werden kann und daß er sich weder kollektivistisch zu verdampfen noch mit den „Flügeln der Morgenröte ans äußerste Meer" zu begeben vermag). O d e r aber der Nihilismus strebt aus der Schwebelage seiner lavierenden Haltung heraus und sehnt sich nach echten oder auch nach unechten Halten, auf jeden Fall aber nach H a l t e n zurück. Die unechten Halte erkennt man im nihilistischen Lebensstil.überall da, wo der A b e r g l a u b e in Anspruch genommen wird : Es meldet sich hier ein dunkler Instinkt für die Existenz und Anwesenheit höherer Mächte, mit denen man sich in Einklang zu bringen versucht. Die Unechtheit dieses Haltes zeigt sich dabei nicht nur in der magischen Herabwürdigung jener höheren Mächte, die auf diese Art einen objektiven Zerrbild-Charakter empfangen, sondern vor allem auch in der s u b j e k t i v e n Art des Sich-verhaltens zu ihnen : Denn man verhält sich nicht zu ihnen im Sinne echten Dienstes (wozu ja auch eine echte Autorität gehören würde), sondern im Sinne einer Eventualversicherung : Man stellt sich mit ihnen gut „für den Fall", und zwar für den sehr hypothetischen Fall, daß ihnen' realer Rang zukommen s o l l t e ; 79 und weil es sich hier nur um einen Potentialis handelt, auf den man sich nicht verlassen kann, trifft man vorher alle praktisch-realen Sicherungsmaßnahmen, die sich nur erdenken lassen: Der Talisman im Auto e r s e t z t nicht Öldruckbremse und Sekuritscheibe, sondern er bildet eine Zusatz-und Eventualversicherung, die jedenfalls „nichts schaden" kann. Dadurch unterscheidet sich die Magie des Säkularismus, in welcher die nihilistische Haltung sich einen neuen Halt zu geben versucht, grundsätzlich vom Charakter der urtümlichen Magie. Aber wie dem auch sei, ob es um echte oder unechte Halte, ob es um eine neue Irrung oder aber um echte Heimkehr geht: der Nihilismus ist jedenfalls nicht einfach ein Schlußpunkt, nach welchem nichts mehr käme. Eben deshalb mußte man den Weg des sauberen, klar profilierten und darum mit starken Durchhaltekräften ausgestatteten Nihilisten, mußte man den Weg Ernst Jüngers mit außerordentlicher Spannung verfolgen, weil er den Rang eines menschlichen Paradigmas für diese Lebenshaltung zu haben scheint. Und wenn wir nun die über den Nihilismus hinausdrängende Lebenskurve in einigen Punkten festzulegen versuchen, dann verfolgen wir damit nicht den Nebengedanken, als könne der Nihilismus dialektisch ins Christentum um- und zurückschlagen, als habe er also ein erbauliches Schlußkapitel. Die Berufung in den Christenstand gründet vielmehr immer im Wunder des heiligen Geistes und nicht in einer automatischen Dialektik. Was jenem dialektischen Gesetz allenfalls möglich ist, besteht höchstens in der Hinführung zu jenen unechten Halten, weil nach den Gesetzen der Psychologie die abenteuerliche Existenz immer befristet ist und sich, durch Erfahrung gewitzigt, in den Frieden der Vernunft, des Phlegmas, des Kosmos oder des Spießertums (die Nuancen dieses Friedens ließen sich noch beliebig erweitern) zurücksehnt. In 6z Ernst Jünger dagegen meinen wir jenen echten Willen zu erkennen, der bereit ist, sich die Wahrheit neu schenken zu lassen und ihr deshalb in derjenigen Haltung naht, die allein vom Segen der Verheißung getroffen wird. Da E. Jünger auch in dieser Phase seines Weges in Stellvertretung für viele spricht, und da die empirische Kirche auf dem Ohr, an das solche Stimmen dringen, notorisch schlecht zu hören pflegt, so bedarf es wohl eines besonderen Hinweises, daß es sich bei den folgenden Äußerungen nicht um ein intaktes oder gar theologisch schulmäßiges Kirchenchristentum handelt. Wenn ich recht sehe — man wird das freilich nur mit allen Vorbehalten aussprechen dürfen —, liegt in ihnen so etwas wie eine persönliche „Begegnung mit Jesus Christus" jedenfalls nicht in d e m Sinne vor, daß hier irgend ein übliches Bekehrungsschema angewendet werden könnte. Vielleicht hat dieses „Nicht-ferne-sein-vom-Reiche-Gottes", das man hier „allenfalls" meint konstatieren zu dürfen, sogar einen gewissermaßen pragmatischen Charakter und trägt damit die Zeichen seiner nihilistischen Herkunft, in der es nur noch Zwecke, aber keine Wahrheit mehr gab, noch deutlich an der Stirn. Denn die Hauptargumentation, mit der sich Jünger nun positiv mit dem Christenglauben auseinandersetzt, ist deutlich auf folgenden Ton gestimmt: Offenbar enthalten Gesetz und Evangelium der christlichen Botschaft das Gradnetz in sich, in welches alles Leben eingezeichnet sein muß, sofern ihm ein Geborgensein in der kosmischen Ordnung und damit Bestand gewährt sein soll. Der Zweck der Weltordnung und Welterhaltung, der hier ganz deutlich als Kriterium fungiert, ist eben ein pragmatischer Gesichtspunkt. Aber man wird ihn trotzdem als ein Aufleuchten jener Wahrheit werten müssen, die sich selbst als Licht der Welt bezeichnet, um damit anzudeuten, daß Wahrheit und Welterhaltung hintergründig zusammenhängen und daß die Gottlosen eben in einem letzten Sinne auch T o r e n sind (Ps. 14, 1). Auch diese Gedanken und Er 81 wägungen vermögen Märkte und Zäune darzustellen, an denen die Boten des Königs ihre Mannschaft abholen. Jedenfalls will es mir scheinen, als ob in der großen Krisenstunde des Säkularismus, in der alle Freiheiten zu Knechtschaften, alle Ideale zu Irrlichtern und alle selbstgemachten Götter zu Dämonen geworden sind (wofür schon die antike Mythologie die entsprechenden Gesetze aufgezeigt hat), als ob in dieser Krisenstunde jene Zäune und Märkte besonders von der abendländischen Intelligenz in einer Weise bevölkert wären, die uns an das Asyl antiker Heiligtümer erinnern mag, wo die Gehetzten Ruhe und Schutz suchten und wo sie die erste Ahnung göttlicher Übermacht überkam. Nach diesen einleitenden und abgrenzenden Worten seien einige Partien des angekündigten Schriftsatzes von Ernst Jünger mitgeteilt 1). „Die wahre Besiegung des Nihilismus und damit der Friede wird nur mit Hilfe der Kirchen möglich sein. Genau so, wie die Zuverlässigkeit des Menschen im neuen Staate nicht etwa auf seiner Internationalität, sondern auf seiner Nationalität beruht, muß seine Beziehung auf Bekenntnis, nicht auf Indifferenz gerichtet sein. Er muß die Heimat kennen und zwar im Raum wie im Unendlichen und in der Zeit wie in der Ewigkeit. Und diese Bildung zum vollen Leben, zum ganzen Menschen muß wurzeln auf höherer Gewißheit, als sie der Staat mit seinen Schulen und seinen Universitäten begründen kann. Dazu bedürfen auch die Kirchen der Erneuerung, und zwar in jedem Sinne, der zugleich die Rückkehr zu den Fundamenten in sich schließt, denn jede echte Gesinnung, jedes neue Leben muß auf die Quellen zurückgreifen. Freilich ist das nur möglich in zeitlichem Gewände, und daher sind es neue Formen, in denen der Theologe auf die Menschen zu wirken hat. Der heutige Mensch will glauben. Er hat das durch die Kraft bewiesen, in der er seinen Sinn selbst an das Absurde, an flüchtige Hirngespinste hängte. Doch ist er ein rationales Wesen, das es zunächst auf rationale Weise zum Heil zu wenden gilt. Um dem gerecht zu werden, darf freilich das Theologische nicht mehr ein Studium zweiten Ranges sein. Es müssen vielmehr der Theologie als der obersten der Wissenschaften nicht nur die be-1 x) Aus Ernst Jünger, Der Friede. Ein Wort an die Jugend Europas. Ein Wort an die Jugend der Welt (1943) geschrieben. 82 sten Herzen, sondern auch die besten Köpfe, die feinsten Geister zuströmen - jene, die in den Einzeldisziplinen und selbst in der Philosophie nicht ihr Genüge finden, sondern die dem Ganzen, dem Universum zugeordnet sind. Dann handelt es sich auch nicht mehr darum, die Ergebnisse der Einzel-Wissenschaften zu widerlegen, sondern sie auszuwerten, sie zu überflügeln nach Pascals Art. Auch so erst werden die Wissenschaften nicht geistig, sondern selbst ökonomisch fruchtbar, bewahrt vor jenem seltsamen Verluste, der trotz wachsender technischer Leistung den Menschen immer mehr beraubt. Es ist, als gösse er Wasser in einen Krug, von dem er nicht sieht, daß er in Scherben liegt. Ein solcher Zustand ist nur zu heilen durch Geister, die im Ganzen der Schöpfung leben. Nur dort ist Überfluß. Die christliche Kirche zeigte sich in den Feuerwelten und in den Malstromwirbeln des Nihilismus als Macht, die noch das Heil Unzähliger beschirmte, nicht nur von ihren Kanzeln und Altären, sondern auch in den Geistesdomen ihrer Lehre und in der Aura, die den Gläubigen umgibt, und die ihn auch in der Stunde des Todes nicht verläßt. Es zeugten neue Märtyrer für sie. Auch mußte der Mensch erfahren, daß ihm inmitten der Katastrophe keines der ausgeklügelten Systeme und keine seiner Lehren und Schriften Rat gewährte, es sei denn zum Schlimmeren. Sie führten alle auf Tötung zu und auf Verehrung der Gewalt. Dagegen trat in den Wirbeln des Untergangs deutlicher als jemals die Wirklichkeit der großen Bilder der Heiligen Schrift und ihrer Gebote, Verheißungen und Offenbarungen hervor. In den Symbolen des göttlichen Ursprungs, der Schöpfung, des Sündenfalls, in den Bildern von Kain und Abel, von der Sintflut, von Sodom und vom Turm zu Babel, in den Psalmen, Propheten und in der den niederen Gesetzen der Schreckenswelt höchst überlegenen Wahrheit des Neuen Testa- ' ments ist uns das Muster, das ewige Gradnetz vorgezeichnet, das menschlicher Historie und menschlicher Geographie zugrunde liegt. Daher läßt sich auf diesem Buche auch jeder Bund beschwören, so wie es die Männer von Pitcarn taten, die Überlebenden von Schiffbrüchigen auf einer Insel des Stillen Ozeans. Sie hatten dort wie Wölfe einander nachgestellt, bis endlich die höhere Natur in ihnen zum Frieden Kraft gewann. Auf jenem Eiland erkannte man die Rückkehr als moralische Notwendigkeit und gründete auf sie die Institution. Das zeichnet sich auch für unsere Lage vor. Die Massen sind zunächst zur christlichen Moral zurückzuführen, ohne die sie der Vernichtung ganz schutzlos preisgegeben sind. Das ist der Menschenweg, die Nachfolge des großen Menschenvorbilds, doch wird er vergeblich bleiben, wenn nicht zugleich hoch über jeder bloßen Sitte der Zugang zum göttlichen Bilde gefunden wird. Ihn aber können nur kleine Eliten beschreiten". Soweit Ernst Jünger. 5 T h i e l i c k e , Fragen des Christentums. 83 Er selbst dürfte sich wohl kaum in voller Klarheit darüber befinden, wie sehr er in den letzten Sätzen — die durch den Begriff der jjElite" ziemlich stark nach einem säkular-aristokratischen Ausleseprinzip schmecken - eine Erkenntnis zum Ausdruck bringt, die ein Gemeingut der theologischen Tradition des Luthertums ist. Wenn Jünger davon spricht, daß die Massen zunächst „zur christlichen Moral zurückzuführen" seien, sofern sie nicht der Vernichtung schutzlos preisgegeben sein sollen, so meint er damit unter der Maske einer ganz un-schulmäßigen Terminologie zweifellos dasselbe, was man in jener Tradition als den „tertius usus legis" (= den „dritten Gebrauch des Gesetzes") bezeichnet. Das Gesetz Gottes hat nämlich unter anderem die Funktion, in der gefallenen, von gefährlichen Chaosmächten durchsetzten Welt einen Krieg aller gegen alle zu verhüten; es hat die Aufgabe, dem Menschen mehr oder weniger gewaltsam (coerceré) Grenzen zu setzen und dem Rechtsbrecher Strafe anzudrohen. Es hat den Menschen vor dem Menschen zu schützen. Und es tut dies zunächst ohne Rücksicht darauf, ob der Mensch zu dem Urheber des Gesetzes ein persönliches KindVater-Verhältnis besitzt und ob er den Sinn jener göttlichen Verfügungen einsieht und sich zu eigen macht. Unter diesem Gesetze Gottes müssen alle Menschen stehen, Fromme und Gottlose, Heilige und Spötter, Christen und Heiden, weil es gleichsam die allgemeinverbindliche Geschäftsordnung repräsentiert, welche die unerläßliche Vorbedingung für eine menschliche Existenzform in der Gemeinschaft ist und damit für menschliches Leben überhaupt. So sehr also diese Gebote einen christlichen Ursprung besitzen und im „Fürchten und Lieben" Gottes gründen, so wenig braucht dieser Ursprung denen zum Bewußtsein zu kommen, die unter ihrer Gewalt stehen genau so wenig, wie die soziologischen, psychologischen, pädagogischen und u. U. sogar metaphysischen Erwägungen, die hinter der Schaffung des Strafgesetzbuches 84 stehen, denen deutlich zu werden brauchen, für die es verbindlich ist und die — ob nun durch sittliche Überzeugung oder durch knechtische Furcht (timor servilis) - dadurch in Schach gehalten werden sollen. Aber Ernst Jünger weiß noch mehr: Er weiß, daß dieses Gebot ständig in seinem autoritären Rang bekräftigt werden muß, wenn es nicht zur toten Gesetzlichkeit und 2M sinnentleertem Formalismus herabsinken soll. Christliche Autoritäten und christliche Gesittung kann es auf die Dauer nicht geben, wenn nicht ein Kreis von Menschen vorhanden ist, der zum U r s p r u n g jener Autoritäten, der zum Urheber des Gesetzes eine lebendige persönliche Beziehung unterhält und also nicht nur die normae normatae, sondern auch die norma normans kennt. Die zehn Gebote der Bibel bringen das dadurch zum Ausdruck, daß an der Spitze das e r s t e Gebot steht und daß dieses erste Gebot die Bedeutung einer alle folgenden Gebote autorisierenden Präambel besitzt: „Ich bin der Herr dein Gott — ". Diese Tatsache begründet die Gehorsamspflicht gegenüber den Geboten der zweiten Tafel. Fällt diese Präambel dahin, so fallen auch die einzelnen praecepta mit. Eine Zeitlang werden sie freilich noch nachwirken, und man wird dann in solchen aufgeklärten und emanzipierten Zeiten strahlend versichern: Seht, es geht auch ohne das „religiöse" Fundament; es geht auch mit einer autonomen Ethik und einer vernünftigen, evidenten Rechts- und Sittenordnung. Diese Zeiten der großen Täuschung kehren in der Geschichte beinahe mit rhythmischer Regelmäßigkeit wieder. Man macht sich dabei nicht klar, daß hinter der gleichbleibenden Fassade der Gesittung ein Motivwechsel — etwa im Sinne einer Wandlung vom Religiösen zum Autonomen — eingetreten ist. Oder aber, wenn man es sich doch verdeutlicht, beruhigt man sich mit dem Argument, daß der Motivbereich ja zur „unsichtbaren", „inneren" Schicht des Menschen gehöre und keine realpoli{ 5* 67 tischen Konsequenzen habe. Das ist ein gewaltiger Irrtum. Wir haben ζ. B. bereits gesehen und werden in den folgenden Kapiteln noch deutlicher erkennen, wie nicht nur der Satz gilt: Wenn zwei dasselbe tun, so ist es nicht dasselbe (eben weil die Motive so verschieden sein können), sondern wie auch der andere Satz in Geltung ist: Wenn hinter derselben Tat verschiedene Beweggründe stehen, so wird auf die Dauer auch die Tat verschieden. .Man denke nur daran, wie verschieden man den Satz der,Nächstenliebe meinen kann: E n t w e d e r so, daß ich im andern das Ebenbild Gottes liebe, den also, den Gott selber lieb hat und der in diesem Geliebtsein seine Würde besitzt; o d e r etwa in dem Sinne: „Gemeinnutz geht vor Eigennutz", also im Sinne einer pragmatischen Maxime, die allein vom Gedanken gemeinschafts-erhaltender oder gar kollektivsetzender Grundsätze ausgeht, ohne nach der Autorität zu fragen, die hier gebietend im Hintergrund steht und ohne die Würde zu bedenken, an die das Gebot appelliert. Es ist selbstverständlich, daß die letztere Art der pragmatischen Motivierung dem Egoismus Tor und Tür öffnet, so gewiß die Nächstenliebe im Interesse der Selbstliebe liegt und darum im Konkurrenzfalle dieser auch sofort geopfert wird. Da der pragmatische Gesichtspunkt außerdem die Objekte, auf welche sich die Liebe beziehen soll, nach ihrem immanenten Lebenswert oder Lebensunwert abstuft und die letzteren Objekte u. U. der Euthanasie ausliefert, so ist dem Mißtrauen, dem Terror und der Furcht Tor und Tür geöffnet, und das Gebot, das im Programm die Gemeinschaft z u s a m m e n führen sollte, wirkt auf die Dauer gemeinschaftsprengend und -zersetzend. Damit hängt es auch zusammen, daß eine christliche Gesittung noch eine Zeitlang nachwirken kann, auch wenn sie von den speisenden Quellen einer persönlich getragenen Lebensverbindung mit Gott abgeschnitten ist. Aber nur eine Zeitlang. Sie hat den Charakter' einer Maschine, welcher der 86 treibende Strom entzogen ist und die im Leerlauf noch eine kurze Frist nachrollt. Wie schnell aber diese nachrollende Bewegung abzustoppen ist, konnten wir beobachten, als der politische Mythos in die „noch" christlich gefärbte Kultur und Gesittung hineinfuhr und sie weithin widerstandslos mit völlig entgegengesetzten Ideologien füllte. Darum ist auch christliche Gesittung und ist das „Naturrecht" des Dekalogs auf die Dauer nicht durch seine eigene naturrechtliche Evidenz oder durch seine praktische Unübertrefflichkeit aufrechtzuerhalten, sondern nur so, daß ihr Motivursprung lebendig in die Existenz hineingenommen wird. Dieser Motivursprung ist aber in dem zu sehen, was Luther in seiner Erklärung der 10 Gebote mit den Worten ausdrückt: „Wir sollen Gott fürchten und lieben . . .", wenn also wirklich die Liebe zu Gott die Summe des Gesetzes ist. Da aber diese Liebe zu Gott nur dann möglich ist, wenn nach den Worten der „Apologie" Gott uns eih objectum amabile (= ein liebenswerter Gegenstand) geworden ist, d. h. wenn wir uns von ihm geliebt und wenn wir ihn in Jesus Christus gegenwärtig sehen, so können die Gebote Gottes nur dann eine lebendige Präsenz unter uns haben, wenn der „Zugang zum göttlichen Bilde gefunden wird". Das bedeutet: Die Geltung der Gebote Gottes kann öffentlich nur dann in Kraft sein — auch unter denen, die keinen persönlichen Zugang zum auctor legis besitzen —, wenn eine zahlenmäßig noch so kleine Christenheit den Kontakt mit der Ewigkeit wahrt, wenn es eine wenn auch noch so winzige Gemeinde von solchen gibt, die den heiligen Rest bilden und als die zehn Gerechten in Sodom und Gomorrha stellvertretend für die andern einen Damm gegen die Chaos mächte bilden. Der Christ, der auf dem Dache als ein einsamer Vogel sein Liedlein singt, ist doch von immenser Bedeutung für die Stadt, über der er singt. Das meint wohl Jünger mit seinem Wort von den „kleinen Eliten". Er will damit sagen (und tut 87 das nun freilich so, daß der unglückliche Begriff der „Elite" dieses Anliegen fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt), daß in der Masse der Mitläufer und Zaungäste und bloßen Zeitgenossen eine ecclesia sein müsse, die den Anschluß an den Herrn des ersten Gebotes besitzt, während die schein- oder a- oder anti-christliche Masse nur allzuoft auf die zweite Tafel und damit auf die bloßen Ausführungsbestimmungen einer Anordnung und einer Ordnung blickt, die sie selber nicht kennt. Aber von diesem Kern hängt die Geschichte ab, so gewiß die Gemeinde auf der Brücke zwischen Zeit und Ewigkeit steht und damit die Verbindung zu jenen Bereichen offen hält, aus denen die immer neue Ermächtigung der Gebote und Gesittungen zu uns kommt und ohne die sie über Nacht vollmachtslos werden und wie das Gras verdorren. Die Ordnungen dieser Welt sind nicht mächtig durch ihre eigene Evidenz und durch das Licht der Vernunft, das für sie zeugt, sondern nur durch den, tier das Licht der Welt ist, weil er nicht a u s ihr scheint, sondern in sie hineinleuchtet. Weil E. Jünger das gesehen zu haben scheint, darum Hegt hier doch wohl mehr vor als ein pragmatischer Gesichtspunkt und als ein bloß dialektischer Umschlag des Nihilismus, der ihn nach irgendwelchen Halten greifen läßt, sondern darum könnte hier eine echte Kehrtwendung vorliegen in dem Sinne, daß verbrannt wird, was man vorher anbetete, und daß angebetet wird, was man vorher verbrannte. Und es bleibt nur der Wunsch auszusprechen (oder soll ich sagen: die Bitte? aber nicht an Menschen !), daß dieser Weg* stellvertretend für viele gegangen und ausgesprochen sein möchte, genau wie auch vorher die nihilistische Haltung in illusions- und schlak-kenloser Sauberkeit für viele durch die Gedanken jenes Mannes repräsentiert wurde. 88 ZWEITES KAPITEL KIRCHE, DOGMA, BINDUNG DIE SCHEU DES RELIGIÖSEN MENSCHEN VOR DER KIRCHE Reden und Verhüllen Ich glaube, es leuchtet ohne weiteres ein, warum ich das Doppelthema dieses Kapitels so formuliert habe. Denn die bekannte Scheu des „religiösen" und keineswegs nur des simpel „ungläubigen" Menschen vor der Kirche bezieht sich doch auf die drei genannten Mächte: auf „Kirche", „Dogma" und „Bindung", die dem modernen, aufgeklärten und frei sein wollenden Menschen ein gelindes Gruseln den Rücken hinunter jagen. Wie soll man das erklären? Irgend jemand hat einmal gesagt, daß der Mensch sich in seinem Reden mehr verhülle als offenbare. Das, was er wirklich meine, verschweige er meist, und was er dann doch sage, sei häufig Vorwand. Das gilt natürlich, so alt die Menschheit ist, besonders von der p o l i t i s c h e n Rede. Sie bedient sich - wenn man von ihrer positiven Sinnbestimmung einmal absieht — in hohem Maße der Kunst des Verschweigens oder des Ablenkens. Sie kann Verhüllungsmanöver großen Stils sein. Man braucht nur einmal an die rednerischen Kommentare zu gewissen Kriegserklärungen zu denken, um dafür eine plastische Illustration zu haben. Aber diese Verhüllungstendenz gilt keineswegs n u r von der politischen Rede, sondern genau so von dem, was der 7* Mensch zu den wesentlichen Entscheidungen seines p e r s ö n l i c h e n Lebens bemerkt: Wir brauchen nur daran zu denken, um ein einziges Beispiel herauszugreifen, was der Mensch sich über die Stellung zu seinem T o d e zurecht redet und was er alles in diesem Reden v e r s c h w e i g t . Wie vieles, was sich als lärmende Todesverachtung gebärdet — „lachend sterben", „stehend sterben" wurde es genannt in einer Zeit, als man weniger leicht in die Lage kam, sogleich eine Probe aufs Exempel machen zu müssen — wie vieles, sage ich, was sich als lärmende Todesverachtung gebärdet, ist n i c h t darin begründet, daß man wirklich mit dem Tode fertig geworden wäre, sondern ist'verdrängte Verzweiflung. Und heimlich werden dann doch die Bücher verschlungen *), die dem Menschen suggerieren möchten, das Sterben sei ein euphorischer Zustand des Behagens, es sei überhaupt nur auf A u g e n b l i c k e beschränkt und mitnichten ein „Sein zum Tode" des g a n z e n Daseins. In all seinem todesverachtenden Gerede v e r s c h w e i g t der Mensch mehr, als er herausläßt. Hierher möchte ich auch die Entschuldigungen gegenüber dem Anspruch Gottes zählen, wie sie Jesus im Gleichnis vom königlichen Mahl (Luk. 14, 18-20) berichtet: „Ich habe einen Acker gekauft, ich habe Ochsen angeschafft, ich habe ein Weib genommen — bitte sehr, entschuldige mich". Der Mensch behauptet, es sei ihm etwas dazwischen gekommen, und er verschweigt das viel Wesentlichere, daß es hier auf das Verhältnis der G e w i c h t e ankommt: daß nämlich dies „Dazwischengekommene" ihm gewichtiger ist als der Ruf Gottes und daß er vermutlich solche „Dazwischenkünfte" e r f i n d e n würde, wenn sie nicht faktisch gegeben wären; und das alles nur aus dem e i n e n Grunde, um sein Leben nicht einem H e r r n auszuliefern. Der wahre Grund für Absage und Nein wird also verschwiegen und durch einen „Vorwand" *) Barbarin, Der Tod als Freund; Wolf Sörrensen, Freund Hain. 90 getarnt. Es wird darum einfach stimmen, daß so und soviele Male, wenn man an diesem oder jenem biblischen Gedanken oder Bericht als „jüdisch" oder „unsittlich" oder „wesensfremd" Anstoß nimmt, nur ein Blitzableiter für das getroffene Gewissen gesucht wird : ein Vorwand also, kraft dessen man sich dem verhaftenden Griff des biblischen Wortes mit einem Noli me tangere entwindet. Wir werden wirklich sagen dürfen, daß der Mensch sich in seinem Reden mehr v e r h ü l l e als o f f e n b a r e . Das hat für unser konkretes Thema eine wichtige Folge: Wenn wir nämlich die Entscheidung des heutigen Menschen gegen Kirche und Christentum werten wollen, dann dürfen wir wohl die Argumente a n h ö r e n , in denen dieser Mensch seine Entscheidung begründet, wir werden aber fragen müssen, was sich sozusagen noch dahinter vollzieht und von ihm selbst vielleicht unbemerkt ist. Wir müssen den wirklichen „Grund" einerseits und den bewußten oder unbewußten „Vorwand" andererseits unterscheiden. Die Kirche als das unheimliche „gan^ andere" Wenn wir von der Scheu des religiösen Menschen vor der Kirche sprechen, so wissen wir alle, was damit gemeint ist. Wir können immer wieder die Beobachtung machen, daß Leute, die sozusagen religiös und vielleicht auch theologisch „interessiert" sind, die sogar kirchliches Schrifttum lesen, mit keinem Mittel in die Kirche transportiert werden können, selbst wenn der Autor eines von ihnen gelesenen und geschätzten Buches dort spricht. Es besteht anscheinend eine geheime und schier unüberwindliche Scheu vor jener feurigen Zone, die den sakralen Raum umgrenzt, und ihre äußere Bannmeile pflegt auch von respektlosen Naturen peinlichst respektiert zu werden. Es ist, wie wenn man durch Überschreiten jener Grenze zu einer Entscheidung und einem Be 91 kenntnis genötigt würde, während man sich in der Etappe eines unverbindlichen Interessieitseins viel wohler fühlt. Diesen Zustand gilt es zu analysieren. Was man gegen die Kirche „hat", bezieht sich im wesentlichen auf die B o t s c h a f t der Kirche. Und nun sollte uns freilich schon die Vielstimmigkeit jenes Chores der Ein-und Vorwände aufhorchen lassen und uns die Frage nahelegen, ob hinter jener Vielzahl nicht ein einziger und wirklicher Grund, aber eben wirklich ein „G r u n d " und kein „V o r w a η d" stehen sollte, der sich dann erst später und nachträglich in jene Vielzahl, in jene sieben Farben des Spektrums, zerlegt. Ich zähle nur einige Stimmen jenes Chores auf: a) Da ist die Stimme der Erkenntnistheoretiker, die nur noch die rhetorisch gemeinte Frage aussprechen können, wie man denn „Erfahrung" von Gott und seiner jenseitigen Welt haben könne. Der Anspruch der Kirche, der so tief in das Diesseits unseres Lebens eingreife, hänge, was seine Begründung anlangt, in der Luft des unkontrollierbaren Drüben. b) Da spricht Nietzsche — und mit ihm seine vitalistischen Nachbeter -, daß nur d a s den Titel „Wahrheit" verlangen könne, was dem Leben diene und es steigere. Das Christentum aber sei und wirke (vielleicht weil es den Anspruch erhebe, die Wahrheit „an sich" und damit auch die Wahrheit in ihren Abgründen zu verkünden) negativ, lähmend und destruktiv. c) Und der „Mythos unseres Jahrhunderts" endlich spricht von dem Christentum als einer östlichen, unser Blut belastenden und artfremd überlagernden Ideologie. Das Merkwürdige an dieser beliebig fortzusetzenden Reihe ist dies, daß sich auch extreme Haltungen und Anschauungen in diesem e i n e n Punkte des Noli me tangere gegenüber Christus f i n d e n . Herodes und Pontius Pilatus, sonst in allen Interessen Widerspieler, werden doch Freunde in diesem e i n e n Punkt. In e i n e r Front stehen hier Intel 92 lektuelle und Instinktmenschen, aufgeklärte Kosmopoliten und völkische Fanatiker, blutleere Asphaltliteraten und blonde Bestien: Löwen und Lämmer fressen d i e s Gras jedenfalls gemeinsam. Wir können die gemachten Feststellungen s o zusammenfassen : In der Kirche vergebe ich mir immer etwas, gleichgültig, ob ich mich nun als Vernunftträger oder als Lebensträger oder als Volksträger verstehe. Wie ich mich also auch selbst verstehen und definieren sollte, immer hegt die Kirche mit ihrer Botschaft wie ein erratischer Block, wie ein Fremdkörper im Horizont meiner Welt. Hier scheint mich eine Vergewaltigung meiner Existenz zu bedrohen, der gegenüber ich auf dem Qui vive sein muß. Ich fühle mich sozusagen, wenn wir uns zum Anwalt jenes Sprechchores machen wollen, in der Kirche einem schlechthin „andern" und mein So-sein „Bedrohenden" gegenüber. Und falls dies schlechthin andere gelten sollte — das fühle ich — müßte ich selbst mich e b e n f a l l s anders verstehen und vor allem anders w e r d e n , als ich es bisher tat und war. Und folglich stehe ich nun vor einer tief in mein Leben greifenden Alternative: E n t w e d e r diese kirchliche Institution o d e r ich. Das ist die Stimme des Selbstbehauptungstriebes, die jeder Soldat in der Bedrohung durch den Feind kennen lernt. Damit sind wir dem vorläufigen Teil unserer Bemühung, eine verborgene Einheit in der Vielzahl der Stimmen zu entdecken, bereits näher gekommen : Es ist die Empfindung des Fremden, des „andern", das mir im Namen eines unkontrollierbaren „Drüben" begegnet und das mich offenbar tatsächlich von allen Seiten umgibt (Ps. 139), gleichgültig in welchem Lager oder Weltanschauungsgehäuse ich auch sitzen mag. Es hat keine besondere Affinität zu e i n e m dieser Gehäuse, sondern steht ihnen allen als das „andere" gegenüber. Das ist übrigens ein dunkles und geheimes Zeichen dessen, wie wenig der christliche Glaube den sogenannten „andern Weltanschauungen" koordinierbar ist und wie sehr er — aus einer 93 grundsätzlich andern Dimension kommend - ihnen g e g e n übersteht. Begegnung mit Christus Um nun weiter zu kommen, müssen wir fragen, wie der im Gehäuse seiner Weltanschauung steckende Mensch s i c h selbst v e r s t e h t - jener Mensch also, der in der Begegnung mit der Kirche das Erlebnis des chokierend Fremden hat. Ich setze ein mit einer Analyse des Begriffs der „Begegnung" und nehme eine im folgenden zu erläuternde These vorweg : daß nämlich u n s e r e P e r s o n u n d unsere Art erst in der „Begegnung" mit dem andern entsteht. Wie konkret und alltäglich diese Erfahrung ist, kann man sich an einer Auslandsreise verdeutlichen. Man wird immer wieder entdecken, daß man dabei einen ganz neuen Blick für das Wesen des eigenen, ζ. B. des Deutschen oder auch des Europäischen bekommt. Dieses Wesen erschließt sich sozusagen erst in der G e g e n ü b e r s t e l l u n g mit dem andern, mit dem „Ausland" oder dem fremden Kontinent. Die Grenze ist der für die Erkenntnis fruchtbare Ort. Aber jenes Wesen e r s c h l i e ß t sich nicht nur am andern, sondern es b i l d e t sich auch an ihm: Eine Sache „wird" erst eigentlich von ihrer Grenze her, d. h. aber im Gegenüber zum andern1). Das Erlebnis des Eros stellt uns übrigens vor dasselbe Problem. Auch in ihm begegne ich dem andern und werde dadurch verändert. Legt man sich nun die Frage vor, ob die Liebe U m f o r m u n g , also ,,Von-mir-weg-Formung" bedeute, oder aber ob sie nicht gerade Herausformung *) Vgl. dazu: Wilh. Kamiah, „Christentum und Selbstbehauptung". Historische und philosophische Untersuchungen zur Entstehung des. Christentums und zu Augustine „Bürgerschaft Gottes", Frankfurt a. M. 1940; ferner zum Begriff der Begegnung die glänzende Untersuchung von Theodor Litt, Der deutsche Geist und das Christentum. Vom Wesen geschichtlicher Begegnung, Leipzig 1939. 94 meines eigentlichen Wesens, also ein „Zu-mir-selber-kommen" mit sich bringe, dann wird man sich unschwer zu der letzteren Antwort entschließen müssen: Auch der Eros übt die Funktion eines photographischen Entwicklers aus, der das eigentliche Bild meines Wesens erst zum Erscheinen bringt, während es o h n e die Begegnung mit dem andern verborgen geblieben und nie „herausgekommen" wäre. Der „andere" oder das „andere" gehört folglich ganz einfach zu meiner Selbstwerdung hinzu. Auch „ d a s " Andere: Man spricht heute viel davon, daß man einen bestimmten Typ erziehen wolle, etwa den Typ des kämpferischen Menschen. Es ist aber nun wichtig zu sehen, daß dieser Typ nur in der B e g e g n u n g mit dem a n d e r n , etwa in der Begegnung mit feindlichen Weltanschauungen und Kräftegruppen, also wiederum von seiner eigenen Grenze her, entsteht. Kunstmann sagt in einer Heidelberger Immatrikulationsrede einmal sehr prägnant: Der Typ entsteht immer an der A u f gäbe, d. h. nicht aus sich selber, sondern an dem, was ihm von außen „a u f gegeben" wird und ihm entgegentritt; er entsteht also einzig und allein an der Begegnung. Am tiefsten ist dieser Gedanke der Begegnung wohl von Theodor Litt in seiner ausgezeichneten Arbeit über das „Christentum und den deutschen Geist" gedacht und formuliert worden. Er sucht darin nachzuweisen, daß die sogenannte „deutsche Art" gerade an ihrer sich behauptenden und hingebenden Begegnung mit Christus entstanden und zu sich selbst gekommen sei. Mit Hilfe unseres obigen Beispieles könnten wir sagen: daß die Liebe des Deutschen zu Jesus Christus sein Wesen herausgeformt habe, sein Wesen also, das er ohne diese Liebe wohl nie gewonnen hätte und das er bei ihrer Preisgabe auch wieder verliert, wie wir es heute in , erschreckendem Maße erkennen. Die öffentliche Meinung pflegt zwar diesen Vorgang zu 95 bestreiten. Das zeigt sich nicht nur in der Stellung zum Christentum, sondern vor allem auch in der Pädagogik. Man möchte den Typ (ζ. B. das neue Menschenbild) nicht mehr in der Begegnung mit dem „andern" wachsen lassen, sondern ihn sozusagen chemisch rein und aus sich selbst heraus darstellen. Auch zukünftige, anders gerichtete Erziehungsziele, sofern sie betont a-christlich sind, werden darin nicht grundsätzlich anders sein. Vielleicht mußte man es in der Praxis so wollen, auch wenn es gar nicht im t h e o r e t i s c h e n Programm dieser Pädagogik vorgesehen wäre: Denn tatsächlich fehlt ja durch die totale Erfassung und Formung des Lebens, wie sie der Nationalsozialismus in so verhängnisvoller Weise versucht hat, „das andere", an dessen Gegensatz, Widerstand und Begegnung man sich „herausformen" lassen könnte. So muß man zu Ersatzmitteln greifen, um etwa Mut, Kampfkraft und Selbstbehauptung erziehlich zu wecken. (Vgl. ζ. B. das Erziehungsprogramm der Ordensburgen, die ohne sog. „Gegner" sind, und wo man die genannten Eigenschaften durch Fallschirmabspringen und ähnliche Mätzchen, die man Mutproben nennt, zu züchten versucht). Es ist selbstverständlich, daß auf diese Weise der geistige Mut, daß also das, was man als „Zivilkourage" bezeichnet, niemals entstehen kann und ja faktisch auch niemals entstanden i s t , sondern im Gegenteil einer persönlichen Feigheit ohnegleichen Platz gemacht hat. Dieser geistige Mut kann eben immer nur in der Begegnung mit dem andern, in der Anfechtung, an der Grenze der Existenz entstehen. Daß in dieser Gestalt der Pädagogik notwendig ein entscheidendes Lebensgesetz übersehen wird und daß dadurch Zerrungen des Charakters und trotz aller nordischen Physiognomien ein verkrüppelter i n n e r e r Mensch entstehen muß, ist evident. Jedenfalls halten wir fest: Das andere, in dessen Begegnung ich „ich selbst" würde, ist aus dem Leben getilgt. Darum werde ich eben — gerade im Namen der Artgemäßheit und der 96 Austilgung des Fremden — notwendig und logisch n i c h t „ich selbst". Es gehört folglich zum Menschen, der sich absolut setzt — das ist das Schlüsselwort —, daß er kein gleichwertiges anderes, geschweige denn Übergeordnetes, transzendent anderes, anzuerkennen vermag. (Wir haben das ja im i . Kapitel dieses Buches nachzuweisen gesucht.) Der in diesem Sinn verstandene Imperativ „Werde, was du bist" kann deshalb nicht durch Begegnung mit diesem andern erfüllt werden, sondern er ist nur zu verstehen von jener Inversion des Blickes her, der lediglich in sich selbst hineinschaut und feststellt, was er „an sich" ist. Exempel für diese Inversion des Blicks können leicht statuiert werden; es sei nur ein einziges herausgegriffen: Was Deutschtum und deutsche Art ist, glaubt der krankhaft invertierte Nationalsozialismus nicht mehr an d e m feststellen zu können, worin sich die Begegnung dieser Art mit dem „andern" der Christusgestalt manifestiert; man glaubt es nicht mehr an den Domen und der Kunst des Mittelalters feststellen zu können, sei es auch nur so, daß man alle möglichen Subtraktionsexempel vollzieht und überlagernde Schichten abzutragen versucht; man meint also das Deutsche nicht mehr an d e m ablesen zu können, was die Christusbotschaft bzw. was die „Liebe" des deutschen Menschen zur Christusgestalt aus ihm gemacht hat; sondern nur s o meint man zum innersten Wesen dieser Art vordringen zu können, daß man h i n t e r die Begegnung zurückgeht in der Meinung, hier könne man finden, wie das sogenannte deutsche Wesen „an sich" gewesen sei, u m es nach diesem Muster dann aufs neue chemisch rein darzustellen. Dieser Weg hinter die Begegnung zurück zum „An sich" ist doch der zweifellos „weltanschauliche" Sinn der heute so eifrig betriebenen Vorgeschichtsforschung. 97 Der Glaube des Menschen an sich selbst Es ist nun klar, daß der krankhafte Mythos vom deutschen Wesen und vom Menschen überhaupt, der auf diese Weise erzeugt wird, und daß die Ideologie, in der wir unser Wesen so „rein" projiziert finden, nur insofern Gegenstand des Glaubens sein kann, als wir zuvor erst einmal a n u n s s e l b e r glauben, a n uns selber, die wir uns eben hierin ausgedrückt finden. Wir stoßen also wiederum auf die schon bloßgelegte Wurzel aller dieser Erscheinungen der säkularen Religion, auf die Verabsolutierung des Menschen selber, der damit eine ungeheure Scheu offenbart vor dem, was ihm als anderes entgegentritt, ihn in Frage stellt und das Programm der eigenmächtigen IchGestaltung stört. Denn jene Absolutsetzung ist ja wesensmäßig unendlich verschieden von der Souveränität des Christenmenschen, die Luther in dem Satz ausdrückt: „Ich bin ein Herr aller Dinge und niemandem Untertan". Jene Absolutsetzung läuft nicht nur auf. ein Herrsein über alle Dinge, sondern vor allem auf ein Herrsein über mich selbst hinaus. Der deutlichste Anwalt dieser Haltung ist Nietzsche, besonders in seiner Stellung zum Tode: Aus einer dummen physiologischen Tatsache (d. h. aus einem Widerfahrnis, einer „Begegnung", bei welcher der Tod die Initiative besitzt) soll ich eine moralische Notwendigkeit, eine selbstmächtige Tat machen, soll ich frei werden „zum" und „im" Tode1). Der Mensch selbst ist das unendliche Subjekt, und sogar der Tod ist kein Begegnendes mehr, dem er passiv als Objekt gegenüberstände, sondern er ist das unendliche Subjekt, sogar das Subjekt seines „Frei"Todes. Damit sind wir auf eine wichtige Tatsache gestoßen: ι . Wenn der Mensch das Fremde an Dogma und Kirche empfindet, wenn er von „Zwangsglaubenssätzen" spricht, die *) Stellennachweise in meinem Buch „Tod und Leben" S. 34 ff. 98 ihn vergewaltigen wollen, dann ist diese Empfindung des Fremden keineswegs p s y c h o l o g i s c h zu verstehen, als ob der säkularisierte und gleichsam zu sich selbst gekommene Mensch ein besonders empfindliches Gespüre für „artfremdes Eiweiß" besäße. (Auf dieser Ebene des Psychologischen begegnen wir dem gemeinten Tatbestand überhaupt nicht, und unsere Herren Psychologen pflegen ja auch erheblich vor-beizuanalysieren, wenn sie sich diesen hintergründigen Fragen der modernen Menschenexistenz nähern. Sie können von einer säkularen Psychologie her überhaupt keinen Zugang zu diesen Tatbeständen besitzen.) Die beschriebene Scheu beruht vielmehr auf jener vorgängigen, sich selbst behauptenden und verabsolutierenden Einstellung des Menschen, die nicht von der göttlichen Autorität gebunden und beansprucht sein will. Aus dieser Grundeinstellung wächst nun völlig logisch ein ganz bestimmtes Verhältnis zu W e l t und G e s c h i c h t e . Man muß sich das klar machen, um die Fremdheit von Kirche und Dogma in ihrer letzten Tiefe zu verstehen. 2. Auch die G e s c h i c h t e kann nämlich nun ebensowenig wie der Tod als ein Widerfahrnis, als ein mir entgegentretendes anderes gewertet werden. Geschichte kann man nur noch begreifen als das, was „ d i e M ä n n e r m a c h e n". Geschichte ist die Objektivierung des Willens großer Männer. Dieser Wille aber ist selber unableitbar — und autonom. Wo jedoch den großen Männern die Übergewalt der Ereignisse einmal s o entgegentritt, daß sie sich nicht mehr einfach als Subjekt verstehen k ö n n e n , ohne einem allzu drastischen Wahnwitz zu verfallen, wo also der säkulare Mensch „religiös" werden muß, da wird der überweltliche Grund der Dinge plötzlich zur „Vorsehung", als deren Vollstrecker sich der Mensch bzw. das weltgeschichtliche Individuum dann wähnt. Aber indem er sich so als Vollstrecker 6 T h i e l i c k e , Fragen des Christentums. 81 weiß, ist der „Vorsehung" wiederum der Stachel des „andern" genommen: sie tritt ihm ja nicht „entgegen", stellt ihn nicht in Frage, sondern schaltet ihn sich gleich und macht ihn zu ihrem Vollstrecker, zu ihrem verlängerten Arm. Der Arm aber empfindet das Gehirn niemals als das „andere", sondern weiß sich als Organ mit ihm in dieselbe Lebensbewegung hineingezogen. 3. Damit wird der Gott dieses religiös säkularen Menschen, wie schon das erste Kapitel zeigte, notwendig im Sinne von Feuerbach ein Spiegelbild des Menschen, wird er der ihm koordinierte Freundgott. Er hat alle Merkmale des „andern" verloren. Dieses andere müßte sonst sichtbar werden darin, daß der Mensch vor Gott an seiner eigenen Grenze stände, daß es für ihn ein „Bis hierher und nicht weiter" gäbe, daß es für ihn den Ruf gäbe : „Hier sollen sich legen deine stolzen Wellen", daß es für ihn ein G e r i c h t gäbe. Es würde sich weiter darin zeigen, daß er b e t e n könnte. Denn Beten heißt, einem a n d e r n gegenüberstehen.. Aber er steht nicht im Gericht und er steht nicht im Gebet. Er ist die Norm aller Dinge, er ist Rechts-„Schöpfer" in jenem unheimlich hintergründigen Sinne; er lebt im Monolog. Wie könnte er jemals anders leben? Wie könnte er jemals anders wollen? Von hier aus stoßen wir auf zwei Grundeinstellungen gegenüber dem „andern", innerhalb deren der Standort des säkularen Menschen nun klar zu bestimmen ist. ι. Die eine ist das S t a n d h a l t e n g e g e n ü b e r dem „ a n d e r n", dem man verpflichtet und verbunden ist. Wir nennen das „ B i n d u n g " . — Bindung an das „andere", an d e n ganz Andern, der uns in Gericht und Gnade entgegentritt und mit dem wir als einem personhaften Du im Gebete reden können. Statt Bindung ließe sich herkömmlicherweise auch sagen: „G 1 a u b e". Der Ort, wo der Glaube gepredigt und die Bindung gegeben ist, ist die Kirche. 2. Die andere Grundeinstellung, wo der Mensch allein auf 100 sich selbst gestellt ist und sich nichts gegenübersieht, nennen wir „ H a l t u n g " . Haltung ist deshalb ein „Auf-sich-selbst-gestelltsein", weil es keinen andern gibt, auf den ich mein Leben stellen könnte. Und wenn wir im i . Teil dieser Arbeit „Haltung" und „Halt" als Gegensätze entwickelten, so können wir diese Antithese auch durch die beiden gegensätzlichen Glieder: „Haltung" und „Bindung" gebildet sein lassen. Die Bindung an den Schöpfer tmd die Bindung an die Schöpfung Um die ganze Tiefe dieses Gegensatzes und damit die ganze Fremdheit der Glaubensbindung in der säkularen Welt zu ermessen, müssen wir nun das Wesen der „Bindung" noch schärfer erfassen. Wir machen uns das klar an der besonderen Gestalt dieser Bindung, wie sie im christlichen Schöpfungsglauben zum · Ausdruck kommt. Es gibt keinen besseren Ausgangspunkt dafür als Luthers Erklärung des i . Glaubensartikels im Kleinen Katechismus: „Ich glaube, daß mich G o t t geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält; dazu Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof, Weib und Kind, Äcker, Vieh und alle Güter; mit aller Notdurft und Nahrung dieses Leibes und Lebens reichlich und täglich versorgt, wider alle Fährlichkeit beschirmt und vor allem Übel behütet und bewahret; und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit ohn* all mein Verdienst und Würdigkeit; des alles ich ihm zu danken und zu loben und dafür zu dienen und gehorsam zu sein schuldig bin. Das ist gewißlich wahr." Der entscheidende Einsatz der Gedanken ist durch den ersten Satz gegeben: „Ich glaube, daß m i c h Gott geschaf6* 83 fen hat". Damit ist zum Ausdruck gebracht, daß ich nicht an ein Es, an die Schöpfung oder an eine ihrer Gestalten gebunden bin, sondern m i t dem Es an das D u des Schöpfers. Es heißt eben nicht, wie man doch logischerweise erwarten sollte : Ich glaube, daß Gott die Welt geschaffen hat und „unter anderm" auch mich. Denn tatsächlich ist doch „die Welt" das Größere und Umfassendere, sozusagen das logisch Primäre, und ich selbst bin ein Staubkorn und ein Atom in ihrem Gefüge. Müßte Luther seine Erklärung nicht wirklich so beginnen: Ich glaube, daß Gott die Welt geschaffen hat und „unter anderm auch mich"? Aber er fängt aus einem offenbar triftigen Grunde nicht so an; er entwickelt den Schöpfungsglauben scheinbar von der hintersten und letzten und gleichgültigsten Stelle her, nämlich von mir armseligem Individuum. Wäre es anders, wäre es also „logisch", so verstände ich mich von dem geschaffenen Kosmos bzw. von den einzelnen Schöpfungs g e s t a l t e n her (z. B. von der Schöpfungsgestalt „Geist" oder „Volk" her), unter denen ich dann „nur" eines wäre. Wäre es so, dann würde meine Geschöpflichkeit nicht dadurch charakterisiert sein, daß ich zu Gott in einem unmittelbaren Ich-DuVerhältnis stünde, sondern dadurch, daß ich nur in einem m i t t e l b a r e n Verhältnis zu ihm stünde. Ich hätte ihn nur insofern, als er sich in den geschöpflichen Mittelgrößen (z. B. in der Gemeinschaft) offenbart und als ich ihm hier dienen könnte. Der bekannte Satz „Dienst an der Allgemeinheit ist Gottesdienst" verrät deutlich dieses verhängnisvoll .entartete Denken. Ich habe dann Gott nur konkret in der Mittelgröße, der sogenannten „Allgemeinheit", die (etwa als Volk oder als Familie oder als Bürgerschaft einer Stadt) seine Schöpfung ist. (Natürlich ändert sich daran nicht das geringste, wenn die Mittelgröße „Allgemeinheit" zu andern Zeiten wieder anders interpretiert wird : 102 etwa durch die Begriffe „Menschheit" oder auch „Europa"). Den Schöpfer an sich, so wie er hinter seinen sichtbaren Vermittlungen steht, kenne ich nicht. Darum habe ich Zugang zu ihm nur durch die geschöpfliehe Mittelgröße. Wäre es so, dann müßte Luthers Erklärung in der Tat beginnen: „Ich glaube, daß Gott die Welt geschaffen hat und »unter anderm« auch mich in meiner Individualität". Es erscheint nun als sicher, daß diese Indirektheit Gottes -in den Schöpfungs g e s t a l t e n besonders in solchen Zeiten erlebt und verkündet wird, die zum Handeln und Gestalten drängen, die große geschichtliche Aufgaben und in diesen Aufgaben, vor allem die Forderung stellen, mit bestimmten Schöpfungsbezirken fertig zu werden. J e d e groß angepackte Aufgabe läßt immer nur auf e i n e s blicken. Allem durchschlagskräftigen geschichtlichen Handeln haftet Ausschließlichkeit, unter Umständen bis zur verzerrten Gestalt des Fanatismus, an. Damit aber wohnt gerade dem großen geschichtlichen Handeln die Tendenz zur V e r a b s o l u t i e r u n g inne. Es gehört zum Kennzeichen handelnder Zeiten und Menschen, daß sie nur e i n e n P u n k t im Auge haben: Teils aus der „fanatischen" Konzentration der Kräfte auf den entscheidenden Punkt, teils aus gesunder produktiver Vereinfachung. Infolgedessen wertet man alles von dieser e i n e n Schöpfungsmacht her und erhebt sie zum Maß aller Dinge. Das ist nicht nur auf den eigentlichen Weltanschauungsgebieten, sondern auch in der „gewöhnlichen" Geschichte des menschlichen Geistes so. Solche Verabsolutierungen, in deren Gefolge irgendwie mein Standort ü b e r den Dingen proklamiert bzw. ein Ding ü b e r alle andern erhoben wird, spielen hier die Rolle von „heuristischen Prinzipien". Als Beispiel für diese Tendenz zur Verabsolutierung führe ich nur die Entdeckung der Bakterien und die damit gegebene Bakterienangst an. Die Furcht vor der vermeintlichen Allgegenwart der Bakterien 103 führte zu einem tiefen Eingriff in die normalen Lebensgewohnheiten : Um die Bakterien unschädlich zu machen, wurde ζ. B. die Kindermilch so lange gekocht, bis die so liebevoll Betreuten krumme Beine bekamen. Der Starkstrom des Bakteriengesichtspunktes durchschlug die Sicherungen und Korrektive aller anderen Gesichtspunkte. Inzwischen sind andere Götzen an die Stelle der Bakterien getreten, und wer weiß, ob die Vitamine nicht auch noch einmal den ständig besetzten und wieder verwaisten Thron der Göttin Vernunft einnehmen werden. Ein gewisser Vitaminrummel scheint auf solche Inthronisierung zu drängen. Jedenfalls stoßen wir bei der Tendenz zur Verabsolutierung auf eine urtümliche Eigenschaft alles Menschlichen. Und wir werden sagen dürfen, daß darin gleichermaßen eine schöpferische Kraft wie auch ein Ferment der Zersetzung zum Ausdruck kommt. Das ganze Bild des Menschen, wie es in der Geschichte vom babylonischen Turm dargestellt wird, liegt darin verborgen; so urtümlich ist diese Tendenz. Da es nun ebenfalls zum Wesen des Menschen gehört, sich selbst zu verstehen und darum Weltanschauungen zu bilden, wird man erwarten dürfen, daß auch im Wesen der Weltanschauung jene Tendenz zur Verabsolutierung zum Ausdruck kommt. Tatsächlich kommt jede Weltanschauung dieser menschlichen Urtendenz entgegen. Denn Weltanschauungsbildung heißt doch geradezu : Die Welt unter ein Thema zu subsumieren. Und dieses Thema ist nichts andères als die verabsolutierte Schöpfungsgestalt: So verabsolutiert die idealistische Weltanschauung die Schöpfungsgestalt „Geist", die - nach der Schau des Idealismus — innerhalb des Schöpfungsraums nicht e i n e Größe n e b e n andern ist, sondern d i e Größe i η allen, so gewiß alle Schöpfungsgestalten eben, nur Formen und Ausdrucksweisen sind, in denen sich der Geist entfaltet (Hegel). Das gleiche gilt entsprechend von der materialistischen, der biologischen und jeder anderen Weltanschauung. 104 Der Glaube an die Schöpfung in seinem positiven und seinem Zersetzenden Sinn (Die Revolution der bindungslosen Schöpfungsräume) Dieser Vorgang führt zu weitreichenden Konsequenzen, die es nunmehr zu bedenken gilt: ι . Wir deuteten schon an, daß in diesem Drang zur Verabsolutierung einer geschöpflichen Größe zum „Thema der Welt" die größten Leistungen beschlossen liegen. Es handelt sich, technisch gesprochen, um eine Maßnahme von wesentlich heuristischem Rang: Die Verlegung des Blickpunktes führt stets zu einem neuen Panorama der Welt und damit auch zur Entdeckung von früher unbekannten Abschnitten im Gelände. Man braucht nur daran zu erinnern, daß die biologische Weltanschauung trotz ihrer krankhaft überspitzten Einseitigkeit — die aber eben auch ihre produktiven Nebeneffekte hat — den am geschichtlichen Prozeß zweifellos beteiligten Faktor der „Rasse" entdeckt und als nunmehr unübersehbaren Gesichtspunkt in alle künftigen Geschichtsbilder eingeführt hat. Das gleiche gilt natürlich, trotz des wiederum einseitigen und konstruktiven Charakters, auch von der idealistischen Weltanschauung, welche die innere Logik der Geschichte als ein heuristisches Prinzip entdeckt hat, das wahrlich nicht zu verachten ist und jedenfalls neue Terrainabschnitte einsehen läßt. Zugleich kündigen sich aber in jenem Verabsolutierungs-drang chaotische Tendenzen an, weil in ihnen die Bindung an Gott als an die tragende Macht des Daseins preisgegeben und an seine Stelle eine geschöpfliche Surrogatbindung getreten ist, die auf die Dauer zersprengend wirkt. Wir werden das im einzelnen noch zu zeigen haben. Was wir meinen, dürfte schon durch die Erinnerung deutlich werden, daß hier die Wurzel aller Fiybris und allen Titanentums ver-' borgen liegt. Götter- und Menschendämmerung künden sich 105 J hier an. Und wer die Kategorie der „falschen Götter" nicht besitzt, pflegt hier von „Tragödien" zu sprechen. Der urtümliche Ausdruck dafür ist die '„Geschichte vom babylonischen Turm", der schöpferische Leistung und schauerliche Zersetzung erschütternd zusammenschaut. Reinhold Schneider dürfte an dieses Gesetz der Selbstauflösung gedacht haben, wenn er den fanatischen Tatmenschen als Gegenspieler des gottgebundenen Beters auftreten läßt. „Denn Täter werden nie den Himmel zwingen, / was sie vereinen, wird sich wieder spalten, / was sie erneuern, über Nacht veralten / und was sie stiften, Not und Unheil bringen". (Sonette, 1943.) 2. Wie sehen nun die Folgen der „Vergötterung" im einzelnen aus? a) Gott wird in funktionale Abhängigkeit vom Leben gedrängt, er ist sozusagen nur ein Appendix der geschöpflichen Größe, die man als Numinosum proklamiert hat. Dieser Vorgang ist klassisch bei Kant vollzogen ; man darf wohl sagen, daß für Kant die Vernunft jene Rolle einer verabsolutierten Schöpfungsgröße spielt. Infolgedessen taucht Gott nicht als Herr der Vernunft auf, - etwa in dem Sinn, daß sie von ihm ihre Norm empfinge, oder daß sie sich als g e f a l l e n e Vernunft vor ihm bekennen müßte, — sondern Gott wird selbst von der Vernunft normiert werden: Er ist das zu postulierende Subjekt der im Raum der Vernunft auftauchenden Gebote (vgl.: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft); oder er ist der Garant des wiederum von der Vernunft postulierten „höchsten Gutes" (vgl. Die Kritik der praktischen Vernunft); er ist gleichsam ein geometrischer Punkt im Gelände der Vernunft. Insofern ist er diesem Gelände eben angepaßt. Die Forderung einer sogenannten „Artgemäßheit" Gottes bringt diese Gleichschaltung Gottes mit den Schöpfungsgrößen besonders prägnant und zugleich grotesk zum Ausdruck. Es geht nicht um die Gottgemäßheit der Schöpfung, 106 sondern um die Schöpfungsgemäßheit Gottes. Daß Gott im Widerspruch zur Schöpfung sein soll, oder anders ausgedrückt: daß die Schöpfung gefallen oder verkehrt sein soll, ist weltanschaulich ein schlechthin unvollziehbarer Gedanke, weil die normgebende Schöpfung hier ja selber normiert würde und obendrein von einer unkontrollierbaren oder jedenfalls nur so kontrollierbaren Größe, daß man sie an ihren Schöpfungsfrüchten erkennt. Dann aber sind eben die F r ü c h t e Norm und nicht der Baum, an dem sie wuchsen. Die Formen dieser Schattenexistenz Gottes — er ist ja wirklich der Schatten der Schöpfungsrealitäten — liegen auf der Hand und vor aller Augen: Gott hat keine eigene Stimme mehr, weder die Schöpfungsstimme „es werde" noch die Herrenstimme „du sollst".» noch die Richterstimme „Mensch, wo bist du", nein: Gott wird auf einmal oder allmählich zur metaphysischen Kulisse hinter dem, was wir Menschen reden und tun. b) Wenn das Dasein nicht von Gott, sondern von einer irdischen Daseinsgestalt her geordnet wird, die selber dem Schöpfungsbereich angehört, so werden weite Räume des Lebens nicht erfaßt und bleiben darum bindungslos. Der Mensch ist dann in diesen unberührten Zonen der völligen Einsamkeit ausgeliefert. Das läßt sich an den verschiedensten Erscheinungen illustrieren: Ich denke ζ. B. an den Fall, wo die Gemeinschaft, wo das Kollektiv verabsolutiert wird und wo es also heißt: Ich bin nichts, die Gemeinschaft, in der ich lebe, ist alles. Die Schöpfungsgröße „Gemeinschaft" läßt mich in diesem Fall a l l e i n mit der ganzen „persönlichen" Dimension meines Lebens (vgl. i.Kap.), die mir keiner abnehmen kann. Sie läßt mich a l l e i n mit den Mächten persönlichen Leides, persönlicher Schuld und mit dem persönlichen Tod. Auch wir Kinder einer Zeit, die so leidenschaftlich vom Gemeinschaftsgedan-ken her lebt, empfinden es ja als krank, wenn wir von gewissen Formen einer allzu billigen und leichtfertigen Todesbereit 107 schaft, von einer zigarettenrauchenden, sturen, gleichgültigen Sterbenslust hören, und weigern uns, hier einfach von Heroismus zu sprechen. Wir spüren, daß hier die Dimension des Persönlichen von der absoluten Diktatur des Kollektivs ausgelöscht sein könnte und daß es gar keinen Geist mehr gäbe, den der Kollektivmensch auszuhauchen hätte. Wir erleben diese Todesbereitschaft nicht einfach als Heroismus, sondern als Zeichen der fürchterlichen Destruktion, und unwillkürlich beginnt uns die Frage zu schütteln: Gibt es wirklich jene berühmten „Privatangelegenheiten jedes einzelnen", die damit zu gleichgültigen Randerscheinungen des Lebens gestempelt werden, die also der „Ordnung" nicht bedürfen oder gar nicht einzuordnen sind? Oder ist es nicht vielmehr so, daß es hier um die gleichberechtigte „andere" Seite des Lebens geht und daß diese Seite, wenn sie verdrängt wird, irgendwann zum Aufstand treibt, daß sie zu einer ungeheuer geballten potentiellen Energie wird und nur auf ihre Entladung wartet? Daß wir also vielleicht am Vorabend eines inneren Gegenschlags, nämlich eines neuen Aufganges des Individualismus stehen? Das viel zitierte „Bedürfnis nach Privatleben" gerade bei denen, die dauernd oder vorübergehend aus einer Gemeinschaftsmacht entlassen sind und die jahrelang in allen möglichen Verbänden innerlich und äußerlich uniformiert waren, bedeutet gleichsam eine Stichflamme dieser untergründigen Revolution. Das gleiche gilt natürlich von einer Verabsolutierung der Schöpfungsmacht „Geist", die schließlich genau so, wie der Bakterienfanatismus der Jahrhundertwende zu Wachstumsstörungen bei Kindern führte, eine Verkümmerung der mehr „vitalen" Bereiche mit sich bringt und dann zum Aufstand der Blut- und Boden-Götter drängt. Schon das Phänomen „Nietzsche" war ein Fanal für die Revolution dieser irrationalen Vitalmächte. Selbstverständlich aber entgehen auch die auf diese Weise 108 inthronisierten Vitalmächte nicht dem Schicksal und dem Gesetz, denen sie ihren Ursprung verdanken. Die ausschließlich biologische Fundamentierung der Weltschau läßt wieder andere Bezirke des Lebens ungebunden und treibt sie zu vulkanischen und revolutionären Ausbrüchen. W o G ö t t e r a n g e b e t e t w e r d e n , i s t a u c h i m m e r d e r K a m p f d e r G ö t t e r u n t e r e i n a n d e r , und darum auch die dunkle Ahnung der Götterdämmerung. Die Schöpfungsmächte bekriegen sich, weil sie als inferiore Mächte niemals die ganze Schöpfung beherrschen können und darum immer den Aufstand provozieren. Die usurpierende Tendenz der Götter rächt sich durch das Chaos, in das sie stürzen und in das Gott sie hineinbindet. Das Ende der Gottlosigkeit und der falschen Vergötterung ist die Zerstreuung (Genesis n). Wir fassen zusammen : Die illegale Vergötterung der Schöpfungsmächte führt nach dem ehernen Gesetz des Zornes Gottes dahin, daß die freigelassenen, ungeordneten, bindungslosen Räume sich empören; damit wird das der Schöpfung verfallene statt dem Schöpfer verbundene Abendland zum Schauplatz einer Kette von Empörungen. Wir spüren ja alle, wie heute der Weltgrund mit dem Dynamit dieser Empörungen geladen ist und wie dem^abendländischen Leben die innere Konstanz zu fehlen und das Gesetz der Eruption zum Verhängnis zu werden beginnt. 3. E i n e s ist jedenfalls klar geworden: Hier liegt keine echte Bindung vor, sondern die Trugbindung an das Wandelbare. Während in Luthers Satz: „Ich glaube, daß mich Gott geschaffen hat . . dem Selbst eine ewige Fundamentierung jenseits der Erscheinungen Flucht gegeben ist, haben wir seit Jahrhunderten im Abendlande unser Selbst von den wandelbaren Dingen her bestimmt und es damit verloren. Ζ. B. hat der Kollektiv-Mensch, der nur durch zündende Schlagworte dirigiert wird, kein unbedingtes, kein gottgebundenes Ge 109 wissen mehr, in dessen Namen er wie Luther der ganzen Welt entgegenzutreten vermöchte : Denn er ist allen Gestalten dieser Welt hörig und kennt die Ewigkeit nicht mehr, die uns einen Herrn aller Dinge und niemandem Untertan sein läßt. Sein Gewissen pflegt von der klugen Taktik der Schlagworte umgangen oder durch ihre Suggestivkraft eingeschläfert zu werden. Statt dieses Gewissens hat er gleichsam nur noch ein Nervensystem, das die dynamischen Wellen jener Schlagworte auffängt und auf sie „reagiert". Er ist als Maschine in einen technischen Arbeitsgang eingeschaltet, und sein Reagieren hat alle Kennzeichen des Mechanischen an sich. Eben deshalb aber, weil er so sein unbedingtes Selbst verloren hat, sagt er nicht mehr: Hier stehe ich, ich kann nicht anders (ich bin g e bai η d e n ) , sondern hier sitze ich, ich kann auch anders, wenn mir eine andere Existenz-Basis, ein anderer Weltanschauungsstuhl untergeschoben wird. Er sagt nicht mehr: „Wenn in Worms so viel Teufel wären, als Ziegel auf den Dächern, so wollte ich wider sie alle bekennen" ; sondern er sagt: „Da muß man mit den Wölfen heulen." Der Verlust seines Selbst macht den Menschen personlos. Es ist nicht einfach Mangel an Zivilcourage, wenn es zu keiner confessio, zu keinem „Stehen und Fallen mit..." kommt, sondern hier vollzieht sich ein Wesensgesetz der Personlosigkeit. Tapferkeit gibt es bei diesem Menschentum nur noch in Uniform, aber nicht, wenn man auf sich „selbst" gestellt ist, denn man hat ja kein Selbst mehr. So sehen wir auf dieser Ebene Männer mit zweifellosem physischem Mut versagen. Den Glaubensmut kann sich eben keiner selbst geben, weil niemand sich den Glauben zu geben und zur Person zu machen vermag. Man darf sich nun freilich nicht dadurch täuschen lassen, daß durch die Verewigung und Verabsolutierung des Wandelbaren eine vorübergehende Ordnung hergestellt und geschichtliche Gestaltung möglich wird. Der Fanatismus der 110 Gottebenbürtigkeit, der die Erbauer des babylonischen Turmes erfüllte, hat sicher ihren Baueifer beflügelt und dadurch, daß er ihre an sich krankhafte Gigantitis auf höchste Touren brachte, einen schöpferischen Impuls vermittelt — a u c h wenn j e d e Lebenslüge kurze Beine besitzt und wenn jeder der Unordnung entwachsene Turm auf tönernen Fundamenten ruht. Wir sahen ja, daß Verabsolutierung und Fanatismus als vorübergehende Arbeitshypothesen enorme geschichtliche Kraft besitzen, aber eben nur vorübergehend und interimistisch. Wie haben sich doch im säkularisierten, bindungslos gewordenen Abendland die Schlagworte jener Pseudoabsolutheiten in den letzten Jahrhunderten abgelöst. Die Geschichte dieser Jahrhunderte ist doch eine große Götzenparade — wie schnell sind die einzelnen Abteilungen vorübermarschiert und wie komisch wirken sie von hinten! Was gestern ernst war, ist heute lächerlich. Welche Inflation großer Worte umschwemmt uns! Es ist tatsächlich die V o r t ä u s c h u n g einer Bindung. Sie hat den Wurm in sich. Der personlos gewordene Mensch ist ein Vagabundus. So lauert die Strafe des Chaos und der Zersetzung hinter dem trügerischen Aufschwng des entbundenen Geistes. Augustin sagt: Jussisti enim,Deus, ut sibi ipse sit sua poena omnis inordinatus animus: Du hast es so geordnet, o Gott, daß sich selbst zur Strafe wird ein jeder ungeordnete Geist1). 4. Als weitere Folge dieser Bindung an vergängliche Größen ergibt sich der schlechthinige Relativismus. Aus der Annullierung absoluter Werte ergibt sich die Müdigkeit des alten Skeptikers, der den Fluß, der das Vergehen und die Illusionen durchschaut (vgl. im 1. Kap. die Abschnitte über den Nihilismus). Daß sich diese hintergründige Skepsis keineswegs in einer offen zur Schau getragenen Resignation zu äußern braucht, sondern daß im Gegenteil ein stets neu zu Taten sich *) Bei Peter Wust, Ein Abschiedswort, 1940. 111 aufraffender Fanatismus eben solcher Müdigkeit entspringen kann, ist kein Gegenbeweis. Fanatismus ist nur das Zeichen einer heimlichen Verzweiflung, die übertönt und in Taten abreagiert werden muß. Deswegen ist — kulturgeschichtlich gesehen — Fanatismus stets eine „späte" Erscheinung, weil die skeptisch gewordene Müdigkeit sich mifseiner Hilfe eine Art Kampferspritze zu applizieren sucht. So liegt beides eng beieinander. Man weiß ja auch sonst, daß Extreme sich berühren. Und hier sind es vielleicht nicht einmal Extreme. Symptomatisch für die Nähe beider Haltungen (auch die z e i t l i c h e Nähe) sind Oswald S p e n g l e r und Alfred R o s e n b e r g . Man wird von der Ähnlichkeit beider Schauungen beeindruckt sein (Rassegedanke, Cäsarismus, Morphé-gedanke usw.; von Niveau-Unterschieden sehe ich in diesem Zusammenhange ab). Und doch wird man feststellen müssen, daß der E i n e „Relativist", der A n d e r e aber „Absolutist" ist. Der Eine zieht das Fazit eines geschichtlichen Rechen-exempels, und dieses Fazit ist der Untergang. Der andere läßt den fanatischen Selbsterhaltungstrieb einen Zwischenruf machen, ehe das Fazit bekanntgegeben wird — und meint dieses Fazit damit aufhalten oder ändern zu können. 5. D e r Relativismus pflegt immer ein n i h i l i s t i s c h e s S c h l u ß k a p i t e l z u h a b e n . Wir deuten diese Konsequenz an, indem wir einen früher schon geäußerten Gedanken noch von einer andern Seite her . beleuchten. Es ist doch so: Auf der e i n e n Seite steckt in jedem Relativismus das Wissen, daß es keine Letztbindung gibt, die als ewiger Grund jenseits der fliehenden Erscheinungen stände. Auf der a n d e r n Seite aber weiß man ebenso, daß die Schwungkraft und der Auftrieb solcher inneren Bindungen nicht entbehrt werden können, und daß man sie deshalb in einem gigantischen „Als ob" für die Masse verwenden muß. S o w e r d e n d i e Letztwerte und Letztbindungen nicht mehr Inhalt einer Predigt 112 mit Wahrheitsanspruch, sondern Inhalt eines Propaganda-Effektes mit SuggestivAnspruch. 6. Der Wegfall der Letztbindung wirkt sich natürlich vor allem auf der e t h i s c h e n Ebene aus, insofern Gut und Böse keine Letztwerte aus unbedingtem Gewissensanspruch heraus sind, sondern selbst in den Strudel der Innerschöpfung hineingerissen werden. Dieser Vorgang soll nur an einem einzigen Symptom verdeutlicht werden: An der These nämlich, daß „gut sei, was einem bestimmten Zweck ζ. B. dem Volke n ü t z e " (gleichgültig, ob dieses Volk, das derart als moralischer Zweck fungiert, nun das deutsche, das englische oder neuerdings auch das türkische ist) *), daß also das Volk (bzw. ein anderer Wert) zum letzten ethischen Kriterium wird und deshalb niemals in d e m Sinne in Frage gestellt werden kann, daß es selber ins Gericht gerufen würde: „Licht, Feuer, Sonne wollen wir sein / klar, rein, sauber wie das Feuer, das verzehre, was nicht unserer Art entspricht"2). Indem so das Volk oder eine andere geschöpfliche Größe zum Richter über Gut und Böse wird, ist das ethische Kriterium identisch mit dem Prinzip der Zweckmäßigkeit, nämlich mit dem Gesichtspunkt, ob es „nützt" oder das „Leben steigert" — wenn wir diese Haltung mit dem klassischen Wort Nietzsches beschreiben wollen. Gerade hier aber zeigt es sich, wie sofort die chaotische Zersetzung beginnt, wenn man die Schöpfung zum Selbstzweck erhebt. Es mag ζ. B. - aber wirklich nur „zum Beispiel" - manchem als zweckmäßig und darum als „gut" erscheinen, wenn die un*) Dieser Abschnitt ist im Januar 1944 niedergeschrieben, nachdem die deutsche Presse vorher Artikel darüber gebracht hatte, daß der Kemalismus Atatürks und Inonüs nach der Maxime handle: Gut ist, was dem türkischen Volk nützt. 2) Aus den Sonnwendfeiern 1942; Stuttgarter Tagblatt 21. 12. 42, Nr. 350 S. 4. 113 eheliche Mutterschaft zwecks Geburtensteigerung weniger suspekt wird. Rein biologisch gesehen kommt es dabei ja auf die eheliche Bindung auch in keiner Weise an. Der „Zweck" scheint deshalb auch unabhängig von der Ehe erreichbar zu sein und das völkische Leben auch ohne sie biologisch gesteigert werden zu können. Aber sofort kündigt sich die entstehende Bindungslosigkeit an, und unsere Zeit dürfte eine sehr niederschmetternde Illustration dafür sein. Dies uneheliche Muttertum führt nämlich, von den paar Ausnahmen abgesehen, die nur die Regel bestätigen, zur Unterhöhlung und Diskreditierung der Familie und der sittlichen Bindung der Geschlechter überhaupt. Familie und sittliche Bindung der Geschlechter sind aber auf lange Sicht gesehen eben doch der einzige Garant für das Wagnis des Kinderreichtums und für jene Verantwortungsfreudigkeit, die den Trägern großer Familien eigen sein muß. Wer die Autorität von Gut und Böse antastet und sie in die Mittel-zum-Zweck-Niederung herabdrückt, erschüttert den Bestand der Welt und liefert sie der Unterhöhlung aus, auch wenn er vorübergehende Augenblickserfolge gewinnt. Der babylonische Turm war ja ebenfalls ein unbestreitbarer Gewinn. Aber indem durch seine Errichtung die Autorität Gottes ostentativ beseitigt werden sollte, war ihm der Bestand der Welt, war ihm jene WeltÖrdnung entzogen, die als Fundament alles architektonischen, biologischen, wirtschaftlichen oder politischen Bauens unerläßlich ist. Darum folgte der Zusammenbruch nach unverbrüchlichem Gesetz. Der Stur\ in das Chaos durch die Selbsterhöhung des Menschen Nur die gebundene, und zwar an Gottes Gebot g e b u n d e n e S c h ö p f u n g h a t B e s t a n d . Meint sie aus Zweckmäßigkeitsgründen und um ihr Leben zu steigern diese lästige Bindung abschütteln zu können, so ist 114 sie eben j e n e m Chaos überliefert, dem sie mit eigenen Mitteln entkommen und aus dem sie sich zu selbstgewählter Autonomie emporsteigern wollte. Das gilt auch und gerade dann, wenn man weiß, daß mit den Begriffen des „Guten" in der Welt niemals der Wille Gottes identisch ist. Daß das nicht der Fall ist, erkennt man ja schon äußerlich an der Relativität der ethischen Begriffe : Im e i η e η Falle ζ. Β. ist „Heiligkeit des Lebens" oberste Maxime, im a n d e r n dagegen schreibt das Ethos vor, möglichst viele Menschen zu fressen oder zu skalpieren. Solcher Widersprüche sind Legion. Schon aus dieser rein statistischen Beobachtung der Verschiedenheiten läßt sich der Rückschluß ziehen, daß der jeweilige Begriff des Guten nicht identisch ist mit dem Willen Gottes, sondern daß die Eigenmächtigkeit des Menschen sich jenen Begriff zurecht und zulieb geformt hat. Trotzdem wird man folgende beiden Formen menschlicher Eigenmächtigkeit streng voneinander unterscheiden müssen: ι . Einmal den Versuch des Menschen, einen höchsten sittlichen Wert zu finden und ihm gehorsam zu sein — das ist zweifellos eine positive ethische Bereitschaft—auch dann, wenn sozusagen wider Willen der W u n s c h und die F u r c h t es sind, die zu Vätern jener sittlichen Gedanken werden und die zu guter Letzt doch wieder eine wunschgemäße sittliche Wertehierarchie mit sich bringen, innerhalb deren das Menschenfressen eine nicht nur erlaubte, sondern sogar eine gebotene Handlung ist. In diesem Falle hätte sich die Eigenmächtigkeit des Menschen sozusagen h e i m l i c h eingeschlichen, so wie sie unser gesamtes Leben ja immer wieder heimlich regieren möchte: ich denke nur daran, wie hinter allem sittlichen Handeln eine geheime Selbstbehauptung und Selbstbefriedigung laut wird : Wievieles, was sich als „Nächstenliebe" gibt, ist nichts anderes als heimliche Sehnsucht nach Geachtet- und Beachtetwerden, Sehnsucht danach, Mittelpunkt der Verehrung und der Gegenliebe zu sein. Wie7 T h i e l i c k e , Fragen des Christentums. 115 viel tapfere soldatische Hingabe für eine Idee ist nicht motiviert durch persönlichen Ehrgeiz, durch Ordens-Appetit und ähnliches. Es ist selbstverständlich, daß dieser urmenschliche Trieb sozusagen wider Willen nicht nur das H a n d e l n , sondern auch die das Handeln dirigierende W e r t e hiérarchie selbst bestimmt. Der Wunsch ist eben d o c h der Vater der Gedanken, jedenfalls v i e l e r unserer Gedanken. Er steht sozusagen ungesehen hinter uns und lenkt unsere Blicke, während w i r in der Illusion befangen sind, frei dazustehen und unsere Blicke dorthin zu lenken, wohin w i r wollen. 2. Gänzlich verschieden davon ist aber nun ein Ethos, das aus der N o t dieser egoistischen Motivation eine T u g e n d macht und sich bewußt Zu jener Motivation b e k e n n t . Das ist dann der Fall, wenn der Begriff des Guten bewußt einem bestimmten Zwecke untergeordnet wird: etwa dem Zweck des „sacro egoismo" oder dem Volks- und Gesellschaftsnutzen — so wie wir es am Beispiel der unehelichen Kinder demonstrie-ten. Damit wird dann „das Gute" seiner s c h l e c h t h i n und a l l e Größen verpflichtenden Autorität entkleidet und zu einem untergebenen „Mittel" degradiert. Zwischen beiden Formen des Ethos besteht ein grundlegender Unterschied: Zunächst scheint er freilich harmlos und keineswegs grundlegend zu sein. Im ersten Augenblick scheint es nur um den Unterschied zwischen bewußtem und zwischen unbewußtem Egoismus zu geben. Und vielleicht ist man in diesem ersten Augenblick sogar geneigt, dem bewußten und bewußt bejahten Egoismus den Vorrang zuzubilligen, weil er realistischer und ehrlicher zu sein scheint, weil er sich also nichts vormacht und zu sich selbst zu b e k e n n e n wagt. In Wahrheit aber stehen wir hier vor einem grundsätzlichen Wandel, dessen Tragweite überhaupt nicht überschätzt werden kann. Deutlicher als am Beispiel des Ethos wird 116 das am Beispiel der „arteigenen Religion". Wir wollen das einen Augenblick bedenken: Wer etwa als evangelischer Christ aus Deutschland nach dem südlichen Italien fährt und hier den "blühenden, die Welt durchdringenden, aber auch zu jeder Konzession bereiten und wahrhaft „heidenfröhlichen" Katholizismus erlebt, wer es erlebt, wie dieser erdennahe Katholizismus aller Sinnenfreudigkeit des südlichen Menschen entgegenkommt, wie er — im Unterschied zur Gedankenschwere des nördlichen Menschen — wie ein farbenglühendes Schauspiel auf den Betrachter wirkt, der wird sich a u c h seine Gedanken darüber machen, daß biologische, klimatische und charakterologische Momente nicht ohne Einfluß auf die Gestaltung des Glaubens sind. Vielleicht fragt er sich auch einmal — das wäre freilich schon eine illegitime, aber vielleicht dennoch bedrängende Frage — wie er sich Luthers oder gar Calvins Kirche auf Sizilien überhaupt vorstellen könne und woran es wohl liegen möchte, daß die in ihm kämpfenden Gedanken sich hier in ein hartes und von schweren Fragen durchglühtes Zwiegespräch verstricken wollen. Aber nun ist doch folgendes klar: Es ist etwas völlig anderes, ob ich den Einfluß der biologischen, klimatischen und charakterlichen Substanz, den Einfluß der ökonomischen und sozialen Zustände auf meine religiöse Überzeugung z u g e b e , oder ob ich sie zu einem bewußten P r o g r a m m mache: Im e r s t e n Falle betrachte ich es als eine Not, daß ich die Wahrheitsfrage offenbar nicht streng und unvoreingenommen zu stellen vermag, sondern daß ich in meiner Sehweise und Sehform gehalten bin durch die unkontrollierbaren und ungegenständlichen Formen meiner Subjektivität1), die ich nicht auszuschalten vermag. *) Übrigens ist diese Subjektivität ja keineswegs n u r eine Belastung, sondern auf der andern Seite ja auch eine Erleuchtung, so gewiß jedes Volk und jede Zeit wieder andere Seiten an der Wahrheit und deshalb auch am Evangelium entdeckten. Im z w e i t e n Falle dagegen mache ich diese Not zu einer Tugend und beschwöre dann den grotesken Schatten der artgemäßen Religion. Im e r s t e n Falle stehe ich vor Gott als der, welcher sich selber ins Licht tritt und der Gottes Durchbruch mit Hilfe seiner betonten Selbstbehauptung immer wieder hindert, der deshalb um die Vergebungsbedürftigkeit seiner ganzen Existenz weiß und der Gott bittet, daß er ihn in die Wahrheit bringe, damit er die Stimme zu hören vermöge. Das Kennzeichen seiner Haltung wird also darin bestehen, daß er mitsamt seiner „Art" und seinem „Sosein" in die Buße getrieben wird, daß er sich d e m ü t i g t . Im z w e i t e n Falle dagegen mache ich aus der „Not" meiner Gebundenheit insofern eine „Tugend", als ich die genannten Merkmale meiner Art und meines Soseins nicht unter Gott beuge, sondern sie in einer Art metaphysischer Koketterie über ihn erhebe, als ich folglich Gott zwingen möchte, sich selbst in meinem So-sein auszudrücken. Die Religion wird Mittel zum Zweck. Gerade an diesem Beispiel mag man den totalen Wandel der Existenz ermessen, der in d e m Augenblick eintritt, wo die autoritären Wahrheiten „Gott und das Gute", „Gott und die Wahrheit" *) ihrer Autorität entkleidet und zu dienenden Prinzipien, zu „Mitteln" degradiert werden. Wir sahen, wie bei dieser Degradierung des „G u t e n " und der damit gegebenen Ent-Bindung das Chaos lauert und am Bestände der Welt rüttelt. Wir sahen ferner im ersten Kapitel, wie bei der entsprechenden Degradierung der „Wahrheit" die letzte Folge der Nihilismus und das absolute Vakuum ist, weil *) Um Mißverständnisse unserer stark abgekürzten Redeweise zu vermeiden, sei ausdrücklich betont, daß wir die genannten Größen nicht als nebeneinanderstehend begreifen, sondern als eine identische Wahrheit, als die Wahrheit „Gott" nämlich, die sich nur nach den genannten Richtungen entfaltet. IOO niemand mehr eine Größe o b e r h a l b seiner Existenz und damit einen Gegenstand des Glaubens und Für-wahr-haltens besitzt und nolens volens nur noch an sich selber glauben kann. Aber auch dieser Glaube an sich selbst ist der Zerrüttung preisgegeben, weil nun die eigene Existenz keinen Sinn mehr besitzt, der über sie hinausweist. Ich habe kein Selbst mehr. Die Leichtigkeit des nihilistischen Sterbens, wie sie uns immer wieder bezeugt wird, ist eine schauerliche Demonstration dieser Ent-Selbstung. Man stirbt — wie gesagt - so leicht, weil man nicht einmal einen Geist aufzugeben und eine Seele auszuhauchen hat. Der Tod wird zu einem Übergang von einem N i c h t s i n d a s a n d e r e . Er ist der absolute Sturz ins Leere — inmitten der Tarnung durch eine kollektivistische Organisation, bei der die Masse entselbsteter Individuen im ersten Augenblick (aber wirklich η u r in diesem) die Nullpunkt-Existenz des autoritätslosen Menschen verbergen mag. Indem so die Basis von Gut und Böse unter seinen Füßen hinweggezogen wird, verliert er die Bindung an unbedingte Ziele und Werte. Gewiß ist auch d a n n noch das Leben ein Kampf und ein Ringen. Aber obwohl auch in diesem noch bleibendem Kampf seines Lebens die Mächte des Guten und Bösen ihn mit normativem Anspruch zu leiten scheinen — denn ganz sind sie nicht auszuschalten, und gerade daß man ihnen wenigstens Mittel- zum -Zweck-Stellung einräumen muß, beweist das zur Genüge —, so fehlt doch der G e g e n s t a n d und das letzte W o z u dieses Kampfes. Deswegen sinkt er zu dem herab, was Ernst Jünger das „Abenteurertum" genannt hatte. Gewiß gibt es auch in diesem Stadium der Säkularisation noch ein kämpferisches Streben nach Wahrheit. Aber doch wieder nicht im Ernst. Das Wichtigste ist auch hier die immer strebende Bemühung an sich, ist der A k t des Kampfes als solcher. „Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusätze, mich immer und ewig ιοί zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir: wähle! ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: „Vater, gibl die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!" (Lessing). Diesen Kampf als Selbstzweck, als Akt, haben wir im i. Kapitel als „Haltung" bezeichnet. Damit sehen wir das, Phänomen der „Haltung" noch einmal aus einer neuen Perspektive: „B i η d u η g" heißt: Gehalten-sein v o n etwas, nämlich von dem „andern", das größer ist als ich. . . „H a 11 u η g" aber bedeutet, daß es gleich ist, wovon man gehalten ist. Es ist ein Stehen-bleiben im Angesicht des Nichts. Damit haben wir wohl den tiefsten Grund herausgearbeitet, der den bindungslos gewordenen und von der Haltung lebenden Menschen veranlaßt, daß er an der Kirche Anstoß nimmt als an dem Ort, wo „das andere'.', wo der in Christus gelegte Grund und Halt unserer Existenz gepredigt wird, wo es also um die „Bindung" geht. Abschließend charakterisieren wir nun diese Bindung in einigen möglichst scharfen Formulierungen, die wir im Zusammenhang mit Luthers Erklärung des ι. Artikels zu bringen suchen. ι. „Ich glaube, daß Gott m i c h geschaffen hat." D.h. ich bin über alle geschöpf liehen Vermittlungen hinweg in ein unmittelbares Ich-DuVerhältnis zum Deus creator gekommen. Dies persönliche Ich-DuVerhältnis ist nach den verschiedensten Richtungen zu entfalten: E i n m a l besteht es insofern, als ich mich mit allem, was ich bin und habe, meinem Gott und Herrn verdanke. F e r n e r besteht es insofern, als ich mich-mit allem, was ich bin und habe, Gott s o schuldig bin (kein Druckfehler, lieber Leser: ich bin m i c h schuldig!), wie ich aus seinen Händen hervorgegangen bin. Ich bin ja als ein in meine Existenz Eingesetzter ein „Haushalter" über meinem Dasein. Damit aber werde ich mir selbst in meinem Bankerott vor Gott deutlich, denn ich stehe mit leeren und beschmutzten I120 Händen vor ihm und habe verloren, was er mir zu Lehen gab. (Vgl. das Gleichnis vom verlornen Sohn, Lk 15.) Gerade von dieser Dimension des Gerichtes her, die der Schöpferglaube — im Gegensatz zum Glauben an die Schöpfung und ihre Gestalten! — in sich beschließt, kommt der personhafte Charakter meiner Beziehung zu Gott zum Ausdruck. Denn hier wird in höchster Prägnanz klar, daß Gott weder eine unpersönliche prima causa im Nebel der Vorzeit ist und daß die Vermittlung der unendlich langen Schöpfungszeit zwischen dieser Ursache „Gott" und zwischen mir als der im Augenblick letzten „Wirkung" dieser Ursache läge; noch daß er als ein angenommenes metaphysisches Postulat (Vorsehung; Schicksal; Weltordnung) als letzte sozusagen „punktierte" Größe hinter den Schöpfungserscheinungen auftauchte und gleichsam ihren 1 hinzugedachten Hintergrund bildete ). Nein, ich stehe in einer beglückenden und bedrängenden Direktheit dem Du des Schöpfers gegenüber: als von ihm Geschaffener, als von ihm Geforderter, als vor ihm Schuldiger, geliebt und heimgesucht trotz aller Fremde und Abgründe. Aus dieser Bindung an das Du des Schöpfers ergibt sich die Freiheit von allen Schöpfungsgestalten. Durch solche Beziehung zum Du des Schöpfers regelt sich „Nähe" und „Distanz" des Christen zur Schöpfung, wie sie Luther in dem paradoxen Satz zum Ausdruck gebracht hat: „Ein Christ ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem Untertan"; „ein Christ ist ein Knecht aller Dinge und jedermann Untertan". 2. Wenn Ranke in seinem bekannten Satze sagt, a l l e Epochen seien unmittelbar zu Gott, so könnte man von Punkt ι aus diesen Satz dahin abwandeln, daß man sagte: „Alle Dinge meines Lebens, ja des Lebens ü b e r h a u p t *) Für das letztere bieten die hin und wieder auftauchenden pseudoreligiösen Töne bei den Führerreden des Dritten Reiches eine eindrückliche Illustration. sind unmittelbar zu Gott". Ich bin in a l l e n Bereichen meiner Existenz (als leibseelisches Individuum, als Glied der einzelnen Lebensgebiete, wie etwa der Wirtschaft oder als Zoon politikon, als Vollstrecker meiner „Stirn"- oder „Faust"-Arbeit usw.) gefordert, angerufen und ihm verantwortlich. Man könnte auch sagen: ich bin mit der Totalität meiner Existenz auf Gott bezogen. Wir haben ja ausführlich dargelegt, daß a l l e verabsolutierten Schöpfungsgestalten (Volk, Geist, Wirtschaft usw.) bestimmte menschliche Bezirke unberührt und bindungslos lassen und damit zur chaotischen Empörung treiben. In d e m Augenblick aber, wo ich mich als ganzer Mensch aus den Händen Gottes hervorgegangen weiß und mich ebenso ganz gefordert sehe, gibt es keinen vor Gott verschlossenen und seinem Hoheitsbereich entzogenen, „bindungslosen" Bezirk mehr: Wer oder was i s t denn dieses Ich, das sich da von Gott geschaffen weiß!? Das bin doch ich, insofern ich Zoon politikon bin, das bin doch ich, insofern ich einem bestimmten Volke, einem bestimmten Geschlecht usw. zugehöre. Also bin ich mich in meiner Bindung an das Volk G o t t schuldig. Man beachte dabei die feine Nuance, die doch so weltbewegend ist: Es heißt nicht: deshalb bin ich dem Volk als einer Schöpfung Gottes h ö r i g , sondern : deshalb bin ich mich als Zugehöriger meines Volkes (G o 11 schuldig. Das heißt: Durch mein Deutscher- oder Engländer- oder Russé-sein hindurch soll ich Gott fürchten und lieben. Auch die Zugehörigkeit zu meinem Volk ist unter Gott und in der heiligen Verantwortung vor ihm zu durchleben. Deshalb aber ist sie auch nicht nur durch Gott g e g e b e n , sondern ebenso durch ihn b e g r e n z t . „Man soll Gott mehr gehorchen als den Menschen". Die Tatsache, d a ß überhaupt ein solcher Konflikt zwischen Gott und Mensch, zwischen Schöpfer und geschöpflichen Institutionen möglich ist, stellt schon eine deutliche Demonstration dessen dar, daß Gott nie 122 mais mit seiner Schöpfung gleichgeschaltet und mit ihr identisch ist, geschweige in ihr aufgeht. Volksgenosse-sein als geschöpfliche Bindung ist Ordnung und Bindung „unter G o t t " — nichts anderes. Eben deshalb behalte ich immer mein Selbst, das ein Herr a u c h des Dinges „Volk" und aller andern Dinge ist und ihm nicht Untertan sein kann. Gerade aus dieser Freiheit unter Gott bin ich in es hineingewiesen. Das ist der qualitativ unendliche Unterschied zum Kollektiv, wo ich mein Selbst verloren habe und hörig werde. Oder sollte etwa kein qualitativ unendlicher Unterschied sein zwischen einem „Mitmachen" aus Hörigkeit und einem „Mitmachen" aus Gehorsam, zwischen Personlosigkeit und Personhaftigkeit ? 3. Damit kommen wir zu folgender merkwürdiger Beobachtung : Wenn man sagt: Diese oder jene Schöpfungsgestalt ist mir a l l e s , wenn man sie also verabsolutiert, so führt dies nach unserer Analyse im Eingangskapitel schließlich zur Nichtigkeit aller Dinge und des Menschen selber, es führt in das Reich der Zerstörungsmächte und weltanschaulich in Nihilismus und Hörigkeit hinein. Wenn man aber umgekehrt sagt: „Wie garnichts sind alle Menschen und Dinge" — nämlich vor dem, der allein ist —, so führt das gleichsam unerwarteter Weise zu jener F r e i h e i t der an Gott Gebund'nen, die sie im Namen der Furcht und Liebe Gottes in die Schöpfung hineingehen läßt und ihnen im Großen und Kleinen, in Leiden und Freuden den Halt des ewigen Grundes gibt. Wo der Mensch sich vor Gott nichtig weißwird i h m a l l e s g e s c h e n k t , da bekommt er wirklich die Schöpfung, da wird er „ p r o d u k t i v " . Wo aber umgekehrt der Mensch sich als königlicher Gestalter von Welt und Geschichte wähnt, da wird ihm alles genommen. *) Herr, ich bin unreiner Lippen" . . . ; (Jes 6, 5) „Herr, gehe vor mir hinaus, ich bin ein sündiger Mensch" . . . (Luk 5, 8). 123 Und indem er das Chaos um sich aufbrechen sieht, entsinkt die Schöpfung dem Zugriff des Usurpators und läßt ihn im Leeren. Hier verstehen wir die Fremdheit und die Verheißung der Kirche in der Welt, wir verstehen auch, warum sie für den Draußenstehenden (also für den religiösen und den unreligiösen Menschen) in einem solchen Zwielicht steht, in einem Zwielicht, das sie ihm rätselhaft und unbegreifbar macht: Dies Zwielicht besteht darin, daß sie auf der e i n e n Seite ein Stück „Welt" ist: nicht nur als Körperschaft des öffentlichen oder privaten Rechts sowie als irdische Organisationsform mit allem Menschlichen allzu Menschlichen, sondern auch grundsätzlich insofern, als sie die Menschen in die Welt h i n e i n r u f t und gerade a u s der Bindung an Gott heraus sie der S c h ö p f u n g verpflichtet. Andererseits besteht das Zwielicht darin, daß die Kirche die gleichen Menschen aus dieser gleichen Welt h e r a u s r u f t , und zwar als s o l c h e herausruft, die diese Welt als eine vergehende sehen und die sich selbst in ihrem Gehorsam gegenüber der Welt begrenzt sehen durch das Fürchten und Lieben Gottes. Denn dieses Fürchten und Lieben hat ihnen über alle Dinge zu gehen. Gerade dieser letzte Gedanke hat ja seine stärksten neutestamentlichen und reformatorischen Ausprägungen gefunden: so etwa, wenn Luther die Schöpfungsmächte „Gut, Ehr', Kind und Weib" gegen das „Reich" abhebt, „das uns doch bleiben muß", wenn ferner und vor allem Jesus Christus die Schöpfungsmacht der kaiserlichen Obrigkeit von G o t t distanziert und die politische Gehorsamspflicht durch ihn begrenzt sieht: „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist". Hierin ist der gewaltige Spannungs-bogen zwischen Römer 13 und Offenbarung Johannes 13 angedeutet, der sich wölbt vom J a zur gottgesetzten Obrigkeit bis hin zum Nein und zur Abgrenzung gegen die Verzerrung des Schöpfungsbezirks im dämonischen Machtstaat. (Vgl. dazu das Kapitel über die Wirklichkeit des Dämonischen.) Ich glaube, wir verstehen jetzt, was der bindungslos gewordene, schöpfungs- und chaos-hörige Mensch gegen die Kirche hat, was er tief unterhalb jener Schlagworte und Mätzchen hat; die er äußerlich gegen sie im Munde führt. Es ist die instinktive Abwehr und Sicherung gegen das Gericht und gegen die gnadenhafte Beglückung von Gott her, die beide darin liegen, daß ich g a n z umgeworfen und ebenso g a n z an ihn gebunden werde — reichsunmittelbar über alle geschöpflichen Autoritäten hinweg —, daß ich aus allem herausgerufen und in alles neu hineingeschickt werde, daß ich aus der Schein- 1 freiheit und Bindungslosigkeit des Nihilismus herausgerufen und in die neue Bindung und Reichsordnung hineingestellt und daß ich gerade in dieser Bindung ein freier Mensch und niemandem Untertan werde. 125 EXKURS ZUM 2. KAPITEL Psychotherapie und Seelsorge {Eine Frage an die Mediziner) Wenn ich im folgenden den Versuch unternehme, im Sinne unserer bisherigen Marschroute und mit Hilfe der gewonnenen Resultate ein G r e n z g e b i e t zwischen Theologie und Medizin zu betreten und einige mir entscheidend dünkende Fragen zu stellen, so bitte ich, die hier angedeuteten Probleme um ihres grundsätzlichen und weitreichenden Charakters willen wirklich als F r a g e n und zwar als o f f e n e Fragen aufzufassen. Eine A n t w o r t kann nur von selten einer fachlichen Durchdringung dieser Probleme gegeben werden, die nicht von heut auf morgen zu erledigen ist. Dennoch ist es nötig, daß die Frage als solche zunächst einmal von der Ebene u n s e r e r Problemstellungen her aufgewiesen wird, da der Ort, an dem sie auftaucht, von der „nur" medizinisch interessierten Neurosenlehre und Psychotherapie schwerlich eingesehen werden kann. Auf jeden Fall hoffen wir, mit unsern Fragen einen Beitrag zu den Ganzheitsbemühungen der heutigen Medizin zu liefern1). Wir erinnern uns noch einmal an den Ausgangspunkt des letzten Kapitels: Die instinktive Abwehr gegen Kirche und *) Auf den hier angedeuteten Gebieten denke ich dabei an die verdienstvollen Forschungen von Adler, Kunkel u. a. Besonders auch Bovet, Die Ganzheit der Person in der ärztl. Praxis. Ferner: Thournier, Krankheit und Lebensprobleme. 126 Dogma rührt daher, so lautete unsere Feststellung, daß wir uns (im Sinne der christlichen Botschaft) als Gebundene, in eine neue Seinsordnung Einzufügende verstehen müssen, die dem „andern" begegnen und vor ihm kapitulieren müssen. Das führte zur Flucht vor dem Du des Schöpfers hinein in die Schöpfung, damit aber zu den verabsolutierten Schöpfungsgrößen (Götzendienst), zum Chaos der inneren und äußeren Welt und endlich zum Nihilismus. Das deutlichste Symptom dieses Nihilismus war die völlige Relativierung von Gut und Böse mit Hilfe pragmatischer Gesichtspunkte („gut ist, was einem Zwecke nützt . . ."): Das Gute ist damit nur Ausdruck eines bestimmten Zweckwillens, ist aber selbst nicht mehr jene unbedingt autoritäre Größe, die selber die Zwecke regelt. Der entscheidende und für unser neues P r o b l e m wirksame Punkt ist dabei der, daß das Gute d e n C h a r a k t e r e i n e s „A u s d r u c k s " b e k o m m t , d. h. es wird zum Ausdruck von etwas, das es selber n i c h t i s t . Das gleiche gilt natürlich ganz entsprechend vom B ö s e n . (Es wird z. B. zum „Ausdruck" jener Kraft, „die stets das Böse will und stets das Gute schafft". Oder es wird nach Schiller zum schöpferischen Ermöglichungsgrund der Freiheit, so daß der Sündenfall die glücklichste Tat der Weltgeschichte ist. Oder es besitzt die mephistophelische Form, „zu reizen, zu wirken und als Teufel zu schaffen", weil der Mensch von sich aus die „unbedingte Ruh'" liebt und deshalb zu erschlaffen droht.) An dieser Stelle wird das Problem von P s y c h o t h e r a p i e u n d S e e l s o r g e in besonderer Weise sichtbar. Wir gehen von einer äußeren Beobachtung aus: Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich feststelle, daß der offizielle kirchliche Seelsorger — mehr noch in der evangelischen als in der katholischen Kirche - von weiten Kreisen nicht mehr oder noch nicht wieder als Hilfe in seelischen Nöten in An- 127 Spruch genommen wird. Braucht man diese Hilfe, so wendet man sich in den weitaus meisten Fällen an den N e r v e n a r z t . Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt hat sich die Amtsstube des Pfarrers geleert und das Wartezimmer des Nervenarztes gefüllt. Die Leerung des Amtszimmers muß um so nachdenklicher und stutziger machen, je mehr sich die Fälle psychischer Erkrankungen und Anomalien häufen. Selbst von diesen gehäuften Vorkommen scheint kaum eine Abzweigung zum kirchlichen Seelsorger hin zu erfolgen. Vielmehr scheinen auch d i e s e Fälle in der großen Mehrzahl das Sprechzimmer des säkularen Nervenarztes aufzusuchen. Wenn ich dieser Erscheinung gegenüber nun die Warum-Frage stelle, so sehe ich von vornherein von sekundären Erklärungsgründen ab. Ich stelle also n i c h t in Rechnung den Umstand, daß der kirchliche Seelsorger meist einen sehr geringen psychologischen Bildungsstand besitzt, daß seine Universitätsbildung unverantwortlicherweise so gut wie keine Rücksicht auf diesen Zweig seiner Tätigkeit genommen hat und daß sich nicht zuletzt von d i e s e m Gesichtspunkt her eine Vertrauenskrise des kirchlichen Seelsorgeamtes ergeben hat. Dieser Erklärungsgrund wäre schon deshalb sekundär, weil ihm auf der Seite des Nervenarztes durchaus ein Äquivalent entsprechen würde: nämlich die allgemein zu beobachtende Hilflosigkeit des säkularen Neurologen und Psychiaters gegenüber solchen pathologischen Erscheinungen, die irgendeinen weltanschaulichen Untergrund verraten. Ich denke dabei ζ. B. an religiöse Anomalien, die anscheinend oder scheinbar — das ist hier die Frage I — nur von der gleichen weltanschaulichen Ebene aus zu beherrschen oder zu behandeln sind. Nehmen wir ζ. B. einen Christen an, der unter zweifellos pathologisch verzerrten und aufgetriebenen Schuldgefühlen leidet oder mit einem Sakrileg-Komplex zum Nervenarzt kommt. Der behandelnde Arzt bekäme das hier vorliegende Krankheitsbild zweifellos gar nicht korrekt in den Blick, wenn er — nehmen wir an> no er sei dezidierter Nicht-Christ —, jene krankhaften Veränderungen in der christlichen Lehre von der Erbsünde begründet sieht, wenn er also das christliche Dogma nicht nur als den Rahmen auffaßt, der hier ein krankhaftes Erscheinungsbild umschließt, sondern wenn er es selber für psychotisch und Psychosen erregend hält. Von dieser „Außensicht" her bekommt er unmöglich den Punkt zu Gesicht, wo die Abzweigung ins Psychopathische erfolgt, weil der ganze Baum krank zu sein scheint. An dieser Stelle sehen wir Diagnose und Therapie entscheidend abhängen von der Frage, ob Arzt und Patient auf der gleichen weltanschaulichen Ebene miteinander stehen oder ob das nicht der Fall ist. Weil man das auch in der medizinischen Diskussion mehr und mehr einzusehen beginnt, taucht die Frage der weltanschaulichen Kommunikation zwischen Arzt und Patient und vor allem der Relevanz der Weltanschauung überhaupt für die ärztliche Behandlung in zunehmendem Maße auf. Wir versuchen nun im folgenden in eine tiefere Schicht vorzustoßen und von h i e r aus nach einer Erklärung zu fragen. Wenn man bedenkt, daß die meisten Nervenkrankheiten, die Neurosen und Komplexe usw. eine innere Verbindung mit Schuldgefühlen, Hemmungen und Minderwertigkeitsgefühlen zu haben scheinen und daß sie also eine gewisse Beziehung zu „Gut" und „Böse" haben, dann legt sich folgende Deutung des geschilderten Tatbestandes (also der Bevorzugung des Nervenarztes vor dem Seelsorger) nahe: ι. Der säkularisierte Mensch hat ein deutliches und auch direkt ausgesprochenes Interesse daran, in allen medizinischen Gebieten, die an die sittliche Fragestellung des Guten und des Bösen grenzen, jenseits von Gut und Böse behandelt zu 1 werden ). *) Auch bei den religiös gebundenen (überhaupt bei j e d e m ) Menschen liegt dieses Interesse vor, weil jeder von Natur den Wunsch hegt, dem Gerichte auszuweichen. Das meint man am besten dadurch zu er- III 1 Man braucht hier gar nicht so sehr an die komplizierten psychopathologischen Grenzgebiete zu denken, sondern nur etwa an die Geschlechtskrankheiten. Gerade hier vermag der Wunsch nach medizinischer „Sachlichkeit" der Behandlung nicht darüber hinwegzutäuschen, daß man eine Begrenzung auf den nur körperlichen Sektor des Geschehens und damit eine deutliche Entmoralisierung des Leidens wünscht. Der Arzt darf sich keineswegs das Recht anmaßen, den Patienten wegen seines galanten Leidens zur Rechenschaft zu ziehen. Die bloße Organbehandlung gestattet ihm im Namen der Sachlichkeit und der „Fachlichkeit" eine gewisse Entpersönlichung, man kann auch sagen „Verdinglichung" des Leidens. — Was sich hier in besonderer Direktheit zeigt, wird auch für die psychischen Erkrankungen gelten, die irgendeine Affinität zu den Schuldproblemen haben (diese Affinität haben jawohl die meisten): Man wünscht auch hier, jenseits von Gut und Böse, in medizinischer „Sachlichkeit", behandelt zu werden. Man wünscht frei zu bleiben gegenüber einem Anspruch und erst recht gegenüber jeder richterlichen Rechenschaftsforderung. Gewiß: Man möchte gerne b e f r e i t sein von Schuldgefühl, Hemmung und Verfolgungswahn; man möchte so etwas haben wie der Christ, der um „Vergebung" und um „Frieden" weiß. Aber man möchte n i c h t durch das Sperrfeuer des Gesetzes und des Gerichts hindurch, um zu jener Freiheit zu gelangen. Man möchte das „Jenseits von Gut und Böse" statt der „Vergebung". Man möchte das „Werden", aber nicht das „Sterben". Man möchte nicht Überwindung der S c h u l d , sondern ein Ausreden des Schuld g e f ü h 1 s. Man möchte nicht den Durchbruch durch die Front des Verklägers — der einen ja zwänge, den reichen, daß man überhaupt der F r a g e s t e l l u n g „gut und böse", ausweicht. Es handelt sich nur um Gradunterschiede der Offenheit, in der das zugegeben wird, sowie in der Freizügigkeit, nun tatsächlich der Sphäre des Guten und des Bösen auszuweichen). Verkläger wenigstens e r n s t zu nehmen — sondern man möchte Neutralität. Man möchte die Absolution ohne Gnade, die Absolution als „Selbstverständlichkeit". Diesen immer wiederkehrenden Vorgang in der Welt des säkularisierten Menschen schildert Gertrud von Lefort in ihrem Buch „Das Schweißtuch der Veronika" (München I935): »Statt zum Sakrament floh ich zur Wissenschaft: ich beichtete dem Arzt und empfing von ihm die einzige Absolution, welche die Welt zu spenden vermag, nämlich die Absolution des Psychiaters, vor dem es keine Sünde gibt, die nicht vergeben werden kann, weil es ja keine Seele gibt, die sich Gott versagen kann. Und diese Absolution hat mir jenen furchtbaren Frieden verliehen, in welchem heute Tausende leben, deren Krankheit nichts anderes ist, als daß sie den Frieden Gottes verschmähten ! Denn auch die ganz Fernen haben ein Entweder-Oder zu Gott, andernfalls lebten sie nicht." Die Furchtbarkeit dieses Friedens besteht also darin, daß er k e i n e Befriedung der Schuld ist, d. h. daß er nicht einen Frieden bedeutet, der zwischen der göttlichen und der menschlichen Front geschlossen wäre, sondern daß er auf der VogelStrauß-Illusion beruht, als bestünde jene Frontstellung und als bestünde der Abgrund und der Riß n i c h t . Die Furchtbarkeit dieses Friedens ist sein Illusionismus: als gäbe es keinen Gott, als gäbe es keine Seele und als gäbe es folglich auch keinen Zerbruch zwischen beiden. Das Furchtbare dieses Friedens ist die hauchdünne Eisdecke, von der man meint, daß sie einen über die Abgründe dieses Lebens trüge. 2. Durchaus abhängig von dieser weithin geltenden Einstellung des Säkularismus ist nun die Einstellung der durchschnittlichen Psychotherapie. Das zeigt sich an der Art, wie etwa auftauchende Schuldgefühle und Depressionen (ζ. B. im Krankheitsbild des manischdepressiven Irreseins) gedeutet werden. Man pflegt sie nämlich so aufzufassen, daß sich hier ein wie immer beschaffener psychischer Defekt innerhalb 8 T h i e l i c k e , Fragen des Christentums. II3 des Koordinations systems „gut und böse" „a u s d r ü c k t". (Wir haben im Zusammenhang des Pragmatismus ja über den Ausdruckscharakter von Gut und Böse gesprochen): Eine Depression sucht sich eben die verschiedensten Ausdrucksformen: Auf der ä s t h e t i s c h e n Ebene etwa drückt sie sich aus als „Schwarz-inSchwarz-sehen". (Man vermag sich nicht mehr am Schönen zu freuen) ; auf der w i r t s c h a f t l i c h e n Ebene als Verfolgungswahn und pathologisches Mißtrauen. Warum soll das gleiche „Sich-aus drücken" nicht auch auf der m o r a l i s c h e n Ebene stattfinden une] als Schuldkomplex; in Erscheinung treten? Das Schuldgefühl wäre also in diesem Falle als Ausdruck und damit als „Symptom" aufzufassen, und zwar als Symptom eines hintergründigen psychopathischen Tatbestandes, der selber nichts mit Schuld zu tun hätte. Dann aber wäre es in der Tat falsch, SymptomTherapie zu treiben, d. h. die Schuldgefühle für sich isoliert zu behandeln: sei es, daß man sie (etwa durch Suggestion) dem Patienten ausredet oder daß man von Vergebung spricht. Es kommt dann lediglich darauf an, in den genuinen Hintergrund der Symptome, also in den eigentlichen psychischen Krankheitsherd vorzudringen. Da dieser selbst aber ursprünglich nichts mit dem Schuld-Symptom zu tun hat, so geht es also wirklich und soweit auch ganz logischerweise um eine Behandlung jenseits von Gut und Böse. Durch verschiedene Analysen wird der unbewußte Hintergrund des Schuldsymptoms erhellt. Dieses selbst wird dem Patienten als das Produkt (sagen wir ruhig: als das kausal ableitbare Produkt) verschiedener Kindheitstraumata oder ähnlicher Ursachen dargestellt und damit der Sphäre der Freiheit entzogen, in der alle echte Schuld und alles echte Schuldwissen gründen. Es ist das Ergebnis eines Prozesses, zu dem der Patient sich rein als Objekt verhält. „Schuld" und „gutes Gewissen" entstehen aber in e c h t e r Weise nur da, wo ich mir der Freiheit bewußt bin, aus der ich handelte, und also 132 um die Verantwortung weiß, die ich zu tragen habe. Ich kann mir meine „schuldhafte" oder ,?gute" Tat nur zurechnen, indem ich mich f r e i , d. h. als erste Ursache, eben als „Schöpfer" jener Tat weiß. Indem aber meine Taten, mein Gewissen, mein Fühlen, überhaupt meine ganze subjektive Existenz als Produkte überpersönlicher und von meiner Verantwortlichkeit gelöster Zusammenhänge aufgefaßt werden, wird meine Freiheit geleugnet und damit auch der echte Schuldcharakter meiner Depressionshintergründe bestritten. Daher kommt es, daß für die so verfahrende Psychotherapie die Diagnose (d. h. die Erhellung jener überpersönlichen Zusammenhänge) identisch ist mit der T h e r a p i e . D i e E n t d e c k u n g des den Schuldkomplex verursachenden Traumas ist identisch mit seiner H e i l u n g . Gewisse Heilerfolge scheinen die Richtigkeit der Theorie zu bestätigen. Zweifellos geschieht es in zahllosen Fällen, daß die Heilung eintritt (wenn wir auch die von Gertrud von Lefort aufgezeigte Fragwürdigkeit stets mit dieser Art „Heilung" zusammensehen müssen). Man wird dabei zwei Formen der Heilung unterscheiden müssen : ι . Diejenige, die sich ereignet, wenn etwas ungegenständlich mich Bedrückendes und wegen seiner Ungegenständlich-keit Ungreifbares, gerade deshalb aber Q u ä 1 e η d e s , in die Sphäre des Gegenständlichen und Bewußten erhoben wird. Das ist dann ein harmloser und in tausend Lebenszusammenhängen feststellbarer Fall. Ζ. B. kann meine schlechte depressive Laune in etwa dadurch geheilt oder erleichtert werden, daß ihr die Unbestimmtheit des W o h e r genommen wird, daß mir ζ. B. klar wird: sie liegt im schlechten Wetter oder in meiner Schlaflosigkeit usw. Ich gewinne dann eine Gelegenheit, mich über sie zu erheben, weil ich nun weiß, womit ich's zu tun habe. Ich kann mich damit auseinandersetzen. Damit aber bin ich dann nicht mehr einfach das passive O b j e k t der Laune als eines für mich ungreifbaren und 8* "5 deshalb unheimlichen Impulses im Hintergründe meines Ich (darin lag doch das Quälende), sondern sie muß sich mir zum Kampfe stellen und auf ihre Berechtigung hin prüfen lassen. Noch deutlicher wird diese befreiende Wandlung des Ungegenständlichen in das Gegenständliche am Verhältnis von „Angst" und „Furcht": Das Quälendste ist immer das unbestimmte Angstgefühl, die bange Ahnung, die Katastrophenstimmung. Ihre Befreiung ist in dem Augenblick — wenigstens zum großen Teile — gegeben, wo ich die unbestimmte „Angst" in die „Furcht" verwandeln kann, die etwas ganz B e s t i m m t e s „befürchtet". Auch d a n n werde ich nicht mehr passiv von der Angst geschüttelt, sondern kann mich mit dem Gegenstande meiner Befürchtungen auseinandersetzen, denn er ist ja nun ein solcher „Gegenstand" geworden. Goethe hat bekanntlich im „Faust" diesen quälenden Charakter des UngegenständlichUnbestimmten an der „Sorge" gezeigt, die nicht vom Gegenständlichen her (dem gegenüber ich bestimmte Befürchtungen hegen müßte) in mein Herz bricht, sondern die umgekehrt aus den ungegenständlichen Hintergründen des Herzens in das Gegenständliche projiziert wird. (Gerade ihre U η bestimmtheit ist ja ihre Qual!): „Sie deckt sich stets mit neuen Masken zu, Sie mag als Haus und Hof, als Weib und Kind erscheinen, Als Feuer, Wasser, Dolch und Gift; Du bebst vor allem, was nicht trifft, Und was du nie verlierst, das mußt du stets beweinen"1) In diesem Falle, wo das Unbewußt-Ungegenständliche ins Bewußtsein und damit in die Gegenständlichkeit erhoben wird, hat die Heilung jedenfalls keinen ungeistlichen Sinn, sondern verwirklicht ein dargereichtes Naturgesetz. Denn sie dient einfach und allgemein der K l ä r u n g der Ängste und Bedränghisse. Sie wird in diesem Falle aber auch nicht grund*) Vgl. ferner die ontologischen Analysen der Phänomene „Angst" und „Furcht"-in Martin Heideggers Werk „Sein und Zeit" (1929). 134 sätzlich darauf aus sein, das Schuldgefühl auf a n d e r e Gegenstände zurückzuführen, sondern zum mindesten die grundsätzliche Bereitschaft aufbringen, es in sich selbst zu klären und innerhalb des Koordinatensystems Von Gut und Böse stehen zu lassen. Auch in diesem Falle kann die Erhellung ein erstes Stadium innerhalb der Heilung bedeuten, gemäß dem Satz (der auch christlich gilt und in der Lehre von Gesetz und Evangelium expliziert ist): „Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung." 2. Die a n d e r e Form der Heilung durch Analyse bestünde dagegen nicht bloß in der einfachen Umsetzung des Ungegenständlichen in das Gegenständliche, sondern wäre so zu verstehen, wie wir es eben darlegten: als die Ableitung des Schuldgefühls aus dem Jenseits des Schuld-Gebietes ü b e r h a u p t , z. B. aus dem Jugend-Trauma und ähnlichen metaethischen Bereichen1). Das Schuldgefühl wäre dann nur die Projektion eines psychischen Defektes auf die moralische Ebene. Wir haben nicht bestritten, daß es durch diese Analyse t a t s ä c h l i c h eine Befreiung vom Schuldgefühl geben könne. Einfach deshalb gibt es diese Befreiung nämlich, weil eine derartige Analyse zugleich Befreiung von der V e r a n t w o r t u n g gewährt, ja noch mehr : eine Befreiung von der Eigenschaft des Menschen als Seele ü b e r h a u p t (um mit Gertrud von Lefort zu sprechen). Freilich würde diese Art der Befreiung nur zum schrecklichen trügerischen „Frieden des Psychiaters" führen, von dem Gertrud von Lefort ebenfalls sprach. Wir fassen zusammen: Dieser „Friede des Psychiaters" ist dadurch bestimmt, daß das Schuldgefühl des psychisch Kranken als bloßes Symptom einer völlig meta-ethischen Ursache aufgefaßt und dann entsprechend behandelt wird : E s w i r d *) Natürlich kann das Jugendtrauma selbst schon mit Schuld zu tun gehabt haben. Aber das wäre dann nur e i n e r unter allen denkbaren Fällen. 135 n i c h t e r n s t g e n o m m e n . Der medizinische Grundsatz, daß man möglichst keine Symptom-Therapie treiben solle, heißt hier: das Schuld-„Symptom" möglichst zu übergehen und statt dessen den „genuinen" Krankheitsherd aufzusuchen. Von hier aus ergibt sich nun unsere entscheidende Frage: Wie wäre es nämlich, wenn es mit dem Symptom-Charakter des Schuldgefühls gerade u m g e k e h r t stände und wenn man einer verhängnisvollen Verwechslung zwischen „Genuinem" und „Symptomatischen" verfallen wäre? Nämlich so (e r s t e r S a t z) : Es bestünde ein ungeheurer S c h u l d v o r r a t in der Welt, an dem jeder einzelne seine Teilhaberschaft hätte: Wieviel Mord, Terror, Schrecken ist nicht in der Welt, wie liefert nicht jede Generation ihren Beitrag zu dieser SchuldLawine, die immerfort anschwillt und mit einer verheerenden Wucht über den Erdball läuft: Kein Mensch vermag sich von dieser Menschheits-, dieser Welt-und Familienschuld zu distanzieren, ebensowenig wie er sich von dem „Zeitgeist" distanzieren kann. Irgendwie bildet er selbst einen Stein in diesem Gesamtmosaik; irgendwie ist das, was ihm hier.in geschichtlichen Dimensionen entgegentritt, eine makrokosmische Spiegelung s e i n e s Herzens : Machthunger, Expansionsdrang und Grausamkeit der „großen Welt" sind ein Abglanz auch s e i n e s rebellischen Herzens. Und allen Abscheulichkeiten und Verbrechen gegenüber, die einzelne Individuen begehen, muß er mit Goethe bekennen, daß er ihren Keim auch in s i c h vorfinde und mit Adalbert Stifter, daß der Tiger auch in i h m auf dem Sprunge liege1). (Vgl. das spätere Kapitel über die Wirklichkeit des Dämonischen.) Wäre es nun nicht denkbar und m u ß es nicht vielleicht so gedacht werden ( z w e i t e r S a t z ) , daß dieser Schuld-*) Vgl. Francis Thomson, The heart. n136 vorrai in psychisch labilen Menschen eher zum Durchbruch kommt oder zumindest empfunden wird als in den Robusten und Gesunden? Daß also die „Macht der Finsternis" sich nach dem Gesetz des geringsten Widerstandes gerade solche Naturen als Durchbruchstelle erwählt, während die gesunden und starken Naturen — wie wir alle an uns selbst und an andern beobachten können — Schuld- und Gewissensfragen mit großer Kraft zu v e r d r ä n g e n wissen und sich gleichsam dagegen zu immunisieren suchen? Wir wissen es ja auch aus dem n o r m a l e n Sektor des Lebens, daß feinnervige, sensible Charaktere in der Regel unter ethischem Versagen und unter Gewissensskrupeln viel mehr zu leiden pflegen als etwa derbe und phlegmatische Typen, die mit dem Gegengift innerer Abreaktion reichlich versehen sind und „großzügig" darüber hinwegzugehen pflegen. Innerhalb dieses „normalen" Sektors aber würde es niemandem einfallen, etwa die Gewissensbetroffenheit des Sensiblen einfach auf Illusionen und Hirngespinste zurückzuführen» Vielmehr sind wir hier durchaus geneigt zuzugeben, daß der Sensible nur ein feineres Gespüre für das objektive Vorhandensein an Schuld besitzt. Im Glaubensleben des Christen können wir zudem eine Erscheinung beobachten, die durchaus auf der gleichen Ebene liegt: daß nämlich dieses Gespüre in der Schule des Heiligen Geistes einer ständigen Verfeinerung unterzogen wird. So entsteht im Laufe des Christenlebens ein Zustand, der nur dem Außenstehenden grotesk erscheint: daß nämlich das Wissen um Schuld und Vergebungsbedürftigkeit immer mehr wächst, obwohl man doch „von außen her" postulieren müßte, daß es durch die Schule der Heiligung immer mehr abzunehmen hätte — und zwar insofern mit R e c h t abzunehmen hätte, als die Schuldenlast scheinbar durch die Heiligung immer mehr abgetragen wird. Sollten uns diese Beobachtungen nicht dahin belehren können, daß in den psychopathologischen Be 137 reichen Ähnliches vorliegt? Daß also, im Prisma des seelisch Kranken gebrochen, eine e c h t e Wirklichkeit zur Erscheinung drängte, der gegenüber der verdrängungsfähige Gesunde eine undurchsichtige Wand aufzurichten pflegt? D a ß a l s o d a s V e r h ä l t n i s d e s p a t h o l o g i s c h e n S c h u l d g e f ü h l s z u r n o r m a l e n „H a r m -l o s i g k e i t " g a r n i c h t e i n f a c h z u b e s t i m m e n w ä r e a l s d a s V e r h ä l t n i s v o n „E i η b i 1 -d u n g " u n d „Wirklichkeit", sondern als „D u r c h s i c h t i g k e i t " (wenn auch gebrochene Durchsichtigkeit) u n d „U n d u r c h s i c h t i g k e i t " ? Ich wage diesen Tatbestand an einem grotesken Beispiel zu illustrieren/Wenn etwa ein depressiv Irrer behauptet1): Ich bin schuld an diesem Kriege, ich habe die Bombenangriffe gemacht, ich habe die Flüchtlingsheere in die Nacht von Hunger und Kälte geschickt — dann wird selbstverständlich niemand daran zweifeln, daß das eine krankhafte Aussage ist und daß sie — was die real feststellbaren Ursachen anbelangt — in keiner Weise zutrifft. Und doch scheint durch die pathologische Gebrochenheit dieser Aussage eine W a h r h e i t hindurch: daß wir alle, die wir diesen Krieg und das Schicksal jener unzähligen Scharen des Schreckens erleben, auf geheimnisvolle und hintergründige Weise in die Ursächlichkeit alles dessen verwoben sind. Der Krieg ist ja doch — wie immer die konkreten Kriegsanlässe aussehen mögen — eine Folge menschlicher Schuld, und zwar einer G e s a m t s c h u l d . Es spiegelt sich makrokosmisch das, was in kleineren Proportionen zwischen den einzelnen Menschen ebenfalls deutlich wird : Nicht-verstehen, Mißtrauen, Machthunger und vieles andere. (Es ist deshalb ganz charakteristisch und notwendig, daß die Kriegsschuldfrage zu jedem Kriege hinzugehört.) Und wenn wir schon an die Männer unter uns denken, die bei diesem *) Der folgende Bericht entstammt einer Patientenaussage, die mir selbst gegenüber gemacht wurde. T138 Geschichtemachen so verhängnisvoll beteiligt sind: — wer kann es denn wagen (obwohl er im einzelnen nichts mit ihnen gemein zu haben braucht und selber vielleicht zu ihren Opfern und Verfolgten gehört) — wer kann es wagen, frage ich, sich in einem letzten Sinne von diesen Männern zu distanzieren? Sind wir nicht alle, ja sind unsere Väter nicht bereits bei der Vorbereitung der geschichtlichen Entwicklung, die auf jene Männer führte, maßgeblich beteiligt, so daß sie überhaupt erst zu dem kommen k o n n t e n , was sie schließlich wurden und taten? Kommt also in der Schulddepression des genannten Geisteskranken und in seiner Selbstanklage nicht neben aller grotesken Verzerrung ein hintergründiges Wissen zum Ausdruck, das der Normale weder so noch in einer „gesunden" Form nach oben läßt? Ist es also nicht wirklich so — wie Theodor Bovet in seinem ausgezeichneten Buch „Die Ganzheit der Person in der ärztlichen Praxis" sagt — „. . . als ob (etwa) in der hysterischen Persönlichkeit leichter als anderswo eine der Wissenschaft bisher unbekannte Welt durchbrechen würde" —? Wir könnten genau so formulieren im Hinblick auf die besprochene Schuldwirklichkeit im Krankheitsbild der Depression und ähnlichen Erscheinungen. E s scheint eine echte Wirklichkeit durch eine g e t r ü b t e o d e r v e r z e r r e n d e L i n s e . Es geht um eine personhafte Wirklichkeit des vor Gott stehenden und von Schuld belasteten Menschen, eines Menschen, der sie gleichsam in übermächtiger Stellvertretung tragen und durchleiden muß für die vielen, die das Tor ihres Gewissens verdrängend und hinausdrängend vor ihr zuschlagen. Vielleicht hat man davon etwas gewußt und andeuten wollen, wenn man in früheren Zeiten vom Wahnsinn als dem morbus sacer sprach. Wenn ich es deshalb meine ablehnen zu müssen, daß man den depressiven Krankheitsherd und das Schuldgefühl in ein kausales Abhängigkeitsverhältnis zu einander bringt, so daß I2T das Schuldgefühl bloßes Symptom wäre, so muß auch das U m g e k e h r t e abgelehnt werden : daß nämlich die Schuldwirklichkeit nun einfach zur U r s a c h e der Erkrankung gemacht wird. Sicher gibt -es Fälle, in denen auch d a s eintritt. Aber im allgemeinen liegt kein Kausalverhältnis vor. Die personhafte Seite (die Schuld) ist die durchscheinende Innenseite des Krankheitsbildes. Beide Seiten haben ihre eigene und voneinander unabhängige Kausalität1). |ttWenn das alles aber so ist oder sein sollte, wird man bestimmte F o l g e r u n g e n f ü r d i e T h e r a p i e ziehen müssen. Man wird dann das Schuldwissen nicht einfach als gleichgültiges Symptom behandeln dürfen, sondern wird es ernst nehmen müssen. Das würde konkret heißen, daß hier die seelsorgerliche Verkündigung von Gericht und Gnade, Schuld und Vergebung angemessen wäre. Nur indem sie geschieht, und zwar in letzter seelsorgerlicher S o l i d a r i t ä t mit dem Kranken geschieht (vgl. letztes Kapitel), wird jene Schuldwirklichkeit überhaupt ernst genommen und wird das hintergründige Geheimnis dessen anerkannt, was wir den „Schuldvorrat der Welt" nannten. ^Selbstverständlich erschöpft sich die Welt, die in den seelischen Krankheitsphänomenen zum Durchbruch kommt, nicht in dem Phänomen der Schuld. Man braucht nur an die Geschehnisse um Blumhardt zu denken, um eine F ü l l e solcher durchbrechenden Wirklichkeiten vor Augen zu haben. Zugleich wird uns an Blumhardt das Ernstnehmen von Schuld, Dämonie, Besessenheit und andern Erscheinungen deutlich, um dessen Begründung es uns in diesem Exkurs geht. Er ist ihnen als Seelsorger mit der vollmächtigen Predigt von Gericht und Gnade entgegengetreten. Der Verfasser möchte in diesem Zusammenhang nicht verschweigen, daß er in seiner *) Darüber hat übrigens Bovet sehr einleuchtende Dinge gesagt: Vgl. S. 174—175. 140 eigenen Seelsorge mit diesem Ernstnehmen des Schuldgefühls, das er eben nicht als Symptom behandelte, sondern umgekehrt auch in seiner krankhaften Verzerrung als eine Realität wertete und deshalb des realen Zuspruchs der Vergebung würdigte, einige erstaunliche Erfahrungen, auch t h e r a p e u t i s c h e Erfahrungen gemacht hat. Es scheint so, als ob manche Richtungen der „am Geist orientierten Psychotherapie" (Adler, Künkel u. a.) für dieses Ernstnehmen der Schuldwirklichkeit zunehmend Verständnis gewännen. Das scheint mir schon darin zum Ausdruck zu kommen, daß die Individualpsychologie mit ihrem f i n a l e n Ansatz bei der Diagnose*) ganz neu die V e r a n t w o r t u n g in ihre Therapie einbaut. (Die Verantwortung aber hat ja eine unmittelbare Affinität zum Schuldproblem.) Wir stehen also vor dem Ergebnis, daß Psychotherapie ohne die Seelsorge und die von ihr gewußten und vollmächtig eingesetzten Wirklichkeiten von Gericht und Gnade nicht möglich ist. Ohne dieses „Wissen" und dieses Eintreten in den Bezirk der Gnade gibt es nur den „dämonischen Frieden des Psychiaters" (v. Lefort). x) D. h. sie fragt nicht: W o h e r rührt etwa die Neurose? (das wäre die kausale Fragerichtung), sondern: w o z u habe ich sie mir angeschafft, was will ich mit ihr erreichen, wovor will ich mich mit ihrer Hilfe drücken? (finale Fragerichtung). DRITTES KAPITEL TREIBENDE FAKTOREN DER VERWELTLICHUNG: TECHNIK UND ZIVILISATION CHRISTUS UND DAS TECHNISCHE ZEITALTER Der Einbruch der Technik in die moderne Welt Ernst J ü n g e r hat einmal den Ausspruch gewagt, daß „bereits heute inmitten der Zuschauerringe eines Lichtspieltheaters oder eines Motorenrennens eine tiefere Frömmigkeit zu beobachten ist, als man sie unter den Kanzeln und vor den Altären wahrzunehmen vermag". (Arbeiter S. 155.) Bei einer solchen Feststellung befällt uns freilich ein leichtes Unbehagen. Wir werden sofort von der Frage angepackt, ob diese Art der Ergriffenheit, die den Gottesglauben scheinbar abgelöst hat, wirklich als „Religion" zu bezeichnen wäre, oder ob sie nicht vielmehr ein A f f e der Religion ist und geradezu mit dem W i d e r s p i e l e r aller Religion zusammenhängt. Ich weiß auch nicht, ob der heutige Ernst Jünger ein solches Wort wiederholen könnte. In zweierlei Hinsicht ist aber hier etwas zweifellos Richtiges gesehen: ι. Einmal nämlich ist der Stärkegrad durchaus richtig bezeichnet, in dem der heutige Mensch durch die Erscheinungen der Technik gebannt ist. Ein Religionslehrer braucht nur als Beispiel für irgend etwas einmal das Problem der Atomzertrümmerung mit ihren möglichen wirtschaftlichen und militärischen Auswirkungen zu zitieren, und er wird bei seinen 142 Jungen eine derartige Geste von gespitzten Ohren hervorzaubern, daß er sich wirklich fragen kann, ob die Lebensgewalt seines Beispiels nicht den religiösen Gegenstand, den er mit seiner Hilfe veranschaulichen wollte, einfach erschlägt. 2. Noch eine weitere Parallele zwischen Religion und Technik wird man ziehen dürfen: In der Technik scheint so etwas geschehen zu sein wie der Einbruch von etwas F r e m d e m , wie der Hereinbruch des „ganz andern" in unser Leben. . Das müssen wir uns in einigen Zügen klarmachen: In vortechnischen Zeitaltern hat es ja a u c h umstürzende geistige Bewegungen und revolutionäre Gewalten gegeben, die sich wie eine Sturmflut über das gesamte bisherige Land der Geschichte ergossen: Ich denke ζ. B. an die Aufklärung, die in die bisherigen Bindungen einbrach und sie löste. Aber diese inneren und äußeren Revolutionen ergeben sich stets in einer Fülle von Prozessen aus vorangegangenen Zuständen: Soziale Ordnungen und Weltbilder veralten. Man kann nicht mehr ohne weiteres in ihnen existieren. Daraus ergeben sich — „ergeben sich"! — dann Krisen und Erschütterungen. Und es ist dann doch so : Die zurückschauende Geschichtsschreibung ist bemüht und kann mit R e c h t bemüht sein, diese Krisen und Umbrüche aus großen Zusammenhängen heraus zu verstehen und in sie einzugliedern. D. h. sie sieht alles, auch das Revolutionärste, in mehr oder weniger logischen Abläufen sich vollziehen. Selbst die „Wundermänner" der Geschichte setzen ja nicht kraft ihrer Freiheit und schöpferischen Initiative etwas schlechthin Neues, das nicht mehr aus Vorangegangenem ableitbar wäre, sondern sie pflegen aufzutreten, wenn die Zeit für sie „reif" ist, und sind dann bemüht, diesem Reifeprozeß zu innerem Durchbruch zu verhelfen, also einen bereits in Gang befindlichen Prozeß a u s z u l ö s e n . Die Männer, die Geschichte zu machen meinen, sind die Exponenten von Entwicklungen, die sie entbinden helfen. Hegel konnte sogar von der „List der Idee" 143 sprechen, kraft welcher die geschichtlichen Individuen ihre Leidenschaft zu befriedigen meinen, während sie in Wirklichkeit dem Ganzen dienen und die überpersönliche Entfaltung des Weltgeistes betreiben. Auch wenn die dahinter stehende Metaphysik keineswegs die Voraussetzung aller Geschichtsschreibung bildet, so geht diese doch immer von der Kategorie des „Verstehens" aus, d. h. sie stellt kraft der Prinzipien der Kausalität, der Immanenz und der Analogie (Troeltsch) geschichtliche Prozesse heraus, in denen auch die revolutionären Gewalten oder ihre großen geschichtlichen Personifizierungen „verständlich" werden. Die Technik aber ist nun allerdings etwas ganz anderes, das n i c h t in dieser Weise ableitbar ist. Die Technik ist ja nicht „gewachsen", sondern sie ist „eingebrochen". In ihr ist eine Macht auf den Plan getreten, die vorher nicht da war. Denn Technik ist ja nicht so etwas wie Vervollkommnung —.nicht einmal wie eine s p r u n g h a f t e Vervollkommnung — des auch vorher schon vorhandenen Handwerklichen. Während beim Handwerk der Mensch zweifellos Subjekt ist — der Meister „beherrscht" ja sein Handwerk -, wird das in der technischen Welt mehr als zweifelhaft. Der Mensch wird nur allzu sichtbar in einem weitgehenden Maße * O b j e k t jener technischen Macht, die in sein Leben eingebrochen ist. Sie ist sozusagen das „ganz andere", das unser Leben ergriffen und bis in die Grundfesten erschüttert und umgestaltet hat. „Das andere" aber ist das Kennzeichen des Göttlichen (R. Otto), ebenso wie auch das „von außen ins Leben Einbrechende", das „Transzendente" zu jenen Kennzeichen gehört, wenn es sich auf einmal als lebensmächtiger Faktor zum Wort meldet. Man braucht nur einmal daran zu denken, daß ein primitiver Volks stamm vermutlich ein Koffergrammophon wie einen Gott verehren wird, um zu begreifen, und gerade an diesem extremen Entwicklungsabstand zu begreifen, wie hier 144 die Technik als das ganz andere eine gewisse Imitation des Göttlichen darstellt. Noch ein anderes Beispiel, an dem die Technik als das „ganz andere" sichtbar wird: Wie anders sind die technischen Zukunftsträume der Menschheit in Erfüllung gegangen ! Sie hat ja ζ. B. immer vom Fliegen geträumt. Im Traum aber versetzt man sich sozusagen in das andere, das Unerreichbare. Aber die technische Erfüllung dieser Träume, wie sie dann de facto durch die Entwicklung eintrat, ist nun n o c h einmal anders als die Anders-heit der Traumwelt. Die faktische Verwirklichung transzen-diert den Traum gleichsam noch einmal und reißt eine völlig unpostulierbare Welt auf. Man kann sich das klarmachen, wenn man etwa Gottfried K e l l e r s Traum vom Fliegen einmal mit seiner faktischen Erfüllung heute vergleicht: „Und wenn vielleicht in hundert Jahren Ein Luftschiff hoch mit Griechenwein Durch's Morgenrot käm' hergefahren, Wer möchte da nicht Fährmann sein? Dann bog' ich mich, ein sel'ger Zecher, Wohl über Bord, von Kränzen schwer, Und gösse langsam meine Becher Hinab in das verlaß'ne Meer." Gerade angesichts dieses Traumes, der sozusagen über das bisher Erreichte h i n a u s träumte und die Welt des „andern" aufsuchte, spüren wir, wie anders er in Erfüllung gegangen ist. Kein sel'ger Zecher gießt wonnetrunken Wein herab, sondern Feuer und Tod stürzen aus den nächtlichen „Frachtern des Todes" vom Himmel - um nur e i n e Vision zu beschwören, in welcher der Welteinbruch der Technik aus unerwarteten Richtungen sichtbar wird. (Natürlich ist diese Vision nicht das einzige, was zum Fliegen zu bemerken ist.) 145 Fünf Fragen nach der Beziehung von Technik und Christentum Hier wird, so scheint mir, die Frage unüberhörbar, ob mit diesem Einbruch der technischen Macht in unsere Welt nicht eine Krisis aller bisherigen Bindungen und metaphysischen Kräftegruppierungen gegeben sei, natürlich auch und gerade eine Krisis des C h r i s t e n t u m s . Selbst rein chronologisch gesehen ist es doch so, daß seit der Technisierung des Lebens der auch vorher schon schwebende Säkularisierungsprozeß in lawinenartig anwachsenden Bränden aufloderte und sein Tempo unvorstellbar steigerte. Wir gliedern diese Frage am besten in eine Anzahl Teilprobleme und haben dabei vor allem die B e z i e h u n g d e r T e c h n i k z u K i r c h e u n d C h r i s t e n t u m im Auge. Worin drückt sich die Diskrepanz zwischen beiden aus, die wir alle dunkel empfinden? ι. Frage: Setzt das Christentum nicht einfach ein anderes W e l t b i l d voraus, als es das technische Zeitalter besitzt (die Dreigliederung nämlich von Himmel, Erde und Hölle), während die Technik auf der Auswertung der Naturgesetze beruht und diese ihrerseits nur im Rahmen der in sich geschlossenen Welt-Immanenz sichtbar werden1)? 2. Frage : Ist nicht der jeweils vorausgesetzte M e n s c h e n t y p anders ? Auf der e i n e n Seite steht der Mensch, der um dämonische Mächte weiß, von denen er besessen sein und denen er hörig werden kann, der überpersönliche Gewalten kennt, die „in der Luft herrschen" (Epheser- und Kolosser-brief) und die die Geschichte viel nachdrücklicher bestimmen als seine persönliche Initiative. Wo aber sind auf der a n d e r n Seite Dämonen noch unterzubringen? Wo sind sie unterzubringen in einer Welt, die naturgesetzlich — s c h e i n b a r wenigstens — bis in die letzten Schlupfwinkel durchx). Vgl. dazu Bultmanns Schrift: Offenbarung und Heilsgeschichte (München 1941) und meine Auseinandersetzung damit im Dtsch. Pf. Bl. Jahrgang 1942/43, sowie Bultmanns Erwiderung ebendort. 146 schaut und auf Grund dieses Einblicks technisch bewältigt werden kann, und zwar aus eigener selbstherrlicher Initiative . des Menschen heraus? Dämonen mögen in geheimnisvollen Ecken mittelalterlicher Häuser geistern. Das technische Zeitalter aber Hebt klare, sachliche Linien und die geheimnislose Helle seiner Räume. Schon in seinem Stil bringt es zum Ausdruck, daß es keine „Hintergründe" seiner Welt gibt, sondern daß die s i c h t b a r e n Kulissen wirklich den letzten Abschluß bilden. (Freilich wird man gerade deshalb mit Verwunderung bemerken müssen, daß die helle Vordergründigkeit dieser Welt in großem Umfange so etwas kennt wie Talisman und Astrologie und daß sie mit Vorliebe ihre höchstgezüchteten technischen Apparaturen [Auto und Flugzeug] mit den Fetischen der Magie ausstaffiert. Sollte in alledem nicht das „dunkle Zeichen einer fernen Macht" [Hölderlin] oder auch einer bedenklich n a h e n Macht zum Ausdruck kommen, die im Koordinatensystem der technisierten Welt nicht unterzubringen ist?) 3. Frage: Wie soll man das Christentum' in das technische Zeitalter einfügen können, insofern es nicht nur „das dunkle Zeichen einer fernen Macht", sondern die Offenbarung und F l e i s c h w e r d u n g dieser Macht im konkreten Tag unserer Welt sein will? Auch hier fragen wir zunächst ganz naiv, d. h. so, daß wir unsern Instinkt reden lassen und uns dem Eindruck von der Andersheit beider Welten hingeben. Ich erinnere dabei nocheinmal an das Zitat von Ernst Jünger, das wir an den Eingang des 1. Kapitels stellten und das davon sprach, daß die im Christlichen beschlossene Welt uns heute ferner liege als „die Ammoniten der Kreidezeit". 4. Frage: Die unter Ziffer „3" gestellte Frage läßt sich natürlich auch u m g e k e h r t formulieren: Wie kann man die Technik im Denken des Christentums unterbringen? Geht es ihm nicht um einen weltabgeschiedenen Bereich von Leuten, die in einem ungeschichtlichen, jedenfalls nicht Ge9 Τ h i e l i c k e, Fragen des Christentums. I29 schichte m a c h e n d e n Lande lebten und die ihre Zeit und ihre Interessen in einer uns heute unfaßlichen Ausschließlichkeit auf die Frage nach dem Seelenheil konzentrierten? Liegt es nicht an dieser geistigen Struktur, daß die Kirche an den modernen Massen der technisierten Großstadt vorbeizureden und vorbeizuleben scheint? Und ist nicht aus dieser scheinbaren Ungreifbarkeit der Masse nun andererseits die Neigung der Kirche zu verstehen — zwar nicht sich s e l b s t als ungeeignet und antiquiert, dafür aber die T e c h n i k als dämonisch zu apostrophieren? (Was man nicht deklinieren kann, das sieht man — als dämonisch an !) Mit dieser Frage ist zum ersten Male das Problem einer religiösen oder besser christlichen Bewertung der Technik angeklungen. Wir tun gut daran, wenn wir diese Bewertung auf eine noch strengere Formel bringen und in die theologische Fachsprache übersetzen, die uns an dieser Stelle ein besonders prägnantes Ausdrucksmittel zur Verfügung stellt. Die Frage würde dann lauten: Gehört die Technik zur Schöpfung oder gehört sie zur Sünde? Ist sie ein Mittel zur schöpfungsmäßigen Lebensbewältigung oder ein Mittel chaotischer Lebenszersetzung? Strömt durch sie ein neuer göttlicher Lebenshauch in die auf immer neue Entbindung ihrer Kräfte wartende und gleichsam potentiell unerhört geladene Schöpfung oder ist die Macht der Technik dämonischer Natur, so daß ihre helle Vordergründigkeit zwar keine Schlupfwinkel für die Dämonen böte, dafür aber selber dämonisch wäre? 5. Von da her ergibt sich die letzte Frage: Da die Technik in alle bisherigen Bindungen einbricht, liegt die Vermutung nahe, daß sie ihre eigene Weltanschauung besitzt. Denn Bindungen werden auf die Dauer nicht durch das Chaos, sondern durch andere Bindungen abgelöst. Diese aber sind ja immer nur in einer religiösen oder weltanschaulichen Verankerung gegeben. Daher die Frage, ob und wie die Technik eine solche Weltanschauung aus sich entwickelt.' 148 Der mitanschauliche Glaube des technischen Zeitalters Wir beginnen unsere Überlegung bei dieser letzten Frage. Um es gleich zu sagen: Das technische Zeitalter neigt zu einer Weltanschauung, die vom E n t w i c k l u n g s g e d a n k e n bestimmt ist. (Wir lassen es zunächst dahingestellt, ob dieser Evolutionismus notwendig durch die Technik gegeben ist oder ob bei seinem Entstehen noch völlig a n d e r e Momente ursächlich wirken. Deshalb drücken wir uns vorsichtig durch das Wort „neigen" aus.) Warum das technische Menschentum diese Tendenz besitzt, dem Fortschrittsglauben zu huldigen, liegt im Wesen der Technik selbst. Sie ist ja in einem dauernden Fortschreiten und in einer steten Vervollkommnung begriffen. Es gibt auch keine ernsthaften Rückschläge. Es ist schlechterdings unmöglich, daß die Technik die Einbahnstraße ihrer Vorwärtsentwicklung auf einmal, sei es auch nur vorübergehend, in umgekehrter Richtung beschritte, daß sie etwa d o c h noch einmal beim Automobilbau von der Stromlinienform zur romantischen Kutschengestalt zurückkehrte. Diese absolut eindeutige Fortschrittsrichtung ist mir einmal sehr symbolkräftig aufgegangen, wie ich als junger Hochschullehrer an einer Dozentenakademie in Kiel teilnahm: Wir rangen drei Wochen miteinander um die Urfragen der Menschheit: um das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen, um die Frage Polis und Gott, um die Beziehung von Logos und Bios, ohne hier in einem eindeutigen Sinne „weiterzukommen". Schließlich standen die verschiedensten „Bekenntnisse" gegeneinander. Als uns dann ein Admiral zur Besichtigung auf ein Kriegsschiff einlud, standen wir plötzlich mit einer fast lähmenden Bewunderung in einer völlig andern Welt: Hier lag eine Gemeinschaftsarbeit vor von Technikern und Seeleuten, von denen keiner gegen den andern stand, sondern wo einer den andern ergänzte und benötigte. Nicht nur das: Der Kreuzer 9* 149 war auch das Produkt mehrerer Generationen von Technikern, von denen eine auf die andere aufgebaut hatte und in einem ausgewogenen Gleichgewicht „auf den Schultern" der andern stand. Also auch eine G e n e r a t i o n e n f r a g e gibt es hier nicht. Es ist ein M i t einandergehen und ein W e i t e r gehen. Wie anders war demgegenüber der geistige Vorgang jenes Ringens, aus dem wir kamen! Wir merkten plötzlich, daß wir in diesem Ringen auf der Stelle marschierten und zwar jeder auf s e i n e r Stelle, ohne daß zwischen dem einzelnen eine Brücke gewesen war; noch mehr: nicht nur w i r marschierten auf der Stelle, während die Erbauer der Kriegsschiffe immer weitermarschieren, sondern die ganze Menschheit marschiert an diesem Punkte mit auf der gleichen Stelle — seit Jahrtausenden. Auch die Vorsokratiker haben schon über die Fragen nachgedacht, die uns bewegten. Jahrtausende schrumpfen zusammen, wenn man an die ewig gleichen Fragen denkt, welche die Menschheit von Anbeginn her bewegen. Kein Mensch kann dem andern die Lösung dieser Fragen weiterreichen, auf der dieser dann seinerseits weiterzubauen vermöchte. Jeder muß wieder von vorne beginnen. Jeder ist in eine letzte Einsamkeit und in den Zwang einer Entscheidung hineingegeben, die ihm niemand abnehmen kann. Die Geschichte der Philosophie gleicht der Bewegung auf einer Kreisperipherie, von der unendlich viele Radien auf den einen Mittelpunkt zeigen. Keiner ihrer Punkte aber liegt dem Zentrum näher als der andere. Die Geschichte der Technik aber gleicht einer schräg aufwärtsführenden Geraden, auf der jeder folgende Punkt höher liegt als der vorangehende. An diesem Beispiel mag deutlich werden, wie verschieden die Ebenen sind, auf denen Geistesgeschichte und Geschichte der Technik „geschehen" und wie recht man offenbar tut, wenn man die Technik als den Einbruch des „andern" in die bisherigen Weltzusammenhänge bezeichnet1). *) Diesen Charakter des andern würde man ja auch nicht ohne weiteres 150 Der Eindruck des Fortschrittes in der technischen Welt und damit auch der Eindruck der wachsenden Lebensbewältigung hat nun immer wieder bei religiös angehauchten oder christlichen Technikern, aber auch bei Theologen, zu einem gewissen Schöpfungsoptimismus angesichts der Technik geführt. (Vgl. Hanns Lilje, Das technische Zeitalter. 1927; in etwa auch Karl Schumann, Vom Geheimnis der Schöpfung; Schlemmer, Evangelium und Technik 1940): Technik ist Entbindung der in die Schöpfung gelegten Kräfte, ist gleichsam Verwandlung der potentiellen in kinetische Schöpfungsenergie. Technik ist Ausführung des Schöpfungsbefehls: „Machet euch die Erde Untertan!" Bisher verschlossene Räume werden erschlossen; man denke nur an das Revier der Luft; die andern Räume werden zusammengedrängt: man „beherrscht" den Raum. Die Krise des technischen Fortschrittsoptimismus Plötzlich aber merkt man, daß hier doch etwas nicht stimmt: Denn nicht nur die Macht des Kosmos ist am Werk, sondern zugleich die Macht des Chaos: Ich schreibe diese Zeilen während eines Fliegeralarms. Diesel hat diese Frage richtig gesehen, wenn er — nach der ausgezeichneten Biographie seines Sohnes (Eugen Diesel, Rudolf Diesel: Der Mensch, das Werk, das Schicksal, 1937, S. 488) — vor seinem Tode ausspricht: „Es ist schön, so zu gestalten und zu erfinden, wie ein Künstler gestaltet und erfindet. Aber ob die ganze Sache einen Zweck gehabt hat, ob die Menschen dadurch glücklicher geworden sind, das vermag ich heute nicht mehr den technik-ähnlich'en Maßnahmen früherer Zeiten beilegen (ζ. B. Pyramiden und Megalith-Bauten). In diesem Falle ging die Initiative auch der größten Unternehmungen immer vom Menschen, etwa von einem ägyptischen Souverän, aus, während das Maschinenzeitalter eben dadurch charakterisiert ist, daß der Mensch höchstens noch regulierend an der Ausnutzung eines technischen Entwicklungsprozesses beteiligt ist, der auch ohne ihn abläuft). 151 zu entscL ^iden." Hier taucht die Ahnung dessen auf, daß zur Darstellung der Technik noch eine andere Kurve gehört als die des Fortschritts, daß auch eine ergänzende Kurve nach unten und vielleicht in den Abgrund zeigen müßte. Denn das Thema der Technik ist ja nicht der Sachgesetzlichkeit ihres Fortschritts zu entnehmen, sondern dieses Thema ist d e r M e n s c h s e l b e r . Wie steht e r inmitten allen Fortschritts da? „ . . . ob er dadurch glücklicher geworden ist, weiß ich nicht". Ist er vielleicht sogar unglücklicher geworden? Oder ist er jenseits von Glück und Unglück einfach derselbe geblieben, marschiert er trotz des Eiltempos seiner technischen Werke nicht doch auf derselben Stelle? „Die Menschheit schreitet immer fort, aber, der Mensch bleibt immer derselbe", sagt Goethe. Vielleicht daß diese Dieselbig-keit der Menschheit innerhalb der technischen Entwicklung gerade daran sichtbar wird, daß die Technik mit jedem Fortschritt auch ein geheimnisvolles Rückschreiten, mit jeder Entbindung der Schöpfungsenergie zugleich auch die Mächte chaotischer Zersetzung auf den Plan ruft, daß sie Serum-Präparate gegen die entsetzlichsten Geißeln * der Menschheit und zugleich Bomben als neue Geißel erfindet; ich sage: vielleicht kommt diese Dieselbigkeit des Menschen gerade darin zum Ausdruck, daß die Technik doch nicht einfach „Fortschritt" ist, sondern daß sie ein rätselhaftes Doppelgesicht besitzt, das auf alle Höllen und Himmel z u g l e i c h weist. D a ß sie jedenfalls Licht und Schatten zugleich bringt, um es neutral zu sagen, fühlt auch jeder, der zu reflektierenden Deutungen nicht willig oder in der Lage ist. Aus dieser Ahnung rührt sogar, wenn nicht alles trügt, die eigentliche Weltanschauungskrise unserer Zeit: Im Weltkriege 1914— 18 brach aller Fortschrittsglaube zusammen. Warum? - : Nicht zuletzt (sondern wohl z u e r s t ) unter dem Eindruck der T e c h n i k hatte sich ein Fortschrittsglaube gebildet, der weit über den naturwissenschaftUch-technischen Sektor 152 des, Lebens hinausging und sich auf alle Lebensgebiete, sogar auf die „christliche Religion" bezog. Diese letztere erschien zwar im Augenblick selber als Gipfel der Religionsgeschichte, strebte aber einer immer größeren Vergeistigung und Subli-mierung zu und war so selbst im Akt des Fortschritts begriffen. Die Weiterentwicklung der Zivilisation ließ Unzählige vergessen, daß diese nur ein dünnes Apfelhäutchen über einer brodelnden glühenden Lava war, daß die „tigerartige Anlage" im Menschen unterhalb dieses Kulturfirnis nur auf die Gelegenheit ihrer Entbindung wartete, daß also der Mensch „dieselbe" Lava, „derselbe" Tiger geblieben war. S o w e i t also hatte es das „christliche Europa gebracht", daß es das Blut von Millionen vergoß 1 Die gewaltige Krise nicht nur der Kultur, sondern auch des Christentums hat darin ihre entscheidende Wurzel, weil sich beide Mächte — jedenfalls in den Augen unzähliger Menschen — dem Fortschrittsglauben verschrieben, ja ihn förmlich zum Ausdruck gebracht hatten und darum bei seinem Zusammenbruch mit in den gleichen Abgrund gezerrt wurden. „Mitgefangen — mitgehangen"! Die Abwendung weiter Kreise von der Kirche infolge des Weltkriegs war mehr eine Abwendung von dem Fortschrittsglauben, mit dem man die Kirche — nicht ohne ihre Schuld — identifizierte. Das Argument: was uns denn das Christentum in zwei Jahrtausenden für Fortschritt gebracht habe, ist ein immer noch lebendes Zeugnis für diese Verwechslung. So gewiß aber diese Verwechslung in den Köpfen geisterte, so fand doch recht eigentlich keine A b w e n d u n g vom Christentum statt, sondern nur das Offenkundigwerden eines auch vorher schon bestehenden christlich kostümierten, fortschrittlichen Atheismus. Bedenken wir also, daß unter dem Einfluß des technischen Zeitalters und seiner offenbaren weltanschaulichen Folgen jener innere Zusammenbruch der christlichabendländischen Bindung erfolgte, so erhebt sich noch einmal und aus noch größerer Tiefe die Frage : Wie steht es mit Licht 153 und Schatten der Technik? Ist sie Schöpfung oder ist sie nicht letztlich a η t i kreatürlich? Stammt sie von G o t t oder ------- stammt sie vom T e u f e l ? Das Doppelantlit^ des technischen Phänomens Wir zerlegen diese Frage wieder in zwei Teilprobleme: ι . Worin kommt das geheimnisvolle Doppelgesicht der Technik zum Ausdruck? 2. Wie haben wir diese Ausdrucksweisen zu interpretieren? Zunächst also die Frage nach dem Doppelgesicht selber: a) Auf der einen Seite bemerkten wir bereits, daß die Technik auf der wissenschaftlichen Erforschung der Naturgesetze fußt. Eisenbahn, Flugzeug und Rundfunk wären ohne diese Erforschung nicht zu denken. Im gleichen Maße aber, wie die Technik von einer ständigen „Vertiefung in die Natur" herkommt, führt sie auf der andern Seite und im gleichen Maße zu einer Entfremdung von der Natur. Man braucht ja nur an den geistigen Asphaltbrodem der Großstädte zu denken, der unter ihrer Ägide dem Boden entstieg, um die Naturferne —oder besser: um die Schöpfungsferne - riesiger Menschenmassen zu begreifen. Die Großstadt bringt zum Beispiel — aber wirklich nur als „Beispiel" für viele andere Symptome — zwei hervorragende kreatürliche Erscheinungen zum Erliegen und Erblassen: die Phänomene „Licht" und „Zeit". Im Frieden haben die Großstädte durch Lichtreklame und andere Beleuchtungsformen wirklich Tag- und Nachtgleiche; auch andere Einrichtungen, wie etwa die Nachtlokale oder auch die Regulierung des Schichtwechsels in den Betrieben und auf den Verkehrsmitteln, verwischen den Unterschied zwischen Licht und Dunkelheit, unterbrechen den Rhythmus der Zeitlinie und verhüllen damit die Zeitlinie ü b e r h a u p t . Es ist schier unmöglich, in einer solchen Welt etwa das urtümliche Erlebnis der Wintersonnenwende überhaupt wieder zu 154 erneuern. Mit dem Sinn für die verfließende Zeit erlischt auch der Sinn für die E n d l i c h k e i t . Und manche Hybris unserer Tage mag in dieser EHminierung der Zeitlinie ihre Ursache haben. Die Natur lehrt durch den Rhythmus von Licht und Finsternis und damit durch die in ihr waltende Zeit ihre Begrenzung und ihr Gebundensein in höheren Mächten. N a t u r entfremdung ist deshalb zugleich auch Entfremdung gegenüber der Ü b e r n a t u r . Man wird freilich diese Entfremdung, wie wir später noch sehen werden, nicht einfach als einen eigengesetzlichen Prozeß auffassen dürfen, für den der Mensch nichts könnte, sondern als ein persönliches Verhalten „mit H i l f e " eines Prozesses oder — wie Paulus diese Zusammenhänge in Rom. i, 18 ff. sieht — als ein „In-Unge-rechtigkeit-niederhalten". b)Die Technik überbrückt die Entfernungen d i e s e r E r d e . Der Erdball schrumpft zusammen, und die Völker rücken sozusagen näher aneinander. Indem sie das tun, sind auch ganz andere Möglichkeiten für ihre Begegnung und ihr Kennen-lernen gegeben. „Die Türken" hören auf, ein ferner, zwar schrecklicher, aber doch fast unwirklicher Mythos zu sein, als welcher sie den mittelalterlichen Menschen erschienen; und wenn — nach dem „Bürger" in Goethes „Faust" - „fern in der Türkei die Völker aufeinanderschlagen", dürften wir europäischen Menschen kaum noch in Stimmung sein, bedächtig zum Fenster hinauszuschauen und unser „Gläschen" zu leeren, sondern wir würden von der Nähe dieser muselmanischen Angelegenheiten durchaus betroffen sein. Die Technik hat die Aufhebung der Distanz gebracht. Übersetzt man dieses Fremdwort naiv ins Deutsche, könnte man sagen: Sie hat „Nähe" und „Annäherung" gebracht. Damit aber ist die ganze Problematik dieser Seite des technischen Geschehens schon angedeutet: Denn mit der größeren Nähe ist zugleich auch das Erlebnis des Andern und Andersartigen, kurz des „Fremden", gegeben. Es ist eine all 155 gemein menschliche Erfahrung, die sich hier kundgibt. Das Verhältnis zwischen zwei verschiedenen, womöglich antithetisch veranlagten Menschen wird ja ebenfalls um so kritischer, je näher sie aneinander heranrücken, je mehr sie ζ. B. durch die Situation zu einem Zusammenleben gezwungen sind. Tatsächlich führt also die technisch bedingte Annäherung der Völker zugleich aus der Ferne der Indifferenz (Türkenbeispiel) zu dem Fremderlebnis. Der nationale Polytheismus geht vielfach in h i s t o r i s c h e r Hinsicht parallel mit der technischen Entwicklung. So sind auch hier einfach zwei gegenläufige Tendenzen durch die Technik ausgelöst. c) Eine weitere Folge der Technik ist die Z u s a m m e n ballung großer Menschenmassen auf örtlich beschränkten Plätzen, die man „Großstädte" nennt. Die technisch bedingte Industrialisierung führt unweigerlich zu kollektivistischen Gebilden. Damit ist an sich eine sehr starke Solidarität des Lebensstils gegeben: Große Massen sind Kameraden derselben oder einer ähnlichen Arbeit. Mit der inneren Aushöhlung und Verflachung, die der großstädtische Lebensstil mit sich bringt, ist zugleich gegeben, daß die individuellen Unterschiede sich mehr oder weniger abschleifen. Die Typisierung hört sozusagen auf, als bloßes Fabrikationsprinzip auf die „D i η g e" bezogen zu sein und geht ansteckend auf den fabrizierenden Menschen s e l b s t über. Die politische Lenkung der Massen bestärkt diesen Prozeß dadurch, daß sie die einzelnen Kulturäußerungen (ζ. B. Presse, Radio, Kino) auf das Typisch-Allgemeine abstimmt: Daher rührt etwa das Überwiegen der sinnlich-nervösen Unterhaltungsmusik im Rundfunk gegenüber Mozart oder den andern großen Meistern, weil diese eine individuelle Differenzierung voraussetzen, während eine Unterhaltungsmusik sich sozusagen an die unterhalb jener Differenzierung Hegende Schicht des Typischen, ich möchte sagen: des biologisch Allgemeinen und der sinnlichen Empfänglichkeit wendet. 156 Von den einzelnen Freizeitorganisationen gilt das gleiche. Ein Zeichen dieses Zusammenschlusses innerhalb der technisierten Großstadt ist auch die immer stärker aufkommende Bezeichnung „Gemeinde" für das kollektive Zusammensein innerhalb einer FreizeitOrganisation oder eines „Kultur"-Faktors (ζ. B. Rundfunk-Gemeinde, sogar „Kraft-durch-Freu-de"-„Gemeinde"). Auch der spezifisch moderne Akzent, der auf den Begriff „Kameradschaft" gesetzt wird, gehört hierher. „Kameradschaft" in diesem Sinne bedeutet Verbundenheit durch eine dingliche Größe, ζ. B. durch die Arbeit, bedeutet aber keineswegs das totale Eingespielt- und Eingestelltsein der I n d i v i d u a l i t ä t e n aufeinander, wie es etwa im Begriff der „Lebens-Kameradschaft" zum Ausdruck kommt oder besser: k a m . Die einzige Form, in der das Wesen der Ur-Kameradschaft — o h η e jenen modernen Akzent — noch bei allen Völkern zum Ausdruck kommt, ist das Kameradentum der Front. Sonst ist es typisch für den Kameradschaftsbegriff geworden, daß er eine s a eh l i e h e Beziehung der Menschen zu einander meint, und zwar die Beziehung in e i n e r ganz b e s t i m m t e n Sache. Die technisch bedingte und deshalb kollektivistisch orientierte Großstadt zeitigt also die neuè Gemeinschaftsform des genormten Typus oder der „sachlichen" Kameradschaft. Innerhalb dieser Form hocken die Menschen in großer Dichte beieinander; sie halten einfach schon in physischer Hinsicht viel mehr Tuchfühlung miteinander als auf dem Lande, wo jeder ganz anders „König" auf seinem Grund und Boden ist. Und Könige sind bekanntlich Individuen in Distanz. Gleichzeitig wird man nun sagen müssen, daß es kaum irgendwo solche E i n s a m k e i t geben kann wie in der Großstadt. Nicht nur das Untergehen in der Masse — etwa beim Bummel über die Hauptstraße oder beim Kino-Besuch — vermag ein Gefühl tödlicher Verlassenheit zu zeitigen, sondern vor allem auch die kollektivistische Form der 157 Begegnung mit dem andern (sofern man den Begriff der Begegnung überhaupt hier noch anwenden möchte; denn an sich schließt dieser ja ein Spannungsverhältnis der Individuen oder ihr Zueinander unter einem höheren Tertium ein ; beides aber ist bei kollektivistischer Entleerung nicht mehr möglich bzw. nicht mehr da). Denn diese Form der Begegnung erfaßt ja immer nur einen ganz schmalen Sektor : entweder die s a c h l i c h e Beziehung aufeinander oder das TypischAllgemeine, indem ein noch nicht ganz entleertes Menschentum sich ja keineswegs erschöpft, sondern in dem es höchstens „anfängt". Auf der andern Seite läßt diese Form der Begegnung den gesamten übrigen Personinhalt unberührt: sie bezieht sich nicht auf „mein" Leid, „meine" Schuld und „meine" persönlichen Freuden und Leiden. Diese sind unter dem Stichwort „privat" aus jener Begegnung ausgeklammert. So wird auch hier wieder das geheimnisvolle Doppelgesicht des technischen Zeitalters sichtbar : Dem kollektivistisch engen Beieinander entspricht ein Grad der Einsamkeit, der in dieser Gestalt wohl ohne geschichtliche Vorläufer ist. Kein Wunder, daß deshalb der moderne Mensch a u s e i n e r A r t S e l b s t h i l f e - A k t i o n heraus jenen überschießenden persönlichen Bereich abzuschleifen sucht, um das Terrain s e i n e r E i n s a m k e i t l o s z u w e r d e n . Beim jahrelang eingezogenen Soldaten finden wir ja (cum grano salis gesprochen), die gleiche Tendenz: auch er beginnt oft genug selbst den Rest des Privaten und Persönlichen (musische Neigungen etwa, aber auch Beziehungen zu andern Menschen) auszumerzen oder auf Zeit abzustellen, weil es ihn belastet und ihm die innere Leerheit seines gegenwärtigen Interims allzu verwundend bezeugt. d) Die Doppelseitigkeit der Technik wird noch an weiteren Symptomen sichtbar. Auf der einen Seite bringt die Technik eine Erleichterung des Lebens. Die spanischen Megalith 158 bauten „aus behauenen Steinen von gewaltiger Größe, von Deckplatten im Gewicht von mehr als 100 ooo kg, die oft von weither herangeschafft" werden mußten (Spengler, Der Mensch und die Technik, S. 47), können jetzt in leichterer Form beigeschafft und architektonisch verwendet werden. Langwierige und zeitraubende Maßnahmen, die früher die Menschen brauchten, um miteinander in Verbindung zu treten, sind jetzt vereinfacht durch zeitsparende Verkehrsmittel, durch Telefon, Fernschreiber, Flugzeug und D-Zug. Die gleichen erleichternden Maßnahmen bedeuten zugleich aber eine Erschwerung des Lebens in einem früher nicht gekannten Ausmaß: die helfenden Maschinen tragen auf der andern Seite dazu bei, daß eine neue Form des Sklaventums entsteht: der Mensch nämlich, der keine sinnhafte Beziehung mehr zu seiner Arbeit besitzt, weil er das G a n z e ihres Prozesses nicht mehr überschaut, sondern in den E t a p p e n dieses Prozesses hängen bleibt und das Werk selbst nicht zu Gesicht bekommt. Die Maschine gestattet Typisierung im großen Stil und die Typisierung gestattet ihrerseits wieder die Zerlegung des Gesamtarbeitsganges in kleinste Teilabschnitte, die zumeist nur in mechanischen Handbewegungen bestehen. Gerade die Erfahrungen des totalen Krieges lehren, wie man auf diese Weise mit Hilfe der Technik den Stamm an Facharbeitern reduzieren kann, indem man den Arbeitsprozeß derart zerlegt, daß „ungelernte Frauenhände" ihn bewältigen können. So entbindet die Technik in fortschreitendem Maße, wenigstens bei der M a s s e , von den Fähigkeiten des Handwerklichen und züchtet einen Stand ungelernter Arbeiter, der dann das Industrie-Proletariat bildet und im Verhältnis zu seiner Arbeit manche Züge des Sklaven, des „Produktionsmittels", trägt. Er sieht sich eingeschaltet in übergreifende Arbeitsgänge, in denen der einzelne nur Rädchen ist, das um die Ganzheit des Arbeitsganges nicht weiß. Sinnhaft leben heißt aber immer, um die Ganzheit wissen. Wird diese ent 159 zogen, feiert die Sinnlosigkeit und damit der Nihilismus Triumphe. In gleicher Weise zeigt sich „das anderé Gesicht" der Technik an den zeitsparenden Verkehrsmitteln. Man wird nicht behaupten können, daß wir wirklich durch sie m e h r Zeit bekommen hätten. Wir werden eher sagen müssen, ohne nach den Ursachen zu fragen,'daß unsere Zeit durch die angeblich sparenden Hilfsmittel „beunruhigt" worden ist und zu einer restlosen „Ausnutzung" der Zeit geführt hat, ohne daß wir auch hier zu sagen vermöchten, daß sie dadurch sinnvoller, „erfüllter" geworden wäre. Daß sie das in der Tat n i c h t geworden ist, wird daran sichtbar, daß auch kurze Zeitspannen nicht ausgefüllter Zeit den Menschen angähnen, ihn nun ihrerseits durch Leere beunruhigen und zu dem führen, was wir an anderer Stelle als „zeitliche Platzangst" bezeichneten. 5. Gegenüber dem Versuch, die Technik entweder als gottgewollt oder als teuflisch zu bezeichnen, ist es wohl gut, auch auf folgende beiden Seiten aufmerksam zu machen, die es in ihrer Zueinandergehörigkeit offenbar unmöglich machen, jene vereinfachende Wertung „göttlich" bzw. „satanisch" zu vollziehen : Auf der e i n e n Seite nämlich ist die Technik doch tatsächlich so etwas wie V o l l z u g d e s S c h ö p f u n g s b e f e h l s , der uns heißt, „die Erde Untertan zu machen". Wir nutzen die Naturgesetze aus, um die Natur zu gestalten. Man wird aber sagen dürfen, daß ein Vollzug des Schöpfungsbefehls uns den Intentionen des Schöpfers und damit irgendwie auch ihm selbst n ä h e r kommen lassen müßte. Dem steht nun die andere Seite des technischen Menschen gegenüber: daß er nämlich zugleich der Schöpfung entfremdet wird und dem Schöpfer gegenüber zu einer gewissen Gebärde der Selbstmächtigkeit neigt. Es gibt nichts, was die Technik nicht erreichen könnte. Sie vollzieht in den Augen vieler Menschen heute jene „Wunder", die einstmals Gott getan haben soll. 160 Ein atheistisches Propagandablatt stellt es jedenfalls so dar: Auf der einen Seite eine Familie, die beim Gewitter zum Gebet niederkniet und um gnädige Abwendung des Unheils bittet. Auf der andern Seite die gleiche Familie, die bei einem ebenso schlimmen Gewitter seelenruhig um den Tisch herum sitzt : das technische Zeitalter .hat ihr einen Blitzableiter beschert. Man fühlt sich nicht mehr „schlechthin abhängig'* gegenüber dem Herrn, der über den Gewitterwolken thront. Man hat sich selbständig gemacht. 6. Noch ein letztes, besonders eindrückliches Beispiel sei für die Doppelgesichtigkeit der Technik beigebracht: Die Technik bietet durch Presse und Rundfunk die M ö g lichkeit geistiger Beeinflussung größten S t i l s . Das Zeitalter der Weltänschauungskämpfe in dieser zeitlichen Dichte, wie wir sie durchleben, wäre ohne die technischen Hilfsmittel der Massenbeeinflussung schlechterdings undenkbar. Man nennt diese Form der Beeinflussung „Propaganda". Die Propaganda arbeitet nun keineswegs nur mit dem W o r t : Sie beeinflußt vor allem die S i n n e , etwa durch akustische und optische Reize (ζ. B. durch Plakate), durch den „Blickfang", durch AfBzierung der Nerven, durch die Suggestion der Wiederholung. Auch wo das W o r t gebraucht wird innerhalb dieser technischen Propaganda, wird es nicht in seiner Eigenschaft als „Wort" gebraucht, d. h. nicht als Vermittler der „Wahrheit" bzw. einer „Überzeugung", sondern durch die Art der Betonung und durch seine Ausnutzung als Schlag-Wort (!) mehr im Sinne psychischen Eindrucks. An dieser Stelle bekommen wir die gesuchte Doppelgesichtigkeit in den Blick: Während es zunächst eine unerhörte Chance zu sein scheint, mit mechanischen Mitteln und im großen Stil die Menschen unter „Ü b e r Z e u g u n g e n " zu bringen und sie dem Geist mit all seinen Bereicherungsmögüchkeiten auszusetzen, werden sie durch das Wesen der mechanischen Propaganda 161 zum Objekt von „E i n d r ü c k e n " gemacht, damit aber zu Funktionen eines andern Willens. Man könnte es geradezu so formulieren: Die mittelalterlichen Menschen etwa wurden durch Ü b e r z e u g u n g e n gelenkt (d. h. durch das, was ü b e r ihnen steht); der heutige Mensch wird durch E i n d r ü c k e gelenkt (d. h. durch das, was u n t e r ihm steht, was nämlich an seinen inferioren Ich-Teil appelliert). Indem er aber dergestalt Objekt der Einflußnahme wird und indem Reklame und Propaganda ihn nicht als Subjekt „verpflichten", wird er in den Prozeß der Mechanisierung selber mit hereingezogen : er wird Gegenstand einer W i r k u n g , also „Gegenstand"1). An dieser Stelle zeigt sich wieder einmal, wie die Technik — in diesem Falle die technisch bedingte Propaganda — von allen Seiten auf die Entpersönlichung des Menschen zudrängt. Durch diese Beschreibung des technischen Phänomens unter dem Gesichtspunkt der D o p p e l g e s i c h t i g k e i t ist uns die Sphinxgestalt der Technik vielleicht besonders eindrücklich entgegengetreten. Sie scheint sich jeder menschlichen Bewertung völlig zu entziehen: indem man ein Kriterium für ihre Einschätzung gefunden zu haben meint, scheint sie unter der Hand zum Gegenteil dessen zu werden, was man mit Hilfe dieses Kriteriums gerade hoffte gefunden zu haben. Damit ergibt sich unsere erste Hauptfrage: das Problem nämlich, wie nun dieses rätselvolle Antlitz der Erscheinung „Technik" zu verstehen sei. Die Technik als Werk des Menschen Es kommt gerade in diesem Augenblick unserer Überlegungen alles darauf an, daß wir die Gedankenrichtung nicht verfehlen : 1) Der Begriff „Willens-Bildung" ist hierfür ein außerordentlich verräterisches Symptom. 162 E i n Weg des Weiterdenkens verbietet sich jedenfalls von vorneherein : ι . Wir dürfen nicht die positiven und die negativen Züge der Technik jeweils addieren, um dann die entstandenen Summen gegeneinander abzuwägen und auf diese Weise festzustellen, ob die Technik „gut" oder „böse" sei. Das ist zwar der übliche, aber keineswegs richtige Weg, geschichtliche Erscheinungen abzuschätzen. „Es hat auch sein Gutes", „wir dürfen auch die Schattenseiten nicht vergessen", „wo viel Licht ist, ist viel Schatten" — das sind die üblichen Formen solcher Bewertung, vor denen man sich hüten muß. 2. Der einzig gangbare Weg besteht vielmehr darin, daß wir auf den M e n s c h e n zurückgehen, der die Technik als sein Werk hervorbringt. Diesel hat in dem zitierten Wort instinktsicher die Richtung gewiesen: daß nämlich die Kernfrage der Technik darin besteht, ob sie den Menschen w e i t e r b r i n g t . Wir dürfen unsererseits hinzufügen, daß sie zugleich auch darin besteht, wieso der Mensch an der Hervorbringung der Technik beteiligt ist. Der Mensch als „Subjekt" und als „Objekt" der Technik — d a s ist ihr Problem, nichts anderes. a) Ich deute damit bereits an, daß die Technik als W e r k d e s M e n s c h e n zu verstehen ist, daß also „Technologie"—in jenem letzten theologisch zu verstehendem Sinn — ein Stück „Anthropologie" ist. Daraus ergibt sich ganz einfach die Notwendigkeit, zunächst festzustellen, was ein W e r k ist. Das biblische Denken, besonders in seiner paulinischen Ausprägung, beschäftigt sich ja immer wieder mit dieser Frage. Wir wenden uns also in einem knappen Exkurs dem Problem der „Werke" zu, um von dorther die Technik als anthropologisches Phänomen zu verstehen. b) Im Werk und in seinen Taten bringt sich der Mensch selber zum Ausdruck, er bekennt in ihnen Farbe und macht sichtbar, was in ihm ist. Daß der Mensch tötet, ist ein Zei10 T h i e l i c k e , Fragen des Christentums. 145 chen dessen, daß ein Mörder in ihm verborgen ist, daß er stiehlt, verrät den Dieb, und daß er die Ehe bricht, enthüllt ebenfalls ein Geheimnis seines Herzens. Der Mensch offenbart sich ζ. B. in den Werken seiner Kunst —: Wie anders ist der Mensch, der sich in einem griechischen iTempel, und d e r Mensch, der sich in einem gotischen Dom bezeugt! Er offenbart sich aber ebenso in den ganz banalen Verrichtungen seines Alltags : Die Art, wie jemand in eine überfüllte Straßenbahn einsteigt, kann mich abgründig tiefe Blicke in sein innerstes Personleben tun lassen. Die Intensität des Ausdrucks, den der Mensch sich jeweils im Werk gibt, hängt nicht von der Größe dieses Werkes ab. Ein Blick und eine Handbewegung können verräterischer sein als eine ganze Autobiographie. Im Gegenteil kann der Mensch sich durch die letztere mehr verhüllen als offenbaren. Aber gerade diese Verhüllungstendenz bietet ja dann für den Tieferblickenden — um ι nicht zu sagen: für das Auge Gottes — selbst wieder eine Offenbarung des jeweiligen Menschen: er hat eben etwas zu verbergen. Weil also die Selbstenthüllung ganz unabhängig ist von der Größe des betreffenden Werkes, kann es sehr wohl sein, daß ich jemandem wegen einer Kleinigkeit (etwa wegen seines Einsteigens in eine Straßenbahn) ernstlich böse bin, während ich einem andern etwas viel Größeres (etwa einen Ehebruch) nachsehe. Beide „Vergehen" sind eben nicht durch sich selbst wichtig, sondern durch die zugrundeliegende Personhaltung, deren Symptom sie sind. Diesem Wissen um die Hintergründe der Tat entstammt die Redeweise: „Typisch für den ganzen Kerl". Luther hat dasselbe Wissen in seiner Auslegung der zehn Gebote dadurch sehr prägnant zum Ausdruck gebracht, daß er ihre Erklärungen mit den Worten einleitet: „Wir sollen Gott fürchten und lieben . . ." Damit deutet Luther an, daß die Durchbrechungen der Gebote Symptom einer hintergrün 164 digen Un-Ordnung sind, nämlich Symptome des Zerbruchs mit Gott, Symptome dessen, daß man Gott eben n i c h t mehr fürchtet und liebt. Natürlich gilt auch das Umgekehrte : daß das Halten der Gebote aus dem In-Ordnung-gekommen-sein-mit-Gott rührt. Aus d i e s e r Schau der Dinge ist die biblisch reformatorische „Lehre von den Werken" zu verstehen: die Lehre nämlich, daß der Mensch durch gute Werke nicht selig oder auch nur „anders" werden könne. Er bringt sich eben immer nur selbst „zum Ausdruck". Er mag zehnmal beten oder fasten: „Ist" er ein Egoist, wenn auch in der sublimierten Form eines pharisäischen Heilsegoisten, dann führt sein Beten und Fasten eben n i c h t über diesen Egoismus hinaus, sondern intensiviert und verhärtet ihn nur, indem er ihm ständig zum Ausdruck verhilft. Das „Werk" ist der Schatten, den der Mensch wirft. Kein Mensch aber kann über seinen Schatten springen. Nur Münchhausen konnte sich, am eigenen Zopf aus dem Sumpfe ziehen. Was bedeuten diese Gedankengänge, die uns alle mehr oder weniger geläufig sind, für das Thema der Technik? Wir gingen von der Feststellung aus, daß die Technik „Werk" des Menschen sei und ihn deshalb zum Ausdruck bringen und in seiner eigentlichen Personhaftigkeit widerspiegeln müsse. Um diesen Akt des Widerspiegeins zu erkennen, müssen wir uns zunächst darüber klar sein, wer denn der Mensch i s t , der sich auf alle Fälle in seinen Werken — und also a u c h in seinen t e c h n i s c h e n Werken — wird spiegeln müssen. Dieser Mensch ist für das biblische Denken durch zwei Eigenschaften charakterisiert: dadurch nämlich, daß er auf der e i n e n Seite Gottes Geschöpf ist und in vielen Zügen auf diesen seinen Ursprung und zugleich auf seine Selbstbestimmung zurückweist. Und f e r n e r ist er dadurch charakterisiert, daß er aus seiner geschöpflichen Ordnung 10* 165 ausgebrochen ist, um sich selbständig zu machen und in ein eigenmächtiges Gegenüber zu Gott zu treten. Alles Nach-außen-treten des Menschen muß deshalb durch beide Existenzzüge bestimmt sein: e i n m a l dadurch, daß er sich g e s c h ö p f l i c h e r und deshalb gottgewollter Mittel bedient, um zu handeln; er gebraucht dazu ζ. B. seinen Körper und seinen Geist. Er bedient sich der geschöpflichen Naturkräfte und nützt die Naturgesetze aus, die der Provi-denz des Schöpfers entstammen. Aber zugleich muß sein Handeln nun seine S e l b s t ä n d i g k e i t zum Ausdruck bringen. Da aber die Selbständigkeit im Zeichen des Bruchs mit Gott steht, kann er sie — bewußt oder unbewußt — nur „polemisch" zum Ausdruck bringen, nämlich so, daß er,seine Welt ohne und gegen Gott einrichtet. Da endlich diese Selbständigkeit zugleich noch Zeichen der Absonderung und des Falls aus der geschöpfJichen Ordnung ist, so wird alles, was der gottgelöste Mensch tut, das Zeichen der Unordnung und des Chaos an der Stirne tragen. Es wird mit chaotischen Mächten geladen sein. „Was besteht, ist wert, daß es zugrundegeht". Die großen Gestalter der Menschheit auf politischem und militärischem Gebiet haben um diese Mächte des Chaos, um diese allem Geschaffenen amalgamierten Fermente der Zersetzung gewußt, wenn sie in seherischen Momenten ihren Blick bis zum Horizont des ZukunftsPanoramas schweifen ließen1). Wenn wir nun das technische Werk des Menschen in diese Anthropologie der Bibel einzeichnen, und das ist ja unsere-Aufgabe, haben wir ganz einfach zu fragen, inwieweit sich diese doppelte Orientiertheit des Menschen nun in ihm ausspricht. Wir werden sehen, wie sich von hier aus tiefergehende Aufschlüsse ergeben über das, was wir eben das „Doppelx) Um das Problem nicht zu sehr zu komplizieren, lassen wir hier die Frage weg, inwieweit das Evangelium - etwa bei christlichen Staatsgründungen - durch die von Gott geschenkte Wiederverbindung mit ihm etwa Gegenkräfte gegen den Sturz ins Chaos bietet. 166 antlitz der Technik" nannten: Sollte das, was zunächst nur eine s a c h l i c h zu verstehende Doppeleigenschaft der T e c h n i k zu sein schien, sich vielleicht als eine nur p e r s ö n l i c h zu verstehende Doppeleigenschaft des M e n s c h e n entpuppen? Der Aufstand der Mittel Zunächst wird von dieser Anthropologie her ein Phänomen der technischen Entwicklung verständlich, zu dem man ohne diesen Kompaß schwerlich einen Zugang finden dürfte. ^ Es ist das, was man den „Aufstand der Mittel" zu nennen pflegt. Was versteht man darunter? Die Technik besitzt ja die typischen Merkmale eines „Mittels": Sie liefert ζ. B. Verkehrs-,,Mittel", sie liefert Propaganda-,, Mittel" (Zeitung, Rundfunk usw.), sie liefert Her-stellungs-,,Mittel" (ζ. B. Maschinen) für die verschiedensten Produkte. Ein Mittel aber ist von Haus aus niemals Zweck, sondern eben — M i t t e l zum Zweck. Ein Mittel aber ist wesensmäßig „in der Hand" des Menschen, der es gebraucht und seine Zwecke mit ihm verfolgt. Es hat eine durchaus dienende Funktion. Der Mensch ist ihm gegenüber „Subjekt", während das Mittel selber nur „Objekt" der Verwendung ist. Je mehr sich nun die Technik zur lebensbestimmenden Macht und zur Autokratie entwickelt, um so mehr wächst sie dem Menschen a u s der Hand und ü b e r den Kopf, um so mehr scheint sie umgekehrt selbst diktierendes Subjekt zu werden und den Menschen in die Passivität einer ObjektRolle zu drängen, damit aber dann die Schöpfungsordnung chaotisch zu verkehren. Wenige Flinweise können das verdeutlichen: ι . Die Entwicklung der Technik lehrt den „Aufstand der Mittel" bis zur Konstituierung der weltanschaulichen Diktatur. Das wird an folgender Linie deutlich: 167 Die Technik zeitigt die Industrialisierung. Diese ihrerseits führt zu den großstädtischen Menschenzusammenballungen und trägt dazu bei, sie aus allen natürüch-geschöpflichen Bindungen zu lösen, sie also zur amorphen Masse zu degradieren, und damit endlich dem inneren Vakuum und dem Nihil auszusetzen. Die Industrialisierung begünstigt ferner die Herausbildung des ungelernten Arbeiterstandes, eben des Industrie-Proletariats, das keine Beziehung zum Sinn-Ganzen seiner Arbeit mehr besitzt. Aus alledem pflegt als Endprodukt eine nihilistische Diktatur in den verschiedensten Spielarten zu erwachsen. Denn der ausgehöhlte und personlos gewordene Menschentyp ist der stärksten Kommandostimme willenlos preisgegeben. Ich überlasse es dem Leser, in welcher Art er die Konsequenzen dieses Prozesses durch die hinter uns liegenden und durch das gegenwärtige Weltbeben illustriert sieht, und in welchem Ausmaß er also geneigt ist, die Technik als konstitutiven Faktor der Realpolitik und der Weltanschauungsbildung anzusehen. 2. Ferner: Die Technik kann auf militärischem Gebiet für die L a n d e s v e r t e i d i g u n g mobilisiert werden; die entstehenden Rüstungsindustrien werden aber nun ihrerseits von der Gefahr bedroht sein, — die vielfachen Kontrollmaßnahmen, um die man sich staatlicherseits in aller Welt bemüht, zeigen deutlich genug, wie ernst man sie wertet — auf irgendeine Weise das Gesetz des Handelns an sich zu reißen. Ihnen wohnt, jedenfalls vom bloß ökonomischen Gesichtspunkt her, zweifellos die Tendenz inne, die produzierten Rüstungsmittel nicht veralten zu lassen (Technik schreitet ja fort), vielmehr die angesammelte potentielle Energie in kinetische umzusetzen. Und selbst wenn.sie asketisch genug wäre, das bleiben zu lassen bzw. wenn die militärische Unterlegenheit des Landes ein Offensiv-werden verbieten sollte, so wird sie Bedrohungsgefühle .bei den Nachbarn wecken, die ihrerseits zur Bildung eines offensiven Zündstoffes beitragen werden. 168 Jedenfalls scheint die Technik eine besondere E i g e n g e s e t z l i c h k e i t zu kennen. „Eigengesetzlichkeit" bedeutet, daß sich ein Vorgang vom M e n s c h e n als seinem auctor legis löst.und ausschließlich der ihm selbst innewohnenden Dynamik folgt. Der Mensch hört auf, zeugerisches oder auch nur lenkerisches Subjekt zu sein und sieht sich seinerseits einem Prozeß eingegliedert, der sich a η ihm vollzieht. Diese scheinbare Gelöstheit vom Menschen" bringt jedenfalls der Satz vom „Aufstand der Mittel" zum Ausdruck: Die Mittel haben sich verselbständigt und selber zu handeln begonnen. Sie handeln a m Menschen. Nietzsche hat diesen Prozeß der eigenmächtigen Verselbständigung des technischen Mittels bereits ahnungsvoll durchschaut (585. Aphorismus in „Menschliches, Allzumenschliches") : Die Menschheit verwendet schonungslos jeden einzelnen als Material zum Heizen ihrer großen Maschinen: „aber wozu denn die Maschinen, wenn alle einzelnen (d. h. die Menschheit) nur dazu nützen, sie zu unterhalten? Maschinen, die sich Zweck sind — ist das die humana comedia?" Wenn wir diesen Prozeß, so wie er sich modernen Augen im allgemeinen darstellt, auf uns wirken lassen, so scheint seine Eigengesetzlichkeit gerade unserer These zu widersprechen, daß die Technik ein „Werk" des Menschen sei, daß sie ihn deshalb zum „Subjekt" habe und ihn in seiner Geschöpf-lichkeit und Sündhaftigkeit „zum Ausdruck bringe". Lassen sich diese eigengesetzlichen Vorgänge tatsächlich noch in den Rahmen einer1 Anthropologie einzeichnen? Ist nicht umgekehrt der Mensch in den Rahmen des geschilderten und über ihn hinweggehenden Prozesses einzuzeichnen? Tatsächlich aber sind die genannten Vorgänge nicht aus der S a c h Gesetzlichkeit der Technik, sondern — wenn man so will — aus der P e r s o n - Gesetzlichkeit des Menschen zu verstehen. Wir finden an dem, was sich nach außen hin als Eigengesetzlichkeit kundzugeben scheint, genau das demon 169 striert, was die Bibel am Verhältnis des Menschen zu seinem eigenen Werk wirksam sieht: Machen wir uns den Tatbestand nocheinmal an der schon im ι . Kapitel besprochenen Geschichte .vom reichen Kornbauern klar (die nur e i n Beispiel neben vielen andern ist für das Problem des „reichen Menschen", wie es biblisch geschaut ist) (Luk. 12, i6f£): Der Reichtum dieses Menschen ist sein Werk. Er hat mit planender Tatkraft seine Scheunen gefüllt. Sein Verhängnis bestand darin, daß er nun dem Fluch der Sicherheit verfiel: „Beruhige dich, liebe Seele, du hast einen Vorrat auf viele Jahre". Ich sage: „er verfiel. .." — oder vielmehr der biblische Bericht sagt es so zwischen den Zeilen. Es zeigt sich also, daß sein eigenes Werk nun „Herr" über ihn wird, ihn sicher „macht" — eben: ihn „verfallen" läßt. Ist es nun die Eigengesetzlichkeit des Reichtums, die sich hier vollzieht? Nein! Daß der Reichtum dergestalt Herr werden k o n n t e , lag an der Einstellung des Kornbauern zu ihm: Er hatte Gott verloren und sich damit jeglichen Haltes beraubt. Das macht ja seine Todesstunde offenkundig, die ein erschütterndes Arm-sein-in-Gott bei ihm aufdeckt. Nur weil er d i e s e Gebundenheit verloren hatte, band er sich an den Reichtum. Nur „in Gott", oderneutestamentlich ausgedrückt: nur dann, wenn ihn der Sohn frei gemacht hätte, wäre er ein freier Mann geworden und niemandem Untertan gewesen. N u r d u r c h d i e K i n d s c h a f t und nicht durch ein erträumtes Freiheitsideal k a n n m a n s i c h d e r Sklavereientziehen. Wir stoßen hier auf das tiefste Geheimnis des Menschenschicksals : Irgendeine Bindung hat der Mensch i m m e r . Er gehört stets jemandem. „Ihr könnt nur Gott dienen o d e r dem Mammon"; aber einem von beiden m ü ß t ihr auch dienen. Mit vollem Recht sagt das Sprichwort: „Wo man Gott zur Tür hinausjagt, da steigen die Gespenster zum Fenster herein". 170 Luther hat deshalb in vielen Äußerungen das Bild vom „ S c h l a c h t f e l d " abgewandelt, in dem der Mensch sich dargestellt sehen müsse, vom Schlachtfeld, um das sich immer zwei Herren streiten: Gott und sein Widerspieler. Der Mensch ist viel weniger ein Mann, der Geschichte macht, oder ein Feldherr, der Kriege führt — als vielmehr ein S c h l a c h t f e l d , um das die Herren kämpfen. Nicht als ob der Reichtum oder die Technik „an sich" böse wären! Sondern der M e n s c h ist böse, insofern er ihnen verfällt und ihnen damit den Rang von Göttern einräumt. Als haltlos Entbundener, als haltlos Verfallender macht der Mensch aus der Technik die „Technokratie" und aus dem Gelde den Gott „Mammon". Das Wagnis „Mensch" Dieser Sturz aus der Freiheit der Gotteskindschaft — der einzigen Freiheit, die es gibt — in das knechtische Ausgeliefertsein an die Mächte wird an der Sündenfallgeschichte deutlich: Es war das W a g n i s Gottes, im Menschen ein freies personhaftes Wesen sich gegenüberzustellen; Wagnis insofern, als mit der Freiheit auch das Risiko des Ausbruchs gegeben war; Gott „riskierte" den Menschen und verzichtete auf die „Sicherheit" der Marionette. Daß seine Kindschaft in einem freien Akt ständigen Ergreifens bestand, das war die Würde dieser Kindschaft. Daß die Kindschaft nicht in einem bloßen Prozeß bestand, sondern ergriffen werden mußte, das war ihre Freiheit. Diese Freiheit besteht sozusagen nur einen Augenblick, sie ist gleichsam punktueller Natur; sie besteht nur solange, wie die Kindschaft währt und der Mensch aus der Perspektive der Kindschaft heraus vor der Wahl zwischen Gut und Böse steht. (Es mag noch ergänzend hinzugefügt sein, daß die ungebrochene Kindschaft sozusagen die Wahl selber noch gar nicht ernsthaft in Erscheinung treten läßt, weil sie noch im ständigen, eben „ungebrochenen" Ergreifen 171 der Kindschaft besteht. Die geschöpfliche Freiheit besteht noch ganz darin, daß der Mensch werden darf, was er soll; aber noch nicht darin, daß er tun darf, was er will. Indem das letztere ernsthaft in Erscheinung tritt, ist schon die Stunde der Versuchung. Zwischen beiden Formen der Freiheit liegt schon ein abgründiger Wandel.) In dem Augenblick, wo der Mensch gewählt hat, wo also Eva nicht mehr betrachtend und vielleicht begehrend vor dem Apfel steht, sondern ihn gepflückt hat, ergreift die Sünde das Gesetz des Handelns und wird zur Macht über den Menschen. Nun beginnt sozusagen seine Geschichte, in der die Sünde die Hauptrolle spielt. Genauer ausgedrückt ist es also so : Die Abkehr von Gott und die Hinkehr zur Sünde ist nicht die Bewegung zwischen zwei Möglichkeiten, die gleichermaßen dem Menschen dargeboten wären und zwischen denen er hin und her eilen könnte. „Möglichkeiten" sind Gott und Satan sozusagen nur in dem e i n e n Augenblick, wo Eva zum Apfel aufsieht und Adam sich überlegt, ob er hineinbeißen soll. Indem die Möglichkeit der Sünde ergriffen und Gott verlassen wird, stürzt der Mensch sozusagen in die Un-Möglichkeit. Das zeigt sich daran, daß im Augenblick, wo die Möglichkeit „Sünde" ergriffen wird, ihr Charakter als Möglichkeit und damit auch der revidierbaren, wieder zu kündigenden Möglichkeit aufhört. Das was den Charakter der Möglichkeit konstituiert: nämlich das Hin- und Hereilen zwischen . . . hört im selben Augenblick auf. Es gibt nur ein Hineilen bzw. ein Von-Gott-Wegeilen. Aber ein Zurückeilen gibt es nicht mehr. Die Möglichkeit ist zur Un-Möglich-■ keit geworden. Die Tür ist zugeschlagen. Die Klinke ist nur an der Eingangsseite. Das, was seine Möglichkeit war, ist zur Macht über ihn geworden. Seine Rolle bestand im ersten Akt darin, Subjekt zu sein, und nun steht er der jählings aufgebrochenen Macht des Bösen als Objekt gegenüber. Nun muß er seinen Weg nach dem Gesetz beschüeße'n, nach dem 172 er — paradoxerweise f r e i w i l l i g — angetreten war. Aus dem „Willen" ist der „geknechtete" Wille geworden, der Wille, der sich verschrieben hat. Nichts anderes hat Luther mit dem Wort vom servum arbitrium sagen wollen. Nun hat die Sünde den Menschen; nun muß Kain seinen Bruder morden; und auch die von ihm erbaute Polis wird ohne das Gesetz des Mordes nicht leben können; nun muß der babylonische Turm gebaut werden, der trotz alles planenden Aktivismus des Menschen nur ein Produkt seiner Hörigkeit ist. Denn Aktivismus kann sehr wohl das Symptom einer passiven Hörigkeit im Letzten sein. In dieser Hörigkeit, in diesem Aufhören der „Möglichkeit", liegt es begründet, daß der Mensch erst befreit werden kann, indem ihn Gott durch s e i n e Tat wieder in die Kindschaft aufnimmt. In der Tatsache Christus wird es erst wieder wirklich, daß nichts uns von der Liebe Gottes scheiden kann, daß wir aufs neue in der Kindschaft geborgen sind (Rom. 8, 31 ff.). (Über das Böse als eine Macht, die, einmal ergriffen, uns das Gesetz des Handelns diktiert, vgl. Bergengruen, Der Großtyrann und das Gericht). Von hier aus sehen wir den „Aufstand der Mittel", wie ihn das technische Zeitalter gebracht hat, in ganz neuem Lichte. Er beruht nicht auf der Eigengesetzlichkeit der Technik, sondern — wenn man so will — auf der Eigengesetzlichkeit der Sünde. Das, was zunächst dem Menschen als eine Möglichkeit in die Hand gegeben ist — und ein technisches Mittel besitzt doch den Charakter der „Möglichkeit" — steht auf und wird zur Macht über den Menschen. Es kann zu der Macht werden, weil der < Mensch sich losgemacht hat und deshalb den ihn beanspruchenden Göttern des Mammonismus, der Technokratie usw. ausgeliefert ist. Alles, was er tut, muß ihm nun zum Ausdruck dieser Losgebundenheit werden und sie zugleich noch intensivieren. Luther geht darin so weit, daß er selbst Essen und Trinken in den Kreis jener Werk-Symptome einbezieht, die die 173 Sünde des Menschen zum Ausdruck bringen müssen. Selbst die natürlichsten Lebensäußerungen, wie etwa die Nahrungsaufnahme, verlieren den Charakter der Neutralität gegenüber Gut und Böse und werden zu Symptomen der Existenzschuld des Menschen. So gewiß diese Existenzschuld in der Ablösung von Gott besteht, werden sie zu Symptomen der Unordnung und des Chaos, in das der Mensch nun stürzt; und da der Mensch zugleich nie ohne Gott, sei es auch nur ohne einen A b gott sein kann, so werden selbst jene Lebensäußerungen zu Mächten und Göttern dieses Chaos. Spüren wir diesen Prozeß nicht ebenfalls mit Macht? Ist die Magenfrage in der modernen Menschheit nicht Ausdruck des Chaos geworden? Ist die Verteilung der Lebensgüter in dieser Welt, über die sich die Götter nicht einigen können, nicht ein Fanal des Völkerchaos und der Kriege ? Oder man denke an den Spruch : „Lasset uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot" wird darin nicht zum Greifen deutlich, wie hier die scheinbar so neutralen Vorgänge „Essen" und „Trinken" auf einmal zu Göttern werden, die uns beherrschen? Alle Lebensvorgänge, alle „Werke", alles Nach-außen-treten des Menschen wird zwangsläufig zum Symptom der Irr-Bindung an den Götzen, dem er sich verschrieben hat. Diese symptomatische Funktion kann deshalb „auch" die Technik übernehmen. (Es ist gar nicht von ungefähr, daß wir so wenig von der Technik und so viel vom Menschen reden müssen. Die Technik ist eben kein selbständiges theologisches Problem, sondern nur eines unter vielen Beispielen, in denen sich ein Vorgang zwischen Gott und Mensch ausdrücken kann. Allerdings handelt es sich um ein besonders prägnantes und um ein besonders akutes Beispiel.) 174 Die Dämonisierung des Menschen und seiner Technik Verharrt etwa der Mensch in seiner programmatischen und prometheischen Selbständigkeit, so muß ihm auch sein technisches Unternehmen zum Ausdruck seines Trotzes werden; so erbaut er den babylonischen Turm, um seine Selbständigkeit durch ein technisches Unternehmen vor sich und andern und Gott zu demonstrieren. Die gigantischen Möglichkeiten der Technik sind hierfür besonders geeignet. Gleichzeitig intensiviert der Ausdruck die Sache selber: es ist eine ständige Wechselwirkung, die man am Lebensgefühl des technischen Menschen deutlich beobachten kann. Es gibt ein Pathos der Technik, in dem sich das Bewußtsein von den unbegrenzten Möglichkeiten, das Bewußtsein eines ständigen Fortschritts ausspricht, in dem also der Mensch in höchst drastischer Weise einer völligen Selbstüberschätzung oder besser: Fehleinschätzung verfällt. Dasselbe zeigt sich am Verhältnis des technisch säkularen Menschen zu seinem Mitmenschen: Seit er Gott verloren hat, ist auch der „Nächste" für ihn nicht mehr von der Würde gezeichnet, die er als Kind Gottes, als Geschöpf Gottes hatte. Er wird zum Produktionsmittel, zur Arbeitskraft. (Es ist erschütternd zu sehen, wie versachlicht die Redeweise vom Menschen wird: Lehr-„Kräfte", Menschen-,, Material" u. ä.). Das mechanische Prinzip der Technik eignet sich ganz besonders, Ausdruck der Personlosigkeit zu werden und — diese Personlosigkeit durch fortschreitende Mechanisierung der menschlichen Arbeit weiter zu intensivieren. Bis sich auch hier zeigt, wie mit alledem nicht etwas geschehen ist, was mari sofort lassen könnte, nachdem man seine Schädlichkeit erkannt hat, sondern wie damit eine Macht auf den Plan getreten ist, der man nun verfallen muß; nicht nur daß der Typ des Kollektiv-Menschen selber, und zwar rein quantitativ, eine Macht wird, mit der man rechnen muß, sondern auch so, daß die Entpersönlichung nach allen Men 175 sehen dieser Zeit greift und wahrlich nicht zuletzt nach dem Unternehmer selber: ist der Typ des Ingenieurs oder des Industriellen nicht selber weithin personlos geworden? Was stellt er denn noch abgesehen von seinem „Beruf" vor — vom Christlichen einmal ganz abgesehen, nur im Hinblick auf die Humanität? So ist einfach die Technik, weil der Mensch keinen Halt in Gott besaß, über ihn gekommen und muß ihm nun zum Ausdruck seiner Sünde dienen : Sie muß ihm zum Mittel seines Machtrausches, seiner Hybris, seiner Degradierung des „Nächsten" werden. Sie dient ihm zum makrokosmischen Ausdruck des Mikrokosmos seines Herzens, und was man früher flüstern mochte im Dunkel, das erschallt jetzt von den Dächern und verrät sich in den Lautsprechern. Die Tendenz des Menschenherzens, die sich hier ausdrückt, wird von ihrem Ausdruck her selbst gewirkt und weiter intensiviert. Der Mensch ist Subjekt und Objekt des Ausdrucks zugleich. Das meinen wir mit dem Begriff „Aufstand der Mittel". Die Technik ist also keineswegs an sich böse; genau so wenig, wie der Götze oder das Götzenopferfleisch an sich böse sind (i. Kor. 8). Sie werden es nur, indem ich ihnen verfalle. Es ist nur ein Bösesein „quoad me". Diese Form der Dämonisierung soll an zwei Beispielen demonstriert werden, einem modernen und einem biblischen: Der Film ist ein besonders eindrückliches technisches Phänomen. Im Anschauen vergißt man freilich, welche Unsumme an technischer Leistung und Organisation dazu gehört, bis das Bild auf der Leinwand erscheint. Die wenigsten unter uns sind über diese technischen Vorgänge unterrichtet. Man nimmt nur ihre Ergebnisse in Anspruch, ohne sie selber zu verstehen. Gleichzeitig aber stehen wir doch vor folgenden bemerkenswerten Tatsachen: Die technische Gipfelleistung des Ton- und Farbfilms dient nicht selten und im Durchschnitt eigentlich sogar meist dazu, irgendeine inhaltliche Nichtig 176 keit darzustellen. Auch filmische Sachverständige wissen es und sprechen es aus, daß das Problem des Films nicht primär im Technischen, sondern im — Manuskript, also beim Autor liegt. Wenn man beim Film von „Durchschnitt" spricht oder sich über eine läppische Nichtigkeit oder eine Tendenz ärgert, deren „Absicht" einen „verstimmt", so meint man nicht das technische Niveau, sondern meint den Inhalt des Gesagten bzw. den Nicht-Inhalt des Gesagten. Im Mangel an guten Film-Manuskripten bezeugt sich, daß unsere Zeit offenbar — von wirklichen Ausnahmen abgesehen — im allgemeinen wenig zu sagen hat, wenigstens auf jenem Gebiet des Menschlichen, das der Film im allgemeinen als seinen Gegenstand behandelt. Das, was wir früher „Nihilismus" nannten, drückt sich hier als Nichtigkeit aus. Und es wirkt gerade deshalb so erschütternd, weil die Nichtigkeit hier mit einem ungeheuren Apparat an technischen Mitteln ausgesprochen wird. (Das gleiche gilt natürlich vom Rundfunk.) Selbst wenn wir annehmen, daß der Durchschnitt der Menschen, an den sich der Film vor allem wendet und von dem er auch stammt, in früheren Zeiten ebenfalls von banalen Dingen innerlich gelebt hat, besteht der Unterschied dennoch deutlich d a r i n , daß die Nichtigkeit früher verhüllter und weniger aufdringlich in Erscheinung trat, während sie nun ihre Gesten mit dem verlängerten Arm der Technik vollzieht. Der Unterschied liegt ferner darin, daß mit alledem die Suggestion der Nichtigkeit selbst ungleich größer wird. Biblisch kommt der gleiche Tatbestand an der Geschichte vom Turmbau zu Babel zum Ausdruck; vielleicht deshalb besonders eindrücklich, weil dieser Turmbau ja eine technische Seite hat. Indem der Mensch Gott abzusetzen versucht, schnellt nun sein eigenes Haupt in die gefährlichen Regionen empor, die Gott gehören. Da er den Mittelpunkt verloren hat, wird er selbst, Mittelpunkt. Das drückt sich in allen Lebensäußerungen und deshalb natürlich a u c h in sei *177 nem Bauen aus. Hier darf nun folgende Beobachtung «nicht übersehen werden (wir deuteten das oben bereits an): Zu diesem Bauen aus der Hybris heraus gehört ein Aktivismus im großen Stil — Hybris selbst geht ja immer mit Aktivismus zusammen, gleichsam einer blasphemischen Imitation des göttlichen Schöpferhandelns —; es gehört dazu tathafte Planung und konstruktive Kraft. In Wirklichkeit aber ist entscheidend, daß der Mensch inmitten dieses aktivistischen Aufschwungs bereits hörig und sozusagen passiv ist: Indem er sich gegen Gott aufgelehnt hat, ist er in den Bann seiner selbst geraten, in den Bann der Hybris und der Egozentrizität. Dadurch aber wird er sofort, sozusagen in einer neuen Phase seiner Passivität, zum Mißtrauen gegen den Mitmenschen gedrängt. Indem die Menschen nämlich nicht mehr „unter Gott" leben, beginnen sie sich voreinander zu fürchten. Denn nun stehen sie unter der Herrschaft ihrer Instinkte, ihrer Leidenschaften, ihres Mißtrauens, ihres Ehrgeizes und ihres Machttriebes. Nun muß man sich voreinander fürchten. Denn während der Mensch unter Gott berechenbar und deshalb vertrauenswürdig ist — man weiß eben, nach welchen Normen er handeln wird —, ist der von Gott gelöste Mensch unberechenbar. Man bekommt dann unwillkürlich den ängstlich-mißtrauischen, den „babylonischen Blick". Und wiewohl der Turm ursprünglich geplant war, um die Menschen zu s a m m e l n um ein gemeinsames Werk — man ahnte heimlich eben doch die Zerstreuungstendenz der gott-losen Einstellung —, wird er gegen den Willen der Erbauer zu einem Ferment der Zersetzung. Was er in einem gigantischen Kräfteaufwand sammeln sollte, muß nun der Zerstreuung und der Angst voreinander dienen: „Denn Täter werden nie den Himmel zwingen Was sie vereinen, wird sich wieder spalten . . . " So zeigt sich, wie gerade die gottlosen Tatmenschen in einem Banne und in einer Knechtschaft handeln, mit der sie 178 nicht fertig werden, und wie die Technik als ihr gigantischer Tatausdruck diese Knechtschaft nur härter und gefährlicher macht, wie sie die Angst erhöht und das Müssen versteift. Dié ganze folgende Menschengeschichte ist von diesem Turmbau abhängig: Mißtrauen, Angst voreinander und egoistischer Expansionsdrang werden in alle Zukunft die entscheidenden schöpferischen und zersetzenden Faktoren der Geschichte sein. Zugleich wird an diesem Beispiel deutlich, daß die völlig unsichtbare und hintergründige Entscheidung gegenüber Gott die größte und einzig realistische Geschichtsmacht ist und daß alles andere, was nach außen imponierend in Erscheinung tritt — ζ. B. jenes gigantische architektonische Monument — in Wirklichkeit nur vordergründiges Symptom dessen ist, was die eigentlich großen Entscheidungen hervortreibt. Granit und Beton scheinen realistische Größen zu sein und die Gottesfrage eine unsichtbare und fast unwirkliche Ideologie. Wir haben gesehen, daß es sich umgekehrt verhält (vgl. i. Kapitel über Realismus und Traum). Zusammenfassung: Die Selbstenthüllung des Menschen durch die Technik Wenn wir also cum grano salis sagen dürfen, daß der babylonische Turmbau ein Paradigma technischen Handelns sei, haben wir gesehen, wie die Technik „Werk" des Menschen ist, wie sie deshalb auch zum Medium seiner Sünde werden und ihm zugleich zur Knechtschaft unter der Sünde dienen muß, ja wie sie den Prozeß des Abfalls selber vorantreiben muß. Was ursprünglich technische Entbindung der Schöpfungskräfte sein wollte, wendet sich nunmehr gegen die Schöpfung; was eine Begabung war, wird zur Hypothek; was ein Mittel zur Erschließung der Schöpfung war, wird zum Mittel ihrer Verschließung. Wer nicht hat, dem wird auch das genommen werden, was er hat. 11 T h i e l i c k e , Fragen des Christentums. 161 Das Thema der Technik ist der Mensch. Hier liegt der Schlüssel für ihr Verständnis. Die Geschichte der Technik wird d e s h a l b 2u einer Krankengeschichte, weil der Mensch krank ist. Es wäre Unsinn, die Technik zu dämoni-sieren oder zu diskreditieren. Die Frage einer Wende des technischen Zeitalters ist deshalb selbst keine technische Frage, ζ. B. auf keinen Fall die einer technischen UmOrganisation. Sondern sie ist eine Frage der Seelsorge und — der Buße. Nur seelsorgerliches und büßendes Handeln setzt die Therapie an dem genuin ge-schichtsschöpferischen Ort an, nämlich dort, wo die Gottesfrage entschieden wifd. Selbstverständlich wird èine Umkehr des technischen Zeitalters auch viele technische und organisatorische Maßnahmen bringen, mit deren Hilfe die Technik in den D i e n s t des Menschen gestellt wird (ζ. B. auf kulturellem und sozialpolitischem Gebiet). Aber derartige Maßnahmen können, wenn sie wirksam sein und nicht eine gefährliche Symptom-Therapie werden sollen, nur selbst wieder Ausdruck einer veränderten Herzenshaltung zu Gott und einer dadurch gewandelten Einstellung zum Nächsten werden. Fehlt diese Voraussetzung, so werden die „guten Werke" (auch auf sozialem und kulturellem Gebiet) nur zum Fluch. Und es gehört ja kein besonders scharfes Auge dazu, um zu erkennen, wie etwa die sozialen, dem Menschen dienen sollenden Maßnahmen den Prozeß der Vermassung und damit der Degradierung des Menschen gerade voranpeitschen müssen, solange die Wandlung im Zentrum ausbleibt. So ist es zu verstehen, daß jeder bisherige Versuch, mit Hilfe sozialpolitischer Maßnahmen der technisierten Arbeit wieder Seele und dem technisierten Menschen wieder Würde zu geben, scheiterte und scheitern mußte, weil die einzige Immunisierung gegen ihn in der Kindschaft des Herzens gegeben ist. Nur solange wir Kinder im Vaterhause sind, können wir nicht Knechte werden. Der Gegensatz zur Knechtschaft ist nicht Freiheit, sondern Kindschaft. Damit kommen wir zur Formulierung unserer Ergebnisse: ι. Der entscheidende Faktor in der Technik ist der Mensch. — Er drückt sich in der Technik aus. Sie wird ihm zum Symptom. Insofern verändert sie ihn nicht, sondern intensiviert seine Ausdrucksformen. In dem Augenblick, wo ich dies schreibe, ist der Äther von zweierlei Stimmen erfüllt: Einmal von den Rundfunkwellen Bachscher Musik und damit von den Tönen der musica sacra, den Boten des Heiligen. Er ist aber zugleich erfüllt von den Radiowellen gemeiner Propagandalügen, die wie ein giftiger Anhauch die Atmosphäre verpesten. Es ist eben der Mensch, der sich in seiner Doppelseitigkeit hier zu erkennen gibt, nur in makrokosmischen Ausmaßen. Früher hat man auch heilige Musik gemacht, aber sie klang auf in der kleinen und geschlossenen Gemeinde der Andächtigen, jetzt umhüllt sie atmosphärisch für Augenblicke den Globus. Früher hat man auch gelogen; aber es wurde geflüstert und geschah in der Heimlichkeit der Nächte. Was man aber früher flüsterte, erschallt jetzt von den Dächern und aus den Lautsprechern. Es ist derselbe Mensch wie ehedem; aber seine Symptomatik hat sich intensiviert und hat kosmische Dimensionen angenommen. 2. Die Menschheit schreitet zwar immer fort, doch der Mensch bleibt ebenso gewiß immer derselbe. Er marschiert in den entscheidenden Fragen seines Lebens immer auf der Stelle. Das hatte Diesel richtig gesehen in dem früher zitierten Wort. Tod, Leid und Sünde sind die Mächte, über die hinaus es keinen Fortschritt gibt. 3. Entscheidend ist, welches Vorzeichen vor der Klammer unseres Lebens und unserer Kultur steht. Gerade die Technik als „Mittel" nötigt ja die Frage nach dem Zweck auf, in dessen Dienst sie gestellt wird. Deshalb wird sie in gewissem Sinne zu einem Bild des Lebens selber, das ebenfalls nur Mittel ist und von der Sinn- und Zweckgröße her bestimmt wird, der es sich unterstellt. Weder politische noch 11* 163 militärische noch berufliche Erfolge auf der privaten Ebene sind aus sich selbst, d. h. um des bloßen Erfolges willen, sinn-haltig. Das gleiche gilt vom Fortschritt und vom Erfolg der Technik'. Diesel hegte schon die richtige Vermutung, wenn er das bezweifelte. Der erfolgreichste und technisch fortschrittlichste Farbfilm erinnert einen oft mit schier zermalmender Wucht daran, welcher Aufwand an technischen Mitteln vertan wird, um eine mehr als kitschige Liebesgeschichte zu inszenieren und in Millionen Seelen geduldiger Opfer hineinzuwürgen. Die Technik als ein Faktor des Mittels lehrt uns unüber-hörbar, auf die letzte Sinngebung unseres Lebens, auf das Vorzeichen vor der Klammer zu sehen. Und wenn nicht alles trügt — ich schreibe dies im August 1943 — wird die Erfolgs-anbetung und die bloße Leistungssumme innerhalb einer Klammer, vor der das Vorzeichen vergessen wurde, von Gott in einem geradezu apokalyptischen Gericht ad absurdum geführt. I Der Realismus der unsichtbaren Welt Damit kommen wir zum eigentlichen Endergebnis unserer Betrachtung: ι. Die Technik ist scheinbar die größte und am meisten „geschichtemachende" Autorität unserer Zeit. Das Stichwort „Materialschlacht" sagt darüber alles1). Die Industrialisierung macht auch im Frieden das Leben und nicht zuletzt seine weltanschaulichen Sinngebungen zu einer einzigen MaNoch mehr heute (1946) das Stichwort „Atomzertrümmerung". Aus den mancherlei Konferenzen darüber erreichen uns Stimmen, die den Eindruck erwecken, als sei sich die Menschheit einen Augenblick darüber klar, was es heißt, daß dies „Mittel" in ihre Hand gelegt ist. Es kann einen eine gewisse Melancholie überkommen, wenn man daran denkt, daß die Beherrschung dieses Mittels nicht von einer organisatorischen Maßnahme, sondern von der Erneuerung auf einer ganz anderen Ebene abhängt. Alles andere kann im besten Falle nur retardierende Bedeutung haben. 182 terialschlacht. — Und doch ist die schlechthin dominierende . Geschichtsrealität, sagen wir einmal: die „norma normans", von der die Technik ihrerseits abhängt, der von Gott geschaffene und abgefallene Mensch. Ihm dienen alle Phänomene des Lebens — von der Welt des Sexus bis hin zur ganz andern Welt der Technik — als Formen, in denen er dieses sein Sosein ausdrückt und seine heimliche Natur verrät. Realer als alle Konstruktionen des babylonischen Turmbaus waren Schuld und Gericht, obwohl man jene sehen und bewundern konnte, während diese unsichtbar sind und gleichsam dem verborgenen Hintergrunde der Welt angehören. Der babylonische Turm war ja nur A u s d r u c k , nur S c h a t t e n der eigentlich realen Mächte, nämlich der Mächte „Schuld" und „Gericht". Das Verhältnis von „Wirklichkeit" und „Schatten der Wirklichkeit" ist anders, als es auf den ersten Blick scheinen möchte. R e a l e r a l s d a s S i c h t b a r e i s t d a s U n s i c h t b a r e . An dem genannten Beispiel wird das auch für die ratio bis zum Greifen deutlich. Deshalb sind die weltanschaulichen Entscheidungen und vor allem das, was Gott mit uns vorhat, realer als alle militärischen Aktionen, die nach den Kräfteverhältnissen „real" berechnet, an ihren Spuren in der Landschaft „real" abgelesen werden können und in Dokumenten „real" niedergelegt sind. Man nennt die reale Niederlegung in Dokumenten auch „Objektivität" und bezeichnet demgegenüber die jenseitige Wirklichkeit, deren Ausdruck sie „möglicherweise" sind, als ¿,subjektiv". Denn „Religion ist Privatsache". Merkt man jetzt, welcher Wahnsinn diese Beziehung von subjektiv und objektiv, von Realität und metaphysischem Traum ist? Merkt man nicht endlich, daß sich alles genau u m g e k e h r t verhält, wie es nach außen scheint? 2. Man kann nach allem Gesagten also nicht der Technik helfen, indem man gleichsam auf die technische Ebene selbst tritt und mit technischen Mitteln ihre Eigengesetzlichkeit in 183 Schach hält. Wenn ich nicht irre, hat man vor einigen Jahren einmal einen Rasierklingen-Automaten verboten, weil er so und so viele Arbeiter, die vorher in dieser Branche beschäftigt waren, brotlos gemacht hätte. Sofern diese Maßnahme nur angesichts eines erschreckenden Auswuchses der Technik ergriffen wird, ist sie reine Symptom-Therapie und kann der technischen Selbstvernichtung des Menschen nicht ernstlich abhelfen. Genau so wenig, wie dieser Selbstvernichtung auf die Dauer etwa durch diplomatische Abmachungen darüber gesteuert werden kann, daß man diese und jene Angriffswaffen oder diese und jene chemischen Kampfstoffe nicht anwenden wolle. Gerade am letzten Beispiel wird das Grundanliegen unserer Besinnung noch einmal deutlich: daß die Heilung nicht von den technischen Symptomen ausgehen kann, sondern daß der in Unordnung geratene und in der Technik sich ausdrückende M e n s c h sich helfen lassen muß. Es geht um keinerlei Rezept für die technische Weiterentwicklung — sie geht unabhängig von allen Rezepten und retardierenden Momenten die Einbahnstraße ihres Fortschritts weiter; man kann das Rad der Geschichte nicht nur nicht zurückdrehen, sondern auch keinen Augenblick abbremsen oder gar zum Stillstand bringen -; ich sage: es geht um kein Rezept für die technische Weiterentwicklung, sondern es geht um den Bußruf an den M e n s c h e n des technischen Zeitalters. Es geht nicht um ein Problem der Organisation — oder doch nur insofern, als sich in der Organisation der entscheidende Neuansatz jener inneren Wandlung zum Ausdruck bringt und als in der Organisation gewisse „Folgerungen" gezogen werden —, sondern es geht um das Problem der Umkehr, der H e i m - Kehr. Das Thema der Zukunft besteht also nicht darin, daß das Evangelium die Technik sanieren könnte, sondern darin, daß der Mensch des technischen Zeitalters sich von Christus zur 184 Ordnung rufen und in den Frieden mit Gott bringen läßt. Der Schlüssel zu allen bedrängenden Zeitproblemen liegt nicht in gewissen politischen, militärischen oder technischen Patentlösungen. Auf d i e s e r Ebene sind alle Mächte, die heute im Kampf miteinander liegen, sozusagen gleich oder doch nur quantitativ unterschieden — unterschieden nämlich nur je nach dem Rang ihrer Intelligenz, je nach dem Energie-Quantum, das sie aufzuwenden vermögen oder nach dem industriellen und biologischen Potential, das sie in die Waagschale werfen können. Jedenfalls handelt es sich auf dieser Ebene um rein graduelle Unterschiede. Auf dieser Ebene können deshalb auch keine letzten Entscheidungen ausgetragen werden, nämlich keine Entscheidungen von q u a l i t a t i v e m Gewicht. Diese Entscheidungen fallen überhaupt nicht auf der Ebene der Mittel. Denn diese Mittel sind ja gerade im Aufstand begriffen. Sie sind ja unsere Not. Es geht u m d e η M e n s c h e n s e l b e r , der hinter all diesen eigengesetzlichen Prozessen steht, die ihn als exousiai (als Mächte) beherrschen wollen. Um d e s s e n Sanierung geht es : Die e i g e n t l i c h realen Schicksalsentscheidungen fallen, wenn man so will, auf der Ebene der Anthropologie, nicht der Technologie. Genauer ausgedrückt, können wir sagen: Sie fallen an dem Ort, den die Bibel „Herz" nennt. Hier ist der einzige strategische Punkt, von dem aus die verworrene Weltlage zu beherrschen ist. Das Herz- aber steht vor Gott. Und nur in Gemeinschaft mit Gott werden wir dem Prozeß der Entpersönlichung und der Mechanisierung entzogen. Man kann sich das nicht realistisch genug vorstellen : Denn vor Gott bekommen wir einen unendlichen Wert, bekommen wir die dignitas aliena, n u r vor ihm: Wir sind ja von ihm geschaffen, Jesus Christus ist für uns gestorben, wir sind geliebt, wir sind teuer erkauft, wir sind Gottes Augapfel. Nur indem ich den andern vor diesem Hintergrunde stehen sehe, indem ich ihn gleichsam vor dem goldenen Himmel der go 185 tischen Maler sehe, der ihn auf die Glorie Gottes bezogen sein läßt, bin ich nicht mehr imstande, den andern als Mittel zum Zweck zu mißbrauchen (Kant), zum „Produktionsmittel" und technischen Rädchen zu degradieren oder zum Objekt einer bloß propagandistischen Einflußnahme, auch in den letzten Fragen seines Lebens, zu machen. Vor d i e s e m Hintergrund wird er mir zum Nächsten, wird er zu einem Manne, der die goldene Kette göttlicher Würde um den Hals trägt. Nochmals: Es geht nicht darum, daß das Evangelium die Technik saniert, sondern es geht um die Heimkehr des M e n s c h e n . Auf den Gesichtern unserer abendländischen Intelligenz beginnt sich — für den Wissenden deutlich sichtbar — schon seit längerem „eine gewisse Unseligkeit" abzubilden (Peter Wust), eine Unseligkeit, die davon zeugt, daß die Lösung aller Lebensgebiete von Gott keine Befreiung, sondern ein großes Scheitern und eine schlimme Knechtschaft gebracht hat. Sie sind und bleiben „ohne Trost der eigenen Sakramente"; „wir steigen arm von unserem Thron" (Gerh. Schumann). Der Weg der abendländischen Menschheit gleicht dem Weg des verlornen Sohnes in die Fremde: Der suchte ja auch zur Freiheit gegenüber dem Vater zu kommen und strebte in die Fremde eines autonomen Abenteurertums. In Wirklichkeit aber geriet er in die Unfreiheit einer schauerlichen Knechtschaft, von der aus er plötzlich die Freiheit erkannte, die er unter den Augen des Vaters besessen hatte: Auf dem Weg in die Freiheit geriet er unter die Knechtschaft seiner Triebe, des Mammons, der Menschenhörigkeit - wurde er in den Aufstand der Mittel verstrickt. Auch das Verhältnis von Bindung und Freiheit sieht wesentlich anders aus, als es der Abenteurerdrang menschlicher Autonomie immer wieder träumt. Darum gibt es in dieser Weltsituation, die uns im Spiegel 186 der Technik entgegentrat, nur den gleichen Ruf zum Zurück, der auch den verlornen Sohn traf. Dieser Ruf ist, wie gesagt, kein Sanierungsprogramm, sondern er ist ein Bußruf. Buße aber heißt Heimkehr des Kindes zum Vater. Gott wartet auf uns, darum leben wir noch. Und wir haben die Verheißung, daß denen, die nach dieser Heimat, nach diesem Reiche trachten, das andere alles zufallen werde: nämlich die Befreiung von den Mächten, von der Personlosigkeit, von der Mechanisierung, vom Fluch des Vergeltungsprinzips und dann auch vermutlich in einem späteren Stadium die ganz konkreten und organisatorischen Maßnahmen, in denen sich diese Befreiung nun ihrerseits wieder „ausdrückt". Es geht um nichts anderes als um das Rückfinden zu unserer Bestimmung. Alles andere, was auf der Ebene der Politik oder der Wirtschaft geschehen kann, ist nur Symptom-Therapie, die Augenblickserfolge bringt, aber den Organismus nicht kuriert: Nochmals: „Die Täter werden nie den Himmel zwingen . . ." (Reinhold Schneider). Wir können nur das sagen, was Gerhard Schumann wie in einer fernen Ahnung sagt — mitten aus der Unseligkeit des gescheiterten und verlorenen abendländischen Menschen heraus: „Wir löschen unser Licht — nun leuchte d u". 187 VIERTES KAPITEL ÜBER DIE WIRKLICHKEIT DES DÄMONISCHEN DAS GEHEIMNIS DER ÜBERPERSÖNLICHEN MÄCHTE Der Ort der Verfallenheit Im Zeitalter der Massenbewegungen, der Massensuggestion und der Propaganda werden wir in besonderer Weise auf die Mächte des Überpersönlichen gestoßen. Wir untersuchen unter diesem Gesichtspunkt nunmehr die überpersönliche Macht des Bösen, jenen Bereich also, über den der Mensch nicht verfügt, weil er in bestimmte, ihn gleichsam verschlingende Tatbestände hineingerissen ist, ohne daß er dadurch der Verantwortung enthoben wäre. Die Tragödien nennen diese dunkle Verschlungenheit von persönlicher und überpersönlicher Schuld „tragisch" und stoßen auf eine letzte Unscheidbarkeit von „Schuld" und „Schicksal"1). Die Bibel spricht von der teuflischen, der satanischen Macht. Wir sahen in den ersten beiden Kapiteln, wie im Säkularismus eine Krisis der Wertespannung „Gut und Böse" gegeben ist. Diese Krisis drängt geradezu auf den völligen e t h i s c hen N i h i l i s m u s zu, der sich gerne und sehr euphemistisch als „jenseits von Gut und Böse" bezeichnet (Nietzsche). Wir versuchen demgegenüber nun, den letzten biblischen Rahmen um die Realität des Bösen aufzuzeigen. Im Zeitalter der Machtkämpfe kommt alles darauf an, den letzten x) Vgl. das Buch des Verfassers „Schuld und Schicksal. Gedanken eines Christen über das Tragische", Berlin 1936. 188 strategischen Rahmen des Weltgeschehens und die letzten miteinander kämpfenden Partner zu erkennen. Wir versuchen zu zeigen, daß sich nur ;in Kenntnis dieses Rahmens Geschichte verstehen läßt und daß die säkulare Geschichtsschreibung, weil sie diesen Rahmen eben n i c h t kennt, hilflos in den vordersten Vordergründen herumstolpert und nur das technische, politische, militärische und wirtschaftliche Rohstoffmaterial des e i g e n t l i c h e n Geschehens vor Augen hat. Man könnte auch sagen, daß zum echten Verständnis der Geschichte die K a t e g o r i e d e s A p o k a l y p t i s c h e n gehöre. Insofern ist die Offenbarung Johannis die Lehrmeisterin alles Geschichtsverstehens, das über die Vordergründe hinausstrebt. Über die Wirklichkeit des Dämonischen zu sprechen ist nicht leicht. Denn es kann dabei keinesfalls um eine Zusammenstellung von Bibelzitaten gehen. Solange wir nur in dieser Weise statistisch verfahren, stehen wir nicht der W i r k l i c h k e i t des Dämonischen gegenüber. Es könnte dann immer noch „Mythologie" sein, d. h. mythisch-vorzeitliche Kostümierung der allgemeinen Idee des Bösen, von der wir zwar auch w i s s e n , die uns aber nicht als solche M a c h t entgegentritt. Über Gut und Böse läßt sich ja in Ruhe philosophieren. Das Dämonische aber ist die schlechthinnige Bedrohung. Wie einfach ist es in der Tat, vom „Bösen" zu sprechen! Man kann es als Teil von jener Kraft verstehen, die „stets das Böse will und stets das Gute schafft." Man kann den Ausbruch des Bösen im Sündenfall (wie Schiller) als glückhaftes Ereignis preisen, weil er die Möglichkeit der Freiheit geschaffen habe. Man kann das Böse (wie im Idealismus) als produktiven Widerpart des Guten feiern, durch den allein die schöpferische Spannung und die Zeugekraft ins Leben komme. Und man kann es endlich (wie Nietzsche) gar zur „höchsten Güte" selber machen. Diese harmlose Schau des Bösen aus einer angemaßten Vogelperspektive hört aber in dem Augenblick auf, wo wir vom Dämonischen sprechen. Hier gibt es keine Schreibtischphilosophie, sondern nur B e t r o f f e n h e i t . Es ist damit ähnlich wie mit dem Reden über G o t t : Paulus sagt im ι. Korintherbrief (2, 11), niemand wisse, was in Gott sei, als allein der Geist Gottes selbst. Das soll heißen : Gott ist niemals Gegenstand unserer menschlichen Erkenntnis, sondern nur Gegenstand seiner eigenen Selbsterkenntnis. Und wir Christen können nur d e s h a l b etwas über Gott aussagen, weil wir den Geist aus Gott haben (2, 12) und deshalb an der Selbsterkenntnis Gottes teilnehmen dürfen. Offenbarung bedeutet nichts anders als dies Eine, daß wir der Teilhaberschaft an seiner Selbsterkenntnis gewürdigt und damit aus der hoffnungslosen Inadäquatheit herausberufen werden. Genau so wenig wie über G o t t läßt sich auch über die Macht des D ä m o n i s c h e n sagen vom Standpunkt unbeteiligter Objektivität aus. Über das Dämonische kann nur in Betroffenheit und Bedrängnis geredet werden, d. h. so, daß wir das Greifen des Dämonischen nach uns entdecken und andererseits auch einen Griff an uns selber wahrnehmen, an dem es sich festzuhalten vermag. Über das Dämonische kann deshalb nur aus der erschreckten Feststellung heraus geredet werden, daß wir eine geheime Adäquatheit an uns tragen, die uns die Möglichkeit des Verstehens gibt. „Wär* nicht das Auge sonnenhaft, nie könnte es die Sonn' erblicken." Und wiederum: Wäre es nicht diabolisch infiziert, nie könnte es den Diabolos erkennen. Deshalb hat sich auch Luther seine drastischen Thesen über den Teufel nicht „ausgedacht" — indem er etwa den spekulativen Dualismus seines Weltbildes mythologisch-symbolisch mit der Teufelsgestalt ausstaffierte — sondern er hat in dem offenen Rachen der Hölle gestanden, er hat einen leibhaftigen Agon mit dem leibhaftigen Versucher geführt — d a r u m hat er das Tintenfaß nach ihm geworfen. 190 Die Kategorie des Dämonischen Ich sagte: Über das Dämonische läßt sich nur aus der Betroffenheit heraus reden. Wenn nicht alles trügt, leben wir heute in einer besonderen Zeit solcher Betroffenheit. Es gibt Zeiten, die in besonderer Weise „aus den Fugen sind" (Hamlet), denen also die Ordnung mangelt, auch wenn die äußere Ordnung der Diktatur herrscht. Die Dämonen der Macht, der Triebe, des Abbruchs sind losgelassen, und der Mensch wagt, sich einmal ohne Schleier und ohne den Zwang und die Maske seiner verhüllenden Ordnungen zu zeigen. Diese Situation tritt besonders in Zeiten ein, in denen der Mensch selbstherrlich alte Ordnungen stürzt, um neue zu setzen. In solchen Zeiten wünscht er nur Subjekt, aber nicht Objekt der Ordnung zu sein, ist also selbst in einem letzten Sinne ungeordnet und deshalb -den über ihn kommenden Mächten schutzlos preisgegeben. Daran, daß wir heute in einer solchen Zeit zu leben scheinen, mag es liegen, daß die Offenbarung Johannis neu verstanden wird. Denn in ihr wird her homo inordinatus der Endzeit, der ungeordnete und deshalb preisgegebene Mensch geschildert, der den über ihn kommenden Mächten des Antichristen wehrlos gegenüber steht und ihm Angriffspunkte über Angriffspunkte bietet. Unsere Zeit beginnt sich in einer geheimen Adäquatheit zu der Geschichtssituation zu entdecken, die in der biblischen Apokalypse aufgerissen ist1). Ebenso ist es wohl charakteristisch, daß unsere Zeit mehrere Bücher hervorgebracht hat, die in besonderer Angemessenheit von der Wirklichkeit des Dämonischen und der Götter sprechen. Ich denke nur an die beiden Werke von Friedrich Alfred Schmid-Noerr „Dämonen, Götter und Gewissen" 1) Unsere These, daß sich ein neues Verständnis der biblischen Apokalypse anbahnt, wird natürlich nicht dadurch berührt, daß sich nach wie vor allé möglichen Zahlen- und andere Spekulationen auf sie stürzen. *191 und von Walter F. Otto „Die Götter Griechenlands". Beiden Büchern ist eine These gemeinsam: daß es sowohl bei Göttern wie bei Dämonen nicht um einen Anthropomorphismus, sondern um reale Mächte geht. Schmid-Noerr spricht zwar davon, daß „Aufklärung" allemal ein kräftiger Dämonenschirm sei, den es in allen Preislagen gebe. „Das der Aufklärung aber entsagende Bewußtsein oder die Neugier der Heutigen steht w e h r l o s den dämonischen Gewalten gegenüber ..." Dieser Versuch Schmid-Noerrs will sich damit begnügen, das Wort von den Dämonen in seinem wahren Bestand zu festigen; „zu mahnen, das Namentliche der Dämonen und Götter nicht leichtfertig auszusprechen; also so etwas wie eine Warnungstafel aufzurichten: Achtung! Hochspannung!" In der Tat ist die allgemeine Hilflosigkeit gegenüber den Dämonen in unserer „aufgeklärten" Zeit ja überdeutlich sichtbar. Wir können sogenannte „kluge" Leute beobachten, Intellektuelle,, denen man Besonnenheit, Weitblick und andere seriöse Eigenschaften ohne weiteres zubilligen muß, und die doch das Geheimnis der Zeitläufe nicht im geringsten verstehen — weder in ihren Hintergründen noch auch bezüglich ganz vordergründiger Diagnosen und Prognosen: ein überaus erstaunlicher Grad der Verblendung und der Ereignisblindheit. Sie sehen in allem Geschehenden nur bloße Machtkämpfe, die nach dem rein mechanischen Gesetz der größeren Stärke ausgetragen werden. In aller Rechtlosigkeit und allem sich austobendem Sadismus sehen sie nur „Auswüchse", d. h. mehr oder weniger unvermeidbare Abweichungen vom Normalen; sie sehen also in alledem nicht die Manifestation eines „Wesens", sondern nur die Manifestation des Unweséntlichen und Beiläufigen. Sie sehen keine „Notwendigkeit" darin zum Ausdruck kommen (nämlich das „notwendige" Symptom der Unordnung mit Gott und des Preisgegebenseins an die Mächte),, 192 I sondern den „Zufall" und beiläufigen „Abfall". „Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten", sagen sie und bemühen sich, seelenruhig dabei zu erscheinen. Sie meinen allen Ernstes, Männer machten die Geschichte, und die Geschichte sei deshalb eine ins Makrokosmische gesteigerte Autobiographie der großen Individuen —, während jene Männer doch in geradezu versklavender Hörigkeit leben und obendrein meist d a h i n geführt werden, wohin sie n i c h t wollen1). So werden die „aufgeklärten" Menschen der Säkularisation dämonenblind und sind deshalb außerstande, einen der tragenden Faktoren in der Geschichte zu erkennen und damit ü b e r h a u p t Geschichte zu erkennen. Wer Geschichte verstehen will, muß die Kategorie des Dämonischenhaben. Freilich kann man nun nicht so über das Dämonische reden, daß man es einfach draußen in der Zeit konstatiert, daß man also sagt, „draußen" regiere das große Babylon, und dessen Symptome nun aneinander reiht. Nein: alles das finden wir in uns selber vor; die vitalen Götter und Dämonen des Blutes — um nur diese zu nennen — unterhalten auch in u n s ihr Herdfeuer. Es ist ja gar nicht so, daß die Anfechtung von diesen Göttern und Dämonen her einfach von draußen her auf uns zu käme. Nein: das Geheimnis dieser Anfechtung besteht in unserer Anfechtbar k e i t, d. h. darin, daß wir ihnen gegenüber von vornherein anfällig sind und ihnen mit „Angriffspunkten" gleichsam e n t g e g e n kommen. In uns s e l b s t ist die Stimme des „alten Adam" hörbar, an der sich jene Mächte orientieren und auf die sie zugehen. Nicht umsonst spricht wiederum Luther davon (der vielleicht am tiefsten um diese Dinge gewußt hat), daß jener alte Adam täglich von uns ersäuft werden müsse. Er ist in uns tätig und wirksam, wie es etwa ein feindlicher Agent ist, der aus dem Herx) Ich erinnere nochmals daran, daß dies Buch im Jahre 1943 geschrieben wurde. zen des Landes heraus durch Funk- und Blinkzeichen die feindliche Hauptmacht verständigt und auf die schwachen Stellen der Front zulenkt. Auch unter diesem Gesichtspunkt können wir nicht unbefangen und objektiv von der dämonischen Macht reden. Wir Menschen können die Theologie (und damit natürlich auch die Dämonologie) nicht so treiben, wie sie die Engel treiben können. Unsere Theologie ist immer Theologie der Anfechtung, Theologie angesichts des offenen Rachens der Hölle, die uns verschlingen will. Wir können nur aus jener festen Burg der Kirche heraus theologisieren, welche unter der Verheißung steht, daß die Pforten der Hölle sie nicht überwinden werden. Deshalb dürfen wir den Blick nicht nach a u ß e n richten, sondern wir müssen nach i n n e n schauen in das eigene Herz. Das hat C. F. Meyer richtig erkannt und in seinem bekannten Werk über Luther zum Ausdruck gebracht: Sein Geist ist zweier Zeiten Schlachtgebiet, Mich wundert's nicht, daß er Dämonen sieht. /. Die personhafte Macht des Bösen Das Böse als Person. Seine NichtErklärbarkeit Wir beginnen nunmehr damit, die p e r s o n h a f t e Macht dessen zu bestimmen^ den die Bibel „Diabolos" oder „Sa-, tanas" nennt und stellen einen Lehrsatz voran: Mit der Berufung auf die dämonische Macht (auf den Teufel) darf die Theologie das Böse nicht „erklären", sondern nur „beschreiben" wollen. Die dämonische Macht hängt wesentlich mit der Gestalt der Sünde als Hörigkeit zusammen. Weil aber diese Hörigkeit der Welt und des Menschen das Thema aller Dämonologie ist und nicht die Teufelsspekula- 194 tion an sich, darum gilt der Satz: Diabolum cognoscere est maleficia ejus cognoscere1). Daß wir das Böse nicht „erklären" können, daß auch die Bibel keinerlei Anstalten dazu macht, hängt mit diesem personhaften Hintergrund, hängt mit der Gestalt des Satans zusammen, die hinter allem „Neutrum" des Bösen steht. Um das zu begreifen, brauchen wir nur an die Begegnung mit menschlichen Personen zu denken. Wenn ich z. B. sage : „Ich , verstehe* einen andern Menschen, oder ich suche ihn zu, verstehen", dann heißt das a u c h nicht, daß ich ihn „erklären** könnte. Ich kann wohl sein Milieu, seine biologische Abstammung, seine Motive bestimmen, aber ich muß immer feststellen, daß er in diesem Kausalnexus nicht a u f g e h t . Der Zurechnungsund Verantwortlichkeitsgedanke in der Justiz beruht ja ganz auf dieser Tatsache, daß der Mensch aus Bios und Umwelt n i c h t erklärbar ist und in dem ihn bedingenden Kausalnexus eben n i c h t aufgeht. Sonst würde er nichts anderes sein als das kausalbedingte Produkt der genannten Faktoren, dann könnte man ihm seine Tat nicht als „eigen** zurechnen, sondern müßte sie ebenso wie ihn selbst als mechanisches Produkt jener Faktoren werten. Dann aber wäre der Mensch nicht für seine Taten verantwortlich, man könnte ihn nicht bestrafen: man könnte dann höchstens die menschlichen Elemente der Zersetzung und Zerstörung dadurch neutralisieren, daß man solche gefährlichen Subjekte (oder vielmehr „Objekte** !) in Gummi- oder Betonzellen einsperrte. Das Strafrecht aller Völker nimmt aber als selbstverständlich an, daß man den Rechtsbrecher bestraft und also seine Verantwortlichkeit und folglich auch seine Nicht-Ableitbarkeit und seine Nicht-Erklärbarkeit voraussetzt. 1) Dieser Satz ist in Anlehnung an einen bekannten Satz aus Melanchthons Loci von 15 21 über Christus gebildet (Christum cognoscere est beneficia ejus cognoscere) und heißt deutsch: „Den Teufel erkennen, heißt seine bösen Anschläge erkennen". 1 2 T h i e l i c k e , Fragen des Christentums. Die Behauptung, einen Menschen „verstehen" zu können, bedeutet also keinesfalls, daß man ihn auch „erklären" könnte. „Verstehen" geht zurück auf eine personhafte Begegnung mit dem Andern, in der es zur Kommunikation gekommen ist. „Erklären" geht zurück auf eine unpersönliche (gemeinschaftslose) Distanz, in welcher der andere mir als e i n Objekt unter andern und deshalb wie a l l e Objekte als kausalbestimmtes „Ding" entgegentritt. Dieser Unterschied zwischen personhaftem „Verstehen" und unpersönlichem „Erklären" geht auch aus folgender Erwägung hervor: Wenn ich über einen andern Menschen berichte und ihn einem Dritten „verständlich" zu machen suche, dann trage ich ihm ebenfalls kein logisches Rechenexempel über jenen vor und denke gar nicht daran, ihm den Betreffenden als Produkt aus diesen und jenen Faktoren hinzustellen. (Ich kann jene Faktoren zwar erwähnen; aber sie haben dabei kaum mehr als den Rang einer Unterstreichung und Kommentierung). Sondern wenn ich über einen Menschen berichte, beschreibe ich jenem Dritten meine B e g e g n u n g mit ihm, beschreibe ich, wie er „auf mich" gewirkt hat, welche seiner Charakterseiten etwa auf mich zugewandt und mir deshalb — positiv oder negativ — verständlich sind, und welche Charakterseiten für mich in einem dunklen Hintergrunde verschwinden. So entsteht in der Begegnung — im Unterschied zur geometrisch-kausalen Flächenerscheinung — ein durchaus p e r s p e k t i v i s c h e s Bild. Daher kommt es denn auch, daß jeder wieder ein anderes Bild von jedem hat. Je größer, dämonischer und genialer ein Mensch ist, um so deutlicher tritt die Beschränkung jeder Aussage über ihn auf meine Begegnung hervor; denn gerade hier wird deutlich, daß nur ein sehr begrenzter Teil jener Persönlichkeit mir zugewandt ist und daß ein entsprechend größerer Teil ihres Volumens mir abgewandt ist, nicht in die Begegnung eingeht und im Dämmer 196 , eines mir unzugänglichen Hintergrundes verschwimmt. Wenn ich den andern (und gerade den großen, genialen) beschreibe, schildere ich immer nur den Reflex auf mich. Damit aber beschreibt jeder Begegnende wieder einen andern Reflex. Und so kommt es, daß sich die einzelnen Bilder nie zur Kongruenz bringen lassen. Als Beispiel mögen nur die konfessionellen Lutherbiographien dienen, die trotz alles echten historischen Willens, der um Tendenzlosigkeit bemüht sein mag, prinzipiell auseinanderklaffen und eben n i c h t kongruent sind. Oder man denke an die grundverschiedene Einstellung zu großen lebenden Persönlichkeiten. Die Art, wie sie mir b e g e g n e n , , entscheidet darüber, wie ich sie sehe. Alle objektiven Statistiken über ihre verwerflichen und großen Taten, alle Anamnesen über ihre Erbstruktur, ihre Milieu-Faktoren usw. lassen mich nicht an sie glauben oder an ihnen irre werden, sondern bestätigen nur meine in der Begegnung schon vorgegebene Anerkennung oder Ablehnung. Personen sind unableitbar. So kommt es auch, daß ich das B ö s e nicht ableiten kann. Denn beim Bösen stoße ich ebenfalls auf die personhafte Macht des Diabolos. Ich kann es nicht ableiten, es ist d a . Ich kann es, auch nicht objektiv konstatieren, sondern ihm nur begegnen. Adam und Eva erfahren charakteristischerweise erst in d e m Augenblick, was gut und böse ist, wo sie dem Bösen begegnet und ihm verfallen sind. V o r diesem Augenblick der Betroffenheit ist das Böse überhaupt nicht in, ihrem Gesichtskreis. Ebenso erfährt der Mensch erst das im Sexuellen angelegte Böse (nicht als ob das Sexuelle selber böse wäre!), wenn seine körperliche Reifung ihm die Möglichkeit einer Begegnung gibt. Vorher hat es kein Da-Sein für ihn. So stoßen wir bei der Begegnung mit dem Bösen immer wieder auf die Kategorie des Personhaften. Jedenfalls ist es mit der sachlichen Kategorie der Kausalität nicht zu begreifen. Das geht auch aus dem Sprichwort hervor: „Alles verstehen, 12* 197 heißt alles verzeihen". Wir brauchen nur die falsch gebrauchte Vokabel „Verstehen" in „Erklären" umzuändern, um das sichtbar zu machen. Ich behandele dann das Böse gegenständlich und löse die böse Tat in ihre einzelnen Verursachungen auf, so daß das Böse dann überhaupt verschwindet, gleichsam in nichts verdampft. Das heißt also: Wenn ich das Böse unpersönlich und in Analogie zu einem Gegenstand behandle, wenn ich es also „erkläre", tritt es überhaupt nicht in Erscheinung, es wird zum Nichts; insofern ist alles zunächst bös Aussehende in der Tat zu verzeihen und für null und nichtig zu erklären. Wenn ich dagegen alles verstehe (d. h. wenn ich den andern in der Begegnung durchschaue), verzeihe ich ihm keineswegs (jedenfalls nicht einfach automatisch mit dem Verstehen), sondern dann tritt seine Schuld vielleicht erst in das richtige Licht. Gott versteht uns Menschen ja bis ins Letzte. Gerade darum aber v e r g i b t er uns nicht einfach, sondern ist zunächst unser Richter und Verkläger. Daß er uns vergeben und ein gnädiger Vater sein möchte, liegt wahrlich an ganz anderen Tatsachen als daran, daß er uns nur „versteht". Wir fassen zusammen: Je unpersönlicher eine Sache ist — und das Unpersönlichste ist wohl ein mathematischer Lehrsatz — um so allgemeiner, zeitloser und von mir gelöster kann ich von ihm sprechen. Aber je persönlicher etwas ist, um so mehr muß ich mich darauf beschränken, nur meine Begegnung mit ihm zu beschreiben: Ich denke ζ. B. an meine Stellungnahme zu Kunstwerken oder zu geschichtlichen Persönlichkeiten und Vorgängen. Das Wort „Stellungnahme" ist dafür ja schon charakteristisch. Da das Böse stets einen personhaften Hintergrund hat, da es also bei ihm um den T e u f e l geht, kann ich es nur mit der Kategorie des Personhaften, d. h. in der B e g e g n u n g wahrnehmen. Ich kann es nicht ableiten. 198 Der Ursprung des Bösen als Geheimnis Damit sind folgende wichtigen Gedanken gegeben: ι . Zunächst verstehen wir von hier aus, warum in der Bibel kein Wort über den U r s p r u n g des Bösen verloren wird, warum das Böse einfach nur „da" ist. Die Bibel weiß um seinen personhaften Hintergrund und damit um seine Nicht-Ableitbarkeit. Darum kommt sie zu einer völlig anderen Betrachtungsweise: Es geht ihr um die brutale und höchst physische Tatsache, d a ß d e r F e i n d i n s L a n d g e b r o c h e n i s t . Ich stehe in der äußersten Bedrohung. Da habe ich nicht zu philosophieren, sondern zuzugreifen. Es ist Notstand, der zum Besinnen keine. Zeit läßt. Mea res agi-tur! Ich komme ja auch nicht auf die Idee, etwa bei einer Bombe, die in meiner Nähe einzuschlagen droht, an ihre Herstellerfirma zu denken oder sie nur unter d e r Bedingung für wirklich zu halten, daß ich sie bezüglich Gewicht, Sprengwirkung und Fabrikationsart identifiziert hätte. Welcher Unterschied des Verhaltens gegenüber der idealistischen Spekulation über das Böse als das schöpferisch Negative am Leben ! Wie unernst wirkt von hier aus die scheinbar ernste gedankliche Bemühung ! Es g i b t eben keinen Augenblick meines Lebens, in dem ich mich dergestalt in die Etappe oder die distanzierte Vogelperspektive zurückziehen könnte, um von hier aus sine ira et studio das Phänomen des Bösen zu „betrachten". Wie kann ich mich sine ira et studio verhalten, wenn die feindliche Macht des Bösen ihrerseits voller Studium et ira ist und zusieht, welchen sie verschlinge? Wer einem haßerfüllten und verschlagenen Feinde in objektiver Seelenruhe und mit einer lässigen Interessiertheit für dessen Aufmachung entgegentritt, beweist nur, daß er trotz all seiner Wahrnehmungen (die der sofort zum Kampf Antretende und zum Gegenschlag Ausholende vielleicht n i c h t bemerkt) den Gegner verhängnisvoll v e r kennt. So ist bi 199 blisch die Erkenntnis der dämonischen Macht nur insofern und insoweit gegeben, als wir in ihr den F e i n d sehen und uns ihm zum Kampfe stellen. Diese Haltung übersieht freilich vieles am Feind, weil sie für periphere Wahrnehmungen „keine Zeit" hat; aber sie sieht das Eigentliche. Es liegt also wieder ein durchaus personhaftes Verhalten vor, nämlich das Verhalten gegenüber einem begegnenden F e i n d e . 2. Noch Weiteres kommt hinzu, das uns zeigt, weshalb die WarumFrage überhaupt nicht gestellt werden kann : Die Realität des Dämonischen kann mit natürlichen Augen nicht wahrgenommen werden. Denn diese natürlichen Augen sind selber verfinstert, und zwar eben von der dämonischen Macht her. Sie heißt ja biblisch nicht umsonst „Macht der Finsternis". Mit einem modernen und sehr illustrativen Ausdruck könnte man auch sagen „Macht der Verdunkelung". Es ist ein Geheimnis der Sünde, daß sie sich selbst nicht sehen kann, sondern nur im Lichte Gottes offenbar wird. Es ist nicht unähnlich wie bei der Dummheit. Auch die Dummheit kann sich selbst nicht sehen, weil zu diesem Sehen schon wieder ein gehöriger Grad Intelligenz gehören würde. Die Dummheit ist zu dumm und maßstablos, um sich selbst zu sehen. Um sagen zu können: „Ich weiß, daß ich nichts weiß", muß man eben so genial wie Sokrates sein. Die Dummheit tritt nur angesichts der Klugheit in Erscheinung. Entsprechend treten Macht und Wesen des Dämonischen nur, angesichts der Lichtherrlichkeit Gottes und seines Christus in Erscheinung: Jesaja bemerkt seine unreinen Lippen erst angesichts der Doxa Gottes (Jes. 6); und Petrus erfährt erst, daß er ein sündiger Mensch ist, als ihm die übermenschliche Wundermacht Jesu entgegentritt (Mt. 16, 16). Auch die Dämonen bemerken sich gleichsam erst selbst, als Jesus Christus über die Erde geht und als sie ihre äußerste Bedrohung in ihm nahen fühlen. Woran liegt es, daß die Sünde sich nicht selber sehen kann? 200 Es liegt ganz einfach daran, daß sie ein Relationsbegriff ist. Sie ist nur als eine bestimmte Beziehung zu G o t t bestimmbar, nämlich als AbSo'nderung von ihm, als Verneinung und Auflehnung. In der gleichen Weise ist das Satanische ein Relationsbegriff: es ist das von Gott Gelöste. Es erscheint mir überaus wichtig, das klar zu erkennen und festzustellen. Denn nur so werden wir von dem Mißverständnis bewahrt, als ob es beim Satan nach marcionitischer Weise um einen selbständigen Gegengott ginge und als ob also das Christentum eine dualistische Grundstruktur habe. Das Teuflische ist wirklich nur „negativ", als die „negative Relation", zu bestimmen: es ist das von Gott Gelöste, das zum Widerspiel Angetretene. Eben deshalb können wir auch nicht von jener angeblich dualistischen Struktur sprechen: Darin läge doch, daß es einen Bezirk der Wirklichkeit gäbe, welcher der umfassenden Beziehung auf Gott entnommen wäre. Diesen Bereich aber g i b t es nicht. Das zeigt sich daran, daß der Teufel n u r in Relation auf Gott zu bestimmen ist. Luther geht darin so weit, daß er selbst vom Teufel immer noch als „G o 11 e s Teufel" spricht, um damit anzudeuten, daß er zwar einerseits die bloße Negation, aber i η dieser Negation dennoch in den Verfügungsbereich Gottes einbeschlossen ist. Nochmals : Nur in der Lichtherrlichkeit Gottes enthüllt sich die dämonische Macht und wird in ihrer Existenz und ihrer Art verstehbar. Ja noch mehr : S i e e n t h ü l l t sich hier nicht nur, sondern sie erreicht hier auch ihre stärkste P o t e n z i e r u n g : angesichts des über die Erde gehenden Christus rotten sich alle dämonischen Mächte in einem letzten Aufgebot zusammen: das gilt sowohl von den bösen Geistern der Besessenen (vgl. die neutestamentlichen Dämonengeschichten), wie von den dämonischen Menschen, die sich — wie etwa Herodes und Pontius Pilatus — trotz ihrer verschiedenen Intentionen und 201 Charaktere — in einer letzten Negation des Christus (also wieder in der N e g a t i o n ! ) zusammenschließen und Freunde werden. Auch die eschatologische Schau der Apokalypse berichtet eine ähnliche Potenzierung des Bösen angesichts der Wiederkunft Christi. Enthüllung und Potenzierung gehören natürlich eng zusammen: je geballter und demonstrativer die Negation Gottes wird, um so mächtiger tritt sie in Erscheinung, um so schwerer kann man sie übersehen. Und doch wird man sie auch in der potenziertesten Form übersehen, so lange man sich gegenüber der Lichtherrlichkeit, des Christus verschließt. Nur so sind die merkwürdigen Berichte der Apokalypse zu verstehen, daß trotz aller dämonischen Losbrüche am Ende der Geschichte die Menschen immer unbußfertiger und nichterkennender werden. Auch hier wird also sichtbar, daß die dämonische Macht niemals als Gegenstand einer neutralen, kausal interessierten Betrachtungsweise in Erscheinung tritt, sondern immer nur „in actu", d. h. im Augenblick der Auseinandersetzung selbst, in dem Augenblick also, wo ich höchstpersönlich meine Entscheidung gegenüber dem persönlichen Gott fälle. E s k o m m t e b e n i n d i e s e n Z u s a m m e n h ä n gen alles auf die Kategorie des Personhaftenan. Der Begriff des „Diabolos" Wie ist nun die teuflische Macht biblisch genauer beschrieben? Wir setzen ein mit dem Begriff „Diabolos", in dem wir alle angeführten und bisher nur angedeuteten Momente deutlich angelegt finden: „Diabolos" kommt her von diaballein, das so viel bedeutet wie „durcheinanderbringen", „sich da-zwischenschieben", „zwei Größen auseinanderbringen". D e r D i a b o l o s b r i n g t G o t t u n d Mensch auseinander. 202 Man kann im Hiob-Buch deutlich erkennen, wie er das in doppelter Weise tut1): Einmal a l s V e r k l ä g e r , und ferner als V e r f ü h r e r , Als V e r k l ä g e r zunächst ist er Mitglied des himmlischen Königshofes, den Gott von Zeit zu Zeit versammelt. Hier übt er die Funktion eines himmlischen Staatsanwaltes aus, d. fier zweifelt die optimistische Meinung Gottes über seine Knechte an. So diskreditiert er auch den „Knecht Hiob" mit dem Argument, er sei nur fromm, weil es ihm bisher gut gegangen sei und weil sich also seine Frömmigkeit „gelohnt" habe. In dem Augenblick aber, wo Gott die durchsichtige Korrespondenz von Lohn und Strafe unterbreche, werde ihm Hiob absagen. Diese Funktion der Anklage und der Diskreditierung wird im Neuen Testament mit dem Begriff antidi-kos wiedergegeben (Lk 18, 3 ; 1. Petr. 5, 8). Gleichwohl hinkt aber dieses Bild vom Staatsanwalt und Verkläger. Denn sein Verklagen sucht er nicht zu belegen durch schon g e s c h e h e η e η Abfall, sondern er p r o v o ζ i e r t zunächst diesen Abfall, um ihn dann, sobald er geschehen ist, schadenfroh dem göttlichen Richter zu präsentieren. Das ist ja ganz deutlich seine Taktik im HiobBuch, Er ist also nicht nur Verkläger, sondern zugleich V e r f ü h r e r . Er ist weniger Staatsanwalt als Gestapo, die bestimmte Vergehen, deren sie ein Opfer für fähig hält, zu p r o v o z i e r e n sucht, um ein Alibi für ihr Vorgehen zu gewinnen. Ich möchte nun sagen, daß uns diese Eigenschaften wiederum nicht um ihrer selbst willen interessieren, genau so wenig, wie uns der Teufel um seiner selbst willen interessiert. Das alles interessiert uns vielmehr nur in Beziehung auf die Aussagen, die damit über „m i c h" gemacht werden. Genau so wie wir innerhalb der Christologie nach Luthers Anweisung nicht in die Persongeheimnisse des Gottessohns stieren, *) Vgl. dazu die Ausführungen Gerh. v. Rads im Kitteischen Wörterbuch. 203 sondern salubriter cogitare (auf das Heil bezogen denken) sollen, genau so müssen wir bei der Betrachtung des Diabolos „ponerologisch", d. h. in bezug auf „die teuflische Hörig-.... machung unserer Existenz" denken. In dieser Hinsicht aber ist e i n e s gemeinsam zwischen Verklagen und Verführen: Verführer u n d Verkläger berufen sich beide auf eine vorhandene Schwäche in mir. Die teuflische Schlange von Genesis 3 vermag nur deshalb das Urelternpaar zu verklagen und zu verführen, weil sie gewiß sein darf, einen wunden Punkt an ihnen zu finden. Das gleiche gilt von Hiob: Der Verkläger ist, schon im Augenblick seines prophezeienden Verklagens {als er also sagt: so und so w i r d Hiob reagieren), dessen gewiß, daß in Hiob griffige Ansatzpunkte für das Böse sein werden. Die folgende Verführung ist dann nichts anderes als eine Demonstration dieser Prophétie, als die faktische A u s n u t z u n g jenes wunden Punktes. Andererseits findet der Diabolos weder für seih Verklagen n o c h für sein Verführen an Jesus einen Ansatzpunkt. Die Anfälligkeit des Herfens An den genannten Beispielen kann man sich genau das Verhältnis von Versuchung und Versuchlichkeit, von Ver- < führung und Verführbarkeit klar machen : Ein sehr ungenaues, falsches Sprichwort sagt: „Gelegen- . ' heit macht Diebe". Das Sprichwort ist deshalb so falsch, weil es geradezu umgekehrt zu sein scheint: „Ich b i n ein Dieb". Darum und nur darum bin ich a) anzuklagen und b) verführbar. Die „Gelegenheit" nutzt nur eine vorhandene Anlage zum Stehlen aus. Mehr nicht. Verführung bedeutet nur, daß eine Möglichkeit in mir zur Wirklichkeit gemacht wird. Ich b i n versuchlich, darum kann ich versucht werden. Das Geheimnis des Menschen besteht also nicht darin, daß er in der Versuchung s t e h t , sondern daß er versuchlich 204 i s t . Weil ich die Sünde i η mir habe, gebe ich dem Diabolos ein Recht auf mich. Er kann daran appellieren. Und so sehr sich in seiner Einwirkung auf mich ein Muß und eine Hörigkeit auswirkt, so wenig hat diese Macht des Versuchers den Charakter einer coactio (= eines äußeren Zwanges), sondern einer necesssitas (d. h. einer inneren, wesensbedingten Notwendigkeit). . Daß das biblische Menschenbild so gesehen ist, geht auch daraus hervor, daß Gott mich in den zehn Geboten auf meine Versuchlichkeit hin a n r e d e t . Die vorwiegend negative Formulierung, die geistreiche Weltmenschen sich mit einer angeblich jüdisch verneinenden Einstellung zum Leben erklären zu müssen glaubten, während die abendländische Ethik positive Ideale zum Gegenstand ihrer Imperative mache — ich sage: — jene vorwiegend negative Formulierung schließt doch in sich den Sinn des Protestes gegen das So-Sein des Menschen : Du sollst n i c h t töten, du, der du ein Mörder b i s t ; du sollst n i c h t stehlen, du, der du ein Dieb b i s t . Der Diabolos darf eben dessen gewiß sein, daß er auf dem Terrain unserer Seele von vornherein einen Stützpunkt besitzt, auf den er zugehen kann. Es ist gar nicht so, daß unser Herz „für sich" wäre und der Versucher draußen stände: Das große Babylon ist nur ein Scherz, Will es im Ernst so groß und maßlos sein Wie unser babylonisch Herz (Francis Thomson in The Heart. Von hier aus ist — nach G. v. Rad (Kittelsches Wörterbuch II 72, ι ff.) auch die merkwürdige Bezeichnung der F e i n d e I s r a e l s als „Satane" zu verstehen: „Israels Feinde haben bei Jahwe eine besondere Funktion, sie sind Israels Ankläger und k o r r e s p o n d i e r e n also mit einer Verschuldung des Gottesvolkes. Diese wichtige Vorstellung gibt uns das'Recht, die Satane, die Jahwe dem 205 Salomo erweckt — den Edomiter Hadad, den Aramäer Reson — nicht einfach der generellen Grundbedeutung des Wortes entsprechend als „Feinde" zu verstehen, sondern auch hier den spezifisch juristischen Sinn zu vermuten: Salomo hat sich nach Meinung des deuteronomischen Geschichtsschreibers versündigt, und auf diese Schuld beziehen sich nun die Satane, die im Lauf der Regierungszeit dieses Königs aufstehen . . ." In diesem Gedanken vom „Stützpunkt" kommt auch der tiefste Sinn der Hörigkeit — das Neue Testament sagt douleia — gegenüber dem Verklâgér und Verführer zum Ausdruck: Ich gehöre der dämonischen Macht nicht einfach so, wie ich einem fremden Herrn entgegen meinem eigenen Willen gehöre. Sondern ich gehöre ihr so,' d a ß i c h m i r g e h ö r e . Das heißt: ich kann mich nicht darauf berufen, daß sie einfach über mich verfüge, ohne daß mich infolge dieser Vergewaltigung eine Schuld träfe. Nein: die dämonische Gebundenheit ist nur so da, daß ich m i r gehöre: m e i n e m Ehrgeiz, m e i n e r Hybris, m e i n e r Selbstbehauptung, m e i n e m Triebe. So entscheidend wird hier der theologische Gedanke vom Stützpunkt : Der Teufel lebt im Medium des amor sui. Ich liebe nicht nominell den Teufel (wer hätte schon je eine solche Liebeserklärung abgegeben oder von andern gehört!), sondern ich liebe nominell m i c h — und eben darin liefere ich mich ihm aus. Anders ausgedrückt: Ich bin niemals Objekt des dämonischen Geschehens in jenem mich entlastenden Sinne, als ob es nur „von außen" an mich herangetragen würde, sondern ich bin immer auch S u b j e k t . Sofern der Diabolos etwa den Zeitgeist oder das „Man" benutzt hat, um mich zu verführen, kann ich mich niemals darauf berufen: Ich bin ja selber derjenige, der den Zeitgeist in sich hat und der ihn konstituieren hilft; ich bin ja niemals (niemals!) bloß passives Opfer dieses Zeitgeistes ; er ist gar nicht in mythischer Weise von mir abzuheben; er ist „der Herren eigener Geist". Daher kommt es — wir erwähnten das schon —, daß Adam sich nicht 206 mit „innerer Vergewaltigung durch" Eva und diese sich nicht mit der Schlange entschuldigen kann. Sie versuchen umsonst, im göttlichen Gericht die Rolle des „Objekts" zu spielen. Obwohl ich es also mit m i r zu tun habe, wird doch deutlich, daß ich es eben darin mit einem a n d e r e n zu tun habe : eben deshalb nämlich, weil ich die Bindung an mich nicht sprengen kann und weil ich sozusagen gewaltsam bei mir selbst festgehalten werde. Ich sehe einen Bann über dieser Bindung schweben. Nur auf diesem Hintergrunde des Menschenbildes wird auch die Rechtfertigungslehre verständlich : Denn nur s o wird es verständlich, daß meine Taten, meine „Werke" mich nicht von diesem Banne befreien können. Im Gegenteil: meine Taten reißen mich nur tiefer in seine Beklemmungen hinein. Indem ich alle Gebote Gottes zu erfüllen scheine, kann ich der Eitelkeit, dem Pharisäismus, der „Sicherheit" und dem Hochmut verfallen. Der amor sui kann in den getarntesten Formen auftreten. Und es ist keineswegs so, daß der Diabolos nur „von vorne", gegenständlich faßbar, mir gegenüberträte und die Gestalt einer konkreten Sünde besäße. Nein, er vermag auch ungegenständlich zu werden und mich von hinten „beim Kragen" zu nehmen. (Dazu würden die genannten Sünden des Pharisäismus, der Hybris usw. gehören.) Man könnte diese Doppeltaktik des Versuchers an beiden Gesetzestafeln veranschaulichen : Die 2. Tafel mit den Einzelgeboten bezieht sich auf die gegenständliche Faßbarkeit des Diabolos, auf die konkreten Einzelsünden, die ich klar erkennen kann und vor denen ich mich hüten muß. Es besteht nun sehr wohl die Möglichkeit, daß ich diese alle dem Wortlaut nach halte und daß ich in vorsichtiger Gewissenserforschung allen Fangstricken des Widersachers klüglich ausweiche, daß ich aber eben darin dem geheimen Stolz vor Gott verfalle : („Ich danke dir Gott, daß ich nicht bin wie die andern . . ."), und daß ich somit gegen die ι . Tafel sündige, die mir befiehlt, Gott a l l e i n die Ehre zu 207 geben und weder mich selbst noch irgendwen und irgendetwas als „andere Götter neben ihm" gelten zu lassen. So komme ich von dem genannten Bann nicht durch eigene tathafte Entscheidungen meines Moralismus los, sondern nur so, daß über mich entschieden w i r d : Die Macht des Diabolos kann nicht durch Menschen, sondern nur durch die Macht eines andern Herrn gebrochen werden, zu dem ich mich eben schlagen muß. Der Teufel kann nicht durch Menschen, sondern nur durch Gott besiegt werden. Ich aber bin Gottes. L e t z t e n E n d e s i s t d a s m e n s c h l i c h e L e b e n n u r e i n e G e f o l g s c h a f t s f r a g e . Alles Reden davon, daß im Anfang „die Tat" war und daß deshalb auch zuletzt nur das „Immerstrebende Bemühen" gelten müsse, ist eben Geschwafel. Der Mensch ist weder Selbstschöpfer noch Titan, sondern der dem erlösenden u n d verführenden Ruf ausgestattet. Daher kommt es auch, daß das Vaterunser die Frage der Versuchung nicht zum Gegenstand eines Verbotes macht, sondern sie in das G e b e t aufnimmt „Führe uns nicht in Versuchung". In dieser Bitte wird der Herr angerufen, der allein imstande ist, demPseudo-Herrn Paroli zu bieten. Der Christus hat das Schlachtfeld, und ich gehöre auf seine Seite. Der Begriff „satanas" Satan, die andere Bezeichnung für den Teufel, bedeutet „Feind", „Widersacher". Als solcher ist er das Haupt eines ganzen Dämonenheeres. Der Begriff „Dämon" kommt immer wieder im Plural vor. Der Satan hat unter sich Engel der Finsternis. Insofern besteht eine genaue Entsprechung zur himmlischen Engelschaft. Sowohl in der allgemeinen Satanologie wie in der Antichristologie (Apk.) kreist das biblische Denken um die Geister der Finsternis/welche die Welt beherrschen (Eph. 2, 2; 6, 12) und faßt gleichsam als letzten Gedanken den, daß diese in einer persönlichen Spitze enden (Satan, Antichrist). 208 Um auch hier sofort gegen einen Dualismus geschützt zu sein und die Macht der Finsternis in ihrer ausschließlichen Beziehung auf Gott zu verstehen, scheint mir die Vorstellung wichtig, daß der Satan ein gefallener Engel sei. Schon bei Hiob ist er ja Glied der Engelwelt. Die beiden loci classici dafür sind 2. Petr. 2, 4 und Judas 6: „Gott hat die Engel, die gesündigt haben, nicht verschont, sondern hat sie mit Ketten der Finsternis zur Hölle verstoßen und übergeben, daß sie zum Gericht behalten werden." — „Auch die Engel, die ihr Fürstentum nicht bewahrten, sondern verließen ihre Behausung, hat er behalten zum Gericht des großen Tages mit ewigen Banden in der Finsternis." Eben aus diesem Grunde, weil er ein gefallener Engel ist, ist der Teufel auch so genau in die Strategie des Gottesreichs eingeweiht und sucht ihr entgegenzuwirken. Daher kann er sich zu einem Engel des Lichtes verstellen, weil er die Engel so genau kennt. E r h a t d i e Leidenschaft und die Sachkenntnis eines R e n e g a t e n . Deshalb tut er Wunder wie der Christus selber (2. Thes. 2, 9; Apk. 13, Ii—13). Ebenso sind seine „Lästerungen" nicht einfach antichristliche Schimpftiraden, wie sie die Gasse vom Stapel läßt, sondern sie bestehen in dem Versuch, religiös zu tun und wie Go t t zu reden (Apk. 13, 1). In allem, was er tut und wie er es tut, ist er der „Affe Gottes". Und das Vermögen, diese Rolle zu spielen, beruht eben auf seiner Anamnesis an die einstige Größe. Es spielt sich in diesem Sturz des dämonischen Engels ein Grundgesetz des Reiches Gottes ab: daß alles Dämonische und Gottwidrige je nach seinem negativen Rang auf eine ursprüngliche Größe deutet. Das gilt sowohl von den Menschen,, wie auch von den Ideen. Von den M e n s c h e n : Ein Tier hätte nie so tief fallen können wie der zur Gottebenbildlichkeit bestimmte Mensch. Und bei den großen Verführern der Menschheit spüren wir •alle noch etwas von dem inneren Rang, den sie einmal hatten oder zu dem sie bestimmt waren. Im Koordinatensystem des Gottesreiches entspricht das negative Fallmaß immer dem positiven Bestimmungsmaß: Je höher der eigentliche Rang, um so tiefer der Fall. Nicht das Tier, wohl aber der Mensch kann .deshalb dämonisch werden. Nichts ist so ätzend wie verdorbene Größe. Und die schlimmsten Halunken der Menschheit hätten immer das Zeug gehabt, ihre größten Exemplare zu werden. Es ist das Elend eines großen Herrn, das Elend eines entthronten Königs, sagt Pascal. . . . Das alles ist verspielte Gottebenbildlichkeit — nicht Rückkehr zum Tierischen, wie harmlose Gemüter und die sunny boys unter den Philosophen wähnen, nein, verspielte Gottebenbildlichkeit, sonst nichts. Die Offenbarung Johannis bringt dieses Grundgesetz vom Sturz des Höchsten in den dämonischen Abgrund immer wieder im Sturz der Sterne zum Ausdruck: himmlische Wesen, die aus der Gemeinschaft Gottes gelöst sind, stürzen herab auf die Erde und führen hier — gerade infolge ihres göttlichen Ranges — eine besonders dämonische, gottgelöste Existenz. Das gilt vor allem von dem gewaltigen Bild Apk. 12, 2 ff., wo der rote Drache am Himmel erscheint, mit seinem Schwanz den dritten Teil der Sterne des Himmels hinwegreißt und auf die Erde schmeißt. Wer denkt dabei nicht — Frey hat das in seiner Auslegung sehr tief zum Ausdruck gebracht1) — an alle jene geschichtsbewegenden Mächte, denen man zwar ihren göttlichen Ursprung anmerkt, die aber gefallen sind. Man könnte ζ. B. daran denken (natürlich nur als illustrierendes Beispiel und nicht in dem Sinne, daß die Offenbarung Johannis hier eine konkrete Prophezeiung enthielte) —, wie sehr diese Sturz-Katastrophe auf bestimmte I d e e n zutrifft. Die großen Menschheitsgedanken und Ideale, die göttlichen Ursprungs sein mögen, verkehren sich in dem gleichen Augenblick, wo *) Weg und Zukunft der Gemeinde Jesu, 1940, S. 13. 210 sie sich vom Ursprung losreißen, in ihr Gegenteil. Es sei nur an die Ideen des Wahren, Guten und Schönen erinnert, die, von Gott losgerissen, zu einer „voraussetzungslosen" Wissenschaft ohne Gott, zu einer leeren Haltungsmoral ohne Gott und zu einer rein ästhetizistischen Fart pour l'art-Kunst mit allen heute sichtbaren Entartungserscheinungen werden. Das gleiche gilt von den Ideen der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Es ist sicher nicht zu gewagt, wenn man alle drei Begriffe als ursprünglich biblisch bezeichnet. Indem sie aber von ihrem Ursprungsort verpflanzt und von Gott losgerissen werden, bekommen sie alle Eigenschaften eines Zersetzungs-stoffes — und heute sind sie die Schild-Worte des Marxismus geworden. Wir könnten noch eine ganze Reihe anderer Begriffe anführen, um den gleichen Luzifer-Sturz an ihnen zu bemerken. Ich weise nur auf das Wort „Gehorsam" hin: Was im Zusammenhang mit Gott eine Befreiung bedeutet, wird ohne ihn zur Sklaverei und zum Gewissensmord. Das beweisen alle Diktaturen, die von Gehorsam und Parieren leben. Wir sehen also, welche tiefe Gesetzmäßigkeit sich hinter jener so bizarr anmutenden Vorstellung vom Teufel als dem gefallenen Engel, als dem herabgestürzten Luzifer, verbirgt. II. Der Machtcharakter des Dämonischen Um gleich noch einmal das Bild aus der Apokalypse aufzunehmen: Sterne fallen auf die Erde. Hier treiben sie ihr dämonisches Wesen. Das zeigt: Es geht nicht um ein abstraktes Prinzip des Bösen (im Sinn eines bloß „geltenden" aber nicht „seienden" Ordnungsbegriffs) innerhalb der Moralität. Sondern es geht um eine M a c h t , und zwar eine diese Erde, diesen Äon verhaftende M a c h t . „Er" ist der Archon tou kosmou, tou aionos toutou (Herr dieser Welt, dieser Weltzeit) (Joh. 12, 31; 14, 30; 16, n). Als solche kosmische Macht ist sie zugleich etwas, das die 13 T h i e l i c k e , Fragen des Christentums. *211 Struktur dieses Äons aufs Tiefste beherrscht. Es ist wirklich nicht so einfach, wie es etwa Ritsehl meinte, der das überindividuell Böse (ζ. B. in der Gestalt der Erbsünde) in Milieu- und sonstigen UmweltFaktoren lokalisierte und es hier in einem allmählichen, aber doch lawinenartigen Anwachsen begriffen sah. Wie sehr die dämonische exousia über den Kreis der bloßen UmWelt hinaus die eigentliche Tiefe des Weltwesens s e l b s t bestimmt, könnte man am Staatsbegriff des Neuen Testaments feststellen. (Leider würde die Behandlung dieser Frage in un-serm Rahmen zu weit führen)1). Der Staat ist ganz einfach d e s h a l b ein geeignetes Paradigma für eine solche Feststellung, weil er in ganz besonderer Weise ein Repräsentant „dieses Äons" in all seinen wesentlichen Eigenschaften ist und darum auch ganz bewußt immer wieder in Gegensatz zu der kommenden Welt Gottes gesetzt wird. Man denke nur an das Gegenüber von Jesus Christus und Pontius Pilatus ; ferner an das Wort des Paulus : Gott wird aufheben alle Obrigkeiten, Fürstentümer usw. (i. Cor. 15, 24). Luther hebt im Genesis-Kommentar den Staat sogar ausdrücklich gegen den Urständ ab2), indem er sagt: Im Urständ des ungefallenen Menschentums habe Gott die Men^ sehen uno moto digito (durch e i n e n erhobenen Finger) regiert. Mit der Sünde sei die innere Auflehnung in die Welt gekommen — und damit auch die Bedrohung durch das Chaos. Jetzt habe Gott Gewalt-Ordnungen einsetzen müssen, die das lauernde Chaos in Schach halten. Diese Gewalt-Ordnungen werden durch den Staat repräsentiert. Und damit wird der Staat selbst zum Repräsentanten dieses Äons, der eben als g e f a l l e n e r Äon die Gewalt nötig hat. Deshalb, wird man auch postulieren dürfen, daß, sofern wirklich die dämonische *) Vgl. meinen Aufsatz: „Die Grenzen der Fürbitte", in dem später erscheinenden Buch: Christus unser Schicksal. 2) Genesis-Kommentar, Weimarer Ausgabe 42, 79, 7—19. Macht „Herr dieser Welt" ist, diese Herrschaft im Umkreis des Staates besonders zum Ausdruck kommen wird. Wir beschränken uns in diesem Zusammenhang auf einige Andeutungen1): Der irdische Staat gehört gerade nach dem 13. Kapitel des Römerbriefes zu den exousiai, d. h. zu den Engel- und Dämonenmächten. Man pflegt das im allgemeinen nicht zu beachten, weil Römer 13 meist nur kurzschlüssig aufgefaßt wird als die Autorisierung der Obrigkeit durch Gott. Gewiß liegt diese Autorisierung vor. Aber doch in einem sehr bedingten Sinne: närnlich als Ordnung der g e f a l l e n e n Welt. Die exousia, die der Staat repräsentiert, ist deshalb nicht einfach ein Abglanz der g ö t t l i c h e n exousia, sondern ein Abglanz jener Zwischenmächte, denen Gott in der gefallenen Welt Raum gibt. Es gibt eben auch diesen indirekten, der gefallenen Welt gleichsam entgegenkommenden und auf sie eingehenden Willen Gottes 2). Hat man aber diese Beziehung auf die gefallene Welt und auf die exousia der Zwischenmächte einmal verstanden, liegen die Obrigkeitsaussagen von Römer 13 und andererseits die Aussagen von Offenbarung Johannis 13 über den dämoni*) Vgl. dazu die entsprechenden ausführlicher gehaltenen Kapitel in meinem Buch „Geschichte und Existenz. Grundlegung, einer evangelischen Geschichtstheologie", Gütersloh 1935. a) Am deutlichsten kommt das vielleicht im Verbot der Ehescheidung durch Jesus zum Ausdruck Mt. 19, 1—12. Gottes eigentlicher Wille besteht in der unscheidbaren Zusammengehörigkeit von Mann und Weib. Den Scheidebrief hat Mose (natürlich im Auftrage Gottes) nur zugelassen „um eurer Herzenshärtigkeit willen". Scheidebrief und Ehebefehl haben also beide eine Beziehung auf den Willen Gottes, und doch kommt der Wille Gottes in einer völlig verschiedenen Weise zum Ausdruck. Man könnte sagen: das eine Mal direkt, und das andere Mal indirekt gebrochen; das Fremdelement der gefallenen Welt hat sich beim „Scheidebrief" da-zwischengeschoben. - Ähnlich liegen die Dinge bei der Beziehung des Staates auf den Willen Gottes : er ist, so w i e er ist, nicht direkter Ausdruck des Willens Gottes, sondern er ist gleichsam um der Herzenshärtigkeit der Menschen willen da und zugelassen. 13* '95 sehen Machtstaat als das Tier aus dem Abgrund nicht mehr soweit auseinander, wie es im ersten Augenblicke scheinen mochte. Der exousia-Begriff, d. h. die Beziehung auf die Engel-und Dämonenmächte, verbindet beide Aussagen aufs engste miteinander. Es ist also nicht zufällig, daß die staatliche Obrigkeit, die zwar von menschlichen Machthabern getragen wird, aber doch ganz unabhängig von diesen Einzelpersonen, sozusagen überpersönlich, „da" ist, archai kai eXousiai (Herrschaften und Gewalten) genannt wird. Es sei bezeichnend, sagt C. L. Schmidt*), daß Werner Foerster in seinem Artikel über exousia im Kitteischen Wörterbuch bei aller Umsicht und Vorsicht, mit der er Rom. 13 umkreise, durch die dortige Erwähnung der exousiai nun doch beinahe in den Bereich der Engel- und also der Zwischenmächte gerate. Wohl in Anlehnung an das rabbini-sche rem'outh (Rom. 13, 2 ff. ; Kol. 1,13 par) bezeichne exousia den Herrschaftsbereich s o w o h l vom Staate (Lk. 23, 7) w i e vom Geisterreich (Eph. 2, 2; Kol. 1, 13). Damit erscheint der Staat in einem Doppellicht : E i n m a l ist er Repräsentant der gottgewollten Welt-Ordnung, die der Cäsar durch sein Amt verwirklicht und der in gewissem Umfang gehorcht werden muß. Z u g l e i c h aber steckt in ihm die dämonische Tendenz der Selbstübersteigerung; das Tier aus dem Abgrund Hegt in ihm auf der Lauer. Mit der Selbstübersteigerung ist auch die Gefahr der Selbst a u f h e b u n g gegeben. Der Staat muß gerade in seiner höchsten Potenzierung („totaler Staat") seine Vorläufigkeit und seine Preisgegebenheit an das Dämonische offenbaren. Man könnte also sagen, daß der Staat der Schnittpunkt zweier Bewegungen sei, deren eine von unten und deren andere von oben erfolgt: Die Bewegung von o b e n her ist dadurch gegeben, daß Gott x) Das Gegenüber von Kirche und Staat in der Gemeinde des NT. Theol. Blätter 1937,1. 214 dem in seiner „Herzenshärtigkeit" zum Chaos drängenden Menschen die Gnade staatlicher Ordnung und Bändigung gewährt, damit die Welt noch erhalten bleibt und der heilsgeschichtlichen Führung Gottes bis zum Jüngsten Tage zur Verfügung steht. Die Bewegung von u n t e n her ist dadurch gegeben, daß der Staat gleichzeitig eine Ballung aller menschlichen Aufstandskräfte in sich enthält: er stellt zugleich - ein wirklich g e h e i m n i s v o l l e s Zugleich ! — eine SelbstOrganisation und -Verschanzung dieses Äons dar. Denn alle Zerstörungskräfte, die im einzelnen Menschen auf der Lauer liegen, treten uns in der Polis sozusagen in makrokosmischer Vergrößerung entgegen: das Verdrängungsgesetz und der Expansionstrieb, die Lüge in gewissen Kunstgriffen der Diplomatie und in der Spionage, der Machttrieb an Stelle des Rechtes usw. Der Staat zwingt gleichsam den, der i η ihm und d u r c-h ihn Macht ausübt, sich den Strukturgesetzen dieses Äons zu fügen. Darum sagt Friedrich Wilhelm I. nach Jochem Klepper, daß Könige mehr sündigen müßten als andere Menschen. Es ist einfach so, daß ein Mensch, je mehr er sich aus sich selber heraus begibt, um so mehr in jenen beherrschenden Strudel gerissen wird. Darum sagt auch der Großtyrann in Werner Bergengruens Roman „Der Großtyrann und das Gericht": „Hierin liegt ja gerade eine der großen Widersprüchlichkeiten und Unvollkommenheiten unserer Welt, daß reine Hände nicht stark sein und starke nicht rein bleiben dürfen" (S. 233). Von hier aus wird auch der V e r a b s o l u t i e r u n g s d r a n g des Staates deutlich: Er fällt gleichsam auf seine dunkle Seite zurück. Das Dynamit seiner dämonischen exousia-Eigenschaft explodiert. Die Mächte des Unten branden titanisch gegen den göttlichen Ordnungswillen von obenher an. Vielleicht hat es nie eine Zeit gegeben, die diese Gesetze unübersehbarer demonstrierte als die unsrige. Der dämonische Machtstaat der Endzeit mit dem losgelassenen Tier bedeutet *215 also nichts anderes, als daß die Mächte der Tiefe mit Gottes Zulassung einen vorübergehenden Triumph über Gottes Ord^-nungswillen erringen dürfen, oder — anders und weniger mißverständlich ausgedrückt—: daß Gòtt die Welt ihren eigenen dämonischchaotischen Tendenzen überläßt, sie gleichsam an sich selbst „dahingibt". Jedenfalls erkennen wir hier, wie die dämonische Macht wirklich „ M a c h t " ist und als ein verborgener „Herr dieser Welt" auf die offene Aufrichtung seiner Herrschaft wartet. Die Hand dieses „Herrn" ist bis in die tiefsten Strukturgesetze dieses Äons spürbar. Das lehrt das Paradigma des Politischen. III, Die Anonymität des Dämonischen Wenn wir bisher immer wieder feststellen mußten, daß es bei der Wirklichkeit des Dämonischen nicht einfach um ein Prinzip, sondern wirklich um eine reale und personhafte Macht geht, so müssen wir dieser Feststellung als weiteres Moment jetzt dieses hinzufügen, daß die dämonische Macht immer a n o n y m zu bleiben strebt. Wir sahen schon, daß sie sich hinter der göttlichen Maske als Engel des Lichtes und im Tempel Gottes verbirgt. Auch Genesis 3, in der Sündenfallgeschichte, tritt sie nicht in ihrer Eigenschaft als Teufel in Erscheinung, sondern im Namen der göttlichen N e u g i e r d e („ihr werdet wissen, was gut und böse ist") und im Namen der berauschenden Aufwärtsentwicklung des Menschen („ihr werdet sein wie Gott"). Und bei der Versuchung Jesu tritt sie keineswegs in ihrer Eigenschaft als Teufel in Erscheinung, sondern sie kommt im Namen des so vernünftig scheinenden Prinzips, d i e P o l i t i k z u g u n s t e n d e s C h r i s t e n t u m s e i n z u s e t z e n : Wie wäre es, wenn du, Christus, dir erst den Erdkreis und die Macht über seine Völker zuweisen ließest, um sie dann zu „christianisieren"? Dieser Gedanke ist plausibel und pathe 216 tisch wie alle Gedanken, die der Teufel denkt. Und wenn man eines sicher weiß, dann ist es dies, daß er nicht seine Visitenkarte abgibt. Das prägt sich übrigens in der Taktik j e d e r Verführung aus. Denn niemals wird ein Verführer sprechen: „Komm, ich will dich eine Sünde lehren"; „ich will dir etwas Böses beibringen". Sondern immer wird er sagen: „Sieh, ich will dir etwas Interessantes, etwas Lustvolles, etwas dein Leben Bereicherndes zeigen und herbeischaffen." A n o n y m i t ä t ist deshalb ein unaufgebbares Zeichen der dämonischen Macht. Das Neue Testament bringt diese Anonymität auch so zum Ausdruck, daß es von Mächten redet, die aus den dunklen, verborgenen Hintergründen der Welt als Geister der Luft wirken (Eph. 2, 2; 6, 2). Sie wirken damit so lebensbestimmend wie die Atmosphäre, aber auch so unmerkbar. Das beste Beispiel dafür ist der sogenannte „Z e i t g e i s t". Wer vermag zu bestimmen, wo er selber aufhört und der Zeitgeist anfängt! Der Zeitgeist ist so sehr etwas uns „atmosphärisch" Umgebendes, daß wir meinen, wir seien es selbst, die seine Meinungen und Tendenzen vertreten. Und so gewiß das auch stimmt und so sehr wir als Subjekte den Zeitgeist tragen helfen, so sehr gilt doch auch das andere : daß uns hier eine anonyme Macht im Banne hält, die nicht wir selbst sind, sondern nur so tut, als ob wir es selbst wären und als ob sie unsere eigenen Gedanken zum Ausdruck brächte. Das eben i s t ja ihre Anonymität, daß sie sich nicht gegenständlich fassen läßt, sondern uns ungegenständlich umgreift. Deshalb bedient jene Macht sich auch besonders gerne des Instrumentes der P r o p a g a n d a , d. h. der ungegenständlichen Einflüsterungen, die das Ziel der „Willensbildung" haben. Schon das Wort „Willensbildung" ist überaus charakteristisch. Denn es besagt, daß die Propaganda sich zwar an den Menschen als den Träger eines Willens wendet, aber doch so heimlich und einflüsternd auf diesen Willen einwirkt, daß er unter der Hand 217 anders wird, es aber selber nicht merkt, sondern heimlich aufgezwungene und suggerierte Entschlüsse als eigene empfindet und vollzieht. (Man denke etwa an eine moderne Wahlpropaganda.) Nochmals: Das Dämonische ist kein Gegner, der uns gegenständlich faßbar wird wie Fleisch und Blut, - Paulus sagt: wir haben n i c h t mit Fleisch und Blut zu kämpfen ! — sondern der ungegenständlich durch uns hindurchwirkt und unsichtbar hinter uns tritt. Darin besteht, um mit Paulus zu sprechen, seine Fürstlichkeit, seine Gewalt und sein atmosphärisch unsichtbarer Charakter (Eph. 6, 12). Eine besonders tiefe Ausprägung dieses Gedankens liegt in dem neutestamentlichen Bilde vom „Reich der Finsternis" vor (Kol. ι, 13). Hier ist die atmosphärische Unfühlbarkeit sozusagen in die optische Unsichtbarkeit übersetzt: Er ist der Meister der Nacht oder — wie wir früher sagten — der „Verdunkelung". ImDunkelnaber sieht alles entstellt aus, und man findet nichts. An großen Gefahren geht man achtlos und nichtsahnend vorüber, und über ein R.ascheln im Gebüsch erschrickt man. Es seien nur zwei Formen solcher Verkennungen und Verwechslungen im Dunkeln gezeigt: E i η m a 1 : man verwechselt in der Umschattung durch die dämonische Macht „groß" und „klein". Man hält Dinge für wichtig, die angesichts der Ewigkeit auf ein Nichts zusammenschrumpfen oder wie Kot zu achten sind (Phil. 3, 8), ζ. B. alles was mit dem Mammon oder mit unserm Ansehen vor den Menschen zusammenhängt. Umgekehrt wird das „eine, was not ist" (Lk. 10, 42) für eine Randerscheinung des Lebens gehalten, für einen gewissen religiösen Zusatz des Lebens, der einen erhebenden und stärkenden Einfluß ausüben mag, der aber keine zentrale Existenznotwendigkeit darstellt. So werden die Maßstäbe verwirrt. Und es ist deshalb nicht von ungefähr, daß Jesus immer wieder die Umkehrung aller Werte und die Zerstörung aller vorhandenen Maßstäbe im Reiche 218 Gottes ankündigt — so wenn er etwa davon spricht, daß die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein werden. Auch das Kirchenlied bittet — aus dieser Situation der Verdunkelung und der Verkehrung aller Dinge und Werte heraus —: „Ewigkeit, in die Zeit leuchte hell herein, daß uns werde klein das Kleine und das Große groß erscheine." Gerade in dieser Dunkelheit wird es ganz deutlich, wie das diaballein des Diabolos zum Zuge kommt: die dämonische Macht „wirft" die Werte „durcheinander". Die gleiche Verwechslung und das gleiche Diaballein bezieht sich auch auf die Verwirrung von Traum und Realität. Unter dem Stichwort „Angehöriger des Jenseits" wird Gott im säkularen Bewußtsein nicht nur zu einer Rand-, sondern auch zu einer unwirklichen Erscheinung, zu einer Projektion unseres religiösen Gefühls an den Himmel. Da die „Religion" für dieses Bewußtsein nur den Charakter eines ideologischen Überbaus über die ökonomischen oder auch biologischen Verhältnisse hat, so bekommt auch Gott den Charakter dieser Un-wirklichkeit. Die eigentlichen Realitäten bestehen nur in den das Diesseits regierenden Mächten, in wirtschaftlichen, biologischen, militärischen und ähnlichen Vorgängen. Der bekannte Satz, daß Gott immer mit den stärksten Kanonen sei, drückt diese funktionale Abhängigkeit Gottes, die im übrigen nur eine ironische Verschleierung seiner Unwirk-lichkeit ist, genügend klar aus. Auch hier ein Diaballein im Dunkeln ! E n d l i c h besteht noch eine überaus charakteristische Form dieses Diaballein darin, daß es uns zur Verwechslung von Schöpfer und Geschöpf, d. h. daß es uns zur Vergottung geschöpflicher Mächte statt zur Anbetung des Schöpfers s e l b e r führt. Wir haben im 2. Kapitel dieser Arbeit gesehen, welche „Verwirrung" (im wörtlichsten Sinne!) durch die Divination einzelner Schöpfungsgestalten Ereignis wird: daß sie eben n i c h t in der Lage sind, das Ganze des Lebens 219 zu beherrschen, sondern weite Lebensräume der Bindungs-losigkeit und dem Chaos ausliefern: Die Verabsolutierung des Geistes ζ. B. (etwa im Idealismus) läßt die vitalen Bereiche unberührt und treibt deshalb die Blut- und Bodengötter zum Aufstand. Diese wiederum überlassen den Geist seinen ungezügelten Trieben und bringen einen neuen Aufstand des Intellektualismus hervor. Diese Aufstandsbewegung läßt sich auf vielen, nein auf a l l e n Lebensgebieten zeigen. Wir haben das früher getan. Hier wird dasselbe Phänomen noch einmal unter dem Gesichtspunkt deutlich, wieso der „Durcheinanderbringer" dabei am Werke ist. Bis in die Struktur der Völkerwelt läßt sich sein Wirken verfolgen: Denn die Vergottung der Schöpfungsmächte, die sich im Zeitalter des Nationalismus vor allem in der Vergottung der Volksmächte und ihrer mythischen Verklärung äußert, führt zu einem wachsenden Unverstehen zwischen den Völkern. Es fehlt die Bindung an die alle verpflichtende göttliche Autorität. Wenn „Arier" und „Nicht-Arier" alle gleichermaßen nur auf Grund der „Volks-Autorität" handeln und das durch den Satz ausdrücken würden : „Gut ist, was meinem Volke nützt", so könnte es keine Heiligkeit der Verträge und keine übervölkische, schlechthin autoritative Verpflichtung mehr geben1). Indem diese Bindungsmacht aber entfällt, stehen notwendig A n g s t und M i ß t r a u e n , auf, weil der andere nicht mehr *) Wir sind übrigens nicht so weltfremd zu meinen, daß es auch unter Christen keine Krisen von Verträgen und keine Konflikte zwischen politischen Notwendigkeiten und der Geltung der göttlichen Gebote geben könnte. Es ist ein Zeichen der gefallenen Welt, daß sie niemals ohne Wertwiderstreit sein kann. Es ist aber ein anderes, ob man diese Struktur der Welt als ein V e r h ä n g n i s zugibt, das die Gewissen belastet und nur unter der Vergebung zu ertragen ist ; und wieder ein anderes, ob man aus dieser Not eine Tugend macht und gleichsam strahlend die Unverbindlichkeit übervölkischer Verträge mit dem Satze proklamiert „Gut ist, was meinem Volke nützt" oder mit dem andern : Right our wrong my country. ' 220 festzulegen und deshalb unberechenbar ist. Daraus ergibt sich das Streben nach „Sicherheit" und auf der andern Seite nach entsprechender Gegensicherung. Daß diese krankhaft gesteigerten Spannungsverhältnisse immer wieder zu gewaltsamen Entladungen drängen müssen, ist nur zu klar. Die ungeheure Steigerung in der H ä r t e der kriegerischen Auseinandersetzungen — wir brauchen nur an die gegenwärtige Auseinandersetzung zu denken — liegt zweifellos nicht in der technischen Entwicklung der Kriegsinstrumente, sondern auch in der genannten weltanschaulichen Grundhaltung begründet. Der Diabolos hat (wiederum im wörtlichsten Sinne !) ein „diabolisches" Interesse daran, einen nationalistischen P o l y t h e i s m u s zu zeitigen. Dieser Polytheismus ist eines seiner vornehmsten Mittel, das Chaos heraufzubeschwören. Und "wenn die Offenbarung Johannis von ' jener merkwürdigen Steigerung des Bösen und der Wirrnis am Ende unseres Äons spricht, so denkt sie wohl unausgesprochen an diese diabolische Funktion. IV. Die Formen seiner Machtausütiung Es geht also beim Dämonischen tatsächlich um eine wirkende M a c h t . Er ist der „ F ü r s t" dieser Welt. Verschiedene Kennzeichen dieser Macht haben wir bereits entfaltet, so etwa ihre Anonymität, ihre Funktion als Verführerin, Ver-klägerin und Zersetzungs-Ferment. Noch zwei weitere Eigenschaften von höchstem Rang müssen wir bezeichnen : a) Die dämonische Macht beherrscht den G e i s t . Sie sitzt keineswegs nur, wie alle Formen des Idealismus dartun möchten, im „Fleisch", in der „Sinnlichkeit" und den „inferiora" des Menschen. b) Die dämonische Macht sucht ihr Opfer in den Zustand der H ö r i g k e i t zu bringen. 221 a) D i e G e i s t - B e h e r r s c h u n g d u r c h die dämonische Macht Paulus sagt Eph. 2, 2: „Euer einstiger Lebenswandel vollzog sich unter dem Herrscher der Macht der Luft." (Wir wissen nunmehr, was mit diesem atmosphärischen Gleichnis gesagt sein soll.) Diese Aussage über und an die Epheser bezieht Paulus aber zugleich auf sich s e l b s t . Wir alle waren in die: ser Hörigkeit, indem wir „in der Begierde des Fleisches" lebten und die „Wollungen (thelemata) des Fleisches und der Gedanken (dianoiai) taten". Damit ist doch gesagt, daß unser „Fleisch" und unsere „Gedanken" einen W i l l e n haben und nicht nur einen T r i e b ! Die Beziehung auf den Willen oder besser auf die „Wollungen" kann aber nur bedeuten, daß hier eine zielstrebige, uns im Banne haltende M a c h t herrscht, die nicht einfach triebhaftes Fleisch und Blut ist. Denn diese bloß triebhaften Begehrungen könnten wir ja als intelligible Vernunftund Willenswesen einigermaßen niederhalten. Statt dessen wird uns hier bedeutet, daß dem Willen nicht einfach der sinnliche Trieb entgegensteht, sondern daß jener Wille durch einen a n d e r n Willen — aber eben einen W i l l e n — bestritten wird: Hier tritt eine persönliche Macht auf — „persönlich" ganz einfach deshalb, weil sie einen W i l l e n hat — eine persönliche Macht mit einem Anspruch, einem N o m o s , der uns nicht einfach „ ü b e r w ä l t i g t " (so wie wir ja vom Terror des Blutes und der Sinnlichkeit überwältigt werden können), sondern der uns „ ü b e r z e u g t", d. h. uns die Beugung unter seine Normen als Gottesdienst vorlügt. Es ist ja verhältnismäßig einfach, sich das klar zu machen: Denn als Paulus und die Epheser vor ihrer Bekehrung den Wollungen ihrer dianoiai gehorchten, meinten sie keineswegs, sie seien Triebsünder, sondern sie waren allen Ernstes überzeugt („überzeugt"!) sie täten Gott einen Dienst damit (vgl. 222 auch Joh. 16, 2). Denn auf dem Schleichpfad über die sinnlich vitale Selbstbehauptung waren jene Wollungen des Blutes in die Vernunft gedrungen und hatten ihre Argumente entsprechend determiniert. Wir wissen ja auch sonst, in welchem Ausmaße „der Wunsch der Vater unserer Gedanken" ist. Indem aber Wunsch und Begehren unsere Gedanken formen, hören jene auf, den „Gedanken" einfach als der „sinnliche Sektor" unseres Ich gegenüberzustehen — wie der Idealismus das in verhängnisvoller Vereinfachung meinte —, sondern sie sind mit diesen Gedanken ungegenständlich vermengt und für sie unsichtbar geworden. Die Gedanken pflegen unter der Hand aus F e i n d e n des Begehrens zu deren A n w a l t zu werden : auch eine Form der dämonischen Anonymität und Ungegenständlichkeit! Und zugleich wieder ein Beweis dafür, wie sich das Dämonische nicht im Lichte unserer eigenen Gedanken enthüllt — wie könnte etwas Verfinstertes dergestalt leuchten! — sondern nur im Lichte Gottes selber. Das wird auch Rom 1, 18 ff. deutlich: dort spricht Paulus davon, wie die Gedanken des natürlichen Menschen über Gott sich verfinstern und wie sie (gleichsam im Zwielicht zwischen Gott und Satan) schließlich bei der Anbetung der kriechenden, vier-füßigen und fliegenden Tiere, sowie des menschlichen Bildes selber, enden. Sie beten also die Symbole ihrer eigenen Krea-türlichkeit und damit sich selber an. In der blasphemischen Form des Gottesdienstes behaupten sie sich selbst gegenüber Gott, so daß es in Wirklichkeit gar nicht um ein „dienendes" Unter-Gott-sein, sondern um ein „herrisches" und selbstherrliches Sich-über-Gott- e r h e b e n geht. Da aber die sinnlich vitale Selbstbehauptung des Menschen so die Gedanken selbst erobert hat, da der Mensch gar nicht „von unten her" ü b e r w ä l t i g t , sondern „von unten her" ü b e r z e u g t ist, so wird er sich niemals mit eigenen Augen in seiner Protesthaltung erkennen, sondern die ihm vorgeworfene Ablehnung Gottes mit religiösen und „gottgläubigen" Argumenten be 223 streiten. Daher kommt es, daß es die Geste des Prometheus, der pathetisch die Faust gegen den Himmel ballt, in Wirklichkeit gar nicht gibt. Die dämonische Macht wird durch ihre „diabolischen" Verdunkelungsmanöver immer dafür sorgen, daß der Mensch sich niemals als G e g n e r G o t t e s empfindet (denn er wüßte ja nur zu gut, daß das böse und verflucht wäre und würde deshalb erschreckt zurückzucken), sondern daß er im N a m e n Gottes zu handeln meint. Das steht in genauer Analogie zur Technik seiner Verführung, in der er ja ebenfalls zu verschleiern weiß, daß er im Namen des Bösen auf mich zukommt, und in der er ad oculos zu demonstrieren scheint, daß er mir nur das „Schöne" und „Großartige" und „Lustvolle" erschließen will. Die Leute von Rom. ι meinten also in ihrer dianoia keineswegs, daß sie das Geschöpf statt des Schöpfers verehrten. Aber was kommt schon auf menschliche „Meinungen" und ihre subjektive Ehrlichkeit an, wenn einem e i n m a l klar geworden ist, wie die Ebene der Meinungen und der dianoia der Tummelplatz einer andern und fremden Macht ist und wie wenig der Mensch hier idealistisches Subjekt, wie wenig er „intelligibel" und „autonom" ist und wie sehr er zugleich Objekt der heimlichen, atmosphärischen und aus dem Hinterhalt wirkenden Macht ist! Noch einmal tritt hier das Wort von Eph. 6, 12 in Erscheinung, daß wir nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen haben, daß also nicht die Sinnlichkeit sozusagen das Medium des Dämonischen in ausschließlicher Weise ist, sondern daß es sich tief in den Geist eingenistet hat. E s g e h t l e t z t e n E n d e s n i c h t u m d i e idealistische Anta-gonie zwischen Fleisch und Geist, sondern um die viel tiefere Antagonie zwischen Geist und Geist, nämlich z w i s c h e n G o t t e s g e i s t u n d M e n s c h e n g e i s t . Hier tritt das tiefste Geheimnis von der Ungegenständlichkeit des Bösen zutage. 224 b) D i e H ö r i g k e i t Eigentlich ist über Wesen und Gestalt der „Hörigkeit" schon gesprochen worden. Wir fassen das Gesagte nur in einigen prägnanten Strichen noch zusammen. Ein bekanntes Wort sagt: „Die Geister, die man rief, wird man nicht wieder los." Sicher ist das ein Wort, das nur so im christlichen Abendland entstehen konnte. Denn darin treten zwei Züge aus dem biblischen Wissen um die dämonische Macht hervor: E i n m a l : Man kann die dämonischen Mächte rufen und nimmt bis zu diesem Augenblick noch die Haltung der Freiwilligkeit ihnen gegenüber ein. F e r n e r : Nachdem sie gerufen sind, kann man sie nicht mehr bannen, sondern man i s t gebannt. — Dieser Vorgang wird zum Greifen deutlich in der biblischen Sündenfall-geschichte: Einen Augenblick lang hat Eva die Wahlfreiheit gegenüber der lockenden Frucht. Im gleichen Augenblick aber, wo sie kraft ihrer Freiheit nach ihr greift, v e r l i e r t sie eben diese Freiheit. Denn nun diktiert diese in Freiheit ergriffene Tat sofort alle kommenden Ereignisse und reißt in totaler Weise das Gesetz des Handelns an sich. Die daraus folgende Geschichte wird über Kain und den Turmbau zu Babel bis zum heutigen Tag eine Auflehnungsgeschichte, in der mit schauerlicher Konsequenz das Gesicht dieser e i n e n Tat immer wieder aus den tausendfach verhüllenden Masken hervorstrahlt. In strengerer Formulierung müßte man freilich sagen: Nicht die einmal vollzogene T a t diktiert das Gesetz des weiteren Handelns, sondern der „G e i s t", dem man sich durch diese Tat v e r s c h r i e b e n hat, diktiert jenes Gesetz. E s g e s c h i e h t e b e n — das ist das Entscheidende — b e i d e r S ü n d e v i e l mehr als nur ein Tun des Menschen. M a η u η t e r s t e 111 s i c h d a m i t e i n e r e x o u s i a , e i n e r M a c h t . Die Lehre von der 225 Erbsünde bringt das monumental zum Ausdruck. Um das zu verstehen, muß man sich freilich aller idealistischen Voraussetzungen völlig entledigen. Denn diese Voraussetzungen sehen immer den Menschen als handelndes Einzelsubjekt. Deshalb kann es von hier aus nicht begreiflich werden, wieso dieses Subjekt auf einmal zum Objekt, wie es aus dem Hammer zum Amboß werden und aus einer freien IchTätigkeit in einen knechtenden Bann gerissen werden soll. Das wird nur verständlich aus der biblischen Voraussetzung heraus, daß der Mensch sich ständig im Gegenüber zu einer andern und zwar zu einer personhaften Größe befindet, sei es, daß sie G o t t , sei es, daß sie die d ä m o n i s c h e Macht ist. Darum geht es e η tw e d e r um die Obrigkeit der Finsternis o d e r um das Reich „seines lieben Sohnes" (Kol. i, 13). Mit beidem ist ausgedrückt, daß man einer exousia untersteht. Es ist ein tiefes Symbol, daß Faust sich mit B l u t dem Mephistopheles verschreibt. Alles Leben ist entweder ein Sichopfern oder ein Sich-verschreiben1). Natürlich ergibt sich an dieser Stelle unseres Gedankengangs die wichtige Frage nach der Verantwortlichkeit. Inwiefern ist es m e i n e Tat, wenn ich im Banne handle, und inwiefern kann ich dafür zur Rechenschaft gezogen werden? Man wird darauf zweierlei antworten müssen : Jede „Handlung innerhalb" der Zwangsläufigkeit des Bannes weist immer zurück auf den Augenblick, wo man sich dem Banne verschrieb, wo ich also in der Haltung des Subjekts auf ihn zuschritt und ihm die Hand bot. Und wenn Hitler als einer, der allen Ernstes meinte, Männer machten die Geschichte und er selber sei ein solcher Mann, im Neujahrsaufruf 1941 erklärte: die Vorsehung stelle einen oft auf Plätze und schicke einen in Räume, die man selber nicht habe betreten wollen, deren Betreten aber aus unsern ersten Taten folge2), dann kommt 1) Vgl. die Gedankengänge über die Aufhebung der menschlichen Subjektheit in dem Kapitel über die Technik. a) Aus dem Gedächtnis wiedergegeben. 226 Jiierin sehr deutlich das Bewußtsein um ein Verhängnis und eine Zwangsläufigkeit zum Ausdruck, die doch durch einen ersten Schritt von Seiten des Menschen provoziert wurden. Ferner wäre zu sagen: Bei seinen Auseinandersetzungen mit der Frage der Verantwortlichkeit hat Luther in De servo arbitrio den Gedanken ausgesprochen, die genannte Zwangsläufigkeit habe nicht den Charakter einer coactio (d. h. eines Zwanges, der uns von außen her überfiele, ohne daß wir etwas dafür könnten), sondern er habe den Charakter einer nécessitas (d. h. einer inneren Notwendigkeit, analog der „geprägten Form", die nach dem Worte Goethes „lebend sich entwickelt"). Das heißt : Ich kann mich nie von dieser Zwangsläufigkeit als von etwas mir angeblich Fremden distanzieren, sondern muß zugeben, daß ich mit meiner Subjektheit darein verwickelt bin. Selbst bei einer erbbedingten Trunksucht, um ein sehr drastisches Beispiel zu nennen, werde ich nie argumentieren können: „Ich bin zum Trünke gezwungen" oder „Das Es in mir — also nicht „ich" — hat alkoholische Exzesse getrieben", sondern ich werde sagen müssen: „I c h habe mich hinreißen lassen" und damit das unauflösliche Ineinander von Subjektheit und Objektheit zuzugeben haben. Das Gegenüber von „mir" und der „exousia" ist auch in Gedanken unauflöslich1). Diese Unauflöslichkeit haben wir früher dadurch beschrieben, daß wir sagten: die dämonische Macht übe ihren Bann aus mit Hilfe des amor sui (= der Selbstliebe). Gerade indem ich also, wie bei der Selbstliebe, ganz bei mir selbst zu sein, gleichsam mit mir a 11 e i η zu sein scheine, werde ich doch gerade bei mir selbst fest g e h a l t e n . Und so sehr also die Selbstliebe auf den „ersten" Blick ein Akt höchster Subjektheit zu sein x) Denke ich bei dieser mir gegenüberstehenden Größe an G o t t , so wird diese Unauflöslichkeit von Subjektheit und Objektheit besonders an dem Verhältnis von Prädestination und Willensfreiheit deutlich; ich kann das beides theoretisch njcht auseinanderfädeln und mein Leben auf diese beiden Komponenten „verteilen". Beide stellen nur zwei Perspektiven dar, unter denen ich meine identische Tat sehen muß. 14 T h i e l i c k e , Fragen des Christentums 227 scheint, so sehr ist sie auf den „zweiten" Blick zugleich als ein passives Hingerissen- und Verführtsein deutlich. Jedenfalls muß ich mir die Zwangsläufigkeit „zurechnen" (imputare) und muß mit „ich" unterschreiben. Damit ist die Frage der Verantwortlichkeit entschieden. Obwohl es also das Ich des Menschen ist, das hier handelt, müssen wir dennoch zugeben, daß in der Auseinandersetzung Jesu mit den dämonischen Mächten noch eine a n d e r e Beurteilung des dämonisch gebundenen Menschen eine Rolle spielt, die als Korrektiv des bisher Gesagten unbedingt noch m i t gehört werden muß. Damit kommen wir zu einigen Schlußgedanken über die Auseinandersetzung Jesu mit der dämonischen Macht: V. Christus in der Auseinandersetzung mit der dämonischen Macht a) Die Dämonengeschichten des Neuen Testaments zeigen, daß Jesus auch den gebundensten Menschen niemals mit der dämonischen Bindungsmacht selbst i d e n t i f i z i e r t : Er sieht vielmehr, daß ein fremder Geist aus ihm spricht und an ihm zerrt. Und dieser fremde Geist ist streng von dem zu scheiden, der ihn beherbergt. Nur deshalb kann er ja auch ausgetrieben werden. Die Dämonenaustreibungen sind deshalb nichts anderes als die Aufhebung der dämonischen Inkarnation und die Wiederherstellung des Menschen „zu sich selber". Diese Scheidung zwischen dem Menschen einerseits und der ihn besetzthaltenden Macht andererseits wird übrigens deutlich am Gebot der F e i n d e s l i e b e . Wenn wir daran denken, daß Jesus mit diesen Feinden gerade die Widersacher der Gemeinde meint, so will er mit diesem Liebesgebot die Jünger dahin bringen, an ihren Verfolgern und Quälern zweierlei zu unterscheiden: e i n m a l die M e n s c h e n a l s s o l c h e , wie sie aus den Händen Gottes hervorgeangen sind; z w e i t e n s die bannende dämonische Macht, die jene Menschen nun gefangenhält und ihre ursprüngliche Gottebenbildlichkeit bis ins Unkenntliche entstellt, die sie auch immer wieder gegen die Gemeinde und seinen Christus entfesselt und aufstachelt. Es ist eben der „altböse Feind", der sich dieser „Widersacher" bemächtigt hat und sie verblendet, so daß sie gegen die Gemeinde schnauben, nichtachtend der Verheißung, daß die Pforten der Hölle sie nicht überwinden dürfen. Wenn Jesus also sagt: „Liebet eure Feinde!", dann sagt er nicht, „liebet den Schmutz, in welchem die Perle liegt, sondern er sagt, liebet die Perle, die im Staube Hegt". In diesem Worte Ralph Luthers kommt in höchster Prägnanz zum Ausdruck, in welchem Sinne der, Mensch „an sich" von der ihn bannenden Macht unterschieden werden muß. Wir stoßen hier auf den entscheidenden Gesichtspunkt christlicher Anthropologie. Jesu Blick dringt also nicht nur durch die Tarnschleier der guten Werke hindurch und findet die bösen Gedanken des Herzens (Bergpredigt), sondern sein Ohr hört auch durch die Fremde und durch die Nebengeräusche der Dämonen hindurch auf die Stimme des Kindes Gottes, das sich verirrt hat und fremden Tyrannen zum Opfer gefallen ist. S e i n e D ä m o n e n h e i l u n g e n b e s t e h e n d e s h a l b d a r i n , d a ß e r' d i e „K i n d e r " a u s d e n H ä n d e n d e r sie besitzenden „Macht" herausreißt. b) Jesu Auftrag läßt sich damit nach einer doppelten Richtung beschreiben : Er ist erstens ein Kampf g e g e n die Dämonen und ist zweitens ein Kampf u m den Menschen. Hier sehen wir den ganzen Gegensatz des neutestamentHchen Denkens gegenüber dem IdeaHsmus : Im IdeaHsmus besteht, wie wir bereits sahen, ein dialektisches Verhältnis zwischen Gut und Böse. Das Böse hat den Sinn eines notwendigen Durchgangs zum Guten, es ist letzten Endes eine schöpferische Größe, wie sie Goethe in der 14* 229 Gestalt des Mephistopheles personifiziert hat. Jedenfalls bilden gut und böse in dieser Schau der Dinge zwei Prinzipien, die sich gegenseitig konstituieren: Das Gute wäre nicht möglich ohne den Gegensatz des Bösen. — Im Neuen Testament aber handelt es sich nicht um zwei sich konstituierende Prinzipien, sondern hier prallen zwei Mächte, zwei exousiai, aufeinander. Hier geht es um Blut und Tränen Gottes, hier kommt es zu Gethsemane und Golgatha. c) Bezeichnend für diesen Einbruch des Christus in das Dämonenreich ist der immer wiederkehrende Zug aus den Dämonengeschichten, daß sie ihn e r k e n n e n : Sie spüren ihre äußerste Bedrohung. Dabei mag ihnen die Anamnesis (die Erinnerung) des gefallenen Engels zu Hilfe kommen und ihnen das feine Gespüre für die göttlichen Bereiche verleihen. Wenn Goethe sagt, daß man nur d a s verstehen könne, was man liebe, so ließe sich hinzusetzen: „oder was man haßt." Selbst wenn die Dämonen so niedrig sind, daß sie nur in die Sauherde geschickt werden können, wenn sie intellektuell und ethisch und bildungsmäßig mehr als minderwertig sind, haben sie diese geheimnisvolle Witterung für die göttlichen Dinge (vgl. Mk 5, 1-21). d) Aber die Dämonen reagieren nicht nur so, daß sie Christus e r k e n n e n , sondern sie w e h r e n sich auch, sie bäumen sich auf. Wir sprachen schon früher davon, daß sich angesichts des kommenden Christus die dämonischen Kräfte p o t e n z i e r e n . Das wird nach der Schau der Offenbarung Johannis gerade am Ende der Tage deutlich: Je näher der wiederkommende Christus an diesen Äon heranrückt, um so gewaltiger ballen sich die Gegenkräfte und um so energischer mobilisiert der Widersacher seine letzten Reserven, bis auf dem Höhepunkt der dämonischen Exzesse die Wiederkunft erfolgt und die neue Welt Gottes anbricht. Auch abgesehen von dieser eschatologischen Schau der Dinge wird man sagen dürfen, daß überall da, wo lebendige Gemeinde ist, die um die Nähe ihres Herrn weiß, der Aufstand der Dämonen und die Verfolgung der Gemeinde erfolgt. Aufstand und Verfolgung sind also keineswegs ein Zeichen, daß Christus g e h t und daß er das Schlachtfeld der Welt den Gegenkräften überlassen hätte, sondern im Gegenteil: Dies alles ist ein Zeichen dessen, daß er kommt, ja, daß er ganz nahe ist. Es kann sehr wohl sein, daß eine Kirche, die die Öffentlichkeit hat und vom Applaus der Welt umrauscht ist, auf verborgene Weise den Dämonen viel ungeheuerlicher preisgegeben ist als die bedrohte und von den Dämonen umheulte Kircne. e) Wie erfolgt nun die Befreiung aus der dämonischen Hörigkeit, wie v o l l z i e h t sich die Austreibung? Eigentlich wäre jetzt die ganze Rechtfertigungslehre zu entfalten. Denn „Rechtfertigung" bedeutet ja nichts anderes, als daß wir von der dämonischen exousia befreit und durch Christus in den väterlichen Bereich der g ö t t l i c h e n exousia („in das Reich seines lieben Sohnes") versetzt werden. Wir beschränken uns aber darauf, nur zwei entscheidende Züge dieser Befreiung zu nennen: Jesus Christus ist das Licht der Welt gegenüber der Macht der Verdunkelung, und zwar wieder in einem doppelten Sinne : E i n m a l stellt er dem Menschen, der in der Verfinsterung sein will wie Gott und der infolge der Dunkelheit auch meint, das wirklich sein zu k ö n n e n , das W e i h n a c h t s l i c h t entgegen. In diesem Weihnachtslicht, das über der Finsternis des' Erdreichs und dem Dunkel der Völker aufgeht, erkennt der Mensch, daß es diesen Weg der eigenen Emporsteigerung zu Gott, ja, daß es diesen Weg der eigenen Gottwerdung nicht gibt, sondern daß der Weg zwischen Gott und Mensch u m g e k e h r t verläuft: daß Gott sich in der Geburt des Christkinds hinab zum Menschen begibt und in jener Finsternis über dem Erdreich und in jenem Dunkel über den Völkern „plötzlich" auftaucht als der fleischgewordene Sohn Gottes. Indem Jesus Christus als Licht der Welt in Erscheinung 231 tritt, gibt er die richtige R a n g o r d n u n g aller Werte zu erkennen : Er gibt zu erkennen, daß nur e i n e s not ist und daß es dem Menschen nichts hülfe, wenn er die ganze Welt gewönne und Schaden nehme an seiner Psyché, an seinem Leben. Er zeigt, daß der Mensch in einer entsetzlichen Verwechslung von Realismus und Traum dahinlebt, er erweckt ihn aus Schlaf und Traum und gibt ihm die Erkenntnis der letzten Realität. F e r n e r : Der Widerspieler wird hinausgeworfen, er i s t schon gerichtet (vgl. ferner das Gegenüber der „Knechtschaft", in der wir uns "befanden, und der Freiheit, zu der Christus uns befreit, Rom. 6). In diesem Sinne ist es schlechthin entscheidend, daß Jesus uns die H ö r i g k e i t gegenüber der Sünde nimmt. Gewiß, wir bleiben — wenn wir diesem Gedanken die spezielle Note geben dürfen, die ihm Luther gab — de facto „Sünder" (peccatores in re). Die bösen Gedanken des Herzens liegen weiter in uns auf der Lauer, und auch-der Christ vermag sich nicht von den Lasterkatalogen zu distanzieren, die immer wieder — besonders in den paulinischen Episteln — aufgestellt sind. Aber das entscheidend N e u e besteht nun darin, daß uns alle jene Sünden gegen die z w e i t e Tafel der Gebote Gottes nicht mehr aus dem Verhältnis der K i n d s c h a f t ausweisen dürfen und daß Gott alle diese Vergehen nicht zum Anlaß nimmt, uns die Gemeinschaft mit sich zu kündigen: Das Wesen der satanischen Verführung besteht ja nicht so sehr in der Verführung zu konkreten Einzelsünden, also zu einem Verstoß gegen die zweite Tafel, sondern sie besteht vor allem darin, uns v e r m i t t e l s dieser Verstöße oder a u c h v e r m i t t e l s d e r k o r r e k t e n Einhaltung der Gebote von Gott abzutrennen. Luther hat diese mehrfache Möglichkeit der Trennung von Gott in den drei Begriffen „Sicherheit", „Trotz" und „Verzweiflung" klargemacht (securitas, superbia und desperatio). 232 Die „Sicherheit" besteht darin, daß wir uns in der Illusion wiegen, als könnten wir die Gebote Gottes erfüllen. Das führt uns zur Sicherheit gegenüber G o t t . Wir verstehen ihn nicht mehr als bedrohlichen Richter und empfinden ihn nicht mehr als beunruhigend. Wir fühlen uns ihm gewachsen und versuchen unsererseits die Rechnung zu präsentieren. Diese Form der gleichsam m o r a l i s c h e n Abspaltung von Gott ist in der sogenannten pharisäischen Haltung gegeben. Die a n d e r e Möglichkeit besteht darin, daß wir im Ungehorsam gegen die Gebote Gottes „t r o t z i g" verharren und uns selber das Gesetz unseres Handelns eigenmächtig vorschreiben: Das ist die Abspaltung von Gott kraft trotzigen U n g e h o r s a m s . ^ Die d r i t t e Möglichkeit des Ausbruchs aus der Gemeinschaft Gottes wird d a n n Wirklichkeit, wenn ich zwar die Größe und Gültigkeit der Gebote Gottes anerkenne, aber verzweifelt feststelle, daß ich sie nicht erfüllen kann. Gott wird mir dann zum Gegner und Feind, dem ich mich nicht gewachsen weiß und den ich nur als meinen Verfolger und Peiniger erlebe, den ich geradezu hassen muß. Diese drei Möglichkeiten, uns den Händen Gottes zu entreißen, sind der dämonischen Macht in d e m Augenblick genommen, wo ich in die Gefolgschaft Jesu Christi trete. Gewiß: Die Sünde ist noch da, aber doch nur als bloße Larve, als eine Giftschlange, welcher der Giftzahn herausgebrochen ist. . E t w a s ist nämlich an ihr entscheidend anders geworden : Sie darf nicht mehr der „Stützpunkt" der mich von Gott abspaltenden dämonischen Macht sein. Sie darf keinen Einfluß mehr haben auf meine Trennung von Gott. Sie ist umgekehrt — wenn wir im Bilde bleiben wollen — ein Stützpunkt der Barmherzigkeit Gottes geworden: Wo die Sünde mächtig geworden ist, da ist die Gnade n o c h viel mächtiger geworden (Rom. 5, 20), und ob unsere Sünde blutrot wäre, 233 soll sie doch schneeweiß werden (Jes. ι, 18), und je verlorener sich der ungeratene Sohn herumtreibt, um so mächtiger arbeitet Gottes Barmherzigkeit an ihm und u m so mehr wird er seinen Vater preisen müssen. Hinter der gleichbleibenden Fassade der Sünde — äußerlich ist ein begnadigter Sünder von einem unbegnadigten ethischen Sünder in vielem nicht zu unterscheiden — hat sich ein totaler H e r r s c h a f t s w e c h s e l vollzogen : Während wir oben sagen mußten, daß gerade unsere Sünde der dämonischen Macht ein Recht auf uns gebe, ist es durch die Dazwischen-kunft Jesu umgekehrt geworden. Nun gibt gerade meine Sünde dem C h r i s t u s ein Recht auf mich, da er sie nämlich auf sich lädt und den Schuldschein zerreißt. Felix culpa (glückhafte Schuld), sagt Augustin — nicht zuletzt unter diesem Gesichtspunkt. Die konkrete Einzelsünde (peccatum in re) gleicht jetzt wirklich einer Schlangenhaut, aus der die teuflische Schlange herausgekrochen ist. Äußerlich mag das ähnlich aussehen, und doch ist es nur die Haut. Was ist'ein Scherzwort ohne Pointe? Was ist die Sünde ohne — ja ohne „Pointe", nämlich ohne das taktische Ziel des Widersachers, mich von Gott loszureißen? Ich bin in der Burg, wo der Terror der Hölle mich nicht schrecken kann. Selbst die Furcht und die Versuchlichkeit, selbst meine zitternde Subjektivität läßt mich Gott loben „in gar sich'rer Ruh". „Wenn gleich Sünd' und Hölle schrecken, Jesus will mich decken." „Trotz des Feindes Lauern (er lauert wirklich I), / trotz des Todes Schauern (wer wüßte davon nichts, auch wenn er in der Gefolgschaft des Auferstandenen steht ?) / trotz der Furcht dazu, / Zürne, Welt, und tobe, / ich steh* hier und lobe / Gott in sicherer Ruh. / Seine Macht / hält mich in Acht /. Erd* und Abgrund muß sich scheuen, / ob sie noch so dräuen." Wenn irgendwo, so kommt es hier zum Ausdruck, daß wirklich die Schlangenhäute um mich herum nur so wimmeln. Hier ist von Hölle und Todesschauern und Anfechtung, ja hier ist vom 234 alten Drachen selber die Rede. Wir sind dem allen nicht entrückt, wir sind nur dem Z u g r i f f des Drachen entrückt, wir, die wir unterm Lobe Gottes wohnen. Er darf nicht mehr verklagen und verführen, Gott hört nicht mehr auf den „Staatsanwalt", sondern auf meinen „Anwalt". Wer sollte es wagen, die Auserwählten Gottes zu beschuldigen? Gott ist hier, der da gerecht macht. Wer will verdammen, will verklagen, will sich zwischen Gott und mich drängen? Christus ist hier! Wenn selbst mein eigenes Gewissen mich verklagt, g i l t das nicht mehr, denn auch d a m i t ist alles anders geworden. Luther sagt: Zuerst tritt Gott mir als Verkläger entgegen, das Gewissen als mein Verteidiger; dann aber, wenn ich in der Gemeinschaft mit Christus bin, wird es umgekehrt: dann ist mein Gewissen mein Ankläger, Gott aber ist mein Verteidiger. (Deus accusator, cor defensor; cor accusator, deus defensor.) Der Teufel darf dann auch meine Gewissensskrupel, meine Furcht, überhaupt meine ganze wackelige Subjektivität nicht benutzen, um von hier aus seine Störungsmanöver vorzutragen. „Denn ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch keine andere Kreatur mag uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus, Jesus ist, unserem Herrn" (Römer 8, 38 f.). 235 FÜNFTES KAPITEL DIE CHRISTLICHE BOTSCHAFT AN DEN MENSCHEN DES SÄKULARISMUS UMRISSE EINER NEUEN PREDIGTGESTALT Geschichte und Heilsgeschichte Wir leben in einer Zeit der Rohstoffknappheit ohnegleichen. Die Maschinen unserer verarbeitenden Industrie drohen leerzulaufen, weil man ihre Schlünde nicht genügend füttern kann. Es gibt nur e i n e n Berufszweig, der mit einem Übermaß an Rohstoffen beschenkt ist und von der Überfülle schier bedrängt wird: das ist der Beruf eines Predigers und Lehrers der Kirche. Ich spreche nicht davon, daß diese Zeit mit ihren apokalyptischen Enthüllungen der Welt-Hintergründe eine Art „zweiter Offenbarungsquelle'4 neben der Bibel sei. Wenn wir als biblische Christen nicht schon genügend darüber belehrt wären, daß es diese „geschichtliche" und „zeitgeschichtliche" Offenbarungsquelle nicht gibt, müßten wir's heute erfahren. Not lehrt nicht nur beten, sondern auch fluchen. Not und Heimsuchungszeiten bringen nicht nur ein Aufpflügen der Herzensäcker mit sich, sondern gleichzeitig (und zahlenmäßig gesehen sogar v i e l f ä l t i g e r ) eine Verhärtung. Das lehren die Plagen und Schreckenszeiten der Offenbarung Johannis, von denen es in beklemmender Monotonie immer wieder heißt: „Sie taten n i e h t Buße", sie sinken nur tiefer in dä 236 monische Verstrickungen hinein (Öffb. Joh. 9,20; 16, 9. Ii. 21). Deshalb ist die Geschichte keine Offenbarungsquelle, sondern nur Rohstoff zu einer solchen. Und zwar möchte ich sagen: „Rohstoff" ganz im Sinne der aristotelischen- prote hyle, d. h. der Ur-Materie, die noch ganz ohne Formung, die geradezu „Chaos" ist. Daß die Geschichte selber nur ein derartig unförmiger Rohstoff der wirklichen Gottesgeschichte und ihrer Offenbarungen ist, erkennen wir ja auf Schritt und Tritt: Wir beobachten Menschen um uns her, denen wir Klugheit, Scharfblick, Bildungsniveau und ernsthaften Willen zur Objektivität nicht absprechen können. Aber das, was faktisch in der Zeit vorgeht an Gericht und Heimsuchung und Gnadenverheißung, kurz an G o t t e s - Geschichte, ist ihnen restlös verborgen. Darum ist der äußere Geschichtsverlauf — und dazu rechne ich auch die Geistesgeschichte —, mit, in und unter dem sich diese GottesGeschichte vollzieht, trotz aller geistvollen Deutungen und Zusammenschauungen für sie ein undurchdringliches Chaos, dem letztlich jede Sinnhaftigkeit von Gott her mangelt. Sie sehen etwa in der Heimsuchungszeit des Krieges nur Machtkämpfe, sie sehen nur das Thema „Ölquellen" oder „Lebensräume" oder „Absatz- und Einkaufsmärkte" zur geschichtlichen Diskussion gestellt. Sie sehen höchstens noch ' „Schicksal" und „Glück" in dem verdämmernden Bühnenhintergrund der Welt, von dem sie noch eben eine verschwommene Impression zu empfangen meinen. Bei dieser Art des Zuschauens und des Vor-den-Kulissen-sitzens kommt das, was Gott uns in den Schrecken der Zeit an die Hand gibt, aus dem Stadium des Rohmaterials nicht heraus. Kant hat bekanntlich gelehrt, daß die gegenständliche Erscheinungswelt, wie sie unsern Sinnen entgegentritt, ein Produkt sei aus der Materie des „Dings an sich" und unsern sub 237 jektiven „Kategorien" (Raum, Zeit und Kausalität), die formende Kraft besitzen und aus dem Chaos der Ding-an-sich-Materie festumrissene Gegenstände formen. Genau dasselbe erleben wir heute auf geistigem und geistlichem Gebiet : Wer nicht d i e K a t e g o r i e d e s A p o k a l y p t i s c h e n besitzt, so sagten wir schon, d. h. wer nicht die Kategorien „Gericht" und „Gnade" und „Heimsuchung" besitzt, dem ist der Zugang zu den Hintergründen und damit zur Eigentlichkeit der Zeit verschlossen und der kann das dargebotene „Material" nicht zur Heimsuchungsordnung der Gottesgeschichte verarbeiten. Die Gemeinde des Herrn ohne den Prediger des Evangeliums gleicht einer Herde ohne Hirten. Die Geschichte ohne die Predigt von Gesetz und Evangelium ist ein undurchdringliches Chaos. Das lehrt das A l t e T e s t a m e n t : Die Heilsgeschichte des. Alten Bundes mit den Ureltern, den Erzvätern und dem Volke Israel ist „an sich" k e i n e Offenbarung. Sie ist nur das Material dafür. Sie ist „an sich" das Ewig-Leere, das sich — nach des Mephistopheles Wort und also aus der teuflischen Perspektive gesehen—sinnlos im Kreise dreht. Sie ist das, was wir prote hyle nannten. Offenbarung w i r d , diese Geschichte erst dadurch, daß "Christus im Fluchtpunkt der alttestamentlichen Perspektive steht und daß sie von den Propheten und von den Geschichtsschreibern des Alten Bundes auf diesen Fluchtpunkt hin ausgelegt wird. G e s c h i c h t e w i r d z u r Offenbarung, zur Heilsgeschichte, nur durch A u s l e g u n g . Heilsgeschichte ist a u s g e l e g t e Geschichte. Alle andere Geschichte ist e n t w e d e r Chaos sinnloser Materie, also bloßer „Rohstoff". O d e r aber der Mensch bemächtigt sich ihrer durch eigenmächtige Deutung und macht sie illegalerweise zu einer Heilsgeschichte innerhalb der Grenzen der Profanität; er macht sie zur illegalen Offen 238 barungs-Quelle und damit zu einem Element des Aufstandes : Außerhalb der Offenbarung gibt es nur N i h i l i s i e r u n g (prote hyle)*) o d e r D ä m o n i s i e - r u n g der Geschichte. Wir werden noch sehen, wie sich von dieser theologischen Beobachtung aus die entscheidenden Gesichtspunkte für unsere heutige Verkündigungsaufgabe ergeben. Darf ich das Verhältnis von geschichtlichem Rohmaterial und formender Auslegung, die ihrerseits erst Geschichte s c h a f f t , noch an einem Beispiel erläutern : Vor einiger Zeit hat ein befreundeter Religionslehrer vor der Tertia eines Gymnasiums einmal, nichts anderes getan, als nur die synoptische Apokalypse vorgelesen, Matthäus-Evangelium Kap. 24. Die Lesung dieser so „unjugendlichen" Stelle, bei der man in früheren Zeiten vermutlich Disziplinschwierigkeiten erlebt hätte, war von einer geradezu atemlosen Stille begleitet. Nach einer Pause tiefster Beeindruckung gab die Klasse ihr erstes Lebenszeichen von sich mit den laut vor sich hingesprochenen Worten eines Jungen: „Armes Deutschland." Hier ist in prägnantester Kürze d a s Ereignis geworden, was ich soeben als theologischen Vorgang beschrieb : Für den Jungen war das, was er an Bombenangriffen erlebt oder über sie gehört hatte, war das, was er mit knabenhaftem Instinkt von den propagandistisch und zivilisatorisch übertünchten Gräbern unserer Zeit gewittert hatte, vielleicht a u c h bis dahin ein undeutbares und für ihn nicht griffiges „Chaos" gewesen. Die menschliche Undeutbarkeit der Zeit und die Antennenlosigkeit der meisten (besonders der jungen) Menschen läßt sie ja gerade in jenen verkrampften Nihilismus fliehen, in dem ihnen sogar schon der A n l a u f zu jeder Sinnfrage verleidet ist. *) D. h. als Aneinanderreihung des äußeren und gleichsam photographierbaren Geschehens. 239 In dem Augenblick aber, wo er sagt „Armes Deutschland", hat das Chaos seiner Hoffnungen und Befürchtungen auf einmal Konturen bekommen. Die synoptische Apokalypse hat auf ihn eingewirkt wie eine Leuchtkugel, die plötzlich über dem undurchdringlichen Dunkel eines nächtlichen Geländes abgeschossen wird und blitzartig Wege, Abgründe und bedrohende Grotten enthüllt. Auf einmal sieht er seine und seines Volkes Geschichte unter dem Lichte Gottes ; zunächst noch nicht unter dem Licht der G n a d e ; sondern zunächst nur unter der Erhellung und Enthüllung durch ein schreckliches Gesetz : aber eben durch das Gesetz G o t t e s , durch das Gericht G o t t e s . Die Flammen über den zerstörten Städten und die bizarr grausigen Häuserruinen · sind ihm auf einmal nicht mehr Menetekel der Sinnlosigkeit und des Schicksalsglaubens; auch die schauerlich zerstörten Straßen haben auf einmal einen Fluchtpunkt ihrer Perspektive bekommen: Das „Ende", das Telos der Heim- und Nachhausesuchungen Gottes. So ist hier durch die Botschaft, in diesem Falle sogar durch die facultas se ipsum interpretandi der Botschaft1), nämlich durch die einfach verlesene Botschaft, aus dem Rohmaterial „ G e s c h i c h t e " auf einmal Heils- und Unheilsgeschichte geworden. Die seelsorgerliche Solidarität Nicht umsonst habe ich als Einfallstor zu unserm heutigen Fragengebiet ein prophetisches Beispiel gewählt. Die Prophétie ist das Urbild der Verkündigung. Sie ist darum auch deren Modell-Tatsache. Die Predigt hat sich an der Prophétie auszurichten. Wenn wir nun, um das Modell-Problem genauer zu studieren, die Frage stellen, w a s denn die Propheten getan haben, *) Die Fähigkeit der Offenbarung, sich selbst auszulegen. 240 so klingt es vielleicht im ersten Augenblick verwunderlich, wenn ich ihre Art der Verkündigung als „Seelsorge" bezeichne. Und doch ist es so. Seelsorge ist durch den G e s p r ä c h s - Charakter bestimmt. Charakteristisch dafür sind die seelsorgerlichen Gespräche Jesu. Ich erinnere nur an den Bericht Matthäus 2i, 23—27: Die Hohenpriester und Volksältesten treten an Jesus heran mit der Frage: Aus was für Macht tust du das, und wer hat dir die Macht gegeben? Jesus antwortet darauf nicht direkt, sondern stellt, wie er's meist tut, eine Gegenfrage und bewirkt so ein G e s ρ r ä c h. Er stellt nämlich die Frage : „Woher war die Taufe des Johannes? War sie vom Himmel oder von den Menschen?" Diese Gegenfrage stürzt seine Gesprächspartner in die größte Verlegenheit. Denn sie müssen nun folgende Überlegung anstellen: „Sagen wir, sie sei vom Himmel gewesen, so wird er zu uns sagen: Warum glaubtet ihr ihm denn nicht? Sagen wir aber, sie sei von Menschen gewesen, so müssen wir uns vor dem Volk fürchten; denn sie halten alle Johannes für einen Prohpeten." Aus diesen bangen und unsachgemäßen Erwägungen bringen sie nichts anderes fertig, als sich in das asylum ignorantiae zu flüchten: „Wir wissen es nicht". Daraufhin verweigert Jesus auch seinerseits die Auskunft über das Vollmacht-Problem. An dieser Geschichte kommt ganz besonders deutlich das Ziel der Seelsorge zum Ausdruck: nämlich zunächst einmal den Menschen zur Selbsterkenntnis zu bringen. Durch die Gegenfrage Jesu sind die Gesprächspartner gezwungen, sich selbst und ihm ihr heilloses Schwanken zwischen Menschenfurcht und Angst vor Buße einzugestehen. Diese Selbsterkenntnis geschieht sozusagen auf sokratische Manier, nämlich so, daß die Menschen sie selber finden müssen, daß also die Wahrheit ihnen nicht als prophetische „Behauptung" von außen entgegentritt, sondern so, daß sie von innen her angeeignet 241 werden muß. Ebenso geht es ja dem Reichen Jüngling, der seine götzendienerische Bindung an den Mammon auch nicht als These gesagt bekommt, sondern der sie dadurch e r f ä h r t und gleichsam selber analysieren muß, daß er n i c h t die Kraft aufbringt, alles zu verkaufen, was er hat. Aber die Seelsorge hat nicht nur Selbsterkenntnis zu bewirken, sondern auch und natürlich die Erkenntnis dessen, was Gott mit uns vorhat und für uns getan hat. Der Mensch erfährt also in der Seelsorge nach der positiven und nach der negativen Seite hin, wer er ist und wo er steht. Selbstverständlich ist es für diesen Vollzug der Seelsorge nicht notwendig, daß auch im f o r m a l e n Sinne ein Dialog vorliegt. Es kann sich äußerlich durchaus um einen Monolog handeln. Auch eine seelsorgerlich ausgerichtete Predigt ist ja äußerlich ein Monolog. Aber innerlich wird es immer um eine Zwiesprache gehen. Das lehren uns die Propheten des Alten Bundes : Sie schildern immer wieder die Zwiesprache Gottes mit seinem Volk, sie arbeiten sehr viel mit Frageund Ausrufesätzen, mit persönlicher Anrede. Warumist dieser Dialogcharakter in der Seelsorge so wichtig? — Weil sich im seelsorgerlichen Dialog die beiden Gesprächspartner zur Solidarität zusammenschließen, vornehmlich zur Solidarität der „Sünder" und der von Gott „Heimgesuchten". Die Propheten rufen das Volk ja nicht aus einer anfechtungsfreien Etappe her an, sondern sie stehen mit dem Volk solidarisch in den vordersten Gräben der Versuchungen und Anfechtungen. Sie sind zwar Prediger in der Wüste voller Einsamkeit. Aber sie stehen eben m i t in der Wüste. Diese Solidarität wird klar an den Berufungsvisionen von Jesaja und Jeremía. Sie sind nicht kraft eigener Qualität dem irregeleiteten Volk entnommen, sondern kraft göttlicher Berufung. Sofern sie nicht auf die Berufung, sondern auf sich selbst blicken, wissen sie um ihre U n w ü r d i g k e i t : „Herr, 242 ich bin unreiner Lippen." Und man könnte den zentralen Satz von Luthers Rechtfertigungslehre auf sie anwenden: Cor accusator, Deus defensor1). Der Seelsorger redet a u s den Abgründen (in die er ebenfalls gerissen ist) i η die Abgründe h i η e i η — allerdings so, daß er den Zugang nach oben und den Regenbogen der Versöhnung darüber gespannt sieht, den die andern n i c h t sehen, n o c h nicht sehen. Aus dieser Solidarität mit dem Volk in der Tiefe ergibt sich der Dialogcharakter. Der neutestamentliche locus classicus für die Wirklichkeit der Solidarität ist Hebr. 4, 15 : „Wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht Mitleiden haben könnte mit unserer Schwachheit, sondern der. versucht ist allenthalben gleichwie wir, doch ohne Sünde." Daß Jesus als Hoherpriester unser Seelsorger ist, beruht also darauf, daß er an der Solidarität unserer Versuchlichkeit teilnimmt, daß er die „Etappe des Himmels" verlassen hat und an unsere „Front" gekommen ist. Um seines M i t l e i d e n s willen glauben wir ihm. Man kann das in der Seelsorge an Sterbenden beobachten: Der größte Trost in der letzten Stunde ist vielleicht nicht einmal der, daß Jesus die feindliche Todesmacht überwunden und als österlicher Fürst das Grab gesprengt hat — obwohl nur von da aus aller andere Trost gültig gemacht wird —; sondern der greifbarste und auf ein einziges Stichwort zu bringende Trost ist doch der, den Paul Gerhardt in seinem Passionslied ausspricht: „Wenn ich einmal soll scheiden", dann wird e r eben n i c h t von mir scheiden; oder in seinem Osterlied der Trost, daß ich in Hölle, Sünde und Welt, in Not und Tod, stets der „Geselle Jesu" bleibe und darum ( d a r u m ! ) auch gewiß sein darf, daß er mich bei seinem Sieg über den letzten Feind als seinen Gefolgsmann bei sich behalten wird. Daß diese Solidarität im Tode und in den Abgründen wirklich in Kraft ist, ergibt sich freilich nur von Ostern her, nämlich von l) Das Gewissen mein Ankläger, Gott mein Verteidiger. 15 T h i e l i c k e , Fragen des Christentums. 225 da her, daß Jesus j e t z t lebt und deshalb ( d e s h a l b ! ) den Gang durchs dunkle Tal mit mir antreten kann. Aber es ist charakteristisch, daß für die Kirchenlieder ja auch die österliche Todesüberwindung von der Solidarität her interpretiert wird : „Lässet auch ein Haupt sein Glied, welches es nicht nach sich zieht?". D e r e v a n g e l i s c h e scopus an Karfreitag und Ostern ist die S o l i d a r i t ä t . Man könnte auch sagen: Dieser scopus besteht darin, daß Jesus der mit-leidende Seelsorger ist. Das ist zugleich auch die christologische Mitte der Rechtfertigungslehre des Paulus : m i t Christus sterben und auferstehen. Man könnte sagen : Das Wort „mit" sei das Evangelium, auf die kürzeste Formel gebracht. Die Mitte des Evangeliums ist also „Seelsorge". Ich möchte allen Wert darauf legen, daß wir zu Beginn d i e s e seelsorgerliche Mitte des biblischen Denkens herausstellen. Ich halte es für sehr wesentlich zu betonen, daß das Stichwort „seelsorgerliche Predigt" nicht gegeben wird als Ausdruck für eine neue Predigt-,, Methode", die man nun a u c h einmal versuchen müsse und die insbesondere „zeitgemäß" sei. Wir gehen hier in der ausdrücklichsten Weise nicht von m e t h o d i s c h e n Erwägungen, sondern von einem s a c h l i c h e n Faktum aus. Die Predigt an der prophetischen Rede orientieren heißt, sie als S e e l s o r g e verstehen. Vielleicht ergibt sich daraus a u c h — eine neue M e t h o d e . Vor allem aber ist damit der entscheidende Impuls i n m i t t e n aller möglichen Predigtmethoden gegeben. Ich möchte mich nun daran machen, den Gedanken der seelsorgerlichen Predigt nach verschiedenen Gedankenrichtungen hin zu entfalten: A. nach den sachlichen, B. nach den methodischen Problemen hin. 244 Α. DIE SACHLICHEN PROBLEME /. Noch einiges %ur theologischen Begründung: Ich sagte bereits: Jede Predigt ist ein heimlicher Dialog, gerade wenn wir sie als seelsorgerliche Rede verstehen. Ehe aber dieser Dialog zwischen uns und der hörenden Gemeinde stattfindet, muß er zuvor in uns selber stattgefunden haben: Die Predigt wächst hervor aus einem Selbstgespräch des geistlichen Menschen in uns mit dem natürlichen Menschen in uns. Wir selber treten mit unsern Fragen, unserer Hilflosigkeit, unserer Sünde, sozusagen in einer Art priesterlicher Stellvertretung für die Gemeinde, unter das Wort und lassen uns anrufen. Es ist viel zu kurzschlüssig gedacht, wenn man die Predigt einfach versteht als Weitergabe des göttlichen Wortes durch ein schwaches menschliches Werkzeug, als Weitergabe also in menschlicher Gebrochenheit. Zweierlei ist daran falsch: Einmal ist damit das Predigtproblem aufs Gebiet des E r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e n abgedrängt : das „reine" Wort Gottes wäre danach nicht vernehmbar und erkennbar, weil das menschliche Medium mit seinen Fehlerquellen dazwi-schengeschaltet ist. Die Wahrheit Gottes läge also in einer dritten Dimension, die uns unzugänglich wäre, nämlich in einer Dimension jenseits der menschlichen Gebrochenheit des Gottesworts. Ich brauche nicht zu sagen, warum dieses Denken theologisch unmöglich ist. Die Predigt ist nicht Rekapitulation einer Botschaft, die man nur mit halb ertaubtem Ohr und von vielen Nebengeräuschen entstellt vernommen hätte, sondern sie ist Vergegenwärtigung, repraesentatio von Gesetz und Evangelium, und insofern nicht r e f e r i e r e n d e s Wort (mit aller belasteten Indirektheit eines Referates), sondern v o l l z i e h e n d e s , g e s c h e h e n d e s Wort. Der andere Irrtum ist ähnlich. Er besteht darin, daß man 15* 245 sich den Vorgang des Predigens rein statisch' vorstellt: Der Predigerist ein Prisma, das den Strahl des Gottes worts bricht. Wir stehen damit zum Worte Gottes in einem zeitlosen Bezug der Indirektheit. Beides, das Erkenntnistheoretische und das Statische, stimmt nicht. Vielmehr liegt bei der Ermächtigung zur Predigt ein V o r g a n g vor, ein actuosus-Sein Gottes (Luther) : I c h w e r d e i n D i e n s t g e n o m m e η. Was ich auf die hörende Gemeinde hin sage, ist nicht das Produkt aus Gotteswort und menschlichem Medium, ist nicht die Zerlegung des göttlichen Lichtstrahls im Prisma meiner Predigerpersönlichkeit, — woher sollte man dann noch den Anspruch nehmen, in Vollmacht auf die Kanzel zu treten? —; sondern das, was ich der hörenden Gemeinde sage, ist die Spiegelung des Vorgangs, mit dëm ich selbst von Gott in Dienst genommen bin. Die Heilsgeschichte, die sich in jeder Predigt vollzieht (!), ist die Wiederholung der Heilsgeschichte, die Gott mit mir selber eingegangen ist. Oder mit unserer Ausgangsthese dargestellt: Der in der Predigt waltende seelsorgerliche Dialog mit den Hörern ist nichts anderes als die Darbietung jenes vorangegangenen Dialoges, den der geistliche Mensch mit dem natürlichen in mir geführt hat. Ich bin der A n sprechende, weil ich der Ange s ρ r o c h ene bin. Gott in der Predigt bekennen, heißt nicht, den Gott „an sich", sondern den Gott „für mich" bekennen. Christum bekennen, heißt seine beneficia (Wohltaten) bekennen, wenn ich das bekannte Wort Melanchthons so abwandeln darf. Gott bekennen heißt ganz entsprechend, eine G e s c h i c h t e bekennen, und zwar eine Geschichte, in die ich selber berufen bin. Eine Objektivität der Predigt, abgesehen von dieser Geschichte, die zugleich eine persönliche Geschichte ist, gibt es nicht. (Das müßte man manchen Barthianern gegenüber betonen.) Das Bibelwort „an sich" in einer sogenannten sachlichen Objektivität bekennen wollen, heißt nicht, daß ich meine Subjekti 246 yität ausschaltete (ganz abgesehen davon, daß es das ü b e r h a u p t nicht gibt; Haendler hat das in seinem lehrreichen, wenn auch theologisch in vielem anfechtbaren Buch1) über die Predigt eindrücklich gezeigt); sondern es heißt, den Gott der Geschichte leugnen. Es ist deshalb nicht Verleugnung der Subjektivität, sondern Frevel an der geschichtlichen Objektivität Gottes.. Nehmen wir aber das Selbstgespräch des geistlichen mit dem natürlichen Menschen, nehmen wir die Geschichte Gottes mit uns ernst, dann stoßen wir wieder auf die s e e l s o r g e r l i c h e P o i n t e d e r P r e d i g t , nämlich auf unsere Solidarität mit dem Hörer, gleichgültig, ob wir es mit einer traditionell gewachsenen oder mit einer Missionsgemeinde zu tun haben : Wir stehen mit ihr in der Solidarität des natürlichen Menschentums, das herausgerufen wird. IL Die Gegenwartsbegründung Für den Seelsorger ist es wichtig zu wissen, wo sein Gegenüber steht und wonach es sich sëhnt. Das ist zunächst nicht aus t a k t i s c h e n Gründen wichtig, d. h. nicht wichtig aus der Erwägung heraus, wie er nun da „anknüpfen" könne. Dies taktische Anknüpfen-wollen ist, wenn es die primäre Bewegung des Seelsorgers darstellt, ein fremder Ton — nicht nur im theologischen, sondern auch im menschlichen Sinne. Es hat nur zu oft zur Folge, daß die Türen, die durch jene Erwägung geöffnet werden sollten, versperrt werden, daß man nämlich die „Absicht" fühlt und „verstimmt" ist. Nein: daß der Seelsorger wissen muß, wo der andere steht und wonach er sich sehnt, ist vor allem wichtig aus Gründen der Kommunikation (= Gemeinschaftsherstellung). Es genügt nämlich nicht, wenn ich mir ζ. B. sage : „Wir sind allzumal Sünder". Das ergibt in dieser Allgemeinheit x) Haendler, Die Predigt. 247 nur eine abstrakte Scheingemeinschaft; genau so, wie es ein abstraktes Scheinbekenntnis ist, wenn ich mich nach den weithin geltenden Beichtformularen in der bekannten pauschalen Form als Sünder bekenne und wenn ich diesem pauschalen Bekenntnis nicht eine sehr individuelle Beichtvorbereitung im Kämmerlein vorangehen lasse. Wenn Goethe ζ. B. in einem bekannten Wort sagt, es gebe keine Scheußlichkeit und kein Vergehen, zu dem er nicht in sich selbst die Anlage entdecke, dann hat er dieses Wort auf einen ganz bestimmten Anlaß hin, nämlich unter dem Eindruck bestimmter menschlicher Scheußlichkeiten, gesprochen. Da auf einmal erkannte er eine untergründige Kommunikation mit den Entgleisten seiner Menschenbrüder. . Genau so muß ich mir als Prediger klarmachen, wo meine Hörer stehen und wonach sie sich sehnen (wobei es selbstverständlich nicht die Aufgabe der Predigt sein kann, vorhandene Sehnsüchte einfach zu erfüllen und vorgegebene Fragen zu beantworten). Ich muß das Unmaß an Lebensangst, Schuld und Herzeleid, ihre Sehnsucht nach Liebe und Lebenserfüllung und all das andere, auch das, was ζ. B. der Film vom Menschenherzen enthüllt, an mir durchmachen und mir darüber klar werden, weil dies alles an dem gleichen Ort geschieht, an dem auch i c h stehe. Ich mache manchmal in diesem Sinne einen „theologischen Spaziergang", einen Meditationsgang über die Stuttgarter Königstraße und suche in den vielen anonymen Gesichtern zu lesen: Jedes Leben hat eine Achse, um die es schwingt, hat unerfüllte Sehnsüchte und heimliche Ängste, hat böse und gute Träume, ist verfallen an Leidenschaften und nichtig geworden in der Zentrifugalkraft von Betrieb und Zerstreuung. Es sind genau die Abgründe, an denen und in denen auch m e i n Leben gelebt wird. Man braucht nicht ständig nach „Anknüpfung" zu suchen, wenn man ständig aus diesem Wissen um die Kommunikation, aus dieser eingeübten Solidarität heraus lebt. 248 Danach sehnt sich auch der Mensch — und wie ich zu sehen meine: gerade der h e u t i g e Mensch. Er glaubt nur d e m ein Gerichtsund Gnadenwort, der m i t ihm im vordersten Graben steht, der seinen Alltag kennt und vor allem l e b t und der d e s h a l b (und nicht etwa, weil ihm ein besonderes Gassen-Vokabular zur Verfügung stände) auch seine Sprache spricht. Für alles dies ist eine gewisse Erscheinung charakteristisch, die ich als „Seelsorge im Eisenbahn-Abteil" bezeichnen möchte. Wir erleben es immer wieder, natürlich ganz besonders auf dem harten Holz der dritten Klasse, daß die Menschen zu ihren Abteil-Nachbarn über alles sprechen, was sie bewegt, gerade auch über das, was sie an N ö t e n bewegt. Was wollen sie damit erreichen? Zweifellos erwarten sie nicht ein lösendes Wort, das ein weisheitsvoller gütiger Ratgeber ihnen von der gegenüberliegenden Bank her gäbe. Sie rechnen gar nicht mit irgendeiner Vollmacht, die rettend in ihre Lage bräche. Sie möchten nichts anderes, als nur einfach die Stimme oder das mittragende Schweigen des Menschenbruders dazu hören. Das genügt. Es ist die Sehnsucht nach der Solidarität, die in dieser ganz primitiven seelsorgerlichen Lage aufbricht. Und gerade weil der viel zitierte „kleine Mann" sie hier zu finden hofft, geht er oft genug nicht zum kirchlichen Seelsorger, bei dem er sie n i c h t zu finden befürchtet. Dasselbe wird deutlich an der gegenwärtigen Bedeutung der P s y c h o t h e r a p i e . Bekanntlich hat der Nervenarzt, auf die große Zahl gesehen, weitaus den Vorzug vor dem Seelsorger. Der Mensch sucht beim Psychotherapeuten vielleicht nicht primär Trost oder Lösung, sondern er sucht zunächst einmal - gleichsam als Vorbedingung alles Weiteren — S o l i d a r i t ä t . (Der psychisch Kranke ist immer auch einsam)1). Denn 1) Mit diesem Einsamkeits- und Ausgeschlossenheitsgefühl hängt es wohl auch zusammen, daß der Patient dem Arzt gegenüber zur Hörigkeit 22T er erwartet von ihm Subsumption seiner Komplexe und Nöte unter allgemeine Gesetze, d. h. unter die gleichen Gesetze, unter denen die andern auch stehen. Die säkulare Psychotherapie arbeitet ja auch gegenüber den Schuldkomplexen nicht etwa mit der V e r g e b u n g , mit der a u ß e r h a l b des Schuldzusammenhangs stehenden „fremdenGerechtigkeit" („Christi Blut und Gerechtigkeit, das ist mein Schmuck und Ehrenkleid . . ."), sondern sie arbeitet damit, daß sie dem Menschen die Herkunft seiner Komplexe erläutert (Kindheitserinnerungen u. ä.), daß sie also die normalen Ursprünge der anormalen Erscheinungen aufzeigt und. dadurch die Solidarität mit dem normalen Menschen sichtbar macht. Der Patient lernt sich in der Solidarität der psychischen Entwicklung mit den andern Menschen sehen. Es ist dieselbe Entwicklung wie bei den andern. Nur war die Konstellation der einzelnen sie bedingenden Faktoren so, daß sie ein pathologisches Erscheinungsbild zeitigten. Indem man aber nicht auf das krankhafte E r g e b n i s dieses Prozesses sieht, das den Menschen als anormal aus der Gemeinschaft der „Normalen" ausschließt, sondern indem man den Prozeß selbst und seine bewegenden Impulse verstehen lernt, lernt man begreifen, wie alles so kommen „mußte", wiè das Anormale so mit „normaler" und gleichsam „natürlicher" Notwendigkeit entstehen mußte, und wie man also keineswegs aus der Solidarität mit den psychischen Prozessen aller andern Menschen herausfällt. Die Psychotherapie arbeitet dementsprechend auch viel weniger mit E i n g r i f f e n als mit A n a l y s e n , d. h. mit Aufzeigen von Tatbeständen, die der Mensch solidarisch mit allen andern Menschen teilt, und die nur für sein Selbstverständnis durcheinandergeraten sind und damit pathologische Verwirrung und Orientierungslosigkeit schufen. Das einzige also, was die neigt. Denn der Arzt ist der einzige, der die Region der Einsamkeit des Patienten betritt und deshalb von ihm als jemand erlebt wird, der sie mit ihm teilt. 250 Analyse tut und was der Mensch bei ihr sucht, ist dies, daß sie dem Menschen die U n v e r s t ä n d l i c h k e i t bestimmter (etwa neurotischer) Phänomene durch Analyse nimmt,, daß sie also dem Menschen die Einsamkeit nimmt, in die ihn die Unverständlichkeit stürzte und ihn wieder den Gesetzen einordnet, die „allgemein" gelten. Es ist folglich die Sehnsucht nach Solidarität, nach „Verstandenwerden", die sich in der Sehnsucht nach dem Therapeuten ausdrückt. Diese Sehnsucht läßt sich auch noch anders beschreiben, und zwar so, wie wir es früher versuchten: daß nämlich der Mensch sich danach sehnt, j e n s e i t s v o n G u t u n d . B ö s e b e h a n d e l t z u w e r d e n . Auch das läßt sich jetzt noch von einer neuen Seite her erkennen: Gerade der kirchenfremde Mensch nimmt an, daß seine Gewissensskrupel und Schuldkomplexe vom kirchlichen Seelsorger „von außen" angepackt werden, d. h. so, daß der kirchliche Seelsorger auf dem Richterstuhl, dem Bußpredigerstuhl, sitzt und der psychisch Kranke auf der Anklagebank. So falsch diese Anschauung ist, so wichtig ist sie für die Erkenntnis dessen, was der heutige, oder soll ich besser sagen: der „natürliche" Mensch will: er möchte „gut" und „böse" neutralisieren, möchte es von der ethischen und religiösen Ebene auf die Ebene der Spannung zwischen gesund und krank verlagern. Er 'fürchtet — deshalb erwähne ich das —, vom kirchlichen Seelsorger ausgestoßen, aus der Solidarität ausgeklammert zu werden, während er durch die Neutralisierung der Schuld in der Solidarität der „anständigen" Menschen zu bleiben hofft. Er ahnt dabei ganz mit Recht, daß Schuld in die Einsamkeit und in das Ausgestoßensein stürzt. Aber er meint mit Unrecht, daß er diese Ausgestoßenheit durch Neutralisierung statt durch Vergebung der Schuld überwinden könnte. Das sind einige t h e o l o g i s c h e Aspekte des NervenarztProblems, die uns jedenfalls e i n e s zeigen können: wie stark die Sehnsucht des Menschen nach seelsorgerlicher Solidari 251 tät ist, daß er also wirklich so etwas hat wie Witterung für Seelsorge, und wie er diese Wünsche nur dazu benutzt, um sich mit Hilfe des Arztes an den eigentlichen Lebensentscheidungen vorbeizudrücken. Sicher hat die Hauptschuld an diesem Mißstand der Mangel an Solidarität in der kirchlichen Seelsorge. Diesen Mangel meint wohl der säkulare Mensch, wenn er die Scheu vor dem kirchlichen Seelsorger mit dessen angeblicher „Weltfremdheit" begründet und wenn er argumentiert: „Er versteht mich nicht." Er will mit diesem unglücklichen Wort sagen: der Mann steht „außerhalb". Er hat kein Mit-leiden, sondern er hat nur von außen herangetragene dogmatische Formeln. Sofern er erfährt (aber durch wen soll er das als Außenstehender im Augenblick erfahren?), daß das Pfarrhaus wirklich nicht mehr auf einem idyllischen und weltabgeschiedenen Eiland steht, und daß der Pfarrer noch etwas anderes zu tun hat als im Schlafrock seine ebenso idyllische Pfeife zu rauchen und lächelnd seinen Bienen zuzusehen, deren Honig die Pfarrmagd verarbeitet — ich sage: sofern er erfährt, wie anders die Realität der „theologischen Existenz" in praxi aussieht, würde er sein Vorurteil revidieren müssen, wenn freilich auch sein H a u p t Vorurteil, nämlich der Wille „jenseits von Gut und Böse" behandelt zu werden, davon unberührt bleibt. Daß das, was ich über diese Frage ausführte, wirklich nicht alles ist, was man über den Nervenarzt zu sagen hat, vor allem auch nicht alles, was p o s i t i v über ihn zu sagen ist, ist ebenso selbstverständlich wie dies, daß bei dem Gesagten auch das Bild des kirchlichen Seelsorgers nur in der Karikatur erschienen ist. Aber ich denke, der e i n e Punkt, auf den es mir ankam, nämlich das Problem der seelsorgerlichen Solidarität, um die es sowohl im kirchlichen A n g e b o t zu gehen hat und um die es in der gegenwärtigen N a c h f r a g e zweifellos geht, ist genügend klar herausgekommen. 252 III. Konkrete Aufgaben: Die „geschichtliche" Predigt Nur angeeignete Wahrheiten können gepredigt werden Nach diesen grundsätzlichen Erwägungen kommen wir immer mehr in die konkreten Forderungen hinein. Der Prediger muß diese seelsorgerliche Solidarität nach einer doppelten Richtung erkennen lassen: n e g a t i v insofern, als er nicht h i s t o r i s i e r e n d , p o s i t i v insofern, als er g e s c h i c h t l i c h predigt. a) Die Unmöglichkeit der „historischen" Predigt. Was den negativen Teil der genannten These anbelangt: daß nämlich der Prediger nicht historisierend sprechen dürfe, so hat Schleiermacher hier ein bleibendes und gültiges Korrektiv in die Theologie hineingetragen^1). Schleiermachers durchgängiges AnHegen, sowohl in seinen „Reden über die Religion" wie in seiner „Glaubenslehre", ist es, vom christlich frommen Selbstbewußtsein auszugehen (in den „Reden" sogar nur vom f r o m m e n und a l l g e m e i n - religiösen Selbstbewußtsein), also von der S u b j e k t i v i t ä t des Menschen. Dabei leitet ihn die Absicht, zunächst noch ganz unabhängig von transzendenten, scheinbar von außen herangetragenen Dogmen und von den ebenfalls draußen stattfindenden Fakten der historischen Erscheinung „Christentum" zu z e i g e n , daß es sich in der Religion um- ein Geschehen oder besser um ein E r 1 e b η i s - Geschehen handelt, das durch den M e n s c h e n hindurchgeht, ja sogar . im Menschen seinen eigentlichen O r t hat. In dieser religiösen Subjektivität sieht Schleiermacher den Ort der Solidarität mit den Gebildeten unter den Verächtern der Religion. Es ist selbstverständlich leicht für uns, über diesen Ansatz im Subjektivismus die Nase zu rümpfen. Es ist fast zu leicht. x) Es ist mir eine Genugtuung festzustellen, daß Ewald Burger in seinen Nachlaß-Gedanken das ebenfalls herausstellt. 253 Denn Gott hat in der Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts diesen subjektiven Ansatz zu einem grausigen Selbstgericht geführt. Und schließlich ist der Mythos des 20. Jahrhunderts sein vorletzter Ausläufer, während der letzte das nihilistische Vakuum der völlig ausgehöhlten und von ihren transzendenten „Zufuhren" abgeschnittenen Subjektivität ist. Dennoch bleibt das Ausgangsinteresse Schleiermachers ganz unabhängig von seiner verhängnisvollen Verwirklichung bestehen: Der hörende Mensch muß merken, daß ich nicht eine bloß außerhalb meiner befindliche Wirklichkeit (historische Fakten, dogmatische Metaphysik) predige, sondern daß das alles eine Verbindung mit mir eingegangen ist, daß ich in die Geschichte b e r u f e n bin, deren Objektivität ich verkündige, daß ich also das extra me stattfindende Heilsgeschehen mir als m e a res angeeignet habe und daß ich den Hörer aufrufe, diese Aneignung n a c h z u v o l l z i e h e n . Das Evangelium hat es nicht mit „dem" Herrn und Heiland, sondern mit „meinem" Herrn und Heiland zu tun. In d i e s e m Sinne ist Schleiermachers Absage an den Historismus als das extra me Bleibende zu verstehen, jene Absage, bei der er dann so verhängnisvoll über das Ziel hinausschießt : Es geht ihm darum, den Ort zu finden, wo alle Menschen, die Anbeter und die Verächter, solidarisch sind. Er hat dabei richtig gespürt, daß diese Solidarität nicht nur in einer Gemeinsamkeit v o r Gott („Wir sind allzumal Sünder"), sondern auch in der Gemeinsamkeit dessen besteht, worin wir mit unserer ganzen Existenz (und also a u c h mit unserer Subjektivität) an der Geschichte beteiligt sind, in die uns Gott beruft. Daß Schleiermacher beim Versuch, dieses Anliegen zu sichern, in den objekt-gelösten Subjektivismus hinabgleitet (wenn er sich auch in der Glaubenslehre und besonders in den Predigten bemüht, den Anschluß an die Heilstatsachen wieder zu gewinnen), ist nicht zuletzt darin begründet, daß die Orthodoxie dem G e g e n t e i l verfallen war, nämlich dem unpersönlichen Extra me, der 254 „Historisierung" — und daraufhin nun in Schleiermacher das Pendel nach der entgegengesetzten Seite ausschlug. So ist es in der Theologieund Kirchengeschichte immer gewesen: Die Historisten, Orthodoxen und Scholastiker haben sich immer die Schwärmer und Subjektivisten herangezogen — natürlich auch umgekehrt. Wir werden durch dieses Selbstgericht der Dogmengeschichte auf ein grundlegendes Faktum theologischer Entwicklung ü b e r h a u p t verwiesen. b) Zum p o s i t i v e n Anliegen unserer These (daß nämlich die seelsorgerliche Solidarität nur in der g e s c h i c h t l i c h e n Predigt verwirklicht werden könne) ist zu sagen : Nur d i e Wahrheiten, die man nach einem Wort von Joseph Wittig „durchgemacht" hat, von denen ich überwunden worden bin, können von mir in Vollmacht weitergesagt werden. In unserer Begrifflichkeit können wir sagen : nur d i e Wahrheiten, über die das Gespräch zwischen dem geistlichen und dem natürlichen Menschen stattgefunden hat und in dem sich der natürliche Mensch hat ergeben müssen. Unsere Predigt muß B e k e n n t n i s sein. Wir müssen uns hüten, über Dinge zu reden, die wir noch nicht „durchgemacht" haben oder die wir im Verkündigen durchzumachen hoffen — es sei denn, daß wir diese Bereiche unserer Botschaft deutlich hörbar als etwas herausstellen, das noch „mit unerforschtem Busen" über uns und abseits' von uns steht. Gerade das Bekenntnis, daß wir in dieser oder jener Glaubenswahrheit noch im Vorhof. stehen, daß wir vielleicht nur den „Hut vor ihr abnehmen" können und „vorübergehen" müssen (Luther sagt das von manchen ihm noch dunklen biblischen Büchern), ohne daß wir schon etwas Eigenes über sie zu sagen vermöchten, macht diese Wahrheit glaubwürdiger, als wenn wir sie unpersönlich verschleudern. Hermann Klugkist Hesse berichtet ganz in diesem Sinne von der Predigttätigkeit des jungen Hermann Friedrich K o h l b r ü g g e nach dessen Bekehrung: „Es gehörte wahrlich nicht zu dem Gewohnheits 255 mäßigen in der Kirche, daß ein Prediger nach der Verlesring des Textes (über Christus in Gethsemane) in Ehrfurcht vor dem Bibelwort erklärte, er habe noch nicht die Einsicht in die Leiden des Erlösers, um es würdig der Gemeinde vor Augen zu stellen; daß er um Geduld bat — doch was Gott aus Gnade ihm gegeben habe, wolle er gern mitteilen." (H. K. Hesse, H. F. Kohlbrügge, Wuppertal-Barmen 1935, S. 57.) Es ist zudem ja eine alte Erfahrung der Kirche, daß es biblische Wahrheiten und ganze Bibel - B ü c h e r gibt, die nicht nur einzelnen Christen, sondern ganzen Zeiten verschlossen bleiben können; Bücher, in welche die Kirche erst allmählich hineinwachsen muß, während sie dann über diesem Wachstums-Prozeß wieder andere beiseitelegt — nicht weil sie ihr zu klein geworden wären, sondern weil immer wieder der Lichtkegel der geistlichen Erkenntnis ein anderes Einfallstor zur Schrift streift. Man braucht nur einmal an die Geschichte der Römerbrief-Auslegung zu denken, um das zu verstehen: im 16. Jahrhundert sah Luther dieses Schlüsselbuch zur Heiligen Schrift plötzlich in einem Lichtkegel Gottes liegen, während es vorher Jahrhunderte im Dämmerlicht vegetiert hatte. Umgekehrt hatte Luther zur Offenbarung Johannis und ihrer apokalyptischen Geschichtsschau kein rechtes Verhältnis, während wir heute dieses letzte Buch wie einen Berggipfel über die Alpenmassive des biblischen Panoramas emporragen und nach Jahrhunderten der Vernebelung plötzlich in der Sonne liegen sehen. Predigt und Propagandarede Man darf außerdem niemals vergessen, daß wir in einem Zeitalter der P r o p a g a n d a leben. Propagandatreiben heißt zweckbestimmt und effekthaschend reden, ohne daß damit im geringsten gesagt ist, daß der Redner selbst daran glaubt. Er muß unter Umständen von Silberstreifen am Horizont schwärmen, während sein eigener Galgen schon ge 256 zimmert wird. Er muß nach Strich und Faden Geschichte, klittern können, auch wenn er keineswegs auf seinen eigenen historischen Kopf gefallen ist, sondern humoristisch oder auch zynisch lächelnd um die wahren Tatbestände weiß. Mit: andern Worten: Die sogenannten Propaganda-,,Wahrheiten*fc sind unabhängig von der persönlichen Überzeugung des Redenden. Die einzige persönliche Überzeugung dabei ist die,, daß jetzt im Reden eine bestimmte Absicht verwirklicht und - verhüllt werden muß. Auch verhüllt —; denn wenn sie herauskäme, „verstimmt" sie. Deshalb hat der moderne Mensch eine sehr feine Witterung; für „durchgemachte" oder bloß „weitergegebene" Wahrheiten. Als ich vor einiger Zeit den 2. Teil des Bismarck-Films gesehen hatte, der ein ziemlich übles Tendenzstück, mit allen Tricks der Schwarz-WeißMalerei war, sagte ein größerer Schuljunge beim Hinausgehen zu seinem Kameraden: „Alles Propaganda." Damit wollte er gewiß ausdrücken r. Das war etwas für die blöden Erwachsenen, die auf so was-hereinfallen. Ich weiß natürlich, wie man solche Filme „macht". Die furchtbarste Gefährdung der Predigt ist heute die Gefahr ihrer Verwechslung mit der P r o p a g a n d a r e d e . Wenn etwa als. Predigtkritik der Satz fällt : „Der Pfarrer m u ß eben so reden",, oder wenn man sich bei Kasualien ganz unter den Eindruck der Feierlichkeit stellt und die Worte, gleichgültig, ob es um eine christlich-orthodoxe oder eine deutschgläubige Verkündigung geht, nur den Sinn haben, diese Feierlichkeit zu erregen, so Hegt diese Verwechslung von Predigt und Propaganda vor. Man sieht das auch deutlich an der säkularen Imitation kirchlicher Zeremonien (Feier der Namengebung,; Jugendweihe, EheFeier usw.), die auf eine letzte VerbindHch-keit ihrer meist bodenlos flachen und für echte VerbindHch-keit auch zu schwerelosen „Botschaft" verzichten und die das> 257 Wort nur als Instrument der Feierlichkeitserregung und als •Geräuschkulisse für die optischen Stimulantien (Kerzen, Fahren, Bilder und Goldschnitt-Buchgeschenke) benutzen. Von der gleichen Gefährdung ist auch das liturgische Sprechen betroffen, sofern der Hörer den Eindruck hat: es wird „gelesen", sofern also der Liturg nicht ein hohes Maß von Arbeit darauf verwendet, die liturgischen Gebete sich vorher anzueignen und gegebenenfalls einzelne Sprachwendungen auf seinen Sprechstil hin zu verändern, weil sie sonst unmöglich als s e i n Bekenntnis wirken können. Gerade an diesem Beispiel sieht man, wieviel darauf ankommt, den H ö r e r zu kennen. Der Prediger muß sich ganz ■einfach folgende Tatsache klar machen, mit deren Ernstnehmen viele Diskussionen über den „Anknüpfungspunkt" erledigt werden können : D i e P r e d i g t besteht nicht in der Rede, die aus dem Munde des Predigers hervorquillt, sondern in der Rede, die in das Ohr des Hörers hineinquillt. Es mag als Banausenweisheit erscheinen, den Ort der Predigt nach körperlichen Organen zu bestimmen ; und doch ist diese scheinbare Banalität von entscheidendem Gewicht: Man kann manchmal die naivsten Ansichten darüber hören. Besonders etwa dann, wenn man über das Gebet für die Obrigkeit und den „Führer" spricht. Nicht selten pflegt da die These vertreten zu werden: „Ich sage einfach ,Segne . . ". Denn „recht verstanden" (d. h. so, wie es in diesem Falle der Beter und Prediger versteht) heiße das doch : „Führe auf den richtigen Weg, leite zur Umkehr, erlöse von der Dämonie usw. usw.". Der Hörer aber d e n k t g a r nicht daran und wäre auch psychotechnisch gar nicht dazu in der Lage, diese ganze Kette von Reflexionen mit einer — nun man kann nur sagen — DZugsgeschwindigkeit zu vollziehen. Der Hörer hört etwas ganz anderes heraus, nämlich eine verlogene Loyalitätserklärung, die nur mit faustdicken und dem 258 ungebrochenen Menschen widerlichen reservationes mentales ' erkauft ist. Dasselbe gilt, wie wir noch sehen werden, auch von dem allzuhäufigen Gebrauch des christlichen Zentralvokabulars „Sünde" und „Gnade". Der Außenstehende hört daraus meist etwas ganz anderes (siehe weiter unten). Ich sage noch einmal: Der Ort für die Fixierung dessen, was nun wirklich gesagt wurde, ist das Ohr des Hörers, nicht der Mund des Predigers, also auch nicht das objektive S t e n o g r a m m dessen, was dieser Mund gesprochen hat. Wer das nicht wußte, hätte sich (wenigstens in d i e s e m Punkt) durch die Praxis der Gestapo darüber belehren lassen können. Ich sage absichtlich das O h r , nicht das H e r z des Hörers. Denn gerade die Verstockungstheologie lehrt uns ja, daß das Herz nun seinerseits gerne einen Umwandlungsprozeß des gehörten Wortes vollzieht, um es zu neutralisieren. Ein böswilliger Spitzel etwa oder ein Neuheide, der bewußt als Predigthörer nur Stoff für seine Ablehnung sucht, hören wirklich etwas a n d e r e s heraus, als was gesagt ist. „Sie hören's und verstehend nicht." Mit diesem theologisch bekannten Vorgang der Verstockung darf man das .oben Gesagte nicht verwechseln. Da meinte ich nur den ganz primitiven Vorgang des zeitgebundenen Hörens. Es ist erstaunlich, mit welcher Leichtfertigkeit sich manche Prediger über diesen Vorgang hinwegsetzen. Sie setzen sich damit über die Solidarität hinweg. Ich fasse (den Punkt Illb) zusammen: N e g a t i v muß der Prediger seine seelsorgerliche Solidarität dadurch zum Ausdruck bringen, daß er nicht „historisierend" spricht, sondern — ich bitte das nicht „erbaulich" aufzufassen — „von Herz zu Herz" : als einer, der es „durchgemacht" hat, zu solchen, die es „durchmachen" sollen, bzw. daß er aus der Solidarität derer heraus spricht, die sich er16 T h i e l i c k e , Fragen des Christums. 241 neut und wieder in die gleiche Heilsgeschichte rufen lassen. P o s i t i v muß der Prediger seine seelsorgerliche Solidarität dadurch zum Ausdruck bringen, daß er g e s c h i c h t l i c h predigt. Und zwar nach einer doppelten Richtung : ι . Als einer, der sein eigenes Hineingezogen-sein in die Geschichte Gottes zum Ausdruck bringt, der also, anders ausgedrückt, das Selbstgespräch zwischen dem geistlichen und dem natürlichen Menschen nun als seelsorgerlichen Dialog zum Hörer hin weitergibt, und zwar so, daß er wirklich den S t a n d dieses Gespräches verrät, daß er sich nicht geistlicher und reifer gibt, als er ist, sondern als ergriffener, aber dem Ziel noch nachjagender Mensch und Jünger spricht. Darüber sprachen wir bereits. 2. Ferner — und das führt nun entscheidend ins Konkrete — muß ich insofern geschichtlich predigen, a l s i c h d a s H i n eingezogen-sein der Geschichte um uns her in die Reichs-Gpttesgeschichte aufweise. I V. Gegen die Flucht in die Innerlichkeit und gegen die Interpretation der Zeitgeschichte Ich möchte das, was ich mit den gemachten Andeutungen meine, zunächst nach zwei Richtungen negativ sichern: a) Man kann vor der uns ergreifenden heilsgeschichtlichen Wirklichkeit nicht nur in das historisierend Orthodoxe, sondern auch in die Innerlichkeit fliehen, die sich vor dem Leben abkapselt. Gerade eine Zeit wie die unsrige, die es gefährlich macht, alles uns Bedrängende offen auszudrücken, legt die Gefahr nahe, nur noch in allgemeinen Wendungen und „innerlich" zu reden, sich gleichsam in die sturmfreie Zone des persönlichen oder besser privaten Innenlebens zu flüchten. Man sagt gerne: „Ich verkündige nur noch das reine Evangelium; daraus ergeben sich dann die Konsequenzen für das praktische Leben und für den Ort, wo sich die Dinge hart im 260 Räume stoßen, von selbst". Das ist eben mitnichten so: Ein K a u f m a n n , der mit beladenem Gewissen kommt, weil er einfach keine Möglichkeit mehr sieht, mit reiner Weste durch tausend einengende Bestimmungen hindurchzukommen, findet dabei k e i n e n Trost; denn seine Bedrängnisse kommen primär nicht aus der Innerlichkeit, sondern aus dem In-der-Welt-sein. Ebensowenig kommt ein A r b e i t e r auf seine Kosten, der zu einer kollektivistischen Nummern-Existenz geworden ist und es zu vergessen droht, daß auf seinem Leben ein unendlicher Akzent ruht, und daß er kein Nichts, sondern vielleicht ein sehr einsamer Vogel ist, der aber deshalb gerade sein Liedlein, sein Bekenntnis-Liedlein der Masse um ihn her schuldig ist, statt hemmungslos und ohne eigene Richtung einfach mitzuflattern. Oder der J u r i s t , dem das Leitbild der menschlichen Würde unter gewissen Bestimmungen abhanden zu kommen droht. Oder der p o l i t i s c h e M e n s c h im guten Sinne, der allen Ernstes fragt : Wie soll man aber das Problem der Masse anders lösen als mit Ablenkung, Nervenkitzel und propagandistischer Verflachung? Hat denn das Christentum noch irgend etwas Wegweisendes, Geschichtsschöpferisches zu sagen, mit dessen Hilfe jene Klippen zu umschiffen wären? Bietet es nicht nur für einen begrenzten Menschentyp, der obendrein ungeschichtlich ist, ein wenig innere „Erbauung"? —! Daß hier tatsächlich unsere Verkündigung vor einem Problem steht, sehen wir an der Durchschnittszusammensetzung einer Predigtgemeinde nach Alter, Geschlecht und Stand: Es sind meist Kleinbürger, die meist weiblich und die ihrerseits meist älter sind. Das könnte, obwohl zu dieser Durchschnittszusammensetzung noch andere Faktoren mitwirken, in diesem Ausmaße nicht der Fall sein, wenn wir geschichtlich sprächen. Denn die genannte Zusammensetzung ist eine ungeschichtliche Zusammensetzung. Sie verlockt nun auch ihrerseits wieder, ungeschichtlich zu sprechen. Der Pfarrer fühlt 16* 261 sich nicht mehr veranlaßt, inmitten einer Bibelstunde von alten Frauen die Bibel so auszulegen, daß sie einem im lieben stehenden jungen Mann gilt. So bleibt er im Bannkreis der erbaulichen Innerlichkeit. Vielleicht wird er auch selbst in seiner eigenen Existenz dabei auf die Dauer ein ungeschichtlicher Mensch. Man findet diesen Pfarrer-Typ leider nicht selten. Soziologisch drückt sich das häufig in kleinbürgerlichem Gehabe mit den entsprechenden Gedanken- und Gefühlsgängen aus. Man merkt seine Ungeschichtlichkeit auch leicht an seinem Kanzelpathos, das ja nicht i m m e r nur ein Zeichen dessen darstellt, daß er schlecht präpariert ist, sondern das häufiger noch der Verräter einer AUtags-Enthoben-heit ist, die jenseits der konkreten geschichtlichen Existenz steht: So spricht eben normalerweise kein Mensch. Man kann deshalb in dieser Sprache der Unwirklichkeit selbstverständlich auch nicht den Herrn des Alltags bezeugen, der in unsere Geschichte eingehen will. Die Gefahr, sich durch die Art der Zuhörer ins Ungeschichtliche abziehen zu lassen, drückt sich auch in dem gefährlichen homiletischen Lehrsatz aus, man müsse so predigen, daß die einfachste Waschfrau jeden Satz verstehen könne. Dazu ist ein Doppeltes zu sagen: E i n m a l : Die Predigt ist nicht dem Gesetz eines GeleitzugSystems unterworfen, das sich immer nach dem langsamsten Schiff richten muß. Die Rücksicht auf die Schwachen darf um der armen „Reichen" willen nicht zu einer Diktatur der Schwachen werden. F e r n e r : Es geht hier gar nicht um die Ebene des Intellektuellen, also nicht darum, daß man intellektuell „zu hoch" reden würde. (Ich meine übrigens, daß es kaum etwas gibt, das für die Gemeinde zu hoch wäre. Dafür sorgt schon die Herablassung Christi, daß ich bei deren echter Auslegung nicht in die Stratosphäre des Intellektuellen abgleiten kann.) Ich sage: Es geht nicht um die Ebene des Intellektuellen, 262 nicht darum also, daß man intellektuell zu hoch reden würde, sondern es geht um die Ebene des Existentiellen: Eine „geschichtliche" Predigt wird der alten Waschfrau in manchem zu „hoch" sein, weil sie weithin ungeschichtlich lebt; obwohl man sich darüber klar sein muß, daß ein wirklicher Christ, gerade in den einfachen Ständen, einen sehr klaren Blick für geschichtliche und menschliche Zusammenhänge mitbringt. Die christliche Waschfrau weiß vom Zerfall der Welt Ordnung unter der Herrschaft des Atheismus viel mehr, als wir gemeinhin annehmen. Man, wird aber auch das Umgekehrte sagen dürfen: Sehr oft hört man, daß ein im Leben stehender, d. h. eben geschichtlich lebender junger Mann selbst dann, wenn er der Intelligenz angéhôrt, nach einer Predigt äußert, sie sei ihm „zu hoch" gewesen und fremd geblieben. Er meint dann ebenfalls nicht die „intellektuelle" Höhe; ja, vielleicht meint er nicht einmal den esoterischen Charakter der kirchlichen Dogmensprache, der gegenüber er sich nicht genügend geschult fühlt; vielmehr wird er in der Regel das „zu hoch" der Predigt so verstehen, daß sie „hoch über seinen Fragen und Bedrängnissen" geschwebt habe; daß er nichts von all diesem ihn Bewegenden in ihr wiedererkannt hätte und deshalb keine Beziehung zu ihr habe gewinnen können. Die Predigt sei für ihn nicht „griffig" gewesen. Als Regel scheint sich mir jedenfalls zu ergeben, daß in jeder Predigt ruhig Partien sein dürfen, die für das Verständnis eines Teiles der Hörerschaft ausfallen. Es ist schon dafür gesorgt, daß auch diese Partien überbrückt werden durch den Ton, der die Musik der Predigt macht, d. h. durch den Ton des Zeugnisses, der einfach als „Ton" erbauen kann; oder durch die Nennung des Namens Jesu, an der die Leute auch bei vorübergehend ausgeschaltetem Einzelverstand merken, daß von i h m die Rede ist und nicht von irgendeiner „hohen" oder „zu hohen" Weltweisheit (sophia tou kosmou). 263 Gerade durch dieses gelegentliche „Zu hoch" oder „Außerhalb meines Verstehvermögens" wird ein Eindruck davon vermittelt werden können, daß die Herrschaft Jesu über den eigenen Bereich und Horizont hinausgreift, daß sie eine t o t a l e Erscheinung, daß sie W e l t - Herrschaft ist. Die Gefahren, die mit dieser Art der Verkündigung verbunden sind, sind jedenfalls geringer als die anderen, daß wir den Gegenstand der Predigt dem Verdacht aussetzen, er erschöpfe sich in einer Affinität zur ungeschichtlichen Innerlichkeit oder gar — zum Kleinbürgerlichen. b) Die zweite negative Abgrenzung der geschichtlichen Predigt muß nun g e g e n d i e f a l s c h e Z e i t b e z o g e n - h e i t vollzogen werden. Es geht selbstverständlich nicht darum, den Eindruck der Lebensnähe dadurch zu erreichen, daß die geschichtliche Situation geschildert wird, daß Reportagen der Kriegssituation oder der Fliegerangriffe vom Stapel gelassen werden, oder daß man wie eine talarumklei-dete tönende Wochenschau etwas vor den Augen der Hörer „abrollen" läßt oder auf dem Harmonium der Worte klingende Seelenund Gefühlsgemälde produziert (etwa darüber, was in einer Mutter vorgeht, wenn die Gefallenen-Nachricht ihres Sohnes kommt, oder in einem Soldaten, wenn er sterbend auf dem Schlachtfelde Hegt). Alles dies w i s s e n die Hörer bereits und damit wollen sie gerade fertig werden. Das alles darf und muß daher nur zwischen den Zeilen der Predigt stehen als ein Zeichen: Ich w e i ß darum; ich erwähne gerade so viel davon, daß du merkst: der redet nicht wie ein Blinder von der Farbe und der kann mich hier in meinem Frontgraben abholen; er ist kein Mann der Etappe; darum redet er auch so sachlich knapp davon. Der Mann, der an der Front steht, spricht nicht von Gefühlen, sondern nur von Situationen, die natürlich bestimmte Gefühle auslösen. Das sollte auch der Prediger tun und sich ein Beispiel am Kirchenlied, gerade am Liede Luthers, 264 nehmen: Man denke einmal an die Objektivität des Liedes „Nun freut euch, liebe Christeng'mein . . .". Es beschreibt in keiner Weise die subjektiven Reflexe der Heilsgeschichte, sondern die Heilsgeschichte selbst; es bringt ganz einfach einen „Bericht". Man denke sich dieses Lied einmal in die subjek-tivistische Manier vieler englischer Lieder übersetzt. Würde dabei ein Stein auf dem andern bleiben können? Wir haben die „Sache" zu bringen; die „Gefühle" kommen dann ganz allein. Man schaue sich einmal einen modernen und möglichst typischen M a n n an, der etwas sehr stark ihn Bewegendes erzählt, etwa den Verlust von Haus und Heimat durch Bombenschaden. Er berichtet, was „passiert" ist. Dabei rinnen ihm vielleicht vor Bewegung die Tränen die Wangen herunter : ein Zeichen, daß mit dem geschichtlich Geschehenen durchaus das Herz und das Gefühl verbunden sind. Er gibt aber kein Seelengemälde. So, wie etwa Goethes „Werther" gesprochen hat, redet heute kein Mensch mehr — außer vielen Predigern, die natürlich durch geringere Genialität auch entsprechend weniger versöhnlich wirken. Der moderne Mensch ist im Gefühl sehr privat, aber keineswegs gefühllos; er ist s a c h l i c h . So hat sich auch der Prediger bei seinen zeitbezogenen Bemerkungen auf knappe Sachlichkeit ohne Seelengemälde zu beschränken. Sonst kann es ihm passieren, daß gerade diese PseudoLyrik seiner Auslassungen, mit der er sich solidarisch — und also in bester Absicht, kein Zweifel! — in das Herz des Hörers hineinsingen wollte, die Tür der Solidarität zuschlagen läßt, einfach deshalb, weil gerade der i η dieser Situation befindliche Hörer sich sagt: Wenn der Mann auf der Kanzel w i r k l i c h in meiner Lage wäre, würde er nicht so davon säuseln. Ich sage: Die zeitbezogenen Predigt-Glossen haben sich auf knappste und nur in Andeutung dargebotene Sachlichkeit zu beschränken. Der scopus dieser Bemerkungen ist 265 ausschließlich der Gesichtspunkt der seelsorgerlichen Solidarität: „Ich weiß, wie dir's ums Herz ist (nicht weil ich dieses Herz nun auseinanderklappe und seziere, sondern) weil ich weiß, in welcher Lage du bist." Wer mit diesem homiletischen Prinzip ernst macht, wird bald merken — und vielleicht gerade an der Grabrede als seiner äußersten Bewährungsprobe merken —, welche tröstende Gewalt die Sachlichkeit besitzt. V. Prinzipien und Umrisse der „geschichtlichen" Predigt {vom Vollzug des Wächteramtes) Was ist nun positiv über die Zeitbezogenheit zu sagen und wie wird sie praktisch vollzogen? Es geht zunächst einmal keinesfalls um eine objektive Sinndeutung des Geschehens, nicht u m eine Art christlicher Ge-schichts- und Gegenwartsphilosophie, sondern darum, daß unsere geschichtliche Situation in ihrer V e r l e u g n u n g Gottes, in ihrem Stehen unter dem G e r i c h t , unter dem Β u ß r u f und unter der H e i m s u c h u n g deutlich wird. In diesen Hinweisen der Verkündigung vollzieht sich das Wächteramt. Ich gebe im folgenden eine Anzahl von Beispielen, deren Behandlung für das Wächteramt christlicher Verkündigung wichtig ist, und die zugleich einen Einblick geben in das Programm einer „geschichtlichen" Predigt. Dabei beschränke ich mich im wesentlichen auf solche Momente, die in den früheren Kapiteln dieses Buches schon zur Sprache gekommen sind, so daß wir mit thesenartigen Andeutungen auskommen können. Im Grunde wollen ja alle Kapitel solche Fragen behandeln, die Gegenstand christlicher Verkündigung sind oder es jedenfalls werden sollten. ι . Wir leben in einem Zeitalter, in dem man sich in besonderer Weise auf den G e m e i n s c h a f t s g e d a n k e n besinnt, mag diese Gemeinschaft nun völkisch, menschheitlich 266 oder familienmäßig bedingt, mag sie biologisch gegeben oder geschichtlich gewachsen sein. Es gibt Volks- und andere „Genossen", es gibt „Kameraden" der Front und der Arbeit; die Anrede „Publikum" ist verpönt und außer Gebrauch gekommen, weil man darunter nur eine unverbindliche Ansammlung von einzelnen verstehen könnte, die in keiner Idee verbunden sind:,Denn „Publikum" gibt es sowohl im Konzertsaal wie im Straßenverkehr, als Kundschaft eines Warenhauses wie als Hörer eines Schillerschen Dramas. Im Zeitalter ' der Gemeinschaft ist der einzelne nichts, seine Gemeinschaft bzw. die Idee dieser Gemeinschaft ist alles. Dieser Beobachtung steht nun eine andere entgegen: daß nämlich diese Gemeinschaft nie gelingen will. Wir müssen erkennen, wie die innere Zerrissenheit, das innere Mißtrauen unter der Decke der Uniformierung noch nie so groß gewesen ist wie jetzt. Jedenfalls kommt es sehr oft vor, daß die verschiedenen Proklamationen des Gemeinschaftsgedankens (Volksgenossenschaft, Arbeitskameradschaft) die Reaktion des Widerwillens und der Resignation auslösen. Und zwar keineswegs nur deshalb, weil es hier um eine quantitative Ü b e r f ü t t e r u n g mit sozialem Pathos geht, sondern deshalb, weil man es als Fütterung mit P h r a s e n erlebt. Die Phrase entsteht überall da, wo die Diskrepanz zwischen Idee und Wirklichkeit einen bestimmten äußersten Grad des Erträglichen überschritten hat. W a r u m tritt aber diese Diskrepanz im Umkreis des Gemeinschaftsgedankens immer wieder ein? Diese Frage liegt auf aller Lippen. Denn hinter aller propagandistischen Verballhornung der Gemeinschaftsidee steckt doch eine echte Sehnsucht aller, steckt der wirkliche Ruf der Zeit und also ein ursprünglich echtes Anliegen. a) G e m e i n s c h a f t o h n e G o t t . Daß die Gemeinschaftshoffnung faktisch immer wieder nicht verwirklicht wird, liegt daran, daß sie o h n e G o t t verwirklicht wird. Ohne Gott verliert der Mensch seine Personhaftigkeit, seine 267 Eigenständigkeit und damit auch seine Verantwortlichkeit. Indem der Mensch sich nicht mehr bei seinem Namen gerufen und dem Unbedingten gegenübergestellt weiß, verdampft seine Individualität sozusagen ins Kollektive. Wir haben schon die überaus typische Beschreibung dieses Tatbestandes durch die Bibel erwähnt : Das gefallene, von Gott abgetrennte Urelternpaar gibt seine Personhaftigkeit im Augenblick des Sündenfalls preis : Adam schiebt seine Schuld auf Eva, diese auf die Schlange. Die Unbedingtheit der e i g e n e n Person und ihrer Verantwortung, die völlige Unvertretbarkeit und Nicht-Austauschbarkeit des eigenen Ichs versinkt im Augenblick der Lösung von Gott. Nur unter der Anrede Gottes wird der Mensch verantwortlich und gewinnt seine Personhaftigkeit: er gewinnt sie e i n m a l unter der Anrede des G e s e t z e s , das ihn persönlich belangt und kein Ausweichen zuläßt. Er gewinnt sie f e r n e r unter der Anrede des Evangeliums, das sein personhaftes Ich mit einem unendlichen Akzent versieht und ihm die fremde Würde der Gotteskind-schaft verleiht: „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein." Indem aber ohne Gott die eigene Personhaftigkeit preisgegeben wird, entsteht statt der erstrebten verantwortlichen Persongemeinschaft das personlose Kollektiv austauschbarer und gleichgültiger Einzelindividuen. Der gleiche Grund, der den Menschen personlos macht und damit vergleichgültigt, macht ihn auch unsicher oder sogar hemmungslos gegenüber dem sogenannten „lebensunwerten Leben". Indem der unendliche Akzent vom Leben des Menschen weicht, indem er aufhört, „Gottes Ebenbild und Kind" zu sein und entsprechend gewertet zu werden, indem also die „fremde Würde" dessen, daß er geliebt ist, nicht mehr das auszeichnende Moment seiner humanitas ist, ist der Wert seiner Existenz nur in d e m beschlossen, was er konkret und aufweisbar „leistet", was er also in einem äußerlich erkenn 268 baren Sinne als „Wert" für die Gemeinschaft repräsentiert. Insofern versteht und behandelt man ihn genau wie ein Tier: ein Haustier wird gehalten, sofern es nützt; andernfalls wird es getötet oder abgeschafft — es sei denn, daß man sich die Sentimentalität des „Gnadenbrotes" leisten kann. Entsprechend wird mit dem sogenannten „lebensunwerten Leben" im Bereich des M e n s c h e n verfahren. Daß die Würde des Menschenantlitzes in einer Dimension verankert ist, wo es nicht mehr um berechenbare und sichtbare Werte geht, muß einem Menschentyp immer unverständlicher werden, der sich die Berechenbarkeit und die Sichtbarkeit zum obersten Kriterium seiner Werteskala gemacht hat — und der eben deshalb ja auch G o t t s e l b e r nicht mehr in seiner Welt unterzubringen vermag, weil jenes Kriterium nicht auf ihn anwendbar ist1). Es ist aber ein unabdingbares Gesetz, daß die Menschen in dem gleichen Maße, wie sie es verlernen, mit ihren vorgegebenen Kriterien G o t t zu erkennen, es ebenfalls verlernen, seine G e s c h ö p f e zu erkennen. Die Gottes-Blindheit wird letzten Endes zur Schöpfungs-Blindheit, so daß auch der Raum der irdischen Ordnungen und Werte versinkt, daß das Menschenantlitz verblaßt und das Arbeitstier, das Produktionsmittel, das biologische Wesen oder das gleichgültige Exemplar des Man an seine Stelle tritt. b) N ä c h s t e n l i e b e . Da ohne Gott die menschliche Gemeinschaft zum Kollektiv wird, so wird notwendig die Nächstenliebe zur unpersönlichen Organisation und der barmherzige Samariter zum Amtswalter dieser Organisation. Je mehr der Menschenbrei in einer Großstadt kollektivistisch durcheinandergemengt wird, je mehr verbindende Organisationen geschaffen werden und je enger der Raum des Zusammengedrängtwerdens wird, um so größer wird die Einsamkeit. . . und um so verhüllter die Sphäre des „PriWichtige Illustrationen dieser Gedanken sind aus dem Film „Ich klage an" zu gewinnen, sowie aus Raabes Werk „Altershausen". 269 vaten", bis sie unter der hundertfachen Umhüllung schließlich selber stirbt. Man begegnet dem andern eben nur, wenn man ihm in Gott begegnet und wenn die fremde Würde an ihm aufleuchtet. „Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich gespeist, ich bin nackt gewesen, und ihr habt mir Kleider gegeben . . ." sagt Christus. Nur wer den heimlichen Christen neben dem Nächsten sieht und so dessen erlauchte Bruderschaft erfährt, kann ihm begegnen. Verschwindet dies Bild des Begleiters aus unsern Augen, so wird auch der Nächste zum wesenlosen Schatten. c) E r o s . Ohne Gott gibt es nur noch E r o s , nicht mehr A g a p e 1 ) . Eros ist die letztlich egoistische Liebe, die den andern genießen möchte, wenn auch in sublimiertesten und vergeistigsten Formen. Sie weiß sich angesprochen, erregt und gesteigert durch die Werthaftigkeit des andern: durch seine Schönheit, seine Intelligenz, seinen Charakter, seine Kultur. Infolgedessen hängt der Bestand des Eros ab von der Frage, ob und wie lange der andere Träger dieser Werte ist. Er erlischt, wenn die Werte erlöschen. Das Eheproblem unserer Zeit besteht ganz einfach darin, daß die Ehen im Namen des Gottes Eros geschlossen werden (wobei es nichts ausmacht, daß der Gott Eros einen großen Spannungsbogenin sich enthält: er umschließt alles von dem bloß erotisch-sinnlichen bis zum brutal-materiellen Angezogensein durch den Besitzstand des andern). Dadurch wird die Ehe an das Gesetz von Anziehung und Abstoßung, an das Gesetz der Vergänglichkeit und des Erkaltens ausgeliefert. Der Bestand der Ehe — wenn sie überhaupt je „bestanden" hat — hängt ab von dem Bestand des Anziehungsmomentes im andern. Das hängt mit der egoistischen Grundstruktur der so bedingten „Liebe" zusammen. Die Agape dagegen geht aus von der „fremden Würde" des ' Eros = Begriff der natürlichen Liebe ; Agape = Begriff der Liebe, wie ihn das Neue Testament geprägt hat. 270 andern. Sie findet deshalb diese fremde Würde der Gotteskind-schaft und der Christusbruderschaft auch noch unterhalb der Schmutzschichten, die den andern vielleicht überziehen. Jedenfalls ist nur so das Gebot der Feindesliebe Jesu zu verstehen : Denn „liebet eure Feinde", das heißt nicht : Liebet den Schmutz, in dem die Perle liegt, sondern liebet die Perle, die im Staube liegt (R. Luther). Auch den verkommenen Menschenbruder kann man nur verstehen als ein von einer fremden Macht, von , einer Dämonie zerstörtes oder entstelltes Ebenbild Gottes (ζ. B. von der Dämonie des Hasses oder anderer Leidenschaften). Aber dieses Ebenbild will eben geehrt und geliebt sein. Indem es aber geliebt wird, d. h. indem man sich daran hingibt und sich daran verschenkt, wird dieses Ebenbild zu neuem Leben erweckt. Wir sehen das an der Liebe Gottes zu uns Menschen: Gott liebt uns nicht, weil wir so wertvoll sind, sondern wir sind wertvoll, weil Gott uns liebt. Und oft genug können wir in der Nachfolge dieser Liebe bemerken, wie ein scheinbar unbegründet geschenktes Vertrauen und eine scheinbar nicht begründete Liebe den andern aus tiefster Verkommenheit h e r a u s liebt und ihn wieder vertrauenswürdig und liebenswert m a c h t . Beim Eros sind mein Vertrauen und meine Liebe die „F o 1 -g e η" aus entsprechenden Eigenschaften des andern. (Er i s t eben vertrauens,,würdig" und Hebens „wert", deshalb vertraue und Hebe ich.) Bei der Agape sind mein Vertrauen und meine Liebe, die ich vielleicht einem ganz entstellten Ebenbilde Gottes u m seiner EbenbildHchkeit w i l l e n erweise, genau umgekehrt die „ U r s a c h e n " dafür, daß der andere wieder lebenswert und vertrauenswürdig sein k a n n . (Wie mancher Lump ist innerlich dadurch kuriert worden, daß ihm irgendein Mensch einmal Vertrauen geschenkt hat.) Der Eros ist also letzten Endes trotz seines stürmisch und aktivistisch scheinenden Gebarens eine passive und, rezeptive Erscheinung, die von den ankurbelnden Wert-Impulsen des 271 andern lebt, während die Agape schöpferisch und erbauend ist. Es ist alles umgekehrt, wie der Augenschein zu lehren scheint : Der Eros will empfangen ; die Agape will sich schenken; und im Schenken verändert sie den andern. So und nur so hat uns Gott durch Lieben erlöst und den verlorenen Adelsbrief wiedergeschenkt. Je mehr nun die Menschheit Gott vergißt und verläßt, um so mehr und erschreckender verliert sie die schöpferische Kraft der Liebe, um so brüchiger werden darum die Liebes-Bünde und um so mehr grollt das Chaos unter dem teppichbelegten Boden ihrer Zivilisation. d) K a m e r a d s c h a f t . Ohne Gott gibt es als Ideal der Gemeinschaftsform nur die K a m e r a d s c h a f t . Dies Wort hat deshalb einen hohen Klang, weil es an der Frontkameradschaft ausgerichtet ist. Man darf aber nicht vergessen, daß die Frontkameradschaft ihr Sonder- und Ausnahmefall ist. Denn Frontkameradschaft bedeutet Verbundenheit angesichts des Todes und damit angesichts der letzten Wirklichkeit (die die einen „Gott" und die andern „Schicksal" nennen mögen). Normalerweise bedeutet Kameradschaft nur Verbundenheit in einer ganz speziellen S a c h e : Es gibt z. B. „Schul"-Kameraden und „Arbeits"-Kameraden. Was mir innerhalb dieser Kameradschaft entgegentritt, ist gerade nicht das Du des andern, sondern seine Eigenschaft als Träger einer bestimmten und begrenzten S a c h e . Wie begrenzt der Sektor ist, der mir im Namen dieser Sach-Verbundenheit am andern entgegentritt, wird an den Schulkameradentreifen des späteren Lebens deutlich. Nachdem man sich in Erinnerung an manche Magister-Anekdoten und DummeJungens-Streiche lachend auf die Schenkel geschlagen hat, pflegt eine unpersönliche Öde einzutreten, die durch entsprechende Quanten an Bier hinuntergespült wird. Jedenfalls gilt das besonders in d e n Fällen, wo zwischen der Schulkameradschaft und dem späteren Treffen große Entscheidungszeiten von persön 272 lichem Gewicht liegen. Indem man diese nicht mehr miteinander vollzogen hat, bleibt das Du des andern verhüllt und - der Sektor der kameradschaftlich verbindenden Erinnerung äußerst schmal. Jedenfalls hat er für das Zustandekommen einer wirklich menschlich-persönlic|ien Gemeinschaft nicht die nötige Tragkraft. Natürlich ist die Schulkameradschaft für alle diese Erscheinungen nur ein P a r a d i g m a . Man könnte jede andere Form der üblichen Kameradschaften wählen: Ein wie merkwürdiges und beklemmendes Vakuum kann ζ. B: entstehen, wenn der „gute" Arbeitskamerad plötzlich in persönlichste Entscheidungen des andern, etwa in seine Familienprobleme oder Gewissensentscheidungen, hineingezogen wird. Auf einmal merkt man erschreckend, wie allein, verlassen und unverstanden wir auf der Ebene des Menschlich-Persönlichen dastehen. Daß die Kameradschaft das höchste Ideal menschlicher Gemeinschaft geworden ist, bildet ein äußerst verräterisches Kennzeichen der heimlichsten Krise: nämlich der Krise des humanum durch die Absage an Gott. 2. D a s C h a o s j e n s e i t s v o n G o t t . Wenn wir nunmehr noch einige weitere Beispiele dafür geben, wie unsere geschichtliche Situation unter dem Bußruf, wie sie unter Gericht und Gnade steht und darum unserm Wächteramt aufgegeben ist, so brauche ich dabei nur auf einige Fakten zu verweisen, die wir alle schon in extenso behandelt haben: a) Ohne Gott schwindet das Vertrauen unter den Menschen. Mißtrauen und zentrifugale Chaos-Tendenzen greifen um sich. b) Ohne Gott stehen die falschen Götter auf; mit ihnen aber kommt das Chaos. Wir sprachen früher bereits davon, wie ohne Gott die einzelnen Lebensgebiete (ζ. B. das wirtschaftliche oder das völkische oder das biologische) verabsolutiert werden, wie dadurch aber die a n d e r n Lebensgebiete nicht erfaßt werden, deshalb bindungslos bleiben und darum 273 den Zündstoff immer neuer Revolutionen in sich aufkommen lassen : Der chaotische Individualismus entsteht durch die Ver-götzung des Kollektivs und der chaotische Kollektivismus durch die Vergötzung des Individuums. Je säkularisierter die Zeitläufte werden und je mehr sie die verbindende Klammer „Gott" entbehren müssen, um so rasender schwingt das Pendel der sich jagenden Tendenzen hin und her, um so toller werden die Sprünge, die der Mensch auf dem wankenden Grunde vollführen muß, um für wenige Augenblicke und höchst notdürftig wieder auf die Beine zu kommen, c) Ohne Gott gibt es nur noch Haltung, aber keinen Halt. Wir könnten noch l a n g e in dieser Weise fortfahren, um die Lebenserscheinungen unserer Zeit in das Licht von Gesetz und Evangelium zu rücken und als Gegenstand des christlichen Wächteramtes sichtbar zu machen. Was wir in andeutender Kürze zur Sprache brachten, mag aber genügen. Es kam uns ja nur auf e i n e s an : nämlich zu zeigen, wie unsere Botschaft keine Angelegenheit der bloßen Innerlichkeit, sondern ein g e s c hi c h t s m ä c h t i g e r F a k t o r i s t . Es muß uns wieder sichtbar und wenn nötig eingehämmert werden — unsere Zeit bildet ja das eklatanteste ExempeL dafür —, daß Gott eine geschichtsmächtige Realität und daß die Gottlosigkeit die Erregerin des Chaos ist. G o t t i s t d i e d i e s s e i t i g s t e G r ö ß e , d i e e s g i b t . Gerade w e i l sein Reich nicht von dieser Welt ist, u m g i b t es diese Welt von allen Seiten. Und wenn wir Theologen das zu predigen vergessen haben, müssen es uns die Dichter wieder lehren: Gott ist mäuschenstill, er ist das Stillste von allem, darum dreht sich die Welt um ihn (C. F. Meyer). Sie dreht sich eben w i r k l i c h um ihn. Das merken wir heute, wo die Welt nach eigenen Achsen ausschaut, um die sie schwingen möchte, und dabei so entsetzlich Schiffbruch leidet. Das Ewige ist stille, / laut die Vergänglichkeit. / Schweigend geht Gottes Wille / 274 Über den Erdenstreit (W. Raabe). Wir Prediger sollen in aller Schwachheit dazu beitragen, daß den Menschen von diesem schweigenden Schritt die Ohren gellen. Es ließe sich in diesem Sinne noch auf manches Lebensgebiet eingehen, ζ. B. auf das Gebiet des Todes, auf die soziale Frage, auf das Problem der Freizeit (die „Zerstreuung"), auf die Frage „Krieg", auf die Frage „Recht und Gott" usw. Doch es ist schon wichtig, jedes Lebensgebiet — und nicht nur jedes einzelne Menschenherz ! —in seiner Affinität zur christlichen Botschaft zu erkennen und als Gegenstand theologischer Durchdringung zu verstehen. Man darf vor allem nicht meinen (auch als P r e d i g e r nicht meinen !), es handle sich hier um „Randbezirke" der Verkündigung, die in relativem Abstand zu den zentralen Anliegen der Botschaft von Gericht' und Gnade ständen und deshalb nicht in die Predigt, sondern in den Bereich von gewissen das Zentrum theologisch garnierenden „Vorträgen" gehörten. Es ist ein lebenswichtiges Interesse der kirchlichen Botschaft, die gefallene Welt als Objektivierung des gefallenen Herzens erkennen zu lehren. Gott aber hat nicht nur das einzelne Herz, sondern die „Welt" geliebt. Damit stimmt auch der Instinkt der Predigthörer selbst überein, wenn diese sich von den erwähnten Fragen so betroffen und umgetrieben wissen, daß sie sich im Z e n t r u m angesprochen fühlen, sobald die Rede darauf gebracht wird. Nur darf diese Rede nicht eine unverbindliche Kulturkritik von einem angeblichen christlichen Kulturprogramm her sein, sondern sie muß den Zusammenhang der babylonischen Welt mit dem babylonischen Herzen aufweisen. Sie kann deshalb niemals ein Weltanschauungsvortrag, sondern sie kann nur die persönlich fordernde und treffende Predigt von Gericht und Gnade sein. Die Predigt wird dadurch auch in einem tiefsten Sinne „interessant", insofern es um das existentielle inter = esse (= Dabei-sein) und Beteiligtsein der Hörer geht. 17 T h i e l i c k e , Fragen des Christentums. 275 Damit haben wir ein Doppeltes festgestellt: ι . Daß es um die „geschichtliche" Predigt geht im Unterschied zur bloß „innerlichen" oder „historisierend-ortho-doxen"; und 2. daß die „seelsorgerliche Solidarität" die Grundhaltung ist, aus der heraus solche Predigt hervorwachsen muß. B. METHODISCHE PROBLEME Es gilt nun abschließend noch einige methodische Folgerungen aus dem Erarbeiteten zu ziehen. Wir beschränken uns dabei auf einen einzigen entscheidenden Fragenkreis: nämlich auf unsere „B e g r i f f 1 i c h k e i t" in der Predigt. Belastete Begriffe^ Eines der ersten und wohl auch weithin anerkannten Erfordernisse für die methodische Seite der Predigt besteht darin, daß wir die zentralen Begriffe der christlichen Dogmatik, z. B. „Sünde", „Gnade", „Liebe", „Gott" und „Teufel" in der Predigt sehr stark zurücktreten lassen bzw. sie in einer ganz speziellen und noch zu beschreibenden Weise anwenden. Ich nenne einige Gründe für die Notwendigkeit dieser Zurückhaltung : E i n m a l sind die genannten Begriffe im allgemeinen Bewußtsein zu belastet. Die verschiedenen Propagandaapparate der verschiedenen a- und antichristlichen Strömungen haben einen Grad der Entstellung bewirkt, der im allgemeinen völlig unbeabsichtigte und gegenteilige Reaktionen zeitigen muß. Wir alle kennen — um nur zwei dieser Entstellungen zu nennen — das m o r a l i s c h e Mißverständnis des Sündenbegriffs sowie den völlig falschen und die Wahrheit auf den Kopf stellenden Antagonismus von „Gnade" und „Ehre". Der Wust dieser falschen Hör-Voraussetzungen ist jedenfalls beim säkularisierten Zuhörer kaum zu durchstoßen. 276 Es ist nun keineswegs ein bloß p s y c h o l o g i s c h e s Argument, mit dem wir diese Feststellung begründen, sondern ein t h e o l o g i s c h e s . Gerade die 'Bibel legt entscheidendes Gewicht auf die H ö r - V o r a u s s e t z u n - g e n : „Wer O h r e n hat zu hören, der höre!"; „Wer aus der Wahrheit ist, der höret meine Stimme", Es geht also bei dem genannten Vorbeihören keineswegs nur um eine bloße Sprachverwirrung im Sinne einer Vokabelfrage. (Diese kommt natürlich a u c h hinzu, sitzt aber an der Außenseite der von der Propaganda beeinflußbaren Zone.) Sondern es geht dabei um ein wirkliches „Gehäuse der Unwahrheit", in dem der Hörer sitzt, in dem er existiert. Das m o r a l i s c h e Mißverständnis des Sündenbegriffs z. B. bedeutet ja doch, daß der Hörer außerhalb der» für die „Sünde" konstitutiven Ich-Du-Be-ziehung von Gott und Mensch existiert und daß er d e s h a l b die Sünde rein individual- oder auch sozial-ethisch, in beidem aber durchaus anthropozentrisch, interpretiert. Die irreführende Begrifflichkeit, infolgè deren er sich verhört, ist doch nur der Ausdruck einer irregeführten E x i s t e n z . Es kommt also alles darauf an, daß der Prediger nicht durch eine harmlose Verwendung jener Begrifflichkeit den Hörer in seinen Existenzvoraussetzungen bestätigt und immer wieder die alten, falschen und mißverstehenden Ohren anpeilt. Es geht folglich bei unserem Gesichtspunkt einer begreiflichen Rücksichtnahme um viel mehr als einen pädagogischen Akt (um diesen geht es natürlich wiederum a u c h ) ; sondern es geht um das Ernstnehmen eines biblisch-anthropologischen Gesichtspunktes: daß nämlich unsere Existenz das Hören formt und daß folglich die falschen Existenzvoraussetzungen auf keinen Fall sprachlich genährt und sich sprachlich bestätigt wissen dürfen. F e r n e r : Das Denken des säkularen Menschentums hat zu vielen dieser Worte nicht nur eine falsche, sondern überhaupt keine Beziehung. Ich erinnere nur an das Wort Ernst 17* Jüngers, daß die Dome auf die heutigen Menschen wirkten wie „Fossilien, die in unsere Städte wie in späte. Sedimente eingelassen sind". Die fertigen dogmatischen Worte entbehren auf diese Weise der Griffigkeit; sie treffen den Hörer nicht im Sinne von „Mea res agitur". Es ist ihm höchstens dabei zumute wie den Trojanern, die durch Männer, welche beobachtend auf den Stadtmauern sitzen und als eine Art Kriegs-Berichter die militärische Situation schildern, erzählt bekommen, was draußen vorgeht. (Homer nennt sie Teichoskopen.) Sie hören zwar zu, haben aber das Gefühl, daß alles, was sie vernehmen, in einem ganz andern Raum, eben „draußen", geschieht. Sie unterscheiden sich deshalb von dem genannten Predigthörer nur dadurch, und zwar v o r t e i l h a f t dadurch, daß immerhin die Schlacht, die draußen vor der Stadtmauer tobt, auf sie ζ u kommt und deshalb eine Beziehung auf sie hat. Dagegen kann der im säkularen Lebensraum gefangene Mensch, der in den Kategorien von Machtkämpfen, Leistung und Verdienst, Leid und Lust denkt, daran zweifeln, ob der -Bericht über das Jenseits seiner Stadt- und Existenzmauern irgendeinen realen Bezug auf ihn habe, ja er kann sogar zweifeln, ob es einen solchen jenseitigen Raum überhaupt gebe. Daß der Prediger von dem „Ganz anderen" spricht, darf und kann deshalb noch längst nicht heißen, daß er auch mit einem „ganz andern" Vokabular davon reden müsse. Auf diese Weise wird er das „Ganz andere" nur in das „Beziehungslose" verwandeln. So aber will Gott wahrhaftig nicht verstanden sein. Die Doppelseitigkeit der Existen^ E n d l i c h ist noch folgendes zu bedenken : Die Gefahr der Beziéhungslosigkeit besteht keineswegs nur für den betont säkularen Menschentyp, also für den missionarisch anzusprechenden „Randsiedler" der Kirche, sondern auch für die üblichen „treuen" Gottesdienstbesucher. Nur hat die Be 278 ziehungslosigkeit hier eine andere Gestalt. Sie finden nämlich keinen Zusammenhang zwischen dem christlichen Gehäuse, in dem sie während der Gottesdienst- und Erbauungsstunde sitzen, und den vier Wänden der brutalen Wirklichkeit, innerhalb deren sie normalerweise leben. Auf diese Weise entsteht eine gefährliche Doppelgleisigkeit der Existenz: Beim Betreten der religiösen Ebene stellen sich sofort ganz bestimmte Haltungen und Vokabeln ein, während draußen im Leben vollkommen andere gelten. Das altertümelnde, dogmatische Vokabular des Gottesdienstes macht ihnen nicht begreiflich, daß er sie im Alltag verhaften will und deshalb auch für diesen Alltag gilt. Der Botschaft wird auf diese Weise ein bestimmter sakraler Sektor des Lebens zugewiesen, während sie doch in das g a n z e Leben hineingerufen ist. Es entsteht eine neue Form vor-evangelischer Möncherei, die um so gefährlicher ist, je getarnter sie ist. Es ist überhaupt erstaunlich zu sehen, wie doppelseitig der moderne Mensch lebt. Es ist eine durchaus typische Erscheinung, daß etwa ein Christ „normalerweise", wenn er mit solchen Dingen zu tun hat, eine biologische oder andere Weltanschauung besitzt, die völlig unausgeglichen neben seinem christlichen Glauben wohnt: Es leben zwei Welten in seiner Brust, die sich nicht berühren und deren Berührung er sogar zu verhindern sucht. Wenn er von der einen in die andere hinüberwechselt, vollzieht er jedesmal eine Umschaltung, die ihn in einen schlechthin neuen Bereich versetzt — mit neuen Begriffen, Wörtern, Empfindungen, Anschauungen. Er kommt kaum auf die Idee, etwa den biblischen Schöpfungsbericht in eine verbindliche Beziehung zu den biologischen Aussagen über den Menschen zu bringen. Er lebt im Stil der doppelten Wahrheit und zerteilt damit Christus. Der Missionswissenschaftler Freytag berichtet in seinem Buch „Das Erwachen der jungen Christenheit im Osten", daß es auch innerhalb der heidnischen Religionen diesen Typ des säkularen Menschen gibt, der zweigleisig lebt, der viel 279 leicht an einer europäischen Universität Astronomie studiert hat und sich nachts an einer kultischen Lärmszene beteiligt, um den Mond zu vertreiben. Jedenfalls : Das sakrale Vokabular in der Predigt bringt Prediger und Hörer in die Gefahr, die gefährliche Doppelheit ihrer „weltlichen" und ihrer „religiösen" Existenz ungebrochen stehen zu lassen. Wir sehen also, wie auch die ausgesprochenen „Kirchenchristen" durch jenes Vokabular in Gefahr gebracht werden können. In einer Welt, in der jedes Lebensgebiet seine Sinnbestimmung durch völlig säkulare Ideologien bekommt, muß Christus s o verkündigt werden, daß e r die Sinnmitte jener Lebensgebiete, daß er der Herr im Alltag ist, und daß deshalb jene falschen Ideologien als das, was sie sind, e n t l a r v t und h i n a u s g e t a n werden1). Die eigentlichen und letzten Gründe, warum die traditionellen dogmatischen Vokabeln nicht harmlos und inflationistisch gebraucht werden dürfen, liegen aber unterhalb der Ebene des Zeitgeschichtlichen; sie liegen in einer noch tieferen Schicht. Die richtige Stellung des christlichen Vokabulars Die genannten Begriffe können w e s e n s m ä ß i g nicht der A u s g a n g s p u n k t des christlichen Verstehens sein, sondern das Z i e l . Pointiert ausgedrückt: Man darf mit ihnen ebensowenig ins Haus fallen, wie man bei einem seel*) Es ist selbstverständlich, daß wir damit nicht die Kirchensprache überhaupt, z. B. in der Liturgie, abtun wollen. Sie hat ihren ganz bestimmten Ort sowohl in der Dogmatik wie im Gottesdienst. Man kann ihrer aus vielen Gründen, die hier nicht behandelt werden können, keineswegs entraten. Nur in die Predigt gehört sie nicht hinein. Die Gefahr der Doppelgleisigkeit der Existenz besteht in flagranter Form seit der Aufklärung. Gerade bei aufklärerischen Denkern (z. B. bei Lessing ; vgl. dazu mein Buch „Vernunft und Offenbarung. Studien zur Religionsphilosophie Lessings") findet sich typischerweise immer wieder die Redewendung, daß sie mit dem Herzen Christen, mit dem Kopfe aber Heiden seien. So wird die Wirklichkeit unwillkürlich in zwei Dimensionen abgeteilt. 280 sorgerlichen Krankenbesuch — immer von Ausnahmen abgesehen — mit der Tür oder mit dem Gebetbuch ins Haus fallen darf. Die genannten Worte dürfen gleichsam nicht am A n f a n g der Predigt auftauchen, sondern am Ende. Sie sind nicht V o r a u s s e t z u n g , , sondern s u m m a r i s c h e s F a z i t . Ich führe dafür zwei Belege an: E i n m a l : Die Worte „Sünde", „Gnade", „Rechtfertigung", „Erlösung" usw. sind abstrakte Begriffe. Das Wesen der Abstraktion besteht darin, daß aus einer Summe konkreter Dinge oder Ereignisse das Gemeinsame abgezogen wird, daß dann das abgezogene Gemeinsame mit anderem Gleichartigen zusammengestellt wird und sò gewisse Ergebnisse gewonnen werden. Es gibt also noch eine beliebig häufige Potenzierung der Abstraktion. Der gewonnene Begriff wird damit zum Produkt komplizierter geistiger Operationen. Damit ist dann die große Gefahr gegeben, daß der gewonnene Begriff zur gemünzten Vokabel wird und ohne ein Wissen um die vorangegangenen Operationen oder auch Erfahrungen gebraucht werden kann. Ich darf dafür ein triviales Beispiel anführen : Der Satz „Goethe ist der deutsche Dichterfürst" ist das auf eine abstrakte Formel gebrachte Produkt der Lektüre, eines inneren „existentiellen" Umgangs mit Goethe und des Vergleichs mit allen andern Dichtern, die für eine Konkurrenz in Betracht kommen. Genau so aber kann nun der Satz „Goethe ist der deutsche Dichterfürst" auch im Schulaufsatz irgendeines Backfischs auftauchen. Intellektuell kann sich der Backfisch unter diesem nachgesprochenen Satz sogar etwas vorstellen, nämlich ganz einfach dies, daß Goethe größer ist als die andern Dichter, daß er — in Analogie zu der Lebenserfahrung des Backfischs — der Primus in der Klasse der Dichter ist. Trotzdem wirkt es peinlich, einen solchen Satz aus solchem Munde zu hören. Warum? Weil der Backfisch den genannten Satz nicht „durchgemacht" und an sich 281 selbst erfahren hat; weil er also die Operationen, die abschließend in jenem abstrakten Satze zusammengefaßt sind (existentieller Umgang mit Goethe; Kenntnis anderer Dichter und Vergleich mit ihnen), nicht selber vollzogen hat. Dadurch wirkt der an sich richtige Satz schal. Was nützt die Wahrheit „an sich", die in jenem Satze korrekt ausgesprochen sein mag, wenn sie keine Wahrheit „für mich" ist? Ich wohne dann nicht in dem Gehäuse, das ich mit meinen Worten aufführe. Kierkegaard meint etwas Ähnliches, wenn er davon spricht, daß die Wahrheit in der „Subjektivität", d. h. im V e r h ä l t n i s zum Gegenstande, sitze. Damit hängt es auch wohl zusammen, daß die Evangelien keine „Lehre" von der Sünde bringen, sondern von S ü n d e n berichten, besser: von Konkretionen der Sünde. Ebenso sprechen sie nicht vom Glauben, sondern von glaubenden Menschen oder einzelnen Formen des Glaubens. Es kommt mehrfach vor, daß Jesus erst in einem Schlußwort das Geschehen einer Geschichte auf einen Begriffsnenner bringt. Ich denke ζ. B. an die Geschichte vom Kanaanäischen Weib : Das, was Glaube ist, hat diese Frau erfahren, indem sie hilfesuchend ihre Hände nach dem Nazarener ausstreckte und darauf vertraute, daß er die Güte und die Macht habe, ihr zu helfen. Vielleicht hat sie das Wort „Glaube" vorher nie in den Mund genommen und kaum bewußt gehört. Und erst als Jesus am Ende der Geschichte erklärt, „O Weib, dein Glaube ist groß ; dir geschehe, wie du willst" — da merkt sie, daß das, was sie erlebt und erfahren hat, „Glaube" gewesen sei. Erst am Schluß, gleichsam in einem summarischen Fazit über das Geschehene, nimmt Jesus den „Begriff" in den Mund. Vielleicht liegt ein ähnlicher Sachverhalt bei der höchst merkwürdigen Wahrung des M e s s i a s g e h e i m n i s s e s Jesu vor. Wie ist es zu erklären, daß Jesus immer wieder verbietet, ihm dieses Prädikat öffentlich beizulegen, es zu verbreiten? Er wußte, daß die Menschen seiner Zeit mit diesem Be 282 griff eine ganz bestimmte Vorstellung, ein „Vor"-Urteil, verbanden, in das sein wirklicher Christuscharakter keineswegs einging. Eine vorzeitige Verbreitung und Anwendung des Christusprädikates auf ihn hätte nur zur Verfestigung jener Vorurteile und damit zur Verkennung seiner wirklichen Person und Aufgabe führen müssen. Deshalb ist er den umgekehrten Weg gegangen: Wo ein Mensch — wie etwa Petrus — ihm wirklich begegnete und als Ergebnis dieser Begegnung den Satz fand: Du bist Christus, du bist der Messias, du bist der Sohn des lebendigen Gottes — da hat er dieses Prädikat geduldet, da war es sogar sein Z i e l . Auch hier ist es also typisch : Die Kenntnis des zentralen abstrahierenden Begriffs, der alle Begegnung mit Jesus zusammenfaßt, ist nicht die V o r - Bedingung dafür, daß man ihm begegnen kann, sondern ist die N a c h - Wirkung dieser Begegnung. Das allein ist der gesunde Weg der Abstraktion, der Lehr- und Dogmenbildung. Dieser Weg muß in jeder Predigt neu gegangen werden, ja sogar in der religiösen Auseinandersetzung. Es hat z.B. keinen Sinn, apologetisch einen Begriff in Schutz zu nehmen oder jemandem anzudemonstrieren (ζ. B. den Begriff „Jungfrauengeburt" oder „Prädestination"), bei dem die in der Begegnung mit Jesus liegenden Voraussetzungen noch nicht gegeben sind. In diesem Falle m u ß das Verständnis eines solchen Begriffs dilatorisch behandelt werden. Der Begriff der „Prädestination" etwa ist biblisch nur zu verstehen, wenn vorher die „Rechtfertigung allein aus Gnaden" verstanden und vollzogen ist. Vorher würde die Behandlung der Prädestinationsfrage zu einer reinen Begriffsspekulation führen. Wer mit jungen Menschen, die immer wieder gerade das Prädestinationsproblem aufs Tapet bringen, umgeht, weiß es ganz genau, wie hier die intellektuelle Witterung für Begriffe und Probleme der mit eigenen Beinen zurückgelegten Wegstrecke weit vorausläuft. Der Seelsorger und der Prediger hat es aber 283 mit den Beinen und nicht mit der Nase zu tun. Es hat ihm ausschließlich um die akute und reale Wegstrecke zu gehen. Gerade im Umgang mit Intellektuellen kann man nicht vorsichtig genug in der Handhabung der Begriffs-Ebene sein. Sonst kann es geschehen, daß klar gedacht wird — und nichts p a s s i e r t . Es ist d i e Gefahr des ReHgionsunterrichts und des Theologiestudiums, daß der Abstraktionssektor den Begegnungssektor so entscheidend überwiegt und daß Denken und Erfahrung hier kaum in Kongruenz zu bringen sind. Es gibt keine prinzipielle Patentlösung dieser Not. Um so mehr sollte man um sie wissen. Und um so mehr sollte in der Predigt wenigstens der richtige O r t des Begriffs gefunden werden : Er gehört an den Schluß. Das mag man sich vom „Stil" der Seelsorge Jesu merken1). Aus allem Gesagten ist schon deutlich geworden, daß es dabei keineswegs nur um eine methodisch-pädagogische Maßnahme geht. Auch für die eigene und zwar die sachlich-theologische Bemühung des Predigers um den Text ist die richtige Lokalisierung des Begriffs von produktiver Bedeutung. Konkretisierung und Zerlegung der Begriffe Man wird nämlich finden, wie relativ leicht sich mit abstrakten Begriffen operieren läßt; dazu bedarf es nur einer gewissen Schulung des. Denkens und einiger schulmäßig gehandhabter Technik, die in keiner Weise mit existentieller Aneignung verbunden zu sein braucht. Gerade der an seinen Meister gebundene, ' in seinem Geiste denkende, „räuspernde und spuckende" Student (und hier vielleicht g e r a d e wieder der Theologiestudent) kann dafür groteske und zahl*) Selbstverständlich darf das nun nicht im Sinne eines Rezeptes mechanisch gehandhabt werden, so daß der Prediger überhaupt nicht mehr wagt, diese Begriffe am Anfang einer Predigt in den Mund zu nehmen. Es kommt nur darauf an, daß er sich über die prinzipielle Stellung des Begriffs ganz klar ist. Er wird dann schon unter der Hand die richtigen Akzente bekommen. Denn n u r auf diese kommt es an. 284 1 reiche Beispiele liefern. Die Gefahr der Backfisch-Existenz ist bei allen abstrakten Begriffsrednern übermächtig. Umgekehrt ist es viel schwerer, unter Umgehung jener Begriffe ihren sachlichen I n h a l t zu entfalten. Zu dem Zweck nämlich muß ich den Sachverhalt ganz anders für mich selber klären. Ich muß den speziellen scopus (= Blickpunkt) in der betreffenden Perikope ermitteln ; und endlich muß ich die Erfahrungen, die zur B i l d u n g jenes Begriffs geführt haben, ganz anders in mir nachvollziehen. Man pflegt ja auch ganz unabhängig von theologischen Fragen davon zu sprechen, daß nur d a s wirklich verstanden sei, was man mit andern und eigenen Worten wiedergeben könne. So kann es für den Prediger ein wirkliches Training bedeuten, wenn er eine Perikope — vielleicht aus der paulinischen Literatur—zunächst für sich selbst in eine Sprache übersetzt, in der keiner der paulinischen Zentralbegriffe' vorkommt. Freilich wird gerade d a n n alles darauf hinauslaufen, daß der Begriff „Sünde" oder „Gnade" oder „Rechtfertigung" als Ergebnis nun auch wirklich r e s u l t i e r t . Ich muß als Prediger zeigen, daß wirklich von Adam und Eva über den Gichtbrüchigen bis zur eschatologischen Unbußfertigkeit der Menschen die Sünde i m m e r d a s s e l b e ist und deswegen natürlich auch auf einen allumfassenden Begriff gebracht werden darf. Aber ich muß es eben z e i g e n , wieso der konkrete Fall des Sündigens zu diesem innersten Wesen der Sünde in Beziehung steht. Die Arbeit der Predigt besteht nicht in der Mitteilung von E r g e b n i s s e n , sondern im Zeigen von W e g e n . Dasselbe Problem wird in anderer Spiegelung nochmals sichtbar an der P a u s c h a l b e i c h t e , die wir mit un-sern Abendmahlsfeiern zu verbinden pflegen und die in dem ganz einfachen „Ja" zum Ausdruck gebracht wird, das die Gemeinde als Bestätigung ihres Sündenbekenntnisses spricht. Der Ausdruck „Pauschalbeichte" soll schon daraufhinweisen, 285 daß irgend etwas an dieser Beichtform nicht in Ordnung ist oder daß jedenfalls die Unordnung in gefährlichster Weise d r o h t . Der pauschale und summarische Charakter dieser Beichte ist nämlich nur so und h ö c h s t e n s nur so möglich, daß das summarische Sündenbekenntnis das Ergebnis und die letzte Zusammenfassung eines persönlichen Rechenschaftsberichtes ist, der vorangegangen ist, sei es im stillen Kämmerlein vor mir selbst oder aber einem Bruder gegenüber. Ohne dieses Vorangehen wird die Beichte in den meisten Fällen zu einer äußeren Farce,'weil dann (dann!) das Wort „Ich Sünder" in keinem Verhältnis zu meinen Lebenstatsachen steht, sondern wirklich zum „Begriff" geworden ist. Wir ertappen uns ja selbst auch oft genug dabei, daß uns sogar das einfache Sprechen des Vaterunsers eine fast z,u summarische Sache ist. (Wer kann es denn, in jedem Augenblick fassen: „Dein Reich . . .", „Dein Wille . . ." -? Sind diese Worte in ihrer raschen Folge und in der Häufigkeit ihres Gesprochenwerdens nicht fast zu übermächtig für eine persönliche Aneignung? Und kommt es nicht gerade d a h e r , daß ausgerechnet das Vaterunser, das dem Plappern der Heiden wehren sollte, selbst zum Gegenstand eines Plapperns geworden ist?) Deshalb ist Luthers Rat sehr gut, daß man das Vaterunser betend entfalten und im Entfalten sich aneignen solle, so daß dann die Worte des Vaterunsers selbst das Fazit dieser Entfaltung darstellen. Von unserer speziellen Zeitgeschichte her wäre dem noch folgende Erwägung hinzuzufügen: Der säkularisierte Mensch hat heute ein Kino-Auge. Er hat in einem bedrohlichen Ausmaß überhaupt keine Kraft mehr zu einer Reflexion, die bloße Andeutungen oder summarische Begriffsmitteilungen selbständig aufnehmen und durch eigene innere Operationen ergänzen könnte. Daher ist auch die Krisis des Kriminalromans (ja des Romans überhaupt) gegenüber dem F i l m zu verstehen: denn im Film 286 wird einem die produzierende und zur Belebung des Wortes nötige Phantasie a b g e n o m m e n . Ja noch mehr: Selbst sein A u g e , von Gedanken ganz abgesehen, muß alles direkt und in einzelne Anschaulichkeiten zerlegt, vorgesetzt bekommen. Ich erinnere nur an die „Groß-Aufnahm'e" im Film, in der der entscheidende Gesichtsausdruck des Schauspielers oder auch das nervöse Spiel seiner Hände oder das unruhige Stampfen seiner Füße dem Zuschauer in einer höchst spezialisierten und unübersehbaren Weise nahe gebracht wird. Das Bühnenbild im Theater fordert demgegenüber eine ungleich größere Aktivität des Zuschauers, weil er jene wichtigen Ausdruckssymbole selber auffinden und wirklich „suchen" muß. Daraus folgt, daß man diesem Menschen möglichst wenig allgemein, sondern sehr spezialisiert predigen muß. Habe ich ζ. B. über das Wort zu predigen „In der Welt habt ihr Angst . . .", so muß ich dem Hörer behilflich sein, seine p e r s ö n l i c h e Beängstigung zu finden. Tue ich das nicht, sondern lasse ich den Begriff perfekt stehen, so werden viele bei dem Wort „Angst" einfach den Typus eines feigen Menschentums vor Augen haben. Deshalb wird man sofort spezialisieren müssen. Ich füge zu dem Zweck den entsprechenden Satz aus einer wirklich gehaltenen Predigt an (der als solcher anstößig sein mag und nicht einmal glücklich formuliert zu sein braucht, der aber doch die Richtung andeutet, die wir beschritten sehen möchten): Jesus sagt nicht: „einige ängstliche Gemüter, einige zimperliche alte Jungfern, einige wasserscheue Individuen, die sich nicht vom Sprungbrett ins kalte Wasser trauen, hätten Angst. Sondern er sagt das Wort von der Angst zu Männern, die zum guten Teil später den Märtyrertod gestorben sind und die man heute vermutlich als heroisch bezeichnen würde, wenn man ihnen gegenüber nicht einen blinden Fleck im Auge haben wollte." Mit diesen Sätzen ist die Ebene angedeutet, auf der diese Art „Angst" erlebt wird; aber sie wird so angedeutet, daß von 287 verschiedenen höchst konkreten Punkten aus geometrische Örter auf diese Ebene hin bestimmt werden. Es wird m. a. W. der Versuch gemacht, unter den verschiedenen Möglichkeiten der Angst die e i n e , auf die es hier ankommt, durch Großaufnahme herauszustellen x). Aus allen diesen Erfahrungen muß die Predigt lernen. Ein guter Teil des Vorwurfs, daß die Predigt einen nicht berührt habe, daß, sie beziehungslos über und neben meinem Leben stehen geblieben sei, geht auf Kosten der falschen summarischen Predigtweise, bei der der Prediger zudem auch selber immer leerer wird und der Routine zu verfallen droht. Gerade die letztere Bedrohung muß schon deshalb näher rücken, weil der Prediger sich den entscheidenden und schwersten Arbeitsgang bei der Begriffspredigt erspart. Der Versuch, nun nachträglich die versäumte Lebensnähe (die aus t h e o l o g i s c h e n Gründen versäumte Lebensnähe) durch christliche Beispielschätze wieder zurückzuerobern, ist dann auch ein vergebliches Unterfangen. ERGEBNIS Wir haben nunmehr das Predigtproblem der Gegenwart unter dem Stichwort der „seelsorgerlichen Predigt" nach verschiedenen Seiten abgeschritten. Unser Stichwort wurde dabei nach folgenden Richtungen entfaltet : ι. Die seelsorgerliche Predigt wächst aus dem Dialog hervor und ist selbst ein Dialog. Sie ist eine Wiederholung des Selbstgespräches zwischen dem geistlichen und dem natürlichen Menschen in uns nach a u ß e n hin. 2. Der seelsorgerliche Dialog ist nur möglich aus der S o 1 i *) Ich halte den Begriff „Angst" im Sinne der Lutherübersetzung für zulässig, obwohl im Urtext thlipsis = Bedrängnis steht. Doch ist das hier nicht weiter zu begründen. 288 d a r i t ä t heraus, aus dem also, was der Hebräerbrief „Mit-Leiden" nennt. 3. Die Solidarität ihrerseits ist nur dadurch möglich, daß wir aus der bloßen Innerlichkeit heraustreten und daß wir die Geschichte, in der wir alle leben, unter Gericht und Gnade stellen. Anders ausgedrückt: die Solidarität ist nur dadurch möglich, daß wir von Gott als der die Geschichte tragenden Realität ausgehen und daß wir die Geschichte folglich als etwas verstehen, das unter Gottes Gebot und Gnade erbaut wird oder an beidem zerbricht. 4. Das letztere aber bedeutet nichts anderes, als daß wir den Ö f f e n t l i c h k e i t s a n s p r u c h der Predigt proklamieren, selbst wenn sie in den Katakomben und unter praktischem A u s s c h l u ß der Öffentlichkeit erfolgt. Die Predigt bezieht sich nicht nur auf die private Innerlichkeit, auf die Ich-Einsamkeit mit Gott oder—in einem gebräuchlicheren Worte ausgedrückt — auf die persönliche Bekehrung, sondern sie ist zugleich eine Welt-Angelegenheit, einfach deshalb, weil Jesus Christus alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf Erden. W o d a s Evangelium nicht mehr gepredigt wird, z e r f ä l l t d i e O r d n u n g d e r W e l t . Wir haben das in einem früheren Kapitel am Beispiel des Vertrauens gesehen: Wo Gott aus dem Leben ele-miniert wird, regiert die Angst vor dem Menschen, und die Gemeinschaften zerstieben in zentrifugaler Jagd. Luther hat in erschütternden Prognosen und Warnungen auf dieses mög- -liehe Schicksal Deutschlands hingewiesen. Und Reinhold Schneider sagt vom gottlosen Tatmenschentum, daß alles, was es zu vereinen strebe, sich wieder spalten müsse und „Not und Unheil" das schauerliche Produkt seiner sogenannten schöpferischen, in Wirklichkeit aber gottlosdestruktiven Kräfte sei. Wenn nicht alles trügt, sind wir in diese „Freiheit" des gottgelösten Tatmenschentums eingetreten. Das mag uns daran 289 erinnern, daß wir als Prediger nicht nur die Verantwortung für die K i r c h e , sondern daß wir sie als Kirche auch für die W e l t tragen, daß wir ein Wächteramt haben. Wir k ö n n t e n aber diese Verantwortung einfach nicht tragen, wenn wir die Welt erst erobern müßten, wenn es also um den E i n b r u c h in jene Öffentlichkeit ginge, die uns so hermetisch verschlossen ist. Aber ein Denken, das d a r a u f ausginge, wäre auch im Ansatz verfehlt : C h r i s t u s i s t d i e ö f f e n t l i c h e E r s c h e i n u n g s c h l e c h t h i n , auch wenn er unter den Paragraphen der Entkonfes-sionalisierung des öffentlichen Lebens fällt. Die Welt ißt oder trinkt sich an ihm das Leben oder das Gericht. Auch ein Totschweigen bedeutet nicht seine Eliminierung, sondern eine Entscheidung fürs Gericht: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder . . . " Gibt es eine öffentlichere Öffentlichkeit? Und wenn er totgeschwiegen wird, ist er auch dann noch -ein öffentliches Geheimnis. Noch einmal : Nicht w i r haben die Hand des Herrn zu nehmen und ihn in die Öffentlichkeit der Kontinente und Inseln, in die Öffentlichkeit der Presse, des Rundfunks und des Geredes zu bringen. Sondern diese Hand i s t über die Kontinente und Inseln, über die Wissenschaften und Künste, über Presse und Rundfunk gereckt, und wir haben nichts anderes zu tun, als hinter dieser ausgereckten Hand herzumarschieren und zu bezeugen, wie drohend und winkend ihr Schatten über der Welt sichtbar ist. Darum haben wir die Wirtschaftler und Politiker, die Kaufleute und Arbeiter, die Künstler und die Wissenschaftler nicht nur anzusprechen auf den sozusagen privaten Person-Kern hin, der in allen gleich ist, auf das MenschlichAllzumenschliche in ihnen, sondern haben ihnen auch etwas von der Ordnung ihres Lebens- und Arbeitsgebietes unter Christus zu sagen. Wir haben über das Verhält-.nis von Evangelium und Weltordnung nachzudenken, e i η 290 fach deshalb, weil Christus eine öffentliche Erscheinung ist. Es geht in der Predigt des Evangeliums, wenn ich mich pointiert ausdrücken darf, letztlich nicht nur um die Erbauung der Seele, sondern um die Erbauung der Welt oder ihren Zerfall. (Daß und inwiefern beides nicht voneinander zu trennen ist, sondern aufs engste zusammengehört, brauche ich nach allem Gesagten nicht mehr auszuführen; ebensowenig dies, daß diese unter der Geduld Gottes zu erbauende Welt --------------------zugleich der v e r g e h e n d e Äon ist, der immer nur „auf Abbruch" erbaut und erhalten wird.) Es geht um den ganzen Äon. Der Geschichtsbegriff des Alten Testaments ist förmlich geladen mit diesem Wissen. Schon darum ist uns der alte Bund als Hintergrund des neuen unentbehrlich. Es geht um das Geheimnis, daß die Weltgeschichte i η die Reichsgottesgeschichte eingebaut ist und daß es keine aus ihr ausgeklammerten Gebiete und Gestalten gibt, von der angeblich wertfreien Naturwissenschaft bis zu den großen Männern, die i h r e Geschichte zu machen meinen — sei es nun Nebu-kadnezar oder Hitler. Darum lebt die Predigt aus dem königlichen Realismus, der es einfach weiß, daß wir es nicht mit einem Drüben zu tun haben, nach dem die Aussicht uns verrammt ist, sondern mit einem Hier und Jetzt, in dem es einfach und höchst realistisch um Bestand und Untergang der Welt geht. Das „Realistischste" an einer mathematischen Gleichung, wenn ich einmal so sprechen und einen früheren Gedanken noch einmal aufgreifen darf, ist das V o r z e i c h e n , vor der Klammer und nicht der I η h a 11, der Klammer. Und das „Realistischste" in der Geschichte ist nicht die technische oder kulturelle oder militärische Leistung innerhalb der Klammer unseres Lebens, sondern das Vorzeichen: das Zeichen der Macht nämlich, in deren Namen wir leben, und damit die Frage, welchem Herrn wir gehören. 18 T h i e l i c k e , Fragen des Christentums. 291 D a s ist der Öffentlichkeitsanspruch unserer Predigt. Das ist auch ihr Wächteramt. Wir sind als Christen und als Prediger nicht nur Salz, sondern sind im buchstäblichen Sinne und wirklich im Sinne des scopus dieser Stelle : Licht der W e l t und Salz der E r d e . 292 Von Helmut ThielicJce erschienen ferner: Geschichte und Existenz. Grundlegung einer evangelischen Theologie der Geschichte. (G. Bertelsmann, Gütersloh) Vernunft und Offenbarung. Eine Studie über die Religionsphilosophie Lessings (C. Bertelsmann, Gütersloh) Das Verhältnis zwischen dem Ethischen und dem Ästhetischen. Eine systematische Untersuchung. (Felix Meiner, Leipzig) Kritik der natürlichen Theologie. 2. Aufl. (Chr. Kaiser, München) Die Krisis der Theologie. Zur Auseinandersetzung zwischen Barth und Gogarten. ( J. C. Hinrichs Verlag, Leipzig) Das Amt des Beters. Theologische Besinnung über das Wesen des Gebetes. (Lichtweg-Verlag, Essen) Christus oder Antichristus. 3. Aufl. (Emil Müller, Barmen) Schuld und Schicksal. Gedanken eines Christen über das Tragische. (Furche-Verlag, Berlin) Jesus Christus am Scheidewege. Eine biblische Besinnung. (FurcheVerlag, Tübingen). Auszugsweise in englischer Übersetzung erschienen. Neuauflage unter dem Titel „Zwischen Gott und Satan". (Furche-Verlag, Tübingen) Wo ist Gott? Briefwechsel. 4. Aufl. 9.—21. Tausend. 1940. (Vanden-hoeck & Ruprecht, Göttingen) In letzter Zeit erschienen: Tod und Leben. Studien zur christlichen Anthropologie. 2. Aufl. 1946. 225 S. ( J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen). Schweizerische Ausgabe 1944, Verlag Oikumene Genf Das Gebet, das die Welt umspannt. Reden über das Vaterunser. 2. Aufl. 6.—15. Tausend. 1946. 164 S. ( Quell-Verlag, Stuttgart) Der Glaube der Christenheit. Reden über den christlichen Glauben. 1947. 480 S. (Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen) Demnächst werden erscheinen: Kirche und Öffentlichkeit. Grundlegung einer lutherischen Kulturethik. Als Nr. 1 in der „Forsctmngsreihe der Ev. Akademie" (Furche-Verlag, Tübingen) Theologie der Anfechtung. Wissenschaftliche Aufsätze. Etwa 350 S. ( J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen) Christus unser Schicksal. Briefe, Aufsätze, Reden.Etwa 300 S. (Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen)