Fragen des Christentums an die moderne Welt

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HELMUT THIELICKE
FRAGEN DES
CHRISTENTUMS AN
DIE MODERNE WELT
FRAGEN DES
CHRISTENTUMS ' AN DIE
MODERNE WELT
FRAGEN DES
CHRISTENTUMS AN DIE
MODERNE WELT
Untersuchungen zur geistigen und
religiösen Krise des Abendlandes
von
HELMUT THIELICKE
Dr. theol. Dr. phil.
ordenti. Professor an der Universität Tübingen
J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen
1947
Alle Rechte vorbehalten — Printed in Germany
G. Μ. Ζ. F. O.
Visa N° 960/R de la Direction de
l'Education Publique Autorisation N°
2.192 de la Direction de l'Information
Druck von H. Laupp Jr in Tübingen Einband von Heinr. Koch,
Großbuchbinderei, Tübingen
Meinet Frau in gemeinsamer Erinnerung an die
schweren Jahre, die dies Buch entstehen ließen.
INHALTSVERZEICHNIS
VORBEMERKUNG: Absicht und Entstehung des Buches . . .
ERSTES KAPITEL: DIE SÄKULARISATION UND IHR
MENSCHENTYP. Das Schicksal des Nihilismus und seine Überwindung ...................................................................................................
Fragen des Christentums an die moderne Welt i. - Die seelsorgerlichen Gespräche Jesu. Die Umkehrung der Apologetik 5. Das Verstummen der Fragen an das Christentum 8. - Woher
rührt dies Verstummen? 11. - Das Dunkel über dem Leben: Die
Schicksalsnacht 13. - Fragen des evangelischen Glaubens in die
Resignation des Schicksalsglaubens 15. - Der Ausfall der Wahrheitsfrage 18. - Haltung und Halt 22. - Krisis des Wahrheitsbegriffs 32. - Das Verhängnis des Pragmatismus 38. - Religion und
Massenproblem 41. - Die Heraufkunft des Nihilismus 44. -Die
Lage des Säkularismus im Spiegel des Neuen Testaments 47. Verdrängung der Gottesfrage und moderner Lebensstil 51.
- Ausblick 57.
Exkurs zum ersten Kapitel: Ernst Jüngers Überwindung des
Nihilismus 60.
ZWEITES KAPITEL: KIRCHE, DOGMA, BINDUNG. Die Scheu
des religiösen Menschen vor der Kirche . . . . . . .
Reden und Verhüllen 71. - Die Kirche als das unheimliche „ganz
andere" 73. - Begegnung mit Christus 76. - Der Glaube des
Menschen an sich selbst 80. - Die Bindung an den Schöpfer und
die Bindung an die Schöpfung 83. - Der Glaube an die Schöpfung
in seinem positiven und seinem zersetzenden Sinn 87.
- Der Sturz in das Chaos durch die Selbsterhöhung des Menschen 96.
Exkurs zum zweiten Kapitel: Psychotherapie und Seelsorge. Eine
Frage an die Mediziner 108.
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DRITTES KAPITEL: TREIBENDE FAKTOREN DER VERWELTLICHUNG: TECHNIK UND ZIVILISATION. Christus
und das technische Zeitalter ...................................................................
Der Einbruch der Technik in die moderne Welt 124. - Fünf
Fragen nach der Beziehung von Technik und Christentum 128.
- Der weltanschauliche Glaube des technischen Zeitalters 131.
- Die Krise des technischen Fortschrittsoptimismus 133. - Das
Doppelantlitz des technischen Phänomens 136. - Die Technik als
Werk des Menschen 144. - Der Aufstand der Mittel 149. -Das
Wagnis „Mensch" 153. - Die Dämonisierung des Menschen und
seiner Technik 157. - Zusammenfassung: Die Selbstenthüllung des
Menschen durch die Technik 161. - Der Realismus der
unsichtbaren Welt 164.
VIERTES KAPITEL: ÜBER DIE WIRKLICHKEIT DES DÄMONISCHEN. Das Geheimnis der überpersönlichen Mächte
Der Ort der Verfallenheit 170. - Die Kategorie des Dämonischen
173. - I. Die personhafte Macht des Bösen 176. - Der Ursprung des
Bösen als Geheimnis 181. - Der Begriff des „Dia-bolos" 184. - Die
Anfälligkeit des Herzens 186. - Der Begriff „satanas" 190. - II. Der
Machtcharakter des Dämonischen 193.
- III. Die Anonymität des Dämonischen 198. - IV. Die Formen
seiner Machtausübung 203. - V. Christus in der Auseinandersetzung mit der dämonischen Macht 210.
FÜNFTES KAPITEL: DIE CHRISTLICHE BOTSCHAFT AN
DEN MENSCHEN DES SÄKULARISMUS. Umrisse einer neuen
Predigtgestalt ....................................................................................... .
Geschichte und Heilsgeschichte 218. - Die seelsorgerliche Solidarität 222. - A. Die sachlichen Probleme. I. Noch einiges zur
theologischen Begründung 227. - II. Die Gegenwartsbegründung
229. - III. Konkrete Aufgaben: Die „geschichtliche" Predigt 235. Predigt und Propagandarede 238. - IV. Gegen die Flucht in die
Innerlichkeit und gegen die Interpretation der Zeitgeschichte 242. V. Prinzipien und Umrisse der „geschichtlichen" Predigt (vom
Vollzug des Wächteramtes) 248. -B. Methodische Probleme.
Belastete Begriffe 258. - Die Doppelseitigkeit der Existenz 260. Die richtige Stellung des christlichen Vokabulars 262. Konkretisierung und Zerlegung der Begriffe 266. -Ergebnis 270.
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VORBEMERKUNG
Das vorliegende Buch bemüht sich um eine geistige Bestandaufnahme darüber, welche Rolle die Säkularisation (die
„Verweltlichung") in der gegenwärtigen Krise des Abendlandes spielt.
Es wird zu dem Ergebnis kommen, daß die Säkularisation der
schlechthin entscheidende Faktor, daß sie Ursache oder zumindest
Bedingung" jener Krise ist. Nur wer diese Diagnose richtig gestellt hat,
bekommt echte Möglichkeiten der Wiedergenesung zu Gesicht. Das
versuchen wir an den verschiedensten Lebensgebieten zu zeigen : an
der modernen Weltanschauungsbildung, am Existenzgefühl, am
Lebensstil, an den einzelnen Kulturgebieten und an der Technik.
Wir werden bei diesen Analysen immer wieder auf das letzte
Dezennium in Deutschland zu sprechen kommen. Und zwar aus einem
doppelten Grunde :
E r s t e n s hat in der Weltanschauung des Nationalsozialismus die
Säkularisation ihre schärfste nur denkbare Ausprägung gefunden und
damit einen überaus instruktiven Höhepunkt an Prägnanz gewonnen.
Deshalb kann eine Untersuchung, die den Nationalsozialismus auf
diese seine Hintergründe untersucht und die der Überzeugung ist, daß
er η u r „theologisch" zu verstehen sei, nicht einfach m i t veralten,
wenn die historische Erscheinung, die selbst nur symptomatischen
Rang besitzt, der Vergangenheit angehört. Der Baum, der sich in
diesen giftigen Früchten verraten hat, ist mit der Liquidierung jenes
Systems noch keineswegs selber tot.
11
Z w e i t e n s : Die Folgen, die das vergangene Regime durch
Propaganda, durch „Schulung" und vor allem durch seine ganze
Atmosphäre in den Menschen gezeitigt hat, sind ebenfalls nicht mit
aufgehoben, wenn das System dieser Menschenbehandlung äußerlich
sein Ende erreicht hat. Wir können auf Schritt und Tritt beobachten,
wie unter der Decke veränderter Begriffe und Programme weithin
dieselben Kategorien des Sehens wirksam sind und unser Blickfeld
bestimmen. So verfolgt dieses Buch neben der Aufgabe, die geschichtlichen Hintergründe sachlich (und das heißt in diesem Falle :
„theologisch") durchzuklären, auch das ausgesprochen praktische Ziel,
die Vergangenheit in einem echten Sinne liquidieren zu helfen und den
Aufbruch zu n e u e n Ufern anzuregen. Da der Verfasser diesen
Aufbruch nicht durch verträumte Ideale oder durch irgendeine
„Zukunftsmusik" hervorlocken möchte, sondern da er ihn nur in einem
sehr nüchternen und harten Sinne als „Umkehr" und „Heimkehr" verstehen kann, wird in und zwischen den Zeilen seines Buches immer
wieder das Gleichnis vom „Verlorenen Sohn" auftauchen (LukasEvangelium 15, 11 ff.).
Uber die Vorgeschichte des Buches werden den Leser folgende
Angaben interessieren: Es ist aus Vorträgen erwachsen, die der
Verfasser in vielen Städten unseres Vaterlandes während der Kriegs
jähre gehalten hat und deren Grundgedanken durch unzählige
Aussprachen, vor allem mit Angehörigen der jüngeren Generation,
bereichert und schärfer profiliert wurden. Nachdem der Verfasser - auf
Grund dieser Vorträge — 1942 durch ein Reise- und Redeverbot für
das gesamte Reichsgebiet in die Stille verwiesen war, schrieb er das
vorliegende Buch im Jahre 1943 nieder. Auf Anforderung des
ökumenischen Rates in Genf wurde das Manuskript (natürlich nicht auf
dem offiziellen Wege !) über die Schweizer Grenze geschafft und
erschien im Jahre 1944 zunächst anonym in Genf. Diese erste Auflage
wurde vor allem in die deutschen Kriegsgefange
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nenlager in aller Welt geschickt und hat dort als Grundlage für
Arbeitsgemeinschaften, vor allem bei improvisierten Hochschulkursen,
gedient. Das ist auch jetzt noch so. Dem Verfasser sind darüber
zahlreiche Berichte zugegangen, die ihn freuten und die ihn zu der
Hoffnung ermutigten, daß das Buch nun im Vaterlande selbst einen
ebenfalls klärenden und weiterhelfenden Dienst tun könne.
Von der zweiten Auflage an, d. h. nach der Beendigung des Krieges,
erschien das Buch im Auslande mit vollem Namen. Gegenwärtig
schwebende Übersetzungspläne bestärken den Verfasser in der
Annahme, daß man auch andernorts erkannt hat, wie wenig es bei der
Säkularisation um ein bloß, innerdeutsches Problem geht und wie sehr
andererseits die deutsche Problematik des letzten Dezenniums geeignet
ist, klassische Illustrationen für jenes gesamtabendländische
Verhängnis zu liefern. Vielleicht daß darin die tragische Mission
unseres Vaterlandes in den vergangenen Jahren seiner tiefsten Selbsterniedrigung zum Ausdruck kommt : jenes Verhängnis in allen seinen
Formen ausgelebt zu haben und darin sichtbar zu machen, in welche
Fremde und an welchen „Schweinetrog" es führt (Lukas-Evangelium
15, 16).
Wenn ich mich entschlossen habe, in der Titulatur den andernorts1)
heftig von mir abgelehnten Begriff „Christentum" beizubehalten, so
deshalb, weil ich damit auf die Begrifflichkeit nicht weniger Leser
eingehen möchte, die ich mir gerade für dieses Buch wünsche. (Sie
werden ihn beim Lesen der Arbeit schon früh genug wieder loswerden.)
Den begriffsempfindlichen theologischen Zunftgenossen gegenüber,
die sicher nicht alle Sinn für eine derartige Erwägung besitzen, tröste
ich mich mit dem Gedanken, daß sie vielfach erst dann, wenn sie die
Gelegenheit zu einem ersten großen Ärger gehabt und weidlich
ausgenützt haben, die nötige Gelassenheit zu gewinnen pflegen, deren
eine echte Lektüre be*) „Der Glaube der Christenheit", Göttingen 1947, 1. Kapitel.
13
dürftig ist. Und wer bei dem ersten Schritt gleich den Stiefel voll
Wasser bekommt, schreitet nachher vielleicht um so unbekümmerter
fort.
Da ich schon einmal bei der „Zunft" bin, möge noch eine letzte
Bemerkung gestattet sein:
Man wolle doch bitte zurückhaltend sein mit dem Vorwurf, es sei für
die Theologie eine „ g e f ä h r l i c h e " Sache, sich qua „Theologie"
mit dem Gegenstandsbereich einer Kulturkritik überhaupt einzulassen.
In meinen Tübinger Seminarübungen sind bei allen Teilnehmern zwei
Begriffe streng verpönt: nämlich einmal der Begriff „irgendwie" (weil
er ein Zeichen geistiger Unschärfe ist und darum auch am liebsten von
ästhetisierenden Frauenzimmern angewendet zu werden pflegt; nur wer
es schon in seinem Stil zu etwas gebracht hat, darf ihn gelegentlich
einmal verwenden, wenn es um die Erzeugung dessen geht, was der
Photograph eine „künstlerische" und also beabsichtigte „Unschärfe"
nennt); und ferner der Begriff „gefährlich", weil Gefahr eben — kein
theologischer Begriff ist. Wäre er es doch, so hätte es nie so etwas wie
eine theologia militans gegeben, sondern statt dessen nur ein
verkrampftes Gehen mit steifen Knien, wie wenn ein ängstlicher und
ungeschickter Mensch auf dem Eise geht und außerdem noch
fortgesetzt Ausschau halten muß, ob ihn nicht ein Lotterbube zu Fall
bringen oder eine Räuberbande ihm sein Hab und Gut nehmen will. Wir
sind uns im folgenden immer dessen bewußt, daß jeder theologische
Gedanke, der sich vielleicht mit den Mächten der Zeit auseinandersetzt,
eben diese Mächte zugleich in sich birgt und daß er - neben dem echten
Gehalt an Vollmacht und Wahrheit — zugleich die Funktion des
trojanischen Pferdes besitzt, in dessen Bauch fremde Ideologien
verborgen sitzen und wohl getarnt in die Stadt Gottes eingeschmuggelt
werden. Gerade Fachgenossen gegenüber kann ich darauf verzichten,
theologiegeschichtliche Exempel dafür zu statuieren.
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Wer um die Vergebungsbedürftigkeit alles theologischen Denkens
weiß, wird damit ganz von selbst vorsichtig und wahrscheinlich sogar
skeptisch—zum mindesten gegenüber der Aussage f o r m seiner
Gedanken. Aber er ist beides vielleicht etwas weniger verkrampft als
die Leute, die statt von Vergebungsbedürftigkeit immer nur von
„Gefahr" sprechen und die die Hand überhaupt nicht vom Alarmknopf
hinwegbekommen.
Ist es deshalb zu gewagt, wenn ich sage : Ein theologischer Gedanke
wird vor dem Jüngsten Gericht nicht durch das bestehen, was er „in re"
i s t (welche heimlich und unheimlich vom Zeitgeist erfüllte Theologie
irgendeiner Epoche könnte dann überhaupt anders plaziert werden als
zur Linken Gottes bei der Bocksherde oder gar in der Hölle?), sondern
ein theologischer Gedanke wird danach gemessen werden, wohin er
blickt und ob er beharrlich genug am Kreuze gehangen hat. Auch auf
ihn bezieht sich das Wort der Rechtfertigungslehre Luthers: Justus in
spe. Läßt sich nicht die ganze reformatorische Rechtfertigungslehre auf diese Formel bringen und sich gleichsam in Kategorien der Perspektive ausdrücken? Und sollte das, was dem
M e n s c h e n recht ist, nicht auch billigerweise von seinen
G e d a n k e n gelten - sogar von seinen t h e o l o g i s c h e n
Gedanken ----------- ?
Tübingen, Februar 1947.
Helmut Thielicke.
15
Ich habe in den letzten Jahren mehr und
mehr die tiefe Diesseitigkeit des Christentums
kennen und verstehen gelernt.
Der Christ hat nicht immer noch eine letzte
Ausflucht ins Ewige, sondern er muß das
irdische Leben wie Christus gan^ auskosten, und
nur indem er das tut, ist der Gekreuzigte und
Auferstandene bei ihm und ist er mit Christus
gekreuzigt und auferstanden. Das Diesseits darf
nicht vorzeitig aufgehoben werden.
Dietrich Β ο η h o e
f f ' e r , hingerichtet durch die
Gestapo im Frühjahr 194j
............... Selbst die
Erde verweht und die Götter sterben. Doch
Dauer hat der Tod. Die Vergeblichkeit hat Dauer.
Dauer hat, die uns hält, die Nacht. Zu fragen
ziemt uns nicht. Uns ziemt zu fallen; jedwedem
auf seinem Schilde.
Josef Weinheber, Adel und Untergang.
ERSTES KAPITEL
DIE SÄKULARISATION UND IHR MENSCHENTYP
DAS SCHICKSAL DES NIHILISMUS UND SEINE
ÜBERWINDUNG
„Fragen des Christentums an die moderne Welt"
Die Art unserer ThemasteUung ist vielleicht ungewöhnlich. Denn in
der Regel verläuft die Frage in umgekehrter Richtung : Die „moderne
Welt" pflegt das „Christentum" zu fragen.
Sie fragt es entweder echt und aus wirklicher Not, nämlich aus der
bedrängten Hoffnung heraus, es sei vielleicht in der Lage, ihr (der
„modernen Welt") eine Antwort auf entscheidende Lebensfragen zu
geben, vor denen sie selbst in hilfloser Menschlichkeit und mit bangen
Ahnungen steht. Oder aber die „moderne Welt" fragt in hämischer
Ironie : Was ihr denn die museale Gestalt dieses Christentums noch zu
bieten haben könne, ihr, die sich längst auf eigene Füße gestellt habe,
ihr, die sich aus unkontrollierbaren Jenseitsbindungen losgerungen und
den leuchtenden Lebenstag des Diesseits entdeckt habe und die nun in
diesem Lebenstag ihr Kämpfen und Lieben und Leisten zu vollführen
gedenke! Stehen die Dome der alten Zeit nicht wie „Fossilien" da - s o
kann die rhetorische Frage dann lauten —, „die in unsere Städte wie in
späte Sedi1
Τ h i e 1 1 c k e, Fragen des Christentums.
I
mente eingeschlossen sind", nur daß es uns unglaublich fern liegt, ja
unmöglich scheint, „von diesen Massen auf die Lebensmacht zu
schließen, die ihnen zugeordnet war und die sie bildete"? „Was in den
bunten Schalen lebte und was sie schuf, das Hegt uns ferner als die
Ammoniten der Kreidezeit; und leichter stellen wir aus einem
Saurierknochen, den wir in einer Schiefergrube finden, das Bild des
Tieres, das dazu gehörte, wieder her. Man kann auch sagen, daß die
Menschen von heute diese Werke sehen, wie ein Tauber die Formen
von Geigen und Trompeten sieht" 1).
In dieser Frage der Gegenwart an das Christentum enthüllt sich ihr
heimlich oder offen rhetorischer Charakter, der nicht mehr f r a g t ,
sondern nur noch in Frage s t e l l t .
Wenn nicht alles trügt, scheint aber in den letzten Jahren der
Starkstrom neu erwachter und erregender Fragen die Sicherungen jener
blasierten Rhetorik oder auch Resignation zu durchschlagen, und zwar
in steigendem Maße. Es ist wohl immer so, wenn die Völker und
Menschen plötzlich an der Grenze ihrer selbst stehen, wenn
apokalyptische Gesichte in ihnen zum Durchbruch ringen und sie
plötzlich der Frage standhalten müssen, w a s denn wohl zu Ende sei :
sie s e l b e r oder jenes längst T o t gewähnte? Es geht ihnen dann
wie dem Reisenden, der im Eisenbahnabteil sitzt und sich plötzlich
fahrend wähnt, während doch nur der Zug des Nachbargeleises sich in
Bewegung gesetzt hat. Meinen wir nicht auch (oder h a b e n wir nicht
gemeint), wir selber führen in neue Räume hinein und ließen die alten
Stationen jahrtausendealter Aufenthalte zurück, während es in
Wirklichkeit umgekehrt war, nämlich s o : W i r waren es, die
standen; und etwas anderes, das wir für stehengeblieben hielten, war
dabei, sich in Bewegung zu setzen und uns zu verlassen? Nichts anderes als das E v a n g e l i u m ist es, das sich dergestalt aufgemacht hat
und uns mit so entschlossenem Schritt zu ver*) Ernst Jünger,. Gärten und Straßen, Berlin 1942 S. 24.
Ζ
lassen scheint, daß wir heute bereits angstvoll fragen können, ob es
jemals zu einer erneuten Begegnung kommen könnte.
W e r ist denn über w e n hinausgewachsen? Wir beginnen an uns
selber zu zweifeln und auf das „Ewig Gestrige" (das s c h e i n b a r
„Ewig Gestrige") zu hoffen, weil es das ewig Zukünftige sein könnte.
Wir spüren dunkel, daß wir nicht so einfach die „Fragenden" sind —
sei es die echt oder aber die ironisch Fragenden —, sondern daß wir
die „Gef r a g t e n " sein könnten und daß die „frohe Botschaft", statt
Gegenstand unserer kritischen Blicke zu sein, auf einmal selber Augen
bekäme und uns mit Blicken umklammerte, von denen wir uns nie
träumen ließen.
Aber sei dem auch, wie ihm sei : In der Öffentlichkeit, die ja immer
hinter dem untergründigen und vorausdeutenden Geschehen herhinkt,
ist es noch so, daß die G e g e n w a r t die kritisch oder hämisch oder
sehnsüchtig Fragende ist. Und der Historiker muß feststellen, daß die
christliche Theologie sich allzu bereit dieser Fragerichtung gefügt hat :
Das geht schon deutlich aus dem Namen jener theologischen
Disziplin hervor, die vor allem eine solche Auseinandersetzung zu
treiben hat: Aus der „Apologetik". Ihre Funktion besteht darin, Rede
und Antwort zu stehen. Sie hat von jeher den Büchermarkt
überschwemmt mit zahllosen Broschüren, die alle betitelt waren :
„Antwort an ..." oder auch „Christentum und ... Naturwissenschaft",
„Christentum und . .. Mythos des 20. Jahrhunderts", Christentum und
... Anthroposophie", usf.
Diese Haltung der Apologetik ist zweifellos verhängnisvoll. So sehr
solche Auseinandersetzungen notwendig sind und so sehr sie vor allem
aufklärenden Sinn für jene breiten Schichten besitzen, die von
Schlagworten und Antichristen-tümern beunruhigt werden, ohne bis
zum Hintergrund des jeweiligen geistigen Geschehens vorzudringen,
so verhängnisvoll ist doch das Pathos der „Antwort": Zunächst muß
1*
3
einem ja schon der natürliche Menschenverstand sagen, daß das
Christentum auf diese Weise das Gesetz des Denkens und des
Handelns seinem Gegner überläßt, daß es ihm die Initiative in die
Hand gibt, kraft deren er die geistige Ebene und den Raum bestimmt,
in welchem der Kampf der Geister zum Austrag kommen soll.
Aber viel wichtiger als diese methodisch-taktische Seite des Frageund Antwortspiels ist die s a c h l i c h e Seite des Problems. Aus
s a c h l i c h e n Gründen nämlich kehrt die Bibel die Fragerichtung
geradezu um: Die erste zwischen Gott und Mensch sich ereignende
Frage lautet jedenfalls nicht : „Gott, wo bist du"? — so daß also der
M e n s c h die Initiative des Fragens besäße — sondern sie lautet
umgekehrt, nämlich „Mensch, wo bist du"? — und das ist die Frage
Gottes, die aus eigener Initiative den Menschen überfällt, so sehr überfällt, daß der Mensch sich verstecken muß und ganz und gar in die
Verteidigung übergeht. Wo Gott als der Herr gefürchtet und geliebt
wird,/ist e r immer der Fragende und sind w i r immer die Gefragten.
Und es ist deshalb nicht von ungefähr, daß die Frage „Wo ist Gott" erst
die späte Frage einer abgefallenen Zeit ist, und zwar einer Zeit, die den
Menschen zum Herrn und zum Träger der Initiative gegenüber Gott
proklamiert hat: Gott hat ja diesem späten Menschen „g e m ä ß" zu
sein und muß mit dieser „Gemäßheit" seine Anerkennung erkaufen.
D i e s e r Mensch also fragt: „Wo ist Gott"? Er fragt wohl nur deshalb,
weil er die u m g e k e h r t an i h n gestellte Frage nicht mehr
vernommen hat-sonst würde er das Anachronistische und
Widernatürliche seiner eigenen Frage verstehen. G o t t hat gefragt —
da können Menschen nur schweigen.
22
Die seelsorgerlichen Gespräche Jesu. Die Umkehrung der Apologetik
Dasselbe zeigt sich in höchster Plastik beim Verkehre Jesu mit
seinen Menschenbrüdern. Man kann da folgende Beobachtung machen:
Wo die Menschen von sich aus eine Frage an Jesus stellen, z. B. : „Wie
kann ein Mensch wiedergeboren werden"? — „Wie kann ich das ewige
Leben ererben"?, da antwortet Jesus niemals d i r e k t . Meist stellt er
sogar eine Gegenfrage mit dem Ziel, sein Gegenüber in ein Gespräch
zu verwickeln und in diesem Gespräch zuerst einmal die gestellte Frage
zu k o r r i g i e r e n . Zum Beispiel fragt der reiche Jüngling: Was
muß ich tun, daß ich das ewige Leben ererbe? Jesus kann ihm darauf
keine direkte Antwort geben, einfach deshalb nicht, weil der Mann
offenbar keinerlei Vorstellung von dem hat, was er da fragt. Die
Ratlosigkeit dieses Mannes ist nämlich so groß, daß er nicht nur keine
Antwort auf seine Frage weiß (wie man nämlich zum ewigen Leben
komme), sondern daß er nicht einmal richtig weiß, wie und in welche
Richtung hinein er fragen soll. (Auch heute kann man das ja bei vielen
religiösen Diskussionen feststellen.) Der reiche Mann will ein Rezept.
Schon daran zeigt sich, daß er sich unter dem ewigen Leben etwas
völlig Falsches vorstellt und folglich auch nicht richtig nach ihm fragen
kann. Darum drängt ihn Jesus, zunächst einmal seine Frage ganz anders
zu stellen. Das geschieht so, daß er ihn der befremdlichen Zumutung
aussetzt, alles zu verkaufen und ihm dann nachzufolgen. Natürlich sagt
Jesus das nicht, um damit das Programm eines allgemeinen und höchst
grotesken Finanzgebarens aufzustellen. (Wohin sollte das führen? Und
wie verantwortungslos wäre es, nun andern den eigenen Reichtum
aufzuhängen?) Sondern er fordert den reichen Jüngling zum Verkauf
seiner Güter nur deshalb auf, damit dieser sich einmal die Frage
vorlegen muß: Was ist mir lieber: Mein Lebensstandard, meine
öffentliche Geltung und mein Einfluß — o d e r jenes
23
ewige Leben, jenes Reich Gottes, nach dem ich zu fragen wagte? Was
ist mir lieber: „Gut, Ehr, Kind und Weib" -o d e r „das Reich, das uns
doch bleiben muß" ? Sollte der reiche Mann nicht bereit sein, Gott
ü b e r alle Dinge zu lieben, so daß er eben auch a l l e Dinge für ihn
hinzugeben bereit wäre, dann würde seine so fromm klingende Frage
nur ein geistiger und religiöser Luxus, eine allgemeine Interessiertheit
für transzendente Angelegenheiten sein, nicht mehr. Das Reich Gottes
kann aber niemals Gegenstand dieser höchst unverbindlichen und das
Leben nicht weiter tangierenden Interessiertheit sein. Das Reich Gottes
ist entweder alles oder nichts für uns. Es ist entweder in Kraft, d. h.
Dynamit für unser ganzes Leben, oder wir haben keinen Hauch von ihm
verspürt. Darum muß der reiche Mann in so drastischer Weise an das
eigentliche Geheimnis seiner Frage herangeführt werden. Er muß sich
auf den Zahn fühlen lassen, ob es ihm auch ernst ist mit seiner Frage,
ob er also das Reich Gottes wirklich i n seiner das ganze Leben
überwiegenden und überwältigenden Totalität gesehen hat, o d e r ob
er nur nach ihm gefragt hat, wie man nach dem Wetter fragt. Und siehe
da: Der reiche Jüngling steht unmutig auf und geht traurig von dannen,
„denn er hatte viele Güter". Er hat also die Frage nach dem Reiche
Gottes n i c h t ernst genommen. Er war n i c h t bereit, irgendein
Opfer dafür zu bringen. Er wollte es n i c h t tief genug in sein Leben
hineinlassen. Nun ist es heraus und die Katze aus dem Sack.
So geht Jesus mit den Fragen der Menschen um. Ehe sie sich's
versehen, sind sie selber die Gefragten. Ihre Frage nach Gott und
seinem Reich springt auf sie selbst mit unerhörter Wucht zurück. Sie
meinen, aus eigenem Interesse und je nach der geistigen oder frommen
Laune die Zone um Gott betreten zu können. Aber indem sie es tun,
treten sie in ein elektrisches Kraftfeld ein, und der Schlag Gottes rührt
sie an. Es ist schon so: N i c h t d i e W e l t f r a g t n a c h G o t t ,
sondern Gott fragt die Welt.
24
Vielleicht ist es gut, sich den gleichen Tatbestand noch von einem
weiteren Punkt her klarzumachen, der diesmal von Paulus bezeichnet
wird und auf jener durchgängigen biblischen Linie liegt.
Auch die Frage des modernen Menschen: Kann man Gott überhaupt
erkennen? müßte von der Schrift her (Rom. i, i8fT.) ebenfalls korrigiert
werden, nämlich dahin, daß das Problem gar nicht lautet: Kann ich
Gott erkennen? Sondern bin ich bereit, Gott anzuerkennen? Bin ich
bereit,, seinen Willen zu tun ? Denn nur wer den Willen tut meines
Vaters im Himmel, wird inne werden, ob diese Lehre von Gott sei, ob
sich also Gott in diesem Zeugnis zu erkennen gibt und somit erkannt
werden kann (Joh. 7, 17). Nur wer aus der Wahrheit i s t , d.h. wer die
Wahrheit t u t , wer ausihr l e b t , d e r hört hier die Stimme,
niemand sonst (Joh. 18, 37). Mit religiöser Begabung jedenfalls hat
dieses Hören nichts zu tun, um so mehr aber mit der „Einstellung"
meines Lebens. So springt also auch meine erkenntnistheoretische
Frage nach Gott auf mich selbst zurück: Ich bin nun meinerseits
gefragt, ob ich aus jener Anerkennung Gottes heraus lebe, in der allein
ich meine Aμgen zu ihm erheben kann, um im Lichte des Glaubens
etwas von ihm zu sehen.
Wir sehen also, wie verkehrt die Einstellung der „Apologetik" ist,
wenn sie sich immer nur als die Antwortende und nicht mehr als die
Fragende versteht. Die Kirche Jesu Christi hat im Namen Gottes die
Welt viel mehr zu fragen, als sie zu antworten hat. D e r
christliche Glaube ist keineswegs eine simple
oder geradlinige Antwort auf die Lebenspr
o.blematik des
r e l i g i ö s e n M e n s c h e n . Jesus
a n t w o r t e t sozusagen nicht, sondern er s t e l l t uns allererst die
tiefsten Fragen. Und diese Stimmung des fragenden Zugehens sollte
auch unserer Botschaft erhalten bleiben.
25
Das Verstummen der Fragen an das Christentum
Zu diesen die Apologetik destruierenden Erwägungen kommt noch
eine historische Beobachtung hinzu: die Beobachtung nämlich, daß die
gegenwärtige Welt im allgemeinen stumm geworden ist in ihren Fragen
an den christlichen Glauben (auch wenn es von Kriegsjahr zu Kriegsjahr
von Aus-' nahmen zu wimmeln beginnt).
Es gab solche Fragen an das Christentum zu gewissen Zeiten
zweifellos : Das n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e Zeitalter stellte mit
der Lautstärke und im Gleichtakt eines Sprechchores die Frage: Wie
sich denn die Welt der Wunder, wie • sich überhaupt der transzendente
Eingriff Gottes in unsere Welt vereinigen lasse mit deren in sich
geschlossener Immanenz und mit dem kausalbestimmten Ablauf ihrer
Erscheinungen. Das Zeitalter des H i s t o r i s m u s stellte in der
gleichen Übereinstimmung die Frage, ob man denn den Glauben der
Kirche auf sogenannte historische Fakten gründen könne, die derart im
Halbdunkel des Mythos und in historisch kaum noch aufzuhellenden
Lebensräumen herumgeisterten (was „wissen" wir denn vom Leben Jesu
und von dem der Urgemeinde? Sind wir nicht angewiesen auf
tendenziöse und einseitige Quellen, die keinerlei protokollarischen Wert
besitzen, sondern selbst schon Verkündigung sein wollen? ! usw.).
Ich sagte, es g a b solche kritischen Zeitfragen an das Christentum.
Der historisch und naturwissenschaftlich erwachende neuzeitliche
Mensch rieb sich gleichsam verwundert die Augen und stellte die
Frage, wie sich denn die christliche „Weltschau", von der er herkomme,
noch vereinbaren lasse mit der neuen Sicht der Dinge, die ihm die
Wissenschaften vermitteln. Eine kurze Schrecksekunde lang stellte
auch der neuzeitliche Mensch noch diese Fragen, selbst wenn es
meistens eine rhetorische Frage, ein Ausruf der Verwunderung, war. Es
war der Versuch, sich mit Hilfe dieser Frage neu zu orientieren.
26
Diese Fragen aber werden jetzt durchschnittlich nicht mehr gestellt;
höchstens innerhalb der Gemeinde selbst, und zwar von dem geistig
wachen und bewußt in der Zeit lebenden Teil ihrer Glieder. Die andern,
„Draußenstehenden", haben sich im Banne der öffentlichen Meinung
daran gewöhnt, die Frage des Christentums nicht mehr unter dem
Gesichtspunkt „wahr" oder „unwahr" anzusehen, sondern unter dem
unverbindlichen und den eigenen Rückzug ermöglichenden Gesichtspunkt: „veraltet" oder „das Neueste". Jedenfalls scheint es mir typisch
zu sein, daß auch die entsprechenden Veröffentlichungen der
theologischen Literatur, die sich mit der Frage „Historie und
Evangelium", oder „Naturwissenschaft und Christentum" befassen, in
der Regel nur innerhalb der Gemeinde, aber nicht von der „Welt"
gelesen werden, obwohl sie doch gerade der Auseinandersetzung mit
dieser „Welt" und ihrem neuen wissenschaftlichen Selbstverständnis
gewidmet waren1).
Die Welt, insofern sie außerhalb der Kirche steht, hat aufgehört,
nach der Beziehung des vermeintlich „absoluten Christentums" zu den
Relativitäten moderner Forschungsergebnisse zu fragen und von der
Spannung zwischen beiden aufx)
Vgl. 2. B. die Bücher von Kahler, E. Weber, oder selbst die Bücher
von Karl Heim. Der Krieg - ich schrieb dies im August 1943 - hat freilich
auch hier eine deutlich sichtbare Wandlung gebracht. Die Frage nach der
Kirche ist in den letzten Kriegsjahren schon recht vernehmlich, ist nach
Kriegsende unüberhörbar geworden. Ob sie eine echte und eine letzte
Frage ist, hängt selbst wieder davon ab, ob sie durch die Antwort der
Kirche und die apokalyptischen Gerichte unserer Zeit zu einer wirklichen
Frage nach Christus gewandelt (Joh. 6, 68) wird. Es könnte ja auch sein Gott wolle das in Gnaden verhüten -, daß in dieser neuerwachten Frage
wiederum ein verwundertes „Die-Augen-reiben" zum Ausdruck käme :
Wie kommt es, daß diese Institution die Zeiten des Zerbruchs überdauert
hat? Ob es wohl möglich ist, in der Zeit des Nihilismus und der inneren
Heimatlosigkeit hier einen neuen Wohnort, eine neue „Bindung", zu
finden? Ob es nur um eine solche Interimsfrage geht, die wir aus den
letzten Jahrzehnten ja zur Genüge kennen, oder um eine echte und n e u e
Frage, das wird sich erst noch zu zeigen haben.
27
geregt zu werden. Nur die Kirche selber, insofern sie" a u c h in der
Welt steht und Welt in sich hat, nur der geistliche Mensch, insofern er
auch
natürlicher Mensch ist und deshalb von allen
Weltanschauungs- und geistigen Fragen mitbewegt wird, weiß sich
weiter gefragt. (Daher kommt es wohl auch, daß der geistig wache Teil
der christlichen Gemeinde in den letzten Jahrzehnten zum
schlechthinnigen Träger unserer Kultur überhaupt geworden ist, denn
das
genannte
„Mitbewegt-sein"
ist
die
einzige
Form
kulturschöpferischer Wachheit, die der abendländische Lebensraum
noch besitzt.)
Es ist aber eben bezeichnend: Alle diese Fragen der Auseinandersetzung (Christentum und Naturwissenschaft; natürliche
Religion und Dogmenglaube ; Geschichtliches und Übergeschichtliches
am Christentum usw.) tauchen n i c h t m e h r i n e i n e m D i a l o g
z w i s c h e n - K i r c h e u n d W e l t auf, sondern nur noch i n
e i n e m M o n o l o g d e r K i r c h e m i t s i c h s e l b s t — mit
sich selber als einer darum Wissenden, daß sie auch in der Welt steht
und > daß jene Fragen so in ihr selber aufbrechen.
Deshalb haben alle Äußerungen der Kirche
zu weltanschaulichen und geistigen Fragen in
der Praxis nicht etwa den Charakter der
Auseinandersetzung nach außen, sondern den
Charakter des Trostes in der Anfechtung nach
i n n e n . Es handelt sich um ein Selbstgespräch des geistlichen
Menschen mit dem natürlichen Menschen in uns selber. S o ist die
geistige und weltanschauliche Lage. Und zwar handelt es sich, soweit
ich
richtig
sehe,
dabei
nicht
um
eine
statistische
Augenblicksfeststellung, die im nächsten Augenblick überholt wäre,
sondern u m das Ergebnis eines seit langem abrollenden geistigen und
geistlichen Prozesses, der seine innere und dauernde Gültigkeit hat.
Deshalb haben alle Feststellungen, die wir im folgengenden treffen,
nicht den Charakter einer Zeitschilderung;
28
sondern umgekehrt sind die Zeitschilderungen die Illustration jenes
inneren Prozesses, den man nur theologisch verstehen kann. Wir
versuchen nichts Geringeres als eine theologische Interpretation des
säkularen Menschentums überhaupt und meinen allerdings, daß unsere
Zeit eine besonders prägnante Phase für die Beobachtung dieses
anthropologischen Phänomens darstelle. Es geht uns also nicht um
Statistik, sondern um Theologie.
Woher rührt dies Verstummen?
Wir stellen nun einfach die Frage, wie jenes Verstummen der
religiösen Frage und besonders auch der Frage nach dem Christentum
zu verstehen sei. Die ä u ß e r e n Gründe, die man dafür anführen
könnte, sind doch nur die Folgen einer i n n e r e n Situation, von der
noch zu reden sein wird. Zu diesen ä u ß e r e n Gründen gehört vor
allem
die
Entkonfessionalisierung
des
ö f f e n t l i c h e n L e b e n s , die wir seit der Aufklärung in stets
wachsender Form und 'mit einer letzten Aufgipfelung während des
nationalsozialistischen Dezenniums beobachten können.
Der Krieg bietet uns dafür eindrückliche Illustrationen: Jeder Christ,
der Soldat wurde, weiß das : Die Botschaft, die er auf der
Kasernenstube oder im Kasino auszurichten versucht, stößt nicht so
sehr auf Gegenargumente als vielmehr auf die schlechthinnige
Argumentslosigkeit. Sie stößt nicht auf Wider-Worte, sondern auf
Wertlosigkeit. Er hat das Gefühl, Antwort auf Fragen zu geben, die gar
nicht gestellt wurden, und selber Fragen anzurühren, die zu keiner
Antwort zu nötigen scheinen. Wenn aber doch eine der berühmten
„religiösen Debatten" aufklingt, so ist das — vom Grenzfall der Front
und der Todesnähe abgesehen — in der Regel nicht auf ein „religiöses"
als vielmehr auf ein „menschliches Interesse" zurück
II
zuführen: Wie kommt es nur — in dieser Frage gründet jenes Interesse
— wie kommt es nur, daß d e r , den wir aus den und den Gründen so
gern haben und schätzen, der wahrhaftig nicht auf den Kopf gefallen ist
und in jeder Weise seinen Mann stellt, daß der „noch" ein Christ ist?
Der Impuls zu solchen Debatten kommt also zumeist nicht aus echten
und sachlich bedingten Fragen, sondern aus einer persönlichen
Verwunderung; er ist nicht „theologisch", sondern „anthropologisch"
bedingt.
Man hat, um dies Verstummen der Frage zu erklären, auf den
sogenannten „Schwund der metaphysischen Substanz" beim modernen
Menschen verwiesen, wie er ganz besonders innerhalb der stark
säkularisierten Landstriche, nicht nur in Deutschland, zu beobachten
sei. Für diesen Menschentyp existiere die Wirklichkeit Gottes, die
Wirklichkeit der Vorsehung, des Gerichtes, der Gnade überhaupt nicht
mehr; der Welthintergrund sei ihm zum undurchschaubaren und unerfragbaren „Schicksal" geworden.
Ich darf im folgenden kurz berichten, wie ich im Nachdenken über
diese Frage selbst weitergeführt worden bin :
Zu Anfang des Krieges schrieb ich ein kleines Buch über die Frage:
„Wie kann Gott das zulassen . . -?"1)
Ich habe darin die alte Theodizee-Frage behandelt, die angesichts des
Krieges, so meinte ich, in neuer und unerhörter Wucht aufbrechen
würde. Die Menschen werden vor der Frage stehen : E i n e s kann nur
stimmen : E n t w e d e r der Gott der Liebe o d e r aber Blut, Terror,
Grauen. Da wir aber nur das Blut der Erschlagenen und Verbrannten
und nur die Schutthaufen unserer großen Städte sehen, so wird der Gott
der Liebe wohl eine Lüge sein. Denn er paßt nicht zur Wirklichkeit des
Grauens, und außerdem ist er unsichtbar und unkontrollierbar, während
das Grauen sichtbar und kontrollierbar ist.
*) »Wo ist Gott", Göttingen 1939/40, 4. Aufl.
30
So etwa schätzte ich die kommenden Fragen ein.
Kurt Ihlenfeld antwortete mir darauf im „Eckart": Die Frage „Wie
kann Gott das zulassen" sei nicht eigentlich d i e Frage unserer Zeit,
und zwar einfach deshalb nicht, weil für den heutigen
Durchschnittsmenschen Gott gar keine so greifbare Realität sei, daß
dieser „Normal"-Mensch überhaupt unter dem Widerspruch zwischen
der angeblichen Liebe Gottes auf der einen Seite und der Grausigkeit
des Weltgeschehens auf der andern Seite zu leiden vermöchte. Der
Mensch frage in der Regel weder nach dem Sinn des Geschehens
überhaupt noch erst recht nach der göttlichen Liebe, die sich in den
Weltläufen zum Ausdruck bringe. Er stehe o h n e zu fragen im
Dunkel der Welt, das sich d o c h nicht durchdringen lasse. Er lasse
das Dunkel dunkel bleiben und verharre in Resignation.
Tatsächlich ist dieses Stehen im Dunkel und dies Im-Dunkel-stehenbleiben - w o l l e n die beherrschende Situation, mit der die christliche
Botschaft zu rechnen hat.
Das Dunkel über dem Leben: Die Schicksalsnacht
Wir sprechen zuerst von diesem Dunkel über
dem menschlichen Leben, in das hinein nicht
mehr gefragt werden kann.
Zum Teil kommt in dieser Resignation angesichts des LebensDunkels ein ehrliches Ignoramus zum Ausdruck. Bei säkularen
Beerdigungen kann man sich oft davon überzeugen. Der Grundriß
einer Durchschnittsbeerdigung dieser Art ist ungefähr so:
Wir wissen nicht, woher der Mensch kommt und wohin er geht.
Dunkel liegt über den Horizonten. „Das Leben ist eine Schleife, die
sich im Dunkeln schürzt und löst" 1). Nur die kleine Wegstrecke
zwischen den Horizonten ist beleuchtet:
x)
E.Jünger, „Das abenteuerliche Herz", i . Fassung; Berlin 1929.
31
Und diese Wegstrecke stellt unsern Erdentag dar mit seinen Aufgaben.
An d i e müssen wir uns halten. Jedes Nachdenken darüber hinaus
führt zum Grübeln, das den Willen zum Handeln lähmt, oder zu einer
Relativierung der diesseitigen Dinge, die sie madig macht, die die
Begeisterung für sie ernüchtert und wiederum das Handeln lähmt.
Die „religiöse Frage" ist, von hier aus gesehen, also ein Starren in
Nacht und Dunkel und Abgrund und wird deshalb lebensbedrohlich:
Wenn du lange in einen Abgrund blickst, so blickt der Abgrund
schließlich auch in dich hinein (Nietzsche).
Es ist nun freilich klar, daß dieser Blick in der Tat das Handeln
lähmen muß. Wenn wirklich der Horizont der Welt, wenn unser letztes
Woher und Wohin in Dunkel getaucht ist, dann ist eben der „religiöse
Blick" ein Blick ins Dunkel, das man gewaltsam durchdringen und
erhellen möchte. Und dieser Blick lenkt von dem Erdentag, in dem wir
unsere Pflicht und unsere Ecke haben, a b.
Daher rührt auch die Entwertung des G e b e t e s in der
öffentlichen Meinung. Denn das Gebet kann von der geschilderten
Position oder vielmehr Negàtion aus natürlich nichts anderes mehr sein
als ein Reden ins Dunkle, als ein Zeitdiebstahl an den Aufgaben
unseres Lebenstages. Darum ist es nur natürlich, wenn das alte Wort
„Bete und arbeite" im Namen jenes realistischen Lebenstages
verwandelt wird in das andere „Arbeite — das s e i dein Gebet!"
Ich sagte: Nach der genannten Einstellung müsse der „religiöse
Blick" notwendig vom Erdentag und seinem realistischen
Arbeitsbereich a b l e n k e n . Der Unterschied des „Blickes" geht
einem manchmal an mittelalterlichen und modernen Porträts auf: Die
Augen der mittelalterlichen Menschen scheinen oft merkwürdig
verloren auf Horizonte zu schauen — freilich nicht auf einen dunklen,
sondern auf einen erleuchteten Horizont. Jedenfalls ist ihr Blick so
eingestellt,
32
daß er durch das Nächstliegende hindurchzugehen scheint, daß ihm
dies Nächstliegende sozusagen transparent wird für die Welt, die sich
dahinter erhebt und auf die doch alles Diesseitige hin angelegt ist und
hindrängt.
Schauen wir dagegen die Photos typischer Menschen unserer Zeit
an, vielleicht gerade führender und aktivistischer Naturen (Politiker,
Industrielle, Sportler), so ist ihr Blick — um in der Fachsprache der
Photographie zu sprechen — sozusagen auf wenige Meter eingestellt:
es ist so, als ob sie die unmittelbar vor ihnen liegende Aufgabe im
Auge hätten oder einen G e g n e r fixierten, als ob sie jedenfalls von
einem Gegenstande beherrscht seien, der unmittelbar vor dem Zugriff
ihres Handelns liegt. Es ist das moderne Auge, das in den
Vordergründen verharrt und die Ferne des Horizontes verloren hat oder
verschmäht. —
Wir fassen zusammen :
Das letzte Woher und Wohin des Lebens scheint dem säkularen
Menschen verborgen. Danach zu fragen ist deshalb müßig. Diejenigen,
die sich hauptamtlich damit befassen, gelten gleichsam — und nicht
nur „gleichsam", sondern gemäß einer nicht unmaßgeblichen
Zeitschriftenäußerung *) als „arbeitslos". Im Namen der realistischen
Tagesaufgaben ist das träumende Verweilen in metaphysischen
Wolkenkuckucksheimen oder das schwermütige Stieren in die
jenseitige Nacht a b z u l e h n e n .
Fragen des evangelischen Glaubens in die
Resignation des Schicksalsglaubens
Hier beginnt die erste Frage christlichen Glaubens an die
Verleugnung der letzten Woher- und Wohinfrage :
Für die biblische Sicht der Dinge besteht nämlich ein umgekehrtes
Verhältnis von R e a l i s m u s und T r a u m .
*) „Schwarzes Korps" 1938.
33
„Realismus" bedeutet hiernach : mit der Tatsache des Reiches Gottes
rechnen und sein ganzes Leben darauf einrichten, weil sonst alles in
diesem Leben Geleistete vergeblich ist. I n s o f e r n ist dann das mit
realistischer Tatkraft und mit einem taktisch gewiegten Blick für
Erfolgsmethoden angepackte und gemeisterte Leben gerade
träumerisch und wolken-kuckuckshaft, weil es nicht mit dem
Bleibenden rechnet, sondern „auf das Fleisch sät", das doch verwest.
Ein biblischer Vertreter dieses Wolkenkuckucksträumer-tums ist der
reiche Kornbauer. Äußerlich gesehen ist er ein realistischer Tatmensch
und Rechner (Lk. 12, 16 ff.). Nach einer Rekordernte entwirft er einen
4- oder einen 10-Jahres-plan, baut seine Lagerräume um und treibt eine
planmäßige Vorratswirtschaft. Im Gefühl seiner absoluten Autarkie und
der unerschütterlichen Sicherheit seiner Lebensbasis sagt er: „Liebe
Seele, du hast einen großen Vorrat auf viele Jahre ; habe nun Ruhe, iß,
trink und habe guten Mut". Aber er hat den wichtigsten Faktor in seine
Lebenspläne n i c h t einkalkuliert: den Faktor „Gott". Er wäre in der
Tat in jeder Hinsicht die wichtigste Größe gewesen: nicht nur weil er
die Lebensbedingungen (und gerade die durch die Rekordernte
g e s e g n e t e n Lebensbedingungen!) gibt oder versagt, sondern weil
er uns auch bleibt und zwar a l l e i n bleibt, wenn der Tod uns zum
Abschied vom Leben und seinen guten oder schlechten Bedingungen
zwingt. Denn wir Menschen sind abgesehen von allen Lebensgütern
und abgesehen von der materiellen oder geistigen Atmosphäre, die wir
um uns herum bilden, immer noch „etwas", wir gehen niemals in
alledem auf, wir.haben noch ein Selbst jenseits von aller Habe, mit der
wir uns behängen, aber eben nur „behängen". Und l e t z t e n Endes
kommt alles darauf an, wie wir für dieses Selbst sorgen, das wir
unterhalb und innerhalb aller „Anhängsel"' noch sind. Haben wir es
aufgehen lassen in jenen Anhängseln der materiellen Welt, haben wir
also unser Leben - um den
34
biblischen Ausdruck zu gebrauchen — vom „Fleisch" her aufgebaut,
so stehen wir, wenn uns der Tod die Anhängsel nimmt, verlassen,
nackt und frierend da, denn unsere Existenz ist uns unter den Füßen
hinweggezogen. Wir stürzen buchstäblich ins Bodenlose.
Haben wir dagegen unser Leben in Gemeinschaft mit Gott geführt
und sind mit ihm in „Frieden", so trägt uns diese Gemeinschaft über
den Verlust aller diesseitigen Existenzbasen, über den Verlust von Gut,
Ehr', Kind und Weib, ja selbst über den Tod hinweg.
Darum ist der kluge landwirtschaftliche Rechner des Gleichnisses
eben d o c h kein Rechner und kein Realist gewesen (obwohl er die
eiskalten Augen eines brutalen Tatsacheri-menschen gehabt haben
mag), sondern er war ein Träumer und — ein N a r r , das heißt
u n k l u g in einem letzten aber entscheidenden Sinne: „Du Narr!
Diese Nacht wird Gott deine Seele von dir fordern und wes' wird's
sein, das du bereitet hast? Also geht es, wer sich Schätze sammelt und
ist nicht reich in Gott" (Lk. 12, 20 f.). Der echte Lebensrealismus weiß
um die ausschlaggebende Bedeutung des „Reich-Seins in Gott". Wer
dieses Wissen nicht hat, baut sein Haus auf Sand und träumt von
Felsen. Die Bibel interessiert sich aber viel weniger dafür, ob man mit
den berühmten „beiden Beinen" in der Wirklichkeit steht, als vielmehr
dafür, w o r a u f man mit diesen Beinen steht. Man kann die ganze
Welt gewinnen und doch Schaden nehmen an seiner Seele. Dann aber
ist der ganze Weltgewinn Traum und Schaum gewesen. Andererseits
aber ist es nur natürlich und logisch, daß von diesem Träumertum der
Welt her gerade der wache Realismus der Bibel als Traum und die
eigene Träumerei als Realismus gewertet werden muß: „... denn ein
Wacher ist immer Träumer unter Trunkenen" (Rilke, Stundenbuch S.
89).
Wir vollziehen nunmehr einige scharfe Gegenüberstellungen von Τ
räum erei und Realismus:
2 Τ h i e 1 i c k e, Fragen des Christentums.
*35
, Der ist ein Träumer und baut auf Sand, der ohne jenen „Boden" im
Leben stehen und seine Existenz erbauen und sichern möchte. Und der
ist ein Realist, der zuerst nach diesem „Boden", nach dem Reiche
Gottes, trachtet und im Gefolge dieses Trachtens, auf der L i n i e
dieses Trachtens, sich das andere „zufallen" läßt, sozusagen „mit"nimmt.
* Es herrscht also, biblisch gesehen, eine sehr genaue und totale
Umkehrung von Realismus und Traum : T r ä u m e r ist der, der in der
Unwahrheit existiert und darum sein Leben auf eine falsche Karte setzt,
auch wenn er m i t dieser falschen Karte dann noch so gewandt spielt.
Die Erbauung des babylonischen Turmes konnte als eine Realleistung
großen Stils erscheinen. Aber der Name, in dem er errichtet wurde, die
Karte, auf die man setzte, war falsch : daß nämlich Gott n i c h t sei.
So war er nichts anderes als ein steingewordener Traum, der in sich
zusammenstürzte und seine Anbeter unter den Trümmern begrub oder
sie in die Fremde schleuderte. Viel mehr als auf die Summanden
innerhalb einer mathematischen Klammer kommt es auf das positive
oder negative Vorzeichen an, das davor steht. Auf das
V o r z e i c h e n ! Die unbestreitbar große und imposante „Summe"
der babylonischen Bauleistung hatte nur e i n e n Fehler : Das
Vorzeichen vor ihrer Klammer war negativ.
Wir haben mehr und mehr verlernt, auf das Vorzeichen zu sehen, in
dessen Namen wir handeln. Wir verlassen uns statt dessen in
trügerischer Sicherheit auf die beachtlichen Summen an .Leistung und
Fortschritt, zu denen wir es i η der Klammer unseres Lebens und
Kulturniveaus gebracht haben.
Der Ausfall der Wahrheitsfrage '
Diese Abwendung von der Vorzeichenfrage, von der Frage nach
dem Woher und Wohin, hängt nun mit einem tieferen
36
weltanschaulichen Grunde zusammen. Man kann sich diesen Grund
folgendermaßen klarmachen :
M a r x und E n g e l s haben in dem bekannten „Kommunistischen
Manifest" die Lebensgebiete : Kunst, Religion und Moral als
„Ideologien", als bloße Spiegelbilder, bezeichnet. Spiegelbilder sind
unwirklich. Sie wollten mit dieser Feststellung also sagen: Jene drei
Lebensgebiete sind keine eigenständigen Realitäten, sie sind nur der
unwirkliche Reflex einer andern und zwar der e i g e n t l i c h e n
Wirklichkeit, nämlich ein Reflex der ö k o n o m i s c h w i r t s c h a f t l i c h e n Vorgänge. Je nachdem, wie eine Zeit auf
ökonomischem Gebiet strukturiert ist, ist auch ihre Kunst, ihre Moral,
ihre Religion. Diese befinden sich in einem Zustande völliger funktionaler Abhängigkeit. Ein sozialistisches Zeitalter bringt eine andere
Sittlichkeit, auch eine andere Kunst hervor als ein kapitalistisches.
Man wird sagen dürfen, daß diese Ab-Wertung der drei geistigen
Hauptgebiete zur „Ideologie", zum unwirklichen Spiegelbild, ein
Kennzeichen des Säkularismus überhaupt sei. Als wirklich lebens
t r a g e n d e Realität kann man sich nur eine m a t e r i e l l e Größe
vorstellen. Es ist deshalb typisch, daß dieselbe Wertung auch in der
hinter uns liegenden Weltanschauung, ebenso aber in den übrigen
weltanschaulichen Ausprägungen des Säkularismus, zum Ausdruck
kommt:
Hans H e y s e ζ. Β. bringt, in treuer Gefolgschaft von Alfred
Rosenberg, in seinem Buch „Idee und Existenz" durchaus den Primat
des Bios vor dem Logos, zum Ausdruck. Hier ist nur ein ganz kleiner
Größenwechsel in der Bestimmung der Lebensbasis vorgenommen
worden: An die Stelle des Ökonomischen ist die biologische
Lebenssubstanz, ist Rasse und Blut getreten — und der Gestaltwandel
der Götter und Lebensfundamente wird sich voraussichtlich in diesem
Stile noch weiter vollziehen.
Der Geist kommt also — um eine dieser Weltanschauungen
2*
*9
als Paradigma herauszugreifen — aus dem Blut. Also kommt natürlich
auch die W a h r h e i t , die der Geist intendiert, aus dem Blut.
Daraus ergibt sich eine wichtige Folgerung:
Es gibt dann nämlich keine Wahrheit mehr, die ü b e r mir steht und
an die ich autoritativ gebunden wäre. Die Wahrheit ist ja mein
P r o d u k t . Jede Frage nach der Wahrheit kehrt gleichsam wie ein
Bumerang zu mir zurück. Es gibt keinen Himmel über mir, in den sie
geschleudert werden könnte. Ich bin eingesperrt wie in einen
Spiegelsaal. Die gläsernen Wände begrenzen mein Gesichtsfeld. Ich
kann nicht sehen, was außen, was drüben, was überhaupt außer mir
noch da ist. Statt dessen sieht mich von allen Seiten mein eigenes
Bildnis an. Es gibt kein echtes Gegenüber mehr. Tch bin der einzige
geworden in meiner Welt. Immer nur ich.
Ist das aber so, dann ist wiederum eine einschneidende Folgerung zu
ziehen:
Die Frage nach Herkunft und Sinn jedes Lebens hört auf. Diese Frage
verläuft in Ausweglosigkeit. Denn sie ist die Frage nach dem Wohin und
Wofür, die im letzten sinnlos geworden ist. „Das Wort, welches keinerlei
Beziehung zum Objektiven mehr hat, verliert den Wahrheitsgehalt, den
Wirklichkeitsgehalt; es gibt hinfort nur noch ein Spiel mit Worten, das
unverbindlich ist"1). Die Sinnfrage hört also ganz einfach deshalb auf,
weil das gültige und vom Menschen abgelöste Objektive, das
j e n s e i t s und u n a b h ä n g i g - von ihm Geltende und Seiende,
nicht mehr existent ist. So gewiß die Sinnfrage aber das jenseits meiner
Existierende und das Über-mich-hinausweisende meint, so gewiß hört sie
auch auf, sobald dieses mich Transzendierende nicht mehr für mich da
ist.
*) Hans Jürgen Baden, Das rei. Problem der Gegenwart bei Jakob
Böhme, Leipzig 1939.
38
Damit wird zugleich eine Beobachtung in ihren Hintergründen
verständlich, die wir alle machen können: Daß die Sinnfrage weithin
aufgehört hat, erregend zu sein oder auch nur noch g e s t e l l t zu
werden, begründet man häufig mit der „Sturheit" des heutigen
Menschen, d. h. damit, daß jedem der Gang seines Lebens und Tages
bis ins kleinste, sogar bis in die Freizeitgestaltung mehr oder weniger
vorgeschrieben sei und der Mensch deshalb verlerne, nach rechts und
links und erst recht nach oben und unten zu blicken, daß er gleichsam
die drei Goetheschen Ehrfurchten verlerne und nur noch stur geradeaus
und auf das Nächstliegende blicke. Der äußerst populäre
Soldatenausdruck „Sturheit" dient also hier zu einer psychologischen
Erklärung des Un-Metaphysi-schen und der damit gegebenen
Suspendierung der Sinnfrage.
Auf Grund unserer Überlegungen möchte ich nun die u m g e k e h r t e These aufstellen: Die Suspendierung der Sinnfrage liegt
n i c h t an der Sturheit des säkularisierten Menschen. Sondern
umgekehrt beruht die Sturheit darauf, daß man die Sinnfrage nicht
mehr stellen kann und daß einem deshalb gar nichts anderes übrig
bleibt, als „stur" geradeaus und weder über noch unter sich zu blicken.
Diese Feststellung ist ein Zeichen dafür, wie manche typischen
Erscheinungen unseres modernen Lebens überhaupt nicht von der
Ebene dieses Lebens selbst her zu erklären sind — und ebenso nicht
von der Psychologie her, die auf jener Ebene geschrieben wird —,
sondern wie diese Erscheinungen nur t h e o l o g i s c h zu verstehen
sind. Diese Art Interpretation des Lebens scheint uns ein neuer und
ungeheuer aufgabenreicher Zweig der theologischen Anthropologie zu
sein *).
*) Einen Teil davon habe ich in meinem Buch „Tod und Leben" (Genf
1945; Tübingen 1946) zu verwirklichen gesucht.
39
Haltung und Halt
Mit diesem Scheitern an der Sinnfrage, man kann auch sagen : mit
dieser Aufhebung der Transzendenz, in der es allein so etwas wie
„Sinn" gibt, hängt noch eine weitere Erscheinung zusammen. Ich
bemühe mich, sie in einer These vorweg zu formulieren:
Es gibt für den säkularisierten Menschen
k e i n e n l e t z t e n „H a 11" (der ja nur in der Verbundenheit mit
einer letzten Wirklichkeit bestehen könnte), s o n d e r n n u r n o c h
„H a l t i i n g".
Um das zu verstehen, muß man allerdings zunächst an d i e
Lebenssituationen denken, die weniger im Scheinwerferlicht der
Öffentlichkeit stehen, die aber im Einzelleben einen viel
umfangreicheren Raum einnehmen als jene öffentlichen. Man darf z. B.
weniger daran denken — um ein sehr populäres und öffentliches
Beispiel zu nennen —, daß ich als Soldat ja wirklich eine Art „Halt"
besitze, wenn ich das Opfer, sogar das Opfer meines Lebens, zu
bringen habe. Denn in diesem Falle ist das V a t e r l a n d ja mein
Halt, dem ich mich zu opfern bereit bin. Das ist in diesem Falle das
sinngebende Ziel meines Kämpfens und Sterbens — natürlich auch da
mit gewissen Vorbehalten, die viele im Laufe dieses von der
Schuldfrage besonders belasteten und auch an i n n e r e n Konflikten
reichen Krieges bitter in der eigenen Seele erfahren. —
Viel schwieriger und auch greifbarer wird die Frage, ob ich einen
„Halt" habe, dann, wenn ich vor Probleme meines p e r s ö n l i c h e n
Lebens gestellt bin, für die mir der säkulare Mythos keine Antwort
gibt: wenn ich z. B. vor die Frage des Leides, vor die ausweglose
Problematik einer langen und quälend zum Tode führenden Krankheit
gestellt bin—oder auch vor ein Familienunglück, vor eine der vielen
Einzelkatastrophen und Welt-Einstürze, die die Bombenangriffe mit
sich bringen, oder vor das Hinweggerafftwerden in den besten Jahren
— und vieles andere.
40
Ich habe das einmal erlebt, als ich an das Sterbebett eines jungen,
aus der Kirche ausgetretenen Soldaten gerufen wurde. (Ich erwähne
das nicht, um Histörchen zu erzählen, sondern weil diese Geschichte
von großer symptomatischer Kraft ist.)
Es handelte sich um einen blutjungen Medizin-Studenten, der an
einer Leukämie jämmerlich und qualvoll zugrunde ging, der also nicht
für eine Idee und nicht auf dem Schlachtfeld starb, sondern an einem
inneren und von seinem Kampfe ganz unabhängigen Leiden. Die
Mutter und seine Schwester, die an seinem Sterbelager weilten, hatten
ebenso wie der junge Soldat selbst jede Verbindung zum christlichen
Glauben aufgegeben. Im Gegenteil: sie waren aktiv und führend innerhalb der fanatisch antichristlichen Ludendorff-Bewegung tätig. Sie
benahmen sich während dieses trostlosen Sterbens überaus gefaßt und
tapfer. Als ich nachher der Mutter einige anerkennende Worte über ihre
Haltung sagte, antwortete sie : „Haltung ja — aber schauen sie bitte
nicht dahinter; das ist alles nur Maske nach außen; in mir sieht es
grauenvoll aus. Ich habe überhaupt keinen Halt." Als ich dann darauf
einging und sie nach dem Wieso fragte, ergab sich in einem längeren
Gespräch folgende Antwort, die ich abgekürzt und auf den
entscheidenden Punkt zugespitzt wiedergebe. Sie meinte: Dies
Geschehen passiert in einer Dimension, in die hinein die völkischen
Sinngebungen, von denen ich bisher ausschließlich lebte, überhaupt
nicht reichen. Denn dieser Junge i s t ja gar nicht für Deutschland
oder für eine sonstige Idee gestorben. Er ist ja jämmerlich an einer
Krankheit zugrunde gegangen, die irgendein privatisierender Rentner
auch haben kann. Es gibt keine überpersönliche Idee, die da trösten
könnte, denn es ist ja ein ganz persönliches, ein „privates" Geschehen.
Es ist etwas, was in das Koordinatensystem des vaterländischen oder
auch jedes sonstigen Idealismus nicht einzuordnen ist. Wo ist da ein
HaltPI
41
Daß die Mutter sich nach der Kirche zurücksehnte, um wieder
„Halt" zu gewinnen, soll nicht als nutzanwendende erbauliche
Schlußfeststellung erwähnt sein, sondern nur deshalb gesagt werden,
weil sie unbewußt und inmitten ihrer bewundernswerten Gefaßtheit die
richtige Gegenüberstellung von „Haltung" und „Halt" vollzog.
Gerade in jener Dimension also, in der man typisch „allein" ist, wo
sich unser eigenstes Schicksal nicht in überpersönliche
Zusammenhänge und allgemeine Sinngebungen einordnen läßt, kommt
der Unterschied von „Haltung" und „Halt" heraus.
Ein viel gelesenes Buch unserer Zeit: „Und eines Tages öffnet sich
die Tür. Briefe zweier Liebenden" 1) schlägt unbewußt in dieselbe
Kerbe. Es handelt sich um zwei junge Menschen unserer Zeit, die
keineswegs die Absicht haben, über religiöse Probleme zu
korrespondieren. Es sind ganz einfach Liebesbriefe. Aber gerade darum
sind die am Rande stehenden religiösen Äußerungen besonders
unbefangen gemacht und also instruktiv. Es werden dort ganz
entsprechende Aussagen über die E i n s a m k e i t des Menschen
gemacht, die nicht in irgendeinem Gemeinschafts-Mythos aufgeht; „...
ich möchte gerne g l a u b e n , aus meiner innersten Einsamkeit
heraus, die auch die Liebe nicht mehr teilen kann, nicht deine Liebe,
nicht die Liebe meines Volkes, keines andern Menschen Liebe und
Zuneigung. Ich möchte gern glauben, daß doch einer da ist, der mit
seiner Liebe in diese Einsamkeit dringen kann . . . Ich muß auch in
meiner letzten Einsamkeit angerufen und verpflichtet werden. Auch
dort, wohin Menschen und menschliche Ansprüche nicht mehr dringen
können. Und ich habe das Gefühl, solange wir nicht Raum und Stille in
uns schaffen, diesen Ruf und diese Verpflichtung zu hören, bleibt ein
leerer Kern in unserem Innern und wir sind ohne H a l t " (S. 225).
l)
Herausgegeben von Walter Keßler, Warneck-Verlag Berlin 1940.
42
Ich versuche von hier aus nun, einige möglichst prägnante
Umschreibungen der Begriffe „Halt" und „Haltung" zu geben:
Einen „H a 11" habe ich, wenn ich das Vertrauen zu einer väterlich
waltenden Liebe habe, die auch über dem Sinnlosen und Rätselhaften
meines Lebens waltet, deren Gedanken ich zwar nicht verstehe, denen
ich aber doch vertraue, weil ich den kenne, der sie denkt. Ich darf
dieses Vertrauen haben, seitdem mir gerade das Urbild allés
Rätselhaften, nicht vernünftig Aufgehenden — nämlich das Kreuz von
Golgatha — zum Zeichen einer Liebe geworden ist, die sich als letzter
Halt in mein Leben geben will.
Und nun ist es typisch :
Die b i b l i s c h e n Menschen ringen in schwerem, sinnlos
scheinendem und sozusagen w i d e r Gott zeugendem Geschehen
nicht um „Haltung", sondern um „Halt". Es wird uns nicht berichtet,
daß Hiob bei einem bestimmten Grade des Leidens einen
Nervenzusammenbruch
erlitten
und
im
Gefolge
dieses
Zusammenbruchs Fassung und Haltung verloren habe. Sein
Zusammenbruch erfolgte nicht auf dem Gebiet der Nerven und der
Haltung, sondern deshalb, weil ihm plötzlich die Sinnhaftigkeit seines
übermäßigen. Leidens nicht mehr einsichtig war, so daß sich eine Krise
seines Glaubens an den allmächtigen und barmherzigen Gott ergab. Er
verlor nicht die Haltung, sondern den H a l t — und im Gefolge
d i e s e s Verlustes d a n n allerdings auch die Haltung. Ebenso rührt
die Verzweiflung des Täufers Johannes im Gefängnis nicht von einer
Krise der Haltung, von seinen nervösen und physischen
Gefangnisstrapazen her, sondern von einer Krisis seines Haltes: Ihm
wich einfach der Boden unter den Füßen, als er den scheinbaren
Widerspruch entdeckte zwischen den Tatsachen, daß er, der Vorläufer
des Messias, hilflos im Gefängnis schmachtete, ohne daß ihm sein
Meister half, während dieser Meister selbst frei im Sonnenlicht
umherging
43
und mit seinen Jüngern das messianische Werk ausrichtete. Etwas
konnte an dieser Situation nicht stimmen. W a r er wirklich der
verheißene und bisher von ihm geglaubte Messias, dann d u r f t e und
k o n n t e er seinen Wegbereiter nicht im Elend umkommen lassen,
Da er ihn aber doch im Gefängnis ließ und ihm n i c h t half, war er
vielleicht gar nicht der Messias? Dann aber wäre sein Lebenswerk auf
einer Illusion aufgebaut gewesen und sein Gefängnisleiden wäre nicht
mehr durch einen höheren Sinn, wäre nicht mehr durch ein Martyrium
geadelt. D e s h a l b schickte er aus dem Gefängnis die
verzweiflungsvolle Botschaft: „Bist du, der da kommen soll, oder
sollen wir eines andern warten?" (Mt. I i , 3; vgl. auch Joh. 10, 24).
Darin schwingt die bange Frage mit: „Sollte ich mein Leben auf eine
falsche Karte gesetzt haben?" D a m i t hätte er dann den Halt
verloren. Er hätte ihn auch d a n n verloren, wenn er (mit
Verzweiflung im Herzen) gefaßt und „mit Haltung" in den Tod
gegangen wäre. Halt hat es immer mit dem objektiven und außerhalb
meiner liegenden Grunde zu tun, auf dem ich stehe.
H a l t habe ich also, wenn ich den Frieden Gottes habe, wenn ich
mein Leben unter seiner tröstenden und zielsicheren Hand geordnet
sehe. (Dabei ist zu betonen, daß „Frieden" ja wiederum nicht auf einen
subjektiven Zustand, also auf die Ruhe des Herzens beschränkt ist,
sondern daß „Friede" einen objektiven Zustand bedeutet: nämlich das
In-Ordnung-sein mit Gott, also die Beziehung zu einem Außerhalb =
meiner; die Ruhe des Herzens ist gleichsam nur ein „Nebenprodukt"
dieses objektiven Zustandes.)
Um H a l t u n g dagegen bin ich bemüht, wenn ich k e i n e n Sinn
d. h. wenn ich kein letztes Woher und Wohin sehe und einfach stehen
bleibe. In seinem Buch „Der Mensch und die Technik" hat Oswald
Spengler für diesen Menschen der Haltung das Bild des Soldaten von
Pompeji geprägt, den man vergessen hat abzulösen, als die Lavamassen
des Vesuvs
44
über die Stadt hereinbrechen, und der nun einfach stehen bleibt. Er hat
bei alledem keinen inneren H a l t : weder das Pathos des Märtyrers
hält ihn, noch leidet er für eine Idee, noch kann ihn irgendein sonstiger
Sinn trösten inmitten seines Sterbens. Im Gegenteil: die nackte
Sinnlosigkeit grinst ihn an; aber er bleibt stehen; er hat „Haltung
angesichts des Nichts". Er hat also das, was man „heroischen
Nihilismus" nennen könnte.
Ernst Jünger hat für diese Haltung den überaus prägnanten Begriff
des „Abenteuers" geprägt. Damit dürfte wohl folgendes gemeint sein
(das so bei Jünger nicht explizit ausgesprochen ist, das aber deutlich
hörbar zwischen allen Zeilen steht): Ernst Jünger ist ja der Dichter des
Kampfes, sein gesamtes Schrifttum ist eine Auslegung des
Kampferlebnisses, das er als junger Pour le Mérite-Trâger des ersten
Weltkrieges gehabt hat. „Der Kampf als inneres Erlebnis" ist das
durchgängige Thema all seiner Aufzeichnungen. Trotzdem bezeichnet
er den Menschen nicht eigentlich summarisch als Kämpfer. Denn der
Kampf ist immer bestimmt durch ein Ziel. Das Kämpferische an sich,
kraft dessen der Mensch die Beine nicht ruhig halten kann, das
Kämpferische ohne Ziel und Sinn g i b t es nicht; ebensowenig wie es
einen Glauben ohne ein Woran oder eine Liebe ohne ein Zu-wem gibt.
(Der Ausdruck „Gläubigkeit", der einen vom Objekt und damit auch
vom Objektiven gelösten Zustand der Seele bezeichnen will, ist
deshalb ebenso unsinnig und dekadent, wie es etwa der Ausdruck
„Liebigkeit" anstatt „Liebe" — auf dessen Heraufkunft ich noch warte
— sein würde). Es gibt keinen Marsch ohne Ziel und auch keinen
Kampf ohne Ziel. Nun stellten wir aber fest, daß es für den
säkularisierten, vom Jenseits seiner selbst abgeschnittenen Menschen
kein letztes Woher und Wofür mehr gibt, daß für ihn nur das Dunkel
über und hinter dem Horizont seines Lebens existiert - jenes Dunkel, in
dem die Schleife seines Lebens geschürzt und gelöst wird.
Infolgedessen gibt es
45
auch kein echtes Kämpfertum mehr für ihn, da die Ausrichtung auf
einen hintergründigen Sinn fehlt. Wenn ich mich nicht täusche, ist ein
wenig davon auch in den modernen Kriegen und ihren Begründungen
zu spüren : Es geht um Ölquellen, Lebensräume, wirtschaftliche
Einflußzonen, Markteroberungen usw. Alle diese Ziele sind aber immer
nur Mittel zum Zweck der materiellen Existenz. Angesichts der
erstrebten materiellen Existenz stehen aber sofort die weiteren und
eigentlichen Fragen auf. Für was soll nun die gesicherte Existenz
leben? Es ist dieselbe Frage, die auch der von Seelsorge und Glauben
gelöste Arzt offen läßt: Der Zweck seines Schaffens ist die Gesundheit.
Gesundheit aber ist niemals Zweck, sondern Mittel zum Zweck x). Und
da der Mensch ein Ganzes ist, kann man ihn nie von seinem Zweck
lösen. Daß man das auf allen Gebieten dennoch tut — kriegerisches
und ärztliches Handeln sind nur zwei willkürlich herausgegriffene
Beispiele — ist ein Zeichen für die Erkrankung des modernen Lebens
in der Tiefe.
Deshalb spricht Ernst Jünger angesichts der vom Sinn
abgeschnittenen Menschenexistenz nicht vom k ä m p f e r i - s e h e n ,
sondern vom „ a b e n t e u e r l i c h e n Herzen" 2) : Ein „Abenteuer"
ist zwar a u c h ein Kampf. Aber einer, in den man plötzlich geworfen
ist, ohne daß man recht wüßte, wie man hineinschlidderte. Ein
Abenteuer ist ferner ein Kampf, der ohne ein weitergreifendes, über ihn
hinausliegendes Ziel geführt wird. Man ist beim Abenteuer ganz vom
Augenblick selbst, nicht von der Zukunft erfüllt; man verfolgt nur den
e i n e n Zweck, den Kampf zu bestehen und sich durchzuschlagen.
Abenteuer ist ein Kampf ohne Woher und
Wohin, ohne Grund, Sinn und
*) In diesem Problem sieht Viktor v. Weizsäcker, Heidelberg, immer
wieder die Sinnfrage des ärztlichen Berufs gestellt.
2) „Das abenteuerliche Herz, Aufzeichnungen bei Tag und Nacht"
Berlin 1929; 2. Fassung: „Figuren und Capriccios, Hamburg 1938/42.
46
Z i e l . Abenteuer lebt im Augenblick. Deshalb beschreibt der Begriff
des „Abenteuerlichen" sehr genau die Haltung angesichts des Nichts:
die Haltung, die nicht von einem Sinn gehalten ist, die zur Gebärde —
man könnte auch sagen -die zur Maske erstarrte Gestalt des
Kämpferischen.
Gelegentlich kommt diese Einsicht auch bruchstückweise bei
weltanschaulichen Kampfgesprächen zum Ausdruck, bei denen die
Gegner sich ausnahmsweise gegenseitig achten. Es kann dann am Ende
vorkommen, daß einer von beiden Gegnern eine Sympathieerklärung
für den andern abgibt etwa in dem Sinne : Wir sind zwar völlig anderer
Ansicht und wir bauen jeweils unser Leben auf einen völlig andern
Grund. Aber in e i n e m sind wir doch einig: in der Haltung, mit der
wir unsern Standpunkt vertreten. Ich habe bei einer solchen
Versammlung einmal einem solchen „Kameraden von der andern
Front" erklären müssen: Das letzte Wort müsse doch der Abgrund
bleiben, der zwischen uns liege. Denn letzten Endes komme es nicht
aμf die Haltung, sondern auf d a s an, w o v o n man gehalten sei.
Aber die Bemerkung des Kameraden war typisch und in gewisser
Weise auch notwendig: er war in charakteristischer Weise ein
heroischer Nihilist, dem die Gebärde des Kämpferischen in ihrer
Eigenschaft als Gebärde genügte. Da er dem Nichts gegenüberstand
und also die objektive Bindung an „das Andere" nicht mehr kannte,
konnte er auch den objektiven Abgrund zwischen ihm und seinem
christlichen Gesprächspartner nicht mehr verstehen. Das Kämpfertum
des säkularisierten Menschen erstarrt zur Maske des „Abenteurers"; es
wird zur Trostlosigkeit der „Haltung angesichts des Nichts". Ernst
Jünger und Martin Heidegger sind die größten philosophischen Interpreten dieser Tatsache1).
*) Vgl. Mattin Heidegger, Sein und Zeit, 3. Aufl., Halle a. d. S.,. 1931.
Siehe dazu auch mein Buch „Tod und Leben", bes. den Abschnitt über
Heidegger.
47
Den entscheidenden Unterschied zwischen „Haltung" und „Halt"
kann man sich auch an gewissen charakteristischen Liedern klar
machen:
Das Lied Luthers „Ein feste Burg ist unser Gott" ist ein Lied des
H a l t e s . In ihm wird von der Burg gesungen, die wir mitten in den
Anfechtungen des Lebens unser eigen nennen dürfen, in der wir
geborgen sind und einen Halt haben. An die Stelle dieses Liedes —
man verzeihe die Drastik des Ver-gleichs — ist heute ein anderes Lied
getreten, ein Lied, gegen das ich an sich nichts einwenden möchte, das
manchem gute Dienste getan haben mag, aber das doch auf letzte
weltanschauliche Abgründe deutet. Ich meine das Lied: „Das kann
doch einen Seemann nicht erschüttern." W a r u m kann den Seemann
das nicht erschüttern? Das weiß er selbst nicht. Es macht ihm einfach
Freude, sich nicht erschüttern zu lassen und den wildesten Wogen die
Zähne zu zeigen. Es ist das typische Lied der Haltung, die weiter nicht
nach ihren Gründen fragt, sondern „einfach" s t e h t .
Dasselbe Phänomen läßt sich endlich an der F r e u d e aufweisen.
Der Engel der Weihnacht verkündet: „Siehe, ich verkündige euch große
Freude : d e n n euch ist heute der Heiland geboren." Der Engel
begründet es also ausdrücklich, w a r u m man sich freuen darf. Das
Evangelium der Weihnacht besteht geradezu darin, daß uns dieser
G r u n d zur Freude mitgeteilt wird : der Heiland ist geboren. Hätte
Gott in seiner Güte diesen „Grund" (daß nämlich der Heiland geboren
ist) η i c h t in die Welt eintreten und Geschichte werden lassen oder
hätte er ihn vor der Welt geheimgehalten, so wäre eben ganz und gar
k e i n Grund zum Freuen da. Die Finsternis würde weiter über den
Völkern lasten und das Dunkel über der Welt brüten. Alles wäre
aussichtslos, und das einzige, was man hören müßte, wäre kein
Lobgesang, sondern ein Schrei nach Erlösung. Die Menschen hätten
keinen Grund sich zu freuen, wenn nicht trotz allen Dunkels nun eben
48
d o c h der Heiland geboren wäre. Nun hat die Freude einen Grund, an
den sie sich hält, sie hat einen H a l t .
Vor einigen Jahren lautete — wohl in einem untergründigen
Anklang an die christliche Freudenbotschaft der Weihnacht — das
Motto des Weihnachts-Rundfunk-Programms: „Freut euch des
Lebens". W a r u m man sich freuen sollte, war nicht dazu gesagt. Es
wurde kein „Halt" geliefert. Es wurde die Freude als „Haltung" als
eigentlich grundlose, aber eben zum Leben notwendige Haltung
gefordert.
Ähnliches kann man auch bei der nazistischen Institution , „Kraft
durch Freude" beobachten. Die heimliche Schlußfolge, die ihrer
Benennung zugrunde Hegt, lautet doch wohl so : Die Kraft, die der
Mensch zum Leben notwendig braucht, kann er nur aus einer
optimistisch und freudig gestimmten Gemütsart, nicht aus Kopfhängerei
und Depression beziehen. Alles Schöpferische stammt aus Freude 1).
Daß allerdings die Freude selbst wieder aus einer bestimmten Kraft, aus
einem „Halt" herrührt — wie wir es vorhin nannten — wird nicht dazu
gesagt. Es wird überhaupt nicht verraten, von wo man nun die
lebensnotwendige und Kraft erregende Freude i h r e r s e i t s beziehen
soll. Faktisch g i b t es ja auch für den entbundenen, aus dem Frieden
gefallenen Menschen diese Bezugsquelle, diesen „Grund", gar nicht.
Deshalb muß man zu andern Mitteln greifen, um sie zu erregen. Man
muß zu physiologischen Mitteln der Zwerchfellerschütterung greifen.
Man macht das mit nervenaufpeitschender Musik, mit Attraktionen,
Sensationen artistischer Art, mit dem Stimulanz des Massenrausches,
mit Unterhaltung, Zerstreuung und Ablenkung. Wir alle kannten und
kennen ja KdF- und andere Veranstaltungen zur Genüge, um diesen
Versuch, Freude auf physiologische Weise zu erregen, lebendig vor
Augen zu haben. Physiologisch erregte Freude ist aber die Freude ohne
Grund und Halt. Natürlich drückt sich auch die echte Freude
*) Vgl. Schillers Lied an die Freude.
49
und das echte Lachen physiologisch a u s . Aber das physiologische
Geschehen (etwa die Zwerchfellerschütterung) ist dann nur das
Symptom des eigentlichen Geschehens in der Seele. Statt dessen ist
beim säkularisierten Menschentum, besonders wenn es durch das
bindungslose Kollektiv gekennzeichnet ist, nur noch das
S y m p t o m , aber nicht mehr die W i r k l i c h k e i t der Freude
geblieben. Mit andern Worten: nur die Maske ist stehen geblieben, das
Gesicht aber entschwunden; nur die Haltung ist noch da, aber der Halt
ist vergessen. Damit man mich übrigens nicht mißversteht: Ich klage
hier keine Institution an, sondern ich klage den Säkularismus selbst an,
dessen Ausdrucksform jene Institutionen nur sind. Und man wird
sicher sein dürfen, daß der Säkularismus sich nach der Liquidierung
dieser Institutionen neue und ähnliche Formen der Unterhaltung suchen
wird, ebenso wie er sie ja auch vorher schon besessen hat. Kino,
Varieté, Kabarett und Rundfunk hatten auch vorher schon dafür gesorgt
und werden weiter dafür sorgen, daß die Freude als bloße „Haltung"
ihren Platz behält. „Kraft durch Freude" hat nur vorhandene Impulse
aufgenommen und ins Gigantische aufgetrieben.
Krisis des Wahrheitsbegriffs
Aus dieser Haltlosigkeit im letzten ergeben sich zwei wichtige
Konsequenzen:
ι. E i n m a l : Es wird niemals nach religiöser W a h r h e i t
gefragt. — Äußerlich macht sich dies Verstummen der Wahrheitsfrage
bemerkbar in dem H a ß g e g e n a l l e s D o g m e n m ä ß i g e auf
religiösem Gebiet. Dieser Haß ist keineswegs, wie man denken könnte
und wie der Haß sich auch selbst interpretiert, aufklärerisch bedingt, er
rührt also nicht aus intellektuellem Ressentiment oder aus erkenntnistheoretischen Bedenken. Das kann schon darum nicht sein, weil jede
Weltanschauung einschließlich aller un- und gegen
50
christlichen ausgesprochen dogmatische, d. h. undiskutier-bare
Voraussetzungen hat. Nein, die Ursache für die Suspendierung der
Wahrheitsfrage liegt wo anders : Es kann von der säkular-mythischen
Voraussetzung aus keine Wahrheit geben, in deren Licht wir enthüllt
würden und die uns unser eigenes Antlitz in all seiner Abgründigkeit
unter den Augen Gottes entlarvte, so daß wir dann sagen müßten: Herr,
der du die Wahrheit bist, Herr, gehe von mir hinaus, ich bin ein
sündiger Mensch. Wir stellten in diesem Sinne ja schon fest und führen
diesen Gedanken weiter fort : Wahrheit kann für das mythisch
säkularisierte Denken nicht etwas sein, das ü b e r uns steht und
richtend und entlarvend auf uns zukommt. Daher rührt übrigens auch
das Unverständnis gegenüber den mittelalterlichen Glaubenskriegen,
die trotz aller macht- und wirtschaftspolitischen sowie anderer
Nebengeräusche eben doch dadurch charakterisiert waren, daß sie um
Wahrheiten geführt wurden, die ü b e r beiden Parteien standen und
sozusagen gleichermaßen von ihnen intendiert wurden
Diese verbindende Klammer und dieses den einzelnen und das
einzelne Volk Transzendierende fehlt im Säkularismus. Deshalb auch
das grenzenlose Nebeneinanderherleben und Sich-nicht-verstehen.
Ich wiederhole : Wahrheit kann nicht mehr etwas sein, das über uns
steht und richtend und entlarvend auf uns zukommt
*) Wie unendlich unterscheiden sich davon die modernen (säkularisierten) Wcltanschauungskriege I Diese werden im Zeichen eines neuen Polytheismus, d. h. heraufgekommener Volksgötter und eigner Absolutsetzungen geführt, die ein verbindendes Band Sur andern Partei mehr oder
weniger vermissen lassen. Es gibt weithin kein verbindendes Wertsystem
mehr. Damit hängt auch der Schwund der Ritterlichkeit zusammen (denn
Ritterlichkeit bedeutet immer die Anerkennung des Wertcharakters des
andern, abgesehen von der augenblicklichen - aber wirklich augenblicklichen! - Anormalität des Kriegszustandes) sowie die Degradierung des
andern zum „Untermenschen". Das letztere liegt nicht so sehr an den
verübten Grausamkeiten des andern, sondern daran, daß es keinen verbindenden und für beide verbindlichen Begriff des Menschen mehr gibt. 3
Τ h i e 1 i c k e , Fragen des Christentums.
51
und darüber entscheidet — um mit den Worten des JohannesEvangeliums zu sprechen — ob wir in der Wahrheit sind oder nicht.
Denn dort, wo diese Wahrheit auf uns warten müßte, ist ja im
säkularen Mythos das Dunkel, das, wohin man nicht mehr sehen kann,
das unkontrollierbare „Drüben". Das Denken, das die Wahrheit zu
intendieren hätte, ist nach jener, Schau ja selbst eine Funktion des Bios
oder des ökonomischen usw. (Rosenberg, Heyse und zahllose andere
Autoren), ist eine selber unwirkliche Ideologie, ein Spiegelbild über
jener materiellen Grundsubstanz des Lebens.
Was das bedeutet, kann man sich an Rosenbergs bekanntem Satz
klar machen: Rasse sei Seele von außen und Seele sei Rasse von innen
gesehen. Beides seien nur verschiedene Seiten derselben Sache.
(An dieser These dürfte sich auch nach der Beseitigung Rosenbergs
nichts ändern. Denn selbstverständlich wird der Biologismus ähnliche
Thesen mit etwas verändertem Vokabular auch weiterhin produzieren.
Und dieser Biologismus ist natürlich eine von Rosenberg völlig
losgelöste Erscheinung. Dieser hatte sich ja nur zum verhängnisvollen
politischen Herold des Biologismus gemacht und ihn auf den Rassenbegriff hin zugespitzt.) Da die Religion also nach jener Konzeption der
S e e l e entstammt, ist sie selber nichts anderes als ein metaphysisches
Spiegelbild der Bios-Grundlage. Eine erstaunliche Wiederholung der
Feuerbachschen Religionsdeutung: Religion als Projektion des Ichs, in
diesem Falle des b i o l o g i s c h bedingten Ichs !
Hier ist auch die Wurzel zweier wichtiger Erscheinungen zu finden,
die wir bereits andeuteten:
E i n m a l nämlich wird von hier noch d a s klar, was wir zu
Anfang als die „Argumentslosigkeit" des säkularen Menschen
gegenüber dem Christentum bezeichneten, als die „Widerwortlosigkeit", auf welche die Botschaft weithin stößt: Da
52
die christliche Botschaft selbst als Ideologie, als eine der Seele
entsteigende und über ihr schwebende Dunstschicht aufgefaßt wird,
lohnt es sich nicht, sie über den persönlichen Bezirk des andern hinaus
ernst zu nehmen. Genau so wenig, wie sich über den „Geschmack"
streiten läßt — weil'er ganz einfach eine persönliche Eigenschaft des
einzelnen, aber keine objektive Größe ist — genau so wenig läßt sich
über den Glauben streiten. Es geht dabei eben nicht um eine objektive
und vom Menschen ablösbare Schicht.
F e r n e r ist hier die Wurzel für die These zu finden, Religionen
müßten „artgemäß" sein. In der Tat: von hier aus gesehen, k ö n n e n sie
in ihrer Eigenschaft als Spiegelbilder ja gar nichts anderes sein. Viel
wichtiger dabei ist freilich, daß sie auch m e n s c h e n g e m ä ß sein
sollen. (Der Begriff artgemäß bedeutet nur eine Spezialisierung und in
gewisser Weise auch eine Tarnung des Begriffes menschengemäß.) Damit, daß man sich die Religion „menschengemäß" wünscht, verfolgt man
das innerste Interesse, daß es j a nichts geben möchte, was ü b e r mir
steht und nicht von meinen Gnaden . und in Abhängigkeit von meinen
Wünschen und Werturteilen lebtl Daß es j a keinen Richter geben möchte,
der mich in Frage stellen und über mich verfügen kann ! Eine in sich
identische Wirklichkeit — und Gott ist ja auf mir gewachsen! — kann
sich aber nicht in Frage stellen. So hat sich der Mensch Gott vorher auf
den Leib geschrieben, ehe er an ihn glaubte. So ist dieser zum Gott „nach
Maß" geworden, der glatt anliegt und keine Druckstellen und
Widerstände ergibt.
Darum ist auch die Grundhaltung dieses säkular religiösen
Menschen durchaus m o n o l o g i s c h , nicht d i a l o g i s c h . Er
kennt kein personhaftes Gegenüber mehr, auf das er bezogen wäre und
mit dem er im Austausch des Gespräches stände.
Diesen Monologcharakter können wir an zwei Beispielen erläutern :
3*
53
ι. Das uns allen sattsam bekannte „Schwarze Korps", dessen
einzelne Jahrgänge sicher ihre Bedeutung als Selbstdarstellungen eines
konsequenten Säkularismus behalten, brachte einmal in einem Artikel
über das Wunder (24. August 1939) einige Äußerungen über das
Gebet, etwa folgenden Inhalts: Das Gebet sei eine notwendige Form
der Besinnung, auf die man in dem verzehrenden und verschlingenden
Betrieb unserer Zeit nicht verzichten könne. Natürlich müsse man
anders beten, als der Christ das tue, der von der Illusion eines ihm
gegenüberstehenden und ihn hörenden Gottes ausginge. Der Mensch,
der das Christentum überwunden habe, müsse sich vielmehr von
diesem Strohmann im Jenseits, von dieser künstlichen
Hilfskonstruktion1) lösen und seine „betende" Besinnung als ein
Zwiegespräch mit sich auffassen. — So steht also dieses Menschentum
in einer bedrängenden Einsamkeit mit sich selbst, und unser Bild von
dem „Eingespeirt-sein in den Spiegelsaal" gewinnt von hier aus noch
einen neuen Sinn.
2. Der Gott der säkular „Gottgläubigen" hat in der Regel nur zu
segnen und zu bejahen, was w i r immer schon getan haben. Er ist
nicht der „andere", dem ich begegne, der auch einmal w i d e r mich
sein kann und vor dem ich ohne Anspruch stehe. Nein: „I c h habe die
Initiative und das Gesetz des Handelns, das Gesetz der A k t i o n in
der Hand". Und der Gott der unverbindlich „Gottgläubigen" lebt dann
in der segnenden — R e - Aktion darauf.
Von hier aus ist dann natürlich auch der Gedanke unfaßlich, daß ein
A b g r u n d zwischen Gott und Mensch sein könnte; unfaßlich das,
was die biblische Botschaft vom Gericht Gottes sagt: daß Gott nämlich
zunächst nicht ein art-und menschen g e m ä ß e r , sondern zunächst
einmal ein menschen w i d r i g e r Gott ist, weil w i r der gottwidrige
Mensch sind.
x) Die vorstehenden Ausdrücke sind zur Verdeutlichung von m i r
gebraucht.
54
Alle diese Gedanken m ü s s e n unverständlich bleiben, wenn wir
Gott nach unserem Bilde geformt haben und wenn er nur noch die
ideologische Spiegelung unserer selbst ist. Dann gibt es keine echte
Begegnung mehr mit ihm, sondern nur noch den Monolog mit uns
selber. Dieser Monolog aber ist unverbindlich und verpflichtet zu gar
nichts ; Gott ist dann nur eine Funktion meiner selbst; und diese
Funktion besteht darin, daß er m e i n Tun und Lassen lediglich und
nachträglich noch „sanktioniert". Noch einmal zitiere ich, um das zu
verdeutlichen, das Mädel aus dem „Briefwechsel zweier Liebenden" 1):
„. . . Wir haben Gott verloren, das ist alles. Ich weiß, was du sagen
willst. Daß wir Gott nicht verloren haben, sondern ihn nur anders
begreifen, nicht mehr als Richter und Herrn der Schöpfung, sondern i η
der Schöpfung, als das innere Schicksal der Schöpfung, als die in aller
Schöpfung lebende Kraft, als die Allmacht über und in uns allen. Es
mag das alles sein, mein Lieber. Es ist gewiß so. Im Grunde
verpflichten d i e s e Gedanken aber zu g a r n i c h t s . Man kann im
Grunde j e d e s Leben damit rechtfertigen, was man auch immer lebt".
(Sperrungen von mir.)
Gerhard Schumann, den ich später noch ausführlicher zitiere, sagt
einmal, daß vieles Laute unserer Zeit, vieles Über-schriene daher
rühre, daß
„wir reden, weil es tödlich uns umschweigt" „verlor'ner
Gott, läßt du dich wiederfinden?"
Wissen wir jetzt, was damit gemeint ist, daß es uns tödlich
„umschweigt"? Dies tödliche Umschwiegensein ist nur der ins
Akustische übersetzte Eindruck, den wir früher — innerhalb der
optischen Dimension — als das Dunkel über dem Lebenshorizont
bezeichneten: Wir leben im Monolog. Und wenn wir unsere Stimme
erheben, hören wir nur unser eigenes Echo. Wir leben eingesperrt und
toteinsam im Spiegel*) „Und eines Tages öffnet sich die Tür" S. 224.
55
saal, der in tausendfältigen Brechungen nur. unser eigenes Bild
zurückwirft.
Das Verhängnis des Pragmatismus
Aus dieser Einstellung ergibt sich notwendig, daß Gott nicht mehr
autoritativ als Herr ü b e r mir steht, sondern daß er mein Untergebener
ist. Er hat eine bestimmte Funktion in meinem Leben auszuüben.
Welche Funktion? Nun, vielleicht hat er im Zusammenhang mit
religiösen oder religionsähnlichen Zeremonien ein wenig Feierlichkeit
in mein Leben zu bringen, nach der ich als Mensch nun einmal von Zeit
zu Zeit ein sentimentales Bedürfnis hege. Es ist deshalb auch
bezeichnend, daß alle säkularen Imitationen kirchlicher Kulte auf den
Gesichtspunkt der Feierlichkeit und der Aufmachung hin angelegt sind.
Und es ist ebenfalls bezeichnend —was wir in anderer Weise schon bei
der Analyse der „Freude" fanden —, daß von den echten religiösen
Wirklichkeiten sozusagen nur die physischen und psychischen
N e b e n Wirkungen in schauerlicher Ruinenhaftigkeit geblieben sind.
Denn natürlich hat echte religiöse Wirklichkeit etwas mit Feierlichkeit
zu tun. Aber diese Feierlichkeit ist in keiner Weise der Z w e c k
kirchlicher Handlungen (ζ. B. des Gottesdienstes und des
Sakramentsvollzugs) oder des Glaubensaktes, sondern sie ist eine
Nebenwirkung — nichts anderes. Der Pfarrer, dem nach der
Taufhandlung die Angehörigen versichern, es sei sehr feierlich
gewesen, wird schmerzlich von dieser Äußerung berührt sein, weil er
feststellen muß, daß die Taufgemeinde im völlig Peripherischen
stecken geblieben ist. Sie hat offenbar die Botschaft der Taufe, die
„Wort"-Verkündigung (im strengen Sinne!) nicht ernst genommen,
sondern die Worte nur als Stimmungsimpuls zur Erregung der Feierlichkeit aufgefaßt. Jeder, der als Geistlicher mit solchen Situationen
seine Erfahrungen gemacht hat, weiß, wie das Verharren in den
Nebenwirkungen die schauerlichste Neutrali
56
sierung und Sterilisierung der Botschaft mit sich bringt, die sich
denken läßt. Der Kirchenschlaf ist ein weitaus gesegneteres
Unternehmen als dieser Blitzableiter der Feierlichkeit, der den
göttlichen Strahl abfängt und ablenkt. — Indem also Gott nur noch als
Garant und Erreger von „Feierlichkeit" gilt, ist er zum Knecht des
Menschen geworden. Zugleich wird wieder einmal das Wesen der
„Haltung" als einer den säkularen Menschen bestimmenden
Grundeigenschaft deutlich. Denn Feierlichkeit ist in typischer Weise
„Haltung", die nicht weiß, wovon sie gehalten und erregt ist und der es
auch gleichgültig ist, wer hier als Erreger funktioniert : der Gott der
Kirche oder der Gott der parteiamtlich Gottgläubigen oder wer sonst
immer.
Eine andere Funktion, die Gott in diesem Zusammenhange noch
haben könnte, bestände darin, daß er uns das stärkende Bewußtsein
verleiht, mit den Absichten der Vorsehung übereinzustimmen. Gerade
die „weltgeschichtlichen Individuen" haben immer wieder die Neigung
verraten, die von ihnen veranlaßten Welt-Umwälzungen nicht nur auf
ihre eigene Kappe zu nehmen. Ein wenig graut ihnen allen vor der
These, daß M ä n n e r die Geschichte machen und daß s i e also die
verantwortlichen Träger der unübersehbaren Lawinen-Geschehnisse
und geschichtlichen Kettenreaktionen sein könnten. So nehmen sie den
Schutz, den ihnen die säkulare Religion zu gewähren scheint, gerne in
Anspruch: sie lassen sich entlasten durch die sogenannten „Absichten
der Vorsehung", die sie mit ihnen zu haben scheint und als deren
Vollstrecker sie sich fühlen.
So wird also Gott (jedenfalls insofern er „mein" Gott sein will)
vernichtet dadurch, daß man ihn in die Welt hineinnimmt und zur
Funktion des Lebens macht. Er hört dann für mich auf, ein ernsthaftes
Du zu sein, er hört überhaupt auf, eine „Wirklichkeit" zu sein und läßt
mich als die e i n z i g e Wirklichkeit in bedrängender Einsamkeit
zurück. „Einziges Fazit der religiösen Emanzipation, das sich mit
hinlänglicher
57
Sicherheit ziehen läßt: der Mensch ist auf eine fast hintergründige
Weise heimatlos geworden. Man hat es einmal sarkastisch so
formuliert: im Lauf dieser Emanzipation sei Gott von der Welt
verschluckt und zur Göttlichkeit verdaut worden. . . . Gott wurde in
der Tat durch die Welt absorbiert. . . . Nimmt man die göttlichen
Realitäten in den Menschen hinein, so werden sie schließlich
vollkommen zum Verschwinden gebracht, sie werden mit dem
Menschen zur Deckung kommen. . . . Von hier aus gesehen hat die
sogenannte religiöse Emanzipation . . . den Charakter einer
atheistischen Chemie: die göttlichen Stoffe gelangen im Stoff der Welt
zur Auflösung, will sagen, sie sind nicht mehr" 1).
Aus alledem ergibt sich eine weitere wichtige Folge: Stehe ich so
selber im perspektivischen Mittelpunkt der Welt, und ist außer mir
nichts, so wird d e r M e n s c h d a s M a ß a l l e r D i n g e ,
sogar das Maß Gottes. (Das ist auch dann der Fall, wenn es sich nicht
um den individuellen Menschen, sondern um seine überindividuelle
Existenz als Volk, als Rassengemeinschäft oder auch als Menschheit
handelt.)
Es ergibt sich dann ein Bewertungsmaßstab für die Religion, der
etwa dem in der juristischen Debatte wiederholt aufgeklungenen
entspricht: „Was meinem Volke nützt, ist gut, was ihm schadet ist
schlecht". Entsprechendes hätte dann notwendig für den G l a u b e n
zu gelten, wobei es übrigens wiederum völlig gleichgültig ist, ob an die
Stelle des Begriffs „Volk" der abstraktere der „Gesellschaft" oder der
„Gemeinschaft" oder der des „Staates" tritt. Das Volk ist nur regierbar
— soviel besagt dann der genannte Satz — insofern es sich an gewisse
metaphysische Realitäten oder auch Illusionen gebunden weiß. „Dem
Volke muß seine Religion erhalten bleiben" - dies verhängnisvolle
Wort war zweifellos von
*) Hans Jürgen Baden, Das religiöse Problem der Gegenwart bei Jakob
Böhme, Leipzig 1939.
58
Kaiser Wilhelm I. echt gemeint, es hat aber im Lauf des weiter
galoppierenden Säkularismus unter der Hand den Charakter des
Zweckgedankens angenommen. Dadurch hat „die Religion" in der
öffentlichen Meinung einen p r a g m a t i s c h e n S i n n bekommen,
d. h. sie ist das Mittel zu einem Zweck geworden und wird als solches
Mittel von der politischen Planung eingesetzt. Religion und Glaube
dienen damit einer bestimmten „Absicht", und viele fühlen denn auch
die Absicht — und sind verstimmt.
Religion und Massenproblem
Seit der Revolution von 1918 dürften alle maßgebenden oder
wenigstens sich verantwortlich wissenden Kreise die Frage gestellt
haben, wie dieses auseinanderbrechende Volk wieder „in Form", „in
Fasson" zu bringen sei. Denn eines ist ja klar: Solche Form ist nicht
durch Gewalt zu erreichen; ein Volk kann nicht auf die Dauer auf
Bajonetten sitzen. Solche Form ist nur durch eine neue B i n d u n g zu
erreichen, und zwar durch eine Bindung innerster Art.
Ich wage nun die Behauptung, daß die Frage nach dieser Bindung
d a s Problem unseres Jahrhunderts sei. Und zwar ist sie ein abgeleitetes
Problem: Die Ober-Frage, der sie ent- » stammt, ist die Frage der Masse,
die Frage des bindungslos gewordenen Kollektivs, das durch das
Proletariat der großen Städte repräsentiert ist und auch in mächtigen und
wachsenden Wucherungen in das flache Land hinein ausstrahlt. In der
Literatur, sowie in den öffentlichen und privaten Diskussionen der letzten
50 Jahre läßt sich deutlich die Bemühung erkennen, eine Bindungsmacht
auszumachen, die der drohenden nihilistischen Aushöhlung
entgegenwirken könnte. Sicher ist dabei oft der Blick auf die
„Bindungsmacht Christentum" gefallen und die Frage gestellt worden, ob
der christliche Glaube bzw. die ihn vertretenden Kirchentümer willens
und in der Lage seien, den wurzellos gewordenen Massen
59
eine neue Bindung zu vermitteln. Übrigens kann man in Hitlers „Mein
Kampf", wenigstens in den ersten Auflagen, noch genau dieses
Abtasten der Konfessionen spüren. Dieses Buch steht deutlich im
Zwielicht zwischen der Tendenz zu einem pragmatisch aufgefaßten
und entsprechend verfälschten Christentum und einem flagranten
Neuheidentum. Das gleiche wird sich von dem berühmten und
berüchtigten Punkt 24 des nazistischen Parteiprogramms über den verlogenen Begriff des „Positiven Christentums" behaupten lassen. Aus
Gründen, die hier nicht weiter zu untersuchen sind, hat man sich aber
zum C h r i s t e n t u m als solcher maßgebenden Bindungsmacht
n i c h t entschließen können1).
Vielleicht hat zu diesem Entschluß die Erwägung beigetragen, daß
die christlichen Kirchen die Massen ja nicht mehr besitzen und daß sie
nicht einmal ihren eigenen Bereich vor der Auswanderung haben
schützen können; es sei also nicht zu empfehlen, mit ihrer Hülfe die
ausschwärmenden Geister und Ungeister wieder zurückzupfeifen.
Bei tieferschauenden Geistern mag auch der Gedanke eine Rolle
gespielt haben, daß das Evangelium — vielleicht im Unterschied zu
dem mixtum compositum, das man im allgemeinen „Christentum"
nennt — wesensmäßig gar nicht ein derart überwölbender Mythos sei.
Dostojewski hat ja im „Großinquisitor" das Christentum, insofern es
Bindungs- und Machtmythos sein will, als Abfall aus Untreue
charakterisiert. Das Evangelium stellt die Menschen vielmehr vor die
E n t s c h e i d u n g und damit vor die Möglichkeit der S c h e i d u n g . Es steht sozusagen wie ein Brückenpfeiler im Strom der
Menschheit, und die Wasser scheiden sich an ihm. Hat Jesus sich nicht
immer wieder den einzelnen, oft den Ärmsten, Kränksten und für die
Gemeinschaft Ausfallenden geSchon darin, daß man sich zu so etwas „entschließen" bzw. n i c h t
entschließen kann, kommt der anthropozentrische Charakter dieser
Grundhaltung zum Ausdruck.
60
widmet und hat er sich nicht umgekehrt vor der Masse und vor etwa zu
feiernden Propagandaorgien zurückgezogen?! Der einzelne sah sich
vor eine erregende und sein Leben aus den Fugen hebende Frage
gestellt, wenn er Jesus begegnete Man kann aber „Dynamit" nicht
zum „Kitt" machen.
Angesichts dieser Unmöglichkeit, das Christentum als Mythos und
weltanschauliche Bindungsmacht herbeizuzitieren, brach sich der Ruf
Bahn : „Aber es m u ß eine Religion, ' es m u ß ein Mythos, es m u ß
auch ein Kult her ! Und wenn wir keinen übernehmen können, so
müssen wir eben selbständig einen schaffen". Genau wie man die
Materialien, die nicht importiert werden können, durch Werkstoff zu ersetzen sucht, genau so meint man nun auch einen religiösen Werkstoff
fabrizieren zu können.
Die Stunde dieses Rufes ist die Geburtsstunde des „Mythos des 20.
Jahrhunderts". Es ist die Mittel-zum-Zweck-Religion, die als
Bindungsmacht konstruiert wurde. Am Anfang steht also nicht, wenn
man so will, ein „religiöses Erlebnis", geschweige denn eine
„Offenbarung", sondern am Anfang steht ein P ro b le m: das Problem
politischer und volklicher Gestaltung, die Not der säkularisierten,
bindungslosen und darum wieder zu bindenden M a s s e . Offenbar
handelt es sich hierbei keineswegs nur u m ein Phänomen unserer
d e u t s c h e n Weltanschauungsgeschichte. Dieser Pragmatismus ist
vielmehr ein Kennzeichen des gesamten Säkularismus, in welchen
geographischen Breiten er auch auftauchen mag. E i n Beispiel möge
statt vieler genannt sein. Ein hervorragender nationaler Führer
Indonesiens äußerte 2) bei seinem Gespräch über die neuen nationalen
Religionen zu dem Missionswissenschaftler Frey*) Daß das Evangelium nicht bei einzelnen stehen bleibt, sondern auf
dem Weg über ihn auch zur Gemeinschaftsmacht wird, ist selbstverständlich. Das sei nur am Rande betont, um dem Mißverständnis zu begegnen,
als ginge es hier nur um das zeitliche und ewige Schicksal des „einzelnen",
als sei also Religion - „Privatsache".
2) „Das Erwachen der jungen Christenheit im Osten" S. 185 und 188.
61
tag : „Nur wenn Indonesien seine natürliche Aufgabe erfüllt, die
Brücke des Verstehens zu sein zwischen Ost und West, kann die
Weltkatastrophe vermieden werden". — „Ich machte ihn darauf
aufmerksam", schreibt nun Freytag, „wie das, was in der nationalen
Bewegung Niederländisch-Indiens wirklich lebendig sei, zugleich
volklich beschränkt sei. Es gäbe wohl einen batakschen, javanischen,
sundanesischen usw. Nationalismus, aber keinen indonesischen."
Darauf sagte er mir: „Denken Sie denn, ich glaube an Indonesien? Das
ist mir nur ein Phantasiegebilde ohne wirklichen Hintergrund. Aber die
Völker brauchen solche Lügen, denn sonst schwängen sie sich nicht
auf."
An diesem Beispiel sieht man, wie alle geistigen Werte — in diesem
Falle eine n a t i o n a l e Ideologie, kein religiöser Glaube — in der
Mühle des Pragmatismus zermahlen werden und als Lüge
herauskommen. Man könnte auch hier von der obengenannten
atheistischen Chemie sprechen, die nur zersetzende Wirkungen hat.
Die Mittel-zum-Zweck-Tendenz jener weltanschaulichen Propaganda
ließe sich auf die Formel bringen „Kraft durch Illusion".
Die Heraufkunft des Nihilismus
Von hier aus ergibt sich nun notwendig eine neue religiöse Krise:
Angesichts der aufgezeigten Mittel-zum-Zweckstel-lung des Religiösen
werden sich die „propagandistisch" davon betroffenen Menschen in
z w e i K l a s s e n scheiden, die man überall beobachten kann und die
auch bleiben werden, wenn sich die Frontstellungen und
weltanschaulichen Programme gründlich geändert haben werden:
Ich möchte diese beiden Klassen den „exoterischen" und den
„esoterischen" Menschentyp nennen:
Der e x o t e r i s c h e Typ setzt sich aus solchen Menschen
zusammen, auf die jenes dem Zweck dienende religiöse Mittel
zugeschnitten ist, die also durch den Zweckmythos gebun
62
den und mit produktiven Illusionen (vgl. das indonesische Beispiel)
erfüllt werden sollen. Sie sind gleichsam die Naiven, welche die
„Absicht" nicht durchschauen, sondern unbewußt und willig auf sie
eingehen. Aus ihr besteht die große Masse — jedenfalls während der
ersten Zeit eines solchen Mythos. Je mehr diese Masse aber ihre
Erfahrungen macht, um so mehr merkt auch sie, wie sie mit alledem
„behandelt" werden soll. Nach dem Besuch eines Kinos, bei dem
irgendein Tendenzfilm gezeigt wurde, war ich oft erstaunt, in welchem
Maße auch (oder gerade?) j u n g e Menschen die Tendenz durchschauten und im Durchschauen sich als immunisiert erwiesen. Man
wird folgendes Gesetz aufstellen dürfen: daß die große Masse, je
länger der Tendenz-Mythos anhält, eine um so schärfere Witterung für
seinen Charakter als Tendenz bekommt, auch wenn sie gegenüber den
momentanen Eindrücken (Kultfeiern, Propagandatricks usw.) anfällig
bleibt und so den erstrebten Zweck weithin erfüllen hilft. Aber trotz
allem wird man sagen dürfen, daß der Satz von den kurzen Beinen, die
die Lüge habe, auch auf d i e s e r Ebene nicht ohne Geltung sei.
Der e s o t e r i s c h e Typ dagegen besteht aus solchen, welche die
Zweckhaftigkeit der säkularen Religion durchschaut haben und sie
deshalb nicht mehr auf sich selber beziehen können. Das ist ja ganz
logisch: Während die W a h r h e i t etwas ist, das über mir steht und
an das ich gebunden bin — auf das ich auch keinen Einfluß habe,
selbst wenn ich es zehnmal nicht wahr haben oder ändern möchte —,
so ist das M i t t e l , das ich zu einem Zweck gebrauche, in meine
Hand gegeben; es ist mein Instrument und ich bin sein Herr. Habe ich
dieses Verhältnis, habe ich also meine Herrschaft e i n m a l
durchschaut, so kann ich dieses Verhältnis nicht mehr umkehren, d. h.
dann kann ich mich nicht mehr gläubig darunterstellen. Mit andern
Worten:
Wer einmal die säkulare Religion durch
63
s c h a u t h a t , k a n n n i c h t m e h r a n s i e g l a u b e n . Und
da er nichts mehr über sich hat, da er Gott in die Faust genommen hat
statt ihn anzubeten, ist er dem Schicksal des Nihilismus ausgeliefert.
Der engere Orden der Wissenden ist ein Orden von Nihilisten, unci es
fehlt auch nicht an dem entsprechenden Zynismus, der das offen
ausspricht.
Nietzsche hat die Heraufkunft des Nihilismus richtig beobachtet ;
seine ehrlichsten Bekenner sind Oswald S p e n g l e r und Ernst
J ü n g e r . Der Nihilismus ist ein Gericht und wie alle Gerichte
unentrinnbar ; man erwirbt ihn nicht so, wie man eine
„Weltanschauung" erkämpft, sondern man zieht ihn sich zu wie eine
Krankheit, die zu „erleiden" ist. Er ist eine Heimsuchung Gottes am 3.
und 4. Glied, während die Generation der „Väter" noch in
Traumbildern schwelgt und die Geburt des pragmatischen Gottes
verkündet. Indem er aber als ein Gericht G o t t e s zu verstehen ist,
wird zugleich deutlich, daß er nicht als eigengesetzlicher Prozeß aus
seiner eigenen Immanenz heraus verstanden werden kann. Er ist selber
das Mittel in der Hand eines Höheren. Von hier aus wird er als ein
Interim begriffen werden müssen : als Interim auf ein völliges Ende
oder als Interim auf eine „neue angenehme Zeit" hin. Es kann aber
nicht zweifelhaft sein, wer an diesem völligen Ende oder aber in der
„neuen angenehmen Zeit" als der Herr in Erscheinung treten wird1).
*) Es erscheint mir wichtig, hier anmerkungsweise verschiedene Vorausahnungen des Nihilismus zu verzeichnen, die Nietzsche gehabt hat:
„Unsere ganze europäische Kultur bewegt sich seit langem schon mit einer
Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst, auf eine
Katastrophe los. Was ich erzähle, ist die Geschichte der nächsten zwei
Jahrhunderte. Ich beschreibe, was kommt, was nicht mehr anders kommen kann: die Heraufkunft des Nihilismus". XV, 137.
„Was bedeutet Nihilismus? Daß die obersten Werte sich entwerten. Es
fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das Warum." XV, 145.
„Der Nihilismus als psychologischer Zustand wird eintreten müssen,
wenn wir einen ,Sinn* in allem Geschehen gesucht haben, der nicht darin
ist, so daß der Sucher endlich den Mut verliert." XV, 148.
64
Die Lage des Säkularismus im Spiegel des Neuen Testaments
Wie ist die geschilderte geistige und geistliche Situation vom Neuen
Testament her zu beurteilen? Hat es wirklich Sinn — um unsere
Ausgangsfrage jetzt nochmals zu wiederholen —, von einer
Schrumpfung des religiösen oder metaphysischen Erkenntnis organs zu
sprechen? Natürlich gibt es eine solche Schrumpfung. Ein populäres
Beispiel dafür ist die Abstumpfung des Gewissens. Aber gerade im
Zusammenhang mit den Gewissensfragen würde es keinem Menschen
einfallen, eine Abstumpfung oder Schrumpfung als einen rein
mechanischen oder physiologischen Prozeß zu begreifen. Die
Abstumpfung des Gewissens wird selbstverständlich immer als Schuld
und damit als Produkt einer Willensrichtung und d a m i t wiederum
als ein Vorgang innerhalb meiner Verantwortlichkeit aufgefaßt. Denn
die „Abstumpfung" ist ja gerade das Ergebnis einer Summe von Verfehlungen, eines dauernden Sich-gehen-lassens im Sinne von laisser
faire, und eben damit das Ergebnis eines willentlichen Vorgangs, der
allerdings dann zu seiner Selbstaufhebung führt. Schon hier wird
sichtbar, daß es sich bei diesen Schrump-fungs- und
Abstumpfungsvorgängen um eine tiefere als die psychologische oder
physiologische Schicht handelt.
Paulus spricht in Rom. ι , 18 ff. davon, daß die Heiden d e s h a l b
bei den falschen Göttern, bei den tier- oder menschenähnlichen Göttern
ankommen, weil sie die Wahrheit „in Ungerechtigkeit niederhalten",
weil sie also die Wahrheit nicht wahrhaben w o l l e n . Paulus vertritt
hier die Tatsache, daß unser W i l l e bei dem, was wir für wahr oder
nicht wahr erklären, entscheidend mitspricht. Es ist eben keineswegs
so, daß etwa unsere Vernunft sich in einer reinen Sphäre des Geltens
bewegte und unmittelbar auf die Wahrheit hin angelegt wäre. Vielmehr
ist die Vernunft — um ein Bild zu gebrauchen — immer eine Frau, die
jemandem gehört: sie gehört
65
e n t w e d e r der Bereitschaft, unserer Ursprünglichkeit treu zu sein
und unter Gott als seine Kinder zu leben. O d e r sie gehört dem Willen,
autonom zu werden und unser eigener Herr zu sein. Das Wichtigste ist
aber an beidem die Feststellung, daß eben die Vernunft immer
jemandem g e h ö r t. Es handelt sich nur um die Frage, ob die Vernunft
eine „legale Frau" oder ob sie — um mit Luther zu sprechen — eine
„Hure" ist, die sich jedermann an den Hals wirft und bereit ist, jeder
Abgötterei, jeder Leidenschaft und jedem Zeitgeist den nötigen
geistigen Unterbau zu liefern und das Alibi ihres Arguments zur
Verfügung zu stellen. Gewisse Intellektuelle, die ihre geistige
Apparatur jeder neu aufkommenden ideologischen Macht zur
Verfügung stellen, bieten dafür ja ein eindrückliches Beispiel. Aber sie
sind nur extreme und verzerrte Symptome einer Tatsache, die überall
besteht: daß nämlich, wie Kierkegaard sagt — „nicht die Gründe die
Überzeugung tragen, sondern die, Überzeugung die Gründe trägt", d. h.
daß die Überzeugung sich gleichsam „nachträglich" von der Vernunft
die Gründe liefern läßt und sich damit rational zu legalisieren sucht.
Für diesen Hang.der Vernunft (eben der gefallenen, hörig
gewordenen Vernunft) hat auch die weltanschauliche Rassenideologie
ein unfreiwilliges aber instruktives Beispiel geliefert: Sie hatte von
ihrem weltanschaulichen Ausgangspunkt her ein ganz bestimmtes
„Interesse" daran und eine bestimmte „Voreingenommenheit" dafür,
daß bestimmte biologische Tatsachen in der Rassentheorie gelten
möchten. Sie verstand sich dabei ganz eindeutig als vorausgehende
Schrittmacherin der wissenschaftlichen Biologie: Was sie aus dem
„Instinkt" heraus zu wissen meinte, werde die Wissenschaft mit ihren
gründlichen und deshalb langsameren Methoden „dermaleinst"
nachzuweisen haben. Gerade an diesem Beispiel wird sichtbar (gerade
ein Zerrspiegel macht oft recht drastische Enthüllungen), wie
nachträglich die Vernunft ihre Argumente
66
liefert, und wie abhängig sie ist von dem, was der Mensch wahrhaben
will.
Was hier in schwer zu ertragendem und verkommenem Bewußtsein
geschieht, geschieht doch unbewußt überall. Unser Denken ist
entscheidend durch Furcht und Hoffnung bestimmt: „Was man
wünscht, das glaubt man gern"; „der Wunsch ist der Vater unserer
Gedanken". Der Großtyrann sagt in Bergengruens Buch „Der
Großtyrann und das Gericht" (S. 71 f.) ganz entsprechend: „ . . . und
ist mir bekannt, daß in jedem Menschen gleichzeitig zwei Menschenbahnen laufen: eine, welche sich nährt von den unanfecht-lichen
Erkenntnissen seiner Urteilskraft, und jene zweite, welche ihren
Ausgang hat und ihr Ziel sucht in dem, dessen er zum Lebenkönnen
bedarf." Was er aber zum Lebenkönnen zu bedürfen meint, entscheidet
sich natürlich an dem, was er hofft und was er fürchtet. Der Denkakt
pflegt auf dem Rücken von Furcht und Hoffnung zu reiten. Die
moderne Es^stenz-philosophie hat deshalb recht, wenn sie die Akte des
Denkens ganz in den Dienst der Existenzauslegung des Menschen, d. h.
in den Dienst seines vorgegebenen Selbstverständnisses stellt. Der
Mensch erfährt nicht das, was er ist, aus dem Syllogismus seiner
Vernunft; sondern umgekehrt hat er ein vorgegebenes Verständnis
seiner selbst; und jener Syllogismus ist ihm nun nachträglich behilflich,
dieses Verständnis zu entfalten.
Wenden wir diese Erkenntnis auf die Frage des Glaubens an,
leuchtet uns ohne weiteres das Pauluswort ein, daß man die Wahrheit
über Gott „in Ungerechtigkeit niederhalten" (Rom. ι, 18), daß man sie
folglich „nicht wollen" könnte. Paulus begründet das auch konkret
damit, daß jene Heiden sich nicht in ihrer Geschöpflichkeit verstehen,
daß sie Gott nicht loben und preisen und4 nicht von ihm abhängig sein
wollen. Man kann eben Gott nur dann erkennen, wenn man zu einer
bestimmten Bereitschaft, zu einem bestimmten Ge4 Τ h i e 1 i c k e, Fragen des Christentums. ¡
67
horsam, zu einer bestimmten Hingabe entschlossen ist. Ohne diese
Existenzhaltung ist der Glaube nicht möglich, weil man ihn dann nicht
wünschen kann. „An Gott glauben ist nun an und für sich zwar nicht
schwer, für jeden wenigstens, der keine Ursache hat, ihn nicht zu
wünschen und bei welchem daher der Wunsch der Vater des
Gedankens ist. . . . Aus diesem Grunde ist ein wirklicher Glaube an
Gott ohne einen gleichzeitigen Entschluß zum Guten eigentlich
unmöglich für jedermann; das ist die ewige Quelle des Atheismus, der
in irgendeiner Form immer wiederkehrt" (Hilty) 1).
Der Schrumpfungsvorgang, von dem wir sprachen, kann also nicht
einfach in einem physiologisch zu verstehenden Organverlust bestehen,
sondern er besteht in der ganzen, vom Willen geleiteten Einstellung der
Existenz, die schließlich den, welchen sie nicht wahrhaben w i l l ,
auch nicht mehr für wahr h ä l t . Es ist keine Organ-, sondern eine
Existenzfrage. Es ist nicht so, als ob man keine Antenne für diese
Realitäten hätte, sondern man stellt den Radio-Apparat ab. Nur wenn
ich bereit bin, Gott a η zuerkennen, kann ich ihn auch erkennen. (Es ist
eben n i c h t umgekehrt!). „Wer aus der Wahrheit i s t , der höret
meine Stimme". Wer aber die falsche „Einstellung" zu Gott hat,
bekommt ihn überhaupt nicht ins Visier.
Nun wird sich natürlich sofort die Frage ergeben — oder ist sie nicht
in alledem schon beantwortet? —, was den Menschen und besonders
den Menschen des Säkularismus bewegen könnte, Gott jene
Anerkennung zu versagen und damit einer Art Schrumpfung seiner
religiösen Erkenntnis zu verfallen :
*) Vgl. auch H a m a n n : Ausgabe Dietrich S. 120. Ferner Ps. 119 V.
100: „Ich bin klüger denn die Alten; (warum? etwa weil ich eine klarer
denkende Vernunft besitze? Nein!) d e n n i c h h a l t e d e i n e G e b o t
e", ich befinde mich also in der rechten Existenzhaltung gegenüber Gott;
beachte auch Pascal, „Gedanken" (herausg. von Guardini) S. 173, die ganz
entsprechenden Gedanken).
68
Gott anerkennen heißt ja (im Blick auf Gesetz und Evangelium):
daß wir uns dem Gerichte Gottes stellen, uns von ihm zerbrechen, von
ihm heimsuchen und heimholen lassen und ganz neu beginnen müssen,
weil wir die Fremde erkennen, in der wir uns befinden. Dieses „Stirb
und Werde", das darin für unser aller persönliches Leben beschlossen
liegt, ist immer zunächst schmerzhaft. Das Licht Gottes tut immer
zuerst weh, weil es ein schmerzhaftes und entlarvendes Licht ist, ehe
es dann das erleuchtende und wärmende Licht eines neuen
Lebenstages wird, in dem wir unter der Vergebung Gottes leben
dürfen1).
Das
Nicht-Vorhandensein
der
Wahrheit
Gottes
im
Säkularismus
ist
also
kein
„Tatbestand", der nur zu konstatieren wäre und zwar als das Ergebnis eines eigengesetzlichen psychologischen
Prozesses zu konstatieren wäre -, s o n d e r n e s i s t e i n e
„ T a t " d e s M e n s c h e n . Mit einem modernen und geläufigen
Terminus könnte man diese „Tat" als „V e r d r ä n g u n g "
bezeichnen. Die letzte Frage wird aus dem Leben eliminiert. Schon der
Lebensstil im Zeitalter der Säkularisation ist dafür charakteristisch:
Verdrängung der Gottesfrage und moderner Lebensstil 1)
ι . Der heutige Mensch vermag in den seltensten Fällen allein zu
sein. Es „ödet" ihn dann an. Wer oder was ist dieses
*) Bei dem angedeuteten Verhältnis von Gesetz und Evangelium handelt es sich selbstverständlich nicht um ein historisches Nacheinander von
Sterben und Werden. Erst indem wir uns heimgeholt wissen, wird uns oft
genug nachträglich der Schrecken über die hinter uns liegende Fremde
ankommen. Eigentlich ist das die typische Reihenfolge des Büß- und
Umkehrgeschehens. Uns kommt es in den obigen Sätzen hauptsächlich auf
die Feststellung an, daß der dem christlichen Glauben Fernstehende
immer nur das „Absterben", das „Lassen" und den Schmerz der Änderung sieht. Das alles pflegt für ihn das erste zu sein.
2) Vgl. zum folgenden auch verwandte Gedankengänge in meinem
Buch: Tod und Leben (Genf 1945, Tübingen 21946), von dem ich hier
einige Formulierungen übernehme.
4*
69
„Es"? Ist es nicht die' Leere jenes Ortes, an dem eigentlich „Er" stehen
sollte? Müssen wir nicht so etwas lesen aus der Leere des Blickes, mit
dem die Menschen durch die Straßen gehen und in der
Untergrundbahn sitzen? Schon Pascal sagt in einer merkwürdigen
Vorwegerkenntnis der Säkularisation: das sei der Jammer seines
Jahrhunderts, daß die Menschen nicht allein in einem Zimmer bleiben
könnten (Budenangst).
Der Mensch findet in der Tat die unmöglichsten Formen, um dem
Alleinsein auszuweichen : Das Faltboot ist meist mit einem
Koffergrammophon versehen, damit man sich wenigstens eine andere
Stimme vortäuscht und nicht allein ist. Daß es auch d a n η
mitgenommen zu werden pflegt, wenn man zu mehreren ist, ist nur ein
Zeichen dessen, daß, wenn das Gegenüber des g ö t t l i c h e n Du
geschwunden ist, auf die Dauer auch das Gegenüber des
m e n s c h l i c h e n Du schwindet und dann jenes Gespräch erlischt,
das der unter Gott stehende Mensch mit Worten oder auch im
Schweigen mit dem andern führt (Walter Flex).
Am erschütterndsten hat wohl Jean Paul von dieser Ich-Einsamkeit
angesichts des entschwundenen Gottes gehandelt („Predigt des toten
Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei") :
,,. . . . das ganze geistige Universum wird durch die Hand des
Atheismus zersprengt und zerschlagen in zahllose quecksilberne
Punkte von Ichs, welche blinken, rinnen, rinnen, irren, zusammen- und
auseinanderfliehen, ohne Einheit und Bestand. Niemand ist im All so
sehr allein als ein Gottesleugner — er trauert mit einem verwaiseten
Herzen, das den Vater verloren, neben dem unermeßlichen Leichnam
der Natur, den kein Weltgeist regt und zusammenhält, und der im
Grabe wächst; er trauert so lange, bis er sich selber abbröckelt von der
Leiche. Die ganze Welt ruhet vor ihm wie die große halb im Sande
liegende Sphinx aus Stein; und das All ist die kalte eiserne Maske der
gestaltlosen Ewigkeit."
70
Dann folgt der verzweifelte Ausruf:
„. . . . wie ist jeder so allein in der weiten Leichengruft des Alls !
Ich bin nur neben mir — O Vater ! o Vater ! wo ist deine unendliche
Brust, daß ich an ihr ruhe? Ach, wenn jedes Ich sein eigener Vater und
Schöpfer ist, warum kann es nicht auch sein eigener Würgengel sein? .
. ." Auch die ganztägige Benutzung des Rundfunks, gleich, ob man
„hört" oder ob man — wie in den meisten Fällen - seinen Klang nur
als Geräuschkulisse zum Arbeiten und Reden braucht, ist dafür ein
Kennzeichen.
Wir können nämlich folgende Beobachtung machen:
Der Mensch braucht neben dem, was ihn gerade beschäftigt und
womit er sich „gegenständlich" befaßt, sozusagen noch etwas, das ihn
„ungegenständlich" engagiert. Beispiel: Ein Mensch befindet sich in
einer traurigen oder gar verzweifelten Stimmung. Um sich abzulenken
und von seinen trüben Gedanken loszukommen, besucht er ein Varieté,
dessen Unterhaltung ihn tatsächlich für einige Stunden fesselt und ihm
ein kurzes Vergessen seiner selbst gewährt. Trotzdem wird es ein
großer Unterschied sein zwischen einem Menschen, der aus Gründen
der Depression die Varieteunterhaltung aufsucht, und einem andern
Menschen, der sich in heiterster Laune befindet und jene Unterhaltung
benutzt, um dieser Heiterkeit ein Ventil und einen Ausdruck zu verschaffen. Beim ersteren bleibt auch dann, wenn er gegenständlich von
den Bühnenvorgängen aufs heftigste gefesselt ist, ein Empfinden dafür
erhalten, daß der ungegenständliche Hintergrund seiner Seele nicht in
Ordnung ist und daß ein dunkler Begleiter hinter seinem Rücken steht.
Sein Lachen wird anders klingen und gequälter sein als das des
Heiteren. (Wir kennen diese Vorgänge und Hintergründe des Fröhlichseins ja alle — und wahrlich nicht nur aus dem Parkett des
Varietés.) Z u e i n e r g a n z e n F r ö h l i c h k e i t g e h ö r t e s ,
daß der Hintergrund des Lebens
71
i n O r d n u n g i s t , daß wir in Frieden mit Gott sind. Erst dann
kann es in einem totalen Sinne heißen: Freuet euch in dem Herrn
allewege (Phil. 4,4). E s i s t d i e F r e u d e v o r d e m
g e o r d n e t e n H i n t e r g r u n d . Und diese Freude kann
paradoxerweise auch dann bestehen, wenn im Vordergrund nicht der
Humorist des Varietés, sondern wie bei Paulus der Kerkermeister steht.
Ich sagte : Der Mensch braucht außer dem, was ihn gegenständlich
beschäftigt, noch einen ungegenständlichen Hintergrund seines Lebens.
Und nun frage ich: Gewinnt von hier aus die Geräuschkulisse des
dauernd angestellten Radios nicht einen neuen Sinn? Und zwar einen
t h e o l o g i s c h e n und überhaupt n u r auf dieser Ebene
einsichtigen Sinn?
Was ist denn eine Geräuschkulisse, die ich bei der Arbeit oder beim
Gespräch sozusagen um mich herum aufbaue, anders als ein Ersatz für
diesen ungegenständlichen Hintergrund meines Lebens, der eben
n i c h t in Ordnung ist, weil ich keinen Frieden mit Gott habe ? Ist
diese Geräuschkulisse nicht der Versuch, mich nicht nur nach vorne zu
sichern (indem ich mich nämlich von meiner gegenständlichen Arbeit
hinnehmen lasse), sondern zugleich der Versuch, auch das übrige, das
Hintergründige in mir, die n i c h t von der Arbeit engagierten Bereiche
in mir noch mit Beschlag zu belegen und sozusagen zu beschäftigen?
Radio plus Arbeit — als Kennzeichen des säkularisierten Lebensstiles
— sind der Versuch, mein gesamtes Ich niederzuhalten und zu
engagieren, damit keine von den schrecklichen Stimmen der Fremde,
der Öde und der Verlassenheit in mir hochkommen kann. D a s ist die
Theologie des Rundfunks, wenn man den Lebensstil bedenkt, in den er
eingefügt ist.
2. Damit hängt eine weitere Erscheinung des modernen Lebens
zusammen: der Z e i t m a n g e l , den jeder v e r w ü n s c h t und den
doch die meisten positiv w ü n s c h e n .
72
Unter Soldaten kann man besonders deutlich diese Beobachtung
machen: Es gibt für die meisten nichts Schlimmeres, als eine
dienstfreie Stunde zu durchleben, in der keine Unterhaltung geboten
wird und die man aus irgendeinem Grunde nicht verschlafen kann. Man
weiß nicht, wie man über diesen „garstigen breiten Zeitgraben" hinüber
soll, man hat geradezu so etwas, was ich als „zeitliche Platzangst"
bezeichnen . möchte.
Aus dieser Mentalität stammt das schreckliche Wort, daß man die
Zeit „vertreiben" oder gar „totschlagen" müsse. Man vertreibt im
allgemeinen nur Feinde. Also ist die Zeit mein F e i n d . Ich muß sie
vertreiben, weil sie auf die Ewigkeit oder auf das Nichts zuführt. Darum
lärmt man in der Sylvesternacht, weil das Gras der Zeit hier besonders
vernehmlich wächst. Man vertreibt die Zeit und meint die Ewigkeit,
weil sie eine ungeklärte und deshalb quälende Frage ist. ' Und es spielt
auch nicht die geringste Rolle, daß der säkularisierte Mensch für die
Ewigkeit konstant gewisse verhüllende Chiffren wählt: etwa die Worte
„Torschluß" oder „Tod" oder „Nach uns die Sintflut" oder „Schicksal"
— und wie sie alle heißen mögen. Unterhalb seiner Geheimsprache für
die letzten Wirklichkeiten weiß er ganz genau, worum es geht, zum
mindesten unbewußt. Er ist immer besetzt und m u ß sich besetzen
lassen. Von wem? Sollte darauf eine persönliche Größe, sollte darauf
der „Herr dieser Welt" die Antwort sein müssen?
3. Alles, was an die Grenzen der Menschlichkeit gemahnt, ist aus
dem sichtbaren Leben getilgt. Auf den Straßen sind keine Leichenzüge
zu sehen, der Schrei der Gebärenden verhallt hinter schalldichten
Klinikwänden, die Schrecken des Krankseins sind dem Augenschein
entzogen, die Irren sind an die unsichtbare Peripherie des Lebens oder
gar a u s dem Leben gedrängt. In Kino und Theater sieht man nur
lachendes Leben. Und selbst die historischen Filme der letzten
73
Jahre, in denen Gestalten erscheinen, die Selbstmord begangen haben,
pflegen dieses Ende in einen „versöhnlichen Schluß" umzudichten *).
Wenn irgendwo, so werden hier Furcht und Hoffnung als gestaltende
Mächte der Lebensanschauung sichtbar.
4. Der mittelalterliche Mensch erholte sich, indem er sich
„sammelte" ; der heutige erholt sich, indem er sich „zerstreut"; beide
Formen der Erholung verhalten sich zueinander wie zentripetale und
zentrifugale Tendenz. Auf das Zentrum kann man sich nur
zurückziehen, wenn man sich hier geordnet weiß. Vor dem Zentrum
muß man aber f l i e h e n , wenn die eigentlichen Lebensfragen nicht
geordnet sind. Dann muß man wünschen, sich selber loszuwerden,
nicht mehr zu sein — freilich nicht vernichtet und tot zu sein, sondern
den genußfähigen Teil des Ich noch leben und sich ausleben zu lassen.
Dieses Fliehen-vor-sich-selbst, diese vorübergehende Selbstzerstäubung in Atome nennt der säkularisierte Mensch „Zerstreuung";
und er wagt es, darunter Freude und Amüsement zu verstehen. Sein
zerstreutes Lachen ist aber nichts anderes als eine Tat der
Verzweiflung.
„Immer spielt ihr und scherzt? Ihr müßt? o Freunde, mir geht dies
In die Seele, denn dies müssen Verzweifelte nur." (Hölderlin)
Die letzten Fragen sind ein öffentliches Geheimnis geworden. Sie
sind verdrängt und dennoch da. In Tod, Leid und Schuld brechen sie
auf. Hier zeigt sich die fürchterliche Hilflosigkeit des religiös
ausgebrannten Menschen. Hier ist die seelsorgerliche Aufgabe.
Es ist eben unmöglich, daß ein Volk je wieder vergessen könnte, daß
es einmal im Lichte Gottes, unter der Wahrheit, wandeln durfte und
daß ihm vergönnt war, sich selber und Gott im Lichte dieser Wahrheit
zu sehen. Man kann das nicht vergessen. Das deutsche Volk schleppt
das Erbe des Evangeliums in tausend Kanälen seiner Tradition, seines
Denkens
*) Diesel, Friedrich List u. a.
74
und seines unbewußten Ethos mit. Ich sage: Man kann das nicht
„vergessen". Man kann das nur „verdrängen".
Darum gibt es auch kein nachchristliches Heidentum, kein
„Neuheidentum", sondern nur Unruhe und Angst des heimlich
d e n n o c h Wissenden, Unruhe und Angst hinter der Maske des
Menschen, der „Haltung" bewahrt inmitten der Unwahrheit, aus der er
existiert.
Es sind Unruhe und Angst eines Wissenden, den der 139. Psalm
beschreibt, wenn er die heimlichste Sehnsucht jenes Wissenden so
interpretiert, daß er ihn bitten läßt: „Finsternis möge mich decken" —
eine Finsternis, in der ich vor Gott sicher und unauffindbar bin — um
dann sogleich fortfahren zu müssen: „so muß doch' die Nacht um mich
her licht sein."
Ausblick
Wenn man Gott verloren hat, hat man den Grund verloren, auf dem
man steht; insofern hat man sich selbst verloren. Man erschrickt vor
der zurückbleibenden Leere. Nicht nur die Physik, auch der Mensch
hat und kennt einen horror vacui. Diesem Schatten, der von nichts
mehr geworfen wird (um ein Bild Jean Pauls zu gebrauchen), fürchtet
der Mensch zu begegnen. Deshalb stürzt er sich in künstliche
Füllungen. Diese Füllungen aber bestehen keineswegs nur in Exzessen.
Auch eine bestimmte Form der Arbeit vermag diesen Dienst zu tun.
Damit hängt es zusammen, daß die Verdrängung des Nichts mit großen
Lebensleistungen zusammengehen kann, genau so wie die
Verdrängung der Angst mit Heroismus. Aber gerade w e i l das so ist,
tritt uns die Wahrheit des biblischen Gedankens entgegen, daß es nicht
auf den Inhalt der Klammer, sondern auf das Vorzeichen ankommt.
Dieser Mensch der Leere und des Mittelpunktes, der Mensch
inmitten des verdunkelten Horizontes, vor sich selber fliehend und
erfüllt von dunklen.Ahnungen, wird erschütternd sicht
75
bar gemacht von Gerhard Schumann in seinem Gedichtband „Wir aber
sind das Korn". Man möchte sagen: in dieser fast hellseherischen
Schau kann der säkularisierte Mensch sich selber nicht sehen. Diese
Helle kann nur im Lichte Gottes selbst gesehen sein — oder aber in der
über einem zusammenschlagenden Nacht, die in ihren dunkelsten und
verzweifeisten Stunden immer wieder die Anamnesis an jene Konturen
im Lichte beschwört. Es ist die Schau des Menschen der Nacht, wie
man sie nur vom Hellen aus sehen kann, und die man nicht zu
vergessen vermag, wenn man selbst wieder dieser Nacht verfällt:
Wir sind die Mitte von der Welt umkreist. Wir
sind sehr stolz, doch innen lauert Angst.
Verlorner Gott, läßt du dich wiederfinden? Wir
reden, weil es tödlich uns umschweigt. Wir jagen,
die aus Angst zur Tat Verfluchten, Die immer
nur die eigne Fratze zeigt. Wir hören schon das
Schreiten des Gerichts. Wir tun, als ob wir eifrig
etwas suchten, Und wissen schon: Wir finden nur
das Nichts.
Man wird verstehen, daß es von hier aus keine geradlinige
Weiterentwicklung geben kann, vor allem nicht so etwas wie
„Vollendung der Reformation". Wir sind in einer Sackgasse
schlimmster und verhängnisvollster Art.
Es gibt von hier aus nur den gleichen Ruf zum „Zurück", in dem alle
echten Reformationen der Kirche gründeten: zurück nämlich zu dem in
Gericht und Gnade an den Menschen ergehenden Wort, zu dem
fleischgewordenen Wort, das die Mitte der Geschichte ist.
Es geht wahrhaftig nicht darum, das Rad der Zeit, das Rad der
Geschichte z u r ü c k z u d r e h e n . Es geht überhaupt nicht um ein
Problem der Zeit, sondern um den H e r r n der Zeit. Und es geht
überhaupt nicht um das Rad der Geschichte, sondern um die Achse, um
die es schwingt. Es geht um die M i t t e .
76
Deshalb darf man das „Zurück" nicht zeitlich mißverstehen, sondern
als jenes metanoeite des Neuen Testaments, als jene Umkehr, jene
„Heimkehr", die der 90. Psalm in die Worte faßt: Kehret wieder,
Menschenkinderl
Es ist das Ergreifen, das Wiederergreifen einer Bestimmung, der wir
untreu geworden sind. Es ist die Rückkehr zu einem Frieden, der in der
Christnacht ausgerufen wurde und aus dem wir gewichen sind in eine
Friedlosigkeit und eine Fremde, von der die Steine schreien.
77
EXKURS ZUM 1. KAPITEL
Exkurs über Ernst Jüngers Überwindung des Nihilismus
Bis hierher, d. h. bis zu dieser Forderung der „Heimkehr", stand der
Text dieses Buches fest und war auch so in seiner Schweizer Ausgabe
bereits veröffentlicht, als mir im Oktober 1945 eine Äußerung Ernst
Jüngers im Manuskript bekannt wurde, die betitelt ist: „Der Friede. Ein
Wort an die Jugend Europas. Ein Wort an die Jugend der Welt."
Wir haben im vorliegenden Kapitel E. Jünger, den klassischen
Verdichter der Kampfinstinkte, den Menschen der „Haltung" und des
„abenteuerlichen Herzens" als Interpreten und Repräsentanten eines
konsequenten ,heroischen Nihilismus* dargestellt. Wir sahen in ihm in
gewisser Weise den Fortsetzer Nietzsches, wenn wir an die heroischtragische Grundstimmung seiner Dichtungen, an die aristokratische
Einsamkeit, an die hohe Rangeinstufung des Instinkts und der
metarationalen Kräfte sowie an die Größe und schlackenlose Helle des
literarischen Stils denken. Wiederholt mußten wir bei der Analyse der
abendländischen Situation, besonders hinsichtlich der politischscheinidealistischen Weltanschauungen zum Ausdruck bringen : „das
endet im Nihilismus" -und zwar eben in jenem von Ernst Jünger in
höchster Prägnanz zum Ausdruck gebrachten Nihilismus.
Aber diese Diagnose und Prognose kann nicht vollzogen werden,
ohne noch die weitere Frage zu stellen: I s t denn der Nihilismus
überhaupt ein „Ende"? Wenn man auf die
78
Gesetzmäßigkeit menschlicher Entwicklungsbahnen blickt, scheinen
sich zwei Möglichkeiten der Fortsetzung jenseits des Nihilismus zu
ergeben:
E n t w e d e r die Potenzierung des Nihil, d. h. die völlige
Entpersönlichung des Menschen und seine Degradierung zur bloß
exemplarischen Kollektivexistenz (wobei man freilich wiederum
ernstlich fragen könnte, ob diese konsequente „Selbst"-Verleugnung
des Menschen überhaupt eine echte Möglichkeit sei und ob die
Menschlichkeit des Menschen sich nicht zumindest in untergründiger
Weise bleibend zum Wort melden müsse. Biblisch ist die Sache
jedenfalls zweifellos so, daß der Mensch auch im Stande der
konsequenten „Selbst-veirleugnungv" auf seine Menschlichkeit hin
angesprochen werden kann und daß er sich weder kollektivistisch zu
verdampfen noch mit den „Flügeln der Morgenröte ans äußerste Meer"
zu begeben vermag).
O d e r aber der Nihilismus strebt aus der Schwebelage seiner
lavierenden Haltung heraus und sehnt sich nach echten oder auch nach
unechten Halten, auf jeden Fall aber nach H a l t e n zurück.
Die unechten Halte erkennt man im nihilistischen Lebensstil.überall
da, wo der A b e r g l a u b e in Anspruch genommen wird : Es meldet
sich hier ein dunkler Instinkt für die Existenz und Anwesenheit höherer
Mächte, mit denen man sich in Einklang zu bringen versucht. Die
Unechtheit dieses Haltes zeigt sich dabei nicht nur in der magischen
Herabwürdigung jener höheren Mächte, die auf diese Art einen
objektiven Zerrbild-Charakter empfangen, sondern vor allem auch in
der s u b j e k t i v e n Art des Sich-verhaltens zu ihnen : Denn man
verhält sich nicht zu ihnen im Sinne echten Dienstes (wozu ja auch
eine echte Autorität gehören würde), sondern im Sinne einer
Eventualversicherung : Man stellt sich mit ihnen gut „für den Fall",
und zwar für den sehr hypothetischen Fall, daß ihnen' realer Rang
zukommen s o l l t e ;
79
und weil es sich hier nur um einen Potentialis handelt, auf den man sich
nicht verlassen kann, trifft man vorher alle praktisch-realen
Sicherungsmaßnahmen, die sich nur erdenken lassen: Der Talisman im
Auto e r s e t z t nicht Öldruckbremse und Sekuritscheibe, sondern er
bildet eine Zusatz-und Eventualversicherung, die jedenfalls „nichts
schaden" kann. Dadurch unterscheidet sich die Magie des Säkularismus, in welcher die nihilistische Haltung sich einen neuen Halt zu
geben versucht, grundsätzlich vom Charakter der urtümlichen Magie.
Aber wie dem auch sei, ob es um echte oder unechte Halte, ob es um
eine neue Irrung oder aber um echte Heimkehr geht: der Nihilismus ist
jedenfalls nicht einfach ein Schlußpunkt, nach welchem nichts mehr
käme.
Eben deshalb mußte man den Weg des sauberen, klar profilierten
und darum mit starken Durchhaltekräften ausgestatteten Nihilisten,
mußte man den Weg Ernst Jüngers mit außerordentlicher Spannung
verfolgen, weil er den Rang eines menschlichen Paradigmas für diese
Lebenshaltung zu haben scheint. Und wenn wir nun die über den
Nihilismus hinausdrängende Lebenskurve in einigen Punkten
festzulegen versuchen, dann verfolgen wir damit nicht den
Nebengedanken, als könne der Nihilismus dialektisch ins Christentum
um- und zurückschlagen, als habe er also ein erbauliches
Schlußkapitel.
Die Berufung in den Christenstand gründet vielmehr immer im
Wunder des heiligen Geistes und nicht in einer automatischen
Dialektik. Was jenem dialektischen Gesetz allenfalls möglich ist,
besteht höchstens in der Hinführung zu jenen unechten Halten, weil
nach den Gesetzen der Psychologie die abenteuerliche Existenz immer
befristet ist und sich, durch Erfahrung gewitzigt, in den Frieden der
Vernunft, des Phlegmas, des Kosmos oder des Spießertums (die
Nuancen dieses Friedens ließen sich noch beliebig erweitern)
zurücksehnt. In
6z
Ernst Jünger dagegen meinen wir jenen echten Willen zu erkennen, der
bereit ist, sich die Wahrheit neu schenken zu lassen und ihr deshalb in
derjenigen Haltung naht, die allein vom Segen der Verheißung
getroffen wird. Da E. Jünger auch in dieser Phase seines Weges in
Stellvertretung für viele spricht, und da die empirische Kirche auf dem
Ohr, an das solche Stimmen dringen, notorisch schlecht zu hören pflegt,
so bedarf es wohl eines besonderen Hinweises, daß es sich bei den
folgenden Äußerungen nicht um ein intaktes oder gar theologisch
schulmäßiges Kirchenchristentum handelt. Wenn ich recht sehe — man
wird das freilich nur mit allen Vorbehalten aussprechen dürfen —, liegt
in ihnen so etwas wie eine persönliche „Begegnung mit Jesus Christus"
jedenfalls nicht in d e m Sinne vor, daß hier irgend ein übliches
Bekehrungsschema angewendet werden könnte. Vielleicht hat dieses
„Nicht-ferne-sein-vom-Reiche-Gottes", das man hier „allenfalls" meint
konstatieren zu dürfen, sogar einen gewissermaßen pragmatischen
Charakter und trägt damit die Zeichen seiner nihilistischen Herkunft, in
der es nur noch Zwecke, aber keine Wahrheit mehr gab, noch deutlich
an der Stirn. Denn die Hauptargumentation, mit der sich Jünger nun
positiv mit dem Christenglauben auseinandersetzt, ist deutlich auf
folgenden Ton gestimmt: Offenbar enthalten Gesetz und Evangelium
der christlichen Botschaft das Gradnetz in sich, in welches alles Leben
eingezeichnet sein muß, sofern ihm ein Geborgensein in der
kosmischen Ordnung und damit Bestand gewährt sein soll. Der Zweck
der Weltordnung und Welterhaltung, der hier ganz deutlich als
Kriterium fungiert, ist eben ein pragmatischer Gesichtspunkt. Aber man
wird ihn trotzdem als ein Aufleuchten jener Wahrheit werten müssen,
die sich selbst als Licht der Welt bezeichnet, um damit anzudeuten, daß
Wahrheit und Welterhaltung hintergründig zusammenhängen und daß
die Gottlosen eben in einem letzten Sinne auch T o r e n sind (Ps. 14,
1). Auch diese Gedanken und Er
81
wägungen vermögen Märkte und Zäune darzustellen, an denen die
Boten des Königs ihre Mannschaft abholen. Jedenfalls will es mir
scheinen, als ob in der großen Krisenstunde des Säkularismus, in der
alle Freiheiten zu Knechtschaften, alle Ideale zu Irrlichtern und alle
selbstgemachten Götter zu Dämonen geworden sind (wofür schon die
antike Mythologie die entsprechenden Gesetze aufgezeigt hat), als ob
in dieser Krisenstunde jene Zäune und Märkte besonders von der
abendländischen Intelligenz in einer Weise bevölkert wären, die uns an
das Asyl antiker Heiligtümer erinnern mag, wo die Gehetzten Ruhe und
Schutz suchten und wo sie die erste Ahnung göttlicher Übermacht
überkam.
Nach diesen einleitenden und abgrenzenden Worten seien einige
Partien des angekündigten Schriftsatzes von Ernst Jünger mitgeteilt 1).
„Die wahre Besiegung des Nihilismus und damit der Friede wird nur
mit Hilfe der Kirchen möglich sein. Genau so, wie die Zuverlässigkeit des
Menschen im neuen Staate nicht etwa auf seiner Internationalität, sondern
auf seiner Nationalität beruht, muß seine Beziehung auf Bekenntnis, nicht
auf Indifferenz gerichtet sein. Er muß die Heimat kennen und zwar im
Raum wie im Unendlichen und in der Zeit wie in der Ewigkeit. Und diese
Bildung zum vollen Leben, zum ganzen Menschen muß wurzeln auf
höherer Gewißheit, als sie der Staat mit seinen Schulen und seinen Universitäten begründen kann.
Dazu bedürfen auch die Kirchen der Erneuerung, und zwar in jedem
Sinne, der zugleich die Rückkehr zu den Fundamenten in sich schließt,
denn jede echte Gesinnung, jedes neue Leben muß auf die Quellen zurückgreifen. Freilich ist das nur möglich in zeitlichem Gewände, und daher
sind es neue Formen, in denen der Theologe auf die Menschen zu wirken
hat.
Der heutige Mensch will glauben. Er hat das durch die Kraft bewiesen,
in der er seinen Sinn selbst an das Absurde, an flüchtige Hirngespinste
hängte. Doch ist er ein rationales Wesen, das es zunächst auf rationale
Weise zum Heil zu wenden gilt. Um dem gerecht zu werden, darf freilich
das Theologische nicht mehr ein Studium zweiten Ranges sein. Es müssen
vielmehr der Theologie als der obersten der Wissenschaften nicht nur die
be-1
x)
Aus Ernst Jünger, Der Friede. Ein Wort an die Jugend Europas. Ein
Wort an die Jugend der Welt (1943) geschrieben.
82
sten Herzen, sondern auch die besten Köpfe, die feinsten Geister zuströmen - jene, die in den Einzeldisziplinen und selbst in der Philosophie nicht
ihr Genüge finden, sondern die dem Ganzen, dem Universum zugeordnet
sind.
Dann handelt es sich auch nicht mehr darum, die Ergebnisse der
Einzel-Wissenschaften zu widerlegen, sondern sie auszuwerten, sie zu
überflügeln nach Pascals Art. Auch so erst werden die Wissenschaften
nicht geistig, sondern selbst ökonomisch fruchtbar, bewahrt vor jenem
seltsamen Verluste, der trotz wachsender technischer Leistung den
Menschen immer mehr beraubt. Es ist, als gösse er Wasser in einen Krug,
von dem er nicht sieht, daß er in Scherben liegt. Ein solcher Zustand ist
nur zu heilen durch Geister, die im Ganzen der Schöpfung leben. Nur dort
ist Überfluß.
Die christliche Kirche zeigte sich in den Feuerwelten und in den Malstromwirbeln des Nihilismus als Macht, die noch das Heil Unzähliger beschirmte, nicht nur von ihren Kanzeln und Altären, sondern auch in den
Geistesdomen ihrer Lehre und in der Aura, die den Gläubigen umgibt,
und die ihn auch in der Stunde des Todes nicht verläßt. Es zeugten neue
Märtyrer für sie.
Auch mußte der Mensch erfahren, daß ihm inmitten der Katastrophe
keines der ausgeklügelten Systeme und keine seiner Lehren und Schriften
Rat gewährte, es sei denn zum Schlimmeren. Sie führten alle auf Tötung zu
und auf Verehrung der Gewalt. Dagegen trat in den Wirbeln des Untergangs deutlicher als jemals die Wirklichkeit der großen Bilder der Heiligen
Schrift und ihrer Gebote, Verheißungen und Offenbarungen hervor. In
den Symbolen des göttlichen Ursprungs, der Schöpfung, des Sündenfalls, in
den Bildern von Kain und Abel, von der Sintflut, von Sodom und vom
Turm zu Babel, in den Psalmen, Propheten und in der den niederen Gesetzen der Schreckenswelt höchst überlegenen Wahrheit des Neuen Testa- '
ments ist uns das Muster, das ewige Gradnetz vorgezeichnet, das menschlicher Historie und menschlicher Geographie zugrunde liegt. Daher läßt
sich auf diesem Buche auch jeder Bund beschwören, so wie es die Männer
von Pitcarn taten, die Überlebenden von Schiffbrüchigen auf einer Insel
des Stillen Ozeans. Sie hatten dort wie Wölfe einander nachgestellt, bis
endlich die höhere Natur in ihnen zum Frieden Kraft gewann.
Auf jenem Eiland erkannte man die Rückkehr als moralische
Notwendigkeit und gründete auf sie die Institution. Das zeichnet sich auch
für unsere Lage vor. Die Massen sind zunächst zur christlichen Moral
zurückzuführen, ohne die sie der Vernichtung ganz schutzlos
preisgegeben sind. Das ist der Menschenweg, die Nachfolge des großen
Menschenvorbilds, doch wird er vergeblich bleiben, wenn nicht zugleich
hoch über jeder bloßen Sitte der Zugang zum göttlichen Bilde gefunden
wird. Ihn aber können nur kleine Eliten beschreiten".
Soweit Ernst Jünger.
5 T h i e l i c k e , Fragen des Christentums.
83
Er selbst dürfte sich wohl kaum in voller Klarheit darüber befinden,
wie sehr er in den letzten Sätzen — die durch den Begriff der jjElite"
ziemlich stark nach einem säkular-aristokratischen Ausleseprinzip
schmecken - eine Erkenntnis zum Ausdruck bringt, die ein Gemeingut
der theologischen Tradition des Luthertums ist. Wenn Jünger davon
spricht, daß die Massen zunächst „zur christlichen Moral
zurückzuführen" seien, sofern sie nicht der Vernichtung schutzlos
preisgegeben sein sollen, so meint er damit unter der Maske einer ganz
un-schulmäßigen Terminologie zweifellos dasselbe, was man in jener
Tradition als den „tertius usus legis" (= den „dritten Gebrauch des
Gesetzes") bezeichnet.
Das Gesetz Gottes hat nämlich unter anderem die Funktion, in der
gefallenen, von gefährlichen Chaosmächten durchsetzten Welt einen
Krieg aller gegen alle zu verhüten; es hat die Aufgabe, dem Menschen
mehr oder weniger gewaltsam (coerceré) Grenzen zu setzen und dem
Rechtsbrecher Strafe anzudrohen. Es hat den Menschen vor dem
Menschen zu schützen. Und es tut dies zunächst ohne Rücksicht darauf,
ob der Mensch zu dem Urheber des Gesetzes ein persönliches KindVater-Verhältnis besitzt und ob er den Sinn jener göttlichen Verfügungen einsieht und sich zu eigen macht. Unter diesem Gesetze Gottes
müssen alle Menschen stehen, Fromme und Gottlose, Heilige und
Spötter, Christen und Heiden, weil es gleichsam die
allgemeinverbindliche Geschäftsordnung repräsentiert, welche die
unerläßliche Vorbedingung für eine menschliche Existenzform in der
Gemeinschaft ist und damit für menschliches Leben überhaupt. So sehr
also diese Gebote einen christlichen Ursprung besitzen und im „Fürchten und Lieben" Gottes gründen, so wenig braucht dieser Ursprung
denen zum Bewußtsein zu kommen, die unter ihrer Gewalt stehen genau so wenig, wie die soziologischen, psychologischen,
pädagogischen und u. U. sogar metaphysischen Erwägungen, die hinter
der Schaffung des Strafgesetzbuches
84
stehen, denen deutlich zu werden brauchen, für die es verbindlich ist
und die — ob nun durch sittliche Überzeugung oder durch knechtische
Furcht (timor servilis) - dadurch in Schach gehalten werden sollen.
Aber Ernst Jünger weiß noch mehr:
Er weiß, daß dieses Gebot ständig in seinem autoritären Rang
bekräftigt werden muß, wenn es nicht zur toten Gesetzlichkeit und 2M
sinnentleertem Formalismus herabsinken soll. Christliche Autoritäten
und christliche Gesittung kann es auf die Dauer nicht geben, wenn
nicht ein Kreis von Menschen vorhanden ist, der zum U r s p r u n g
jener Autoritäten, der zum Urheber des Gesetzes eine lebendige
persönliche Beziehung unterhält und also nicht nur die normae normatae, sondern auch die norma normans kennt.
Die zehn Gebote der Bibel bringen das dadurch zum Ausdruck, daß
an der Spitze das e r s t e Gebot steht und daß dieses erste Gebot die
Bedeutung einer alle folgenden Gebote autorisierenden Präambel
besitzt: „Ich bin der Herr dein Gott — ". Diese Tatsache begründet die
Gehorsamspflicht gegenüber den Geboten der zweiten Tafel. Fällt
diese Präambel dahin, so fallen auch die einzelnen praecepta mit. Eine
Zeitlang werden sie freilich noch nachwirken, und man wird dann in
solchen aufgeklärten und emanzipierten Zeiten strahlend versichern:
Seht, es geht auch ohne das „religiöse" Fundament; es geht auch mit
einer autonomen Ethik und einer vernünftigen, evidenten Rechts- und
Sittenordnung. Diese Zeiten der großen Täuschung kehren in der
Geschichte beinahe mit rhythmischer Regelmäßigkeit wieder. Man
macht sich dabei nicht klar, daß hinter der gleichbleibenden Fassade
der Gesittung ein Motivwechsel — etwa im Sinne einer Wandlung
vom Religiösen zum Autonomen — eingetreten ist. Oder aber, wenn
man es sich doch verdeutlicht, beruhigt man sich mit dem Argument,
daß der Motivbereich ja zur „unsichtbaren", „inneren" Schicht des
Menschen gehöre und keine realpoli{
5*
67
tischen Konsequenzen habe. Das ist ein gewaltiger Irrtum. Wir haben
ζ. B. bereits gesehen und werden in den folgenden Kapiteln noch
deutlicher erkennen, wie nicht nur der Satz gilt: Wenn zwei dasselbe
tun, so ist es nicht dasselbe (eben weil die Motive so verschieden sein
können), sondern wie auch der andere Satz in Geltung ist: Wenn hinter
derselben Tat verschiedene Beweggründe stehen, so wird auf die Dauer
auch die Tat verschieden. .Man denke nur daran, wie verschieden man
den Satz der,Nächstenliebe meinen kann: E n t w e d e r so, daß ich im
andern das Ebenbild Gottes liebe, den also, den Gott selber lieb hat und
der in diesem Geliebtsein seine Würde besitzt; o d e r etwa in dem
Sinne: „Gemeinnutz geht vor Eigennutz", also im Sinne einer pragmatischen Maxime, die allein vom Gedanken gemeinschafts-erhaltender
oder gar kollektivsetzender Grundsätze ausgeht, ohne nach der
Autorität zu fragen, die hier gebietend im Hintergrund steht und ohne
die Würde zu bedenken, an die das Gebot appelliert. Es ist
selbstverständlich, daß die letztere Art der pragmatischen Motivierung
dem Egoismus Tor und Tür öffnet, so gewiß die Nächstenliebe im
Interesse der Selbstliebe liegt und darum im Konkurrenzfalle dieser
auch sofort geopfert wird. Da der pragmatische Gesichtspunkt
außerdem die Objekte, auf welche sich die Liebe beziehen soll, nach
ihrem immanenten Lebenswert oder Lebensunwert abstuft und die
letzteren Objekte u. U. der Euthanasie ausliefert, so ist dem Mißtrauen,
dem Terror und der Furcht Tor und Tür geöffnet, und das Gebot, das
im Programm die Gemeinschaft z u s a m m e n führen sollte, wirkt
auf die Dauer gemeinschaftsprengend und -zersetzend.
Damit hängt es auch zusammen, daß eine christliche Gesittung noch
eine Zeitlang nachwirken kann, auch wenn sie von den speisenden
Quellen einer persönlich getragenen Lebensverbindung mit Gott
abgeschnitten ist. Aber nur eine Zeitlang. Sie hat den Charakter' einer
Maschine, welcher der
86
treibende Strom entzogen ist und die im Leerlauf noch eine kurze Frist
nachrollt. Wie schnell aber diese nachrollende Bewegung abzustoppen
ist, konnten wir beobachten, als der politische Mythos in die „noch"
christlich gefärbte Kultur und Gesittung hineinfuhr und sie weithin
widerstandslos mit völlig entgegengesetzten Ideologien füllte.
Darum ist auch christliche Gesittung und ist das „Naturrecht" des
Dekalogs auf die Dauer nicht durch seine eigene naturrechtliche
Evidenz oder durch seine praktische Unübertrefflichkeit
aufrechtzuerhalten, sondern nur so, daß ihr Motivursprung lebendig in
die Existenz hineingenommen wird. Dieser Motivursprung ist aber in
dem zu sehen, was Luther in seiner Erklärung der 10 Gebote mit den
Worten ausdrückt: „Wir sollen Gott fürchten und lieben . . .", wenn
also wirklich die Liebe zu Gott die Summe des Gesetzes ist. Da aber
diese Liebe zu Gott nur dann möglich ist, wenn nach den Worten der
„Apologie" Gott uns eih objectum amabile (= ein liebenswerter
Gegenstand) geworden ist, d. h. wenn wir uns von ihm geliebt und
wenn wir ihn in Jesus Christus gegenwärtig sehen, so können die
Gebote Gottes nur dann eine lebendige Präsenz unter uns haben, wenn
der „Zugang zum göttlichen Bilde gefunden wird".
Das bedeutet: Die Geltung der Gebote Gottes kann öffentlich nur
dann in Kraft sein — auch unter denen, die keinen persönlichen
Zugang zum auctor legis besitzen —, wenn eine zahlenmäßig noch so
kleine Christenheit den Kontakt mit der Ewigkeit wahrt, wenn es eine
wenn auch noch so winzige Gemeinde von solchen gibt, die den
heiligen Rest bilden und als die zehn Gerechten in Sodom und
Gomorrha stellvertretend für die andern einen Damm gegen die Chaos
mächte bilden. Der Christ, der auf dem Dache als ein einsamer Vogel
sein Liedlein singt, ist doch von immenser Bedeutung für die Stadt,
über der er singt. Das meint wohl Jünger mit seinem Wort von den
„kleinen Eliten". Er will damit sagen (und tut
87
das nun freilich so, daß der unglückliche Begriff der „Elite" dieses
Anliegen fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt), daß in der Masse der
Mitläufer und Zaungäste und bloßen Zeitgenossen eine ecclesia sein
müsse, die den Anschluß an den Herrn des ersten Gebotes besitzt,
während die schein- oder a- oder anti-christliche Masse nur allzuoft auf
die zweite Tafel und damit auf die bloßen Ausführungsbestimmungen
einer Anordnung und einer Ordnung blickt, die sie selber nicht kennt.
Aber von diesem Kern hängt die Geschichte ab, so gewiß die
Gemeinde auf der Brücke zwischen Zeit und Ewigkeit steht und damit
die Verbindung zu jenen Bereichen offen hält, aus denen die immer
neue Ermächtigung der Gebote und Gesittungen zu uns kommt und
ohne die sie über Nacht vollmachtslos werden und wie das Gras
verdorren. Die Ordnungen dieser Welt sind nicht mächtig durch ihre
eigene Evidenz und durch das Licht der Vernunft, das für sie zeugt,
sondern nur durch den, tier das Licht der Welt ist, weil er nicht a u s
ihr scheint, sondern in sie hineinleuchtet.
Weil E. Jünger das gesehen zu haben scheint, darum Hegt hier doch
wohl mehr vor als ein pragmatischer Gesichtspunkt und als ein bloß
dialektischer Umschlag des Nihilismus, der ihn nach irgendwelchen
Halten greifen läßt, sondern darum könnte hier eine echte
Kehrtwendung vorliegen in dem Sinne, daß verbrannt wird, was man
vorher anbetete, und daß angebetet wird, was man vorher verbrannte.
Und es bleibt nur der Wunsch auszusprechen (oder soll ich sagen: die
Bitte? aber nicht an Menschen !), daß dieser Weg* stellvertretend für
viele gegangen und ausgesprochen sein möchte, genau wie auch vorher
die nihilistische Haltung in illusions- und schlak-kenloser Sauberkeit
für viele durch die Gedanken jenes Mannes repräsentiert wurde.
88
ZWEITES KAPITEL KIRCHE, DOGMA, BINDUNG DIE SCHEU
DES RELIGIÖSEN MENSCHEN VOR DER KIRCHE
Reden und Verhüllen
Ich glaube, es leuchtet ohne weiteres ein, warum ich das
Doppelthema dieses Kapitels so formuliert habe. Denn die bekannte
Scheu des „religiösen" und keineswegs nur des simpel „ungläubigen"
Menschen vor der Kirche bezieht sich doch auf die drei genannten
Mächte: auf „Kirche", „Dogma" und „Bindung", die dem modernen,
aufgeklärten und frei sein wollenden Menschen ein gelindes Gruseln
den Rücken hinunter jagen. Wie soll man das erklären?
Irgend jemand hat einmal gesagt, daß der Mensch sich in seinem
Reden mehr verhülle als offenbare. Das, was er wirklich meine,
verschweige er meist, und was er dann doch sage, sei häufig Vorwand.
Das gilt natürlich, so alt die Menschheit ist, besonders von der
p o l i t i s c h e n Rede. Sie bedient sich - wenn man von ihrer
positiven Sinnbestimmung einmal absieht — in hohem Maße der
Kunst des Verschweigens oder des Ablenkens. Sie kann
Verhüllungsmanöver großen Stils sein. Man braucht nur einmal an die
rednerischen Kommentare zu gewissen Kriegserklärungen zu denken,
um dafür eine plastische Illustration zu haben.
Aber diese Verhüllungstendenz gilt keineswegs n u r von der
politischen Rede, sondern genau so von dem, was der
7*
Mensch zu den wesentlichen Entscheidungen seines p e r s ö n l i c h e n Lebens bemerkt: Wir brauchen nur daran zu denken,
um ein einziges Beispiel herauszugreifen, was der Mensch sich über
die Stellung zu seinem T o d e zurecht redet und was er alles in diesem
Reden v e r s c h w e i g t . Wie vieles, was sich als lärmende
Todesverachtung gebärdet — „lachend sterben", „stehend sterben"
wurde es genannt in einer Zeit, als man weniger leicht in die Lage kam,
sogleich eine Probe aufs Exempel machen zu müssen — wie vieles,
sage ich, was sich als lärmende Todesverachtung gebärdet, ist n i c h t
darin begründet, daß man wirklich mit dem Tode fertig geworden
wäre, sondern ist'verdrängte Verzweiflung. Und heimlich werden dann
doch die Bücher verschlungen *), die dem Menschen suggerieren
möchten, das Sterben sei ein euphorischer Zustand des Behagens, es
sei überhaupt nur auf A u g e n b l i c k e beschränkt und mitnichten
ein „Sein zum Tode" des g a n z e n Daseins. In all seinem
todesverachtenden Gerede v e r s c h w e i g t der Mensch mehr, als er
herausläßt.
Hierher möchte ich auch die Entschuldigungen gegenüber dem
Anspruch Gottes zählen, wie sie Jesus im Gleichnis vom königlichen
Mahl (Luk. 14, 18-20) berichtet: „Ich habe einen Acker gekauft, ich
habe Ochsen angeschafft, ich habe ein Weib genommen — bitte sehr,
entschuldige mich". Der Mensch behauptet, es sei ihm etwas
dazwischen gekommen, und er verschweigt das viel Wesentlichere,
daß es hier auf das Verhältnis der G e w i c h t e ankommt: daß
nämlich dies „Dazwischengekommene" ihm gewichtiger ist als der Ruf
Gottes und daß er vermutlich solche „Dazwischenkünfte" e r f i n d e n
würde, wenn sie nicht faktisch gegeben wären; und das alles nur aus
dem e i n e n Grunde, um sein Leben nicht einem H e r r n
auszuliefern. Der wahre Grund für Absage und Nein wird also
verschwiegen und durch einen „Vorwand"
*) Barbarin, Der Tod als Freund; Wolf Sörrensen, Freund Hain.
90
getarnt. Es wird darum einfach stimmen, daß so und soviele Male,
wenn man an diesem oder jenem biblischen Gedanken oder Bericht als
„jüdisch" oder „unsittlich" oder „wesensfremd" Anstoß nimmt, nur ein
Blitzableiter für das getroffene Gewissen gesucht wird : ein Vorwand
also, kraft dessen man sich dem verhaftenden Griff des biblischen
Wortes mit einem Noli me tangere entwindet.
Wir werden wirklich sagen dürfen, daß der Mensch sich in seinem
Reden mehr v e r h ü l l e als o f f e n b a r e . Das hat für unser
konkretes Thema eine wichtige Folge: Wenn wir nämlich die
Entscheidung des heutigen Menschen gegen Kirche und Christentum
werten wollen, dann dürfen wir wohl die Argumente a n h ö r e n , in
denen dieser Mensch seine Entscheidung begründet, wir werden aber
fragen müssen, was sich sozusagen noch dahinter vollzieht und von
ihm selbst vielleicht unbemerkt ist. Wir müssen den wirklichen
„Grund" einerseits und den bewußten oder unbewußten „Vorwand"
andererseits unterscheiden.
Die Kirche als das unheimliche „gan^ andere"
Wenn wir von der Scheu des religiösen Menschen vor der Kirche
sprechen, so wissen wir alle, was damit gemeint ist. Wir können immer
wieder die Beobachtung machen, daß Leute, die sozusagen religiös und
vielleicht auch theologisch „interessiert" sind, die sogar kirchliches
Schrifttum lesen, mit keinem Mittel in die Kirche transportiert werden
können, selbst wenn der Autor eines von ihnen gelesenen und geschätzten Buches dort spricht. Es besteht anscheinend eine geheime
und schier unüberwindliche Scheu vor jener feurigen Zone, die den
sakralen Raum umgrenzt, und ihre äußere Bannmeile pflegt auch von
respektlosen Naturen peinlichst respektiert zu werden. Es ist, wie wenn
man durch Überschreiten jener Grenze zu einer Entscheidung und
einem Be
91
kenntnis genötigt würde, während man sich in der Etappe eines
unverbindlichen Interessieitseins viel wohler fühlt. Diesen Zustand gilt
es zu analysieren.
Was man gegen die Kirche „hat", bezieht sich im wesentlichen auf
die B o t s c h a f t der Kirche. Und nun sollte uns freilich schon die
Vielstimmigkeit jenes Chores der Ein-und Vorwände aufhorchen
lassen und uns die Frage nahelegen, ob hinter jener Vielzahl nicht ein
einziger und wirklicher Grund, aber eben wirklich ein „G r u n d " und
kein „V o r w a η d" stehen sollte, der sich dann erst später und
nachträglich in jene Vielzahl, in jene sieben Farben des Spektrums,
zerlegt.
Ich zähle nur einige Stimmen jenes Chores auf:
a) Da ist die Stimme der Erkenntnistheoretiker, die nur noch die
rhetorisch gemeinte Frage aussprechen können, wie man denn
„Erfahrung" von Gott und seiner jenseitigen Welt haben könne. Der
Anspruch der Kirche, der so tief in das Diesseits unseres Lebens
eingreife, hänge, was seine Begründung anlangt, in der Luft des
unkontrollierbaren Drüben.
b) Da spricht Nietzsche — und mit ihm seine vitalistischen
Nachbeter -, daß nur d a s den Titel „Wahrheit" verlangen könne, was
dem Leben diene und es steigere. Das Christentum aber sei und wirke
(vielleicht weil es den Anspruch erhebe, die Wahrheit „an sich" und
damit auch die Wahrheit in ihren Abgründen zu verkünden) negativ,
lähmend und destruktiv.
c) Und der „Mythos unseres Jahrhunderts" endlich spricht von dem
Christentum als einer östlichen, unser Blut belastenden und artfremd
überlagernden Ideologie.
Das Merkwürdige an dieser beliebig fortzusetzenden Reihe ist dies,
daß sich auch extreme Haltungen und Anschauungen in diesem
e i n e n Punkte des Noli me tangere gegenüber Christus f i n d e n .
Herodes und Pontius Pilatus, sonst in allen Interessen Widerspieler,
werden doch Freunde in diesem e i n e n Punkt. In e i n e r Front
stehen hier Intel
92
lektuelle und Instinktmenschen, aufgeklärte Kosmopoliten und
völkische Fanatiker, blutleere Asphaltliteraten und blonde Bestien:
Löwen und Lämmer fressen d i e s Gras jedenfalls gemeinsam. Wir
können die gemachten Feststellungen s o zusammenfassen : In der
Kirche vergebe ich mir immer etwas, gleichgültig, ob ich mich nun als
Vernunftträger oder als Lebensträger oder als Volksträger verstehe.
Wie ich mich also auch selbst verstehen und definieren sollte, immer
hegt die Kirche mit ihrer Botschaft wie ein erratischer Block, wie ein
Fremdkörper im Horizont meiner Welt. Hier scheint mich eine
Vergewaltigung meiner Existenz zu bedrohen, der gegenüber ich auf
dem Qui vive sein muß. Ich fühle mich sozusagen, wenn wir uns zum
Anwalt jenes Sprechchores machen wollen, in der Kirche einem
schlechthin „andern" und mein So-sein „Bedrohenden" gegenüber. Und
falls dies schlechthin andere gelten sollte — das fühle ich — müßte ich
selbst mich e b e n f a l l s anders verstehen und vor allem anders
w e r d e n , als ich es bisher tat und war. Und folglich stehe ich nun
vor einer tief in mein Leben greifenden Alternative: E n t w e d e r
diese kirchliche Institution o d e r ich. Das ist die Stimme des
Selbstbehauptungstriebes, die jeder Soldat in der Bedrohung durch den
Feind kennen lernt.
Damit sind wir dem vorläufigen Teil unserer Bemühung, eine
verborgene Einheit in der Vielzahl der Stimmen zu entdecken, bereits
näher gekommen : Es ist die Empfindung des Fremden, des „andern",
das mir im Namen eines unkontrollierbaren „Drüben" begegnet und
das mich offenbar tatsächlich von allen Seiten umgibt (Ps. 139),
gleichgültig in welchem Lager oder Weltanschauungsgehäuse ich auch
sitzen mag. Es hat keine besondere Affinität zu e i n e m dieser
Gehäuse, sondern steht ihnen allen als das „andere" gegenüber. Das ist
übrigens ein dunkles und geheimes Zeichen dessen, wie wenig der
christliche Glaube den sogenannten „andern Weltanschauungen"
koordinierbar ist und wie sehr er — aus einer
93
grundsätzlich andern Dimension kommend - ihnen g e g e n übersteht.
Begegnung mit Christus
Um nun weiter zu kommen, müssen wir fragen, wie der im Gehäuse
seiner Weltanschauung steckende Mensch s i c h
selbst
v e r s t e h t - jener Mensch also, der in der Begegnung mit der Kirche
das Erlebnis des chokierend Fremden hat. Ich setze ein mit einer
Analyse des Begriffs der „Begegnung" und nehme eine im folgenden
zu erläuternde These vorweg : daß nämlich u n s e r e P e r s o n u n d
unsere Art erst in der „Begegnung" mit dem
andern entsteht.
Wie konkret und alltäglich diese Erfahrung ist, kann man sich an
einer Auslandsreise verdeutlichen. Man wird immer wieder entdecken,
daß man dabei einen ganz neuen Blick für das Wesen des eigenen, ζ. B.
des Deutschen oder auch des Europäischen bekommt. Dieses Wesen
erschließt sich sozusagen erst in der G e g e n ü b e r s t e l l u n g mit
dem andern, mit dem „Ausland" oder dem fremden Kontinent. Die
Grenze ist der für die Erkenntnis fruchtbare Ort. Aber jenes Wesen
e r s c h l i e ß t sich nicht nur am andern, sondern es b i l d e t sich
auch an ihm: Eine Sache „wird" erst eigentlich von ihrer Grenze her, d.
h. aber im Gegenüber zum andern1).
Das Erlebnis des Eros stellt uns übrigens vor dasselbe Problem.
Auch in ihm begegne ich dem andern und werde dadurch verändert.
Legt man sich nun die Frage vor, ob die Liebe U m f o r m u n g , also
,,Von-mir-weg-Formung" bedeute, oder aber ob sie nicht gerade
Herausformung
*) Vgl. dazu: Wilh. Kamiah, „Christentum und Selbstbehauptung".
Historische und philosophische Untersuchungen zur Entstehung des.
Christentums und zu Augustine „Bürgerschaft Gottes", Frankfurt a. M.
1940; ferner zum Begriff der Begegnung die glänzende Untersuchung von
Theodor Litt, Der deutsche Geist und das Christentum. Vom Wesen geschichtlicher Begegnung, Leipzig 1939.
94
meines eigentlichen Wesens, also ein „Zu-mir-selber-kommen" mit
sich bringe, dann wird man sich unschwer zu der letzteren Antwort
entschließen müssen: Auch der Eros übt die Funktion eines
photographischen Entwicklers aus, der das eigentliche Bild meines
Wesens erst zum Erscheinen bringt, während es o h n e die Begegnung
mit dem andern verborgen geblieben und nie „herausgekommen" wäre.
Der „andere" oder das „andere" gehört folglich ganz einfach zu
meiner Selbstwerdung hinzu.
Auch „ d a s " Andere: Man spricht heute viel davon, daß man einen
bestimmten Typ erziehen wolle, etwa den Typ des kämpferischen
Menschen. Es ist aber nun wichtig zu sehen, daß dieser Typ nur in der
B e g e g n u n g mit dem a n d e r n , etwa in der Begegnung mit
feindlichen Weltanschauungen und Kräftegruppen, also wiederum von
seiner eigenen Grenze her, entsteht. Kunstmann sagt in einer
Heidelberger Immatrikulationsrede einmal sehr prägnant: Der Typ entsteht immer an der A u f gäbe, d. h. nicht aus sich selber, sondern an
dem, was ihm von außen „a u f gegeben" wird und ihm entgegentritt;
er entsteht also einzig und allein an der Begegnung.
Am tiefsten ist dieser Gedanke der Begegnung wohl von Theodor Litt
in seiner ausgezeichneten Arbeit über das „Christentum und den
deutschen Geist" gedacht und formuliert worden. Er sucht darin
nachzuweisen, daß die sogenannte „deutsche Art" gerade an ihrer sich
behauptenden und hingebenden Begegnung mit Christus entstanden und
zu sich selbst gekommen sei. Mit Hilfe unseres obigen Beispieles könnten
wir sagen: daß die Liebe des Deutschen zu Jesus Christus sein Wesen
herausgeformt habe, sein Wesen also, das er ohne diese Liebe wohl nie
gewonnen hätte und das er bei ihrer Preisgabe auch wieder verliert, wie
wir es heute in , erschreckendem Maße erkennen.
Die öffentliche Meinung pflegt zwar diesen Vorgang zu
95
bestreiten. Das zeigt sich nicht nur in der Stellung zum Christentum,
sondern vor allem auch in der Pädagogik. Man möchte den Typ (ζ. B.
das neue Menschenbild) nicht mehr in der Begegnung mit dem „andern"
wachsen lassen, sondern ihn sozusagen chemisch rein und aus sich
selbst heraus darstellen. Auch zukünftige, anders gerichtete
Erziehungsziele, sofern sie betont a-christlich sind, werden darin nicht
grundsätzlich anders sein. Vielleicht mußte man es in der Praxis so
wollen, auch wenn es gar nicht im t h e o r e t i s c h e n Programm
dieser Pädagogik vorgesehen wäre: Denn tatsächlich fehlt ja durch die
totale Erfassung und Formung des Lebens, wie sie der
Nationalsozialismus in so verhängnisvoller Weise versucht hat, „das
andere", an dessen Gegensatz, Widerstand und Begegnung man sich
„herausformen" lassen könnte. So muß man zu Ersatzmitteln greifen,
um etwa Mut, Kampfkraft und Selbstbehauptung erziehlich zu wecken.
(Vgl. ζ. B. das Erziehungsprogramm der Ordensburgen, die ohne sog.
„Gegner" sind, und wo man die genannten Eigenschaften durch
Fallschirmabspringen und ähnliche Mätzchen, die man Mutproben
nennt, zu züchten versucht). Es ist selbstverständlich, daß auf diese
Weise der geistige Mut, daß also das, was man als „Zivilkourage"
bezeichnet, niemals entstehen kann und ja faktisch auch niemals
entstanden i s t , sondern im Gegenteil einer persönlichen Feigheit
ohnegleichen Platz gemacht hat. Dieser geistige Mut kann eben immer
nur in der Begegnung mit dem andern, in der Anfechtung, an der
Grenze der Existenz entstehen. Daß in dieser Gestalt der Pädagogik
notwendig ein entscheidendes Lebensgesetz übersehen wird und daß
dadurch Zerrungen des Charakters und trotz aller nordischen
Physiognomien ein verkrüppelter i n n e r e r Mensch entstehen muß,
ist evident.
Jedenfalls halten wir fest: Das andere, in dessen Begegnung ich „ich
selbst" würde, ist aus dem Leben getilgt. Darum werde ich eben —
gerade im Namen der Artgemäßheit und der
96
Austilgung des Fremden — notwendig und logisch n i c h t „ich
selbst".
Es gehört folglich zum Menschen, der sich absolut setzt — das ist
das Schlüsselwort —, daß er kein gleichwertiges anderes, geschweige
denn Übergeordnetes, transzendent anderes, anzuerkennen vermag.
(Wir haben das ja im i . Kapitel dieses Buches nachzuweisen gesucht.)
Der in diesem Sinn verstandene Imperativ „Werde, was du bist" kann
deshalb nicht durch Begegnung mit diesem andern erfüllt werden, sondern er ist nur zu verstehen von jener Inversion des Blickes her, der
lediglich in sich selbst hineinschaut und feststellt, was er „an sich" ist.
Exempel für diese Inversion des Blicks können leicht statuiert
werden; es sei nur ein einziges herausgegriffen:
Was Deutschtum und deutsche Art ist, glaubt der krankhaft
invertierte Nationalsozialismus nicht mehr an d e m feststellen zu
können, worin sich die Begegnung dieser Art mit dem „andern" der
Christusgestalt manifestiert; man glaubt es nicht mehr an den Domen
und der Kunst des Mittelalters feststellen zu können, sei es auch nur so,
daß man alle möglichen Subtraktionsexempel vollzieht und
überlagernde Schichten abzutragen versucht; man meint also das
Deutsche nicht mehr an d e m ablesen zu können, was die Christusbotschaft bzw. was die „Liebe" des deutschen Menschen zur
Christusgestalt aus ihm gemacht hat; sondern nur s o meint man zum
innersten Wesen dieser Art vordringen zu können, daß man h i n t e r
die Begegnung zurückgeht in der Meinung, hier könne man finden, wie
das sogenannte deutsche Wesen „an sich" gewesen sei, u m es nach
diesem Muster dann aufs neue chemisch rein darzustellen. Dieser Weg
hinter die Begegnung zurück zum „An sich" ist doch der zweifellos
„weltanschauliche" Sinn der heute so eifrig betriebenen
Vorgeschichtsforschung.
97
Der Glaube des Menschen an sich selbst
Es ist nun klar, daß der krankhafte Mythos vom deutschen Wesen
und vom Menschen überhaupt, der auf diese Weise erzeugt wird, und
daß die Ideologie, in der wir unser Wesen so „rein" projiziert finden,
nur insofern Gegenstand des Glaubens sein kann, als wir zuvor erst
einmal a n u n s s e l b e r glauben, a n uns selber, die wir uns eben
hierin ausgedrückt finden. Wir stoßen also wiederum auf die schon
bloßgelegte Wurzel aller dieser Erscheinungen der säkularen Religion,
auf die Verabsolutierung des Menschen selber, der damit eine
ungeheure Scheu offenbart vor dem, was ihm als anderes entgegentritt,
ihn in Frage stellt und das Programm der eigenmächtigen IchGestaltung stört. Denn jene Absolutsetzung ist ja wesensmäßig
unendlich verschieden von der Souveränität des Christenmenschen, die
Luther in dem Satz ausdrückt: „Ich bin ein Herr aller Dinge und
niemandem Untertan". Jene Absolutsetzung läuft nicht nur auf. ein
Herrsein über alle Dinge, sondern vor allem auf ein Herrsein über mich
selbst hinaus.
Der deutlichste Anwalt dieser Haltung ist Nietzsche, besonders in
seiner Stellung zum Tode: Aus einer dummen physiologischen
Tatsache (d. h. aus einem Widerfahrnis, einer „Begegnung", bei
welcher der Tod die Initiative besitzt) soll ich eine moralische
Notwendigkeit, eine selbstmächtige Tat machen, soll ich frei werden
„zum" und „im" Tode1).
Der Mensch selbst ist das unendliche Subjekt, und sogar der Tod ist
kein Begegnendes mehr, dem er passiv als Objekt gegenüberstände,
sondern er ist das unendliche Subjekt, sogar das Subjekt seines „Frei"Todes.
Damit sind wir auf eine wichtige Tatsache gestoßen:
ι . Wenn der Mensch das Fremde an Dogma und Kirche empfindet,
wenn er von „Zwangsglaubenssätzen" spricht, die
*) Stellennachweise in meinem Buch „Tod und Leben" S. 34 ff.
98
ihn vergewaltigen wollen, dann ist diese Empfindung des Fremden
keineswegs p s y c h o l o g i s c h zu verstehen, als ob der
säkularisierte und gleichsam zu sich selbst gekommene Mensch ein
besonders empfindliches Gespüre für „artfremdes Eiweiß" besäße.
(Auf dieser Ebene des Psychologischen begegnen wir dem gemeinten
Tatbestand überhaupt nicht, und unsere Herren Psychologen pflegen ja
auch erheblich vor-beizuanalysieren, wenn sie sich diesen
hintergründigen Fragen der modernen Menschenexistenz nähern. Sie
können von einer säkularen Psychologie her überhaupt keinen Zugang
zu diesen Tatbeständen besitzen.) Die beschriebene Scheu beruht
vielmehr auf jener vorgängigen, sich selbst behauptenden und
verabsolutierenden Einstellung des Menschen, die nicht von der
göttlichen Autorität gebunden und beansprucht sein will.
Aus dieser Grundeinstellung wächst nun völlig logisch ein ganz
bestimmtes Verhältnis zu W e l t und G e s c h i c h t e . Man muß
sich das klar machen, um die Fremdheit von Kirche und Dogma in
ihrer letzten Tiefe zu verstehen.
2. Auch die G e s c h i c h t e kann nämlich nun ebensowenig wie
der Tod als ein Widerfahrnis, als ein mir entgegentretendes anderes
gewertet werden. Geschichte kann man nur noch begreifen als das, was
„ d i e M ä n n e r m a c h e n". Geschichte ist die Objektivierung des
Willens großer Männer. Dieser Wille aber ist selber unableitbar — und
autonom.
Wo jedoch den großen Männern die Übergewalt der Ereignisse
einmal s o entgegentritt, daß sie sich nicht mehr einfach als Subjekt
verstehen k ö n n e n , ohne einem allzu drastischen Wahnwitz zu
verfallen, wo also der säkulare Mensch „religiös" werden muß, da wird
der überweltliche Grund der Dinge plötzlich zur „Vorsehung", als
deren Vollstrecker sich der Mensch bzw. das weltgeschichtliche Individuum dann wähnt. Aber indem er sich so als Vollstrecker
6 T h i e l i c k e , Fragen des Christentums.
81
weiß, ist der „Vorsehung" wiederum der Stachel des „andern"
genommen: sie tritt ihm ja nicht „entgegen", stellt ihn nicht in Frage,
sondern schaltet ihn sich gleich und macht ihn zu ihrem Vollstrecker,
zu ihrem verlängerten Arm. Der Arm aber empfindet das Gehirn
niemals als das „andere", sondern weiß sich als Organ mit ihm in
dieselbe Lebensbewegung hineingezogen.
3. Damit wird der Gott dieses religiös säkularen Menschen, wie
schon das erste Kapitel zeigte, notwendig im Sinne von Feuerbach ein
Spiegelbild des Menschen, wird er der ihm koordinierte Freundgott. Er
hat alle Merkmale des „andern" verloren. Dieses andere müßte sonst
sichtbar werden darin, daß der Mensch vor Gott an seiner eigenen
Grenze stände, daß es für ihn ein „Bis hierher und nicht weiter" gäbe,
daß es für ihn den Ruf gäbe : „Hier sollen sich legen deine stolzen
Wellen", daß es für ihn ein G e r i c h t gäbe. Es würde sich weiter
darin zeigen, daß er b e t e n könnte. Denn Beten heißt, einem
a n d e r n gegenüberstehen.. Aber er steht nicht im Gericht und er steht
nicht im Gebet. Er ist die Norm aller Dinge, er ist Rechts-„Schöpfer" in
jenem unheimlich hintergründigen Sinne; er lebt im Monolog. Wie
könnte er jemals anders leben? Wie könnte er jemals anders wollen?
Von hier aus stoßen wir auf zwei Grundeinstellungen gegenüber
dem „andern", innerhalb deren der Standort des säkularen Menschen
nun klar zu bestimmen ist.
ι. Die eine ist das S t a n d h a l t e n g e g e n ü b e r dem „ a n d e r
n", dem man verpflichtet und verbunden ist. Wir nennen das
„ B i n d u n g " . — Bindung an das „andere", an d e n ganz Andern,
der uns in Gericht und Gnade entgegentritt und mit dem wir als einem
personhaften Du im Gebete reden können. Statt Bindung ließe sich
herkömmlicherweise auch sagen: „G 1 a u b e". Der Ort, wo der Glaube
gepredigt und die Bindung gegeben ist, ist die Kirche.
2. Die andere Grundeinstellung, wo der Mensch allein auf
100
sich selbst gestellt ist und sich nichts gegenübersieht, nennen wir
„ H a l t u n g " . Haltung ist deshalb ein „Auf-sich-selbst-gestelltsein", weil es keinen andern gibt, auf den ich mein Leben stellen
könnte. Und wenn wir im i . Teil dieser Arbeit „Haltung" und „Halt"
als Gegensätze entwickelten, so können wir diese Antithese auch durch
die beiden gegensätzlichen Glieder: „Haltung" und „Bindung" gebildet
sein lassen.
Die Bindung an den Schöpfer tmd die Bindung an die Schöpfung
Um die ganze Tiefe dieses Gegensatzes und damit die ganze
Fremdheit der Glaubensbindung in der säkularen Welt zu ermessen,
müssen wir nun das Wesen der „Bindung" noch schärfer erfassen.
Wir machen uns das klar an der besonderen Gestalt dieser Bindung,
wie sie im christlichen Schöpfungsglauben zum · Ausdruck kommt.
Es gibt keinen besseren Ausgangspunkt dafür als Luthers Erklärung
des i . Glaubensartikels im Kleinen Katechismus: „Ich glaube, daß
mich G o t t geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele,
Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat
und noch erhält; dazu Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und
Hof, Weib und Kind, Äcker, Vieh und alle Güter; mit aller Notdurft
und Nahrung dieses Leibes und Lebens reichlich und täglich versorgt,
wider alle Fährlichkeit beschirmt und vor allem Übel behütet und
bewahret; und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und
Barmherzigkeit ohn* all mein Verdienst und Würdigkeit; des alles ich
ihm zu danken und zu loben und dafür zu dienen und gehorsam zu sein
schuldig bin.
Das ist gewißlich wahr." Der entscheidende Einsatz der Gedanken ist
durch den ersten Satz gegeben: „Ich glaube, daß m i c h Gott geschaf6*
83
fen hat". Damit ist zum Ausdruck gebracht, daß ich nicht an ein Es, an
die Schöpfung oder an eine ihrer Gestalten gebunden bin, sondern m i t
dem Es an das D u des Schöpfers.
Es heißt eben nicht, wie man doch logischerweise erwarten sollte :
Ich glaube, daß Gott die Welt geschaffen hat und „unter anderm" auch
mich. Denn tatsächlich ist doch „die Welt" das Größere und
Umfassendere, sozusagen das logisch Primäre, und ich selbst bin ein
Staubkorn und ein Atom in ihrem Gefüge. Müßte Luther seine
Erklärung nicht wirklich so beginnen: Ich glaube, daß Gott die Welt
geschaffen hat und „unter anderm auch mich"? Aber er fängt aus einem
offenbar triftigen Grunde nicht so an; er entwickelt den
Schöpfungsglauben scheinbar von der hintersten und letzten und
gleichgültigsten Stelle her, nämlich von mir armseligem Individuum.
Wäre es anders, wäre es also „logisch", so verstände ich mich von dem
geschaffenen Kosmos bzw. von den einzelnen Schöpfungs
g e s t a l t e n her (z. B. von der Schöpfungsgestalt „Geist" oder
„Volk" her), unter denen ich dann „nur" eines wäre.
Wäre es so, dann würde meine Geschöpflichkeit nicht dadurch
charakterisiert sein, daß ich zu Gott in einem unmittelbaren Ich-DuVerhältnis stünde, sondern dadurch, daß ich nur in einem
m i t t e l b a r e n Verhältnis zu ihm stünde. Ich hätte ihn nur insofern,
als er sich in den geschöpflichen Mittelgrößen (z. B. in der
Gemeinschaft) offenbart und als ich ihm hier dienen könnte. Der
bekannte Satz „Dienst an der Allgemeinheit ist Gottesdienst" verrät
deutlich dieses verhängnisvoll .entartete Denken. Ich habe dann Gott
nur konkret in der Mittelgröße, der sogenannten „Allgemeinheit", die
(etwa als Volk oder als Familie oder als Bürgerschaft einer Stadt) seine
Schöpfung ist. (Natürlich ändert sich daran nicht das geringste, wenn
die Mittelgröße „Allgemeinheit" zu andern Zeiten wieder anders
interpretiert wird :
102
etwa durch die Begriffe „Menschheit" oder auch „Europa"). Den
Schöpfer an sich, so wie er hinter seinen sichtbaren Vermittlungen
steht, kenne ich nicht. Darum habe ich Zugang zu ihm nur durch die
geschöpfliehe Mittelgröße. Wäre es so, dann müßte Luthers Erklärung
in der Tat beginnen: „Ich glaube, daß Gott die Welt geschaffen hat und
»unter anderm« auch mich in meiner Individualität".
Es erscheint nun als sicher, daß diese Indirektheit Gottes -in den
Schöpfungs g e s t a l t e n besonders in solchen Zeiten erlebt und
verkündet wird, die zum Handeln und Gestalten drängen, die große
geschichtliche Aufgaben und in diesen Aufgaben, vor allem die
Forderung stellen, mit bestimmten Schöpfungsbezirken fertig zu
werden. J e d e groß angepackte Aufgabe läßt immer nur auf e i n e s
blicken. Allem durchschlagskräftigen geschichtlichen Handeln haftet
Ausschließlichkeit, unter Umständen bis zur verzerrten Gestalt des
Fanatismus, an.
Damit aber wohnt gerade dem großen geschichtlichen Handeln die
Tendenz zur V e r a b s o l u t i e r u n g inne. Es gehört zum
Kennzeichen handelnder Zeiten und Menschen, daß sie nur
e i n e n P u n k t im Auge haben: Teils aus der „fanatischen"
Konzentration der Kräfte auf den entscheidenden Punkt, teils aus
gesunder produktiver Vereinfachung. Infolgedessen wertet man alles
von dieser e i n e n Schöpfungsmacht her und erhebt sie zum Maß aller
Dinge.
Das
ist
nicht
nur
auf
den
eigentlichen
Weltanschauungsgebieten, sondern auch in der „gewöhnlichen"
Geschichte des menschlichen Geistes so. Solche Verabsolutierungen, in
deren Gefolge irgendwie mein Standort ü b e r den Dingen proklamiert
bzw. ein Ding ü b e r alle andern erhoben wird, spielen hier die Rolle
von „heuristischen Prinzipien". Als Beispiel für diese Tendenz zur
Verabsolutierung führe ich nur die Entdeckung der Bakterien und die
damit gegebene Bakterienangst an. Die Furcht vor der vermeintlichen
Allgegenwart der Bakterien
103
führte zu einem tiefen Eingriff in die normalen Lebensgewohnheiten :
Um die Bakterien unschädlich zu machen, wurde ζ. B. die Kindermilch
so lange gekocht, bis die so liebevoll Betreuten krumme Beine
bekamen. Der Starkstrom des Bakteriengesichtspunktes durchschlug
die Sicherungen und Korrektive aller anderen Gesichtspunkte.
Inzwischen sind andere Götzen an die Stelle der Bakterien getreten,
und wer weiß, ob die Vitamine nicht auch noch einmal den ständig
besetzten und wieder verwaisten Thron der Göttin Vernunft einnehmen
werden. Ein gewisser Vitaminrummel scheint auf solche
Inthronisierung zu drängen. Jedenfalls stoßen wir bei der Tendenz zur
Verabsolutierung auf eine urtümliche Eigenschaft alles Menschlichen.
Und wir werden sagen dürfen, daß darin gleichermaßen eine schöpferische Kraft wie auch ein Ferment der Zersetzung zum Ausdruck
kommt. Das ganze Bild des Menschen, wie es in der Geschichte vom
babylonischen Turm dargestellt wird, liegt darin verborgen; so
urtümlich ist diese Tendenz.
Da es nun ebenfalls zum Wesen des Menschen gehört, sich selbst zu
verstehen und darum Weltanschauungen zu bilden, wird man erwarten
dürfen, daß auch im Wesen der Weltanschauung jene Tendenz zur
Verabsolutierung zum Ausdruck kommt. Tatsächlich kommt jede
Weltanschauung dieser menschlichen Urtendenz entgegen. Denn
Weltanschauungsbildung heißt doch geradezu : Die Welt unter ein
Thema zu subsumieren. Und dieses Thema ist nichts andères als die
verabsolutierte Schöpfungsgestalt: So verabsolutiert die idealistische
Weltanschauung die Schöpfungsgestalt „Geist", die - nach der Schau
des Idealismus — innerhalb des Schöpfungsraums nicht e i n e Größe
n e b e n andern ist, sondern d i e Größe i η allen, so gewiß alle
Schöpfungsgestalten eben, nur Formen und Ausdrucksweisen sind, in
denen sich der Geist entfaltet (Hegel). Das gleiche gilt entsprechend
von der materialistischen, der biologischen und jeder anderen
Weltanschauung.
104
Der Glaube an die Schöpfung in seinem positiven und seinem
Zersetzenden Sinn
(Die Revolution der bindungslosen Schöpfungsräume)
Dieser Vorgang führt zu weitreichenden Konsequenzen, die es
nunmehr zu bedenken gilt:
ι . Wir deuteten schon an, daß in diesem Drang zur Verabsolutierung einer geschöpflichen Größe zum „Thema der Welt" die
größten Leistungen beschlossen liegen. Es handelt sich, technisch
gesprochen, um eine Maßnahme von wesentlich heuristischem Rang:
Die Verlegung des Blickpunktes führt stets zu einem neuen Panorama
der Welt und damit auch zur Entdeckung von früher unbekannten
Abschnitten im Gelände. Man braucht nur daran zu erinnern, daß die
biologische Weltanschauung trotz ihrer krankhaft überspitzten
Einseitigkeit — die aber eben auch ihre produktiven Nebeneffekte hat
— den am geschichtlichen Prozeß zweifellos beteiligten Faktor der
„Rasse" entdeckt und als nunmehr unübersehbaren Gesichtspunkt in
alle künftigen Geschichtsbilder eingeführt hat. Das gleiche gilt
natürlich, trotz des wiederum einseitigen und konstruktiven Charakters,
auch von der idealistischen Weltanschauung, welche die innere Logik
der Geschichte als ein heuristisches Prinzip entdeckt hat, das wahrlich
nicht zu verachten ist und jedenfalls neue Terrainabschnitte einsehen
läßt.
Zugleich kündigen sich aber in jenem Verabsolutierungs-drang
chaotische Tendenzen an, weil in ihnen die Bindung an Gott als an die
tragende Macht des Daseins preisgegeben und an seine Stelle eine
geschöpfliche Surrogatbindung getreten ist, die auf die Dauer
zersprengend wirkt. Wir werden das im einzelnen noch zu zeigen
haben. Was wir meinen, dürfte schon durch die Erinnerung deutlich
werden, daß hier die Wurzel aller Fiybris und allen Titanentums ver-'
borgen liegt. Götter- und Menschendämmerung künden sich
105
J
hier an. Und wer die Kategorie der „falschen Götter" nicht besitzt,
pflegt hier von „Tragödien" zu sprechen. Der urtümliche Ausdruck
dafür ist die '„Geschichte vom babylonischen Turm", der schöpferische
Leistung und schauerliche Zersetzung erschütternd zusammenschaut.
Reinhold Schneider dürfte an dieses Gesetz der Selbstauflösung
gedacht haben, wenn er den fanatischen Tatmenschen als Gegenspieler
des gottgebundenen Beters auftreten läßt. „Denn Täter werden nie den
Himmel zwingen, / was sie vereinen, wird sich wieder spalten, / was
sie erneuern, über Nacht veralten / und was sie stiften, Not und Unheil
bringen". (Sonette, 1943.)
2. Wie sehen nun die Folgen der „Vergötterung" im einzelnen aus?
a) Gott wird in funktionale Abhängigkeit vom Leben gedrängt, er ist
sozusagen nur ein Appendix der geschöpflichen Größe, die man als
Numinosum proklamiert hat. Dieser Vorgang ist klassisch bei Kant
vollzogen ; man darf wohl sagen, daß für Kant die Vernunft jene Rolle
einer verabsolutierten Schöpfungsgröße spielt. Infolgedessen taucht
Gott nicht als Herr der Vernunft auf, - etwa in dem Sinn, daß sie von
ihm ihre Norm empfinge, oder daß sie sich als g e f a l l e n e Vernunft
vor ihm bekennen müßte, — sondern Gott wird selbst von der Vernunft
normiert werden: Er ist das zu postulierende Subjekt der im Raum der
Vernunft auftauchenden Gebote (vgl.: Die Religion innerhalb der
Grenzen der bloßen Vernunft); oder er ist der Garant des wiederum von
der Vernunft postulierten „höchsten Gutes" (vgl. Die Kritik der praktischen Vernunft); er ist gleichsam ein geometrischer Punkt im Gelände
der Vernunft. Insofern ist er diesem Gelände eben angepaßt.
Die Forderung einer sogenannten „Artgemäßheit" Gottes bringt diese
Gleichschaltung Gottes mit den Schöpfungsgrößen besonders prägnant
und zugleich grotesk zum Ausdruck. Es geht nicht um die
Gottgemäßheit der Schöpfung,
106
sondern um die Schöpfungsgemäßheit Gottes. Daß Gott im
Widerspruch zur Schöpfung sein soll, oder anders ausgedrückt: daß die
Schöpfung gefallen oder verkehrt sein soll, ist weltanschaulich ein
schlechthin unvollziehbarer Gedanke, weil die normgebende
Schöpfung hier ja selber normiert würde und obendrein von einer
unkontrollierbaren oder jedenfalls nur so kontrollierbaren Größe, daß
man sie an ihren Schöpfungsfrüchten erkennt. Dann aber sind eben die
F r ü c h t e Norm und nicht der Baum, an dem sie wuchsen. Die
Formen dieser Schattenexistenz Gottes — er ist ja wirklich der Schatten
der Schöpfungsrealitäten — liegen auf der Hand und vor aller Augen:
Gott hat keine eigene Stimme mehr, weder die Schöpfungsstimme „es
werde" noch die Herrenstimme „du sollst".» noch die Richterstimme
„Mensch, wo bist du", nein: Gott wird auf einmal oder allmählich zur
metaphysischen Kulisse hinter dem, was wir Menschen reden und tun.
b) Wenn das Dasein nicht von Gott, sondern von einer irdischen
Daseinsgestalt her geordnet wird, die selber dem Schöpfungsbereich
angehört, so werden weite Räume des Lebens nicht erfaßt und bleiben
darum bindungslos. Der Mensch ist dann in diesen unberührten Zonen
der völligen Einsamkeit ausgeliefert. Das läßt sich an den
verschiedensten Erscheinungen illustrieren:
Ich denke ζ. B. an den Fall, wo die Gemeinschaft, wo das Kollektiv
verabsolutiert wird und wo es also heißt: Ich bin nichts, die
Gemeinschaft, in der ich lebe, ist alles. Die Schöpfungsgröße
„Gemeinschaft" läßt mich in diesem Fall a l l e i n mit der ganzen
„persönlichen" Dimension meines Lebens (vgl. i.Kap.), die mir keiner
abnehmen kann. Sie läßt mich a l l e i n mit den Mächten persönlichen
Leides, persönlicher Schuld und mit dem persönlichen Tod. Auch wir
Kinder einer Zeit, die so leidenschaftlich vom Gemeinschaftsgedan-ken
her lebt, empfinden es ja als krank, wenn wir von gewissen Formen
einer allzu billigen und leichtfertigen Todesbereit
107
schaft, von einer zigarettenrauchenden, sturen, gleichgültigen
Sterbenslust hören, und weigern uns, hier einfach von Heroismus zu
sprechen. Wir spüren, daß hier die Dimension des Persönlichen von der
absoluten Diktatur des Kollektivs ausgelöscht sein könnte und daß es
gar keinen Geist mehr gäbe, den der Kollektivmensch auszuhauchen
hätte. Wir erleben diese Todesbereitschaft nicht einfach als Heroismus,
sondern als Zeichen der fürchterlichen Destruktion, und unwillkürlich
beginnt uns die Frage zu schütteln: Gibt es wirklich jene berühmten
„Privatangelegenheiten jedes einzelnen", die damit zu gleichgültigen
Randerscheinungen des Lebens gestempelt werden, die also der
„Ordnung" nicht bedürfen oder gar nicht einzuordnen sind?
Oder ist es nicht vielmehr so, daß es hier um die gleichberechtigte
„andere" Seite des Lebens geht und daß diese Seite, wenn sie verdrängt
wird, irgendwann zum Aufstand treibt, daß sie zu einer ungeheuer
geballten potentiellen Energie wird und nur auf ihre Entladung wartet?
Daß wir also vielleicht am Vorabend eines inneren Gegenschlags,
nämlich eines neuen Aufganges des Individualismus stehen? Das viel
zitierte „Bedürfnis nach Privatleben" gerade bei denen, die dauernd
oder vorübergehend aus einer Gemeinschaftsmacht entlassen sind und
die jahrelang in allen möglichen Verbänden innerlich und äußerlich
uniformiert waren, bedeutet gleichsam eine Stichflamme dieser
untergründigen Revolution.
Das gleiche gilt natürlich von einer Verabsolutierung der
Schöpfungsmacht „Geist", die schließlich genau so, wie der
Bakterienfanatismus der Jahrhundertwende zu Wachstumsstörungen
bei Kindern führte, eine Verkümmerung der mehr „vitalen" Bereiche
mit sich bringt und dann zum Aufstand der Blut- und Boden-Götter
drängt. Schon das Phänomen „Nietzsche" war ein Fanal für die
Revolution dieser irrationalen Vitalmächte.
Selbstverständlich aber entgehen auch die auf diese Weise
108
inthronisierten Vitalmächte nicht dem Schicksal und dem Gesetz,
denen sie ihren Ursprung verdanken. Die ausschließlich biologische
Fundamentierung der Weltschau läßt wieder andere Bezirke des
Lebens ungebunden und treibt sie zu vulkanischen und revolutionären
Ausbrüchen. W o G ö t t e r a n g e b e t e t w e r d e n , i s t a u c h
i m m e r d e r K a m p f d e r G ö t t e r u n t e r e i n a n d e r , und
darum auch die dunkle Ahnung der Götterdämmerung. Die Schöpfungsmächte bekriegen sich, weil sie als inferiore Mächte niemals die
ganze Schöpfung beherrschen können und darum immer den Aufstand
provozieren. Die usurpierende Tendenz der Götter rächt sich durch das
Chaos, in das sie stürzen und in das Gott sie hineinbindet. Das Ende
der Gottlosigkeit und der falschen Vergötterung ist die Zerstreuung
(Genesis n).
Wir fassen zusammen : Die illegale Vergötterung der Schöpfungsmächte führt nach dem ehernen Gesetz des Zornes Gottes dahin,
daß die freigelassenen, ungeordneten, bindungslosen Räume sich
empören; damit wird das der Schöpfung verfallene statt dem Schöpfer
verbundene Abendland zum Schauplatz einer Kette von Empörungen.
Wir spüren ja alle, wie heute der Weltgrund mit dem Dynamit dieser
Empörungen geladen ist und wie dem^abendländischen Leben die
innere Konstanz zu fehlen und das Gesetz der Eruption zum Verhängnis zu werden beginnt.
3. E i n e s ist jedenfalls klar geworden: Hier liegt keine echte
Bindung vor, sondern die Trugbindung an das Wandelbare. Während in
Luthers Satz: „Ich glaube, daß mich Gott geschaffen hat . . dem Selbst
eine ewige Fundamentierung jenseits der Erscheinungen Flucht
gegeben ist, haben wir seit Jahrhunderten im Abendlande unser Selbst
von den wandelbaren Dingen her bestimmt und es damit verloren. Ζ. B.
hat der Kollektiv-Mensch, der nur durch zündende Schlagworte
dirigiert wird, kein unbedingtes, kein gottgebundenes Ge
109
wissen mehr, in dessen Namen er wie Luther der ganzen Welt
entgegenzutreten vermöchte : Denn er ist allen Gestalten dieser Welt
hörig und kennt die Ewigkeit nicht mehr, die uns einen Herrn aller
Dinge und niemandem Untertan sein läßt. Sein Gewissen pflegt von der
klugen Taktik der Schlagworte umgangen oder durch ihre
Suggestivkraft eingeschläfert zu werden. Statt dieses Gewissens hat er
gleichsam nur noch ein Nervensystem, das die dynamischen Wellen
jener Schlagworte auffängt und auf sie „reagiert". Er ist als Maschine in
einen technischen Arbeitsgang eingeschaltet, und sein Reagieren hat
alle Kennzeichen des Mechanischen an sich. Eben deshalb aber, weil er
so sein unbedingtes Selbst verloren hat, sagt er nicht mehr: Hier stehe
ich, ich kann nicht anders (ich bin g e bai η d e n ) , sondern hier sitze
ich, ich kann auch anders, wenn mir eine andere Existenz-Basis, ein anderer Weltanschauungsstuhl untergeschoben wird. Er sagt nicht mehr:
„Wenn in Worms so viel Teufel wären, als Ziegel auf den Dächern, so
wollte ich wider sie alle bekennen" ; sondern er sagt: „Da muß man mit
den Wölfen heulen." Der Verlust seines Selbst macht den Menschen
personlos. Es ist nicht einfach Mangel an Zivilcourage, wenn es zu
keiner confessio, zu keinem „Stehen und Fallen mit..." kommt, sondern
hier vollzieht sich ein Wesensgesetz der Personlosigkeit. Tapferkeit
gibt es bei diesem Menschentum nur noch in Uniform, aber nicht, wenn
man auf sich „selbst" gestellt ist, denn man hat ja kein Selbst mehr. So
sehen wir auf dieser Ebene Männer mit zweifellosem physischem Mut
versagen. Den Glaubensmut kann sich eben keiner selbst geben, weil
niemand sich den Glauben zu geben und zur Person zu machen vermag.
Man darf sich nun freilich nicht dadurch täuschen lassen, daß durch
die Verewigung und Verabsolutierung des Wandelbaren eine
vorübergehende Ordnung hergestellt und geschichtliche Gestaltung
möglich wird. Der Fanatismus der
110
Gottebenbürtigkeit, der die Erbauer des babylonischen Turmes erfüllte,
hat sicher ihren Baueifer beflügelt und dadurch, daß er ihre an sich
krankhafte Gigantitis auf höchste Touren brachte, einen schöpferischen
Impuls vermittelt — a u c h wenn j e d e Lebenslüge kurze Beine
besitzt und wenn jeder der Unordnung entwachsene Turm auf tönernen
Fundamenten ruht. Wir sahen ja, daß Verabsolutierung und Fanatismus
als vorübergehende Arbeitshypothesen enorme geschichtliche Kraft
besitzen, aber eben nur vorübergehend und interimistisch. Wie haben
sich doch im säkularisierten, bindungslos gewordenen Abendland die
Schlagworte jener Pseudoabsolutheiten in den letzten Jahrhunderten
abgelöst. Die Geschichte dieser Jahrhunderte ist doch eine große
Götzenparade — wie schnell sind die einzelnen Abteilungen
vorübermarschiert und wie komisch wirken sie von hinten! Was
gestern ernst war, ist heute lächerlich. Welche Inflation großer Worte
umschwemmt uns!
Es ist tatsächlich die V o r t ä u s c h u n g einer Bindung. Sie hat
den Wurm in sich. Der personlos gewordene Mensch ist ein
Vagabundus. So lauert die Strafe des Chaos und der Zersetzung hinter
dem trügerischen Aufschwng des entbundenen Geistes. Augustin sagt:
Jussisti enim,Deus, ut sibi ipse sit sua poena omnis inordinatus animus:
Du hast es so geordnet, o Gott, daß sich selbst zur Strafe wird ein jeder
ungeordnete Geist1).
4. Als weitere Folge dieser Bindung an vergängliche Größen ergibt
sich der schlechthinige Relativismus. Aus der Annullierung absoluter
Werte ergibt sich die Müdigkeit des alten Skeptikers, der den Fluß, der
das Vergehen und die Illusionen durchschaut (vgl. im 1. Kap. die
Abschnitte über den Nihilismus). Daß sich diese hintergründige Skepsis
keineswegs in einer offen zur Schau getragenen Resignation zu äußern
braucht, sondern daß im Gegenteil ein stets neu zu Taten sich
*) Bei Peter Wust, Ein Abschiedswort, 1940.
111
aufraffender Fanatismus eben solcher Müdigkeit entspringen kann, ist
kein Gegenbeweis. Fanatismus ist nur das Zeichen einer heimlichen
Verzweiflung, die übertönt und in Taten abreagiert werden muß.
Deswegen ist — kulturgeschichtlich gesehen — Fanatismus stets eine
„späte" Erscheinung, weil die skeptisch gewordene Müdigkeit sich
mifseiner Hilfe eine Art Kampferspritze zu applizieren sucht. So liegt
beides eng beieinander. Man weiß ja auch sonst, daß Extreme sich
berühren. Und hier sind es vielleicht nicht einmal Extreme.
Symptomatisch für die Nähe beider Haltungen (auch die
z e i t l i c h e Nähe) sind Oswald S p e n g l e r und Alfred
R o s e n b e r g . Man wird von der Ähnlichkeit beider Schauungen
beeindruckt sein (Rassegedanke, Cäsarismus, Morphé-gedanke usw.;
von Niveau-Unterschieden sehe ich in diesem Zusammenhange ab).
Und doch wird man feststellen müssen, daß der E i n e „Relativist", der
A n d e r e aber „Absolutist" ist. Der Eine zieht das Fazit eines
geschichtlichen Rechen-exempels, und dieses Fazit ist der Untergang.
Der andere läßt den fanatischen Selbsterhaltungstrieb einen
Zwischenruf machen, ehe das Fazit bekanntgegeben wird — und meint
dieses Fazit damit aufhalten oder ändern zu können.
5. D e r
Relativismus
pflegt
immer
ein
n i h i l i s t i s c h e s S c h l u ß k a p i t e l z u h a b e n . Wir deuten
diese Konsequenz an, indem wir einen früher schon geäußerten
Gedanken noch von einer andern Seite her . beleuchten. Es ist doch so:
Auf der e i n e n Seite steckt in jedem Relativismus das Wissen, daß es
keine Letztbindung gibt, die als ewiger Grund jenseits der fliehenden
Erscheinungen stände. Auf der a n d e r n Seite aber weiß man ebenso,
daß die Schwungkraft und der Auftrieb solcher inneren Bindungen nicht
entbehrt werden können, und daß man sie deshalb in einem gigantischen
„Als ob" für die Masse verwenden muß. S o w e r d e n d i e
Letztwerte und Letztbindungen nicht mehr
Inhalt einer Predigt
112
mit Wahrheitsanspruch, sondern Inhalt eines
Propaganda-Effektes
mit
SuggestivAnspruch.
6. Der Wegfall der Letztbindung wirkt sich natürlich vor allem auf
der e t h i s c h e n Ebene aus, insofern Gut und Böse keine Letztwerte
aus unbedingtem Gewissensanspruch heraus sind, sondern selbst in den
Strudel der Innerschöpfung hineingerissen werden.
Dieser Vorgang soll nur an einem einzigen Symptom verdeutlicht
werden: An der These nämlich, daß „gut sei, was einem bestimmten
Zweck ζ. B. dem Volke n ü t z e " (gleichgültig, ob dieses Volk, das
derart als moralischer Zweck fungiert, nun das deutsche, das englische
oder neuerdings auch das türkische ist) *), daß also das Volk (bzw. ein
anderer Wert) zum letzten ethischen Kriterium wird und deshalb
niemals in d e m Sinne in Frage gestellt werden kann, daß es selber ins
Gericht gerufen würde: „Licht, Feuer, Sonne wollen wir sein / klar,
rein, sauber wie das Feuer, das verzehre, was nicht unserer Art
entspricht"2).
Indem so das Volk oder eine andere geschöpfliche Größe zum
Richter über Gut und Böse wird, ist das ethische Kriterium identisch
mit dem Prinzip der Zweckmäßigkeit, nämlich mit dem Gesichtspunkt,
ob es „nützt" oder das „Leben steigert" — wenn wir diese Haltung mit
dem klassischen Wort Nietzsches beschreiben wollen. Gerade hier aber
zeigt es sich, wie sofort die chaotische Zersetzung beginnt, wenn man
die Schöpfung zum Selbstzweck erhebt.
Es mag ζ. B. - aber wirklich nur „zum Beispiel" - manchem als
zweckmäßig und darum als „gut" erscheinen, wenn die un*) Dieser Abschnitt ist im Januar 1944 niedergeschrieben, nachdem die
deutsche Presse vorher Artikel darüber gebracht hatte, daß der Kemalismus Atatürks und Inonüs nach der Maxime handle: Gut ist, was dem türkischen Volk nützt.
2) Aus den Sonnwendfeiern 1942; Stuttgarter Tagblatt 21. 12. 42, Nr.
350 S. 4.
113
eheliche Mutterschaft zwecks Geburtensteigerung weniger suspekt
wird. Rein biologisch gesehen kommt es dabei ja auf die eheliche
Bindung auch in keiner Weise an. Der „Zweck" scheint deshalb auch
unabhängig von der Ehe erreichbar zu sein und das völkische Leben
auch ohne sie biologisch gesteigert werden zu können. Aber sofort
kündigt sich die entstehende Bindungslosigkeit an, und unsere Zeit
dürfte eine sehr niederschmetternde Illustration dafür sein. Dies
uneheliche Muttertum führt nämlich, von den paar Ausnahmen abgesehen, die nur die Regel bestätigen, zur Unterhöhlung und Diskreditierung der Familie und der sittlichen Bindung der Geschlechter
überhaupt. Familie und sittliche Bindung der Geschlechter sind aber auf
lange Sicht gesehen eben doch der einzige Garant für das Wagnis des
Kinderreichtums und für jene Verantwortungsfreudigkeit, die den
Trägern großer Familien eigen sein muß. Wer die Autorität von Gut und
Böse antastet und sie in die Mittel-zum-Zweck-Niederung herabdrückt,
erschüttert den Bestand der Welt und liefert sie der Unterhöhlung aus,
auch wenn er vorübergehende Augenblickserfolge gewinnt. Der
babylonische Turm war ja ebenfalls ein unbestreitbarer Gewinn. Aber
indem durch seine Errichtung die Autorität Gottes ostentativ beseitigt
werden sollte, war ihm der Bestand der Welt, war ihm jene WeltÖrdnung entzogen, die als Fundament alles architektonischen, biologischen, wirtschaftlichen oder politischen Bauens unerläßlich ist. Darum
folgte der Zusammenbruch nach unverbrüchlichem Gesetz.
Der Stur\ in das Chaos durch die Selbsterhöhung des Menschen
Nur die gebundene, und zwar an Gottes Gebot
g e b u n d e n e S c h ö p f u n g h a t B e s t a n d . Meint sie aus
Zweckmäßigkeitsgründen und um ihr Leben zu steigern diese lästige
Bindung abschütteln zu können, so ist
114
sie eben j e n e m Chaos überliefert, dem sie mit eigenen Mitteln
entkommen und aus dem sie sich zu selbstgewählter Autonomie
emporsteigern wollte.
Das gilt auch und gerade dann, wenn man weiß, daß mit den
Begriffen des „Guten" in der Welt niemals der Wille Gottes identisch
ist. Daß das nicht der Fall ist, erkennt man ja schon äußerlich an der
Relativität der ethischen Begriffe : Im e i η e η Falle ζ. Β. ist
„Heiligkeit des Lebens" oberste Maxime, im a n d e r n dagegen
schreibt das Ethos vor, möglichst viele Menschen zu fressen oder zu
skalpieren. Solcher Widersprüche sind Legion. Schon aus dieser rein
statistischen Beobachtung der Verschiedenheiten läßt sich der
Rückschluß ziehen, daß der jeweilige Begriff des Guten nicht identisch
ist mit dem Willen Gottes, sondern daß die Eigenmächtigkeit des Menschen sich jenen Begriff zurecht und zulieb geformt hat. Trotzdem wird
man folgende beiden Formen menschlicher Eigenmächtigkeit streng
voneinander unterscheiden müssen:
ι . Einmal den Versuch des Menschen, einen höchsten sittlichen
Wert zu finden und ihm gehorsam zu sein — das ist zweifellos eine
positive ethische Bereitschaft—auch dann, wenn sozusagen wider
Willen der W u n s c h und die F u r c h t es sind, die zu Vätern jener
sittlichen Gedanken werden und die zu guter Letzt doch wieder eine
wunschgemäße sittliche Wertehierarchie mit sich bringen, innerhalb
deren das Menschenfressen eine nicht nur erlaubte, sondern sogar eine
gebotene Handlung ist. In diesem Falle hätte sich die Eigenmächtigkeit
des Menschen sozusagen h e i m l i c h eingeschlichen, so wie sie unser
gesamtes Leben ja immer wieder heimlich regieren möchte: ich denke
nur daran, wie hinter allem sittlichen Handeln eine geheime
Selbstbehauptung und Selbstbefriedigung laut wird : Wievieles, was
sich als „Nächstenliebe" gibt, ist nichts anderes als heimliche Sehnsucht
nach Geachtet- und Beachtetwerden, Sehnsucht danach, Mittelpunkt
der Verehrung und der Gegenliebe zu sein. Wie7 T h i e l i c k e , Fragen des Christentums.
115
viel tapfere soldatische Hingabe für eine Idee ist nicht motiviert durch
persönlichen Ehrgeiz, durch Ordens-Appetit und ähnliches. Es ist
selbstverständlich, daß dieser urmenschliche Trieb sozusagen wider
Willen nicht nur das H a n d e l n , sondern auch die das Handeln
dirigierende W e r t e hiérarchie selbst bestimmt. Der Wunsch ist eben
d o c h der Vater der Gedanken, jedenfalls v i e l e r unserer Gedanken.
Er steht sozusagen ungesehen hinter uns und lenkt unsere Blicke,
während w i r in der Illusion befangen sind, frei dazustehen und unsere
Blicke dorthin zu lenken, wohin w i r wollen.
2. Gänzlich verschieden davon ist aber nun ein Ethos, das aus der
N o t dieser egoistischen Motivation eine T u g e n d macht und sich
bewußt Zu jener Motivation b e k e n n t . Das ist dann der Fall, wenn
der Begriff des Guten bewußt einem bestimmten Zwecke untergeordnet
wird: etwa dem Zweck des „sacro egoismo" oder dem Volks- und
Gesellschaftsnutzen — so wie wir es am Beispiel der unehelichen
Kinder demonstrie-ten. Damit wird dann „das Gute" seiner
s c h l e c h t h i n und a l l e Größen verpflichtenden Autorität
entkleidet und zu einem untergebenen „Mittel" degradiert.
Zwischen beiden Formen des Ethos besteht ein grundlegender
Unterschied: Zunächst scheint er freilich harmlos und keineswegs
grundlegend zu sein. Im ersten Augenblick scheint es nur um den
Unterschied zwischen bewußtem und zwischen unbewußtem Egoismus
zu geben. Und vielleicht ist man in diesem ersten Augenblick sogar
geneigt, dem bewußten und bewußt bejahten Egoismus den Vorrang
zuzubilligen, weil er realistischer und ehrlicher zu sein scheint, weil er
sich also nichts vormacht und zu sich selbst zu b e k e n n e n wagt.
In Wahrheit aber stehen wir hier vor einem
grundsätzlichen Wandel, dessen Tragweite
überhaupt nicht überschätzt werden kann.
Deutlicher als am Beispiel des Ethos wird
116
das am Beispiel der „arteigenen Religion". Wir wollen das einen
Augenblick bedenken:
Wer etwa als evangelischer Christ aus Deutschland nach dem
südlichen Italien fährt und hier den "blühenden, die Welt
durchdringenden, aber auch zu jeder Konzession bereiten und wahrhaft
„heidenfröhlichen" Katholizismus erlebt, wer es erlebt, wie dieser
erdennahe Katholizismus aller Sinnenfreudigkeit des südlichen
Menschen entgegenkommt, wie er — im Unterschied zur
Gedankenschwere des nördlichen Menschen — wie ein
farbenglühendes Schauspiel auf den Betrachter wirkt, der wird sich
a u c h seine Gedanken darüber machen, daß biologische, klimatische
und charakterologische Momente nicht ohne Einfluß auf die Gestaltung
des Glaubens sind. Vielleicht fragt er sich auch einmal — das wäre
freilich schon eine illegitime, aber vielleicht dennoch bedrängende
Frage — wie er sich Luthers oder gar Calvins Kirche auf Sizilien
überhaupt vorstellen könne und woran es wohl liegen möchte, daß die
in ihm kämpfenden Gedanken sich hier in ein hartes und von schweren
Fragen durchglühtes Zwiegespräch verstricken wollen.
Aber nun ist doch folgendes klar:
Es ist etwas völlig anderes, ob ich den Einfluß der biologischen,
klimatischen und charakterlichen Substanz, den Einfluß der
ökonomischen und sozialen Zustände auf meine religiöse Überzeugung
z u g e b e , oder ob ich sie zu einem bewußten P r o g r a m m mache:
Im e r s t e n Falle betrachte ich es als eine Not, daß ich die
Wahrheitsfrage offenbar nicht streng und unvoreingenommen zu stellen
vermag, sondern daß ich in meiner Sehweise und Sehform gehalten bin
durch die unkontrollierbaren und ungegenständlichen Formen meiner
Subjektivität1), die ich nicht auszuschalten vermag.
*) Übrigens ist diese Subjektivität ja keineswegs n u r eine Belastung,
sondern auf der andern Seite ja auch eine Erleuchtung, so gewiß jedes
Volk und jede Zeit wieder andere Seiten an der Wahrheit und deshalb
auch am Evangelium entdeckten.
Im z w e i t e n Falle dagegen mache ich diese Not zu einer Tugend
und beschwöre dann den grotesken Schatten der artgemäßen Religion.
Im e r s t e n Falle stehe ich vor Gott als der, welcher sich selber ins
Licht tritt und der Gottes Durchbruch mit Hilfe seiner betonten
Selbstbehauptung immer wieder hindert, der deshalb um die
Vergebungsbedürftigkeit seiner ganzen Existenz weiß und der Gott
bittet, daß er ihn in die Wahrheit bringe, damit er die Stimme zu hören
vermöge. Das Kennzeichen seiner Haltung wird also darin bestehen,
daß er mitsamt seiner „Art" und seinem „Sosein" in die Buße getrieben
wird, daß er sich d e m ü t i g t .
Im z w e i t e n Falle dagegen mache ich aus der „Not" meiner
Gebundenheit insofern eine „Tugend", als ich die genannten Merkmale
meiner Art und meines Soseins nicht unter Gott beuge, sondern sie in
einer Art metaphysischer Koketterie über ihn erhebe, als ich folglich
Gott zwingen möchte, sich selbst in meinem So-sein auszudrücken. Die
Religion wird Mittel zum Zweck.
Gerade an diesem Beispiel mag man den totalen Wandel der
Existenz ermessen, der in d e m Augenblick eintritt, wo die autoritären
Wahrheiten „Gott und das Gute", „Gott und die Wahrheit" *) ihrer
Autorität entkleidet und zu dienenden Prinzipien, zu „Mitteln"
degradiert werden.
Wir sahen, wie bei dieser Degradierung des „G u t e n " und der
damit gegebenen Ent-Bindung das Chaos lauert und am Bestände der
Welt rüttelt. Wir sahen ferner im ersten Kapitel, wie bei der
entsprechenden Degradierung der „Wahrheit" die letzte Folge der
Nihilismus und das absolute Vakuum ist, weil
*) Um Mißverständnisse unserer stark abgekürzten Redeweise zu vermeiden, sei ausdrücklich betont, daß wir die genannten Größen nicht als
nebeneinanderstehend begreifen, sondern als eine identische Wahrheit, als
die Wahrheit „Gott" nämlich, die sich nur nach den genannten Richtungen
entfaltet.
IOO
niemand mehr eine Größe o b e r h a l b seiner Existenz und damit
einen Gegenstand des Glaubens und Für-wahr-haltens besitzt und
nolens volens nur noch an sich selber glauben kann. Aber auch dieser
Glaube an sich selbst ist der Zerrüttung preisgegeben, weil nun die
eigene Existenz keinen Sinn mehr besitzt, der über sie hinausweist. Ich
habe kein Selbst mehr. Die Leichtigkeit des nihilistischen Sterbens, wie
sie uns immer wieder bezeugt wird, ist eine schauerliche Demonstration
dieser Ent-Selbstung. Man stirbt — wie gesagt - so leicht, weil man
nicht einmal einen Geist aufzugeben und eine Seele auszuhauchen hat.
Der Tod wird zu einem Übergang von einem
N i c h t s i n d a s a n d e r e . Er ist der absolute Sturz ins Leere —
inmitten der Tarnung durch eine kollektivistische Organisation, bei der
die Masse entselbsteter Individuen im ersten Augenblick (aber wirklich
η u r in diesem) die Nullpunkt-Existenz des autoritätslosen Menschen
verbergen mag. Indem so die Basis von Gut und Böse unter seinen
Füßen hinweggezogen wird, verliert er die Bindung an unbedingte Ziele
und Werte. Gewiß ist auch d a n n noch das Leben ein Kampf und ein
Ringen. Aber obwohl auch in diesem noch bleibendem Kampf seines
Lebens die Mächte des Guten und Bösen ihn mit normativem Anspruch
zu leiten scheinen — denn ganz sind sie nicht auszuschalten, und
gerade daß man ihnen wenigstens Mittel- zum -Zweck-Stellung
einräumen muß, beweist das zur Genüge —, so fehlt doch der
G e g e n s t a n d und das letzte W o z u dieses Kampfes. Deswegen
sinkt er zu dem herab, was Ernst Jünger das „Abenteurertum" genannt
hatte. Gewiß gibt es auch in diesem Stadium der Säkularisation noch
ein kämpferisches Streben nach Wahrheit. Aber doch wieder nicht im
Ernst. Das Wichtigste ist auch hier die immer strebende Bemühung an
sich, ist der A k t des Kampfes als solcher. „Wenn Gott in seiner
Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen
Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusätze, mich immer und ewig
ιοί
zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir: wähle! ich fiele ihm
mit Demut in seine Linke und sagte: „Vater, gibl die reine Wahrheit ist
ja doch nur für dich allein!" (Lessing). Diesen Kampf als Selbstzweck,
als Akt, haben wir im i. Kapitel als „Haltung" bezeichnet. Damit sehen
wir das, Phänomen der „Haltung" noch einmal aus einer neuen
Perspektive:
„B i η d u η g" heißt: Gehalten-sein v o n etwas, nämlich von dem
„andern", das größer ist als ich. . . „H a 11 u η g" aber bedeutet, daß es
gleich ist, wovon man gehalten ist. Es ist ein Stehen-bleiben im
Angesicht des Nichts. Damit haben wir wohl den tiefsten Grund
herausgearbeitet, der den bindungslos gewordenen und von der Haltung
lebenden Menschen veranlaßt, daß er an der Kirche Anstoß nimmt als
an dem Ort, wo „das andere'.', wo der in Christus gelegte Grund und
Halt unserer Existenz gepredigt wird, wo es also um die „Bindung"
geht. Abschließend charakterisieren wir nun diese Bindung in einigen
möglichst scharfen Formulierungen, die wir im Zusammenhang mit
Luthers Erklärung des ι. Artikels zu bringen suchen.
ι. „Ich glaube, daß Gott m i c h geschaffen hat." D.h. ich bin über
alle geschöpf liehen Vermittlungen hinweg in ein unmittelbares Ich-DuVerhältnis zum Deus creator gekommen. Dies persönliche Ich-DuVerhältnis ist nach den verschiedensten Richtungen zu entfalten:
E i n m a l besteht es insofern, als ich mich mit allem, was ich bin
und habe, meinem Gott und Herrn verdanke.
F e r n e r besteht es insofern, als ich mich-mit allem, was ich bin
und habe, Gott s o schuldig bin (kein Druckfehler, lieber Leser: ich bin
m i c h schuldig!), wie ich aus seinen Händen hervorgegangen bin. Ich
bin ja als ein in meine Existenz Eingesetzter ein „Haushalter" über
meinem Dasein. Damit aber werde ich mir selbst in meinem Bankerott
vor Gott deutlich, denn ich stehe mit leeren und beschmutzten
I120
Händen vor ihm und habe verloren, was er mir zu Lehen gab. (Vgl.
das Gleichnis vom verlornen Sohn, Lk 15.)
Gerade von dieser Dimension des Gerichtes her, die der
Schöpferglaube — im Gegensatz zum Glauben an die Schöpfung und
ihre Gestalten! — in sich beschließt, kommt der personhafte Charakter
meiner Beziehung zu Gott zum Ausdruck. Denn hier wird in höchster
Prägnanz klar, daß Gott weder eine unpersönliche prima causa im
Nebel der Vorzeit ist und daß die Vermittlung der unendlich langen
Schöpfungszeit zwischen dieser Ursache „Gott" und zwischen mir als
der im Augenblick letzten „Wirkung" dieser Ursache läge; noch daß er
als ein angenommenes metaphysisches Postulat (Vorsehung; Schicksal;
Weltordnung) als letzte sozusagen „punktierte" Größe hinter den
Schöpfungserscheinungen
auftauchte
und
gleichsam
ihren
1
hinzugedachten Hintergrund bildete ). Nein, ich stehe in einer
beglückenden und bedrängenden Direktheit dem Du des Schöpfers
gegenüber: als von ihm Geschaffener, als von ihm Geforderter, als vor
ihm Schuldiger, geliebt und heimgesucht trotz aller Fremde und
Abgründe. Aus dieser Bindung an das Du des Schöpfers ergibt sich die
Freiheit von allen Schöpfungsgestalten.
Durch solche Beziehung zum Du des Schöpfers regelt sich „Nähe"
und „Distanz" des Christen zur Schöpfung, wie sie Luther in dem
paradoxen Satz zum Ausdruck gebracht hat: „Ein Christ ist ein freier
Herr aller Dinge und niemandem Untertan"; „ein Christ ist ein
Knecht aller Dinge und jedermann Untertan".
2. Wenn Ranke in seinem bekannten Satze sagt, a l l e Epochen
seien unmittelbar zu Gott, so könnte man von Punkt ι aus diesen Satz
dahin abwandeln, daß man sagte: „Alle Dinge meines Lebens, ja des
Lebens ü b e r h a u p t
*) Für das letztere bieten die hin und wieder auftauchenden pseudoreligiösen Töne bei den Führerreden des Dritten Reiches eine eindrückliche Illustration.
sind unmittelbar zu Gott". Ich bin in a l l e n Bereichen meiner
Existenz (als leibseelisches Individuum, als Glied der einzelnen
Lebensgebiete, wie etwa der Wirtschaft oder als Zoon politikon, als
Vollstrecker meiner „Stirn"- oder „Faust"-Arbeit usw.) gefordert,
angerufen und ihm verantwortlich. Man könnte auch sagen: ich bin mit
der Totalität meiner Existenz auf Gott bezogen.
Wir haben ja ausführlich dargelegt, daß a l l e verabsolutierten
Schöpfungsgestalten (Volk, Geist, Wirtschaft usw.) bestimmte
menschliche Bezirke unberührt und bindungslos lassen und damit zur
chaotischen Empörung treiben.
In d e m Augenblick aber, wo ich mich als ganzer Mensch aus den
Händen Gottes hervorgegangen weiß und mich ebenso ganz gefordert
sehe, gibt es keinen vor Gott verschlossenen und seinem Hoheitsbereich
entzogenen, „bindungslosen" Bezirk mehr: Wer oder was i s t denn
dieses Ich, das sich da von Gott geschaffen weiß!? Das bin doch ich,
insofern ich Zoon politikon bin, das bin doch ich, insofern ich einem
bestimmten Volke, einem bestimmten Geschlecht usw. zugehöre. Also
bin ich mich in meiner Bindung an das Volk G o t t schuldig. Man
beachte dabei die feine Nuance, die doch so weltbewegend ist: Es heißt
nicht: deshalb bin ich dem Volk als einer Schöpfung Gottes h ö r i g ,
sondern : deshalb bin ich mich als Zugehöriger meines Volkes (G o 11
schuldig. Das heißt: Durch mein Deutscher- oder Engländer- oder
Russé-sein hindurch soll ich Gott fürchten und lieben. Auch die
Zugehörigkeit zu meinem Volk ist unter Gott und in der heiligen
Verantwortung vor ihm zu durchleben. Deshalb aber ist sie auch nicht
nur durch Gott g e g e b e n , sondern ebenso durch ihn b e g r e n z t .
„Man soll Gott mehr gehorchen als den Menschen". Die Tatsache,
d a ß überhaupt ein solcher Konflikt zwischen Gott und Mensch,
zwischen Schöpfer und geschöpflichen Institutionen möglich ist, stellt
schon eine deutliche Demonstration dessen dar, daß Gott nie
122
mais mit seiner Schöpfung gleichgeschaltet und mit ihr identisch ist,
geschweige in ihr aufgeht. Volksgenosse-sein als geschöpfliche
Bindung ist Ordnung und Bindung „unter G o t t " — nichts anderes.
Eben deshalb behalte ich immer mein Selbst, das ein Herr a u c h des
Dinges „Volk" und aller andern Dinge ist und ihm nicht Untertan sein
kann. Gerade aus dieser Freiheit unter Gott bin ich in es hineingewiesen. Das ist der qualitativ unendliche Unterschied zum Kollektiv,
wo ich mein Selbst verloren habe und hörig werde. Oder sollte etwa
kein qualitativ unendlicher Unterschied sein zwischen einem
„Mitmachen" aus Hörigkeit und einem „Mitmachen" aus Gehorsam,
zwischen Personlosigkeit und Personhaftigkeit ?
3. Damit kommen wir zu folgender merkwürdiger Beobachtung :
Wenn man sagt: Diese oder jene Schöpfungsgestalt ist mir a l l e s ,
wenn man sie also verabsolutiert, so führt dies nach unserer Analyse im
Eingangskapitel schließlich zur Nichtigkeit aller Dinge und des
Menschen selber, es führt in das Reich der Zerstörungsmächte und
weltanschaulich in Nihilismus und Hörigkeit hinein.
Wenn man aber umgekehrt sagt: „Wie garnichts sind alle Menschen
und Dinge" — nämlich vor dem, der allein ist —, so führt das
gleichsam unerwarteter Weise zu jener F r e i h e i t der an Gott
Gebund'nen, die sie im Namen der Furcht und Liebe Gottes in die
Schöpfung hineingehen läßt und ihnen im Großen und Kleinen, in
Leiden und Freuden den Halt des ewigen Grundes gibt. Wo der Mensch
sich vor Gott nichtig weißwird i h m a l l e s g e s c h e n k t , da
bekommt
er wirklich die Schöpfung, da wird er
„ p r o d u k t i v " . Wo aber umgekehrt der Mensch sich als
königlicher Gestalter von Welt und Geschichte wähnt, da wird ihm
alles genommen.
*) Herr, ich bin unreiner Lippen" . . . ; (Jes 6, 5) „Herr, gehe vor mir
hinaus, ich bin ein sündiger Mensch" . . . (Luk 5, 8).
123
Und indem er das Chaos um sich aufbrechen sieht, entsinkt die
Schöpfung dem Zugriff des Usurpators und läßt ihn im Leeren.
Hier verstehen wir die Fremdheit und die Verheißung der Kirche in
der Welt, wir verstehen auch, warum sie für den Draußenstehenden
(also für den religiösen und den unreligiösen Menschen) in einem
solchen Zwielicht steht, in einem Zwielicht, das sie ihm rätselhaft und
unbegreifbar macht:
Dies Zwielicht besteht darin, daß sie auf der e i n e n Seite ein Stück
„Welt" ist: nicht nur als Körperschaft des öffentlichen oder privaten
Rechts sowie als irdische Organisationsform mit allem Menschlichen
allzu Menschlichen, sondern auch grundsätzlich insofern, als sie die
Menschen in die Welt h i n e i n r u f t und gerade a u s der Bindung
an Gott heraus sie der S c h ö p f u n g verpflichtet.
Andererseits besteht das Zwielicht darin, daß die Kirche die gleichen
Menschen aus dieser gleichen Welt h e r a u s r u f t , und zwar als
s o l c h e herausruft, die diese Welt als eine vergehende sehen und die
sich selbst in ihrem Gehorsam gegenüber der Welt begrenzt sehen
durch das Fürchten und Lieben Gottes. Denn dieses Fürchten und
Lieben hat ihnen über alle Dinge zu gehen.
Gerade dieser letzte Gedanke hat ja seine stärksten neutestamentlichen und reformatorischen Ausprägungen gefunden: so
etwa, wenn Luther die Schöpfungsmächte „Gut, Ehr', Kind und Weib"
gegen das „Reich" abhebt, „das uns doch bleiben muß", wenn ferner
und vor allem Jesus Christus die Schöpfungsmacht der kaiserlichen
Obrigkeit von G o t t distanziert und die politische Gehorsamspflicht
durch ihn begrenzt sieht: „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und
Gott, was Gottes ist". Hierin ist der gewaltige Spannungs-bogen
zwischen Römer 13 und Offenbarung Johannes 13 angedeutet, der sich
wölbt vom J a zur gottgesetzten Obrigkeit bis hin zum Nein und zur
Abgrenzung gegen die
Verzerrung des Schöpfungsbezirks im dämonischen Machtstaat. (Vgl.
dazu das Kapitel über die Wirklichkeit des Dämonischen.)
Ich glaube, wir verstehen jetzt, was der bindungslos gewordene,
schöpfungs- und chaos-hörige Mensch gegen die Kirche hat, was er tief
unterhalb jener Schlagworte und Mätzchen hat; die er äußerlich gegen
sie im Munde führt. Es ist die instinktive Abwehr und Sicherung gegen
das Gericht und gegen die gnadenhafte Beglückung von Gott her, die
beide darin liegen, daß ich g a n z umgeworfen und ebenso g a n z an
ihn gebunden werde — reichsunmittelbar über alle geschöpflichen
Autoritäten hinweg —, daß ich aus allem herausgerufen und in alles neu
hineingeschickt werde, daß ich aus der Schein- 1 freiheit und
Bindungslosigkeit des Nihilismus herausgerufen und in die neue
Bindung und Reichsordnung hineingestellt und daß ich gerade in dieser
Bindung ein freier Mensch und niemandem Untertan werde.
125
EXKURS ZUM 2. KAPITEL
Psychotherapie und Seelsorge
{Eine Frage an die Mediziner)
Wenn ich im folgenden den Versuch unternehme, im Sinne unserer
bisherigen Marschroute und mit Hilfe der gewonnenen Resultate ein
G r e n z g e b i e t zwischen Theologie und Medizin zu betreten und
einige mir entscheidend dünkende Fragen zu stellen, so bitte ich, die
hier angedeuteten Probleme um ihres grundsätzlichen und
weitreichenden Charakters willen wirklich als F r a g e n und zwar als
o f f e n e Fragen aufzufassen. Eine A n t w o r t kann nur von selten
einer fachlichen Durchdringung dieser Probleme gegeben werden, die
nicht von heut auf morgen zu erledigen ist. Dennoch ist es nötig, daß
die Frage als solche zunächst einmal von der Ebene u n s e r e r
Problemstellungen her aufgewiesen wird, da der Ort, an dem sie
auftaucht, von der „nur" medizinisch interessierten Neurosenlehre und
Psychotherapie schwerlich eingesehen werden kann. Auf jeden Fall
hoffen wir, mit unsern Fragen einen Beitrag zu den Ganzheitsbemühungen der heutigen Medizin zu liefern1).
Wir erinnern uns noch einmal an den Ausgangspunkt des letzten
Kapitels: Die instinktive Abwehr gegen Kirche und
*) Auf den hier angedeuteten Gebieten denke ich dabei an die verdienstvollen Forschungen von Adler, Kunkel u. a. Besonders auch Bovet, Die
Ganzheit der Person in der ärztl. Praxis. Ferner: Thournier, Krankheit
und Lebensprobleme.
126
Dogma rührt daher, so lautete unsere Feststellung, daß wir uns (im
Sinne der christlichen Botschaft) als Gebundene, in eine neue
Seinsordnung Einzufügende verstehen müssen, die dem „andern"
begegnen und vor ihm kapitulieren müssen. Das führte zur Flucht vor
dem Du des Schöpfers hinein in die Schöpfung, damit aber zu den
verabsolutierten Schöpfungsgrößen (Götzendienst), zum Chaos der
inneren und äußeren Welt und endlich zum Nihilismus.
Das deutlichste Symptom dieses Nihilismus war die völlige
Relativierung von Gut und Böse mit Hilfe pragmatischer Gesichtspunkte („gut ist, was einem Zwecke nützt . . ."): Das Gute ist
damit nur Ausdruck eines bestimmten Zweckwillens, ist aber selbst
nicht mehr jene unbedingt autoritäre Größe, die selber die Zwecke
regelt. Der entscheidende und für unser neues P r o b l e m
wirksame Punkt ist dabei der, daß das Gute
d e n C h a r a k t e r e i n e s „A u s d r u c k s " b e k o m m t , d. h.
es wird zum Ausdruck von etwas, das es selber
n i c h t i s t . Das gleiche gilt natürlich ganz entsprechend vom B ö s e n . (Es wird z. B. zum „Ausdruck" jener Kraft, „die stets das Böse
will und stets das Gute schafft". Oder es wird nach Schiller zum
schöpferischen Ermöglichungsgrund der Freiheit, so daß der
Sündenfall die glücklichste Tat der Weltgeschichte ist. Oder es besitzt
die mephistophelische Form, „zu reizen, zu wirken und als Teufel zu
schaffen", weil der Mensch von sich aus die „unbedingte Ruh'" liebt
und deshalb zu erschlaffen droht.)
An dieser Stelle wird das Problem von P s y c h o t h e r a p i e
u n d S e e l s o r g e in besonderer Weise sichtbar.
Wir gehen von einer äußeren Beobachtung aus: Ich verrate kein
Geheimnis, wenn ich feststelle, daß der offizielle kirchliche Seelsorger
— mehr noch in der evangelischen als in der katholischen Kirche - von
weiten Kreisen nicht mehr oder noch nicht wieder als Hilfe in
seelischen Nöten in An-
127
Spruch genommen wird. Braucht man diese Hilfe, so wendet man sich
in den weitaus meisten Fällen an den N e r v e n a r z t . Von Jahrzehnt
zu Jahrzehnt hat sich die Amtsstube des Pfarrers geleert und das
Wartezimmer des Nervenarztes gefüllt. Die Leerung des Amtszimmers
muß um so nachdenklicher und stutziger machen, je mehr sich die Fälle
psychischer Erkrankungen und Anomalien häufen. Selbst von diesen
gehäuften Vorkommen scheint kaum eine Abzweigung zum
kirchlichen Seelsorger hin zu erfolgen. Vielmehr scheinen auch
d i e s e Fälle in der großen Mehrzahl das Sprechzimmer des säkularen
Nervenarztes aufzusuchen.
Wenn ich dieser Erscheinung gegenüber nun die Warum-Frage stelle, so
sehe ich von vornherein von sekundären Erklärungsgründen ab. Ich
stelle also n i c h t in Rechnung den Umstand, daß der kirchliche
Seelsorger meist einen sehr geringen psychologischen Bildungsstand
besitzt, daß seine Universitätsbildung unverantwortlicherweise so gut
wie keine Rücksicht auf diesen Zweig seiner Tätigkeit genommen hat
und daß sich nicht zuletzt von d i e s e m Gesichtspunkt her eine
Vertrauenskrise des kirchlichen Seelsorgeamtes ergeben hat. Dieser
Erklärungsgrund wäre schon deshalb sekundär, weil ihm auf der Seite
des Nervenarztes durchaus ein Äquivalent entsprechen würde: nämlich
die allgemein zu beobachtende Hilflosigkeit des säkularen Neurologen
und Psychiaters gegenüber solchen pathologischen Erscheinungen, die
irgendeinen weltanschaulichen Untergrund verraten. Ich denke dabei ζ.
B. an religiöse Anomalien, die anscheinend oder scheinbar — das ist
hier die Frage I — nur von der gleichen weltanschaulichen Ebene aus zu
beherrschen oder zu behandeln sind. Nehmen wir ζ. B. einen Christen
an, der unter zweifellos pathologisch verzerrten und aufgetriebenen
Schuldgefühlen leidet oder mit einem Sakrileg-Komplex zum
Nervenarzt kommt. Der behandelnde Arzt bekäme das hier vorliegende
Krankheitsbild zweifellos gar nicht korrekt in den Blick, wenn er —
nehmen wir an>
no
er sei dezidierter Nicht-Christ —, jene krankhaften Veränderungen in
der christlichen Lehre von der Erbsünde begründet sieht, wenn er also
das christliche Dogma nicht nur als den Rahmen auffaßt, der hier ein
krankhaftes Erscheinungsbild umschließt, sondern wenn er es selber
für psychotisch und Psychosen erregend hält. Von dieser „Außensicht"
her bekommt er unmöglich den Punkt zu Gesicht, wo die Abzweigung
ins Psychopathische erfolgt, weil der ganze Baum krank zu sein
scheint. An dieser Stelle sehen wir Diagnose und Therapie
entscheidend abhängen von der Frage, ob Arzt und Patient auf der
gleichen weltanschaulichen Ebene miteinander stehen oder ob das
nicht der Fall ist.
Weil man das auch in der medizinischen Diskussion mehr und mehr
einzusehen beginnt, taucht die Frage der weltanschaulichen
Kommunikation zwischen Arzt und Patient und vor allem der Relevanz
der Weltanschauung überhaupt für die ärztliche Behandlung in
zunehmendem Maße auf.
Wir versuchen nun im folgenden in eine tiefere Schicht vorzustoßen
und von h i e r aus nach einer Erklärung zu fragen.
Wenn man bedenkt, daß die meisten Nervenkrankheiten, die
Neurosen und Komplexe usw. eine innere Verbindung mit
Schuldgefühlen, Hemmungen und Minderwertigkeitsgefühlen zu haben
scheinen und daß sie also eine gewisse Beziehung zu „Gut" und „Böse"
haben, dann legt sich folgende Deutung des geschilderten Tatbestandes
(also der Bevorzugung des Nervenarztes vor dem Seelsorger) nahe:
ι. Der säkularisierte Mensch hat ein deutliches und auch direkt
ausgesprochenes Interesse daran, in allen medizinischen Gebieten, die
an die sittliche Fragestellung des Guten und des Bösen grenzen,
jenseits von Gut und Böse
behandelt zu
1
werden ).
*) Auch bei den religiös gebundenen (überhaupt bei j e d e m ) Menschen liegt dieses Interesse vor, weil jeder von Natur den Wunsch hegt,
dem Gerichte auszuweichen. Das meint man am besten dadurch zu er-
III
1
Man braucht hier gar nicht so sehr an die komplizierten
psychopathologischen Grenzgebiete zu denken, sondern nur etwa an
die Geschlechtskrankheiten. Gerade hier vermag der Wunsch nach
medizinischer „Sachlichkeit" der Behandlung nicht darüber
hinwegzutäuschen, daß man eine Begrenzung auf den nur körperlichen
Sektor des Geschehens und damit eine deutliche Entmoralisierung des
Leidens wünscht. Der Arzt darf sich keineswegs das Recht anmaßen,
den Patienten wegen seines galanten Leidens zur Rechenschaft zu
ziehen. Die bloße Organbehandlung gestattet ihm im Namen der
Sachlichkeit und der „Fachlichkeit" eine gewisse Entpersönlichung,
man kann auch sagen „Verdinglichung" des Leidens. — Was sich hier
in besonderer Direktheit zeigt, wird auch für die psychischen
Erkrankungen gelten, die irgendeine Affinität zu den Schuldproblemen
haben (diese Affinität haben jawohl die meisten): Man wünscht auch
hier, jenseits von Gut und Böse, in medizinischer „Sachlichkeit",
behandelt zu werden. Man wünscht frei zu bleiben gegenüber einem
Anspruch und erst recht gegenüber jeder richterlichen
Rechenschaftsforderung. Gewiß: Man möchte gerne b e f r e i t sein
von Schuldgefühl, Hemmung und Verfolgungswahn; man möchte so
etwas haben wie der Christ, der um „Vergebung" und um „Frieden"
weiß. Aber man möchte n i c h t durch das Sperrfeuer des Gesetzes
und des Gerichts hindurch, um zu jener Freiheit zu gelangen. Man
möchte das „Jenseits von Gut und Böse" statt der „Vergebung". Man
möchte das „Werden", aber nicht das „Sterben". Man möchte nicht
Überwindung der S c h u l d , sondern ein Ausreden des Schuld g e f ü
h 1 s. Man möchte nicht den Durchbruch durch die Front des
Verklägers — der einen ja zwänge, den
reichen, daß man überhaupt der F r a g e s t e l l u n g „gut und böse",
ausweicht. Es handelt sich nur um Gradunterschiede der Offenheit, in der
das zugegeben wird, sowie in der Freizügigkeit, nun tatsächlich der Sphäre
des Guten und des Bösen auszuweichen).
Verkläger wenigstens e r n s t zu nehmen — sondern man möchte
Neutralität. Man möchte die Absolution ohne Gnade, die Absolution
als „Selbstverständlichkeit".
Diesen immer wiederkehrenden Vorgang in der Welt des
säkularisierten Menschen schildert Gertrud von Lefort in ihrem Buch
„Das Schweißtuch der Veronika" (München I935): »Statt zum
Sakrament floh ich zur Wissenschaft: ich beichtete dem Arzt und
empfing von ihm die einzige Absolution, welche die Welt zu spenden
vermag, nämlich die Absolution des Psychiaters, vor dem es keine
Sünde gibt, die nicht vergeben werden kann, weil es ja keine Seele
gibt, die sich Gott versagen kann. Und diese Absolution hat mir jenen
furchtbaren Frieden verliehen, in welchem heute Tausende leben,
deren Krankheit nichts anderes ist, als daß sie den Frieden Gottes
verschmähten ! Denn auch die ganz Fernen haben ein Entweder-Oder
zu Gott, andernfalls lebten sie nicht." Die Furchtbarkeit dieses Friedens
besteht also darin, daß er k e i n e Befriedung der Schuld ist, d. h. daß
er nicht einen Frieden bedeutet, der zwischen der göttlichen und der
menschlichen Front geschlossen wäre, sondern daß er auf der VogelStrauß-Illusion beruht, als bestünde jene Frontstellung und als bestünde der Abgrund und der Riß n i c h t . Die Furchtbarkeit dieses
Friedens ist sein Illusionismus: als gäbe es keinen Gott, als gäbe es
keine Seele und als gäbe es folglich auch keinen Zerbruch zwischen
beiden. Das Furchtbare dieses Friedens ist die hauchdünne Eisdecke,
von der man meint, daß sie einen über die Abgründe dieses Lebens
trüge.
2. Durchaus abhängig von dieser weithin geltenden Einstellung des
Säkularismus ist nun die Einstellung der durchschnittlichen
Psychotherapie. Das zeigt sich an der Art, wie etwa auftauchende
Schuldgefühle und Depressionen (ζ. B. im Krankheitsbild des manischdepressiven Irreseins) gedeutet werden. Man pflegt sie nämlich so
aufzufassen, daß sich hier ein wie immer beschaffener psychischer
Defekt innerhalb
8 T h i e l i c k e , Fragen des Christentums.
II3
des Koordinations systems „gut und böse" „a u s d r ü c k t". (Wir
haben im Zusammenhang des Pragmatismus ja über den
Ausdruckscharakter von Gut und Böse gesprochen): Eine Depression
sucht sich eben die verschiedensten Ausdrucksformen: Auf der
ä s t h e t i s c h e n Ebene etwa drückt sie sich aus als „Schwarz-inSchwarz-sehen". (Man vermag sich nicht mehr am Schönen zu freuen)
; auf der w i r t s c h a f t l i c h e n Ebene als Verfolgungswahn und
pathologisches Mißtrauen. Warum soll das gleiche „Sich-aus drücken"
nicht auch auf der m o r a l i s c h e n Ebene stattfinden une] als
Schuldkomplex; in Erscheinung treten?
Das Schuldgefühl wäre also in diesem Falle als Ausdruck und damit
als „Symptom" aufzufassen, und zwar als Symptom eines
hintergründigen psychopathischen Tatbestandes, der selber nichts mit
Schuld zu tun hätte. Dann aber wäre es in der Tat falsch, SymptomTherapie zu treiben, d. h. die Schuldgefühle für sich isoliert zu
behandeln: sei es, daß man sie (etwa durch Suggestion) dem Patienten
ausredet oder daß man von Vergebung spricht. Es kommt dann
lediglich darauf an, in den genuinen Hintergrund der Symptome, also in
den eigentlichen psychischen Krankheitsherd vorzudringen. Da dieser
selbst aber ursprünglich nichts mit dem Schuld-Symptom zu tun hat, so
geht es also wirklich und soweit auch ganz logischerweise um eine
Behandlung jenseits von Gut und Böse. Durch verschiedene Analysen
wird der unbewußte Hintergrund des Schuldsymptoms erhellt. Dieses
selbst wird dem Patienten als das Produkt (sagen wir ruhig: als das kausal ableitbare Produkt) verschiedener Kindheitstraumata oder ähnlicher
Ursachen dargestellt und damit der Sphäre der Freiheit entzogen, in der
alle echte Schuld und alles echte Schuldwissen gründen. Es ist das
Ergebnis eines Prozesses, zu dem der Patient sich rein als Objekt
verhält. „Schuld" und „gutes Gewissen" entstehen aber in e c h t e r
Weise nur da, wo ich mir der Freiheit bewußt bin, aus der ich handelte,
und also
132
um die Verantwortung weiß, die ich zu tragen habe. Ich kann mir
meine „schuldhafte" oder ,?gute" Tat nur zurechnen, indem ich mich
f r e i , d. h. als erste Ursache, eben als „Schöpfer" jener Tat weiß.
Indem aber meine Taten, mein Gewissen, mein Fühlen, überhaupt
meine ganze subjektive Existenz als Produkte überpersönlicher und
von meiner Verantwortlichkeit gelöster Zusammenhänge aufgefaßt
werden, wird meine Freiheit geleugnet und damit auch der echte
Schuldcharakter meiner Depressionshintergründe bestritten. Daher
kommt es, daß für die so verfahrende Psychotherapie die
Diagnose
(d. h. die Erhellung jener überpersönlichen
Zusammenhänge) identisch ist mit der T h e r a p i e . D i e
E n t d e c k u n g des den Schuldkomplex verursachenden Traumas
ist identisch mit seiner H e i l u n g . Gewisse Heilerfolge scheinen die
Richtigkeit der Theorie zu bestätigen. Zweifellos geschieht es in
zahllosen Fällen, daß die Heilung eintritt (wenn wir auch die von
Gertrud von Lefort aufgezeigte Fragwürdigkeit stets mit dieser Art
„Heilung" zusammensehen müssen). Man wird dabei zwei Formen der
Heilung unterscheiden müssen :
ι . Diejenige, die sich ereignet, wenn etwas ungegenständlich mich
Bedrückendes und wegen seiner Ungegenständlich-keit Ungreifbares,
gerade deshalb aber Q u ä 1 e η d e s , in die Sphäre des
Gegenständlichen und Bewußten erhoben wird. Das ist dann ein
harmloser und in tausend Lebenszusammenhängen feststellbarer Fall.
Ζ. B. kann meine schlechte depressive Laune in etwa dadurch geheilt
oder erleichtert werden, daß ihr die Unbestimmtheit des W o h e r
genommen wird, daß mir ζ. B. klar wird: sie liegt im schlechten Wetter
oder in meiner Schlaflosigkeit usw. Ich gewinne dann eine
Gelegenheit, mich über sie zu erheben, weil ich nun weiß, womit ich's
zu tun habe. Ich kann mich damit auseinandersetzen. Damit aber bin
ich dann nicht mehr einfach das passive O b j e k t der Laune als eines
für mich ungreifbaren und
8*
"5
deshalb unheimlichen Impulses im Hintergründe meines Ich (darin lag
doch das Quälende), sondern sie muß sich mir zum Kampfe stellen
und auf ihre Berechtigung hin prüfen lassen.
Noch deutlicher wird diese befreiende Wandlung des Ungegenständlichen in das Gegenständliche am Verhältnis von „Angst"
und „Furcht": Das Quälendste ist immer das unbestimmte Angstgefühl,
die bange Ahnung, die Katastrophenstimmung. Ihre Befreiung ist in
dem Augenblick — wenigstens zum großen Teile — gegeben, wo ich
die unbestimmte „Angst" in die „Furcht" verwandeln kann, die etwas
ganz B e s t i m m t e s „befürchtet". Auch d a n n werde ich nicht
mehr passiv von der Angst geschüttelt, sondern kann mich mit dem
Gegenstande meiner Befürchtungen auseinandersetzen, denn er ist ja
nun ein solcher „Gegenstand" geworden. Goethe hat bekanntlich im
„Faust" diesen quälenden Charakter des UngegenständlichUnbestimmten an der „Sorge" gezeigt, die nicht vom Gegenständlichen
her (dem gegenüber ich bestimmte Befürchtungen hegen müßte) in
mein Herz bricht, sondern die umgekehrt aus den ungegenständlichen
Hintergründen des Herzens in das Gegenständliche projiziert wird.
(Gerade ihre U η bestimmtheit ist ja ihre Qual!):
„Sie deckt sich stets mit neuen Masken zu,
Sie mag als Haus und Hof, als Weib und Kind erscheinen,
Als Feuer, Wasser, Dolch und Gift;
Du bebst vor allem, was nicht trifft,
Und was du nie verlierst, das mußt du stets beweinen"1)
In diesem Falle, wo das Unbewußt-Ungegenständliche ins
Bewußtsein und damit in die Gegenständlichkeit erhoben wird, hat die
Heilung jedenfalls keinen ungeistlichen Sinn, sondern verwirklicht ein
dargereichtes Naturgesetz. Denn sie dient einfach und allgemein der
K l ä r u n g der Ängste und Bedränghisse. Sie wird in diesem Falle
aber auch nicht grund*) Vgl. ferner die ontologischen Analysen der Phänomene „Angst" und
„Furcht"-in Martin Heideggers Werk „Sein und Zeit" (1929).
134
sätzlich darauf aus sein, das Schuldgefühl auf a n d e r e Gegenstände
zurückzuführen, sondern zum mindesten die grundsätzliche
Bereitschaft aufbringen, es in sich selbst zu klären und innerhalb des
Koordinatensystems Von Gut und Böse stehen zu lassen. Auch in
diesem Falle kann die Erhellung ein erstes Stadium innerhalb der
Heilung bedeuten, gemäß dem Satz (der auch christlich gilt und in der
Lehre von Gesetz und Evangelium expliziert ist): „Selbsterkenntnis ist
der erste Schritt zur Besserung."
2. Die a n d e r e Form der Heilung durch Analyse bestünde
dagegen nicht bloß in der einfachen Umsetzung des
Ungegenständlichen in das Gegenständliche, sondern wäre so zu
verstehen, wie wir es eben darlegten: als die Ableitung des
Schuldgefühls aus dem Jenseits des Schuld-Gebietes ü b e r h a u p t ,
z. B. aus dem Jugend-Trauma und ähnlichen metaethischen
Bereichen1). Das Schuldgefühl wäre dann nur die Projektion eines
psychischen Defektes auf die moralische Ebene.
Wir haben nicht bestritten, daß es durch diese Analyse
t a t s ä c h l i c h eine Befreiung vom Schuldgefühl geben könne.
Einfach deshalb gibt es diese Befreiung nämlich, weil eine derartige
Analyse zugleich Befreiung von der V e r a n t w o r t u n g gewährt, ja
noch mehr : eine Befreiung von der Eigenschaft des Menschen als
Seele ü b e r h a u p t (um mit Gertrud von Lefort zu sprechen).
Freilich würde diese Art der Befreiung nur zum schrecklichen
trügerischen „Frieden des Psychiaters" führen, von dem Gertrud von
Lefort ebenfalls sprach.
Wir fassen zusammen: Dieser „Friede des Psychiaters" ist dadurch
bestimmt, daß das Schuldgefühl des psychisch Kranken als bloßes
Symptom einer völlig meta-ethischen Ursache aufgefaßt und dann
entsprechend behandelt wird : E s w i r d
*) Natürlich kann das Jugendtrauma selbst schon mit Schuld zu tun gehabt haben. Aber das wäre dann nur e i n e r unter allen denkbaren
Fällen.
135
n i c h t e r n s t g e n o m m e n . Der medizinische Grundsatz, daß
man möglichst keine Symptom-Therapie treiben solle, heißt hier: das
Schuld-„Symptom" möglichst zu übergehen und statt dessen den
„genuinen" Krankheitsherd aufzusuchen.
Von hier aus ergibt sich nun unsere entscheidende Frage:
Wie wäre es nämlich, wenn es mit dem Symptom-Charakter des
Schuldgefühls gerade u m g e k e h r t stände und wenn man einer
verhängnisvollen Verwechslung zwischen „Genuinem" und
„Symptomatischen" verfallen wäre?
Nämlich so (e r s t e r S a t z) : Es bestünde ein ungeheurer
S c h u l d v o r r a t in der Welt, an dem jeder einzelne seine
Teilhaberschaft hätte: Wieviel Mord, Terror, Schrecken ist nicht in der
Welt, wie liefert nicht jede Generation ihren Beitrag zu dieser SchuldLawine, die immerfort anschwillt und mit einer verheerenden Wucht
über den Erdball läuft: Kein Mensch vermag sich von dieser
Menschheits-, dieser Welt-und Familienschuld zu distanzieren,
ebensowenig wie er sich von dem „Zeitgeist" distanzieren kann.
Irgendwie bildet er selbst einen Stein in diesem Gesamtmosaik;
irgendwie ist das, was ihm hier.in geschichtlichen Dimensionen
entgegentritt, eine makrokosmische Spiegelung s e i n e s Herzens :
Machthunger, Expansionsdrang und Grausamkeit der „großen Welt"
sind ein Abglanz auch s e i n e s rebellischen Herzens. Und allen
Abscheulichkeiten und Verbrechen gegenüber, die einzelne Individuen
begehen, muß er mit Goethe bekennen, daß er ihren Keim auch in
s i c h vorfinde und mit Adalbert Stifter, daß der Tiger auch in i h m
auf dem Sprunge liege1). (Vgl. das spätere Kapitel über die
Wirklichkeit des Dämonischen.)
Wäre es nun nicht denkbar und m u ß es nicht vielleicht so gedacht
werden ( z w e i t e r S a t z ) , daß dieser Schuld-*) Vgl. Francis
Thomson, The heart.
n136
vorrai in psychisch labilen Menschen eher zum Durchbruch kommt
oder zumindest empfunden wird als in den Robusten und Gesunden?
Daß also die „Macht der Finsternis" sich nach dem Gesetz des
geringsten
Widerstandes
gerade
solche
Naturen
als
Durchbruchstelle erwählt, während die gesunden und starken Naturen
— wie wir alle an uns selbst und an andern beobachten können —
Schuld- und Gewissensfragen mit großer Kraft zu v e r d r ä n g e n
wissen und sich gleichsam dagegen zu immunisieren suchen?
Wir wissen es ja auch aus dem n o r m a l e n Sektor des Lebens,
daß feinnervige, sensible Charaktere in der Regel unter ethischem
Versagen und unter Gewissensskrupeln viel mehr zu leiden pflegen als
etwa derbe und phlegmatische Typen, die mit dem Gegengift innerer
Abreaktion reichlich versehen sind und „großzügig" darüber
hinwegzugehen pflegen. Innerhalb dieses „normalen" Sektors aber
würde es niemandem einfallen, etwa die Gewissensbetroffenheit des
Sensiblen einfach auf Illusionen und Hirngespinste zurückzuführen»
Vielmehr sind wir hier durchaus geneigt zuzugeben, daß der Sensible
nur ein feineres Gespüre für das objektive Vorhandensein an Schuld
besitzt.
Im Glaubensleben des Christen können wir zudem eine Erscheinung
beobachten, die durchaus auf der gleichen Ebene liegt: daß nämlich
dieses Gespüre in der Schule des Heiligen Geistes einer ständigen
Verfeinerung unterzogen wird. So entsteht im Laufe des Christenlebens
ein Zustand, der nur dem Außenstehenden grotesk erscheint: daß
nämlich das Wissen um Schuld und Vergebungsbedürftigkeit immer
mehr wächst, obwohl man doch „von außen her" postulieren müßte,
daß es durch die Schule der Heiligung immer mehr abzunehmen hätte
— und zwar insofern mit R e c h t abzunehmen hätte, als die
Schuldenlast scheinbar durch die Heiligung immer mehr abgetragen
wird. Sollten uns diese Beobachtungen nicht dahin belehren können,
daß in den psychopathologischen Be
137
reichen Ähnliches vorliegt? Daß also, im Prisma des seelisch Kranken
gebrochen, eine e c h t e Wirklichkeit zur Erscheinung drängte, der
gegenüber der verdrängungsfähige Gesunde eine undurchsichtige
Wand aufzurichten pflegt? D a ß a l s o d a s V e r h ä l t n i s d e s
p a t h o l o g i s c h e n S c h u l d g e f ü h l s z u r n o r m a l e n „H
a r m -l o s i g k e i t " g a r n i c h t e i n f a c h z u b e s t i m m e n
w ä r e a l s d a s V e r h ä l t n i s v o n „E i η b i 1 -d u n g " u n d
„Wirklichkeit",
sondern
als
„D
u r c h s i c h t i g k e i t " (wenn auch gebrochene Durchsichtigkeit)
u n d „U n d u r c h s i c h t i g k e i t " ?
Ich wage diesen Tatbestand an einem grotesken Beispiel zu
illustrieren/Wenn etwa ein depressiv Irrer behauptet1): Ich bin schuld an
diesem Kriege, ich habe die Bombenangriffe gemacht, ich habe die
Flüchtlingsheere in die Nacht von Hunger und Kälte geschickt — dann
wird selbstverständlich niemand daran zweifeln, daß das eine
krankhafte Aussage ist und daß sie — was die real feststellbaren
Ursachen anbelangt — in keiner Weise zutrifft. Und doch scheint durch
die pathologische Gebrochenheit dieser Aussage eine W a h r h e i t
hindurch: daß wir alle, die wir diesen Krieg und das Schicksal jener
unzähligen Scharen des Schreckens erleben, auf geheimnisvolle und
hintergründige Weise in die Ursächlichkeit alles dessen verwoben sind.
Der Krieg ist ja doch — wie immer die konkreten Kriegsanlässe
aussehen mögen — eine Folge menschlicher Schuld, und zwar einer
G e s a m t s c h u l d . Es spiegelt sich makrokosmisch das, was in
kleineren Proportionen zwischen den einzelnen Menschen ebenfalls
deutlich wird : Nicht-verstehen, Mißtrauen, Machthunger und vieles
andere. (Es ist deshalb ganz charakteristisch und notwendig, daß die
Kriegsschuldfrage zu jedem Kriege hinzugehört.) Und wenn wir schon
an die Männer unter uns denken, die bei diesem
*) Der folgende Bericht entstammt einer Patientenaussage, die mir selbst
gegenüber gemacht wurde.
T138
Geschichtemachen so verhängnisvoll beteiligt sind: — wer kann es
denn wagen (obwohl er im einzelnen nichts mit ihnen gemein zu haben
braucht und selber vielleicht zu ihren Opfern und Verfolgten gehört) —
wer kann es wagen, frage ich, sich in einem letzten Sinne von diesen
Männern zu distanzieren? Sind wir nicht alle, ja sind unsere Väter nicht
bereits bei der Vorbereitung der geschichtlichen Entwicklung, die auf
jene Männer führte, maßgeblich beteiligt, so daß sie überhaupt erst zu
dem kommen k o n n t e n , was sie schließlich wurden und taten?
Kommt also in der Schulddepression des genannten Geisteskranken
und in seiner Selbstanklage nicht neben aller grotesken Verzerrung ein
hintergründiges Wissen zum Ausdruck, das der Normale weder so noch
in einer „gesunden" Form nach oben läßt? Ist es also nicht wirklich so
— wie Theodor Bovet in seinem ausgezeichneten Buch „Die Ganzheit
der Person in der ärztlichen Praxis" sagt — „. . . als ob (etwa) in der
hysterischen Persönlichkeit leichter als anderswo eine der Wissenschaft
bisher unbekannte Welt durchbrechen würde" —? Wir könnten genau
so formulieren im Hinblick auf die besprochene Schuldwirklichkeit im
Krankheitsbild der Depression und ähnlichen Erscheinungen. E s
scheint eine echte Wirklichkeit durch eine
g e t r ü b t e o d e r v e r z e r r e n d e L i n s e . Es geht um eine
personhafte Wirklichkeit des vor Gott stehenden und von Schuld
belasteten Menschen, eines Menschen, der sie gleichsam in
übermächtiger Stellvertretung tragen und durchleiden muß für die
vielen, die das Tor ihres Gewissens verdrängend und hinausdrängend
vor ihr zuschlagen. Vielleicht hat man davon etwas gewußt und
andeuten wollen, wenn man in früheren Zeiten vom Wahnsinn als dem
morbus sacer sprach.
Wenn ich es deshalb meine ablehnen zu müssen, daß man den
depressiven Krankheitsherd und das Schuldgefühl in ein kausales
Abhängigkeitsverhältnis zu einander bringt, so daß
I2T
das Schuldgefühl bloßes Symptom wäre, so muß auch das
U m g e k e h r t e abgelehnt werden : daß nämlich die Schuldwirklichkeit nun einfach zur U r s a c h e der Erkrankung gemacht
wird.
Sicher gibt -es Fälle, in denen auch d a s eintritt. Aber im
allgemeinen liegt kein Kausalverhältnis vor. Die personhafte Seite (die
Schuld) ist die durchscheinende Innenseite des Krankheitsbildes. Beide
Seiten haben ihre eigene und voneinander unabhängige Kausalität1).
|ttWenn das alles aber so ist oder sein sollte, wird man bestimmte
F o l g e r u n g e n f ü r d i e T h e r a p i e ziehen müssen. Man wird
dann das Schuldwissen nicht einfach als gleichgültiges Symptom
behandeln dürfen, sondern wird es ernst nehmen müssen. Das würde
konkret heißen, daß hier die seelsorgerliche Verkündigung von Gericht
und Gnade, Schuld und Vergebung angemessen wäre. Nur indem sie
geschieht, und zwar in letzter seelsorgerlicher S o l i d a r i t ä t mit
dem Kranken geschieht (vgl. letztes Kapitel), wird jene
Schuldwirklichkeit überhaupt ernst genommen und wird das
hintergründige Geheimnis dessen anerkannt, was wir den
„Schuldvorrat der Welt" nannten.
^Selbstverständlich erschöpft sich die Welt, die in den seelischen
Krankheitsphänomenen zum Durchbruch kommt, nicht in dem
Phänomen der Schuld. Man braucht nur an die Geschehnisse um
Blumhardt zu denken, um eine F ü l l e solcher durchbrechenden
Wirklichkeiten vor Augen zu haben. Zugleich wird uns an Blumhardt
das Ernstnehmen von Schuld, Dämonie, Besessenheit und andern
Erscheinungen deutlich, um dessen Begründung es uns in diesem
Exkurs geht. Er ist ihnen als Seelsorger mit der vollmächtigen Predigt
von Gericht und Gnade entgegengetreten. Der Verfasser möchte in
diesem Zusammenhang nicht verschweigen, daß er in seiner
*) Darüber hat übrigens Bovet sehr einleuchtende Dinge gesagt: Vgl. S.
174—175.
140
eigenen Seelsorge mit diesem Ernstnehmen des Schuldgefühls, das er
eben nicht als Symptom behandelte, sondern umgekehrt auch in seiner
krankhaften Verzerrung als eine Realität wertete und deshalb des
realen Zuspruchs der Vergebung würdigte, einige erstaunliche
Erfahrungen, auch t h e r a p e u t i s c h e Erfahrungen gemacht hat.
Es scheint so, als ob manche Richtungen der „am Geist orientierten
Psychotherapie" (Adler, Künkel u. a.) für dieses Ernstnehmen der
Schuldwirklichkeit zunehmend Verständnis gewännen. Das scheint
mir schon darin zum Ausdruck zu kommen, daß die
Individualpsychologie mit ihrem f i n a l e n Ansatz bei der
Diagnose*) ganz neu die V e r a n t w o r t u n g in ihre Therapie
einbaut. (Die Verantwortung aber hat ja eine unmittelbare Affinität
zum Schuldproblem.)
Wir stehen also vor dem Ergebnis, daß Psychotherapie ohne die
Seelsorge und die von ihr gewußten und vollmächtig eingesetzten
Wirklichkeiten von Gericht und Gnade nicht möglich ist. Ohne dieses
„Wissen" und dieses Eintreten in den Bezirk der Gnade gibt es nur den
„dämonischen Frieden des Psychiaters" (v. Lefort).
x)
D. h. sie fragt nicht: W o h e r rührt etwa die Neurose? (das wäre die
kausale Fragerichtung), sondern: w o z u habe ich sie mir angeschafft,
was will ich mit ihr erreichen, wovor will ich mich mit ihrer Hilfe
drücken? (finale Fragerichtung).
DRITTES KAPITEL TREIBENDE FAKTOREN DER
VERWELTLICHUNG: TECHNIK UND ZIVILISATION CHRISTUS
UND DAS TECHNISCHE ZEITALTER
Der Einbruch der Technik in die moderne Welt
Ernst J ü n g e r hat einmal den Ausspruch gewagt, daß „bereits
heute inmitten der Zuschauerringe eines Lichtspieltheaters oder eines
Motorenrennens eine tiefere Frömmigkeit zu beobachten ist, als man
sie unter den Kanzeln und vor den Altären wahrzunehmen vermag".
(Arbeiter S. 155.)
Bei einer solchen Feststellung befällt uns freilich ein leichtes
Unbehagen. Wir werden sofort von der Frage angepackt, ob diese Art
der Ergriffenheit, die den Gottesglauben scheinbar abgelöst hat,
wirklich als „Religion" zu bezeichnen wäre, oder ob sie nicht vielmehr
ein A f f e der Religion ist und geradezu mit dem W i d e r s p i e l e r
aller Religion zusammenhängt. Ich weiß auch nicht, ob der heutige
Ernst Jünger ein solches Wort wiederholen könnte.
In zweierlei Hinsicht ist aber hier etwas zweifellos Richtiges
gesehen:
ι. Einmal nämlich ist der Stärkegrad durchaus richtig bezeichnet, in
dem der heutige Mensch durch die Erscheinungen der Technik gebannt
ist. Ein Religionslehrer braucht nur als Beispiel für irgend etwas einmal
das Problem der Atomzertrümmerung mit ihren möglichen
wirtschaftlichen und militärischen Auswirkungen zu zitieren, und er
wird bei seinen
142
Jungen eine derartige Geste von gespitzten Ohren hervorzaubern, daß
er sich wirklich fragen kann, ob die Lebensgewalt seines Beispiels
nicht den religiösen Gegenstand, den er mit seiner Hilfe
veranschaulichen wollte, einfach erschlägt.
2. Noch eine weitere Parallele zwischen Religion und Technik wird
man ziehen dürfen: In der Technik scheint so etwas geschehen zu sein
wie der Einbruch von etwas F r e m d e m , wie der Hereinbruch des
„ganz andern" in unser Leben. . Das müssen wir uns in einigen Zügen
klarmachen:
In vortechnischen Zeitaltern hat es ja a u c h umstürzende geistige
Bewegungen und revolutionäre Gewalten gegeben, die sich wie eine
Sturmflut über das gesamte bisherige Land der Geschichte ergossen:
Ich denke ζ. B. an die Aufklärung, die in die bisherigen Bindungen
einbrach und sie löste.
Aber diese inneren und äußeren Revolutionen ergeben sich stets in
einer Fülle von Prozessen aus vorangegangenen Zuständen: Soziale
Ordnungen und Weltbilder veralten. Man kann nicht mehr ohne
weiteres in ihnen existieren. Daraus ergeben sich — „ergeben sich"! —
dann Krisen und Erschütterungen. Und es ist dann doch so : Die
zurückschauende Geschichtsschreibung ist bemüht und kann mit
R e c h t bemüht sein, diese Krisen und Umbrüche aus großen
Zusammenhängen heraus zu verstehen und in sie einzugliedern. D. h.
sie sieht alles, auch das Revolutionärste, in mehr oder weniger
logischen Abläufen sich vollziehen. Selbst die „Wundermänner" der
Geschichte setzen ja nicht kraft ihrer Freiheit und schöpferischen
Initiative etwas schlechthin Neues, das nicht mehr aus
Vorangegangenem ableitbar wäre, sondern sie pflegen aufzutreten,
wenn die Zeit für sie „reif" ist, und sind dann bemüht, diesem
Reifeprozeß zu innerem Durchbruch zu verhelfen, also einen bereits in
Gang befindlichen Prozeß a u s z u l ö s e n . Die Männer, die
Geschichte zu machen meinen, sind die Exponenten von
Entwicklungen, die sie entbinden helfen. Hegel konnte sogar von der
„List der Idee"
143
sprechen, kraft welcher die geschichtlichen Individuen ihre
Leidenschaft zu befriedigen meinen, während sie in Wirklichkeit dem
Ganzen dienen und die überpersönliche Entfaltung des Weltgeistes
betreiben. Auch wenn die dahinter stehende Metaphysik keineswegs
die Voraussetzung aller Geschichtsschreibung bildet, so geht diese
doch immer von der Kategorie des „Verstehens" aus, d. h. sie stellt
kraft der Prinzipien der Kausalität, der Immanenz und der Analogie
(Troeltsch) geschichtliche Prozesse heraus, in denen auch die
revolutionären Gewalten oder ihre großen geschichtlichen
Personifizierungen „verständlich" werden. Die Technik aber ist nun
allerdings etwas ganz anderes, das n i c h t in dieser Weise ableitbar
ist. Die Technik ist ja nicht „gewachsen", sondern sie ist „eingebrochen".
In ihr ist eine Macht auf den Plan getreten, die vorher nicht da war.
Denn Technik ist ja nicht so etwas wie Vervollkommnung —.nicht
einmal wie eine s p r u n g h a f t e Vervollkommnung — des auch
vorher schon vorhandenen Handwerklichen. Während beim Handwerk
der Mensch zweifellos Subjekt ist — der Meister „beherrscht" ja sein
Handwerk -, wird das in der technischen Welt mehr als zweifelhaft. Der
Mensch wird nur allzu sichtbar in einem weitgehenden Maße * O b j e k
t jener technischen Macht, die in sein Leben eingebrochen ist. Sie ist
sozusagen das „ganz andere", das unser Leben ergriffen und bis in die
Grundfesten erschüttert und umgestaltet hat. „Das andere" aber ist das
Kennzeichen des Göttlichen (R. Otto), ebenso wie auch das „von außen
ins Leben Einbrechende", das „Transzendente" zu jenen Kennzeichen
gehört, wenn es sich auf einmal als lebensmächtiger Faktor zum Wort
meldet.
Man braucht nur einmal daran zu denken, daß ein primitiver Volks
stamm vermutlich ein Koffergrammophon wie einen Gott verehren
wird, um zu begreifen, und gerade an diesem extremen
Entwicklungsabstand zu begreifen, wie hier
144
die Technik als das ganz andere eine gewisse Imitation des Göttlichen
darstellt. Noch ein anderes Beispiel, an dem die Technik als das „ganz
andere" sichtbar wird:
Wie anders sind die technischen Zukunftsträume der Menschheit in
Erfüllung gegangen ! Sie hat ja ζ. B. immer vom Fliegen geträumt. Im
Traum aber versetzt man sich sozusagen in das andere, das
Unerreichbare. Aber die technische Erfüllung dieser Träume, wie sie
dann de facto durch die Entwicklung eintrat, ist nun n o c h einmal
anders als die Anders-heit der Traumwelt. Die faktische
Verwirklichung transzen-diert den Traum gleichsam noch einmal und
reißt eine völlig unpostulierbare Welt auf.
Man kann sich das klarmachen, wenn man etwa Gottfried
K e l l e r s Traum vom Fliegen einmal mit seiner faktischen Erfüllung
heute vergleicht:
„Und wenn vielleicht in hundert Jahren Ein
Luftschiff hoch mit Griechenwein Durch's
Morgenrot käm' hergefahren, Wer möchte
da nicht Fährmann sein?
Dann bog' ich mich, ein sel'ger Zecher,
Wohl über Bord, von Kränzen schwer, Und
gösse langsam meine Becher Hinab in das
verlaß'ne Meer."
Gerade angesichts dieses Traumes, der sozusagen über das bisher
Erreichte h i n a u s träumte und die Welt des „andern" aufsuchte,
spüren wir, wie anders er in Erfüllung gegangen ist. Kein sel'ger
Zecher gießt wonnetrunken Wein herab, sondern Feuer und Tod
stürzen aus den nächtlichen „Frachtern des Todes" vom Himmel - um
nur e i n e Vision zu beschwören, in welcher der Welteinbruch der
Technik aus unerwarteten Richtungen sichtbar wird. (Natürlich ist
diese Vision nicht das einzige, was zum Fliegen zu bemerken ist.)
145
Fünf Fragen nach der Beziehung von Technik und Christentum
Hier wird, so scheint mir, die Frage unüberhörbar, ob mit diesem
Einbruch der technischen Macht in unsere Welt nicht eine Krisis aller
bisherigen Bindungen und metaphysischen Kräftegruppierungen
gegeben sei, natürlich auch und gerade eine Krisis des
C h r i s t e n t u m s . Selbst rein chronologisch gesehen ist es doch so,
daß seit der Technisierung des Lebens der auch vorher schon
schwebende Säkularisierungsprozeß in lawinenartig anwachsenden
Bränden aufloderte und sein Tempo unvorstellbar steigerte.
Wir gliedern diese Frage am besten in eine Anzahl Teilprobleme
und haben dabei vor allem die B e z i e h u n g d e r T e c h n i k z u
K i r c h e u n d C h r i s t e n t u m im Auge. Worin drückt sich die
Diskrepanz zwischen beiden aus, die wir alle dunkel empfinden?
ι. Frage: Setzt das Christentum nicht einfach ein anderes
W e l t b i l d voraus, als es das technische Zeitalter besitzt (die
Dreigliederung nämlich von Himmel, Erde und Hölle), während die
Technik auf der Auswertung der Naturgesetze beruht und diese
ihrerseits nur im Rahmen der in sich geschlossenen Welt-Immanenz
sichtbar werden1)?
2. Frage : Ist nicht der jeweils vorausgesetzte M e n s c h e n t y p
anders ? Auf der e i n e n Seite steht der Mensch, der um dämonische
Mächte weiß, von denen er besessen sein und denen er hörig werden
kann, der überpersönliche Gewalten kennt, die „in der Luft herrschen"
(Epheser- und Kolosser-brief) und die die Geschichte viel
nachdrücklicher bestimmen als seine persönliche Initiative. Wo aber
sind auf der a n d e r n Seite Dämonen noch unterzubringen? Wo sind
sie unterzubringen in einer Welt, die naturgesetzlich — s c h e i n b a r
wenigstens — bis in die letzten Schlupfwinkel durchx).
Vgl. dazu Bultmanns Schrift: Offenbarung und Heilsgeschichte
(München 1941) und meine Auseinandersetzung damit im Dtsch. Pf. Bl.
Jahrgang 1942/43, sowie Bultmanns Erwiderung ebendort.
146
schaut und auf Grund dieses Einblicks technisch bewältigt werden kann,
und zwar aus eigener selbstherrlicher Initiative . des Menschen heraus?
Dämonen mögen in geheimnisvollen Ecken mittelalterlicher Häuser
geistern. Das technische Zeitalter aber Hebt klare, sachliche Linien und
die geheimnislose Helle seiner Räume. Schon in seinem Stil bringt es
zum Ausdruck, daß es keine „Hintergründe" seiner Welt gibt, sondern
daß die s i c h t b a r e n Kulissen wirklich den letzten Abschluß bilden.
(Freilich wird man gerade deshalb mit Verwunderung bemerken müssen,
daß die helle Vordergründigkeit dieser Welt in großem Umfange so etwas
kennt wie Talisman und Astrologie und daß sie mit Vorliebe ihre höchstgezüchteten technischen Apparaturen [Auto und Flugzeug] mit den
Fetischen der Magie ausstaffiert. Sollte in alledem nicht das „dunkle
Zeichen einer fernen Macht" [Hölderlin] oder auch einer bedenklich
n a h e n Macht zum Ausdruck kommen, die im Koordinatensystem der
technisierten Welt nicht unterzubringen ist?)
3. Frage: Wie soll man das Christentum' in das technische Zeitalter
einfügen können, insofern es nicht nur „das dunkle Zeichen einer
fernen
Macht",
sondern
die
Offenbarung
und
F l e i s c h w e r d u n g dieser Macht im konkreten Tag unserer Welt
sein will? Auch hier fragen wir zunächst ganz naiv, d. h. so, daß wir
unsern Instinkt reden lassen und uns dem Eindruck von der Andersheit
beider Welten hingeben. Ich erinnere dabei nocheinmal an das Zitat
von Ernst Jünger, das wir an den Eingang des 1. Kapitels stellten und
das davon sprach, daß die im Christlichen beschlossene Welt uns heute
ferner liege als „die Ammoniten der Kreidezeit".
4. Frage: Die unter Ziffer „3" gestellte Frage läßt sich natürlich auch
u m g e k e h r t formulieren: Wie kann man die Technik im Denken
des Christentums unterbringen? Geht es ihm nicht um einen
weltabgeschiedenen Bereich von Leuten, die in einem
ungeschichtlichen, jedenfalls nicht Ge9 Τ h i e l i c k e, Fragen des Christentums.
I29
schichte m a c h e n d e n Lande lebten und die ihre Zeit und ihre
Interessen in einer uns heute unfaßlichen Ausschließlichkeit auf die
Frage nach dem Seelenheil konzentrierten? Liegt es nicht an dieser
geistigen Struktur, daß die Kirche an den modernen Massen der
technisierten Großstadt vorbeizureden und vorbeizuleben scheint? Und
ist nicht aus dieser scheinbaren Ungreifbarkeit der Masse nun
andererseits die Neigung der Kirche zu verstehen — zwar nicht sich
s e l b s t als ungeeignet und antiquiert, dafür aber die T e c h n i k als
dämonisch zu apostrophieren? (Was man nicht deklinieren kann, das
sieht man — als dämonisch an !)
Mit dieser Frage ist zum ersten Male das Problem einer religiösen
oder besser christlichen Bewertung der Technik angeklungen. Wir tun
gut daran, wenn wir diese Bewertung auf eine noch strengere Formel
bringen und in die theologische Fachsprache übersetzen, die uns an
dieser Stelle ein besonders prägnantes Ausdrucksmittel zur Verfügung
stellt.
Die Frage würde dann lauten: Gehört die Technik zur Schöpfung
oder gehört sie zur Sünde? Ist sie ein Mittel zur schöpfungsmäßigen
Lebensbewältigung oder ein Mittel chaotischer Lebenszersetzung?
Strömt durch sie ein neuer göttlicher Lebenshauch in die auf immer
neue Entbindung ihrer Kräfte wartende und gleichsam potentiell
unerhört geladene Schöpfung oder ist die Macht der Technik
dämonischer Natur, so daß ihre helle Vordergründigkeit zwar keine
Schlupfwinkel für die Dämonen böte, dafür aber selber dämonisch
wäre?
5. Von da her ergibt sich die letzte Frage: Da die Technik in alle
bisherigen Bindungen einbricht, liegt die Vermutung nahe, daß sie ihre
eigene Weltanschauung besitzt. Denn Bindungen werden auf die Dauer
nicht durch das Chaos, sondern durch andere Bindungen abgelöst.
Diese aber sind ja immer nur in einer religiösen oder weltanschaulichen
Verankerung gegeben. Daher die Frage, ob und wie die Technik eine
solche Weltanschauung aus sich entwickelt.'
148
Der mitanschauliche Glaube des technischen Zeitalters
Wir beginnen unsere Überlegung bei dieser letzten Frage. Um es
gleich zu sagen: Das technische Zeitalter neigt zu einer
Weltanschauung, die vom E n t w i c k l u n g s g e d a n k e n
bestimmt ist. (Wir lassen es zunächst dahingestellt, ob dieser
Evolutionismus notwendig durch die Technik gegeben ist oder ob bei
seinem Entstehen noch völlig a n d e r e Momente ursächlich wirken.
Deshalb drücken wir uns vorsichtig durch das Wort „neigen" aus.)
Warum das technische Menschentum diese Tendenz besitzt, dem
Fortschrittsglauben zu huldigen, liegt im Wesen der Technik selbst. Sie
ist ja in einem dauernden Fortschreiten und in einer steten
Vervollkommnung begriffen. Es gibt auch keine ernsthaften
Rückschläge. Es ist schlechterdings unmöglich, daß die Technik die
Einbahnstraße ihrer Vorwärtsentwicklung auf einmal, sei es auch nur
vorübergehend, in umgekehrter Richtung beschritte, daß sie etwa
d o c h noch einmal beim Automobilbau von der Stromlinienform zur
romantischen Kutschengestalt zurückkehrte. Diese absolut eindeutige
Fortschrittsrichtung ist mir einmal sehr symbolkräftig aufgegangen, wie
ich als junger Hochschullehrer an einer Dozentenakademie in Kiel
teilnahm: Wir rangen drei Wochen miteinander um die Urfragen der
Menschheit: um das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen, um die
Frage Polis und Gott, um die Beziehung von Logos und Bios, ohne hier
in einem eindeutigen Sinne „weiterzukommen". Schließlich standen die
verschiedensten „Bekenntnisse" gegeneinander. Als uns dann ein
Admiral zur Besichtigung auf ein Kriegsschiff einlud, standen wir
plötzlich mit einer fast lähmenden Bewunderung in einer völlig andern
Welt: Hier lag eine Gemeinschaftsarbeit vor von Technikern und
Seeleuten, von denen keiner gegen den andern stand, sondern wo einer
den andern ergänzte und benötigte. Nicht nur das: Der Kreuzer
9*
149
war auch das Produkt mehrerer Generationen von Technikern, von
denen eine auf die andere aufgebaut hatte und in einem ausgewogenen
Gleichgewicht „auf den Schultern" der andern stand. Also auch eine
G e n e r a t i o n e n f r a g e gibt es hier nicht. Es ist ein M i t einandergehen und ein W e i t e r gehen. Wie anders war
demgegenüber der geistige Vorgang jenes Ringens, aus dem wir
kamen! Wir merkten plötzlich, daß wir in diesem Ringen auf der Stelle
marschierten und zwar jeder auf s e i n e r Stelle, ohne daß zwischen
dem einzelnen eine Brücke gewesen war; noch mehr: nicht nur w i r
marschierten auf der Stelle, während die Erbauer der Kriegsschiffe
immer weitermarschieren, sondern die ganze Menschheit marschiert an
diesem Punkte mit auf der gleichen Stelle — seit Jahrtausenden. Auch
die Vorsokratiker haben schon über die Fragen nachgedacht, die uns
bewegten. Jahrtausende schrumpfen zusammen, wenn man an die ewig
gleichen Fragen denkt, welche die Menschheit von Anbeginn her bewegen. Kein Mensch kann dem andern die Lösung dieser Fragen
weiterreichen, auf der dieser dann seinerseits weiterzubauen vermöchte.
Jeder muß wieder von vorne beginnen. Jeder ist in eine letzte
Einsamkeit und in den Zwang einer Entscheidung hineingegeben, die
ihm niemand abnehmen kann. Die Geschichte der Philosophie gleicht
der Bewegung auf einer Kreisperipherie, von der unendlich viele
Radien auf den einen Mittelpunkt zeigen. Keiner ihrer Punkte aber liegt
dem Zentrum näher als der andere. Die Geschichte der Technik aber
gleicht einer schräg aufwärtsführenden Geraden, auf der jeder folgende
Punkt höher liegt als der vorangehende.
An diesem Beispiel mag deutlich werden, wie verschieden die
Ebenen sind, auf denen Geistesgeschichte und Geschichte der Technik
„geschehen" und wie recht man offenbar tut, wenn man die Technik als
den Einbruch des „andern" in die bisherigen Weltzusammenhänge
bezeichnet1).
*) Diesen Charakter des andern würde man ja auch nicht ohne weiteres
150
Der Eindruck des Fortschrittes in der technischen Welt und damit
auch der Eindruck der wachsenden Lebensbewältigung hat nun immer
wieder bei religiös angehauchten oder christlichen Technikern, aber
auch bei Theologen, zu einem gewissen Schöpfungsoptimismus
angesichts der Technik geführt. (Vgl. Hanns Lilje, Das technische
Zeitalter. 1927; in etwa auch Karl Schumann, Vom Geheimnis der
Schöpfung; Schlemmer, Evangelium und Technik 1940): Technik ist
Entbindung der in die Schöpfung gelegten Kräfte, ist gleichsam
Verwandlung der potentiellen in kinetische Schöpfungsenergie.
Technik ist Ausführung des Schöpfungsbefehls: „Machet euch die
Erde Untertan!" Bisher verschlossene Räume werden erschlossen; man
denke nur an das Revier der Luft; die andern Räume werden
zusammengedrängt: man „beherrscht" den Raum.
Die Krise des technischen Fortschrittsoptimismus
Plötzlich aber merkt man, daß hier doch etwas nicht stimmt: Denn
nicht nur die Macht des Kosmos ist am Werk, sondern zugleich die
Macht des Chaos: Ich schreibe diese Zeilen während eines
Fliegeralarms. Diesel hat diese Frage richtig gesehen, wenn er — nach
der ausgezeichneten Biographie seines Sohnes (Eugen Diesel, Rudolf
Diesel: Der Mensch, das Werk, das Schicksal, 1937, S. 488) — vor
seinem Tode ausspricht: „Es ist schön, so zu gestalten und zu erfinden,
wie ein Künstler gestaltet und erfindet. Aber ob die ganze Sache einen
Zweck gehabt hat, ob die Menschen dadurch glücklicher geworden
sind, das vermag ich heute nicht mehr
den technik-ähnlich'en Maßnahmen früherer Zeiten beilegen (ζ. B. Pyramiden und Megalith-Bauten). In diesem Falle ging die Initiative auch der
größten Unternehmungen immer vom Menschen, etwa von einem ägyptischen Souverän, aus, während das Maschinenzeitalter eben dadurch charakterisiert ist, daß der Mensch höchstens noch regulierend an der Ausnutzung eines technischen Entwicklungsprozesses beteiligt ist, der auch
ohne ihn abläuft).
151
zu entscL ^iden." Hier taucht die Ahnung dessen auf, daß zur
Darstellung der Technik noch eine andere Kurve gehört als die des
Fortschritts, daß auch eine ergänzende Kurve nach unten und vielleicht
in den Abgrund zeigen müßte. Denn das Thema der Technik ist ja nicht
der Sachgesetzlichkeit ihres Fortschritts zu entnehmen, sondern dieses
Thema ist d e r M e n s c h s e l b e r . Wie steht e r inmitten allen
Fortschritts da? „ . . . ob er dadurch glücklicher geworden ist, weiß ich
nicht". Ist er vielleicht sogar unglücklicher geworden? Oder ist er
jenseits von Glück und Unglück einfach derselbe geblieben, marschiert
er trotz des Eiltempos seiner technischen Werke nicht doch auf
derselben Stelle? „Die Menschheit schreitet immer fort, aber, der
Mensch bleibt immer derselbe", sagt Goethe. Vielleicht daß diese
Dieselbig-keit der Menschheit innerhalb der technischen Entwicklung
gerade daran sichtbar wird, daß die Technik mit jedem Fortschritt auch
ein geheimnisvolles Rückschreiten, mit jeder Entbindung der
Schöpfungsenergie zugleich auch die Mächte chaotischer Zersetzung
auf den Plan ruft, daß sie Serum-Präparate gegen die entsetzlichsten
Geißeln * der Menschheit und zugleich Bomben als neue Geißel
erfindet; ich sage: vielleicht kommt diese Dieselbigkeit des Menschen
gerade darin zum Ausdruck, daß die Technik doch nicht einfach
„Fortschritt" ist, sondern daß sie ein rätselhaftes Doppelgesicht besitzt,
das auf alle Höllen und Himmel z u g l e i c h weist. D a ß sie
jedenfalls Licht und Schatten zugleich bringt, um es neutral zu sagen,
fühlt auch jeder, der zu reflektierenden Deutungen nicht willig oder in
der Lage ist. Aus dieser Ahnung rührt sogar, wenn nicht alles trügt, die
eigentliche Weltanschauungskrise unserer Zeit: Im Weltkriege 1914—
18 brach aller Fortschrittsglaube zusammen. Warum? - :
Nicht zuletzt (sondern wohl z u e r s t ) unter dem Eindruck der
T e c h n i k hatte sich ein Fortschrittsglaube gebildet, der weit über
den naturwissenschaftUch-technischen Sektor
152
des, Lebens hinausging und sich auf alle Lebensgebiete, sogar auf die
„christliche Religion" bezog. Diese letztere erschien zwar im
Augenblick selber als Gipfel der Religionsgeschichte, strebte aber
einer immer größeren Vergeistigung und Subli-mierung zu und war so
selbst im Akt des Fortschritts begriffen. Die Weiterentwicklung der
Zivilisation ließ Unzählige vergessen, daß diese nur ein dünnes
Apfelhäutchen über einer brodelnden glühenden Lava war, daß die
„tigerartige Anlage" im Menschen unterhalb dieses Kulturfirnis nur auf
die Gelegenheit ihrer Entbindung wartete, daß also der Mensch
„dieselbe" Lava, „derselbe" Tiger geblieben war. S o w e i t also hatte
es das „christliche Europa gebracht", daß es das Blut von Millionen
vergoß 1 Die gewaltige Krise nicht nur der Kultur, sondern auch des
Christentums hat darin ihre entscheidende Wurzel, weil sich beide
Mächte — jedenfalls in den Augen unzähliger Menschen — dem
Fortschrittsglauben verschrieben, ja ihn förmlich zum Ausdruck
gebracht hatten und darum bei seinem Zusammenbruch mit in den
gleichen Abgrund gezerrt wurden. „Mitgefangen — mitgehangen"!
Die Abwendung weiter Kreise von der Kirche infolge des
Weltkriegs war mehr eine Abwendung von dem Fortschrittsglauben,
mit dem man die Kirche — nicht ohne ihre Schuld — identifizierte.
Das Argument: was uns denn das Christentum in zwei Jahrtausenden
für Fortschritt gebracht habe, ist ein immer noch lebendes Zeugnis für
diese Verwechslung. So gewiß aber diese Verwechslung in den Köpfen
geisterte, so fand doch recht eigentlich keine A b w e n d u n g vom
Christentum statt, sondern nur das Offenkundigwerden eines auch
vorher schon bestehenden christlich kostümierten, fortschrittlichen
Atheismus. Bedenken wir also, daß unter dem Einfluß des technischen
Zeitalters und seiner offenbaren weltanschaulichen Folgen jener innere
Zusammenbruch der christlichabendländischen Bindung erfolgte, so
erhebt sich noch einmal und aus noch größerer Tiefe die Frage : Wie
steht es mit Licht
153
und Schatten der Technik? Ist sie Schöpfung oder ist sie nicht
letztlich a η t i kreatürlich? Stammt sie von G o t t oder
------- stammt sie vom T e u f e l ?
Das Doppelantlit^ des technischen Phänomens
Wir zerlegen diese Frage wieder in zwei Teilprobleme: ι . Worin
kommt das geheimnisvolle Doppelgesicht der Technik zum Ausdruck?
2. Wie haben wir diese Ausdrucksweisen zu interpretieren? Zunächst
also die Frage nach dem Doppelgesicht selber: a) Auf der einen Seite
bemerkten wir bereits, daß die Technik auf der wissenschaftlichen
Erforschung der Naturgesetze fußt. Eisenbahn, Flugzeug und Rundfunk
wären ohne diese Erforschung nicht zu denken. Im gleichen Maße aber,
wie die Technik von einer ständigen „Vertiefung in die Natur"
herkommt, führt sie auf der andern Seite und im gleichen Maße zu
einer Entfremdung von der Natur. Man braucht ja nur an den geistigen
Asphaltbrodem der Großstädte zu denken, der unter ihrer Ägide dem
Boden entstieg, um die Naturferne —oder besser: um die
Schöpfungsferne - riesiger Menschenmassen zu begreifen. Die
Großstadt bringt zum Beispiel — aber wirklich nur als „Beispiel" für
viele andere Symptome — zwei hervorragende kreatürliche
Erscheinungen zum Erliegen und Erblassen: die Phänomene „Licht"
und „Zeit". Im Frieden haben die Großstädte durch Lichtreklame und
andere Beleuchtungsformen wirklich Tag- und Nachtgleiche; auch andere Einrichtungen, wie etwa die Nachtlokale oder auch die
Regulierung des Schichtwechsels in den Betrieben und auf den
Verkehrsmitteln, verwischen den Unterschied zwischen Licht und
Dunkelheit, unterbrechen den Rhythmus der Zeitlinie und verhüllen
damit die Zeitlinie ü b e r h a u p t . Es ist schier unmöglich, in einer
solchen Welt etwa das urtümliche Erlebnis der Wintersonnenwende
überhaupt wieder zu
154
erneuern. Mit dem Sinn für die verfließende Zeit erlischt auch der Sinn
für die E n d l i c h k e i t . Und manche Hybris unserer Tage mag in
dieser EHminierung der Zeitlinie ihre Ursache haben. Die Natur lehrt
durch den Rhythmus von Licht und Finsternis und damit durch die in
ihr waltende Zeit ihre Begrenzung und ihr Gebundensein in höheren
Mächten. N a t u r entfremdung ist deshalb zugleich auch
Entfremdung gegenüber der Ü b e r n a t u r . Man wird freilich diese
Entfremdung, wie wir später noch sehen werden, nicht einfach als
einen eigengesetzlichen Prozeß auffassen dürfen, für den der Mensch
nichts könnte, sondern als ein persönliches Verhalten „mit H i l f e "
eines Prozesses oder — wie Paulus diese Zusammenhänge in Rom. i,
18 ff. sieht — als ein „In-Unge-rechtigkeit-niederhalten".
b)Die Technik überbrückt die Entfernungen
d i e s e r E r d e . Der Erdball schrumpft zusammen, und die Völker
rücken sozusagen näher aneinander. Indem sie das tun, sind auch ganz
andere Möglichkeiten für ihre Begegnung und ihr Kennen-lernen
gegeben. „Die Türken" hören auf, ein ferner, zwar schrecklicher, aber
doch fast unwirklicher Mythos zu sein, als welcher sie den mittelalterlichen Menschen erschienen; und wenn — nach dem „Bürger" in
Goethes „Faust" - „fern in der Türkei die Völker aufeinanderschlagen", dürften wir europäischen Menschen kaum noch in
Stimmung sein, bedächtig zum Fenster hinauszuschauen und unser
„Gläschen" zu leeren, sondern wir würden von der Nähe dieser
muselmanischen Angelegenheiten durchaus betroffen sein. Die
Technik hat die Aufhebung der Distanz gebracht. Übersetzt man dieses
Fremdwort naiv ins Deutsche, könnte man sagen: Sie hat „Nähe" und
„Annäherung" gebracht.
Damit aber ist die ganze Problematik dieser Seite des technischen
Geschehens schon angedeutet: Denn mit der größeren Nähe ist
zugleich auch das Erlebnis des Andern und Andersartigen, kurz des
„Fremden", gegeben. Es ist eine all
155
gemein menschliche Erfahrung, die sich hier kundgibt. Das Verhältnis
zwischen zwei verschiedenen, womöglich antithetisch veranlagten
Menschen wird ja ebenfalls um so kritischer, je näher sie aneinander
heranrücken, je mehr sie ζ. B. durch die Situation zu einem
Zusammenleben gezwungen sind. Tatsächlich führt also die technisch
bedingte Annäherung der Völker zugleich aus der Ferne der
Indifferenz (Türkenbeispiel) zu dem Fremderlebnis. Der nationale
Polytheismus geht vielfach in h i s t o r i s c h e r Hinsicht parallel mit
der technischen Entwicklung. So sind auch hier einfach zwei
gegenläufige Tendenzen durch die Technik ausgelöst.
c) Eine weitere Folge der Technik ist die Z u s a m m e n ballung
großer
Menschenmassen
auf örtlich
beschränkten Plätzen, die man „Großstädte" nennt. Die technisch
bedingte Industrialisierung führt unweigerlich zu kollektivistischen
Gebilden. Damit ist an sich eine sehr starke Solidarität des Lebensstils
gegeben: Große Massen sind Kameraden derselben oder einer
ähnlichen Arbeit. Mit der inneren Aushöhlung und Verflachung, die der
großstädtische Lebensstil mit sich bringt, ist zugleich gegeben, daß die
individuellen Unterschiede sich mehr oder weniger abschleifen. Die
Typisierung hört sozusagen auf, als bloßes Fabrikationsprinzip auf die
„D i η g e" bezogen zu sein und geht ansteckend auf den fabrizierenden
Menschen s e l b s t über. Die politische Lenkung der Massen bestärkt
diesen Prozeß dadurch, daß sie die einzelnen Kulturäußerungen (ζ. B.
Presse, Radio, Kino) auf das Typisch-Allgemeine abstimmt: Daher
rührt etwa das Überwiegen der sinnlich-nervösen Unterhaltungsmusik
im Rundfunk gegenüber Mozart oder den andern großen Meistern, weil
diese eine individuelle Differenzierung voraussetzen, während eine
Unterhaltungsmusik sich sozusagen an die unterhalb jener
Differenzierung Hegende Schicht des Typischen, ich möchte sagen: des
biologisch Allgemeinen und der sinnlichen Empfänglichkeit wendet.
156
Von den einzelnen Freizeitorganisationen gilt das gleiche.
Ein Zeichen dieses Zusammenschlusses innerhalb der technisierten
Großstadt ist auch die immer stärker aufkommende Bezeichnung
„Gemeinde" für das kollektive Zusammensein innerhalb einer FreizeitOrganisation oder eines „Kultur"-Faktors (ζ. B. Rundfunk-Gemeinde,
sogar „Kraft-durch-Freu-de"-„Gemeinde").
Auch der spezifisch moderne Akzent, der auf den Begriff
„Kameradschaft" gesetzt wird, gehört hierher. „Kameradschaft" in
diesem Sinne bedeutet Verbundenheit durch eine dingliche Größe, ζ. B.
durch die Arbeit, bedeutet aber keineswegs das totale Eingespielt- und
Eingestelltsein der I n d i v i d u a l i t ä t e n aufeinander, wie es etwa
im Begriff der „Lebens-Kameradschaft" zum Ausdruck kommt oder
besser: k a m . Die einzige Form, in der das Wesen der Ur-Kameradschaft — o h η e jenen modernen Akzent — noch bei allen Völkern
zum Ausdruck kommt, ist das Kameradentum der Front. Sonst ist es
typisch für den Kameradschaftsbegriff geworden, daß er eine s a eh
l i e h e Beziehung der Menschen zu einander meint, und zwar die
Beziehung in e i n e r ganz b e s t i m m t e n Sache. Die technisch
bedingte und deshalb kollektivistisch orientierte Großstadt zeitigt also
die neuè Gemeinschaftsform des genormten Typus oder der
„sachlichen" Kameradschaft. Innerhalb dieser Form hocken die
Menschen in großer Dichte beieinander; sie halten einfach schon in
physischer Hinsicht viel mehr Tuchfühlung miteinander als auf dem
Lande, wo jeder ganz anders „König" auf seinem Grund und Boden ist.
Und Könige sind bekanntlich Individuen in Distanz. Gleichzeitig wird
man nun sagen müssen, daß es kaum irgendwo solche
E i n s a m k e i t geben kann wie in der Großstadt. Nicht nur das
Untergehen in der Masse — etwa beim Bummel über die Hauptstraße
oder beim Kino-Besuch — vermag ein Gefühl tödlicher Verlassenheit
zu zeitigen, sondern vor allem auch die kollektivistische Form der
157
Begegnung mit dem andern (sofern man den Begriff der Begegnung
überhaupt hier noch anwenden möchte; denn an sich schließt dieser ja
ein Spannungsverhältnis der Individuen oder ihr Zueinander unter
einem höheren Tertium ein ; beides aber ist bei kollektivistischer
Entleerung nicht mehr möglich bzw. nicht mehr da). Denn diese Form
der Begegnung erfaßt ja immer nur einen ganz schmalen Sektor :
entweder die s a c h l i c h e Beziehung aufeinander oder das TypischAllgemeine, indem ein noch nicht ganz entleertes Menschentum sich ja
keineswegs erschöpft, sondern in dem es höchstens „anfängt". Auf der
andern Seite läßt diese Form der Begegnung den gesamten übrigen
Personinhalt unberührt: sie bezieht sich nicht auf „mein" Leid, „meine"
Schuld und „meine" persönlichen Freuden und Leiden. Diese sind
unter dem Stichwort „privat" aus jener Begegnung ausgeklammert.
So wird auch hier wieder das geheimnisvolle Doppelgesicht des
technischen Zeitalters sichtbar : Dem kollektivistisch engen
Beieinander entspricht ein Grad der Einsamkeit, der in dieser Gestalt
wohl ohne geschichtliche Vorläufer ist. Kein Wunder, daß deshalb der
moderne Mensch a u s e i n e r A r t S e l b s t h i l f e - A k t i o n
heraus jenen überschießenden persönlichen
Bereich abzuschleifen sucht, um das Terrain
s e i n e r E i n s a m k e i t l o s z u w e r d e n . Beim jahrelang
eingezogenen Soldaten finden wir ja (cum grano salis gesprochen), die
gleiche Tendenz: auch er beginnt oft genug selbst den Rest des Privaten
und Persönlichen (musische Neigungen etwa, aber auch Beziehungen
zu andern Menschen) auszumerzen oder auf Zeit abzustellen, weil es
ihn belastet und ihm die innere Leerheit seines gegenwärtigen Interims
allzu verwundend bezeugt.
d) Die Doppelseitigkeit der Technik wird noch an weiteren
Symptomen sichtbar. Auf der einen Seite bringt die Technik eine
Erleichterung des Lebens. Die spanischen Megalith
158
bauten „aus behauenen Steinen von gewaltiger Größe, von Deckplatten
im Gewicht von mehr als 100 ooo kg, die oft von weither
herangeschafft" werden mußten (Spengler, Der Mensch und die
Technik, S. 47), können jetzt in leichterer Form beigeschafft und
architektonisch verwendet werden. Langwierige und zeitraubende
Maßnahmen, die früher die Menschen brauchten, um miteinander in
Verbindung zu treten, sind jetzt vereinfacht durch zeitsparende
Verkehrsmittel, durch Telefon, Fernschreiber, Flugzeug und D-Zug.
Die gleichen erleichternden Maßnahmen bedeuten zugleich aber eine
Erschwerung des Lebens in einem früher nicht gekannten Ausmaß: die
helfenden Maschinen tragen auf der andern Seite dazu bei, daß eine
neue Form des Sklaventums entsteht: der Mensch nämlich, der keine
sinnhafte Beziehung mehr zu seiner Arbeit besitzt, weil er das
G a n z e ihres Prozesses nicht mehr überschaut, sondern in den
E t a p p e n dieses Prozesses hängen bleibt und das Werk selbst nicht
zu Gesicht bekommt. Die Maschine gestattet Typisierung im großen
Stil und die Typisierung gestattet ihrerseits wieder die Zerlegung des
Gesamtarbeitsganges in kleinste Teilabschnitte, die zumeist nur in
mechanischen Handbewegungen bestehen. Gerade die Erfahrungen des
totalen Krieges lehren, wie man auf diese Weise mit Hilfe der Technik
den Stamm an Facharbeitern reduzieren kann, indem man den
Arbeitsprozeß derart zerlegt, daß „ungelernte Frauenhände" ihn
bewältigen können. So entbindet die Technik in fortschreitendem
Maße, wenigstens bei der M a s s e , von den Fähigkeiten des Handwerklichen und züchtet einen Stand ungelernter Arbeiter, der dann das
Industrie-Proletariat bildet und im Verhältnis zu seiner Arbeit manche
Züge des Sklaven, des „Produktionsmittels", trägt. Er sieht sich
eingeschaltet in übergreifende Arbeitsgänge, in denen der einzelne nur
Rädchen ist, das um die Ganzheit des Arbeitsganges nicht weiß.
Sinnhaft leben heißt aber immer, um die Ganzheit wissen. Wird diese
ent
159
zogen, feiert die Sinnlosigkeit und damit der Nihilismus Triumphe.
In gleicher Weise zeigt sich „das anderé Gesicht" der Technik an
den zeitsparenden Verkehrsmitteln. Man wird nicht behaupten können,
daß wir wirklich durch sie m e h r Zeit bekommen hätten. Wir werden
eher sagen müssen, ohne nach den Ursachen zu fragen,'daß unsere Zeit
durch die angeblich sparenden Hilfsmittel „beunruhigt" worden ist und
zu einer restlosen „Ausnutzung" der Zeit geführt hat, ohne daß wir
auch hier zu sagen vermöchten, daß sie dadurch sinnvoller, „erfüllter"
geworden wäre. Daß sie das in der Tat n i c h t geworden ist, wird
daran sichtbar, daß auch kurze Zeitspannen nicht ausgefüllter Zeit den
Menschen angähnen, ihn nun ihrerseits durch Leere beunruhigen und
zu dem führen, was wir an anderer Stelle als „zeitliche Platzangst"
bezeichneten.
5. Gegenüber dem Versuch, die Technik entweder als gottgewollt
oder als teuflisch zu bezeichnen, ist es wohl gut, auch auf folgende
beiden Seiten aufmerksam zu machen, die es in ihrer
Zueinandergehörigkeit
offenbar
unmöglich
machen,
jene
vereinfachende Wertung „göttlich" bzw. „satanisch" zu vollziehen :
Auf der e i n e n Seite nämlich ist die Technik doch tatsächlich so
etwas wie V o l l z u g d e s S c h ö p f u n g s b e f e h l s , der uns
heißt, „die Erde Untertan zu machen". Wir nutzen die Naturgesetze
aus, um die Natur zu gestalten. Man wird aber sagen dürfen, daß ein
Vollzug des Schöpfungsbefehls uns den Intentionen des Schöpfers und
damit irgendwie auch ihm selbst n ä h e r kommen lassen müßte. Dem
steht nun die andere Seite des technischen Menschen gegenüber: daß er
nämlich zugleich der Schöpfung entfremdet wird und dem Schöpfer
gegenüber zu einer gewissen Gebärde der Selbstmächtigkeit neigt. Es
gibt nichts, was die Technik nicht erreichen könnte. Sie vollzieht in den
Augen vieler Menschen heute jene „Wunder", die einstmals Gott getan
haben soll.
160
Ein atheistisches Propagandablatt stellt es jedenfalls so dar: Auf der
einen Seite eine Familie, die beim Gewitter zum Gebet niederkniet und
um gnädige Abwendung des Unheils bittet. Auf der andern Seite die
gleiche Familie, die bei einem ebenso schlimmen Gewitter seelenruhig
um den Tisch herum sitzt : das technische Zeitalter .hat ihr einen
Blitzableiter beschert. Man fühlt sich nicht mehr „schlechthin
abhängig'* gegenüber dem Herrn, der über den Gewitterwolken thront.
Man hat sich selbständig gemacht.
6. Noch ein letztes, besonders eindrückliches Beispiel sei für die
Doppelgesichtigkeit der Technik beigebracht:
Die Technik bietet durch Presse und Rundfunk die M ö g lichkeit
geistiger
Beeinflussung
größten
S t i l s . Das Zeitalter der Weltänschauungskämpfe in dieser zeitlichen
Dichte, wie wir sie durchleben, wäre ohne die technischen Hilfsmittel
der Massenbeeinflussung schlechterdings undenkbar. Man nennt diese
Form der Beeinflussung „Propaganda". Die Propaganda arbeitet nun
keineswegs nur mit dem W o r t : Sie beeinflußt vor allem die
S i n n e , etwa durch akustische und optische Reize (ζ. B. durch
Plakate), durch den „Blickfang", durch AfBzierung der Nerven, durch
die Suggestion der Wiederholung. Auch wo das W o r t gebraucht wird
innerhalb dieser technischen Propaganda, wird es nicht in seiner
Eigenschaft als „Wort" gebraucht, d. h. nicht als Vermittler der
„Wahrheit" bzw. einer „Überzeugung", sondern durch die Art der
Betonung und durch seine Ausnutzung als Schlag-Wort (!) mehr im
Sinne psychischen Eindrucks. An dieser Stelle bekommen wir die
gesuchte Doppelgesichtigkeit in den Blick:
Während es zunächst eine unerhörte Chance zu sein scheint, mit
mechanischen Mitteln und im großen Stil die Menschen unter „Ü b e r
Z e u g u n g e n " zu bringen und sie dem Geist mit all seinen
Bereicherungsmögüchkeiten auszusetzen, werden sie durch das Wesen
der mechanischen Propaganda
161
zum Objekt von „E i n d r ü c k e n " gemacht, damit aber zu
Funktionen eines andern Willens. Man könnte es geradezu so
formulieren: Die mittelalterlichen Menschen etwa wurden durch
Ü b e r z e u g u n g e n gelenkt (d. h. durch das, was ü b e r ihnen
steht); der heutige Mensch wird durch E i n d r ü c k e gelenkt (d. h.
durch das, was u n t e r ihm steht, was nämlich an seinen inferioren
Ich-Teil appelliert). Indem er aber dergestalt Objekt der Einflußnahme
wird und indem Reklame und Propaganda ihn nicht als Subjekt
„verpflichten", wird er in den Prozeß der Mechanisierung selber mit
hereingezogen : er wird Gegenstand einer W i r k u n g , also
„Gegenstand"1). An dieser Stelle zeigt sich wieder einmal, wie die
Technik — in diesem Falle die technisch bedingte Propaganda — von
allen Seiten auf die Entpersönlichung des Menschen zudrängt.
Durch diese Beschreibung des technischen Phänomens unter dem
Gesichtspunkt der D o p p e l g e s i c h t i g k e i t ist uns die
Sphinxgestalt der Technik vielleicht besonders eindrücklich
entgegengetreten. Sie scheint sich jeder menschlichen Bewertung
völlig zu entziehen: indem man ein Kriterium für ihre Einschätzung
gefunden zu haben meint, scheint sie unter der Hand zum Gegenteil
dessen zu werden, was man mit Hilfe dieses Kriteriums gerade hoffte
gefunden zu haben.
Damit ergibt sich unsere erste Hauptfrage: das Problem nämlich, wie
nun dieses rätselvolle Antlitz der Erscheinung „Technik" zu verstehen
sei.
Die Technik als Werk des Menschen
Es kommt gerade in diesem Augenblick unserer Überlegungen alles
darauf an, daß wir die Gedankenrichtung nicht verfehlen :
1)
Der Begriff „Willens-Bildung" ist hierfür ein außerordentlich verräterisches Symptom.
162
E i n Weg des Weiterdenkens verbietet sich jedenfalls von
vorneherein :
ι . Wir dürfen nicht die positiven und die negativen Züge der
Technik jeweils addieren, um dann die entstandenen Summen
gegeneinander abzuwägen und auf diese Weise festzustellen, ob die
Technik „gut" oder „böse" sei. Das ist zwar der übliche, aber
keineswegs richtige Weg, geschichtliche Erscheinungen abzuschätzen.
„Es hat auch sein Gutes", „wir dürfen auch die Schattenseiten nicht
vergessen", „wo viel Licht ist, ist viel Schatten" — das sind die
üblichen Formen solcher Bewertung, vor denen man sich hüten muß.
2. Der einzig gangbare Weg besteht vielmehr darin, daß wir auf den
M e n s c h e n zurückgehen, der die Technik als sein Werk
hervorbringt. Diesel hat in dem zitierten Wort instinktsicher die
Richtung gewiesen: daß nämlich die Kernfrage der Technik darin
besteht, ob sie den Menschen w e i t e r b r i n g t . Wir dürfen
unsererseits hinzufügen, daß sie zugleich auch darin besteht, wieso der
Mensch an der Hervorbringung der Technik beteiligt ist. Der Mensch
als „Subjekt" und als „Objekt" der Technik — d a s ist ihr Problem,
nichts anderes.
a) Ich deute damit bereits an, daß die Technik als W e r k d e s
M e n s c h e n zu verstehen ist, daß also „Technologie"—in jenem
letzten theologisch zu verstehendem Sinn — ein Stück
„Anthropologie" ist. Daraus ergibt sich ganz einfach die
Notwendigkeit, zunächst festzustellen, was ein W e r k ist. Das
biblische Denken, besonders in seiner paulinischen Ausprägung,
beschäftigt sich ja immer wieder mit dieser Frage. Wir wenden uns
also in einem knappen Exkurs dem Problem der „Werke" zu, um von
dorther die Technik als anthropologisches Phänomen zu verstehen.
b) Im Werk und in seinen Taten bringt sich der Mensch selber zum
Ausdruck, er bekennt in ihnen Farbe und macht sichtbar, was in ihm
ist. Daß der Mensch tötet, ist ein Zei10 T h i e l i c k e , Fragen des Christentums.
145
chen dessen, daß ein Mörder in ihm verborgen ist, daß er stiehlt, verrät
den Dieb, und daß er die Ehe bricht, enthüllt ebenfalls ein Geheimnis
seines Herzens. Der Mensch offenbart sich ζ. B. in den Werken seiner
Kunst —: Wie anders ist der Mensch, der sich in einem griechischen
iTempel, und d e r Mensch, der sich in einem gotischen Dom bezeugt! Er
offenbart sich aber ebenso in den ganz banalen Verrichtungen seines
Alltags : Die Art, wie jemand in eine überfüllte Straßenbahn einsteigt,
kann mich abgründig tiefe Blicke in sein innerstes Personleben tun lassen.
Die Intensität des Ausdrucks, den der Mensch sich jeweils im Werk gibt,
hängt nicht von der Größe dieses Werkes ab. Ein Blick und eine
Handbewegung können verräterischer sein als eine ganze Autobiographie.
Im Gegenteil kann der Mensch sich durch die letztere mehr verhüllen als
offenbaren. Aber gerade diese Verhüllungstendenz bietet ja dann für den
Tieferblickenden — um ι nicht zu sagen: für das Auge Gottes — selbst
wieder eine Offenbarung des jeweiligen Menschen: er hat eben etwas zu
verbergen.
Weil also die Selbstenthüllung ganz unabhängig ist von der Größe
des betreffenden Werkes, kann es sehr wohl sein, daß ich jemandem
wegen einer Kleinigkeit (etwa wegen seines Einsteigens in eine
Straßenbahn) ernstlich böse bin, während ich einem andern etwas viel
Größeres (etwa einen Ehebruch) nachsehe. Beide „Vergehen" sind
eben nicht durch sich selbst wichtig, sondern durch die
zugrundeliegende Personhaltung, deren Symptom sie sind. Diesem
Wissen um die Hintergründe der Tat entstammt die Redeweise:
„Typisch für den ganzen Kerl".
Luther hat dasselbe Wissen in seiner Auslegung der zehn Gebote
dadurch sehr prägnant zum Ausdruck gebracht, daß er ihre Erklärungen
mit den Worten einleitet: „Wir sollen Gott fürchten und lieben . . ."
Damit deutet Luther an, daß die Durchbrechungen der Gebote
Symptom einer hintergrün
164
digen Un-Ordnung sind, nämlich Symptome des Zerbruchs mit Gott,
Symptome dessen, daß man Gott eben n i c h t mehr fürchtet und liebt.
Natürlich gilt auch das Umgekehrte : daß das Halten der Gebote aus
dem In-Ordnung-gekommen-sein-mit-Gott rührt. Aus d i e s e r Schau
der Dinge ist die biblisch reformatorische „Lehre von den Werken" zu
verstehen: die Lehre nämlich, daß der Mensch durch gute Werke nicht
selig oder auch nur „anders" werden könne. Er bringt sich eben immer
nur selbst „zum Ausdruck". Er mag zehnmal beten oder fasten: „Ist" er
ein Egoist, wenn auch in der sublimierten Form eines pharisäischen
Heilsegoisten, dann führt sein Beten und Fasten eben n i c h t über
diesen Egoismus hinaus, sondern intensiviert und verhärtet ihn nur, indem er ihm ständig zum Ausdruck verhilft. Das „Werk" ist der
Schatten, den der Mensch wirft. Kein Mensch aber kann über seinen
Schatten springen. Nur Münchhausen konnte sich, am eigenen Zopf aus
dem Sumpfe ziehen.
Was bedeuten diese Gedankengänge, die uns alle mehr oder weniger
geläufig sind, für das Thema der Technik?
Wir gingen von der Feststellung aus, daß die Technik „Werk" des
Menschen sei und ihn deshalb zum Ausdruck bringen und in seiner
eigentlichen Personhaftigkeit widerspiegeln müsse.
Um diesen Akt des Widerspiegeins zu erkennen, müssen wir uns
zunächst darüber klar sein, wer denn der Mensch i s t , der sich auf alle
Fälle in seinen Werken — und also a u c h in seinen
t e c h n i s c h e n Werken — wird spiegeln müssen.
Dieser Mensch ist für das biblische Denken durch zwei
Eigenschaften charakterisiert: dadurch nämlich, daß er auf der e i n e n
Seite Gottes Geschöpf ist und in vielen Zügen auf diesen seinen
Ursprung und zugleich auf seine Selbstbestimmung zurückweist. Und
f e r n e r ist er dadurch charakterisiert, daß er aus seiner
geschöpflichen Ordnung
10*
165
ausgebrochen ist, um sich selbständig zu machen und in ein
eigenmächtiges Gegenüber zu Gott zu treten.
Alles Nach-außen-treten des Menschen muß deshalb durch beide
Existenzzüge bestimmt sein: e i n m a l dadurch, daß er sich
g e s c h ö p f l i c h e r und deshalb gottgewollter Mittel bedient, um
zu handeln; er gebraucht dazu ζ. B. seinen Körper und seinen Geist. Er
bedient sich der geschöpflichen Naturkräfte und nützt die Naturgesetze
aus, die der Provi-denz des Schöpfers entstammen. Aber zugleich muß
sein Handeln nun seine S e l b s t ä n d i g k e i t zum Ausdruck
bringen. Da aber die Selbständigkeit im Zeichen des Bruchs mit Gott
steht, kann er sie — bewußt oder unbewußt — nur „polemisch" zum
Ausdruck bringen, nämlich so, daß er,seine Welt ohne und gegen Gott
einrichtet. Da endlich diese Selbständigkeit zugleich noch Zeichen der
Absonderung und des Falls aus der geschöpfJichen Ordnung ist, so
wird alles, was der gottgelöste Mensch tut, das Zeichen der Unordnung
und des Chaos an der Stirne tragen. Es wird mit chaotischen Mächten
geladen sein. „Was besteht, ist wert, daß es zugrundegeht". Die großen
Gestalter der Menschheit auf politischem und militärischem Gebiet
haben um diese Mächte des Chaos, um diese allem Geschaffenen
amalgamierten Fermente der Zersetzung gewußt, wenn sie in
seherischen Momenten ihren Blick bis zum Horizont des ZukunftsPanoramas schweifen ließen1).
Wenn wir nun das technische Werk des Menschen in diese
Anthropologie der Bibel einzeichnen, und das ist ja unsere-Aufgabe,
haben wir ganz einfach zu fragen, inwieweit sich diese doppelte
Orientiertheit des Menschen nun in ihm ausspricht. Wir werden sehen,
wie sich von hier aus tiefergehende Aufschlüsse ergeben über das, was
wir eben das „Doppelx) Um das Problem nicht zu sehr zu komplizieren, lassen wir hier die
Frage weg, inwieweit das Evangelium - etwa bei christlichen Staatsgründungen - durch die von Gott geschenkte Wiederverbindung mit ihm etwa
Gegenkräfte gegen den Sturz ins Chaos bietet.
166
antlitz der Technik" nannten: Sollte das, was zunächst nur eine
s a c h l i c h zu verstehende Doppeleigenschaft der T e c h n i k zu
sein schien, sich vielleicht als eine nur p e r s ö n l i c h zu verstehende
Doppeleigenschaft des M e n s c h e n entpuppen?
Der Aufstand der Mittel
Zunächst wird von dieser Anthropologie her ein Phänomen der
technischen Entwicklung verständlich, zu dem man ohne diesen Kompaß
schwerlich einen Zugang finden dürfte. ^ Es ist das, was man den
„Aufstand der Mittel" zu nennen pflegt.
Was versteht man darunter?
Die Technik besitzt ja die typischen Merkmale eines „Mittels": Sie
liefert ζ. B. Verkehrs-,,Mittel", sie liefert Propaganda-,, Mittel"
(Zeitung, Rundfunk usw.), sie liefert Her-stellungs-,,Mittel" (ζ. B.
Maschinen) für die verschiedensten Produkte. Ein Mittel aber ist von
Haus aus niemals Zweck, sondern eben — M i t t e l zum Zweck. Ein
Mittel aber ist wesensmäßig „in der Hand" des Menschen, der es
gebraucht und seine Zwecke mit ihm verfolgt. Es hat eine durchaus
dienende Funktion. Der Mensch ist ihm gegenüber „Subjekt", während
das Mittel selber nur „Objekt" der Verwendung ist. Je mehr sich nun
die Technik zur lebensbestimmenden Macht und zur Autokratie
entwickelt, um so mehr wächst sie dem Menschen a u s der Hand und
ü b e r den Kopf, um so mehr scheint sie umgekehrt selbst diktierendes
Subjekt zu werden und den Menschen in die Passivität einer ObjektRolle zu drängen, damit aber dann die Schöpfungsordnung chaotisch
zu verkehren.
Wenige Flinweise können das verdeutlichen: ι . Die Entwicklung der
Technik lehrt den „Aufstand der Mittel" bis zur Konstituierung der
weltanschaulichen Diktatur. Das wird an folgender Linie deutlich:
167
Die Technik zeitigt die Industrialisierung. Diese ihrerseits führt zu
den großstädtischen Menschenzusammenballungen und trägt dazu bei,
sie aus allen natürüch-geschöpflichen Bindungen zu lösen, sie also zur
amorphen Masse zu degradieren, und damit endlich dem inneren
Vakuum und dem Nihil auszusetzen. Die Industrialisierung begünstigt
ferner die Herausbildung des ungelernten Arbeiterstandes, eben des
Industrie-Proletariats, das keine Beziehung zum Sinn-Ganzen seiner
Arbeit mehr besitzt. Aus alledem pflegt als Endprodukt eine
nihilistische Diktatur in den verschiedensten Spielarten zu erwachsen.
Denn der ausgehöhlte und personlos gewordene Menschentyp ist der
stärksten Kommandostimme willenlos preisgegeben. Ich überlasse es
dem Leser, in welcher Art er die Konsequenzen dieses Prozesses durch
die hinter uns liegenden und durch das gegenwärtige Weltbeben
illustriert sieht, und in welchem Ausmaß er also geneigt ist, die Technik als konstitutiven Faktor der Realpolitik und der Weltanschauungsbildung anzusehen.
2. Ferner: Die Technik kann auf militärischem Gebiet für die
L a n d e s v e r t e i d i g u n g mobilisiert werden; die entstehenden
Rüstungsindustrien werden aber nun ihrerseits von der Gefahr bedroht
sein, — die vielfachen Kontrollmaßnahmen, um die man sich
staatlicherseits in aller Welt bemüht, zeigen deutlich genug, wie ernst
man sie wertet — auf irgendeine Weise das Gesetz des Handelns an
sich zu reißen. Ihnen wohnt, jedenfalls vom bloß ökonomischen Gesichtspunkt her, zweifellos die Tendenz inne, die produzierten
Rüstungsmittel nicht veralten zu lassen (Technik schreitet ja fort),
vielmehr die angesammelte potentielle Energie in kinetische
umzusetzen. Und selbst wenn.sie asketisch genug wäre, das bleiben zu
lassen bzw. wenn die militärische Unterlegenheit des Landes ein
Offensiv-werden verbieten sollte, so wird sie Bedrohungsgefühle .bei
den Nachbarn wecken, die ihrerseits zur Bildung eines offensiven
Zündstoffes beitragen werden.
168
Jedenfalls scheint die Technik eine besondere E i g e n g e s e t z l i c h k e i t zu kennen. „Eigengesetzlichkeit" bedeutet, daß
sich ein Vorgang vom M e n s c h e n als seinem auctor legis löst.und
ausschließlich der ihm selbst innewohnenden Dynamik folgt. Der
Mensch hört auf, zeugerisches oder auch nur lenkerisches Subjekt zu
sein und sieht sich seinerseits einem Prozeß eingegliedert, der sich a η
ihm vollzieht. Diese scheinbare Gelöstheit vom Menschen" bringt
jedenfalls der Satz vom „Aufstand der Mittel" zum Ausdruck: Die
Mittel haben sich verselbständigt und selber zu handeln begonnen. Sie
handeln a m Menschen.
Nietzsche hat diesen Prozeß der eigenmächtigen Verselbständigung
des technischen Mittels bereits ahnungsvoll durchschaut (585.
Aphorismus in „Menschliches, Allzumenschliches") : Die Menschheit
verwendet schonungslos jeden einzelnen als Material zum Heizen ihrer
großen Maschinen: „aber wozu denn die Maschinen, wenn alle
einzelnen (d. h. die Menschheit) nur dazu nützen, sie zu unterhalten?
Maschinen, die sich Zweck sind — ist das die humana comedia?"
Wenn wir diesen Prozeß, so wie er sich modernen Augen im
allgemeinen darstellt, auf uns wirken lassen, so scheint seine
Eigengesetzlichkeit gerade unserer These zu widersprechen, daß die
Technik ein „Werk" des Menschen sei, daß sie ihn deshalb zum
„Subjekt" habe und ihn in seiner Geschöpf-lichkeit und Sündhaftigkeit
„zum Ausdruck bringe". Lassen sich diese eigengesetzlichen Vorgänge
tatsächlich noch in den Rahmen einer1 Anthropologie einzeichnen? Ist
nicht umgekehrt der Mensch in den Rahmen des geschilderten und
über ihn hinweggehenden Prozesses einzuzeichnen?
Tatsächlich aber sind die genannten Vorgänge nicht aus der S a c h Gesetzlichkeit der Technik, sondern — wenn man so will — aus der
P e r s o n - Gesetzlichkeit des Menschen zu verstehen. Wir finden an
dem, was sich nach außen hin als Eigengesetzlichkeit kundzugeben
scheint, genau das demon
169
striert, was die Bibel am Verhältnis des Menschen zu seinem eigenen
Werk wirksam sieht:
Machen wir uns den Tatbestand nocheinmal an der schon im ι .
Kapitel besprochenen Geschichte .vom reichen Kornbauern klar (die
nur e i n Beispiel neben vielen andern ist für das Problem des „reichen
Menschen", wie es biblisch geschaut ist) (Luk. 12, i6f£): Der
Reichtum dieses Menschen ist sein Werk. Er hat mit planender Tatkraft
seine Scheunen gefüllt. Sein Verhängnis bestand darin, daß er nun dem
Fluch der Sicherheit verfiel: „Beruhige dich, liebe Seele, du hast einen
Vorrat auf viele Jahre". Ich sage: „er verfiel. .." — oder vielmehr der
biblische Bericht sagt es so zwischen den Zeilen. Es zeigt sich also, daß
sein eigenes Werk nun „Herr" über ihn wird, ihn sicher „macht" —
eben: ihn „verfallen" läßt. Ist es nun die Eigengesetzlichkeit des
Reichtums, die sich hier vollzieht? Nein! Daß der Reichtum dergestalt
Herr werden k o n n t e , lag an der Einstellung des Kornbauern zu
ihm: Er hatte Gott verloren und sich damit jeglichen Haltes beraubt.
Das macht ja seine Todesstunde offenkundig, die ein erschütterndes
Arm-sein-in-Gott bei ihm aufdeckt. Nur weil er d i e s e Gebundenheit
verloren hatte, band er sich an den Reichtum. Nur „in Gott",
oderneutestamentlich ausgedrückt: nur dann, wenn ihn der Sohn frei
gemacht hätte, wäre er ein freier Mann geworden und niemandem
Untertan gewesen. N u r d u r c h d i e K i n d s c h a f t und nicht
durch ein erträumtes Freiheitsideal k a n n m a n s i c h d e r
Sklavereientziehen.
Wir stoßen hier auf das tiefste Geheimnis des Menschenschicksals :
Irgendeine Bindung hat der Mensch i m m e r . Er gehört stets
jemandem. „Ihr könnt nur Gott dienen o d e r dem Mammon"; aber
einem von beiden m ü ß t ihr auch dienen. Mit vollem Recht sagt das
Sprichwort: „Wo man Gott zur Tür hinausjagt, da steigen die
Gespenster zum Fenster herein".
170
Luther hat deshalb in vielen Äußerungen das Bild vom
„ S c h l a c h t f e l d " abgewandelt, in dem der Mensch sich
dargestellt sehen müsse, vom Schlachtfeld, um das sich immer zwei
Herren streiten: Gott und sein Widerspieler. Der Mensch ist viel
weniger ein Mann, der Geschichte macht, oder ein Feldherr, der
Kriege führt — als vielmehr ein S c h l a c h t f e l d , um das die
Herren kämpfen. Nicht als ob der Reichtum oder die Technik „an sich"
böse wären! Sondern der M e n s c h ist böse, insofern er ihnen
verfällt und ihnen damit den Rang von Göttern einräumt. Als haltlos
Entbundener, als haltlos Verfallender macht der Mensch aus der
Technik die „Technokratie" und aus dem Gelde den Gott „Mammon".
Das Wagnis „Mensch"
Dieser Sturz aus der Freiheit der Gotteskindschaft — der einzigen
Freiheit, die es gibt — in das knechtische Ausgeliefertsein an die
Mächte wird an der Sündenfallgeschichte deutlich:
Es war das W a g n i s Gottes, im Menschen ein freies personhaftes
Wesen sich gegenüberzustellen; Wagnis insofern, als mit der Freiheit
auch das Risiko des Ausbruchs gegeben war; Gott „riskierte" den
Menschen und verzichtete auf die „Sicherheit" der Marionette. Daß
seine Kindschaft in einem freien Akt ständigen Ergreifens bestand, das
war die Würde dieser Kindschaft. Daß die Kindschaft nicht in einem
bloßen Prozeß bestand, sondern ergriffen werden mußte, das war ihre
Freiheit. Diese Freiheit besteht sozusagen nur einen Augenblick, sie ist
gleichsam punktueller Natur; sie besteht nur solange, wie die
Kindschaft währt und der Mensch aus der Perspektive der Kindschaft
heraus vor der Wahl zwischen Gut und Böse steht. (Es mag noch
ergänzend hinzugefügt sein, daß die ungebrochene Kindschaft
sozusagen die Wahl selber noch gar nicht ernsthaft in Erscheinung
treten läßt, weil sie noch im ständigen, eben „ungebrochenen"
Ergreifen
171
der Kindschaft besteht. Die geschöpfliche Freiheit besteht noch ganz
darin, daß der Mensch werden darf, was er soll; aber noch nicht darin,
daß er tun darf, was er will. Indem das letztere ernsthaft in Erscheinung
tritt, ist schon die Stunde der Versuchung. Zwischen beiden Formen
der Freiheit liegt schon ein abgründiger Wandel.) In dem Augenblick,
wo der Mensch gewählt hat, wo also Eva nicht mehr betrachtend und
vielleicht begehrend vor dem Apfel steht, sondern ihn gepflückt hat,
ergreift die Sünde das Gesetz des Handelns und wird zur Macht über
den Menschen. Nun beginnt sozusagen seine Geschichte, in der die
Sünde die Hauptrolle spielt. Genauer ausgedrückt ist es also so :
Die Abkehr von Gott und die Hinkehr zur Sünde ist nicht die
Bewegung zwischen zwei Möglichkeiten, die gleichermaßen dem
Menschen dargeboten wären und zwischen denen er hin und her eilen
könnte. „Möglichkeiten" sind Gott und Satan sozusagen nur in dem
e i n e n Augenblick, wo Eva zum Apfel aufsieht und Adam sich
überlegt, ob er hineinbeißen soll. Indem die Möglichkeit der Sünde
ergriffen und Gott verlassen wird, stürzt der Mensch sozusagen in die
Un-Möglichkeit. Das zeigt sich daran, daß im Augenblick, wo die
Möglichkeit „Sünde" ergriffen wird, ihr Charakter als Möglichkeit und
damit auch der revidierbaren, wieder zu kündigenden Möglichkeit
aufhört. Das was den Charakter der Möglichkeit konstituiert: nämlich das
Hin- und Hereilen zwischen . . . hört im selben Augenblick auf. Es gibt
nur ein Hineilen bzw. ein Von-Gott-Wegeilen. Aber ein Zurückeilen gibt
es nicht mehr. Die Möglichkeit ist zur Un-Möglich-■ keit geworden. Die
Tür ist zugeschlagen. Die Klinke ist nur an der Eingangsseite. Das, was
seine Möglichkeit war, ist zur Macht über ihn geworden. Seine Rolle
bestand im ersten Akt darin, Subjekt zu sein, und nun steht er der
jählings aufgebrochenen Macht des Bösen als Objekt gegenüber. Nun
muß er seinen Weg nach dem Gesetz beschüeße'n, nach dem
172
er — paradoxerweise f r e i w i l l i g — angetreten war. Aus dem
„Willen" ist der „geknechtete" Wille geworden, der Wille, der sich
verschrieben hat. Nichts anderes hat Luther mit dem Wort vom servum
arbitrium sagen wollen. Nun hat die Sünde den Menschen; nun muß
Kain seinen Bruder morden; und auch die von ihm erbaute Polis wird
ohne das Gesetz des Mordes nicht leben können; nun muß der
babylonische Turm gebaut werden, der trotz alles planenden
Aktivismus des Menschen nur ein Produkt seiner Hörigkeit ist. Denn
Aktivismus kann sehr wohl das Symptom einer passiven Hörigkeit im
Letzten sein.
In dieser Hörigkeit, in diesem Aufhören der „Möglichkeit", liegt es
begründet, daß der Mensch erst befreit werden kann, indem ihn Gott durch
s e i n e Tat wieder in die Kindschaft aufnimmt. In der Tatsache Christus
wird es erst wieder wirklich, daß nichts uns von der Liebe Gottes scheiden
kann, daß wir aufs neue in der Kindschaft geborgen sind (Rom. 8, 31 ff.).
(Über das Böse als eine Macht, die, einmal ergriffen, uns das Gesetz des
Handelns diktiert, vgl. Bergengruen, Der Großtyrann und das Gericht).
Von hier aus sehen wir den „Aufstand der Mittel", wie ihn das technische
Zeitalter gebracht hat, in ganz neuem Lichte. Er beruht nicht auf der
Eigengesetzlichkeit der Technik, sondern — wenn man so will — auf der
Eigengesetzlichkeit der Sünde. Das, was zunächst dem Menschen als eine
Möglichkeit in die Hand gegeben ist — und ein technisches Mittel besitzt
doch den Charakter der „Möglichkeit" — steht auf und wird zur Macht
über den Menschen. Es kann zu der Macht werden, weil der < Mensch
sich losgemacht hat und deshalb den ihn beanspruchenden Göttern des
Mammonismus, der Technokratie usw. ausgeliefert ist. Alles, was er tut,
muß ihm nun zum Ausdruck dieser Losgebundenheit werden und sie
zugleich noch intensivieren. Luther geht darin so weit, daß er selbst Essen
und Trinken in den Kreis jener Werk-Symptome einbezieht, die die
173
Sünde des Menschen zum Ausdruck bringen müssen. Selbst die
natürlichsten Lebensäußerungen, wie etwa die Nahrungsaufnahme,
verlieren den Charakter der Neutralität gegenüber Gut und Böse und
werden zu Symptomen der Existenzschuld des Menschen. So gewiß
diese Existenzschuld in der Ablösung von Gott besteht, werden sie zu
Symptomen der Unordnung und des Chaos, in das der Mensch nun
stürzt; und da der Mensch zugleich nie ohne Gott, sei es auch nur ohne
einen A b gott sein kann, so werden selbst jene Lebensäußerungen zu
Mächten und Göttern dieses Chaos. Spüren wir diesen Prozeß nicht
ebenfalls mit Macht? Ist die Magenfrage in der modernen Menschheit
nicht Ausdruck des Chaos geworden? Ist die Verteilung der
Lebensgüter in dieser Welt, über die sich die Götter nicht einigen
können, nicht ein Fanal des Völkerchaos und der Kriege ? Oder man
denke an den Spruch : „Lasset uns essen und trinken, denn morgen sind
wir tot" wird darin nicht zum Greifen deutlich, wie hier die scheinbar so
neutralen Vorgänge „Essen" und „Trinken" auf einmal zu Göttern
werden, die uns beherrschen? Alle Lebensvorgänge, alle „Werke", alles
Nach-außen-treten des Menschen wird zwangsläufig zum Symptom der
Irr-Bindung an den Götzen, dem er sich verschrieben hat. Diese
symptomatische Funktion kann deshalb „auch" die Technik
übernehmen. (Es ist gar nicht von ungefähr, daß wir so wenig von der
Technik und so viel vom Menschen reden müssen. Die Technik ist eben
kein selbständiges theologisches Problem, sondern nur eines unter
vielen Beispielen, in denen sich ein Vorgang zwischen Gott und
Mensch ausdrücken kann. Allerdings handelt es sich um ein besonders
prägnantes und um ein besonders akutes Beispiel.)
174
Die Dämonisierung des Menschen und seiner Technik
Verharrt etwa der Mensch in seiner programmatischen und
prometheischen Selbständigkeit, so muß ihm auch sein technisches
Unternehmen zum Ausdruck seines Trotzes werden; so erbaut er den
babylonischen Turm, um seine Selbständigkeit durch ein technisches
Unternehmen vor sich und andern und Gott zu demonstrieren. Die
gigantischen Möglichkeiten der Technik sind hierfür besonders
geeignet. Gleichzeitig intensiviert der Ausdruck die Sache selber: es ist
eine ständige Wechselwirkung, die man am Lebensgefühl des
technischen Menschen deutlich beobachten kann. Es gibt ein Pathos
der Technik, in dem sich das Bewußtsein von den unbegrenzten
Möglichkeiten, das Bewußtsein eines ständigen Fortschritts ausspricht,
in dem also der Mensch in höchst drastischer Weise einer völligen
Selbstüberschätzung oder besser: Fehleinschätzung verfällt. Dasselbe
zeigt sich am Verhältnis des technisch säkularen Menschen zu seinem
Mitmenschen: Seit er Gott verloren hat, ist auch der „Nächste" für ihn
nicht mehr von der Würde gezeichnet, die er als Kind Gottes, als Geschöpf Gottes hatte. Er wird zum Produktionsmittel, zur Arbeitskraft.
(Es ist erschütternd zu sehen, wie versachlicht die Redeweise vom
Menschen wird: Lehr-„Kräfte", Menschen-,, Material" u. ä.). Das
mechanische Prinzip der Technik eignet sich ganz besonders, Ausdruck
der Personlosigkeit zu werden und — diese Personlosigkeit durch
fortschreitende Mechanisierung der menschlichen Arbeit weiter zu
intensivieren. Bis sich auch hier zeigt, wie mit alledem nicht etwas
geschehen ist, was mari sofort lassen könnte, nachdem man seine
Schädlichkeit erkannt hat, sondern wie damit eine Macht auf den Plan
getreten ist, der man nun verfallen muß; nicht nur daß der Typ des
Kollektiv-Menschen selber, und zwar rein quantitativ, eine Macht wird,
mit der man rechnen muß, sondern auch so, daß die Entpersönlichung
nach allen Men
175
sehen dieser Zeit greift und wahrlich nicht zuletzt nach dem
Unternehmer selber: ist der Typ des Ingenieurs oder des Industriellen
nicht selber weithin personlos geworden? Was stellt er denn noch
abgesehen von seinem „Beruf" vor — vom Christlichen einmal ganz
abgesehen, nur im Hinblick auf die Humanität?
So ist einfach die Technik, weil der Mensch keinen Halt in Gott
besaß, über ihn gekommen und muß ihm nun zum Ausdruck seiner
Sünde dienen : Sie muß ihm zum Mittel seines Machtrausches, seiner
Hybris, seiner Degradierung des „Nächsten" werden. Sie dient ihm
zum makrokosmischen Ausdruck des Mikrokosmos seines Herzens,
und was man früher flüstern mochte im Dunkel, das erschallt jetzt von
den Dächern und verrät sich in den Lautsprechern. Die Tendenz des
Menschenherzens, die sich hier ausdrückt, wird von ihrem Ausdruck
her selbst gewirkt und weiter intensiviert. Der Mensch ist Subjekt und
Objekt des Ausdrucks zugleich. Das meinen wir mit dem Begriff
„Aufstand der Mittel".
Die Technik ist also keineswegs an sich böse; genau so wenig, wie
der Götze oder das Götzenopferfleisch an sich böse sind (i. Kor. 8). Sie
werden es nur, indem ich ihnen verfalle. Es ist nur ein Bösesein „quoad
me". Diese Form der Dämonisierung soll an zwei Beispielen
demonstriert werden, einem modernen und einem biblischen:
Der Film ist ein besonders eindrückliches technisches Phänomen. Im
Anschauen vergißt man freilich, welche Unsumme an technischer
Leistung und Organisation dazu gehört, bis das Bild auf der Leinwand
erscheint. Die wenigsten unter uns sind über diese technischen
Vorgänge unterrichtet. Man nimmt nur ihre Ergebnisse in Anspruch,
ohne sie selber zu verstehen. Gleichzeitig aber stehen wir doch vor
folgenden bemerkenswerten Tatsachen: Die technische Gipfelleistung
des Ton- und Farbfilms dient nicht selten und im Durchschnitt
eigentlich sogar meist dazu, irgendeine inhaltliche Nichtig
176
keit darzustellen. Auch filmische Sachverständige wissen es und
sprechen es aus, daß das Problem des Films nicht primär im
Technischen, sondern im — Manuskript, also beim Autor liegt. Wenn
man beim Film von „Durchschnitt" spricht oder sich über eine
läppische Nichtigkeit oder eine Tendenz ärgert, deren „Absicht" einen
„verstimmt", so meint man nicht das technische Niveau, sondern meint
den Inhalt des Gesagten bzw. den Nicht-Inhalt des Gesagten. Im
Mangel an guten Film-Manuskripten bezeugt sich, daß unsere Zeit
offenbar — von wirklichen Ausnahmen abgesehen — im allgemeinen
wenig zu sagen hat, wenigstens auf jenem Gebiet des Menschlichen,
das der Film im allgemeinen als seinen Gegenstand behandelt. Das,
was wir früher „Nihilismus" nannten, drückt sich hier als Nichtigkeit
aus. Und es wirkt gerade deshalb so erschütternd, weil die Nichtigkeit
hier mit einem ungeheuren Apparat an technischen Mitteln
ausgesprochen wird. (Das gleiche gilt natürlich vom Rundfunk.) Selbst
wenn wir annehmen, daß der Durchschnitt der Menschen, an den sich
der Film vor allem wendet und von dem er auch stammt, in früheren
Zeiten ebenfalls von banalen Dingen innerlich gelebt hat, besteht der
Unterschied dennoch deutlich d a r i n , daß die Nichtigkeit früher
verhüllter und weniger aufdringlich in Erscheinung trat, während sie
nun ihre Gesten mit dem verlängerten Arm der Technik vollzieht. Der
Unterschied liegt ferner darin, daß mit alledem die Suggestion der
Nichtigkeit selbst ungleich größer wird.
Biblisch kommt der gleiche Tatbestand an der Geschichte vom
Turmbau zu Babel zum Ausdruck; vielleicht deshalb besonders
eindrücklich, weil dieser Turmbau ja eine technische Seite hat. Indem
der Mensch Gott abzusetzen versucht, schnellt nun sein eigenes Haupt
in die gefährlichen Regionen empor, die Gott gehören. Da er den
Mittelpunkt verloren hat, wird er selbst, Mittelpunkt. Das drückt sich in
allen Lebensäußerungen und deshalb natürlich a u c h in sei
*177
nem Bauen aus. Hier darf nun folgende Beobachtung «nicht übersehen
werden (wir deuteten das oben bereits an): Zu diesem Bauen aus der
Hybris heraus gehört ein Aktivismus im großen Stil — Hybris selbst
geht ja immer mit Aktivismus zusammen, gleichsam einer
blasphemischen Imitation des göttlichen Schöpferhandelns —; es
gehört dazu tathafte Planung und konstruktive Kraft. In Wirklichkeit
aber ist entscheidend, daß der Mensch inmitten dieses aktivistischen
Aufschwungs bereits hörig und sozusagen passiv ist: Indem er sich
gegen Gott aufgelehnt hat, ist er in den Bann seiner selbst geraten, in
den Bann der Hybris und der Egozentrizität.
Dadurch aber wird er sofort, sozusagen in einer neuen Phase seiner
Passivität, zum Mißtrauen gegen den Mitmenschen gedrängt. Indem
die Menschen nämlich nicht mehr „unter Gott" leben, beginnen sie sich
voreinander zu fürchten. Denn nun stehen sie unter der Herrschaft ihrer
Instinkte, ihrer Leidenschaften, ihres Mißtrauens, ihres Ehrgeizes und
ihres Machttriebes. Nun muß man sich voreinander fürchten. Denn
während der Mensch unter Gott berechenbar und deshalb
vertrauenswürdig ist — man weiß eben, nach welchen Normen er
handeln wird —, ist der von Gott gelöste Mensch unberechenbar. Man
bekommt dann unwillkürlich den ängstlich-mißtrauischen, den
„babylonischen Blick". Und wiewohl der Turm ursprünglich geplant
war, um die Menschen zu s a m m e l n um ein gemeinsames Werk —
man ahnte heimlich eben doch die Zerstreuungstendenz der gott-losen
Einstellung —, wird er gegen den Willen der Erbauer zu einem Ferment der Zersetzung. Was er in einem gigantischen Kräfteaufwand
sammeln sollte, muß nun der Zerstreuung und der Angst voreinander
dienen:
„Denn Täter werden nie den Himmel zwingen Was sie vereinen, wird
sich wieder spalten . . . " So zeigt sich, wie gerade die gottlosen
Tatmenschen in einem Banne und in einer Knechtschaft handeln, mit
der sie
178
nicht fertig werden, und wie die Technik als ihr gigantischer
Tatausdruck diese Knechtschaft nur härter und gefährlicher macht, wie
sie die Angst erhöht und das Müssen versteift. Dié ganze folgende
Menschengeschichte ist von diesem Turmbau abhängig: Mißtrauen,
Angst voreinander und egoistischer Expansionsdrang werden in alle
Zukunft die entscheidenden schöpferischen und zersetzenden Faktoren
der Geschichte sein. Zugleich wird an diesem Beispiel deutlich, daß
die völlig unsichtbare und hintergründige Entscheidung gegenüber
Gott die größte und einzig realistische Geschichtsmacht ist und daß
alles andere, was nach außen imponierend in Erscheinung tritt — ζ. B.
jenes gigantische architektonische Monument — in Wirklichkeit nur
vordergründiges Symptom dessen ist, was die eigentlich großen
Entscheidungen hervortreibt. Granit und Beton scheinen realistische
Größen zu sein und die Gottesfrage eine unsichtbare und fast unwirkliche Ideologie. Wir haben gesehen, daß es sich umgekehrt verhält
(vgl. i. Kapitel über Realismus und Traum).
Zusammenfassung: Die Selbstenthüllung des
Menschen durch die Technik
Wenn wir also cum grano salis sagen dürfen, daß der babylonische
Turmbau ein Paradigma technischen Handelns sei, haben wir gesehen,
wie die Technik „Werk" des Menschen ist, wie sie deshalb auch zum
Medium seiner Sünde werden und ihm zugleich zur Knechtschaft unter
der Sünde dienen muß, ja wie sie den Prozeß des Abfalls selber
vorantreiben muß. Was ursprünglich technische Entbindung der Schöpfungskräfte sein wollte, wendet sich nunmehr gegen die Schöpfung;
was eine Begabung war, wird zur Hypothek; was ein Mittel zur
Erschließung der Schöpfung war, wird zum Mittel ihrer Verschließung.
Wer nicht hat, dem wird auch das genommen werden, was er hat.
11 T h i e l i c k e , Fragen des Christentums.
161
Das Thema der Technik ist der Mensch. Hier liegt der Schlüssel für
ihr Verständnis. Die Geschichte der Technik wird d e s h a l b 2u einer
Krankengeschichte, weil der Mensch krank ist. Es wäre Unsinn, die
Technik zu dämoni-sieren oder zu diskreditieren.
Die Frage einer Wende des technischen Zeitalters ist deshalb selbst
keine technische Frage, ζ. B. auf keinen Fall die einer technischen UmOrganisation. Sondern sie ist eine Frage der Seelsorge und — der Buße.
Nur seelsorgerliches und büßendes Handeln setzt die Therapie an dem
genuin ge-schichtsschöpferischen Ort an, nämlich dort, wo die Gottesfrage entschieden wifd. Selbstverständlich wird èine Umkehr des
technischen Zeitalters auch viele technische und organisatorische
Maßnahmen bringen, mit deren Hilfe die Technik in den D i e n s t des
Menschen gestellt wird (ζ. B. auf kulturellem und sozialpolitischem
Gebiet). Aber derartige Maßnahmen können, wenn sie wirksam sein
und nicht eine gefährliche Symptom-Therapie werden sollen, nur selbst
wieder Ausdruck einer veränderten Herzenshaltung zu Gott und einer
dadurch gewandelten Einstellung zum Nächsten werden. Fehlt diese
Voraussetzung, so werden die „guten Werke" (auch auf sozialem und
kulturellem Gebiet) nur zum Fluch. Und es gehört ja kein besonders
scharfes Auge dazu, um zu erkennen, wie etwa die sozialen, dem
Menschen dienen sollenden Maßnahmen den Prozeß der Vermassung
und damit der Degradierung des Menschen gerade voranpeitschen
müssen, solange die Wandlung im Zentrum ausbleibt. So ist es zu
verstehen, daß jeder bisherige Versuch, mit Hilfe sozialpolitischer
Maßnahmen der technisierten Arbeit wieder Seele und dem
technisierten Menschen wieder Würde zu geben, scheiterte und
scheitern mußte, weil die einzige Immunisierung gegen ihn in der
Kindschaft des Herzens gegeben ist. Nur solange wir Kinder im Vaterhause sind, können wir nicht Knechte werden. Der Gegensatz zur
Knechtschaft ist nicht Freiheit, sondern Kindschaft.
Damit kommen wir zur Formulierung unserer Ergebnisse: ι. Der
entscheidende Faktor in der Technik ist der Mensch. — Er drückt sich
in der Technik aus. Sie wird ihm zum Symptom. Insofern verändert sie
ihn nicht, sondern intensiviert seine Ausdrucksformen. In dem
Augenblick, wo ich dies schreibe, ist der Äther von zweierlei Stimmen
erfüllt: Einmal von den Rundfunkwellen Bachscher Musik und damit
von den Tönen der musica sacra, den Boten des Heiligen. Er ist aber
zugleich erfüllt von den Radiowellen gemeiner Propagandalügen, die
wie ein giftiger Anhauch die Atmosphäre verpesten. Es ist eben der
Mensch, der sich in seiner Doppelseitigkeit hier zu erkennen gibt, nur
in makrokosmischen Ausmaßen. Früher hat man auch heilige Musik
gemacht, aber sie klang auf in der kleinen und geschlossenen
Gemeinde der Andächtigen, jetzt umhüllt sie atmosphärisch für
Augenblicke den Globus. Früher hat man auch gelogen; aber es wurde
geflüstert und geschah in der Heimlichkeit der Nächte. Was man aber
früher flüsterte, erschallt jetzt von den Dächern und aus den
Lautsprechern. Es ist derselbe Mensch wie ehedem; aber seine
Symptomatik hat sich intensiviert und hat kosmische Dimensionen
angenommen.
2. Die Menschheit schreitet zwar immer fort, doch der Mensch
bleibt ebenso gewiß immer derselbe. Er marschiert in den
entscheidenden Fragen seines Lebens immer auf der Stelle. Das hatte
Diesel richtig gesehen in dem früher zitierten Wort. Tod, Leid und
Sünde sind die Mächte, über die hinaus es keinen Fortschritt gibt.
3. Entscheidend ist, welches Vorzeichen vor der Klammer unseres
Lebens und unserer Kultur steht. Gerade die Technik als „Mittel"
nötigt ja die Frage nach dem Zweck auf, in dessen Dienst sie gestellt
wird. Deshalb wird sie in gewissem Sinne zu einem Bild des Lebens
selber, das ebenfalls nur Mittel ist und von der Sinn- und Zweckgröße
her bestimmt wird, der es sich unterstellt. Weder politische noch
11*
163
militärische noch berufliche Erfolge auf der privaten Ebene sind aus
sich selbst, d. h. um des bloßen Erfolges willen, sinn-haltig. Das
gleiche gilt vom Fortschritt und vom Erfolg der Technik'. Diesel hegte
schon die richtige Vermutung, wenn er das bezweifelte. Der
erfolgreichste und technisch fortschrittlichste Farbfilm erinnert einen
oft mit schier zermalmender Wucht daran, welcher Aufwand an
technischen Mitteln vertan wird, um eine mehr als kitschige Liebesgeschichte zu inszenieren und in Millionen Seelen geduldiger Opfer
hineinzuwürgen.
Die Technik als ein Faktor des Mittels lehrt uns unüber-hörbar, auf
die letzte Sinngebung unseres Lebens, auf das Vorzeichen vor der
Klammer zu sehen. Und wenn nicht alles trügt — ich schreibe dies im
August 1943 — wird die Erfolgs-anbetung und die bloße
Leistungssumme innerhalb einer Klammer, vor der das Vorzeichen
vergessen wurde, von Gott in einem geradezu apokalyptischen Gericht
ad absurdum geführt.
I
Der Realismus der unsichtbaren Welt
Damit kommen wir zum eigentlichen Endergebnis unserer
Betrachtung:
ι. Die Technik ist scheinbar die größte und am meisten
„geschichtemachende" Autorität unserer Zeit. Das Stichwort
„Materialschlacht" sagt darüber alles1). Die Industrialisierung macht
auch im Frieden das Leben und nicht zuletzt seine weltanschaulichen
Sinngebungen zu einer einzigen MaNoch mehr heute (1946) das Stichwort „Atomzertrümmerung". Aus
den mancherlei Konferenzen darüber erreichen uns Stimmen, die den Eindruck erwecken, als sei sich die Menschheit einen Augenblick darüber
klar, was es heißt, daß dies „Mittel" in ihre Hand gelegt ist. Es kann einen
eine gewisse Melancholie überkommen, wenn man daran denkt, daß die
Beherrschung dieses Mittels nicht von einer organisatorischen Maßnahme,
sondern von der Erneuerung auf einer ganz anderen Ebene abhängt. Alles
andere kann im besten Falle nur retardierende Bedeutung haben.
182
terialschlacht. — Und doch ist die schlechthin dominierende .
Geschichtsrealität, sagen wir einmal: die „norma normans", von der die
Technik ihrerseits abhängt, der von Gott geschaffene und abgefallene
Mensch. Ihm dienen alle Phänomene des Lebens — von der Welt des
Sexus bis hin zur ganz andern Welt der Technik — als Formen, in denen
er dieses sein Sosein ausdrückt und seine heimliche Natur verrät. Realer
als alle Konstruktionen des babylonischen Turmbaus waren Schuld und
Gericht, obwohl man jene sehen und bewundern konnte, während diese
unsichtbar sind und gleichsam dem verborgenen Hintergrunde der Welt
angehören. Der babylonische Turm war ja nur A u s d r u c k , nur
S c h a t t e n der eigentlich realen Mächte, nämlich der Mächte
„Schuld" und „Gericht". Das Verhältnis von „Wirklichkeit" und
„Schatten der Wirklichkeit" ist anders, als es auf den ersten Blick
scheinen möchte. R e a l e r a l s d a s S i c h t b a r e i s t d a s U n s i c h t b a r e . An dem genannten Beispiel wird das auch für die ratio
bis zum Greifen deutlich. Deshalb sind die weltanschaulichen
Entscheidungen und vor allem das, was Gott mit uns vorhat, realer als
alle militärischen Aktionen, die nach den Kräfteverhältnissen „real"
berechnet, an ihren Spuren in der Landschaft „real" abgelesen werden
können und in Dokumenten „real" niedergelegt sind. Man nennt die
reale Niederlegung in Dokumenten auch „Objektivität" und bezeichnet
demgegenüber die jenseitige Wirklichkeit, deren Ausdruck sie
„möglicherweise" sind, als ¿,subjektiv". Denn „Religion ist
Privatsache". Merkt man jetzt, welcher Wahnsinn diese Beziehung von
subjektiv und objektiv, von Realität und metaphysischem Traum ist?
Merkt man nicht endlich, daß sich alles genau u m g e k e h r t verhält,
wie es nach außen scheint?
2. Man kann nach allem Gesagten also nicht der Technik helfen,
indem man gleichsam auf die technische Ebene selbst tritt und mit
technischen Mitteln ihre Eigengesetzlichkeit in
183
Schach hält. Wenn ich nicht irre, hat man vor einigen Jahren einmal
einen Rasierklingen-Automaten verboten, weil er so und so viele
Arbeiter, die vorher in dieser Branche beschäftigt waren, brotlos
gemacht hätte. Sofern diese Maßnahme nur angesichts eines
erschreckenden Auswuchses der Technik ergriffen wird, ist sie reine
Symptom-Therapie und kann der technischen Selbstvernichtung des
Menschen nicht ernstlich abhelfen. Genau so wenig, wie dieser
Selbstvernichtung auf die Dauer etwa durch diplomatische
Abmachungen darüber gesteuert werden kann, daß man diese und jene
Angriffswaffen oder diese und jene chemischen Kampfstoffe nicht anwenden wolle. Gerade am letzten Beispiel wird das Grundanliegen
unserer Besinnung noch einmal deutlich: daß die Heilung nicht von den
technischen Symptomen ausgehen kann, sondern daß der in Unordnung
geratene und in der Technik sich ausdrückende M e n s c h sich helfen
lassen muß.
Es geht um keinerlei Rezept für die technische Weiterentwicklung
— sie geht unabhängig von allen Rezepten und retardierenden
Momenten die Einbahnstraße ihres Fortschritts weiter; man kann das
Rad der Geschichte nicht nur nicht zurückdrehen, sondern auch keinen
Augenblick abbremsen oder gar zum Stillstand bringen -; ich sage: es
geht um kein Rezept für die technische Weiterentwicklung, sondern es
geht um den Bußruf an den M e n s c h e n des technischen Zeitalters.
Es geht nicht um ein Problem der Organisation — oder doch nur
insofern, als sich in der Organisation der entscheidende Neuansatz
jener inneren Wandlung zum Ausdruck bringt und als in der
Organisation gewisse „Folgerungen" gezogen werden —, sondern es
geht um das Problem der Umkehr, der H e i m - Kehr.
Das Thema der Zukunft besteht also nicht darin, daß das
Evangelium die Technik sanieren könnte, sondern darin, daß der
Mensch des technischen Zeitalters sich von Christus zur
184
Ordnung rufen und in den Frieden mit Gott bringen läßt.
Der Schlüssel zu allen bedrängenden Zeitproblemen liegt nicht in
gewissen politischen, militärischen oder technischen Patentlösungen.
Auf d i e s e r Ebene sind alle Mächte, die heute im Kampf
miteinander liegen, sozusagen gleich oder doch nur quantitativ
unterschieden — unterschieden nämlich nur je nach dem Rang ihrer
Intelligenz, je nach dem Energie-Quantum, das sie aufzuwenden
vermögen oder nach dem industriellen und biologischen Potential, das
sie in die Waagschale werfen können. Jedenfalls handelt es sich auf
dieser Ebene um rein graduelle Unterschiede. Auf dieser Ebene können
deshalb auch keine letzten Entscheidungen ausgetragen werden,
nämlich keine Entscheidungen von q u a l i t a t i v e m Gewicht.
Diese Entscheidungen fallen überhaupt nicht auf der Ebene der Mittel.
Denn diese Mittel sind ja gerade im Aufstand begriffen. Sie sind ja
unsere Not. Es geht u m d e η M e n s c h e n s e l b e r , der hinter all
diesen eigengesetzlichen Prozessen steht, die ihn als exousiai (als
Mächte) beherrschen wollen. Um d e s s e n Sanierung geht es :
Die e i g e n t l i c h realen Schicksalsentscheidungen fallen, wenn
man so will, auf der Ebene der Anthropologie, nicht der Technologie.
Genauer ausgedrückt, können wir sagen: Sie fallen an dem Ort, den die
Bibel „Herz" nennt. Hier ist der einzige strategische Punkt, von dem
aus die verworrene Weltlage zu beherrschen ist. Das Herz- aber steht
vor Gott. Und nur in Gemeinschaft mit Gott werden wir dem Prozeß
der Entpersönlichung und der Mechanisierung entzogen.
Man kann sich das nicht realistisch genug vorstellen : Denn vor Gott
bekommen wir einen unendlichen Wert, bekommen wir die dignitas
aliena, n u r vor ihm: Wir sind ja von ihm geschaffen, Jesus Christus
ist für uns gestorben, wir sind geliebt, wir sind teuer erkauft, wir sind
Gottes Augapfel. Nur indem ich den andern vor diesem Hintergrunde
stehen sehe, indem ich ihn gleichsam vor dem goldenen Himmel der go
185
tischen Maler sehe, der ihn auf die Glorie Gottes bezogen sein läßt, bin
ich nicht mehr imstande, den andern als Mittel zum Zweck zu
mißbrauchen (Kant), zum „Produktionsmittel" und technischen
Rädchen zu degradieren oder zum Objekt einer bloß
propagandistischen Einflußnahme, auch in den letzten Fragen seines
Lebens, zu machen. Vor d i e s e m Hintergrund wird er mir zum
Nächsten, wird er zu einem Manne, der die goldene Kette göttlicher
Würde um den Hals trägt.
Nochmals: Es geht nicht darum, daß das Evangelium die Technik
saniert, sondern es geht um die Heimkehr des M e n s c h e n .
Auf den Gesichtern unserer abendländischen Intelligenz beginnt sich
— für den Wissenden deutlich sichtbar — schon seit längerem „eine
gewisse Unseligkeit" abzubilden (Peter Wust), eine Unseligkeit, die
davon zeugt, daß die Lösung aller Lebensgebiete von Gott keine
Befreiung, sondern ein großes Scheitern und eine schlimme
Knechtschaft gebracht hat. Sie sind und bleiben „ohne Trost der
eigenen Sakramente"; „wir steigen arm von unserem Thron" (Gerh.
Schumann). Der Weg der abendländischen Menschheit gleicht dem
Weg des verlornen Sohnes in die Fremde: Der suchte ja auch zur
Freiheit gegenüber dem Vater zu kommen und strebte in die Fremde
eines autonomen Abenteurertums. In Wirklichkeit aber geriet er in die
Unfreiheit einer schauerlichen Knechtschaft, von der aus er plötzlich
die Freiheit erkannte, die er unter den Augen des Vaters besessen hatte:
Auf dem Weg in die Freiheit geriet er unter die Knechtschaft seiner
Triebe, des Mammons, der Menschenhörigkeit - wurde er in den
Aufstand der Mittel verstrickt. Auch das Verhältnis von Bindung und
Freiheit sieht wesentlich anders aus, als es der Abenteurerdrang
menschlicher Autonomie immer wieder träumt.
Darum gibt es in dieser Weltsituation, die uns im Spiegel
186
der Technik entgegentrat, nur den gleichen Ruf zum Zurück, der auch
den verlornen Sohn traf. Dieser Ruf ist, wie gesagt, kein
Sanierungsprogramm, sondern er ist ein Bußruf. Buße aber heißt
Heimkehr des Kindes zum Vater.
Gott wartet auf uns, darum leben wir noch. Und wir haben die
Verheißung, daß denen, die nach dieser Heimat, nach diesem Reiche
trachten, das andere alles zufallen werde: nämlich die Befreiung von
den Mächten, von der Personlosigkeit, von der Mechanisierung, vom
Fluch des Vergeltungsprinzips und dann auch vermutlich in einem
späteren Stadium die ganz konkreten und organisatorischen
Maßnahmen, in denen sich diese Befreiung nun ihrerseits wieder
„ausdrückt". Es geht um nichts anderes als um das Rückfinden zu
unserer Bestimmung. Alles andere, was auf der Ebene der Politik oder
der Wirtschaft geschehen kann, ist nur Symptom-Therapie, die
Augenblickserfolge bringt, aber den Organismus nicht kuriert:
Nochmals: „Die Täter werden nie den Himmel zwingen . . ." (Reinhold
Schneider).
Wir können nur das sagen, was Gerhard Schumann wie in einer
fernen Ahnung sagt — mitten aus der Unseligkeit des gescheiterten
und verlorenen abendländischen Menschen heraus:
„Wir löschen unser Licht — nun leuchte d u".
187
VIERTES KAPITEL ÜBER DIE WIRKLICHKEIT DES
DÄMONISCHEN DAS GEHEIMNIS DER
ÜBERPERSÖNLICHEN MÄCHTE
Der Ort der Verfallenheit
Im Zeitalter der Massenbewegungen, der Massensuggestion und der
Propaganda werden wir in besonderer Weise auf die Mächte des
Überpersönlichen gestoßen.
Wir untersuchen unter diesem Gesichtspunkt nunmehr die
überpersönliche Macht des Bösen, jenen Bereich also, über den der
Mensch nicht verfügt, weil er in bestimmte, ihn gleichsam
verschlingende Tatbestände hineingerissen ist, ohne daß er dadurch der
Verantwortung enthoben wäre. Die Tragödien nennen diese dunkle
Verschlungenheit von persönlicher und überpersönlicher Schuld
„tragisch" und stoßen auf eine letzte Unscheidbarkeit von „Schuld"
und „Schicksal"1).
Die Bibel spricht von der teuflischen, der satanischen Macht.
Wir sahen in den ersten beiden Kapiteln, wie im Säkularismus eine
Krisis der Wertespannung „Gut und Böse" gegeben ist. Diese Krisis
drängt geradezu auf den völligen e t h i s c hen N i h i l i s m u s zu,
der sich gerne und sehr euphemistisch als „jenseits von Gut und Böse"
bezeichnet (Nietzsche).
Wir versuchen demgegenüber nun, den letzten biblischen Rahmen
um die Realität des Bösen aufzuzeigen. Im Zeitalter der Machtkämpfe
kommt alles darauf an, den letzten
x) Vgl. das Buch des Verfassers „Schuld und Schicksal. Gedanken eines
Christen über das Tragische", Berlin 1936.
188
strategischen Rahmen des Weltgeschehens und die letzten miteinander
kämpfenden Partner zu erkennen. Wir versuchen zu zeigen, daß sich
nur ;in Kenntnis dieses Rahmens Geschichte verstehen läßt und daß
die säkulare Geschichtsschreibung, weil sie diesen Rahmen eben
n i c h t kennt, hilflos in den vordersten Vordergründen herumstolpert
und nur das technische, politische, militärische und wirtschaftliche
Rohstoffmaterial des e i g e n t l i c h e n Geschehens vor Augen hat.
Man könnte auch sagen, daß zum echten Verständnis der
Geschichte die K a t e g o r i e d e s A p o k a l y p t i s c h e n
gehöre. Insofern ist die Offenbarung Johannis die Lehrmeisterin alles
Geschichtsverstehens, das über die Vordergründe hinausstrebt.
Über die Wirklichkeit des Dämonischen zu sprechen ist nicht leicht.
Denn es kann dabei keinesfalls um eine Zusammenstellung von
Bibelzitaten gehen. Solange wir nur in dieser Weise statistisch
verfahren, stehen wir nicht der W i r k l i c h k e i t des Dämonischen
gegenüber. Es könnte dann immer noch „Mythologie" sein, d. h.
mythisch-vorzeitliche Kostümierung der allgemeinen Idee des Bösen,
von der wir zwar auch w i s s e n , die uns aber nicht als solche
M a c h t entgegentritt. Über Gut und Böse läßt sich ja in Ruhe philosophieren. Das Dämonische aber ist die schlechthinnige Bedrohung.
Wie einfach ist es in der Tat, vom „Bösen" zu sprechen! Man kann
es als Teil von jener Kraft verstehen, die „stets das Böse will und stets
das Gute schafft." Man kann den Ausbruch des Bösen im Sündenfall
(wie Schiller) als glückhaftes Ereignis preisen, weil er die Möglichkeit
der Freiheit geschaffen habe. Man kann das Böse (wie im Idealismus)
als produktiven Widerpart des Guten feiern, durch den allein die
schöpferische Spannung und die Zeugekraft ins Leben komme. Und
man kann es endlich (wie Nietzsche) gar zur „höchsten Güte" selber
machen.
Diese harmlose Schau des Bösen aus einer angemaßten Vogelperspektive hört aber in dem Augenblick auf, wo wir vom
Dämonischen sprechen. Hier gibt es keine Schreibtischphilosophie,
sondern nur B e t r o f f e n h e i t .
Es ist damit ähnlich wie mit dem Reden über G o t t : Paulus sagt
im ι. Korintherbrief (2, 11), niemand wisse, was in Gott sei, als allein
der Geist Gottes selbst. Das soll heißen : Gott ist niemals Gegenstand
unserer menschlichen Erkenntnis, sondern nur Gegenstand seiner
eigenen Selbsterkenntnis. Und wir Christen können nur d e s h a l b
etwas über Gott aussagen, weil wir den Geist aus Gott haben (2, 12)
und deshalb an der Selbsterkenntnis Gottes teilnehmen dürfen. Offenbarung bedeutet nichts anders als dies Eine, daß wir der Teilhaberschaft an seiner Selbsterkenntnis gewürdigt und damit aus der
hoffnungslosen Inadäquatheit herausberufen werden.
Genau so wenig wie über G o t t läßt sich auch über die Macht des
D ä m o n i s c h e n sagen vom Standpunkt unbeteiligter Objektivität
aus. Über das Dämonische kann nur in Betroffenheit und Bedrängnis
geredet werden, d. h. so, daß wir das Greifen des Dämonischen nach
uns entdecken und andererseits auch einen Griff an uns selber
wahrnehmen, an dem es sich festzuhalten vermag. Über das
Dämonische kann deshalb nur aus der erschreckten Feststellung heraus
geredet werden, daß wir eine geheime Adäquatheit an uns tragen, die
uns die Möglichkeit des Verstehens gibt. „Wär* nicht das Auge
sonnenhaft, nie könnte es die Sonn' erblicken." Und wiederum: Wäre
es nicht diabolisch infiziert, nie könnte es den Diabolos erkennen.
Deshalb hat sich auch Luther seine drastischen Thesen über den Teufel
nicht „ausgedacht" — indem er etwa den spekulativen Dualismus
seines Weltbildes mythologisch-symbolisch mit der Teufelsgestalt
ausstaffierte — sondern er hat in dem offenen Rachen der Hölle
gestanden, er hat einen leibhaftigen Agon mit dem leibhaftigen
Versucher geführt — d a r u m hat er das Tintenfaß nach ihm
geworfen.
190
Die Kategorie des Dämonischen
Ich sagte: Über das Dämonische läßt sich nur aus der Betroffenheit
heraus reden. Wenn nicht alles trügt, leben wir heute in einer
besonderen Zeit solcher Betroffenheit.
Es gibt Zeiten, die in besonderer Weise „aus den Fugen sind"
(Hamlet), denen also die Ordnung mangelt, auch wenn die äußere
Ordnung der Diktatur herrscht. Die Dämonen der Macht, der Triebe,
des Abbruchs sind losgelassen, und der Mensch wagt, sich einmal ohne
Schleier und ohne den Zwang und die Maske seiner verhüllenden
Ordnungen zu zeigen. Diese Situation tritt besonders in Zeiten ein, in
denen der Mensch selbstherrlich alte Ordnungen stürzt, um neue zu
setzen. In solchen Zeiten wünscht er nur Subjekt, aber nicht Objekt der
Ordnung zu sein, ist also selbst in einem letzten Sinne ungeordnet und
deshalb -den über ihn kommenden Mächten schutzlos preisgegeben.
Daran, daß wir heute in einer solchen Zeit zu leben scheinen, mag es
liegen, daß die Offenbarung Johannis neu verstanden wird. Denn in ihr
wird her homo inordinatus der Endzeit, der ungeordnete und deshalb
preisgegebene Mensch geschildert, der den über ihn kommenden
Mächten des Antichristen wehrlos gegenüber steht und ihm
Angriffspunkte über Angriffspunkte bietet.
Unsere Zeit beginnt sich in einer geheimen Adäquatheit zu der
Geschichtssituation zu entdecken, die in der biblischen Apokalypse
aufgerissen ist1).
Ebenso ist es wohl charakteristisch, daß unsere Zeit mehrere Bücher
hervorgebracht hat, die in besonderer Angemessenheit von der
Wirklichkeit des Dämonischen und der Götter sprechen. Ich denke nur
an die beiden Werke von Friedrich Alfred Schmid-Noerr „Dämonen,
Götter und Gewissen"
1)
Unsere These, daß sich ein neues Verständnis der biblischen Apokalypse anbahnt, wird natürlich nicht dadurch berührt, daß sich nach wie
vor allé möglichen Zahlen- und andere Spekulationen auf sie stürzen.
*191
und von Walter F. Otto „Die Götter Griechenlands". Beiden Büchern
ist eine These gemeinsam: daß es sowohl bei Göttern wie bei Dämonen
nicht um einen Anthropomorphismus, sondern um reale Mächte geht.
Schmid-Noerr spricht zwar davon, daß „Aufklärung" allemal ein
kräftiger Dämonenschirm sei, den es in allen Preislagen gebe. „Das der
Aufklärung aber entsagende Bewußtsein oder die Neugier der
Heutigen steht w e h r l o s den dämonischen Gewalten gegenüber
..."
Dieser Versuch Schmid-Noerrs will sich damit begnügen, das Wort
von den Dämonen in seinem wahren Bestand zu festigen; „zu mahnen,
das Namentliche der Dämonen und Götter nicht leichtfertig
auszusprechen; also so etwas wie eine Warnungstafel aufzurichten:
Achtung! Hochspannung!"
In der Tat ist die allgemeine Hilflosigkeit gegenüber den Dämonen
in unserer „aufgeklärten" Zeit ja überdeutlich sichtbar. Wir können
sogenannte „kluge" Leute beobachten, Intellektuelle,, denen man
Besonnenheit, Weitblick und andere seriöse Eigenschaften ohne
weiteres zubilligen muß, und die doch das Geheimnis der Zeitläufe
nicht im geringsten verstehen — weder in ihren Hintergründen noch
auch bezüglich ganz vordergründiger Diagnosen und Prognosen: ein
überaus erstaunlicher Grad der Verblendung und der Ereignisblindheit.
Sie sehen in allem Geschehenden nur bloße Machtkämpfe, die nach
dem rein mechanischen Gesetz der größeren Stärke ausgetragen
werden. In aller Rechtlosigkeit und allem sich austobendem Sadismus
sehen sie nur „Auswüchse", d. h. mehr oder weniger unvermeidbare
Abweichungen vom Normalen; sie sehen also in alledem nicht die
Manifestation eines „Wesens", sondern nur die Manifestation des
Unweséntlichen und Beiläufigen. Sie sehen keine „Notwendigkeit"
darin zum Ausdruck kommen (nämlich das „notwendige" Symptom der
Unordnung mit Gott und des Preisgegebenseins an die Mächte),,
192
I
sondern den „Zufall" und beiläufigen „Abfall". „Wo viel Licht ist, ist
auch viel Schatten", sagen sie und bemühen sich, seelenruhig dabei zu
erscheinen. Sie meinen allen Ernstes, Männer machten die Geschichte,
und die Geschichte sei deshalb eine ins Makrokosmische gesteigerte
Autobiographie der großen Individuen —, während jene Männer doch
in geradezu versklavender Hörigkeit leben und obendrein meist
d a h i n geführt werden, wohin sie n i c h t wollen1). So werden die
„aufgeklärten" Menschen der Säkularisation dämonenblind und sind
deshalb außerstande, einen der tragenden Faktoren in der Geschichte
zu erkennen und damit ü b e r h a u p t Geschichte zu erkennen.
Wer Geschichte verstehen will, muß die
Kategorie des Dämonischenhaben.
Freilich kann man nun nicht so über das Dämonische reden, daß man
es einfach draußen in der Zeit konstatiert, daß man also sagt, „draußen"
regiere das große Babylon, und dessen Symptome nun aneinander
reiht. Nein: alles das finden wir in uns selber vor; die vitalen Götter
und Dämonen des Blutes — um nur diese zu nennen — unterhalten
auch in u n s ihr Herdfeuer. Es ist ja gar nicht so, daß die Anfechtung
von diesen Göttern und Dämonen her einfach von draußen her auf uns
zu käme. Nein: das Geheimnis dieser Anfechtung besteht in unserer
Anfechtbar k e i t, d. h. darin, daß wir ihnen gegenüber von vornherein
anfällig sind und ihnen mit „Angriffspunkten" gleichsam e n t g e g e n
kommen. In uns s e l b s t ist die Stimme des „alten Adam" hörbar, an
der sich jene Mächte orientieren und auf die sie zugehen. Nicht umsonst spricht wiederum Luther davon (der vielleicht am tiefsten um
diese Dinge gewußt hat), daß jener alte Adam täglich von uns ersäuft
werden müsse. Er ist in uns tätig und wirksam, wie es etwa ein
feindlicher Agent ist, der aus dem Herx)
Ich erinnere nochmals daran, daß dies Buch im Jahre 1943 geschrieben wurde.
zen des Landes heraus durch Funk- und Blinkzeichen die feindliche
Hauptmacht verständigt und auf die schwachen Stellen der Front
zulenkt.
Auch unter diesem Gesichtspunkt können wir nicht unbefangen und
objektiv von der dämonischen Macht reden. Wir Menschen können die
Theologie (und damit natürlich auch die Dämonologie) nicht so
treiben, wie sie die Engel treiben können. Unsere Theologie ist immer
Theologie der Anfechtung, Theologie angesichts des offenen Rachens
der Hölle, die uns verschlingen will. Wir können nur aus jener festen
Burg der Kirche heraus theologisieren, welche unter der Verheißung
steht, daß die Pforten der Hölle sie nicht überwinden werden.
Deshalb dürfen wir den Blick nicht nach a u ß e n richten, sondern
wir müssen nach i n n e n schauen in das eigene Herz. Das hat C. F.
Meyer richtig erkannt und in seinem bekannten Werk über Luther zum
Ausdruck gebracht:
Sein Geist ist zweier Zeiten Schlachtgebiet, Mich
wundert's nicht, daß er Dämonen sieht.
/. Die personhafte Macht des Bösen
Das Böse als Person. Seine NichtErklärbarkeit
Wir beginnen nunmehr damit, die p e r s o n h a f t e Macht dessen
zu bestimmen^ den die Bibel „Diabolos" oder „Sa-, tanas" nennt und
stellen einen Lehrsatz voran:
Mit der Berufung auf die dämonische Macht (auf den Teufel) darf
die Theologie das Böse nicht „erklären", sondern nur „beschreiben"
wollen. Die dämonische Macht hängt wesentlich mit der Gestalt der
Sünde als Hörigkeit zusammen. Weil aber diese Hörigkeit der Welt
und des Menschen das Thema aller Dämonologie ist und nicht die
Teufelsspekula-
194
tion an sich, darum gilt der Satz: Diabolum cognoscere est maleficia
ejus cognoscere1).
Daß wir das Böse nicht „erklären" können, daß auch die Bibel
keinerlei Anstalten dazu macht, hängt mit diesem personhaften
Hintergrund, hängt mit der Gestalt des Satans zusammen, die hinter
allem „Neutrum" des Bösen steht. Um das zu begreifen, brauchen wir
nur an die Begegnung mit menschlichen Personen zu denken. Wenn
ich z. B. sage : „Ich , verstehe* einen andern Menschen, oder ich suche
ihn zu, verstehen", dann heißt das a u c h nicht, daß ich ihn
„erklären** könnte. Ich kann wohl sein Milieu, seine biologische Abstammung, seine Motive bestimmen, aber ich muß immer feststellen,
daß er in diesem Kausalnexus nicht a u f g e h t . Der Zurechnungsund Verantwortlichkeitsgedanke in der Justiz beruht ja ganz auf dieser
Tatsache, daß der Mensch aus Bios und Umwelt n i c h t erklärbar ist
und in dem ihn bedingenden Kausalnexus eben n i c h t aufgeht. Sonst
würde er nichts anderes sein als das kausalbedingte Produkt der genannten Faktoren, dann könnte man ihm seine Tat nicht als „eigen**
zurechnen, sondern müßte sie ebenso wie ihn selbst als mechanisches
Produkt jener Faktoren werten. Dann aber wäre der Mensch nicht für
seine Taten verantwortlich, man könnte ihn nicht bestrafen: man
könnte dann höchstens die menschlichen Elemente der Zersetzung und
Zerstörung dadurch neutralisieren, daß man solche gefährlichen
Subjekte (oder vielmehr „Objekte** !) in Gummi- oder Betonzellen
einsperrte. Das Strafrecht aller Völker nimmt aber als selbstverständlich an, daß man den Rechtsbrecher bestraft und also seine
Verantwortlichkeit und folglich auch seine Nicht-Ableitbarkeit und
seine Nicht-Erklärbarkeit voraussetzt.
1)
Dieser Satz ist in Anlehnung an einen bekannten Satz aus Melanchthons Loci von 15 21 über Christus gebildet (Christum cognoscere est
beneficia ejus cognoscere) und heißt deutsch: „Den Teufel erkennen, heißt
seine bösen Anschläge erkennen". 1 2 T h i e l i c k e , Fragen des Christentums.
Die Behauptung, einen Menschen „verstehen" zu können, bedeutet
also keinesfalls, daß man ihn auch „erklären" könnte. „Verstehen" geht
zurück auf eine personhafte Begegnung mit dem Andern, in der es zur
Kommunikation gekommen ist. „Erklären" geht zurück auf eine
unpersönliche (gemeinschaftslose) Distanz, in welcher der andere mir
als e i n Objekt unter andern und deshalb wie a l l e Objekte als
kausalbestimmtes „Ding" entgegentritt.
Dieser Unterschied zwischen personhaftem „Verstehen" und
unpersönlichem „Erklären" geht auch aus folgender Erwägung hervor:
Wenn ich über einen andern Menschen berichte und ihn einem
Dritten „verständlich" zu machen suche, dann trage ich ihm ebenfalls
kein logisches Rechenexempel über jenen vor und denke gar nicht
daran, ihm den Betreffenden als Produkt aus diesen und jenen Faktoren
hinzustellen. (Ich kann jene Faktoren zwar erwähnen; aber sie haben
dabei kaum mehr als den Rang einer Unterstreichung und Kommentierung). Sondern wenn ich über einen Menschen berichte, beschreibe ich
jenem Dritten meine B e g e g n u n g mit ihm, beschreibe ich, wie er
„auf mich" gewirkt hat, welche seiner Charakterseiten etwa auf mich
zugewandt und mir deshalb — positiv oder negativ — verständlich
sind, und welche Charakterseiten für mich in einem dunklen
Hintergrunde verschwinden. So entsteht in der Begegnung — im
Unterschied zur geometrisch-kausalen Flächenerscheinung — ein
durchaus p e r s p e k t i v i s c h e s Bild. Daher kommt es denn auch,
daß jeder wieder ein anderes Bild von jedem hat. Je größer, dämonischer und genialer ein Mensch ist, um so deutlicher tritt die
Beschränkung jeder Aussage über ihn auf meine Begegnung hervor;
denn gerade hier wird deutlich, daß nur ein sehr begrenzter Teil jener
Persönlichkeit mir zugewandt ist und daß ein entsprechend größerer
Teil ihres Volumens mir abgewandt ist, nicht in die Begegnung eingeht
und im Dämmer
196 ,
eines mir unzugänglichen Hintergrundes verschwimmt. Wenn ich den
andern (und gerade den großen, genialen) beschreibe, schildere ich
immer nur den Reflex auf mich. Damit aber beschreibt jeder
Begegnende wieder einen andern Reflex. Und so kommt es, daß sich
die einzelnen Bilder nie zur Kongruenz bringen lassen. Als Beispiel
mögen nur die konfessionellen Lutherbiographien dienen, die trotz
alles echten historischen Willens, der um Tendenzlosigkeit bemüht
sein mag, prinzipiell auseinanderklaffen und eben n i c h t kongruent
sind. Oder man denke an die grundverschiedene Einstellung zu großen
lebenden
Persönlichkeiten.
Die
Art,
wie
sie
mir
b e g e g n e n , , entscheidet darüber, wie ich sie sehe. Alle objektiven
Statistiken über ihre verwerflichen und großen Taten, alle Anamnesen
über ihre Erbstruktur, ihre Milieu-Faktoren usw. lassen mich nicht an
sie glauben oder an ihnen irre werden, sondern bestätigen nur meine in
der Begegnung schon vorgegebene Anerkennung oder Ablehnung.
Personen sind unableitbar.
So kommt es auch, daß ich das B ö s e nicht ableiten kann. Denn
beim Bösen stoße ich ebenfalls auf die personhafte Macht des
Diabolos. Ich kann es nicht ableiten, es ist d a . Ich kann es, auch
nicht objektiv konstatieren, sondern ihm nur begegnen. Adam und Eva
erfahren charakteristischerweise erst in d e m Augenblick, was gut und
böse ist, wo sie dem Bösen begegnet und ihm verfallen sind. V o r
diesem Augenblick der Betroffenheit ist das Böse überhaupt nicht in,
ihrem Gesichtskreis. Ebenso erfährt der Mensch erst das im Sexuellen
angelegte Böse (nicht als ob das Sexuelle selber böse wäre!), wenn
seine körperliche Reifung ihm die Möglichkeit einer Begegnung gibt.
Vorher hat es kein Da-Sein für ihn.
So stoßen wir bei der Begegnung mit dem Bösen immer wieder auf
die Kategorie des Personhaften. Jedenfalls ist es mit der sachlichen
Kategorie der Kausalität nicht zu begreifen. Das geht auch aus dem
Sprichwort hervor: „Alles verstehen,
12*
197
heißt alles verzeihen". Wir brauchen nur die falsch gebrauchte
Vokabel „Verstehen" in „Erklären" umzuändern, um das sichtbar zu
machen. Ich behandele dann das Böse gegenständlich und löse die
böse Tat in ihre einzelnen Verursachungen auf, so daß das Böse dann
überhaupt verschwindet, gleichsam in nichts verdampft. Das heißt
also: Wenn ich das Böse unpersönlich und in Analogie zu einem
Gegenstand behandle, wenn ich es also „erkläre", tritt es überhaupt
nicht in Erscheinung, es wird zum Nichts; insofern ist alles zunächst
bös Aussehende in der Tat zu verzeihen und für null und nichtig zu
erklären. Wenn ich dagegen alles verstehe (d. h. wenn ich den andern
in der Begegnung durchschaue), verzeihe ich ihm keineswegs
(jedenfalls nicht einfach automatisch mit dem Verstehen), sondern
dann tritt seine Schuld vielleicht erst in das richtige Licht. Gott
versteht uns Menschen ja bis ins Letzte. Gerade darum aber
v e r g i b t er uns nicht einfach, sondern ist zunächst unser Richter
und Verkläger. Daß er uns vergeben und ein gnädiger Vater sein
möchte, liegt wahrlich an ganz anderen Tatsachen als daran, daß er uns
nur „versteht".
Wir fassen zusammen: Je unpersönlicher eine Sache ist — und das
Unpersönlichste ist wohl ein mathematischer Lehrsatz — um so
allgemeiner, zeitloser und von mir gelöster kann ich von ihm sprechen.
Aber je persönlicher etwas ist, um so mehr muß ich mich darauf
beschränken, nur meine Begegnung mit ihm zu beschreiben: Ich denke
ζ. B. an meine Stellungnahme zu Kunstwerken oder zu geschichtlichen
Persönlichkeiten und Vorgängen. Das Wort „Stellungnahme" ist dafür
ja schon charakteristisch. Da das Böse stets einen personhaften
Hintergrund hat, da es also bei ihm um den T e u f e l geht, kann ich es
nur mit der Kategorie des Personhaften, d. h. in der B e g e g n u n g
wahrnehmen. Ich kann es nicht ableiten.
198
Der Ursprung des Bösen als Geheimnis
Damit sind folgende wichtigen Gedanken gegeben:
ι . Zunächst verstehen wir von hier aus, warum in der Bibel kein
Wort über den U r s p r u n g des Bösen verloren wird, warum das
Böse einfach nur „da" ist. Die Bibel weiß um seinen personhaften
Hintergrund und damit um seine Nicht-Ableitbarkeit. Darum kommt
sie zu einer völlig anderen Betrachtungsweise: Es geht ihr um die
brutale und höchst physische Tatsache, d a ß d e r F e i n d i n s
L a n d g e b r o c h e n i s t . Ich stehe in der äußersten Bedrohung.
Da habe ich nicht zu philosophieren, sondern zuzugreifen. Es ist
Notstand, der zum Besinnen keine. Zeit läßt. Mea res agi-tur! Ich
komme ja auch nicht auf die Idee, etwa bei einer Bombe, die in meiner
Nähe einzuschlagen droht, an ihre Herstellerfirma zu denken oder sie
nur unter d e r Bedingung für wirklich zu halten, daß ich sie bezüglich
Gewicht, Sprengwirkung und Fabrikationsart identifiziert hätte.
Welcher Unterschied des Verhaltens gegenüber der idealistischen
Spekulation über das Böse als das schöpferisch Negative am Leben !
Wie unernst wirkt von hier aus die scheinbar ernste gedankliche
Bemühung ! Es g i b t eben keinen Augenblick meines Lebens, in dem
ich mich dergestalt in die Etappe oder die distanzierte
Vogelperspektive zurückziehen könnte, um von hier aus sine ira et
studio das Phänomen des Bösen zu „betrachten". Wie kann ich mich
sine ira et studio verhalten, wenn die feindliche Macht des Bösen
ihrerseits voller Studium et ira ist und zusieht, welchen sie
verschlinge? Wer einem haßerfüllten und verschlagenen Feinde in
objektiver Seelenruhe und mit einer lässigen Interessiertheit für dessen
Aufmachung entgegentritt, beweist nur, daß er trotz all seiner
Wahrnehmungen (die der sofort zum Kampf Antretende und zum
Gegenschlag Ausholende vielleicht n i c h t bemerkt) den Gegner
verhängnisvoll v e r kennt. So ist bi
199
blisch die Erkenntnis der dämonischen Macht nur insofern und
insoweit gegeben, als wir in ihr den F e i n d sehen und uns ihm zum
Kampfe stellen. Diese Haltung übersieht freilich vieles am Feind, weil
sie für periphere Wahrnehmungen „keine Zeit" hat; aber sie sieht das
Eigentliche. Es liegt also wieder ein durchaus personhaftes Verhalten
vor, nämlich das Verhalten gegenüber einem begegnenden F e i n d e .
2. Noch Weiteres kommt hinzu, das uns zeigt, weshalb die WarumFrage überhaupt nicht gestellt werden kann :
Die Realität des Dämonischen kann mit natürlichen Augen nicht
wahrgenommen werden. Denn diese natürlichen Augen sind selber
verfinstert, und zwar eben von der dämonischen Macht her. Sie heißt ja
biblisch nicht umsonst „Macht der Finsternis". Mit einem modernen
und sehr illustrativen Ausdruck könnte man auch sagen „Macht der
Verdunkelung". Es ist ein Geheimnis der Sünde, daß sie sich selbst
nicht sehen kann, sondern nur im Lichte Gottes offenbar wird. Es ist
nicht unähnlich wie bei der Dummheit. Auch die Dummheit kann sich
selbst nicht sehen, weil zu diesem Sehen schon wieder ein gehöriger
Grad Intelligenz gehören würde. Die Dummheit ist zu dumm und
maßstablos, um sich selbst zu sehen. Um sagen zu können: „Ich weiß,
daß ich nichts weiß", muß man eben so genial wie Sokrates sein. Die
Dummheit tritt nur angesichts der Klugheit in Erscheinung.
Entsprechend treten Macht und Wesen des Dämonischen nur,
angesichts der Lichtherrlichkeit Gottes und seines Christus in
Erscheinung: Jesaja bemerkt seine unreinen Lippen erst angesichts der
Doxa Gottes (Jes. 6); und Petrus erfährt erst, daß er ein sündiger
Mensch ist, als ihm die übermenschliche Wundermacht Jesu
entgegentritt (Mt. 16, 16). Auch die Dämonen bemerken sich gleichsam
erst selbst, als Jesus Christus über die Erde geht und als sie ihre
äußerste Bedrohung in ihm nahen fühlen.
Woran liegt es, daß die Sünde sich nicht selber sehen kann?
200
Es liegt ganz einfach daran, daß sie ein Relationsbegriff ist. Sie ist nur
als eine bestimmte Beziehung zu G o t t bestimmbar, nämlich als AbSo'nderung von ihm, als Verneinung und Auflehnung. In der gleichen
Weise ist das Satanische ein Relationsbegriff: es ist das von Gott
Gelöste.
Es erscheint mir überaus wichtig, das klar zu erkennen und
festzustellen. Denn nur so werden wir von dem Mißverständnis
bewahrt, als ob es beim Satan nach marcionitischer Weise um einen
selbständigen Gegengott ginge und als ob also das Christentum eine
dualistische Grundstruktur habe. Das Teuflische ist wirklich nur
„negativ", als die „negative Relation", zu bestimmen: es ist das von
Gott Gelöste, das zum Widerspiel Angetretene.
Eben deshalb können wir auch nicht von jener angeblich
dualistischen Struktur sprechen: Darin läge doch, daß es einen Bezirk
der Wirklichkeit gäbe, welcher der umfassenden Beziehung auf Gott
entnommen wäre. Diesen Bereich aber g i b t es nicht. Das zeigt sich
daran, daß der Teufel n u r in Relation auf Gott zu bestimmen ist.
Luther geht darin so weit, daß er selbst vom Teufel immer noch als „G
o 11 e s Teufel" spricht, um damit anzudeuten, daß er zwar einerseits
die bloße Negation, aber i η dieser Negation dennoch in den
Verfügungsbereich Gottes einbeschlossen ist.
Nochmals : Nur in der Lichtherrlichkeit Gottes enthüllt sich die
dämonische Macht und wird in ihrer Existenz und ihrer Art verstehbar.
Ja noch mehr : S i e e n t h ü l l t sich hier nicht nur, sondern sie
erreicht hier auch ihre stärkste P o t e n z i e r u n g : angesichts des
über die Erde gehenden Christus rotten sich alle dämonischen Mächte
in einem letzten Aufgebot zusammen: das gilt sowohl von den bösen
Geistern
der
Besessenen
(vgl.
die
neutestamentlichen
Dämonengeschichten), wie von den dämonischen Menschen, die sich
— wie etwa Herodes und Pontius Pilatus — trotz ihrer verschiedenen
Intentionen und
201
Charaktere — in einer letzten Negation des Christus (also wieder in
der N e g a t i o n ! ) zusammenschließen und Freunde werden. Auch
die eschatologische Schau der Apokalypse berichtet eine ähnliche
Potenzierung des Bösen angesichts der Wiederkunft Christi.
Enthüllung und Potenzierung gehören natürlich eng zusammen: je
geballter und demonstrativer die Negation Gottes wird, um so
mächtiger tritt sie in Erscheinung, um so schwerer kann man sie
übersehen. Und doch wird man sie auch in der potenziertesten Form
übersehen, so lange man sich gegenüber der Lichtherrlichkeit, des
Christus verschließt. Nur so sind die merkwürdigen Berichte der Apokalypse zu verstehen, daß trotz aller dämonischen Losbrüche am Ende
der Geschichte die Menschen immer unbußfertiger und nichterkennender werden.
Auch hier wird also sichtbar, daß die dämonische Macht niemals als
Gegenstand einer neutralen, kausal interessierten Betrachtungsweise in
Erscheinung tritt, sondern immer nur „in actu", d. h. im Augenblick
der Auseinandersetzung selbst, in dem Augenblick also, wo ich
höchstpersönlich meine Entscheidung gegenüber dem persönlichen
Gott fälle. E s k o m m t e b e n i n d i e s e n Z u s a m m e n h ä n gen alles auf die Kategorie des Personhaftenan.
Der Begriff des „Diabolos"
Wie ist nun die teuflische Macht biblisch genauer beschrieben? Wir
setzen ein mit dem Begriff „Diabolos", in dem wir alle angeführten
und bisher nur angedeuteten Momente deutlich angelegt finden:
„Diabolos" kommt her von diaballein, das so viel bedeutet wie
„durcheinanderbringen", „sich da-zwischenschieben", „zwei Größen
auseinanderbringen". D e r D i a b o l o s b r i n g t G o t t u n d
Mensch auseinander.
202
Man kann im Hiob-Buch deutlich erkennen, wie er das in doppelter
Weise tut1):
Einmal a l s V e r k l ä g e r , und ferner als V e r f ü h r e r ,
Als V e r k l ä g e r zunächst ist er Mitglied des himmlischen
Königshofes, den Gott von Zeit zu Zeit versammelt. Hier übt er die
Funktion eines himmlischen Staatsanwaltes aus, d. fier zweifelt die
optimistische Meinung Gottes über seine Knechte an. So diskreditiert
er auch den „Knecht Hiob" mit dem Argument, er sei nur fromm, weil
es ihm bisher gut gegangen sei und weil sich also seine Frömmigkeit
„gelohnt" habe. In dem Augenblick aber, wo Gott die durchsichtige
Korrespondenz von Lohn und Strafe unterbreche, werde ihm Hiob
absagen. Diese Funktion der Anklage und der Diskreditierung wird im
Neuen Testament mit dem Begriff antidi-kos wiedergegeben (Lk 18,
3 ; 1. Petr. 5, 8).
Gleichwohl hinkt aber dieses Bild vom Staatsanwalt und Verkläger.
Denn sein Verklagen sucht er nicht zu belegen durch schon g e s c h e
h e η e η Abfall, sondern er p r o v o ζ i e r t zunächst diesen Abfall,
um ihn dann, sobald er geschehen ist, schadenfroh dem göttlichen
Richter zu präsentieren. Das ist ja ganz deutlich seine Taktik im HiobBuch, Er ist also nicht nur Verkläger, sondern zugleich V e r f ü h r e r . Er ist weniger Staatsanwalt als Gestapo, die bestimmte
Vergehen, deren sie ein Opfer für fähig hält, zu p r o v o z i e r e n
sucht, um ein Alibi für ihr Vorgehen zu gewinnen.
Ich möchte nun sagen, daß uns diese Eigenschaften wiederum nicht
um ihrer selbst willen interessieren, genau so wenig, wie uns der
Teufel um seiner selbst willen interessiert. Das alles interessiert uns
vielmehr nur in Beziehung auf die Aussagen, die damit über „m i c h"
gemacht werden. Genau so wie wir innerhalb der Christologie nach
Luthers Anweisung nicht in die Persongeheimnisse des Gottessohns
stieren,
*) Vgl. dazu die Ausführungen Gerh. v. Rads im Kitteischen Wörterbuch.
203
sondern salubriter cogitare (auf das Heil bezogen denken) sollen, genau
so müssen wir bei der Betrachtung des Diabolos „ponerologisch", d. h.
in bezug auf „die teuflische Hörig-.... machung unserer Existenz"
denken.
In dieser Hinsicht aber ist e i n e s gemeinsam zwischen Verklagen
und Verführen:
Verführer u n d Verkläger berufen sich beide auf eine vorhandene
Schwäche in mir. Die teuflische Schlange von Genesis 3 vermag nur
deshalb das Urelternpaar zu verklagen und zu verführen, weil sie
gewiß sein darf, einen wunden Punkt an ihnen zu finden. Das gleiche
gilt von Hiob: Der Verkläger ist, schon im Augenblick seines
prophezeienden Verklagens {als er also sagt: so und so w i r d Hiob
reagieren), dessen gewiß, daß in Hiob griffige Ansatzpunkte für das
Böse sein werden. Die folgende Verführung ist dann nichts anderes als
eine Demonstration dieser Prophétie, als die faktische A u s n u t z u n g jenes wunden Punktes. Andererseits findet der Diabolos
weder für seih Verklagen n o c h für sein Verführen an Jesus einen
Ansatzpunkt.
Die Anfälligkeit des Herfens
An den genannten Beispielen kann man sich genau das Verhältnis von
Versuchung und Versuchlichkeit, von Ver- < führung und Verführbarkeit
klar machen :
Ein sehr ungenaues, falsches Sprichwort sagt: „Gelegen- . ' heit macht
Diebe". Das Sprichwort ist deshalb so falsch, weil es geradezu umgekehrt
zu sein scheint: „Ich b i n ein Dieb". Darum und nur darum bin ich a)
anzuklagen und b) verführbar. Die „Gelegenheit" nutzt nur eine
vorhandene Anlage zum Stehlen aus. Mehr nicht. Verführung bedeutet
nur, daß eine Möglichkeit in mir zur Wirklichkeit gemacht wird. Ich b i n
versuchlich, darum kann ich versucht werden.
Das Geheimnis des Menschen besteht also nicht darin, daß er in der
Versuchung s t e h t , sondern daß er versuchlich
204
i s t . Weil ich die Sünde i η mir habe, gebe ich dem Diabolos ein
Recht auf mich. Er kann daran appellieren. Und so sehr sich in seiner
Einwirkung auf mich ein Muß und eine Hörigkeit auswirkt, so wenig
hat diese Macht des Versuchers den Charakter einer coactio (= eines
äußeren Zwanges), sondern einer necesssitas (d. h. einer inneren,
wesensbedingten Notwendigkeit). .
Daß das biblische Menschenbild so gesehen ist, geht auch daraus
hervor, daß Gott mich in den zehn Geboten auf meine Versuchlichkeit
hin a n r e d e t . Die vorwiegend negative Formulierung, die
geistreiche Weltmenschen sich mit einer angeblich jüdisch
verneinenden Einstellung zum Leben erklären zu müssen glaubten,
während die abendländische Ethik positive Ideale zum Gegenstand
ihrer Imperative mache — ich sage: — jene vorwiegend negative
Formulierung schließt doch in sich den Sinn des Protestes gegen das
So-Sein des Menschen : Du sollst n i c h t töten, du, der du ein Mörder
b i s t ; du sollst n i c h t stehlen, du, der du ein Dieb b i s t .
Der Diabolos darf eben dessen gewiß sein, daß er auf dem Terrain
unserer Seele von vornherein einen Stützpunkt besitzt, auf den er
zugehen kann. Es ist gar nicht so, daß unser Herz „für sich" wäre und
der Versucher draußen stände:
Das große Babylon ist nur ein Scherz, Will
es im Ernst so groß und maßlos sein Wie
unser babylonisch Herz
(Francis Thomson in The Heart.
Von hier aus ist — nach G. v. Rad (Kittelsches Wörterbuch II 72, ι
ff.) auch die merkwürdige Bezeichnung der F e i n d e I s r a e l s als
„Satane" zu verstehen: „Israels Feinde haben bei Jahwe eine besondere
Funktion, sie sind Israels Ankläger und k o r r e s p o n d i e r e n
also mit einer Verschuldung des Gottesvolkes.
Diese wichtige Vorstellung gibt uns das'Recht, die Satane, die Jahwe
dem
205
Salomo erweckt — den Edomiter Hadad, den Aramäer Reson
— nicht einfach der generellen Grundbedeutung des Wortes
entsprechend als „Feinde" zu verstehen, sondern auch hier den
spezifisch juristischen Sinn zu vermuten: Salomo hat sich nach
Meinung des deuteronomischen Geschichtsschreibers versündigt, und
auf diese Schuld beziehen sich nun die Satane, die im Lauf der
Regierungszeit dieses Königs aufstehen . . ."
In diesem Gedanken vom „Stützpunkt" kommt auch der tiefste Sinn
der Hörigkeit — das Neue Testament sagt douleia
— gegenüber dem Verklâgér und Verführer zum Ausdruck: Ich gehöre
der dämonischen Macht nicht einfach so, wie ich einem fremden Herrn
entgegen meinem eigenen Willen gehöre. Sondern ich gehöre ihr so,'
d a ß i c h m i r g e h ö r e . Das heißt: ich kann mich nicht darauf
berufen, daß sie einfach über mich verfüge, ohne daß mich infolge
dieser Vergewaltigung eine Schuld träfe. Nein: die dämonische
Gebundenheit ist nur so da, daß ich m i r gehöre: m e i n e m Ehrgeiz,
m e i n e r Hybris, m e i n e r Selbstbehauptung, m e i n e m Triebe.
So entscheidend wird hier der theologische Gedanke vom Stützpunkt :
Der Teufel lebt im Medium des amor sui. Ich liebe nicht nominell den
Teufel (wer hätte schon je eine solche Liebeserklärung abgegeben oder
von andern gehört!), sondern ich liebe nominell m i c h — und eben
darin liefere ich mich ihm aus. Anders ausgedrückt: Ich bin niemals
Objekt des dämonischen Geschehens in jenem mich entlastenden
Sinne, als ob es nur „von außen" an mich herangetragen würde,
sondern ich bin immer auch S u b j e k t . Sofern der Diabolos etwa
den Zeitgeist oder das „Man" benutzt hat, um mich zu verführen, kann
ich mich niemals darauf berufen: Ich bin ja selber derjenige, der den
Zeitgeist in sich hat und der ihn konstituieren hilft; ich bin ja niemals
(niemals!) bloß passives Opfer dieses Zeitgeistes ; er ist gar nicht in
mythischer Weise von mir abzuheben; er ist „der Herren eigener
Geist". Daher kommt es — wir erwähnten das schon —, daß Adam
sich nicht
206
mit „innerer Vergewaltigung durch" Eva und diese sich nicht mit der
Schlange entschuldigen kann. Sie versuchen umsonst, im göttlichen
Gericht die Rolle des „Objekts" zu spielen.
Obwohl ich es also mit m i r zu tun habe, wird doch deutlich, daß
ich es eben darin mit einem a n d e r e n zu tun habe : eben deshalb
nämlich, weil ich die Bindung an mich nicht sprengen kann und weil
ich sozusagen gewaltsam bei mir selbst festgehalten werde. Ich sehe
einen Bann über dieser Bindung schweben.
Nur auf diesem Hintergrunde des Menschenbildes wird auch die
Rechtfertigungslehre verständlich : Denn nur s o wird es verständlich,
daß meine Taten, meine „Werke" mich nicht von diesem Banne
befreien können. Im Gegenteil: meine Taten reißen mich nur tiefer in
seine Beklemmungen hinein. Indem ich alle Gebote Gottes zu erfüllen
scheine, kann ich der Eitelkeit, dem Pharisäismus, der „Sicherheit" und
dem Hochmut verfallen. Der amor sui kann in den getarntesten Formen
auftreten. Und es ist keineswegs so, daß der Diabolos nur „von vorne",
gegenständlich faßbar, mir gegenüberträte und die Gestalt einer
konkreten Sünde besäße. Nein, er vermag auch ungegenständlich zu
werden und mich von hinten „beim Kragen" zu nehmen. (Dazu würden
die genannten Sünden des Pharisäismus, der Hybris usw. gehören.)
Man könnte diese Doppeltaktik des Versuchers an beiden
Gesetzestafeln veranschaulichen : Die 2. Tafel mit den Einzelgeboten
bezieht sich auf die gegenständliche Faßbarkeit des Diabolos, auf die
konkreten Einzelsünden, die ich klar erkennen kann und vor denen ich
mich hüten muß. Es besteht nun sehr wohl die Möglichkeit, daß ich
diese alle dem Wortlaut nach halte und daß ich in vorsichtiger
Gewissenserforschung allen Fangstricken des Widersachers klüglich
ausweiche, daß ich aber eben darin dem geheimen Stolz vor Gott
verfalle : („Ich danke dir Gott, daß ich nicht bin wie die andern . . ."),
und daß ich somit gegen die ι . Tafel sündige, die mir befiehlt, Gott
a l l e i n die Ehre zu
207
geben und weder mich selbst noch irgendwen und irgendetwas als
„andere Götter neben ihm" gelten zu lassen.
So komme ich von dem genannten Bann nicht durch eigene tathafte
Entscheidungen meines Moralismus los, sondern nur so, daß über mich
entschieden w i r d : Die Macht des Diabolos kann nicht durch
Menschen, sondern nur durch die Macht eines andern Herrn gebrochen
werden, zu dem ich mich eben schlagen muß. Der Teufel kann nicht
durch Menschen, sondern nur durch Gott besiegt werden. Ich aber bin
Gottes. L e t z t e n E n d e s i s t d a s m e n s c h l i c h e L e b e n
n u r e i n e G e f o l g s c h a f t s f r a g e . Alles Reden davon, daß
im Anfang „die Tat" war und daß deshalb auch zuletzt nur das „Immerstrebende Bemühen" gelten müsse, ist eben Geschwafel. Der Mensch
ist weder Selbstschöpfer noch Titan, sondern der dem erlösenden u n d
verführenden Ruf ausgestattet. Daher kommt es auch, daß das
Vaterunser die Frage der Versuchung nicht zum Gegenstand eines Verbotes macht, sondern sie in das G e b e t aufnimmt „Führe uns nicht in
Versuchung". In dieser Bitte wird der Herr angerufen, der allein
imstande ist, demPseudo-Herrn Paroli zu bieten. Der Christus hat das
Schlachtfeld, und ich gehöre auf seine Seite.
Der Begriff „satanas"
Satan, die andere Bezeichnung für den Teufel, bedeutet „Feind",
„Widersacher". Als solcher ist er das Haupt eines ganzen
Dämonenheeres. Der Begriff „Dämon" kommt immer wieder im Plural
vor. Der Satan hat unter sich Engel der Finsternis. Insofern besteht
eine genaue Entsprechung zur himmlischen Engelschaft. Sowohl in der
allgemeinen Satanologie wie in der Antichristologie (Apk.) kreist das
biblische Denken um die Geister der Finsternis/welche die Welt
beherrschen (Eph. 2, 2; 6, 12) und faßt gleichsam als letzten Gedanken
den, daß diese in einer persönlichen Spitze enden (Satan, Antichrist).
208
Um auch hier sofort gegen einen Dualismus geschützt zu sein und
die Macht der Finsternis in ihrer ausschließlichen Beziehung auf Gott
zu verstehen, scheint mir die Vorstellung wichtig, daß der Satan ein
gefallener Engel sei. Schon bei Hiob ist er ja Glied der Engelwelt. Die
beiden loci classici dafür sind 2. Petr. 2, 4 und Judas 6: „Gott hat die
Engel, die gesündigt haben, nicht verschont, sondern hat sie mit Ketten
der Finsternis zur Hölle verstoßen und übergeben, daß sie zum Gericht
behalten werden." — „Auch die Engel, die ihr Fürstentum nicht
bewahrten, sondern verließen ihre Behausung, hat er behalten zum
Gericht des großen Tages mit ewigen Banden in der Finsternis."
Eben aus diesem Grunde, weil er ein gefallener Engel ist, ist der
Teufel auch so genau in die Strategie des Gottesreichs eingeweiht und
sucht ihr entgegenzuwirken. Daher kann er sich zu einem Engel des
Lichtes verstellen, weil er die Engel so genau kennt. E r h a t d i e
Leidenschaft und
die Sachkenntnis eines
R e n e g a t e n . Deshalb tut er Wunder wie der Christus selber (2.
Thes. 2, 9; Apk. 13, Ii—13). Ebenso sind seine „Lästerungen" nicht
einfach antichristliche Schimpftiraden, wie sie die Gasse vom Stapel
läßt, sondern sie bestehen in dem Versuch, religiös zu tun und wie
Go t t zu reden (Apk. 13, 1). In allem, was er tut und wie er es tut, ist er
der „Affe Gottes". Und das Vermögen, diese Rolle zu spielen, beruht
eben auf seiner Anamnesis an die einstige Größe.
Es spielt sich in diesem Sturz des dämonischen Engels ein
Grundgesetz des Reiches Gottes ab: daß alles Dämonische und
Gottwidrige je nach seinem negativen Rang auf eine ursprüngliche
Größe deutet. Das gilt sowohl von den Menschen,, wie auch von den
Ideen.
Von den M e n s c h e n : Ein Tier hätte nie so tief fallen können
wie der zur Gottebenbildlichkeit bestimmte Mensch. Und bei den
großen Verführern der Menschheit spüren wir
•alle noch etwas von dem inneren Rang, den sie einmal hatten oder zu
dem sie bestimmt waren. Im Koordinatensystem des Gottesreiches
entspricht das negative Fallmaß immer dem positiven
Bestimmungsmaß: Je höher der eigentliche Rang, um so tiefer der Fall.
Nicht das Tier, wohl aber der Mensch kann .deshalb dämonisch
werden. Nichts ist so ätzend wie verdorbene Größe. Und die
schlimmsten Halunken der Menschheit hätten immer das Zeug gehabt,
ihre größten Exemplare zu werden. Es ist das Elend eines großen
Herrn, das Elend eines entthronten Königs, sagt Pascal. . . . Das alles
ist verspielte Gottebenbildlichkeit — nicht Rückkehr zum Tierischen,
wie harmlose Gemüter und die sunny boys unter den Philosophen
wähnen, nein, verspielte Gottebenbildlichkeit, sonst nichts.
Die Offenbarung Johannis bringt dieses Grundgesetz vom Sturz des
Höchsten in den dämonischen Abgrund immer wieder im Sturz der
Sterne zum Ausdruck: himmlische Wesen, die aus der Gemeinschaft
Gottes gelöst sind, stürzen herab auf die Erde und führen hier — gerade
infolge ihres göttlichen Ranges — eine besonders dämonische,
gottgelöste Existenz. Das gilt vor allem von dem gewaltigen Bild Apk.
12, 2 ff., wo der rote Drache am Himmel erscheint, mit seinem
Schwanz den dritten Teil der Sterne des Himmels hinwegreißt und auf
die Erde schmeißt. Wer denkt dabei nicht — Frey hat das in seiner
Auslegung sehr tief zum Ausdruck gebracht1) — an alle jene
geschichtsbewegenden Mächte, denen man zwar ihren göttlichen
Ursprung anmerkt, die aber gefallen sind. Man könnte ζ. B. daran
denken (natürlich nur als illustrierendes Beispiel und nicht in dem
Sinne, daß die Offenbarung Johannis hier eine konkrete Prophezeiung
enthielte) —, wie sehr diese Sturz-Katastrophe auf bestimmte I d e e n
zutrifft. Die großen Menschheitsgedanken und Ideale, die göttlichen
Ursprungs sein mögen, verkehren sich in dem gleichen Augenblick, wo
*) Weg und Zukunft der Gemeinde Jesu, 1940, S. 13.
210
sie sich vom Ursprung losreißen, in ihr Gegenteil. Es sei nur an die
Ideen des Wahren, Guten und Schönen erinnert, die, von Gott
losgerissen, zu einer „voraussetzungslosen" Wissenschaft ohne Gott,
zu einer leeren Haltungsmoral ohne Gott und zu einer rein
ästhetizistischen Fart pour l'art-Kunst mit allen heute sichtbaren
Entartungserscheinungen werden. Das gleiche gilt von den Ideen der
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Es ist sicher nicht zu gewagt,
wenn man alle drei Begriffe als ursprünglich biblisch bezeichnet.
Indem sie aber von ihrem Ursprungsort verpflanzt und von Gott
losgerissen werden, bekommen sie alle Eigenschaften eines
Zersetzungs-stoffes — und heute sind sie die Schild-Worte des
Marxismus geworden. Wir könnten noch eine ganze Reihe anderer Begriffe anführen, um den gleichen Luzifer-Sturz an ihnen zu bemerken.
Ich weise nur auf das Wort „Gehorsam" hin: Was im Zusammenhang
mit Gott eine Befreiung bedeutet, wird ohne ihn zur Sklaverei und zum
Gewissensmord. Das beweisen alle Diktaturen, die von Gehorsam und
Parieren leben. Wir sehen also, welche tiefe Gesetzmäßigkeit sich hinter jener so bizarr anmutenden Vorstellung vom Teufel als dem
gefallenen Engel, als dem herabgestürzten Luzifer, verbirgt.
II. Der Machtcharakter des Dämonischen
Um gleich noch einmal das Bild aus der Apokalypse aufzunehmen:
Sterne fallen auf die Erde. Hier treiben sie ihr dämonisches Wesen.
Das zeigt: Es geht nicht um ein abstraktes Prinzip des Bösen (im Sinn
eines bloß „geltenden" aber nicht „seienden" Ordnungsbegriffs)
innerhalb der Moralität. Sondern es geht um eine M a c h t , und zwar
eine diese Erde, diesen Äon verhaftende M a c h t . „Er" ist der
Archon tou kosmou, tou aionos toutou (Herr dieser Welt, dieser Weltzeit) (Joh. 12, 31; 14, 30; 16, n).
Als solche kosmische Macht ist sie zugleich etwas, das die
13 T h i e l i c k e , Fragen des Christentums.
*211
Struktur dieses Äons aufs Tiefste beherrscht. Es ist wirklich nicht so
einfach, wie es etwa Ritsehl meinte, der das überindividuell Böse (ζ.
B. in der Gestalt der Erbsünde) in Milieu- und sonstigen UmweltFaktoren lokalisierte und es hier in einem allmählichen, aber doch
lawinenartigen Anwachsen begriffen sah.
Wie sehr die dämonische exousia über den Kreis der bloßen UmWelt hinaus die eigentliche Tiefe des Weltwesens s e l b s t bestimmt,
könnte man am Staatsbegriff des Neuen Testaments feststellen.
(Leider würde die Behandlung dieser Frage in un-serm Rahmen zu
weit führen)1).
Der Staat ist ganz einfach d e s h a l b ein geeignetes Paradigma für
eine solche Feststellung, weil er in ganz besonderer Weise ein
Repräsentant „dieses Äons" in all seinen wesentlichen Eigenschaften
ist und darum auch ganz bewußt immer wieder in Gegensatz zu der
kommenden Welt Gottes gesetzt wird. Man denke nur an das
Gegenüber von Jesus Christus und Pontius Pilatus ; ferner an das Wort
des Paulus : Gott wird aufheben alle Obrigkeiten, Fürstentümer usw.
(i. Cor. 15, 24). Luther hebt im Genesis-Kommentar den Staat sogar
ausdrücklich gegen den Urständ ab2), indem er sagt: Im Urständ des
ungefallenen Menschentums habe Gott die Men^ sehen uno moto
digito (durch e i n e n erhobenen Finger) regiert. Mit der Sünde sei die
innere Auflehnung in die Welt gekommen — und damit auch die
Bedrohung durch das Chaos. Jetzt habe Gott Gewalt-Ordnungen
einsetzen müssen, die das lauernde Chaos in Schach halten. Diese
Gewalt-Ordnungen werden durch den Staat repräsentiert. Und damit
wird der Staat selbst zum Repräsentanten dieses Äons, der eben als
g e f a l l e n e r Äon die Gewalt nötig hat. Deshalb, wird man auch
postulieren dürfen, daß, sofern wirklich die dämonische
*) Vgl. meinen Aufsatz: „Die Grenzen der Fürbitte", in dem später erscheinenden Buch: Christus unser Schicksal.
2) Genesis-Kommentar, Weimarer Ausgabe 42, 79, 7—19.
Macht „Herr dieser Welt" ist, diese Herrschaft im Umkreis des Staates
besonders zum Ausdruck kommen wird.
Wir beschränken uns in diesem Zusammenhang auf einige
Andeutungen1):
Der irdische Staat gehört gerade nach dem 13. Kapitel des
Römerbriefes zu den exousiai, d. h. zu den Engel- und Dämonenmächten. Man pflegt das im allgemeinen nicht zu beachten, weil
Römer 13 meist nur kurzschlüssig aufgefaßt wird als die Autorisierung
der Obrigkeit durch Gott. Gewiß liegt diese Autorisierung vor. Aber
doch in einem sehr bedingten Sinne: närnlich als Ordnung der
g e f a l l e n e n Welt. Die exousia, die der Staat repräsentiert, ist
deshalb nicht einfach ein Abglanz der g ö t t l i c h e n exousia,
sondern ein Abglanz jener Zwischenmächte, denen Gott in der
gefallenen Welt Raum gibt. Es gibt eben auch diesen indirekten, der
gefallenen Welt gleichsam entgegenkommenden und auf sie eingehenden Willen Gottes 2).
Hat man aber diese Beziehung auf die gefallene Welt und auf die
exousia der Zwischenmächte einmal verstanden, liegen die
Obrigkeitsaussagen von Römer 13 und andererseits die Aussagen von
Offenbarung Johannis 13 über den dämoni*) Vgl. dazu die entsprechenden ausführlicher gehaltenen Kapitel in
meinem Buch „Geschichte und Existenz. Grundlegung, einer evangelischen Geschichtstheologie", Gütersloh 1935.
a) Am deutlichsten kommt das vielleicht im Verbot der Ehescheidung
durch Jesus zum Ausdruck Mt. 19, 1—12. Gottes eigentlicher Wille besteht in der unscheidbaren Zusammengehörigkeit von Mann und Weib.
Den Scheidebrief hat Mose (natürlich im Auftrage Gottes) nur zugelassen
„um eurer Herzenshärtigkeit willen". Scheidebrief und Ehebefehl haben
also beide eine Beziehung auf den Willen Gottes, und doch kommt der
Wille Gottes in einer völlig verschiedenen Weise zum Ausdruck. Man
könnte sagen: das eine Mal direkt, und das andere Mal indirekt
gebrochen; das Fremdelement der gefallenen Welt hat sich beim
„Scheidebrief" da-zwischengeschoben. - Ähnlich liegen die Dinge bei der
Beziehung des Staates auf den Willen Gottes : er ist, so w i e er ist, nicht
direkter Ausdruck des Willens Gottes, sondern er ist gleichsam um der
Herzenshärtigkeit der Menschen willen da und zugelassen.
13*
'95
sehen Machtstaat als das Tier aus dem Abgrund nicht mehr soweit
auseinander, wie es im ersten Augenblicke scheinen mochte. Der
exousia-Begriff, d. h. die Beziehung auf die Engel-und
Dämonenmächte, verbindet beide Aussagen aufs engste miteinander.
Es ist also nicht zufällig, daß die staatliche Obrigkeit, die zwar von
menschlichen Machthabern getragen wird, aber doch ganz unabhängig
von diesen Einzelpersonen, sozusagen überpersönlich, „da" ist, archai
kai eXousiai (Herrschaften und Gewalten) genannt wird. Es sei
bezeichnend, sagt C. L. Schmidt*), daß Werner Foerster in seinem
Artikel über exousia im Kitteischen Wörterbuch bei aller Umsicht und
Vorsicht, mit der er Rom. 13 umkreise, durch die dortige Erwähnung
der exousiai nun doch beinahe in den Bereich der Engel- und also der
Zwischenmächte gerate. Wohl in Anlehnung an das rabbini-sche
rem'outh (Rom. 13, 2 ff. ; Kol. 1,13 par) bezeichne exousia den
Herrschaftsbereich s o w o h l vom Staate (Lk. 23, 7) w i e vom
Geisterreich (Eph. 2, 2; Kol. 1, 13).
Damit erscheint der Staat in einem Doppellicht : E i n m a l ist er
Repräsentant der gottgewollten Welt-Ordnung, die der Cäsar durch
sein Amt verwirklicht und der in gewissem Umfang gehorcht werden
muß. Z u g l e i c h aber steckt in ihm die dämonische Tendenz der
Selbstübersteigerung; das Tier aus dem Abgrund Hegt in ihm auf der
Lauer. Mit der Selbstübersteigerung ist auch die Gefahr der Selbst
a u f h e b u n g gegeben. Der Staat muß gerade in seiner höchsten
Potenzierung („totaler Staat") seine Vorläufigkeit und seine
Preisgegebenheit an das Dämonische offenbaren.
Man könnte also sagen, daß der Staat der Schnittpunkt zweier
Bewegungen sei, deren eine von unten und deren andere von oben
erfolgt:
Die Bewegung von o b e n her ist dadurch gegeben, daß Gott
x) Das Gegenüber von Kirche und Staat in der Gemeinde des NT.
Theol. Blätter 1937,1.
214
dem in seiner „Herzenshärtigkeit" zum Chaos drängenden Menschen
die Gnade staatlicher Ordnung und Bändigung gewährt, damit die Welt
noch erhalten bleibt und der heilsgeschichtlichen Führung Gottes bis
zum Jüngsten Tage zur Verfügung steht. Die Bewegung von u n t e n
her ist dadurch gegeben, daß der Staat gleichzeitig eine Ballung aller
menschlichen Aufstandskräfte in sich enthält: er stellt zugleich - ein
wirklich g e h e i m n i s v o l l e s Zugleich ! — eine SelbstOrganisation und -Verschanzung dieses Äons dar. Denn alle
Zerstörungskräfte, die im einzelnen Menschen auf der Lauer liegen,
treten uns in der Polis sozusagen in makrokosmischer Vergrößerung
entgegen: das Verdrängungsgesetz und der Expansionstrieb, die Lüge
in gewissen Kunstgriffen der Diplomatie und in der Spionage, der
Machttrieb an Stelle des Rechtes usw. Der Staat zwingt gleichsam den,
der i η ihm und d u r c-h ihn Macht ausübt, sich den Strukturgesetzen
dieses Äons zu fügen. Darum sagt Friedrich Wilhelm I. nach Jochem
Klepper, daß Könige mehr sündigen müßten als andere Menschen. Es
ist einfach so, daß ein Mensch, je mehr er sich aus sich selber heraus
begibt, um so mehr in jenen beherrschenden Strudel gerissen wird.
Darum sagt auch der Großtyrann in Werner Bergengruens Roman „Der
Großtyrann und das Gericht": „Hierin liegt ja gerade eine der großen
Widersprüchlichkeiten und Unvollkommenheiten unserer Welt, daß
reine Hände nicht stark sein und starke nicht rein bleiben dürfen" (S.
233).
Von hier aus wird auch der V e r a b s o l u t i e r u n g s d r a n g
des Staates deutlich: Er fällt gleichsam auf seine dunkle Seite zurück.
Das Dynamit seiner dämonischen exousia-Eigenschaft explodiert. Die
Mächte des Unten branden titanisch gegen den göttlichen
Ordnungswillen von obenher an. Vielleicht hat es nie eine Zeit
gegeben, die diese Gesetze unübersehbarer demonstrierte als die
unsrige. Der dämonische Machtstaat der Endzeit mit dem
losgelassenen Tier bedeutet
*215
also nichts anderes, als daß die Mächte der Tiefe mit Gottes Zulassung
einen vorübergehenden Triumph über Gottes Ord^-nungswillen
erringen dürfen, oder — anders und weniger mißverständlich
ausgedrückt—: daß Gòtt die Welt ihren eigenen dämonischchaotischen Tendenzen überläßt, sie gleichsam an sich selbst
„dahingibt". Jedenfalls erkennen wir hier, wie die dämonische Macht
wirklich „ M a c h t " ist und als ein verborgener „Herr dieser Welt"
auf die offene Aufrichtung seiner Herrschaft wartet. Die Hand dieses
„Herrn" ist bis in die tiefsten Strukturgesetze dieses Äons spürbar. Das
lehrt das Paradigma des Politischen.
III, Die Anonymität des Dämonischen
Wenn wir bisher immer wieder feststellen mußten, daß es bei der
Wirklichkeit des Dämonischen nicht einfach um ein Prinzip, sondern
wirklich um eine reale und personhafte Macht geht, so müssen wir
dieser Feststellung als weiteres Moment jetzt dieses hinzufügen, daß
die dämonische Macht immer a n o n y m zu bleiben strebt. Wir sahen
schon, daß sie sich hinter der göttlichen Maske als Engel des Lichtes
und im Tempel Gottes verbirgt. Auch Genesis 3, in der
Sündenfallgeschichte, tritt sie nicht in ihrer Eigenschaft als Teufel in
Erscheinung, sondern im Namen der göttlichen N e u g i e r d e („ihr
werdet wissen, was gut und böse ist") und im Namen der
berauschenden Aufwärtsentwicklung des Menschen („ihr werdet sein
wie Gott"). Und bei der Versuchung Jesu tritt sie keineswegs in ihrer
Eigenschaft als Teufel in Erscheinung, sondern sie kommt im Namen
des so vernünftig scheinenden Prinzips, d i e P o l i t i k z u g u n s t e n d e s C h r i s t e n t u m s e i n z u s e t z e n : Wie wäre
es, wenn du, Christus, dir erst den Erdkreis und die Macht über seine
Völker zuweisen ließest, um sie dann zu „christianisieren"? Dieser
Gedanke ist plausibel und pathe
216
tisch wie alle Gedanken, die der Teufel denkt. Und wenn man eines
sicher weiß, dann ist es dies, daß er nicht seine Visitenkarte abgibt.
Das prägt sich übrigens in der Taktik j e d e r Verführung aus. Denn
niemals wird ein Verführer sprechen: „Komm, ich will dich eine Sünde
lehren"; „ich will dir etwas Böses beibringen". Sondern immer wird er
sagen: „Sieh, ich will dir etwas Interessantes, etwas Lustvolles, etwas
dein
Leben
Bereicherndes
zeigen
und
herbeischaffen."
A n o n y m i t ä t ist deshalb ein unaufgebbares Zeichen der
dämonischen Macht. Das Neue Testament bringt diese Anonymität
auch so zum Ausdruck, daß es von Mächten redet, die aus den dunklen,
verborgenen Hintergründen der Welt als Geister der Luft wirken (Eph.
2, 2; 6, 2). Sie wirken damit so lebensbestimmend wie die Atmosphäre,
aber auch so unmerkbar. Das beste Beispiel dafür ist der sogenannte „Z
e i t g e i s t". Wer vermag zu bestimmen, wo er selber aufhört und der
Zeitgeist anfängt! Der Zeitgeist ist so sehr etwas uns „atmosphärisch"
Umgebendes, daß wir meinen, wir seien es selbst, die seine Meinungen
und Tendenzen vertreten. Und so gewiß das auch stimmt und so sehr
wir als Subjekte den Zeitgeist tragen helfen, so sehr gilt doch auch das
andere : daß uns hier eine anonyme Macht im Banne hält, die nicht wir
selbst sind, sondern nur so tut, als ob wir es selbst wären und als ob sie
unsere eigenen Gedanken zum Ausdruck brächte. Das eben i s t ja ihre
Anonymität, daß sie sich nicht gegenständlich fassen läßt, sondern uns
ungegenständlich umgreift. Deshalb bedient jene Macht sich auch
besonders gerne des Instrumentes der P r o p a g a n d a , d. h. der
ungegenständlichen Einflüsterungen, die das Ziel der „Willensbildung"
haben. Schon das Wort „Willensbildung" ist überaus charakteristisch.
Denn es besagt, daß die Propaganda sich zwar an den Menschen als
den Träger eines Willens wendet, aber doch so heimlich und einflüsternd auf diesen Willen einwirkt, daß er unter der Hand
217
anders wird, es aber selber nicht merkt, sondern heimlich aufgezwungene und suggerierte Entschlüsse als eigene empfindet und
vollzieht. (Man denke etwa an eine moderne Wahlpropaganda.)
Nochmals: Das Dämonische ist kein Gegner, der uns gegenständlich faßbar wird wie Fleisch und Blut, - Paulus sagt: wir
haben n i c h t mit Fleisch und Blut zu kämpfen ! — sondern der
ungegenständlich durch uns hindurchwirkt und unsichtbar hinter uns
tritt. Darin besteht, um mit Paulus zu sprechen, seine Fürstlichkeit,
seine Gewalt und sein atmosphärisch unsichtbarer Charakter (Eph. 6,
12).
Eine besonders tiefe Ausprägung dieses Gedankens liegt in dem
neutestamentlichen Bilde vom „Reich der Finsternis" vor (Kol. ι, 13).
Hier ist die atmosphärische Unfühlbarkeit sozusagen in die optische
Unsichtbarkeit übersetzt: Er ist der Meister der Nacht oder — wie wir
früher sagten — der „Verdunkelung". ImDunkelnaber sieht alles
entstellt aus, und man findet nichts. An großen Gefahren geht man
achtlos und nichtsahnend vorüber, und über ein R.ascheln im Gebüsch
erschrickt man. Es seien nur zwei Formen solcher Verkennungen und
Verwechslungen im Dunkeln gezeigt:
E i η m a 1 : man verwechselt in der Umschattung durch die
dämonische Macht „groß" und „klein". Man hält Dinge für wichtig, die
angesichts der Ewigkeit auf ein Nichts zusammenschrumpfen oder wie
Kot zu achten sind (Phil. 3, 8), ζ. B. alles was mit dem Mammon oder
mit unserm Ansehen vor den Menschen zusammenhängt. Umgekehrt
wird das „eine, was not ist" (Lk. 10, 42) für eine Randerscheinung des
Lebens gehalten, für einen gewissen religiösen Zusatz des Lebens, der
einen erhebenden und stärkenden Einfluß ausüben mag, der aber keine
zentrale Existenznotwendigkeit darstellt. So werden die Maßstäbe
verwirrt. Und es ist deshalb nicht von ungefähr, daß Jesus immer
wieder die Umkehrung aller Werte und die Zerstörung aller
vorhandenen Maßstäbe im Reiche
218
Gottes ankündigt — so wenn er etwa davon spricht, daß die Letzten
die Ersten und die Ersten die Letzten sein werden. Auch das
Kirchenlied bittet — aus dieser Situation der Verdunkelung und der
Verkehrung aller Dinge und Werte heraus —: „Ewigkeit, in die Zeit
leuchte hell herein, daß uns werde klein das Kleine und das Große
groß erscheine." Gerade in dieser Dunkelheit wird es ganz deutlich,
wie das diaballein des Diabolos zum Zuge kommt: die dämonische
Macht „wirft" die Werte „durcheinander".
Die gleiche Verwechslung und das gleiche Diaballein bezieht sich
auch auf die Verwirrung von Traum und Realität. Unter dem Stichwort
„Angehöriger des Jenseits" wird Gott im säkularen Bewußtsein nicht
nur zu einer Rand-, sondern auch zu einer unwirklichen Erscheinung,
zu einer Projektion unseres religiösen Gefühls an den Himmel. Da die
„Religion" für dieses Bewußtsein nur den Charakter eines
ideologischen Überbaus über die ökonomischen oder auch
biologischen Verhältnisse hat, so bekommt auch Gott den Charakter
dieser Un-wirklichkeit. Die eigentlichen Realitäten bestehen nur in den
das Diesseits regierenden Mächten, in wirtschaftlichen, biologischen,
militärischen und ähnlichen Vorgängen. Der bekannte Satz, daß Gott
immer mit den stärksten Kanonen sei, drückt diese funktionale
Abhängigkeit Gottes, die im übrigen nur eine ironische Verschleierung
seiner Unwirk-lichkeit ist, genügend klar aus. Auch hier ein Diaballein
im Dunkeln !
E n d l i c h besteht noch eine überaus charakteristische Form
dieses Diaballein darin, daß es uns zur Verwechslung von Schöpfer
und Geschöpf, d. h. daß es uns zur Vergottung geschöpflicher Mächte
statt zur Anbetung des Schöpfers s e l b e r führt. Wir haben im 2.
Kapitel dieser Arbeit gesehen, welche „Verwirrung" (im wörtlichsten
Sinne!) durch die Divination einzelner Schöpfungsgestalten Ereignis
wird: daß sie eben n i c h t in der Lage sind, das Ganze des Lebens
219
zu beherrschen, sondern weite Lebensräume der Bindungs-losigkeit
und dem Chaos ausliefern: Die Verabsolutierung des Geistes ζ. B.
(etwa im Idealismus) läßt die vitalen Bereiche unberührt und treibt
deshalb die Blut- und Bodengötter zum Aufstand. Diese wiederum
überlassen den Geist seinen ungezügelten Trieben und bringen einen
neuen
Aufstand
des
Intellektualismus
hervor.
Diese
Aufstandsbewegung läßt sich auf vielen, nein auf a l l e n
Lebensgebieten zeigen. Wir haben das früher getan. Hier wird
dasselbe Phänomen noch einmal unter dem Gesichtspunkt deutlich,
wieso der „Durcheinanderbringer" dabei am Werke ist.
Bis in die Struktur der Völkerwelt läßt sich sein Wirken verfolgen:
Denn die Vergottung der Schöpfungsmächte, die sich im Zeitalter des
Nationalismus vor allem in der Vergottung der Volksmächte und ihrer
mythischen Verklärung äußert, führt zu einem wachsenden
Unverstehen zwischen den Völkern. Es fehlt die Bindung an die alle
verpflichtende göttliche Autorität. Wenn „Arier" und „Nicht-Arier"
alle gleichermaßen nur auf Grund der „Volks-Autorität" handeln und
das durch den Satz ausdrücken würden : „Gut ist, was meinem Volke
nützt", so könnte es keine Heiligkeit der Verträge und keine
übervölkische, schlechthin autoritative Verpflichtung mehr geben1).
Indem diese Bindungsmacht aber entfällt, stehen notwendig
A n g s t und M i ß t r a u e n , auf, weil der andere nicht mehr
*) Wir sind übrigens nicht so weltfremd zu meinen, daß es auch unter
Christen keine Krisen von Verträgen und keine Konflikte zwischen politischen Notwendigkeiten und der Geltung der göttlichen Gebote geben
könnte. Es ist ein Zeichen der gefallenen Welt, daß sie niemals ohne Wertwiderstreit sein kann. Es ist aber ein anderes, ob man diese Struktur der
Welt als ein V e r h ä n g n i s zugibt, das die Gewissen belastet und nur
unter der Vergebung zu ertragen ist ; und wieder ein anderes, ob man aus
dieser Not eine Tugend macht und gleichsam strahlend die Unverbindlichkeit übervölkischer Verträge mit dem Satze proklamiert „Gut ist, was
meinem Volke nützt" oder mit dem andern : Right our wrong my country.
' 220
festzulegen und deshalb unberechenbar ist. Daraus ergibt sich das
Streben nach „Sicherheit" und auf der andern Seite nach
entsprechender Gegensicherung. Daß diese krankhaft gesteigerten
Spannungsverhältnisse immer wieder zu gewaltsamen Entladungen
drängen müssen, ist nur zu klar. Die ungeheure Steigerung in der
H ä r t e der kriegerischen Auseinandersetzungen — wir brauchen nur
an die gegenwärtige Auseinandersetzung zu denken — liegt zweifellos
nicht in der technischen Entwicklung der Kriegsinstrumente, sondern
auch in der genannten weltanschaulichen Grundhaltung begründet. Der
Diabolos hat (wiederum im wörtlichsten Sinne !) ein „diabolisches"
Interesse daran, einen nationalistischen P o l y t h e i s m u s zu
zeitigen. Dieser Polytheismus ist eines seiner vornehmsten Mittel, das
Chaos heraufzubeschwören. Und "wenn die Offenbarung Johannis von
' jener merkwürdigen Steigerung des Bösen und der Wirrnis am Ende
unseres Äons spricht, so denkt sie wohl unausgesprochen an diese
diabolische Funktion.
IV. Die Formen seiner Machtausütiung
Es geht also beim Dämonischen tatsächlich um eine wirkende
M a c h t . Er ist der „ F ü r s t" dieser Welt. Verschiedene
Kennzeichen dieser Macht haben wir bereits entfaltet, so etwa ihre
Anonymität, ihre Funktion als Verführerin, Ver-klägerin und
Zersetzungs-Ferment.
Noch zwei weitere Eigenschaften von höchstem Rang müssen wir
bezeichnen : a) Die dämonische Macht beherrscht den G e i s t . Sie
sitzt keineswegs nur, wie alle Formen des Idealismus dartun möchten,
im „Fleisch", in der „Sinnlichkeit" und den „inferiora" des Menschen.
b) Die dämonische Macht sucht ihr Opfer in den Zustand der
H ö r i g k e i t zu bringen.
221
a) D i e G e i s t - B e h e r r s c h u n g d u r c h
die dämonische Macht
Paulus sagt Eph. 2, 2: „Euer einstiger Lebenswandel vollzog sich
unter dem Herrscher der Macht der Luft." (Wir wissen nunmehr, was
mit diesem atmosphärischen Gleichnis gesagt sein soll.) Diese Aussage
über und an die Epheser bezieht Paulus aber zugleich auf sich
s e l b s t . Wir alle waren in die: ser Hörigkeit, indem wir „in der
Begierde des Fleisches" lebten und die „Wollungen (thelemata) des
Fleisches und der Gedanken (dianoiai) taten".
Damit ist doch gesagt, daß unser „Fleisch" und unsere „Gedanken"
einen W i l l e n haben und nicht nur einen T r i e b ! Die Beziehung
auf den Willen oder besser auf die „Wollungen" kann aber nur
bedeuten, daß hier eine zielstrebige, uns im Banne haltende M a c h t
herrscht, die nicht einfach triebhaftes Fleisch und Blut ist. Denn diese
bloß triebhaften Begehrungen könnten wir ja als intelligible Vernunftund Willenswesen einigermaßen niederhalten. Statt dessen wird uns
hier bedeutet, daß dem Willen nicht einfach der sinnliche Trieb
entgegensteht, sondern daß jener Wille durch einen a n d e r n Willen
— aber eben einen W i l l e n — bestritten wird: Hier tritt eine
persönliche Macht auf — „persönlich" ganz einfach deshalb, weil sie
einen W i l l e n hat — eine persönliche Macht mit einem Anspruch,
einem N o m o s , der uns nicht einfach „ ü b e r w ä l t i g t " (so wie
wir ja vom Terror des Blutes und der Sinnlichkeit überwältigt werden
können), sondern der uns „ ü b e r z e u g t", d. h. uns die Beugung
unter seine Normen als Gottesdienst vorlügt.
Es ist ja verhältnismäßig einfach, sich das klar zu machen: Denn als
Paulus und die Epheser vor ihrer Bekehrung den Wollungen ihrer
dianoiai gehorchten, meinten sie keineswegs, sie seien Triebsünder,
sondern sie waren allen Ernstes überzeugt („überzeugt"!) sie täten Gott
einen Dienst damit (vgl.
222
auch Joh. 16, 2). Denn auf dem Schleichpfad über die sinnlich vitale
Selbstbehauptung waren jene Wollungen des Blutes in die Vernunft
gedrungen und hatten ihre Argumente entsprechend determiniert. Wir
wissen ja auch sonst, in welchem Ausmaße „der Wunsch der Vater
unserer Gedanken" ist. Indem aber Wunsch und Begehren unsere
Gedanken formen, hören jene auf, den „Gedanken" einfach als der
„sinnliche Sektor" unseres Ich gegenüberzustehen — wie der Idealismus das in verhängnisvoller Vereinfachung meinte —, sondern sie
sind mit diesen Gedanken ungegenständlich vermengt und für sie
unsichtbar geworden. Die Gedanken pflegen unter der Hand aus
F e i n d e n des Begehrens zu deren A n w a l t zu werden : auch
eine Form der dämonischen Anonymität und Ungegenständlichkeit!
Und zugleich wieder ein Beweis dafür, wie sich das Dämonische nicht
im Lichte unserer eigenen Gedanken enthüllt — wie könnte etwas
Verfinstertes dergestalt leuchten! — sondern nur im Lichte Gottes
selber. Das wird auch Rom 1, 18 ff. deutlich: dort spricht Paulus
davon, wie die Gedanken des natürlichen Menschen über Gott sich
verfinstern und wie sie (gleichsam im Zwielicht zwischen Gott und
Satan) schließlich bei der Anbetung der kriechenden, vier-füßigen und
fliegenden Tiere, sowie des menschlichen Bildes selber, enden. Sie
beten also die Symbole ihrer eigenen Krea-türlichkeit und damit sich
selber an. In der blasphemischen Form des Gottesdienstes behaupten
sie sich selbst gegenüber Gott, so daß es in Wirklichkeit gar nicht um
ein „dienendes" Unter-Gott-sein, sondern um ein „herrisches" und
selbstherrliches Sich-über-Gott- e r h e b e n geht. Da aber die sinnlich
vitale Selbstbehauptung des Menschen so die Gedanken selbst erobert
hat, da der Mensch gar nicht „von unten her" ü b e r w ä l t i g t ,
sondern „von unten her" ü b e r z e u g t ist, so wird er sich niemals
mit eigenen Augen in seiner Protesthaltung erkennen, sondern die ihm
vorgeworfene Ablehnung Gottes mit religiösen und „gottgläubigen"
Argumenten be
223
streiten. Daher kommt es, daß es die Geste des Prometheus, der
pathetisch die Faust gegen den Himmel ballt, in Wirklichkeit gar nicht
gibt. Die dämonische Macht wird durch ihre „diabolischen"
Verdunkelungsmanöver immer dafür sorgen, daß der Mensch sich
niemals als G e g n e r G o t t e s empfindet (denn er wüßte ja nur zu
gut, daß das böse und verflucht wäre und würde deshalb erschreckt
zurückzucken), sondern daß er im N a m e n Gottes zu handeln meint.
Das steht in genauer Analogie zur Technik seiner Verführung, in der er
ja ebenfalls zu verschleiern weiß, daß er im Namen des Bösen auf
mich zukommt, und in der er ad oculos zu demonstrieren scheint, daß
er mir nur das „Schöne" und „Großartige" und „Lustvolle" erschließen
will. Die Leute von Rom. ι meinten also in ihrer dianoia keineswegs,
daß sie das Geschöpf statt des Schöpfers verehrten. Aber was kommt
schon auf menschliche „Meinungen" und ihre subjektive Ehrlichkeit
an, wenn einem e i n m a l klar geworden ist, wie die Ebene der Meinungen und der dianoia der Tummelplatz einer andern und fremden
Macht ist und wie wenig der Mensch hier idealistisches Subjekt, wie
wenig er „intelligibel" und „autonom" ist und wie sehr er zugleich
Objekt der heimlichen, atmosphärischen und aus dem Hinterhalt
wirkenden Macht ist!
Noch einmal tritt hier das Wort von Eph. 6, 12 in Erscheinung, daß
wir nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen haben, daß also nicht die
Sinnlichkeit sozusagen das Medium des Dämonischen in
ausschließlicher Weise ist, sondern daß es sich tief in den Geist
eingenistet hat. E s g e h t l e t z t e n E n d e s n i c h t u m d i e
idealistische Anta-gonie zwischen Fleisch
und Geist, sondern
um die viel tiefere
Antagonie zwischen Geist und Geist, nämlich
z w i s c h e n G o t t e s g e i s t u n d M e n s c h e n g e i s t . Hier
tritt das tiefste Geheimnis von der Ungegenständlichkeit des Bösen
zutage.
224
b) D i e H ö r i g k e i t
Eigentlich ist über Wesen und Gestalt der „Hörigkeit" schon
gesprochen worden. Wir fassen das Gesagte nur in einigen prägnanten
Strichen noch zusammen.
Ein bekanntes Wort sagt: „Die Geister, die man rief, wird man nicht
wieder los." Sicher ist das ein Wort, das nur so im christlichen
Abendland entstehen konnte. Denn darin treten zwei Züge aus dem
biblischen Wissen um die dämonische Macht hervor: E i n m a l :
Man kann die dämonischen Mächte rufen und nimmt bis zu diesem
Augenblick noch die Haltung der Freiwilligkeit ihnen gegenüber ein.
F e r n e r : Nachdem sie gerufen sind, kann man sie nicht mehr
bannen, sondern man i s t gebannt. — Dieser Vorgang wird zum
Greifen deutlich in der biblischen Sündenfall-geschichte: Einen
Augenblick lang hat Eva die Wahlfreiheit gegenüber der lockenden
Frucht. Im gleichen Augenblick aber, wo sie kraft ihrer Freiheit nach
ihr greift, v e r l i e r t sie eben diese Freiheit. Denn nun diktiert diese
in Freiheit ergriffene Tat sofort alle kommenden Ereignisse und reißt
in totaler Weise das Gesetz des Handelns an sich. Die daraus folgende
Geschichte wird über Kain und den Turmbau zu Babel bis zum
heutigen Tag eine Auflehnungsgeschichte, in der mit schauerlicher
Konsequenz das Gesicht dieser e i n e n Tat immer wieder aus den
tausendfach verhüllenden Masken hervorstrahlt.
In strengerer Formulierung müßte man freilich sagen: Nicht die
einmal vollzogene T a t diktiert das Gesetz des weiteren Handelns,
sondern der „G e i s t", dem man sich durch diese Tat
v e r s c h r i e b e n hat, diktiert jenes Gesetz. E s g e s c h i e h t
e b e n — das ist das Entscheidende — b e i d e r S ü n d e v i e l
mehr als nur ein Tun des Menschen. M a η u η t
e r s t e 111 s i c h d a m i t e i n e r e x o u s i a , e i n e r
M a c h t . Die Lehre von der
225
Erbsünde bringt das monumental zum Ausdruck. Um das zu verstehen,
muß man sich freilich aller idealistischen Voraussetzungen völlig
entledigen. Denn diese Voraussetzungen sehen immer den Menschen
als handelndes Einzelsubjekt. Deshalb kann es von hier aus nicht
begreiflich werden, wieso dieses Subjekt auf einmal zum Objekt, wie
es aus dem Hammer zum Amboß werden und aus einer freien IchTätigkeit in einen knechtenden Bann gerissen werden soll. Das wird
nur verständlich aus der biblischen Voraussetzung heraus, daß der
Mensch sich ständig im Gegenüber zu einer andern und zwar zu einer
personhaften Größe befindet, sei es, daß sie G o t t , sei es, daß sie die
d ä m o n i s c h e Macht ist. Darum geht es e η tw e d e r um die
Obrigkeit der Finsternis o d e r um das Reich „seines lieben Sohnes"
(Kol. i, 13). Mit beidem ist ausgedrückt, daß man einer exousia
untersteht. Es ist ein tiefes Symbol, daß Faust sich mit B l u t dem Mephistopheles verschreibt. Alles Leben ist entweder ein Sichopfern oder
ein Sich-verschreiben1).
Natürlich ergibt sich an dieser Stelle unseres Gedankengangs die
wichtige Frage nach der Verantwortlichkeit. Inwiefern ist es m e i n e
Tat, wenn ich im Banne handle, und inwiefern kann ich dafür zur
Rechenschaft gezogen werden?
Man wird darauf zweierlei antworten müssen : Jede „Handlung
innerhalb" der Zwangsläufigkeit des Bannes weist immer zurück auf
den Augenblick, wo man sich dem Banne verschrieb, wo ich also in der
Haltung des Subjekts auf ihn zuschritt und ihm die Hand bot. Und
wenn Hitler als einer, der allen Ernstes meinte, Männer machten die
Geschichte und er selber sei ein solcher Mann, im Neujahrsaufruf 1941
erklärte: die Vorsehung stelle einen oft auf Plätze und schicke einen in
Räume, die man selber nicht habe betreten wollen, deren Betreten aber
aus unsern ersten Taten folge2), dann kommt
1)
Vgl. die Gedankengänge über die Aufhebung der menschlichen
Subjektheit in dem Kapitel über die Technik. a) Aus dem Gedächtnis
wiedergegeben.
226
Jiierin sehr deutlich das Bewußtsein um ein Verhängnis und eine
Zwangsläufigkeit zum Ausdruck, die doch durch einen ersten Schritt
von Seiten des Menschen provoziert wurden.
Ferner wäre zu sagen: Bei seinen Auseinandersetzungen mit der
Frage der Verantwortlichkeit hat Luther in De servo arbitrio den
Gedanken ausgesprochen, die genannte Zwangsläufigkeit habe nicht
den Charakter einer coactio (d. h. eines Zwanges, der uns von außen
her überfiele, ohne daß wir etwas dafür könnten), sondern er habe den
Charakter einer nécessitas (d. h. einer inneren Notwendigkeit, analog
der „geprägten Form", die nach dem Worte Goethes „lebend sich
entwickelt"). Das heißt : Ich kann mich nie von dieser
Zwangsläufigkeit als von etwas mir angeblich Fremden distanzieren,
sondern muß zugeben, daß ich mit meiner Subjektheit darein
verwickelt bin. Selbst bei einer erbbedingten Trunksucht, um ein sehr
drastisches Beispiel zu nennen, werde ich nie argumentieren können:
„Ich bin zum Trünke gezwungen" oder „Das Es in mir — also nicht
„ich" — hat alkoholische Exzesse getrieben", sondern ich werde sagen
müssen: „I c h habe mich hinreißen lassen" und damit das
unauflösliche Ineinander von Subjektheit und Objektheit zuzugeben
haben. Das Gegenüber von „mir" und der „exousia" ist auch in
Gedanken unauflöslich1). Diese Unauflöslichkeit haben wir früher
dadurch beschrieben, daß wir sagten: die dämonische Macht übe ihren
Bann aus mit Hilfe des amor sui (= der Selbstliebe). Gerade indem ich
also, wie bei der Selbstliebe, ganz bei mir selbst zu sein, gleichsam mit
mir a 11 e i η zu sein scheine, werde ich doch gerade bei mir selbst
fest g e h a l t e n . Und so sehr also die Selbstliebe auf den „ersten"
Blick ein Akt höchster Subjektheit zu sein
x)
Denke ich bei dieser mir gegenüberstehenden Größe an G o t t , so
wird diese Unauflöslichkeit von Subjektheit und Objektheit besonders an
dem Verhältnis von Prädestination und Willensfreiheit deutlich; ich kann
das beides theoretisch njcht auseinanderfädeln und mein Leben auf diese
beiden Komponenten „verteilen". Beide stellen nur zwei Perspektiven dar,
unter denen ich meine identische Tat sehen muß. 14 T h i e l i c k e , Fragen des
Christentums
227
scheint, so sehr ist sie auf den „zweiten" Blick zugleich als ein
passives Hingerissen- und Verführtsein deutlich. Jedenfalls muß ich
mir die Zwangsläufigkeit „zurechnen" (imputare) und muß mit „ich"
unterschreiben. Damit ist die Frage der Verantwortlichkeit
entschieden.
Obwohl es also das Ich des Menschen ist, das hier handelt, müssen
wir dennoch zugeben, daß in der Auseinandersetzung Jesu mit den
dämonischen Mächten noch eine a n d e r e Beurteilung des
dämonisch gebundenen Menschen eine Rolle spielt, die als Korrektiv
des bisher Gesagten unbedingt noch m i t gehört werden muß. Damit
kommen wir zu einigen Schlußgedanken über die Auseinandersetzung
Jesu mit der dämonischen Macht:
V. Christus in der Auseinandersetzung mit der dämonischen Macht
a) Die Dämonengeschichten des Neuen Testaments zeigen, daß
Jesus auch den gebundensten Menschen niemals mit der dämonischen
Bindungsmacht selbst i d e n t i f i z i e r t : Er sieht vielmehr, daß ein
fremder Geist aus ihm spricht und an ihm zerrt. Und dieser fremde
Geist ist streng von dem zu scheiden, der ihn beherbergt. Nur deshalb
kann er ja auch ausgetrieben werden. Die Dämonenaustreibungen sind
deshalb nichts anderes als die Aufhebung der dämonischen Inkarnation
und die Wiederherstellung des Menschen „zu sich selber".
Diese Scheidung zwischen dem Menschen einerseits und der ihn
besetzthaltenden Macht andererseits wird übrigens deutlich am Gebot
der F e i n d e s l i e b e .
Wenn wir daran denken, daß Jesus mit diesen Feinden gerade die
Widersacher der Gemeinde meint, so will er mit diesem Liebesgebot
die Jünger dahin bringen, an ihren Verfolgern und Quälern zweierlei zu
unterscheiden:
e i n m a l die M e n s c h e n a l s s o l c h e , wie sie aus den
Händen Gottes hervorgeangen sind;
z w e i t e n s die bannende dämonische Macht, die jene Menschen
nun gefangenhält und ihre ursprüngliche Gottebenbildlichkeit bis ins
Unkenntliche entstellt, die sie auch immer wieder gegen die Gemeinde
und seinen Christus entfesselt und aufstachelt. Es ist eben der „altböse
Feind", der sich dieser „Widersacher" bemächtigt hat und sie
verblendet, so daß sie gegen die Gemeinde schnauben, nichtachtend
der Verheißung, daß die Pforten der Hölle sie nicht überwinden dürfen.
Wenn Jesus also sagt: „Liebet eure Feinde!", dann sagt er nicht, „liebet
den Schmutz, in welchem die Perle liegt, sondern er sagt, liebet die
Perle, die im Staube Hegt". In diesem Worte Ralph Luthers kommt in
höchster Prägnanz zum Ausdruck, in welchem Sinne der, Mensch „an
sich" von der ihn bannenden Macht unterschieden werden muß. Wir
stoßen hier auf den entscheidenden Gesichtspunkt christlicher Anthropologie.
Jesu Blick dringt also nicht nur durch die Tarnschleier der guten
Werke hindurch und findet die bösen Gedanken des Herzens
(Bergpredigt), sondern sein Ohr hört auch durch die Fremde und durch
die Nebengeräusche der Dämonen hindurch auf die Stimme des Kindes
Gottes, das sich verirrt hat und fremden Tyrannen zum Opfer gefallen
ist. S e i n e D ä m o n e n h e i l u n g e n b e s t e h e n d e s h a l b
d a r i n , d a ß e r' d i e „K i n d e r " a u s d e n H ä n d e n d e r
sie besitzenden „Macht" herausreißt.
b) Jesu Auftrag läßt sich damit nach einer doppelten Richtung
beschreiben : Er ist erstens ein Kampf g e g e n die Dämonen und ist
zweitens ein Kampf u m den Menschen. Hier sehen wir den ganzen
Gegensatz des neutestamentHchen Denkens gegenüber dem
IdeaHsmus :
Im IdeaHsmus besteht, wie wir bereits sahen, ein dialektisches
Verhältnis zwischen Gut und Böse. Das Böse hat den Sinn eines
notwendigen Durchgangs zum Guten, es ist letzten Endes eine
schöpferische Größe, wie sie Goethe in der
14*
229
Gestalt des Mephistopheles personifiziert hat. Jedenfalls bilden gut
und böse in dieser Schau der Dinge zwei Prinzipien, die sich
gegenseitig konstituieren: Das Gute wäre nicht möglich ohne den
Gegensatz des Bösen. — Im Neuen Testament aber handelt es sich
nicht um zwei sich konstituierende Prinzipien, sondern hier prallen
zwei Mächte, zwei exousiai, aufeinander. Hier geht es um Blut und
Tränen Gottes, hier kommt es zu Gethsemane und Golgatha.
c) Bezeichnend für diesen Einbruch des Christus in das
Dämonenreich ist der immer wiederkehrende Zug aus den
Dämonengeschichten, daß sie ihn e r k e n n e n : Sie spüren ihre
äußerste Bedrohung. Dabei mag ihnen die Anamnesis (die Erinnerung)
des gefallenen Engels zu Hilfe kommen und ihnen das feine Gespüre
für die göttlichen Bereiche verleihen. Wenn Goethe sagt, daß man nur
d a s verstehen könne, was man liebe, so ließe sich hinzusetzen: „oder
was man haßt." Selbst wenn die Dämonen so niedrig sind, daß sie nur
in die Sauherde geschickt werden können, wenn sie intellektuell und
ethisch und bildungsmäßig mehr als minderwertig sind, haben sie diese
geheimnisvolle Witterung für die göttlichen Dinge (vgl. Mk 5, 1-21).
d) Aber die Dämonen reagieren nicht nur so, daß sie Christus
e r k e n n e n , sondern sie w e h r e n sich auch, sie bäumen sich auf.
Wir sprachen schon früher davon, daß sich angesichts des kommenden
Christus die dämonischen Kräfte p o t e n z i e r e n . Das wird nach
der Schau der Offenbarung Johannis gerade am Ende der Tage
deutlich: Je näher der wiederkommende Christus an diesen Äon
heranrückt, um so gewaltiger ballen sich die Gegenkräfte und um so
energischer mobilisiert der Widersacher seine letzten Reserven, bis auf
dem Höhepunkt der dämonischen Exzesse die Wiederkunft erfolgt und
die neue Welt Gottes anbricht. Auch abgesehen von dieser
eschatologischen Schau der Dinge wird man sagen dürfen, daß überall
da, wo lebendige Gemeinde ist, die um die Nähe
ihres Herrn weiß, der Aufstand der Dämonen und die Verfolgung der
Gemeinde erfolgt. Aufstand und Verfolgung sind also keineswegs ein
Zeichen, daß Christus g e h t und daß er das Schlachtfeld der Welt den
Gegenkräften überlassen hätte, sondern im Gegenteil: Dies alles ist ein
Zeichen dessen, daß er kommt, ja, daß er ganz nahe ist. Es kann sehr
wohl sein, daß eine Kirche, die die Öffentlichkeit hat und vom
Applaus der Welt umrauscht ist, auf verborgene Weise den Dämonen
viel ungeheuerlicher preisgegeben ist als die bedrohte und von den
Dämonen umheulte Kircne.
e) Wie erfolgt nun die Befreiung aus der dämonischen Hörigkeit,
wie v o l l z i e h t sich die Austreibung? Eigentlich wäre jetzt die
ganze Rechtfertigungslehre zu entfalten. Denn „Rechtfertigung"
bedeutet ja nichts anderes, als daß wir von der dämonischen exousia
befreit und durch Christus in den väterlichen Bereich der
g ö t t l i c h e n exousia („in das Reich seines lieben Sohnes") versetzt
werden. Wir beschränken uns aber darauf, nur zwei entscheidende
Züge dieser Befreiung zu nennen:
Jesus Christus ist das Licht der Welt gegenüber der Macht der
Verdunkelung, und zwar wieder in einem doppelten Sinne :
E i n m a l stellt er dem Menschen, der in der Verfinsterung sein
will wie Gott und der infolge der Dunkelheit auch meint, das wirklich
sein zu k ö n n e n , das W e i h n a c h t s l i c h t entgegen. In diesem
Weihnachtslicht, das über der Finsternis des' Erdreichs und dem
Dunkel der Völker aufgeht, erkennt der Mensch, daß es diesen Weg
der eigenen Emporsteigerung zu Gott, ja, daß es diesen Weg der
eigenen Gottwerdung nicht gibt, sondern daß der Weg zwischen Gott
und Mensch u m g e k e h r t verläuft: daß Gott sich in der Geburt des
Christkinds hinab zum Menschen begibt und in jener Finsternis über
dem Erdreich und in jenem Dunkel über den Völkern „plötzlich"
auftaucht als der fleischgewordene Sohn Gottes.
Indem Jesus Christus als Licht der Welt in Erscheinung
231
tritt, gibt er die richtige R a n g o r d n u n g aller Werte zu erkennen :
Er gibt zu erkennen, daß nur e i n e s not ist und daß es dem
Menschen nichts hülfe, wenn er die ganze Welt gewönne und Schaden
nehme an seiner Psyché, an seinem Leben. Er zeigt, daß der Mensch in
einer entsetzlichen Verwechslung von Realismus und Traum dahinlebt,
er erweckt ihn aus Schlaf und Traum und gibt ihm die Erkenntnis der
letzten Realität.
F e r n e r : Der Widerspieler wird hinausgeworfen, er i s t schon
gerichtet (vgl. ferner das Gegenüber der „Knechtschaft", in der wir uns
"befanden, und der Freiheit, zu der Christus uns befreit, Rom. 6). In
diesem Sinne ist es schlechthin entscheidend, daß Jesus uns die
H ö r i g k e i t gegenüber der Sünde nimmt. Gewiß, wir bleiben —
wenn wir diesem Gedanken die spezielle Note geben dürfen, die ihm
Luther gab — de facto „Sünder" (peccatores in re). Die bösen Gedanken des Herzens liegen weiter in uns auf der Lauer, und auch-der Christ
vermag sich nicht von den Lasterkatalogen zu distanzieren, die immer
wieder — besonders in den paulinischen Episteln — aufgestellt sind.
Aber das entscheidend N e u e besteht nun darin, daß uns alle jene
Sünden gegen die z w e i t e Tafel der Gebote Gottes nicht mehr aus
dem Verhältnis der K i n d s c h a f t ausweisen dürfen und daß Gott
alle diese Vergehen nicht zum Anlaß nimmt, uns die Gemeinschaft mit
sich zu kündigen:
Das Wesen der satanischen Verführung besteht ja nicht so sehr in
der Verführung zu konkreten Einzelsünden, also zu einem Verstoß
gegen die zweite Tafel, sondern sie besteht vor allem darin, uns
v e r m i t t e l s dieser Verstöße oder a u c h v e r m i t t e l s d e r
k o r r e k t e n Einhaltung der Gebote von Gott abzutrennen. Luther
hat diese mehrfache Möglichkeit der Trennung von Gott in den drei
Begriffen „Sicherheit", „Trotz" und „Verzweiflung" klargemacht
(securitas, superbia und desperatio).
232
Die „Sicherheit" besteht darin, daß wir uns in der Illusion wiegen,
als könnten wir die Gebote Gottes erfüllen. Das führt uns zur
Sicherheit gegenüber G o t t . Wir verstehen ihn nicht mehr als
bedrohlichen Richter und empfinden ihn nicht mehr als beunruhigend.
Wir fühlen uns ihm gewachsen und versuchen unsererseits die
Rechnung zu präsentieren. Diese Form der gleichsam
m o r a l i s c h e n Abspaltung von Gott ist in der sogenannten
pharisäischen Haltung gegeben.
Die a n d e r e Möglichkeit besteht darin, daß wir im Ungehorsam
gegen die Gebote Gottes „t r o t z i g" verharren und uns selber das
Gesetz unseres Handelns eigenmächtig vorschreiben: Das ist die
Abspaltung von Gott kraft trotzigen U n g e h o r s a m s .
^ Die d r i t t e Möglichkeit des Ausbruchs aus der Gemeinschaft
Gottes wird d a n n Wirklichkeit, wenn ich zwar die Größe und
Gültigkeit der Gebote Gottes anerkenne, aber verzweifelt feststelle,
daß ich sie nicht erfüllen kann. Gott wird mir dann zum Gegner und
Feind, dem ich mich nicht gewachsen weiß und den ich nur als meinen
Verfolger und Peiniger erlebe, den ich geradezu hassen muß.
Diese drei Möglichkeiten, uns den Händen Gottes zu entreißen, sind
der dämonischen Macht in d e m Augenblick genommen, wo ich in die
Gefolgschaft Jesu Christi trete. Gewiß: Die Sünde ist noch da, aber
doch nur als bloße Larve, als eine Giftschlange, welcher der Giftzahn
herausgebrochen ist.
. E t w a s ist nämlich an ihr entscheidend anders geworden : Sie darf
nicht mehr der „Stützpunkt" der mich von Gott abspaltenden
dämonischen Macht sein. Sie darf keinen Einfluß mehr haben auf
meine Trennung von Gott. Sie ist umgekehrt — wenn wir im Bilde
bleiben wollen — ein Stützpunkt der Barmherzigkeit Gottes geworden:
Wo die Sünde mächtig geworden ist, da ist die Gnade n o c h viel
mächtiger geworden (Rom. 5, 20), und ob unsere Sünde blutrot wäre,
233
soll sie doch schneeweiß werden (Jes. ι, 18), und je verlorener sich der
ungeratene Sohn herumtreibt, um so mächtiger arbeitet Gottes
Barmherzigkeit an ihm und u m so mehr wird er seinen Vater preisen
müssen.
Hinter der gleichbleibenden Fassade der Sünde — äußerlich ist ein
begnadigter Sünder von einem unbegnadigten ethischen Sünder in
vielem nicht zu unterscheiden — hat sich ein totaler
H e r r s c h a f t s w e c h s e l vollzogen : Während wir oben sagen
mußten, daß gerade unsere Sünde der dämonischen Macht ein Recht
auf uns gebe, ist es durch die Dazwischen-kunft Jesu umgekehrt
geworden. Nun gibt gerade meine Sünde dem C h r i s t u s ein Recht
auf mich, da er sie nämlich auf sich lädt und den Schuldschein zerreißt.
Felix culpa (glückhafte Schuld), sagt Augustin — nicht zuletzt unter
diesem Gesichtspunkt. Die konkrete Einzelsünde (peccatum in re)
gleicht jetzt wirklich einer Schlangenhaut, aus der die teuflische
Schlange herausgekrochen ist. Äußerlich mag das ähnlich aussehen,
und doch ist es nur die Haut.
Was ist'ein Scherzwort ohne Pointe? Was ist die Sünde ohne — ja
ohne „Pointe", nämlich ohne das taktische Ziel des Widersachers, mich
von Gott loszureißen? Ich bin in der Burg, wo der Terror der Hölle
mich nicht schrecken kann. Selbst die Furcht und die Versuchlichkeit,
selbst meine zitternde Subjektivität läßt mich Gott loben „in gar
sich'rer Ruh". „Wenn gleich Sünd' und Hölle schrecken, Jesus will
mich decken." „Trotz des Feindes Lauern (er lauert wirklich I), / trotz
des Todes Schauern (wer wüßte davon nichts, auch wenn er in der
Gefolgschaft des Auferstandenen steht ?) / trotz der Furcht dazu, /
Zürne, Welt, und tobe, / ich steh* hier und lobe / Gott in sicherer Ruh. /
Seine Macht / hält mich in Acht /. Erd* und Abgrund muß sich
scheuen, / ob sie noch so dräuen." Wenn irgendwo, so kommt es hier
zum Ausdruck, daß wirklich die Schlangenhäute um mich herum nur
so wimmeln. Hier ist von Hölle und Todesschauern und Anfechtung, ja
hier ist vom
234
alten Drachen selber die Rede. Wir sind dem allen nicht entrückt, wir
sind nur dem Z u g r i f f des Drachen entrückt, wir, die wir unterm
Lobe Gottes wohnen. Er darf nicht mehr verklagen und verführen,
Gott hört nicht mehr auf den „Staatsanwalt", sondern auf meinen
„Anwalt".
Wer sollte es wagen, die Auserwählten Gottes zu beschuldigen? Gott ist hier, der da gerecht macht. Wer will verdammen, will
verklagen, will sich zwischen Gott und mich drängen? Christus ist hier!
Wenn selbst mein eigenes Gewissen mich verklagt, g i l t das nicht
mehr, denn auch d a m i t ist alles anders geworden. Luther sagt:
Zuerst tritt Gott mir als Verkläger entgegen, das Gewissen als mein
Verteidiger; dann aber, wenn ich in der Gemeinschaft mit Christus bin,
wird es umgekehrt: dann ist mein Gewissen mein Ankläger, Gott aber
ist mein Verteidiger. (Deus accusator, cor defensor; cor accusator, deus
defensor.) Der Teufel darf dann auch meine Gewissensskrupel, meine
Furcht, überhaupt meine ganze wackelige Subjektivität nicht benutzen,
um von hier aus seine Störungsmanöver vorzutragen. „Denn ich bin
gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer
noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes
noch Tiefes noch keine andere Kreatur mag uns scheiden von der Liebe
Gottes, die in Christus, Jesus ist, unserem Herrn" (Römer 8, 38 f.).
235
FÜNFTES KAPITEL DIE CHRISTLICHE BOTSCHAFT AN DEN
MENSCHEN DES SÄKULARISMUS
UMRISSE EINER NEUEN PREDIGTGESTALT
Geschichte und Heilsgeschichte
Wir leben in einer Zeit der Rohstoffknappheit ohnegleichen. Die
Maschinen unserer verarbeitenden Industrie drohen leerzulaufen, weil
man ihre Schlünde nicht genügend füttern kann.
Es gibt nur e i n e n Berufszweig, der mit einem Übermaß an
Rohstoffen beschenkt ist und von der Überfülle schier bedrängt wird:
das ist der Beruf eines Predigers und Lehrers der Kirche.
Ich spreche nicht davon, daß diese Zeit mit ihren apokalyptischen
Enthüllungen
der
Welt-Hintergründe
eine
Art
„zweiter
Offenbarungsquelle'4 neben der Bibel sei. Wenn wir als biblische
Christen nicht schon genügend darüber belehrt wären, daß es diese
„geschichtliche" und „zeitgeschichtliche" Offenbarungsquelle nicht
gibt, müßten wir's heute erfahren. Not lehrt nicht nur beten, sondern
auch fluchen. Not und Heimsuchungszeiten bringen nicht nur ein
Aufpflügen der Herzensäcker mit sich, sondern gleichzeitig (und
zahlenmäßig gesehen sogar v i e l f ä l t i g e r ) eine Verhärtung. Das
lehren die Plagen und Schreckenszeiten der Offenbarung Johannis, von
denen es in beklemmender Monotonie immer wieder heißt: „Sie taten
n i e h t Buße", sie sinken nur tiefer in dä
236
monische Verstrickungen hinein (Öffb. Joh. 9,20; 16, 9. Ii. 21).
Deshalb ist die Geschichte keine Offenbarungsquelle, sondern nur
Rohstoff zu einer solchen. Und zwar möchte ich sagen: „Rohstoff"
ganz im Sinne der aristotelischen- prote hyle, d. h. der Ur-Materie, die
noch ganz ohne Formung, die geradezu „Chaos" ist.
Daß die Geschichte selber nur ein derartig unförmiger Rohstoff der
wirklichen Gottesgeschichte und ihrer Offenbarungen ist, erkennen wir
ja auf Schritt und Tritt: Wir beobachten Menschen um uns her, denen
wir Klugheit, Scharfblick, Bildungsniveau und ernsthaften Willen zur
Objektivität nicht absprechen können. Aber das, was faktisch in der Zeit
vorgeht an Gericht und Heimsuchung und Gnadenverheißung, kurz an
G o t t e s - Geschichte, ist ihnen restlös verborgen. Darum ist der
äußere Geschichtsverlauf — und dazu rechne ich auch die
Geistesgeschichte —, mit, in und unter dem sich diese GottesGeschichte vollzieht, trotz aller geistvollen Deutungen und
Zusammenschauungen für sie ein undurchdringliches Chaos, dem
letztlich jede Sinnhaftigkeit von Gott her mangelt. Sie sehen etwa in der
Heimsuchungszeit des Krieges nur Machtkämpfe, sie sehen nur das
Thema „Ölquellen" oder „Lebensräume" oder „Absatz- und
Einkaufsmärkte" zur geschichtlichen Diskussion gestellt. Sie sehen
höchstens noch ' „Schicksal" und „Glück" in dem verdämmernden
Bühnenhintergrund der Welt, von dem sie noch eben eine verschwommene Impression zu empfangen meinen.
Bei dieser Art des Zuschauens und des Vor-den-Kulissen-sitzens
kommt das, was Gott uns in den Schrecken der Zeit an die Hand gibt,
aus dem Stadium des Rohmaterials nicht heraus.
Kant hat bekanntlich gelehrt, daß die gegenständliche Erscheinungswelt, wie sie unsern Sinnen entgegentritt, ein Produkt sei
aus der Materie des „Dings an sich" und unsern sub
237
jektiven „Kategorien" (Raum, Zeit und Kausalität), die formende Kraft
besitzen und aus dem Chaos der Ding-an-sich-Materie festumrissene
Gegenstände formen.
Genau dasselbe erleben wir heute auf geistigem und geistlichem
Gebiet : Wer nicht d i e K a t e g o r i e d e s A p o k a l y p t i s c h e n besitzt, so sagten wir schon, d. h. wer nicht die
Kategorien „Gericht" und „Gnade" und „Heimsuchung" besitzt, dem
ist der Zugang zu den Hintergründen und damit zur Eigentlichkeit der
Zeit verschlossen und der kann das dargebotene „Material" nicht zur
Heimsuchungsordnung der Gottesgeschichte verarbeiten.
Die Gemeinde des Herrn ohne den Prediger des Evangeliums
gleicht einer Herde ohne Hirten.
Die Geschichte ohne die Predigt von Gesetz und Evangelium ist ein
undurchdringliches Chaos. Das lehrt das A l t e T e s t a m e n t : Die
Heilsgeschichte des. Alten Bundes mit den Ureltern, den Erzvätern und
dem Volke Israel ist „an sich" k e i n e Offenbarung. Sie ist nur das
Material dafür. Sie ist „an sich" das Ewig-Leere, das sich — nach des
Mephistopheles Wort und also aus der teuflischen Perspektive
gesehen—sinnlos im Kreise dreht. Sie ist das, was wir prote hyle
nannten.
Offenbarung w i r d , diese Geschichte erst dadurch, daß "Christus
im Fluchtpunkt der alttestamentlichen Perspektive steht und daß sie von
den Propheten und von den Geschichtsschreibern des Alten Bundes auf
diesen Fluchtpunkt hin ausgelegt wird. G e s c h i c h t e w i r d z u r
Offenbarung, zur Heilsgeschichte, nur durch
A u s l e g u n g . Heilsgeschichte ist a u s g e l e g t e Geschichte.
Alle andere Geschichte ist e n t w e d e r Chaos sinnloser Materie,
also bloßer „Rohstoff". O d e r aber der Mensch bemächtigt sich ihrer
durch eigenmächtige Deutung und macht sie illegalerweise zu einer
Heilsgeschichte innerhalb der Grenzen der Profanität; er macht sie zur
illegalen Offen
238
barungs-Quelle und damit zu einem Element des Aufstandes :
Außerhalb der Offenbarung
gibt es nur
N i h i l i s i e r u n g (prote hyle)*) o d e r D ä m o n i s i e - r u n g
der Geschichte.
Wir werden noch sehen, wie sich von dieser theologischen
Beobachtung aus die entscheidenden Gesichtspunkte für unsere
heutige Verkündigungsaufgabe ergeben.
Darf ich das Verhältnis von geschichtlichem Rohmaterial und
formender Auslegung, die ihrerseits erst Geschichte s c h a f f t , noch
an einem Beispiel erläutern :
Vor einiger Zeit hat ein befreundeter Religionslehrer vor der Tertia
eines Gymnasiums einmal, nichts anderes getan, als nur die
synoptische Apokalypse vorgelesen, Matthäus-Evangelium Kap. 24.
Die Lesung dieser so „unjugendlichen" Stelle, bei der man in früheren
Zeiten vermutlich Disziplinschwierigkeiten erlebt hätte, war von einer
geradezu atemlosen Stille begleitet. Nach einer Pause tiefster
Beeindruckung gab die Klasse ihr erstes Lebenszeichen von sich mit
den laut vor sich hingesprochenen Worten eines Jungen: „Armes
Deutschland."
Hier ist in prägnantester Kürze d a s Ereignis geworden, was ich
soeben als theologischen Vorgang beschrieb : Für den Jungen war das,
was er an Bombenangriffen erlebt oder über sie gehört hatte, war das,
was er mit knabenhaftem Instinkt von den propagandistisch und
zivilisatorisch übertünchten Gräbern unserer Zeit gewittert hatte,
vielleicht a u c h bis dahin ein undeutbares und für ihn nicht griffiges
„Chaos" gewesen. Die menschliche Undeutbarkeit der Zeit und die
Antennenlosigkeit der meisten (besonders der jungen) Menschen läßt
sie ja gerade in jenen verkrampften Nihilismus fliehen, in dem ihnen
sogar schon der A n l a u f zu jeder Sinnfrage verleidet ist.
*) D. h. als Aneinanderreihung des äußeren und gleichsam photographierbaren Geschehens.
239
In dem Augenblick aber, wo er sagt „Armes Deutschland", hat das
Chaos seiner Hoffnungen und Befürchtungen auf einmal Konturen
bekommen. Die synoptische Apokalypse hat auf ihn eingewirkt wie
eine Leuchtkugel, die plötzlich über dem undurchdringlichen Dunkel
eines nächtlichen Geländes abgeschossen wird und blitzartig Wege,
Abgründe und bedrohende Grotten enthüllt. Auf einmal sieht er seine
und seines Volkes Geschichte unter dem Lichte Gottes ; zunächst noch
nicht unter dem Licht der G n a d e ; sondern zunächst nur unter der
Erhellung und Enthüllung durch ein schreckliches Gesetz : aber eben
durch das Gesetz G o t t e s , durch das Gericht G o t t e s . Die
Flammen über den zerstörten Städten und die bizarr grausigen
Häuserruinen · sind ihm auf einmal nicht mehr Menetekel der
Sinnlosigkeit und des Schicksalsglaubens; auch die schauerlich
zerstörten Straßen haben auf einmal einen Fluchtpunkt ihrer
Perspektive bekommen: Das „Ende", das Telos der Heim- und
Nachhausesuchungen Gottes.
So ist hier durch die Botschaft, in diesem Falle sogar durch die
facultas se ipsum interpretandi der Botschaft1), nämlich durch die
einfach
verlesene
Botschaft,
aus dem Rohmaterial
„ G e s c h i c h t e " auf einmal Heils- und Unheilsgeschichte
geworden.
Die seelsorgerliche Solidarität
Nicht umsonst habe ich als Einfallstor zu unserm heutigen
Fragengebiet ein prophetisches Beispiel gewählt. Die Prophétie ist das
Urbild der Verkündigung. Sie ist darum auch deren Modell-Tatsache.
Die Predigt hat sich an der Prophétie auszurichten.
Wenn wir nun, um das Modell-Problem genauer zu studieren, die
Frage stellen, w a s denn die Propheten getan haben,
*) Die Fähigkeit der Offenbarung, sich selbst auszulegen.
240
so klingt es vielleicht im ersten Augenblick verwunderlich, wenn ich
ihre Art der Verkündigung als „Seelsorge" bezeichne.
Und doch ist es so.
Seelsorge ist durch den G e s p r ä c h s - Charakter bestimmt.
Charakteristisch dafür sind die seelsorgerlichen Gespräche Jesu. Ich
erinnere nur an den Bericht Matthäus 2i, 23—27: Die Hohenpriester
und Volksältesten treten an Jesus heran mit der Frage: Aus was für
Macht tust du das, und wer hat dir die Macht gegeben? Jesus antwortet
darauf nicht direkt, sondern stellt, wie er's meist tut, eine Gegenfrage
und bewirkt so ein G e s ρ r ä c h. Er stellt nämlich die Frage : „Woher
war die Taufe des Johannes? War sie vom Himmel oder von den
Menschen?" Diese Gegenfrage stürzt seine Gesprächspartner in die
größte Verlegenheit. Denn sie müssen nun folgende Überlegung
anstellen: „Sagen wir, sie sei vom Himmel gewesen, so wird er zu uns
sagen: Warum glaubtet ihr ihm denn nicht? Sagen wir aber, sie sei von
Menschen gewesen, so müssen wir uns vor dem Volk fürchten; denn
sie halten alle Johannes für einen Prohpeten." Aus diesen bangen und
unsachgemäßen Erwägungen bringen sie nichts anderes fertig, als sich
in das asylum ignorantiae zu flüchten: „Wir wissen es nicht".
Daraufhin verweigert Jesus auch seinerseits die Auskunft über das
Vollmacht-Problem.
An dieser Geschichte kommt ganz besonders deutlich das Ziel der
Seelsorge zum Ausdruck: nämlich zunächst einmal den Menschen zur
Selbsterkenntnis zu bringen. Durch die Gegenfrage Jesu sind die
Gesprächspartner gezwungen, sich selbst und ihm ihr heilloses
Schwanken zwischen Menschenfurcht und Angst vor Buße
einzugestehen. Diese Selbsterkenntnis geschieht sozusagen auf
sokratische Manier, nämlich so, daß die Menschen sie selber finden
müssen, daß also die Wahrheit ihnen nicht als prophetische
„Behauptung" von außen entgegentritt, sondern so, daß sie von innen
her angeeignet
241
werden muß. Ebenso geht es ja dem Reichen Jüngling, der seine
götzendienerische Bindung an den Mammon auch nicht als These
gesagt bekommt, sondern der sie dadurch e r f ä h r t und gleichsam
selber analysieren muß, daß er n i c h t die Kraft aufbringt, alles zu
verkaufen, was er hat.
Aber die Seelsorge hat nicht nur Selbsterkenntnis zu bewirken,
sondern auch und natürlich die Erkenntnis dessen, was Gott mit uns
vorhat und für uns getan hat.
Der Mensch erfährt also in der Seelsorge nach der positiven und
nach der negativen Seite hin, wer er ist und wo er steht.
Selbstverständlich ist es für diesen Vollzug der Seelsorge nicht
notwendig, daß auch im f o r m a l e n Sinne ein Dialog vorliegt. Es
kann sich äußerlich durchaus um einen Monolog handeln. Auch eine
seelsorgerlich ausgerichtete Predigt ist ja äußerlich ein Monolog. Aber
innerlich wird es immer um eine Zwiesprache gehen. Das lehren uns
die Propheten des Alten Bundes : Sie schildern immer wieder die
Zwiesprache Gottes mit seinem Volk, sie arbeiten sehr viel mit Frageund Ausrufesätzen, mit persönlicher Anrede.
Warumist dieser Dialogcharakter in der Seelsorge so wichtig? —
Weil sich im seelsorgerlichen Dialog die beiden Gesprächspartner zur
Solidarität zusammenschließen, vornehmlich zur Solidarität der
„Sünder" und der von Gott „Heimgesuchten".
Die Propheten rufen das Volk ja nicht aus einer anfechtungsfreien
Etappe her an, sondern sie stehen mit dem Volk solidarisch in den
vordersten Gräben der Versuchungen und Anfechtungen. Sie sind zwar
Prediger in der Wüste voller Einsamkeit. Aber sie stehen eben m i t in
der Wüste.
Diese Solidarität wird klar an den Berufungsvisionen von Jesaja und
Jeremía. Sie sind nicht kraft eigener Qualität dem irregeleiteten Volk
entnommen, sondern kraft göttlicher Berufung. Sofern sie nicht auf die
Berufung, sondern auf sich selbst blicken, wissen sie um ihre
U n w ü r d i g k e i t : „Herr,
242
ich bin unreiner Lippen." Und man könnte den zentralen Satz von
Luthers Rechtfertigungslehre auf sie anwenden: Cor accusator, Deus
defensor1). Der Seelsorger redet a u s den Abgründen (in die er
ebenfalls gerissen ist) i η die Abgründe h i η e i η — allerdings so, daß
er den Zugang nach oben und den Regenbogen der Versöhnung
darüber gespannt sieht, den die andern n i c h t sehen, n o c h nicht
sehen. Aus dieser Solidarität mit dem Volk in der Tiefe ergibt sich der
Dialogcharakter.
Der neutestamentliche locus classicus für die Wirklichkeit der
Solidarität ist Hebr. 4, 15 : „Wir haben nicht einen Hohenpriester, der
nicht Mitleiden haben könnte mit unserer Schwachheit, sondern der.
versucht ist allenthalben gleichwie wir, doch ohne Sünde." Daß Jesus
als Hoherpriester unser Seelsorger ist, beruht also darauf, daß er an der
Solidarität unserer Versuchlichkeit teilnimmt, daß er die „Etappe des
Himmels" verlassen hat und an unsere „Front" gekommen ist. Um
seines M i t l e i d e n s willen glauben wir ihm. Man kann das in der
Seelsorge an Sterbenden beobachten: Der größte Trost in der letzten
Stunde ist vielleicht nicht einmal der, daß Jesus die feindliche
Todesmacht überwunden und als österlicher Fürst das Grab gesprengt
hat — obwohl nur von da aus aller andere Trost gültig gemacht wird
—; sondern der greifbarste und auf ein einziges Stichwort zu
bringende Trost ist doch der, den Paul Gerhardt in seinem Passionslied
ausspricht: „Wenn ich einmal soll scheiden", dann wird e r eben
n i c h t von mir scheiden; oder in seinem Osterlied der Trost, daß ich
in Hölle, Sünde und Welt, in Not und Tod, stets der „Geselle Jesu"
bleibe und darum ( d a r u m ! ) auch gewiß sein darf, daß er mich bei
seinem Sieg über den letzten Feind als seinen Gefolgsmann bei sich
behalten wird. Daß diese Solidarität im Tode und in den Abgründen
wirklich in Kraft ist, ergibt sich freilich nur von Ostern her, nämlich
von
l)
Das Gewissen mein Ankläger, Gott mein Verteidiger. 15
T h i e l i c k e , Fragen des Christentums.
225
da her, daß Jesus j e t z t lebt und deshalb ( d e s h a l b ! ) den Gang
durchs dunkle Tal mit mir antreten kann. Aber es ist charakteristisch,
daß für die Kirchenlieder ja auch die österliche Todesüberwindung
von der Solidarität her interpretiert wird : „Lässet auch ein Haupt sein
Glied, welches es nicht nach sich zieht?". D e r e v a n g e l i s c h e
scopus an Karfreitag und Ostern ist die
S o l i d a r i t ä t . Man könnte auch sagen: Dieser scopus besteht
darin, daß Jesus der mit-leidende Seelsorger ist. Das ist zugleich auch
die christologische Mitte der Rechtfertigungslehre des Paulus : m i t
Christus sterben und auferstehen. Man könnte sagen : Das Wort „mit"
sei das Evangelium, auf die kürzeste Formel gebracht. Die Mitte des
Evangeliums ist also „Seelsorge".
Ich möchte allen Wert darauf legen, daß wir zu Beginn d i e s e
seelsorgerliche Mitte des biblischen Denkens
herausstellen. Ich halte es für sehr wesentlich zu betonen, daß das
Stichwort „seelsorgerliche Predigt" nicht gegeben wird als Ausdruck
für eine neue Predigt-,, Methode", die man nun a u c h einmal
versuchen müsse und die insbesondere „zeitgemäß" sei. Wir gehen
hier in der ausdrücklichsten Weise nicht von m e t h o d i s c h e n Erwägungen, sondern von einem s a c h l i c h e n Faktum aus. Die
Predigt an der prophetischen Rede orientieren heißt, sie als
S e e l s o r g e verstehen. Vielleicht ergibt sich daraus a u c h — eine
neue M e t h o d e . Vor allem aber ist damit der entscheidende Impuls
i n m i t t e n aller möglichen Predigtmethoden gegeben.
Ich möchte mich nun daran machen, den Gedanken der
seelsorgerlichen Predigt nach verschiedenen Gedankenrichtungen hin
zu entfalten: A. nach den sachlichen, B. nach den methodischen
Problemen hin.
244
Α. DIE SACHLICHEN PROBLEME
/. Noch einiges %ur theologischen Begründung:
Ich sagte bereits: Jede Predigt ist ein heimlicher Dialog, gerade
wenn wir sie als seelsorgerliche Rede verstehen. Ehe aber dieser
Dialog zwischen uns und der hörenden Gemeinde stattfindet, muß er
zuvor in uns selber stattgefunden haben: Die Predigt wächst hervor
aus einem Selbstgespräch des geistlichen Menschen in uns mit dem
natürlichen Menschen in uns. Wir selber treten mit unsern Fragen,
unserer Hilflosigkeit, unserer Sünde, sozusagen in einer Art
priesterlicher Stellvertretung für die Gemeinde, unter das Wort und
lassen uns anrufen.
Es ist viel zu kurzschlüssig gedacht, wenn man die Predigt einfach
versteht als Weitergabe des göttlichen Wortes durch ein schwaches
menschliches Werkzeug, als Weitergabe also in menschlicher
Gebrochenheit.
Zweierlei ist daran falsch:
Einmal ist damit das Predigtproblem aufs Gebiet des E r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e n abgedrängt : das „reine" Wort
Gottes wäre danach nicht vernehmbar und erkennbar, weil das
menschliche Medium mit seinen Fehlerquellen dazwi-schengeschaltet
ist. Die Wahrheit Gottes läge also in einer dritten Dimension, die uns
unzugänglich wäre, nämlich in einer Dimension jenseits der
menschlichen Gebrochenheit des Gottesworts. Ich brauche nicht zu
sagen, warum dieses Denken theologisch unmöglich ist. Die Predigt ist
nicht Rekapitulation einer Botschaft, die man nur mit halb ertaubtem
Ohr und von vielen Nebengeräuschen entstellt vernommen hätte, sondern sie ist Vergegenwärtigung, repraesentatio von Gesetz und
Evangelium, und insofern nicht r e f e r i e r e n d e s Wort (mit aller
belasteten
Indirektheit
eines
Referates),
sondern
v o l l z i e h e n d e s , g e s c h e h e n d e s Wort.
Der andere Irrtum ist ähnlich. Er besteht darin, daß man
15*
245
sich den Vorgang des Predigens rein statisch' vorstellt: Der Predigerist
ein Prisma, das den Strahl des Gottes worts bricht. Wir stehen damit
zum Worte Gottes in einem zeitlosen Bezug der Indirektheit.
Beides, das Erkenntnistheoretische und das Statische, stimmt nicht.
Vielmehr liegt bei der Ermächtigung zur Predigt ein V o r g a n g vor,
ein actuosus-Sein Gottes (Luther) : I c h w e r d e i n D i e n s t g e
n o m m e η. Was ich auf die hörende Gemeinde hin sage, ist nicht das
Produkt aus Gotteswort und menschlichem Medium, ist nicht die Zerlegung des göttlichen Lichtstrahls im Prisma meiner Predigerpersönlichkeit, — woher sollte man dann noch den Anspruch nehmen,
in Vollmacht auf die Kanzel zu treten? —; sondern das, was ich der
hörenden Gemeinde sage, ist die Spiegelung des Vorgangs, mit dëm
ich selbst von Gott in Dienst genommen bin. Die Heilsgeschichte, die
sich in jeder Predigt vollzieht (!), ist die Wiederholung der
Heilsgeschichte, die Gott mit mir selber eingegangen ist. Oder mit
unserer Ausgangsthese dargestellt: Der in der Predigt waltende
seelsorgerliche Dialog mit den Hörern ist nichts anderes als die
Darbietung jenes vorangegangenen Dialoges, den der geistliche
Mensch mit dem natürlichen in mir geführt hat. Ich bin der A n sprechende, weil ich der Ange s ρ r o c h ene bin. Gott in der Predigt
bekennen, heißt nicht, den Gott „an sich", sondern den Gott „für mich"
bekennen. Christum bekennen, heißt seine beneficia (Wohltaten)
bekennen, wenn ich das bekannte Wort Melanchthons so abwandeln
darf. Gott bekennen heißt ganz entsprechend, eine G e s c h i c h t e
bekennen, und zwar eine Geschichte, in die ich selber berufen bin. Eine
Objektivität der Predigt, abgesehen von dieser Geschichte, die zugleich
eine persönliche Geschichte ist, gibt es nicht. (Das müßte man
manchen Barthianern gegenüber betonen.) Das Bibelwort „an sich" in
einer sogenannten sachlichen Objektivität bekennen wollen, heißt
nicht, daß ich meine Subjekti
246
yität ausschaltete (ganz abgesehen davon, daß es das ü b e r h a u p t
nicht gibt; Haendler hat das in seinem lehrreichen, wenn auch
theologisch in vielem anfechtbaren Buch1) über die Predigt
eindrücklich gezeigt); sondern es heißt, den Gott der Geschichte
leugnen. Es ist deshalb nicht Verleugnung der Subjektivität, sondern
Frevel an der geschichtlichen Objektivität Gottes..
Nehmen wir aber das Selbstgespräch des geistlichen mit dem
natürlichen Menschen, nehmen wir die Geschichte Gottes mit uns
ernst, dann stoßen wir wieder auf die s e e l s o r g e r l i c h e
P o i n t e d e r P r e d i g t , nämlich auf unsere Solidarität mit dem
Hörer, gleichgültig, ob wir es mit einer traditionell gewachsenen oder
mit einer Missionsgemeinde zu tun haben : Wir stehen mit ihr in der
Solidarität des natürlichen Menschentums, das herausgerufen wird.
IL Die Gegenwartsbegründung
Für den Seelsorger ist es wichtig zu wissen, wo sein Gegenüber
steht und wonach es sich sëhnt. Das ist zunächst nicht aus
t a k t i s c h e n Gründen wichtig, d. h. nicht wichtig aus der
Erwägung heraus, wie er nun da „anknüpfen" könne. Dies taktische
Anknüpfen-wollen ist, wenn es die primäre Bewegung des Seelsorgers
darstellt, ein fremder Ton — nicht nur im theologischen, sondern auch
im menschlichen Sinne. Es hat nur zu oft zur Folge, daß die Türen, die
durch jene Erwägung geöffnet werden sollten, versperrt werden, daß
man nämlich die „Absicht" fühlt und „verstimmt" ist.
Nein: daß der Seelsorger wissen muß, wo der andere steht und
wonach er sich sehnt, ist vor allem wichtig aus Gründen der
Kommunikation (= Gemeinschaftsherstellung).
Es genügt nämlich nicht, wenn ich mir ζ. B. sage : „Wir sind
allzumal Sünder". Das ergibt in dieser Allgemeinheit
x)
Haendler, Die Predigt.
247
nur eine abstrakte Scheingemeinschaft; genau so, wie es ein abstraktes
Scheinbekenntnis ist, wenn ich mich nach den weithin geltenden
Beichtformularen in der bekannten pauschalen Form als Sünder
bekenne und wenn ich diesem pauschalen Bekenntnis nicht eine sehr
individuelle Beichtvorbereitung im Kämmerlein vorangehen lasse.
Wenn Goethe ζ. B. in einem bekannten Wort sagt, es gebe keine
Scheußlichkeit und kein Vergehen, zu dem er nicht in sich selbst die
Anlage entdecke, dann hat er dieses Wort auf einen ganz bestimmten
Anlaß hin, nämlich unter dem Eindruck bestimmter menschlicher
Scheußlichkeiten, gesprochen. Da auf einmal erkannte er eine
untergründige Kommunikation mit den Entgleisten seiner
Menschenbrüder. .
Genau so muß ich mir als Prediger klarmachen, wo meine Hörer
stehen und wonach sie sich sehnen (wobei es selbstverständlich nicht
die Aufgabe der Predigt sein kann, vorhandene Sehnsüchte einfach zu
erfüllen und vorgegebene Fragen zu beantworten). Ich muß das Unmaß
an Lebensangst, Schuld und Herzeleid, ihre Sehnsucht nach Liebe und
Lebenserfüllung und all das andere, auch das, was ζ. B. der Film vom
Menschenherzen enthüllt, an mir durchmachen und mir darüber klar
werden, weil dies alles an dem gleichen Ort geschieht, an dem auch
i c h stehe. Ich mache manchmal in diesem Sinne einen „theologischen
Spaziergang", einen Meditationsgang über die Stuttgarter Königstraße
und suche in den vielen anonymen Gesichtern zu lesen: Jedes Leben
hat eine Achse, um die es schwingt, hat unerfüllte Sehnsüchte und
heimliche Ängste, hat böse und gute Träume, ist verfallen an
Leidenschaften und nichtig geworden in der Zentrifugalkraft von
Betrieb und Zerstreuung. Es sind genau die Abgründe, an denen und in
denen auch m e i n Leben gelebt wird. Man braucht nicht ständig nach
„Anknüpfung" zu suchen, wenn man ständig aus diesem Wissen um
die Kommunikation, aus dieser eingeübten Solidarität heraus lebt.
248
Danach sehnt sich auch der Mensch — und wie ich zu sehen meine:
gerade der h e u t i g e Mensch. Er glaubt nur d e m ein Gerichtsund Gnadenwort, der m i t ihm im vordersten Graben steht, der seinen
Alltag kennt und vor allem l e b t und der d e s h a l b (und nicht
etwa, weil ihm ein besonderes Gassen-Vokabular zur Verfügung
stände) auch seine Sprache spricht.
Für alles dies ist eine gewisse Erscheinung charakteristisch, die ich
als „Seelsorge im Eisenbahn-Abteil" bezeichnen möchte. Wir erleben
es immer wieder, natürlich ganz besonders auf dem harten Holz der
dritten Klasse, daß die Menschen zu ihren Abteil-Nachbarn über alles
sprechen, was sie bewegt, gerade auch über das, was sie an N ö t e n
bewegt. Was wollen sie damit erreichen? Zweifellos erwarten sie nicht
ein lösendes Wort, das ein weisheitsvoller gütiger Ratgeber ihnen von
der gegenüberliegenden Bank her gäbe. Sie rechnen gar nicht mit
irgendeiner Vollmacht, die rettend in ihre Lage bräche. Sie möchten
nichts anderes, als nur einfach die Stimme oder das mittragende
Schweigen des Menschenbruders dazu hören. Das genügt. Es ist die
Sehnsucht nach der Solidarität, die in dieser ganz primitiven
seelsorgerlichen Lage aufbricht. Und gerade weil der viel zitierte
„kleine Mann" sie hier zu finden hofft, geht er oft genug nicht zum
kirchlichen Seelsorger, bei dem er sie n i c h t zu finden befürchtet.
Dasselbe wird deutlich an der gegenwärtigen Bedeutung der
P s y c h o t h e r a p i e . Bekanntlich hat der Nervenarzt, auf die
große Zahl gesehen, weitaus den Vorzug vor dem Seelsorger.
Der Mensch sucht beim Psychotherapeuten vielleicht nicht primär
Trost oder Lösung, sondern er sucht zunächst einmal - gleichsam als
Vorbedingung alles Weiteren — S o l i d a r i t ä t . (Der psychisch
Kranke ist immer auch einsam)1). Denn
1) Mit diesem Einsamkeits- und Ausgeschlossenheitsgefühl hängt es
wohl auch zusammen, daß der Patient dem Arzt gegenüber zur Hörigkeit
22T
er erwartet von ihm Subsumption seiner Komplexe und Nöte unter
allgemeine Gesetze, d. h. unter die gleichen Gesetze, unter denen die
andern auch stehen. Die säkulare Psychotherapie arbeitet ja auch
gegenüber den Schuldkomplexen nicht etwa mit der V e r g e b u n g ,
mit der a u ß e r h a l b des Schuldzusammenhangs stehenden
„fremdenGerechtigkeit" („Christi Blut und Gerechtigkeit, das ist mein
Schmuck und Ehrenkleid . . ."), sondern sie arbeitet damit, daß sie dem
Menschen die Herkunft seiner Komplexe erläutert (Kindheitserinnerungen u. ä.), daß sie also die normalen Ursprünge der anormalen
Erscheinungen aufzeigt und. dadurch die Solidarität mit dem normalen
Menschen sichtbar macht. Der Patient lernt sich in der Solidarität der
psychischen Entwicklung mit den andern Menschen sehen. Es ist
dieselbe Entwicklung wie bei den andern. Nur war die Konstellation der
einzelnen sie bedingenden Faktoren so, daß sie ein pathologisches
Erscheinungsbild zeitigten. Indem man aber nicht auf das krankhafte
E r g e b n i s dieses Prozesses sieht, das den Menschen als anormal aus
der Gemeinschaft der „Normalen" ausschließt, sondern indem man den
Prozeß selbst und seine bewegenden Impulse verstehen lernt, lernt man
begreifen, wie alles so kommen „mußte", wiè das Anormale so mit
„normaler" und gleichsam „natürlicher" Notwendigkeit entstehen
mußte, und wie man also keineswegs aus der Solidarität mit den psychischen Prozessen aller andern Menschen herausfällt. Die Psychotherapie
arbeitet dementsprechend auch viel weniger mit E i n g r i f f e n als
mit A n a l y s e n , d. h. mit Aufzeigen von Tatbeständen, die der
Mensch solidarisch mit allen andern Menschen teilt, und die nur für
sein Selbstverständnis durcheinandergeraten sind und damit
pathologische Verwirrung und Orientierungslosigkeit schufen. Das
einzige also, was die
neigt. Denn der Arzt ist der einzige, der die Region der Einsamkeit des
Patienten betritt und deshalb von ihm als jemand erlebt wird, der sie mit
ihm teilt.
250
Analyse tut und was der Mensch bei ihr sucht, ist dies, daß sie dem
Menschen die U n v e r s t ä n d l i c h k e i t bestimmter (etwa
neurotischer) Phänomene durch Analyse nimmt,, daß sie also dem
Menschen die Einsamkeit nimmt, in die ihn die Unverständlichkeit
stürzte und ihn wieder den Gesetzen einordnet, die „allgemein" gelten.
Es ist folglich die Sehnsucht nach Solidarität, nach „Verstandenwerden", die sich in der Sehnsucht nach dem Therapeuten ausdrückt.
Diese Sehnsucht läßt sich auch noch anders beschreiben, und zwar
so, wie wir es früher versuchten: daß nämlich der Mensch sich danach
sehnt, j e n s e i t s v o n G u t u n d . B ö s e b e h a n d e l t z u
w e r d e n . Auch das läßt sich jetzt noch von einer neuen Seite her
erkennen: Gerade der kirchenfremde Mensch nimmt an, daß seine
Gewissensskrupel und Schuldkomplexe vom kirchlichen Seelsorger
„von außen" angepackt werden, d. h. so, daß der kirchliche Seelsorger
auf dem Richterstuhl, dem Bußpredigerstuhl, sitzt und der psychisch
Kranke auf der Anklagebank. So falsch diese Anschauung ist, so
wichtig ist sie für die Erkenntnis dessen, was der heutige, oder soll ich
besser sagen: der „natürliche" Mensch will: er möchte „gut" und „böse"
neutralisieren, möchte es von der ethischen und religiösen Ebene auf
die Ebene der Spannung zwischen gesund und krank verlagern. Er
'fürchtet — deshalb erwähne ich das —, vom kirchlichen Seelsorger
ausgestoßen, aus der Solidarität ausgeklammert zu werden, während er
durch die Neutralisierung der Schuld in der Solidarität der
„anständigen" Menschen zu bleiben hofft. Er ahnt dabei ganz mit
Recht, daß Schuld in die Einsamkeit und in das Ausgestoßensein stürzt.
Aber er meint mit Unrecht, daß er diese Ausgestoßenheit durch
Neutralisierung statt durch Vergebung der Schuld überwinden könnte.
Das sind einige t h e o l o g i s c h e Aspekte des NervenarztProblems, die uns jedenfalls e i n e s zeigen können: wie stark die
Sehnsucht des Menschen nach seelsorgerlicher Solidari
251
tät ist, daß er also wirklich so etwas hat wie Witterung für Seelsorge,
und wie er diese Wünsche nur dazu benutzt, um sich mit Hilfe des
Arztes an den eigentlichen Lebensentscheidungen vorbeizudrücken.
Sicher hat die Hauptschuld an diesem Mißstand der Mangel an
Solidarität in der kirchlichen Seelsorge. Diesen Mangel meint wohl der
säkulare Mensch, wenn er die Scheu vor dem kirchlichen Seelsorger
mit dessen angeblicher „Weltfremdheit" begründet und wenn er
argumentiert: „Er versteht mich nicht." Er will mit diesem
unglücklichen Wort sagen: der Mann steht „außerhalb". Er hat kein
Mit-leiden, sondern er hat nur von außen herangetragene dogmatische
Formeln. Sofern er erfährt (aber durch wen soll er das als
Außenstehender im Augenblick erfahren?), daß das Pfarrhaus wirklich
nicht mehr auf einem idyllischen und weltabgeschiedenen Eiland steht,
und daß der Pfarrer noch etwas anderes zu tun hat als im Schlafrock
seine ebenso idyllische Pfeife zu rauchen und lächelnd seinen Bienen
zuzusehen, deren Honig die Pfarrmagd verarbeitet — ich sage: sofern
er erfährt, wie anders die Realität der „theologischen Existenz" in praxi
aussieht, würde er sein Vorurteil revidieren müssen, wenn freilich auch
sein H a u p t Vorurteil, nämlich der Wille „jenseits von Gut und
Böse" behandelt zu werden, davon unberührt bleibt.
Daß das, was ich über diese Frage ausführte, wirklich nicht alles ist,
was man über den Nervenarzt zu sagen hat, vor allem auch nicht alles,
was p o s i t i v über ihn zu sagen ist, ist ebenso selbstverständlich wie
dies, daß bei dem Gesagten auch das Bild des kirchlichen Seelsorgers
nur in der Karikatur erschienen ist. Aber ich denke, der e i n e Punkt,
auf den es mir ankam, nämlich das Problem der seelsorgerlichen Solidarität, um die es sowohl im kirchlichen A n g e b o t zu gehen hat und
um die es in der gegenwärtigen N a c h f r a g e zweifellos geht, ist
genügend klar herausgekommen.
252
III. Konkrete Aufgaben: Die „geschichtliche" Predigt
Nur angeeignete Wahrheiten können
gepredigt werden
Nach diesen grundsätzlichen Erwägungen kommen wir immer mehr
in die konkreten Forderungen hinein.
Der Prediger muß diese seelsorgerliche Solidarität nach einer
doppelten Richtung erkennen lassen:
n e g a t i v insofern, als er nicht h i s t o r i s i e r e n d ,
p o s i t i v insofern, als er g e s c h i c h t l i c h predigt.
a) Die Unmöglichkeit der „historischen" Predigt.
Was den negativen Teil der genannten These anbelangt: daß nämlich
der Prediger nicht historisierend sprechen dürfe, so hat Schleiermacher
hier ein bleibendes und gültiges Korrektiv in die Theologie
hineingetragen^1). Schleiermachers durchgängiges AnHegen, sowohl in
seinen „Reden über die Religion" wie in seiner „Glaubenslehre", ist es,
vom christlich frommen Selbstbewußtsein auszugehen (in den „Reden"
sogar nur vom f r o m m e n und a l l g e m e i n - religiösen
Selbstbewußtsein), also von der S u b j e k t i v i t ä t des Menschen.
Dabei leitet ihn die Absicht, zunächst noch ganz unabhängig von
transzendenten, scheinbar von außen herangetragenen Dogmen und von
den ebenfalls draußen stattfindenden Fakten der historischen Erscheinung
„Christentum" zu z e i g e n , daß es sich in der Religion um- ein Geschehen oder besser um ein E r 1 e b η i s - Geschehen handelt, das durch
den M e n s c h e n hindurchgeht, ja sogar . im Menschen seinen
eigentlichen O r t hat. In dieser religiösen Subjektivität sieht
Schleiermacher den Ort der Solidarität mit den Gebildeten unter den
Verächtern der Religion.
Es ist selbstverständlich leicht für uns, über diesen Ansatz im
Subjektivismus die Nase zu rümpfen. Es ist fast zu leicht.
x) Es ist mir eine Genugtuung festzustellen, daß Ewald Burger in seinen Nachlaß-Gedanken das ebenfalls herausstellt.
253
Denn Gott hat in der Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts diesen
subjektiven Ansatz zu einem grausigen Selbstgericht geführt. Und
schließlich ist der Mythos des 20. Jahrhunderts sein vorletzter
Ausläufer, während der letzte das nihilistische Vakuum der völlig
ausgehöhlten
und
von
ihren
transzendenten
„Zufuhren"
abgeschnittenen Subjektivität ist.
Dennoch bleibt das Ausgangsinteresse Schleiermachers ganz
unabhängig von seiner verhängnisvollen Verwirklichung bestehen: Der
hörende Mensch muß merken, daß ich nicht eine bloß außerhalb meiner
befindliche Wirklichkeit (historische Fakten, dogmatische Metaphysik)
predige, sondern daß das alles eine Verbindung mit mir eingegangen
ist, daß ich in die Geschichte b e r u f e n bin, deren Objektivität ich
verkündige, daß ich also das extra me stattfindende Heilsgeschehen mir
als m e a res angeeignet habe und daß ich den Hörer aufrufe, diese
Aneignung n a c h z u v o l l z i e h e n . Das Evangelium hat es nicht
mit „dem" Herrn und Heiland, sondern mit „meinem" Herrn und
Heiland zu tun. In d i e s e m Sinne ist Schleiermachers Absage an den
Historismus als das extra me Bleibende zu verstehen, jene Absage, bei
der er dann so verhängnisvoll über das Ziel hinausschießt : Es geht ihm
darum, den Ort zu finden, wo alle Menschen, die Anbeter und die
Verächter, solidarisch sind. Er hat dabei richtig gespürt, daß diese
Solidarität nicht nur in einer Gemeinsamkeit v o r Gott („Wir sind
allzumal Sünder"), sondern auch in der Gemeinsamkeit dessen besteht,
worin wir mit unserer ganzen Existenz (und also a u c h mit unserer
Subjektivität) an der Geschichte beteiligt sind, in die uns Gott beruft.
Daß Schleiermacher beim Versuch, dieses Anliegen zu sichern, in den
objekt-gelösten Subjektivismus hinabgleitet (wenn er sich auch in der
Glaubenslehre und besonders in den Predigten bemüht, den Anschluß
an die Heilstatsachen wieder zu gewinnen), ist nicht zuletzt darin
begründet, daß die Orthodoxie dem G e g e n t e i l verfallen war,
nämlich dem unpersönlichen Extra me, der
254
„Historisierung" — und daraufhin nun in Schleiermacher das Pendel
nach der entgegengesetzten Seite ausschlug. So ist es in der Theologieund Kirchengeschichte immer gewesen: Die Historisten, Orthodoxen
und Scholastiker haben sich immer die Schwärmer und Subjektivisten
herangezogen — natürlich auch umgekehrt. Wir werden durch dieses
Selbstgericht der Dogmengeschichte auf ein grundlegendes Faktum
theologischer Entwicklung ü b e r h a u p t verwiesen.
b) Zum p o s i t i v e n Anliegen unserer These (daß nämlich die
seelsorgerliche Solidarität nur in der g e s c h i c h t l i c h e n Predigt
verwirklicht werden könne) ist zu sagen : Nur d i e Wahrheiten, die
man nach einem Wort von Joseph Wittig „durchgemacht" hat, von
denen ich überwunden worden bin, können von mir in Vollmacht
weitergesagt werden. In unserer Begrifflichkeit können wir sagen : nur
d i e Wahrheiten, über die das Gespräch zwischen dem geistlichen und
dem natürlichen Menschen stattgefunden hat und in dem sich der
natürliche Mensch hat ergeben müssen. Unsere Predigt muß
B e k e n n t n i s sein. Wir müssen uns hüten, über Dinge zu reden,
die wir noch nicht „durchgemacht" haben oder die wir im Verkündigen
durchzumachen hoffen — es sei denn, daß wir diese Bereiche unserer
Botschaft deutlich hörbar als etwas herausstellen, das noch „mit
unerforschtem Busen" über uns und abseits' von uns steht. Gerade das
Bekenntnis, daß wir in dieser oder jener Glaubenswahrheit noch im
Vorhof. stehen, daß wir vielleicht nur den „Hut vor ihr abnehmen"
können und „vorübergehen" müssen (Luther sagt das von manchen
ihm noch dunklen biblischen Büchern), ohne daß wir schon etwas
Eigenes über sie zu sagen vermöchten, macht diese Wahrheit
glaubwürdiger, als wenn wir sie unpersönlich verschleudern. Hermann
Klugkist Hesse berichtet ganz in diesem Sinne von der Predigttätigkeit
des jungen Hermann Friedrich K o h l b r ü g g e nach dessen
Bekehrung: „Es gehörte wahrlich nicht zu dem Gewohnheits
255
mäßigen in der Kirche, daß ein Prediger nach der Verlesring des Textes
(über Christus in Gethsemane) in Ehrfurcht vor dem Bibelwort erklärte,
er habe noch nicht die Einsicht in die Leiden des Erlösers, um es würdig
der Gemeinde vor Augen zu stellen; daß er um Geduld bat — doch was
Gott aus Gnade ihm gegeben habe, wolle er gern mitteilen." (H. K.
Hesse, H. F. Kohlbrügge, Wuppertal-Barmen 1935, S. 57.) Es ist zudem
ja eine alte Erfahrung der Kirche, daß es biblische Wahrheiten und
ganze Bibel - B ü c h e r gibt, die nicht nur einzelnen Christen, sondern
ganzen Zeiten verschlossen bleiben können; Bücher, in welche die
Kirche erst allmählich hineinwachsen muß, während sie dann über diesem Wachstums-Prozeß wieder andere beiseitelegt — nicht weil sie ihr
zu klein geworden wären, sondern weil immer wieder der Lichtkegel
der geistlichen Erkenntnis ein anderes Einfallstor zur Schrift streift.
Man braucht nur einmal an die Geschichte der Römerbrief-Auslegung
zu denken, um das zu verstehen: im 16. Jahrhundert sah Luther dieses
Schlüsselbuch zur Heiligen Schrift plötzlich in einem Lichtkegel Gottes
liegen, während es vorher Jahrhunderte im Dämmerlicht vegetiert hatte.
Umgekehrt hatte Luther zur Offenbarung Johannis und ihrer
apokalyptischen Geschichtsschau kein rechtes Verhältnis, während wir
heute dieses letzte Buch wie einen Berggipfel über die Alpenmassive
des biblischen Panoramas emporragen und nach Jahrhunderten der
Vernebelung plötzlich in der Sonne liegen sehen.
Predigt und Propagandarede
Man darf außerdem niemals vergessen, daß wir in einem Zeitalter
der P r o p a g a n d a leben. Propagandatreiben heißt zweckbestimmt
und effekthaschend reden, ohne daß damit im geringsten gesagt ist, daß
der Redner selbst daran glaubt. Er muß unter Umständen von
Silberstreifen am Horizont schwärmen, während sein eigener Galgen
schon ge
256
zimmert wird. Er muß nach Strich und Faden Geschichte, klittern
können, auch wenn er keineswegs auf seinen eigenen historischen Kopf
gefallen ist, sondern humoristisch oder auch zynisch lächelnd um die
wahren Tatbestände weiß. Mit: andern Worten: Die sogenannten
Propaganda-,,Wahrheiten*fc sind unabhängig von der persönlichen
Überzeugung des Redenden. Die einzige persönliche Überzeugung
dabei ist die,, daß jetzt im Reden eine bestimmte Absicht verwirklicht
und - verhüllt werden muß. Auch verhüllt —; denn wenn sie herauskäme, „verstimmt" sie.
Deshalb hat der moderne Mensch eine sehr feine Witterung; für
„durchgemachte" oder bloß „weitergegebene" Wahrheiten. Als ich vor
einiger Zeit den 2. Teil des Bismarck-Films gesehen hatte, der ein
ziemlich übles Tendenzstück, mit allen Tricks der Schwarz-WeißMalerei war, sagte ein größerer Schuljunge beim Hinausgehen zu
seinem Kameraden: „Alles Propaganda." Damit wollte er gewiß
ausdrücken r. Das war etwas für die blöden Erwachsenen, die auf so
was-hereinfallen. Ich weiß natürlich, wie man solche Filme „macht".
Die furchtbarste Gefährdung der Predigt ist
heute die Gefahr ihrer Verwechslung mit der
P r o p a g a n d a r e d e . Wenn etwa als. Predigtkritik der Satz fällt :
„Der Pfarrer m u ß eben so reden",, oder wenn man sich bei Kasualien
ganz unter den Eindruck der Feierlichkeit stellt und die Worte,
gleichgültig, ob es um eine christlich-orthodoxe oder eine
deutschgläubige Verkündigung geht, nur den Sinn haben, diese
Feierlichkeit zu erregen, so Hegt diese Verwechslung von Predigt und
Propaganda vor. Man sieht das auch deutlich an der säkularen Imitation
kirchlicher Zeremonien (Feier der Namengebung,; Jugendweihe, EheFeier usw.), die auf eine letzte VerbindHch-keit ihrer meist bodenlos
flachen und für echte VerbindHch-keit auch zu schwerelosen
„Botschaft" verzichten und die das>
257
Wort nur als Instrument der Feierlichkeitserregung und als
•Geräuschkulisse für die optischen Stimulantien (Kerzen, Fahren,
Bilder und Goldschnitt-Buchgeschenke) benutzen.
Von der gleichen Gefährdung ist auch das liturgische Sprechen
betroffen, sofern der Hörer den Eindruck hat: es wird „gelesen", sofern
also der Liturg nicht ein hohes Maß von Arbeit darauf verwendet, die
liturgischen Gebete sich vorher anzueignen und gegebenenfalls
einzelne Sprachwendungen auf seinen Sprechstil hin zu verändern, weil
sie sonst unmöglich als s e i n Bekenntnis wirken können.
Gerade an diesem Beispiel sieht man, wieviel darauf ankommt, den
H ö r e r zu kennen. Der Prediger muß sich ganz ■einfach folgende
Tatsache klar machen, mit deren Ernstnehmen viele Diskussionen über
den „Anknüpfungspunkt" erledigt werden können : D i e P r e d i g t
besteht nicht in der Rede, die aus dem Munde
des Predigers hervorquillt, sondern in der
Rede, die in das Ohr des Hörers hineinquillt.
Es mag als Banausenweisheit erscheinen, den Ort der Predigt nach
körperlichen Organen zu bestimmen ; und doch ist diese scheinbare
Banalität von entscheidendem Gewicht:
Man kann manchmal die naivsten Ansichten darüber hören.
Besonders etwa dann, wenn man über das Gebet für die Obrigkeit und
den „Führer" spricht. Nicht selten pflegt da die These vertreten zu
werden: „Ich sage einfach ,Segne . . ". Denn „recht verstanden" (d. h.
so, wie es in diesem Falle der Beter und Prediger versteht) heiße das
doch : „Führe auf den richtigen Weg, leite zur Umkehr, erlöse von der
Dämonie usw. usw.". Der Hörer aber d e n k t g a r nicht daran und
wäre auch psychotechnisch gar nicht dazu in der Lage, diese ganze
Kette von Reflexionen mit einer — nun man kann nur sagen — DZugsgeschwindigkeit zu vollziehen. Der Hörer hört etwas ganz anderes
heraus, nämlich eine verlogene Loyalitätserklärung, die nur mit
faustdicken und dem
258
ungebrochenen Menschen widerlichen reservationes mentales ' erkauft
ist.
Dasselbe gilt, wie wir noch sehen werden, auch von dem
allzuhäufigen Gebrauch des christlichen Zentralvokabulars „Sünde"
und „Gnade". Der Außenstehende hört daraus meist etwas ganz
anderes (siehe weiter unten).
Ich sage noch einmal: Der Ort für die Fixierung dessen, was nun
wirklich gesagt wurde, ist das Ohr des Hörers, nicht der Mund des
Predigers, also auch nicht das objektive S t e n o g r a m m dessen,
was dieser Mund gesprochen hat. Wer das nicht wußte, hätte sich
(wenigstens in d i e s e m Punkt) durch die Praxis der Gestapo
darüber belehren lassen können.
Ich sage absichtlich das O h r , nicht das H e r z des Hörers. Denn
gerade die Verstockungstheologie lehrt uns ja, daß das Herz nun
seinerseits gerne einen Umwandlungsprozeß des gehörten Wortes
vollzieht, um es zu neutralisieren. Ein böswilliger Spitzel etwa oder ein
Neuheide, der bewußt als Predigthörer nur Stoff für seine Ablehnung
sucht, hören wirklich etwas a n d e r e s heraus, als was gesagt ist. „Sie
hören's und verstehend nicht." Mit diesem theologisch bekannten
Vorgang der Verstockung darf man das .oben Gesagte nicht
verwechseln. Da meinte ich nur den ganz primitiven Vorgang des
zeitgebundenen Hörens. Es ist erstaunlich, mit welcher Leichtfertigkeit
sich manche Prediger über diesen Vorgang hinwegsetzen. Sie setzen
sich damit über die Solidarität hinweg.
Ich fasse (den Punkt Illb) zusammen:
N e g a t i v muß der Prediger seine seelsorgerliche Solidarität
dadurch zum Ausdruck bringen, daß er nicht „historisierend" spricht,
sondern — ich bitte das nicht „erbaulich" aufzufassen — „von Herz zu
Herz" : als einer, der es „durchgemacht" hat, zu solchen, die es
„durchmachen" sollen, bzw. daß er aus der Solidarität derer heraus
spricht, die sich er16 T h i e l i c k e , Fragen des Christums.
241
neut und wieder in die gleiche Heilsgeschichte rufen lassen.
P o s i t i v muß der Prediger seine seelsorgerliche Solidarität dadurch
zum Ausdruck bringen, daß er g e s c h i c h t l i c h predigt. Und zwar
nach einer doppelten Richtung :
ι . Als einer, der sein eigenes Hineingezogen-sein in die Geschichte
Gottes zum Ausdruck bringt, der also, anders ausgedrückt, das
Selbstgespräch zwischen dem geistlichen und dem natürlichen
Menschen nun als seelsorgerlichen Dialog zum Hörer hin weitergibt,
und zwar so, daß er wirklich den S t a n d dieses Gespräches verrät,
daß er sich nicht geistlicher und reifer gibt, als er ist, sondern als
ergriffener, aber dem Ziel noch nachjagender Mensch und Jünger
spricht. Darüber sprachen wir bereits.
2. Ferner — und das führt nun entscheidend ins Konkrete — muß
ich insofern geschichtlich predigen, a l s i c h d a s H i n eingezogen-sein der Geschichte um uns her in
die Reichs-Gpttesgeschichte aufweise.
I V. Gegen die Flucht in die Innerlichkeit und gegen
die Interpretation der Zeitgeschichte
Ich möchte das, was ich mit den gemachten Andeutungen meine,
zunächst nach zwei Richtungen negativ sichern:
a) Man kann vor der uns ergreifenden heilsgeschichtlichen
Wirklichkeit nicht nur in das historisierend Orthodoxe, sondern auch in
die Innerlichkeit fliehen, die sich vor dem Leben abkapselt.
Gerade eine Zeit wie die unsrige, die es gefährlich macht, alles uns
Bedrängende offen auszudrücken, legt die Gefahr nahe, nur noch in
allgemeinen Wendungen und „innerlich" zu reden, sich gleichsam in
die sturmfreie Zone des persönlichen oder besser privaten Innenlebens
zu flüchten. Man sagt gerne: „Ich verkündige nur noch das reine
Evangelium; daraus ergeben sich dann die Konsequenzen für das praktische Leben und für den Ort, wo sich die Dinge hart im
260
Räume stoßen, von selbst". Das ist eben mitnichten so: Ein
K a u f m a n n , der mit beladenem Gewissen kommt, weil er einfach
keine Möglichkeit mehr sieht, mit reiner Weste durch tausend
einengende Bestimmungen hindurchzukommen, findet dabei
k e i n e n Trost; denn seine Bedrängnisse kommen primär nicht aus
der Innerlichkeit, sondern aus dem In-der-Welt-sein. Ebensowenig
kommt ein A r b e i t e r auf seine Kosten, der zu einer
kollektivistischen Nummern-Existenz geworden ist und es zu
vergessen droht, daß auf seinem Leben ein unendlicher Akzent ruht,
und daß er kein Nichts, sondern vielleicht ein sehr einsamer Vogel ist,
der aber deshalb gerade sein Liedlein, sein Bekenntnis-Liedlein der
Masse um ihn her schuldig ist, statt hemmungslos und ohne eigene
Richtung einfach mitzuflattern. Oder der J u r i s t , dem das Leitbild
der menschlichen Würde unter gewissen Bestimmungen abhanden zu
kommen droht. Oder der p o l i t i s c h e M e n s c h im guten Sinne,
der allen Ernstes fragt : Wie soll man aber das Problem der Masse
anders lösen als mit Ablenkung, Nervenkitzel und propagandistischer
Verflachung? Hat denn das Christentum noch irgend etwas
Wegweisendes, Geschichtsschöpferisches zu sagen, mit dessen Hilfe
jene Klippen zu umschiffen wären? Bietet es nicht nur für einen begrenzten Menschentyp, der obendrein ungeschichtlich ist, ein wenig
innere „Erbauung"? —!
Daß hier tatsächlich unsere Verkündigung vor einem Problem steht,
sehen
wir
an
der
Durchschnittszusammensetzung
einer
Predigtgemeinde nach Alter, Geschlecht und Stand: Es sind meist
Kleinbürger, die meist weiblich und die ihrerseits meist älter sind. Das
könnte, obwohl zu dieser Durchschnittszusammensetzung noch andere
Faktoren mitwirken, in diesem Ausmaße nicht der Fall sein, wenn wir
geschichtlich sprächen. Denn die genannte Zusammensetzung ist eine
ungeschichtliche Zusammensetzung. Sie verlockt nun auch ihrerseits
wieder, ungeschichtlich zu sprechen. Der Pfarrer fühlt
16*
261
sich nicht mehr veranlaßt, inmitten einer Bibelstunde von alten Frauen
die Bibel so auszulegen, daß sie einem im lieben stehenden jungen
Mann gilt. So bleibt er im Bannkreis der erbaulichen Innerlichkeit.
Vielleicht wird er auch selbst in seiner eigenen Existenz dabei auf die
Dauer ein ungeschichtlicher Mensch. Man findet diesen Pfarrer-Typ
leider nicht selten. Soziologisch drückt sich das häufig in kleinbürgerlichem Gehabe mit den entsprechenden Gedanken- und Gefühlsgängen
aus. Man merkt seine Ungeschichtlichkeit auch leicht an seinem
Kanzelpathos, das ja nicht i m m e r nur ein Zeichen dessen darstellt,
daß er schlecht präpariert ist, sondern das häufiger noch der Verräter
einer AUtags-Enthoben-heit ist, die jenseits der konkreten
geschichtlichen Existenz steht: So spricht eben normalerweise kein
Mensch. Man kann deshalb in dieser Sprache der Unwirklichkeit
selbstverständlich auch nicht den Herrn des Alltags bezeugen, der in
unsere Geschichte eingehen will.
Die Gefahr, sich durch die Art der Zuhörer ins Ungeschichtliche
abziehen zu lassen, drückt sich auch in dem gefährlichen homiletischen
Lehrsatz aus, man müsse so predigen, daß die einfachste Waschfrau
jeden Satz verstehen könne.
Dazu ist ein Doppeltes zu sagen:
E i n m a l : Die Predigt ist nicht dem Gesetz eines GeleitzugSystems unterworfen, das sich immer nach dem langsamsten Schiff
richten muß. Die Rücksicht auf die Schwachen darf um der armen
„Reichen" willen nicht zu einer Diktatur der Schwachen werden.
F e r n e r : Es geht hier gar nicht um die Ebene des Intellektuellen,
also nicht darum, daß man intellektuell „zu hoch" reden würde. (Ich
meine übrigens, daß es kaum etwas gibt, das für die Gemeinde zu hoch
wäre. Dafür sorgt schon die Herablassung Christi, daß ich bei deren
echter Auslegung nicht in die Stratosphäre des Intellektuellen abgleiten
kann.)
Ich sage: Es geht nicht um die Ebene des Intellektuellen,
262
nicht darum also, daß man intellektuell zu hoch reden würde, sondern
es geht um die Ebene des Existentiellen:
Eine „geschichtliche" Predigt wird der alten Waschfrau in manchem
zu „hoch" sein, weil sie weithin ungeschichtlich lebt; obwohl man sich
darüber klar sein muß, daß ein wirklicher Christ, gerade in den
einfachen Ständen, einen sehr klaren Blick für geschichtliche und
menschliche Zusammenhänge mitbringt. Die christliche Waschfrau
weiß vom Zerfall der Welt Ordnung unter der Herrschaft des
Atheismus viel mehr, als wir gemeinhin annehmen.
Man, wird aber auch das Umgekehrte sagen dürfen: Sehr oft hört
man, daß ein im Leben stehender, d. h. eben geschichtlich lebender
junger Mann selbst dann, wenn er der Intelligenz angéhôrt, nach einer
Predigt äußert, sie sei ihm „zu hoch" gewesen und fremd geblieben. Er
meint dann ebenfalls nicht die „intellektuelle" Höhe; ja, vielleicht
meint er nicht einmal den esoterischen Charakter der kirchlichen
Dogmensprache, der gegenüber er sich nicht genügend geschult fühlt;
vielmehr wird er in der Regel das „zu hoch" der Predigt so verstehen,
daß sie „hoch über seinen Fragen und Bedrängnissen" geschwebt habe;
daß er nichts von all diesem ihn Bewegenden in ihr wiedererkannt
hätte und deshalb keine Beziehung zu ihr habe gewinnen können. Die
Predigt sei für ihn nicht „griffig" gewesen.
Als Regel scheint sich mir jedenfalls zu ergeben, daß in jeder
Predigt ruhig Partien sein dürfen, die für das Verständnis eines Teiles
der Hörerschaft ausfallen. Es ist schon dafür gesorgt, daß auch diese
Partien überbrückt werden durch den Ton, der die Musik der Predigt
macht, d. h. durch den Ton des Zeugnisses, der einfach als „Ton"
erbauen kann; oder durch die Nennung des Namens Jesu, an der die
Leute auch bei vorübergehend ausgeschaltetem Einzelverstand merken,
daß von i h m die Rede ist und nicht von irgendeiner „hohen" oder „zu
hohen" Weltweisheit (sophia tou kosmou).
263
Gerade durch dieses gelegentliche „Zu hoch" oder „Außerhalb
meines Verstehvermögens" wird ein Eindruck davon vermittelt werden
können, daß die Herrschaft Jesu über den eigenen Bereich und
Horizont hinausgreift, daß sie eine t o t a l e Erscheinung, daß sie
W e l t - Herrschaft ist. Die Gefahren, die mit dieser Art der
Verkündigung verbunden sind, sind jedenfalls geringer als die anderen,
daß wir den Gegenstand der Predigt dem Verdacht aussetzen, er
erschöpfe sich in einer Affinität zur ungeschichtlichen Innerlichkeit
oder gar — zum Kleinbürgerlichen.
b) Die zweite negative Abgrenzung der geschichtlichen Predigt muß
nun g e g e n d i e f a l s c h e Z e i t b e z o g e n - h e i t vollzogen
werden. Es geht selbstverständlich nicht darum, den Eindruck der
Lebensnähe dadurch zu erreichen, daß die geschichtliche Situation
geschildert wird, daß Reportagen der Kriegssituation oder der
Fliegerangriffe vom Stapel gelassen werden, oder daß man wie eine
talarumklei-dete tönende Wochenschau etwas vor den Augen der Hörer
„abrollen" läßt oder auf dem Harmonium der Worte klingende Seelenund Gefühlsgemälde produziert (etwa darüber, was in einer Mutter
vorgeht, wenn die Gefallenen-Nachricht ihres Sohnes kommt, oder in
einem Soldaten, wenn er sterbend auf dem Schlachtfelde Hegt).
Alles dies w i s s e n die Hörer bereits und damit wollen sie gerade
fertig werden. Das alles darf und muß daher nur zwischen den Zeilen
der Predigt stehen als ein Zeichen: Ich w e i ß darum; ich erwähne
gerade so viel davon, daß du merkst: der redet nicht wie ein Blinder
von der Farbe und der kann mich hier in meinem Frontgraben abholen;
er ist kein Mann der Etappe; darum redet er auch so sachlich knapp
davon. Der Mann, der an der Front steht, spricht nicht von Gefühlen,
sondern nur von Situationen, die natürlich bestimmte Gefühle auslösen.
Das sollte auch der Prediger tun und sich ein Beispiel am Kirchenlied,
gerade am Liede Luthers,
264
nehmen: Man denke einmal an die Objektivität des Liedes „Nun freut
euch, liebe Christeng'mein . . .". Es beschreibt in keiner Weise die
subjektiven Reflexe der Heilsgeschichte, sondern die Heilsgeschichte
selbst; es bringt ganz einfach einen „Bericht". Man denke sich dieses
Lied einmal in die subjek-tivistische Manier vieler englischer Lieder
übersetzt. Würde dabei ein Stein auf dem andern bleiben können?
Wir haben die „Sache" zu bringen; die „Gefühle" kommen dann
ganz allein. Man schaue sich einmal einen modernen und möglichst
typischen M a n n an, der etwas sehr stark ihn Bewegendes erzählt,
etwa den Verlust von Haus und Heimat durch Bombenschaden. Er
berichtet, was „passiert" ist. Dabei rinnen ihm vielleicht vor Bewegung
die Tränen die Wangen herunter : ein Zeichen, daß mit dem
geschichtlich Geschehenen durchaus das Herz und das Gefühl
verbunden sind. Er gibt aber kein Seelengemälde. So, wie etwa
Goethes „Werther" gesprochen hat, redet heute kein Mensch mehr —
außer vielen Predigern, die natürlich durch geringere Genialität auch
entsprechend weniger versöhnlich wirken. Der moderne Mensch ist im
Gefühl sehr privat, aber keineswegs gefühllos; er ist s a c h l i c h .
So hat sich auch der Prediger bei seinen zeitbezogenen Bemerkungen auf knappe Sachlichkeit ohne Seelengemälde zu
beschränken. Sonst kann es ihm passieren, daß gerade diese PseudoLyrik seiner Auslassungen, mit der er sich solidarisch — und also in
bester Absicht, kein Zweifel! — in das Herz des Hörers hineinsingen
wollte, die Tür der Solidarität zuschlagen läßt, einfach deshalb, weil
gerade der i η dieser Situation befindliche Hörer sich sagt: Wenn der
Mann auf der Kanzel w i r k l i c h in meiner Lage wäre, würde er
nicht so davon säuseln.
Ich sage: Die zeitbezogenen Predigt-Glossen haben sich auf
knappste und nur in Andeutung dargebotene Sachlichkeit zu
beschränken. Der scopus dieser Bemerkungen ist
265
ausschließlich der Gesichtspunkt der seelsorgerlichen Solidarität: „Ich
weiß, wie dir's ums Herz ist (nicht weil ich dieses Herz nun
auseinanderklappe und seziere, sondern) weil ich weiß, in welcher
Lage du bist." Wer mit diesem homiletischen Prinzip ernst macht, wird
bald merken — und vielleicht gerade an der Grabrede als seiner
äußersten Bewährungsprobe merken —, welche tröstende Gewalt die
Sachlichkeit besitzt. V. Prinzipien und Umrisse der „geschichtlichen" Predigt
{vom Vollzug des Wächteramtes)
Was ist nun positiv über die Zeitbezogenheit zu sagen und wie wird
sie praktisch vollzogen?
Es geht zunächst einmal keinesfalls um eine objektive Sinndeutung
des Geschehens, nicht u m eine Art christlicher Ge-schichts- und
Gegenwartsphilosophie, sondern darum, daß unsere geschichtliche
Situation in ihrer V e r l e u g n u n g Gottes, in ihrem Stehen unter
dem G e r i c h t , unter dem Β u ß r u f und unter der
H e i m s u c h u n g deutlich wird. In diesen Hinweisen der
Verkündigung vollzieht sich das Wächteramt.
Ich gebe im folgenden eine Anzahl von Beispielen, deren
Behandlung für das Wächteramt christlicher Verkündigung wichtig ist,
und die zugleich einen Einblick geben in das Programm einer
„geschichtlichen" Predigt. Dabei beschränke ich mich im wesentlichen
auf solche Momente, die in den früheren Kapiteln dieses Buches schon
zur Sprache gekommen sind, so daß wir mit thesenartigen
Andeutungen auskommen können. Im Grunde wollen ja alle Kapitel
solche Fragen behandeln, die Gegenstand christlicher Verkündigung
sind oder es jedenfalls werden sollten.
ι . Wir leben in einem Zeitalter, in dem man sich in besonderer
Weise auf den G e m e i n s c h a f t s g e d a n k e n besinnt, mag diese
Gemeinschaft nun völkisch, menschheitlich
266
oder familienmäßig bedingt, mag sie biologisch gegeben oder
geschichtlich gewachsen sein. Es gibt Volks- und andere „Genossen",
es gibt „Kameraden" der Front und der Arbeit; die Anrede „Publikum"
ist verpönt und außer Gebrauch gekommen, weil man darunter nur
eine unverbindliche Ansammlung von einzelnen verstehen könnte, die
in keiner Idee verbunden sind:,Denn „Publikum" gibt es sowohl im
Konzertsaal wie im Straßenverkehr, als Kundschaft eines Warenhauses
wie als Hörer eines Schillerschen Dramas. Im Zeitalter ' der
Gemeinschaft ist der einzelne nichts, seine Gemeinschaft bzw. die Idee
dieser Gemeinschaft ist alles.
Dieser Beobachtung steht nun eine andere entgegen: daß nämlich
diese Gemeinschaft nie gelingen will. Wir müssen erkennen, wie die
innere Zerrissenheit, das innere Mißtrauen unter der Decke der
Uniformierung noch nie so groß gewesen ist wie jetzt. Jedenfalls
kommt es sehr oft vor, daß die verschiedenen Proklamationen des
Gemeinschaftsgedankens
(Volksgenossenschaft,
Arbeitskameradschaft) die Reaktion des Widerwillens und der
Resignation auslösen. Und zwar keineswegs nur deshalb, weil es hier
um eine quantitative Ü b e r f ü t t e r u n g mit sozialem Pathos geht,
sondern deshalb, weil man es als Fütterung mit P h r a s e n erlebt. Die
Phrase entsteht überall da, wo die Diskrepanz zwischen Idee und
Wirklichkeit einen bestimmten äußersten Grad des Erträglichen überschritten hat. W a r u m tritt aber diese Diskrepanz im Umkreis des
Gemeinschaftsgedankens immer wieder ein? Diese Frage liegt auf aller
Lippen. Denn hinter aller propagandistischen Verballhornung der
Gemeinschaftsidee steckt doch eine echte Sehnsucht aller, steckt der
wirkliche Ruf der Zeit und also ein ursprünglich echtes Anliegen.
a) G e m e i n s c h a f t o h n e G o t t . Daß die Gemeinschaftshoffnung faktisch immer wieder nicht verwirklicht wird, liegt
daran, daß sie o h n e G o t t verwirklicht wird. Ohne Gott verliert der
Mensch seine Personhaftigkeit, seine
267
Eigenständigkeit und damit auch seine Verantwortlichkeit. Indem der
Mensch sich nicht mehr bei seinem Namen gerufen und dem
Unbedingten gegenübergestellt weiß, verdampft seine Individualität
sozusagen ins Kollektive. Wir haben schon die überaus typische
Beschreibung dieses Tatbestandes durch die Bibel erwähnt : Das
gefallene, von Gott abgetrennte Urelternpaar gibt seine
Personhaftigkeit im Augenblick des Sündenfalls preis : Adam schiebt
seine Schuld auf Eva, diese auf die Schlange. Die Unbedingtheit der
e i g e n e n Person und ihrer Verantwortung, die völlige
Unvertretbarkeit und Nicht-Austauschbarkeit des eigenen Ichs versinkt
im Augenblick der Lösung von Gott. Nur unter der Anrede Gottes wird
der Mensch verantwortlich und gewinnt seine Personhaftigkeit: er
gewinnt sie e i n m a l unter der Anrede des G e s e t z e s , das ihn
persönlich belangt und kein Ausweichen zuläßt. Er gewinnt sie
f e r n e r unter der Anrede des Evangeliums, das sein personhaftes Ich
mit einem unendlichen Akzent versieht und ihm die fremde Würde der
Gotteskind-schaft verleiht: „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen,
du bist mein."
Indem aber ohne Gott die eigene Personhaftigkeit preisgegeben
wird, entsteht statt der erstrebten verantwortlichen Persongemeinschaft
das personlose Kollektiv austauschbarer und gleichgültiger
Einzelindividuen.
Der gleiche Grund, der den Menschen personlos macht und damit
vergleichgültigt, macht ihn auch unsicher oder sogar hemmungslos
gegenüber dem sogenannten „lebensunwerten Leben". Indem der
unendliche Akzent vom Leben des Menschen weicht, indem er aufhört,
„Gottes Ebenbild und Kind" zu sein und entsprechend gewertet zu
werden, indem also die „fremde Würde" dessen, daß er geliebt ist, nicht
mehr das auszeichnende Moment seiner humanitas ist, ist der Wert
seiner Existenz nur in d e m beschlossen, was er konkret und
aufweisbar „leistet", was er also in einem äußerlich erkenn
268
baren Sinne als „Wert" für die Gemeinschaft repräsentiert. Insofern
versteht und behandelt man ihn genau wie ein Tier: ein Haustier wird
gehalten, sofern es nützt; andernfalls wird es getötet oder abgeschafft
— es sei denn, daß man sich die Sentimentalität des „Gnadenbrotes"
leisten kann. Entsprechend wird mit dem sogenannten „lebensunwerten
Leben" im Bereich des M e n s c h e n verfahren. Daß die Würde des
Menschenantlitzes in einer Dimension verankert ist, wo es nicht mehr
um berechenbare und sichtbare Werte geht, muß einem Menschentyp
immer unverständlicher werden, der sich die Berechenbarkeit und die
Sichtbarkeit zum obersten Kriterium seiner Werteskala gemacht hat —
und der eben deshalb ja auch G o t t s e l b e r nicht mehr in seiner
Welt unterzubringen vermag, weil jenes Kriterium nicht auf ihn
anwendbar ist1). Es ist aber ein unabdingbares Gesetz, daß die
Menschen in dem gleichen Maße, wie sie es verlernen, mit ihren
vorgegebenen Kriterien G o t t zu erkennen, es ebenfalls verlernen,
seine G e s c h ö p f e zu erkennen. Die Gottes-Blindheit wird letzten
Endes zur Schöpfungs-Blindheit, so daß auch der Raum der irdischen
Ordnungen und Werte versinkt, daß das Menschenantlitz verblaßt und
das Arbeitstier, das Produktionsmittel, das biologische Wesen oder das
gleichgültige Exemplar des Man an seine Stelle tritt.
b) N ä c h s t e n l i e b e . Da ohne Gott die menschliche
Gemeinschaft zum Kollektiv wird, so wird notwendig die
Nächstenliebe zur unpersönlichen Organisation und der barmherzige
Samariter zum Amtswalter dieser Organisation. Je mehr der
Menschenbrei
in
einer
Großstadt
kollektivistisch
durcheinandergemengt wird, je mehr verbindende Organisationen
geschaffen
werden
und
je
enger
der
Raum
des
Zusammengedrängtwerdens wird, um so größer wird die Einsamkeit. .
. und um so verhüllter die Sphäre des „PriWichtige Illustrationen dieser Gedanken sind aus dem Film „Ich
klage an" zu gewinnen, sowie aus Raabes Werk „Altershausen".
269
vaten", bis sie unter der hundertfachen Umhüllung schließlich selber
stirbt. Man begegnet dem andern eben nur, wenn man ihm in Gott
begegnet und wenn die fremde Würde an ihm aufleuchtet. „Ich bin
hungrig gewesen, und ihr habt mich gespeist, ich bin nackt gewesen,
und ihr habt mir Kleider gegeben . . ." sagt Christus. Nur wer den
heimlichen Christen neben dem Nächsten sieht und so dessen
erlauchte Bruderschaft erfährt, kann ihm begegnen. Verschwindet dies
Bild des Begleiters aus unsern Augen, so wird auch der Nächste zum
wesenlosen Schatten.
c) E r o s . Ohne Gott gibt es nur noch E r o s , nicht mehr
A g a p e 1 ) . Eros ist die letztlich egoistische Liebe, die den andern
genießen möchte, wenn auch in sublimiertesten und vergeistigsten
Formen. Sie weiß sich angesprochen, erregt und gesteigert durch die
Werthaftigkeit des andern: durch seine Schönheit, seine Intelligenz,
seinen Charakter, seine Kultur. Infolgedessen hängt der Bestand des
Eros ab von der Frage, ob und wie lange der andere Träger dieser
Werte ist. Er erlischt, wenn die Werte erlöschen. Das Eheproblem
unserer Zeit besteht ganz einfach darin, daß die Ehen im Namen des
Gottes Eros geschlossen werden (wobei es nichts ausmacht, daß der
Gott Eros einen großen Spannungsbogenin sich enthält: er umschließt
alles von dem bloß erotisch-sinnlichen bis zum brutal-materiellen
Angezogensein durch den Besitzstand des andern). Dadurch wird die
Ehe an das Gesetz von Anziehung und Abstoßung, an das Gesetz der
Vergänglichkeit und des Erkaltens ausgeliefert. Der Bestand der Ehe
— wenn sie überhaupt je „bestanden" hat — hängt ab von dem Bestand
des Anziehungsmomentes im andern. Das hängt mit der egoistischen
Grundstruktur der so bedingten „Liebe" zusammen.
Die Agape dagegen geht aus von der „fremden Würde" des
' Eros = Begriff der natürlichen Liebe ; Agape = Begriff der Liebe, wie
ihn das Neue Testament geprägt hat.
270
andern. Sie findet deshalb diese fremde Würde der Gotteskind-schaft
und der Christusbruderschaft auch noch unterhalb der
Schmutzschichten, die den andern vielleicht überziehen. Jedenfalls ist
nur so das Gebot der Feindesliebe Jesu zu verstehen : Denn „liebet eure
Feinde", das heißt nicht : Liebet den Schmutz, in dem die Perle liegt,
sondern liebet die Perle, die im Staube liegt (R. Luther). Auch den
verkommenen Menschenbruder kann man nur verstehen als ein von
einer fremden Macht, von , einer Dämonie zerstörtes oder entstelltes
Ebenbild Gottes (ζ. B. von der Dämonie des Hasses oder anderer
Leidenschaften). Aber dieses Ebenbild will eben geehrt und geliebt
sein. Indem es aber geliebt wird, d. h. indem man sich daran hingibt
und sich daran verschenkt, wird dieses Ebenbild zu neuem Leben
erweckt. Wir sehen das an der Liebe Gottes zu uns Menschen: Gott
liebt uns nicht, weil wir so wertvoll sind, sondern wir sind wertvoll,
weil Gott uns liebt. Und oft genug können wir in der Nachfolge dieser
Liebe bemerken, wie ein scheinbar unbegründet geschenktes Vertrauen
und eine scheinbar nicht begründete Liebe den andern aus tiefster Verkommenheit h e r a u s liebt und ihn wieder vertrauenswürdig und
liebenswert m a c h t .
Beim Eros sind mein Vertrauen und meine Liebe die „F o 1 -g e η"
aus entsprechenden Eigenschaften des andern. (Er i s t eben
vertrauens,,würdig" und Hebens „wert", deshalb vertraue und Hebe
ich.) Bei der Agape sind mein Vertrauen und meine Liebe, die ich
vielleicht einem ganz entstellten Ebenbilde Gottes u m seiner
EbenbildHchkeit w i l l e n
erweise, genau umgekehrt die
„ U r s a c h e n " dafür, daß der andere wieder lebenswert und
vertrauenswürdig sein k a n n . (Wie mancher Lump ist innerlich
dadurch kuriert worden, daß ihm irgendein Mensch einmal Vertrauen
geschenkt hat.)
Der Eros ist also letzten Endes trotz seines stürmisch und
aktivistisch scheinenden Gebarens eine passive und, rezeptive
Erscheinung, die von den ankurbelnden Wert-Impulsen des
271
andern lebt, während die Agape schöpferisch und erbauend ist. Es ist
alles umgekehrt, wie der Augenschein zu lehren scheint : Der Eros will
empfangen ; die Agape will sich schenken; und im Schenken verändert
sie den andern. So und nur so hat uns Gott durch Lieben erlöst und den
verlorenen Adelsbrief wiedergeschenkt.
Je mehr nun die Menschheit Gott vergißt und verläßt, um so mehr
und erschreckender verliert sie die schöpferische Kraft der Liebe, um
so brüchiger werden darum die Liebes-Bünde und um so mehr grollt
das Chaos unter dem teppichbelegten Boden ihrer Zivilisation.
d) K a m e r a d s c h a f t . Ohne Gott gibt es als Ideal der
Gemeinschaftsform nur die K a m e r a d s c h a f t . Dies Wort hat
deshalb einen hohen Klang, weil es an der Frontkameradschaft
ausgerichtet ist. Man darf aber nicht vergessen, daß die
Frontkameradschaft ihr Sonder- und Ausnahmefall ist. Denn
Frontkameradschaft bedeutet Verbundenheit angesichts des Todes und
damit angesichts der letzten Wirklichkeit (die die einen „Gott" und die
andern „Schicksal" nennen mögen). Normalerweise bedeutet
Kameradschaft nur Verbundenheit in einer ganz speziellen S a c h e :
Es gibt z. B. „Schul"-Kameraden und „Arbeits"-Kameraden. Was mir
innerhalb dieser Kameradschaft entgegentritt, ist gerade nicht das Du
des andern, sondern seine Eigenschaft als Träger einer bestimmten und
begrenzten S a c h e . Wie begrenzt der Sektor ist, der mir im Namen
dieser Sach-Verbundenheit am andern entgegentritt, wird an den
Schulkameradentreifen des späteren Lebens deutlich. Nachdem man
sich in Erinnerung an manche Magister-Anekdoten und DummeJungens-Streiche lachend auf die Schenkel geschlagen hat, pflegt eine
unpersönliche Öde einzutreten, die durch entsprechende Quanten an
Bier hinuntergespült wird. Jedenfalls gilt das besonders in d e n Fällen,
wo zwischen der Schulkameradschaft und dem späteren Treffen große
Entscheidungszeiten von persön
272
lichem Gewicht liegen. Indem man diese nicht mehr miteinander
vollzogen hat, bleibt das Du des andern verhüllt und - der Sektor der
kameradschaftlich verbindenden Erinnerung äußerst schmal. Jedenfalls
hat er für das Zustandekommen einer wirklich menschlich-persönlic|ien
Gemeinschaft nicht die nötige Tragkraft.
Natürlich ist die Schulkameradschaft für alle diese Erscheinungen
nur ein P a r a d i g m a . Man könnte jede andere Form der üblichen
Kameradschaften wählen: Ein wie merkwürdiges und beklemmendes
Vakuum kann ζ. B: entstehen, wenn der „gute" Arbeitskamerad
plötzlich in persönlichste Entscheidungen des andern, etwa in seine
Familienprobleme oder Gewissensentscheidungen, hineingezogen
wird. Auf einmal merkt man erschreckend, wie allein, verlassen und
unverstanden wir auf der Ebene des Menschlich-Persönlichen
dastehen. Daß die Kameradschaft das höchste Ideal menschlicher
Gemeinschaft geworden ist, bildet ein äußerst verräterisches
Kennzeichen der heimlichsten Krise: nämlich der Krise des humanum
durch die Absage an Gott.
2. D a s C h a o s j e n s e i t s v o n G o t t .
Wenn wir nunmehr noch einige weitere Beispiele dafür geben, wie
unsere geschichtliche Situation unter dem Bußruf, wie sie unter
Gericht und Gnade steht und darum unserm Wächteramt aufgegeben
ist, so brauche ich dabei nur auf einige Fakten zu verweisen, die wir
alle schon in extenso behandelt haben:
a) Ohne Gott schwindet das Vertrauen unter den Menschen.
Mißtrauen und zentrifugale Chaos-Tendenzen greifen um sich.
b) Ohne Gott stehen die falschen Götter auf; mit ihnen
aber kommt das Chaos. Wir sprachen früher bereits davon,
wie ohne Gott die einzelnen Lebensgebiete (ζ. B. das wirtschaftliche oder das völkische oder das biologische) verabsolutiert werden, wie dadurch aber die a n d e r n Lebensgebiete
nicht erfaßt werden, deshalb bindungslos bleiben und darum
273
den Zündstoff immer neuer Revolutionen in sich aufkommen lassen :
Der chaotische Individualismus entsteht durch die Ver-götzung des
Kollektivs und der chaotische Kollektivismus durch die Vergötzung
des Individuums. Je säkularisierter die Zeitläufte werden und je mehr
sie die verbindende Klammer „Gott" entbehren müssen, um so
rasender schwingt das Pendel der sich jagenden Tendenzen hin und
her, um so toller werden die Sprünge, die der Mensch auf dem
wankenden Grunde vollführen muß, um für wenige Augenblicke und
höchst notdürftig wieder auf die Beine zu kommen, c) Ohne Gott gibt
es nur noch Haltung, aber keinen Halt.
Wir könnten noch l a n g e in dieser Weise fortfahren, um die
Lebenserscheinungen unserer Zeit in das Licht von Gesetz und
Evangelium zu rücken und als Gegenstand des christlichen
Wächteramtes sichtbar zu machen. Was wir in andeutender Kürze zur
Sprache brachten, mag aber genügen.
Es kam uns ja nur auf e i n e s an : nämlich zu zeigen, wie
unsere Botschaft keine Angelegenheit der
bloßen Innerlichkeit, sondern ein g e s c hi c h
t s m ä c h t i g e r F a k t o r i s t . Es muß uns wieder sichtbar
und wenn nötig eingehämmert werden — unsere Zeit bildet ja das
eklatanteste ExempeL dafür —, daß Gott eine geschichtsmächtige
Realität und daß die Gottlosigkeit die Erregerin des Chaos ist. G o t t
i s t d i e d i e s s e i t i g s t e G r ö ß e , d i e e s g i b t . Gerade
w e i l sein Reich nicht von dieser Welt ist, u m g i b t es diese Welt
von allen Seiten. Und wenn wir Theologen das zu predigen vergessen
haben, müssen es uns die Dichter wieder lehren: Gott ist mäuschenstill,
er ist das Stillste von allem, darum dreht sich die Welt um ihn (C. F.
Meyer). Sie dreht sich eben w i r k l i c h um ihn. Das merken wir
heute, wo die Welt nach eigenen Achsen ausschaut, um die sie
schwingen möchte, und dabei so entsetzlich Schiffbruch leidet. Das
Ewige ist stille, / laut die Vergänglichkeit. / Schweigend geht Gottes
Wille /
274
Über den Erdenstreit (W. Raabe). Wir Prediger sollen in aller
Schwachheit dazu beitragen, daß den Menschen von diesem
schweigenden Schritt die Ohren gellen.
Es ließe sich in diesem Sinne noch auf manches Lebensgebiet
eingehen, ζ. B. auf das Gebiet des Todes, auf die soziale Frage, auf das
Problem der Freizeit (die „Zerstreuung"), auf die Frage „Krieg", auf
die Frage „Recht und Gott" usw.
Doch es ist schon wichtig, jedes Lebensgebiet — und nicht nur jedes
einzelne Menschenherz ! —in seiner Affinität zur christlichen
Botschaft zu erkennen und als Gegenstand theologischer
Durchdringung zu verstehen. Man darf vor allem nicht meinen (auch
als P r e d i g e r nicht meinen !), es handle sich hier um „Randbezirke"
der Verkündigung, die in relativem Abstand zu den zentralen Anliegen
der Botschaft von Gericht' und Gnade ständen und deshalb nicht in die
Predigt, sondern in den Bereich von gewissen das Zentrum theologisch
garnierenden „Vorträgen" gehörten. Es ist ein lebenswichtiges Interesse
der kirchlichen Botschaft, die gefallene Welt als Objektivierung des
gefallenen Herzens erkennen zu lehren. Gott aber hat nicht nur das
einzelne Herz, sondern die „Welt" geliebt. Damit stimmt auch der
Instinkt der Predigthörer selbst überein, wenn diese sich von den
erwähnten Fragen so betroffen und umgetrieben wissen, daß sie sich im
Z e n t r u m angesprochen fühlen, sobald die Rede darauf gebracht
wird. Nur darf diese Rede nicht eine unverbindliche Kulturkritik von
einem angeblichen christlichen Kulturprogramm her sein, sondern sie
muß den Zusammenhang der babylonischen Welt mit dem
babylonischen Herzen aufweisen. Sie kann deshalb niemals ein
Weltanschauungsvortrag, sondern sie kann nur die persönlich fordernde
und treffende Predigt von Gericht und Gnade sein. Die Predigt wird
dadurch auch in einem tiefsten Sinne „interessant", insofern es um das
existentielle inter = esse (= Dabei-sein) und Beteiligtsein der Hörer
geht.
17 T h i e l i c k e , Fragen des Christentums.
275
Damit haben wir ein Doppeltes festgestellt: ι . Daß es um die
„geschichtliche" Predigt geht im Unterschied zur bloß „innerlichen"
oder „historisierend-ortho-doxen"; und
2. daß die „seelsorgerliche Solidarität" die Grundhaltung ist, aus der
heraus solche Predigt hervorwachsen muß.
B. METHODISCHE PROBLEME
Es gilt nun abschließend noch einige methodische Folgerungen aus
dem Erarbeiteten zu ziehen. Wir beschränken uns dabei auf einen
einzigen entscheidenden Fragenkreis: nämlich auf unsere „B e g r i f f
1 i c h k e i t" in der Predigt.
Belastete Begriffe^
Eines der ersten und wohl auch weithin anerkannten Erfordernisse
für die methodische Seite der Predigt besteht darin, daß wir die
zentralen Begriffe der christlichen Dogmatik, z. B. „Sünde", „Gnade",
„Liebe", „Gott" und „Teufel" in der Predigt sehr stark zurücktreten
lassen bzw. sie in einer ganz speziellen und noch zu beschreibenden
Weise anwenden. Ich nenne einige Gründe für die Notwendigkeit
dieser Zurückhaltung :
E i n m a l sind die genannten Begriffe im allgemeinen Bewußtsein
zu belastet. Die verschiedenen Propagandaapparate der verschiedenen
a- und antichristlichen Strömungen haben einen Grad der Entstellung
bewirkt, der im allgemeinen völlig unbeabsichtigte und gegenteilige
Reaktionen zeitigen muß. Wir alle kennen — um nur zwei dieser
Entstellungen zu nennen — das m o r a l i s c h e Mißverständnis des
Sündenbegriffs sowie den völlig falschen und die Wahrheit auf den
Kopf stellenden Antagonismus von „Gnade" und „Ehre". Der Wust
dieser falschen Hör-Voraussetzungen ist jedenfalls beim
säkularisierten Zuhörer kaum zu durchstoßen.
276
Es ist nun keineswegs ein bloß p s y c h o l o g i s c h e s
Argument, mit dem wir diese Feststellung begründen, sondern ein
t h e o l o g i s c h e s . Gerade die 'Bibel legt entscheidendes Gewicht
auf die H ö r - V o r a u s s e t z u n - g e n : „Wer O h r e n hat zu
hören, der höre!"; „Wer aus der Wahrheit ist, der höret meine
Stimme", Es geht also bei dem genannten Vorbeihören keineswegs nur
um eine bloße Sprachverwirrung im Sinne einer Vokabelfrage. (Diese
kommt natürlich a u c h hinzu, sitzt aber an der Außenseite der von
der Propaganda beeinflußbaren Zone.) Sondern es geht dabei um ein
wirkliches „Gehäuse der Unwahrheit", in dem der Hörer sitzt, in dem
er existiert. Das m o r a l i s c h e Mißverständnis des Sündenbegriffs
z. B. bedeutet ja doch, daß der Hörer außerhalb der» für die „Sünde"
konstitutiven Ich-Du-Be-ziehung von Gott und Mensch existiert und
daß er d e s h a l b die Sünde rein individual- oder auch sozial-ethisch,
in beidem aber durchaus anthropozentrisch, interpretiert. Die
irreführende Begrifflichkeit, infolgè deren er sich verhört, ist doch nur
der Ausdruck einer irregeführten E x i s t e n z . Es kommt also alles
darauf an, daß der Prediger nicht durch eine harmlose Verwendung
jener Begrifflichkeit den Hörer in seinen Existenzvoraussetzungen
bestätigt und immer wieder die alten, falschen und mißverstehenden
Ohren anpeilt.
Es geht folglich bei unserem Gesichtspunkt einer begreiflichen
Rücksichtnahme um viel mehr als einen pädagogischen Akt (um
diesen geht es natürlich wiederum a u c h ) ; sondern es geht um das
Ernstnehmen eines biblisch-anthropologischen Gesichtspunktes: daß
nämlich unsere Existenz das Hören formt und daß folglich die falschen
Existenzvoraussetzungen auf keinen Fall sprachlich genährt und sich
sprachlich bestätigt wissen dürfen.
F e r n e r : Das Denken des säkularen Menschentums hat zu vielen
dieser Worte nicht nur eine falsche, sondern überhaupt keine
Beziehung. Ich erinnere nur an das Wort Ernst
17*
Jüngers, daß die Dome auf die heutigen Menschen wirkten wie
„Fossilien, die in unsere Städte wie in späte. Sedimente eingelassen
sind". Die fertigen dogmatischen Worte entbehren auf diese Weise der
Griffigkeit; sie treffen den Hörer nicht im Sinne von „Mea res agitur".
Es ist ihm höchstens dabei zumute wie den Trojanern, die durch
Männer, welche beobachtend auf den Stadtmauern sitzen und als eine
Art Kriegs-Berichter die militärische Situation schildern, erzählt
bekommen, was draußen vorgeht. (Homer nennt sie Teichoskopen.) Sie
hören zwar zu, haben aber das Gefühl, daß alles, was sie vernehmen, in
einem ganz andern Raum, eben „draußen", geschieht. Sie
unterscheiden sich deshalb von dem genannten Predigthörer nur
dadurch, und zwar v o r t e i l h a f t dadurch, daß immerhin die
Schlacht, die draußen vor der Stadtmauer tobt, auf sie ζ u kommt und
deshalb eine Beziehung auf sie hat. Dagegen kann der im säkularen
Lebensraum gefangene Mensch, der in den Kategorien von
Machtkämpfen, Leistung und Verdienst, Leid und Lust denkt, daran
zweifeln, ob der -Bericht über das Jenseits seiner Stadt- und Existenzmauern irgendeinen realen Bezug auf ihn habe, ja er kann sogar
zweifeln, ob es einen solchen jenseitigen Raum überhaupt gebe. Daß
der Prediger von dem „Ganz anderen" spricht, darf und kann deshalb
noch längst nicht heißen, daß er auch mit einem „ganz andern"
Vokabular davon reden müsse. Auf diese Weise wird er das „Ganz
andere" nur in das „Beziehungslose" verwandeln. So aber will Gott
wahrhaftig nicht verstanden sein.
Die Doppelseitigkeit der Existen^
E n d l i c h ist noch folgendes zu bedenken : Die Gefahr der
Beziéhungslosigkeit besteht keineswegs nur für den betont säkularen
Menschentyp, also für den missionarisch anzusprechenden
„Randsiedler" der Kirche, sondern auch für die üblichen „treuen"
Gottesdienstbesucher. Nur hat die Be
278
ziehungslosigkeit hier eine andere Gestalt. Sie finden nämlich keinen
Zusammenhang zwischen dem christlichen Gehäuse, in dem sie
während der Gottesdienst- und Erbauungsstunde sitzen, und den vier
Wänden der brutalen Wirklichkeit, innerhalb deren sie normalerweise
leben. Auf diese Weise entsteht eine gefährliche Doppelgleisigkeit der
Existenz: Beim Betreten der religiösen Ebene stellen sich sofort ganz
bestimmte Haltungen und Vokabeln ein, während draußen im Leben
vollkommen andere gelten. Das altertümelnde, dogmatische Vokabular
des Gottesdienstes macht ihnen nicht begreiflich, daß er sie im Alltag
verhaften will und deshalb auch für diesen Alltag gilt. Der Botschaft
wird auf diese Weise ein bestimmter sakraler Sektor des Lebens
zugewiesen, während sie doch in das g a n z e Leben hineingerufen ist.
Es entsteht eine neue Form vor-evangelischer Möncherei, die um so gefährlicher ist, je getarnter sie ist. Es ist überhaupt erstaunlich zu sehen,
wie doppelseitig der moderne Mensch lebt. Es ist eine durchaus
typische Erscheinung, daß etwa ein Christ „normalerweise", wenn er
mit solchen Dingen zu tun hat, eine biologische oder andere
Weltanschauung besitzt, die völlig unausgeglichen neben seinem
christlichen Glauben wohnt: Es leben zwei Welten in seiner Brust, die
sich nicht berühren und deren Berührung er sogar zu verhindern sucht.
Wenn er von der einen in die andere hinüberwechselt, vollzieht er
jedesmal eine Umschaltung, die ihn in einen schlechthin neuen Bereich
versetzt — mit neuen Begriffen, Wörtern, Empfindungen, Anschauungen. Er kommt kaum auf die Idee, etwa den biblischen
Schöpfungsbericht in eine verbindliche Beziehung zu den biologischen
Aussagen über den Menschen zu bringen. Er lebt im Stil der doppelten
Wahrheit und zerteilt damit Christus. Der Missionswissenschaftler
Freytag berichtet in seinem Buch „Das Erwachen der jungen
Christenheit im Osten", daß es auch innerhalb der heidnischen
Religionen diesen Typ des säkularen Menschen gibt, der zweigleisig
lebt, der viel
279
leicht an einer europäischen Universität Astronomie studiert hat und
sich nachts an einer kultischen Lärmszene beteiligt, um den Mond zu
vertreiben.
Jedenfalls : Das sakrale Vokabular in der Predigt bringt Prediger
und Hörer in die Gefahr, die gefährliche Doppelheit ihrer „weltlichen"
und ihrer „religiösen" Existenz ungebrochen stehen zu lassen. Wir
sehen also, wie auch die ausgesprochenen „Kirchenchristen" durch
jenes Vokabular in Gefahr gebracht werden können. In einer Welt, in
der jedes Lebensgebiet seine Sinnbestimmung durch völlig säkulare
Ideologien bekommt, muß Christus s o verkündigt werden, daß e r die
Sinnmitte jener Lebensgebiete, daß er der Herr im Alltag ist, und daß
deshalb jene falschen Ideologien als das, was sie sind, e n t l a r v t
und h i n a u s g e t a n werden1).
Die eigentlichen und letzten Gründe, warum die traditionellen
dogmatischen Vokabeln nicht harmlos und inflationistisch gebraucht
werden dürfen, liegen aber unterhalb der Ebene des
Zeitgeschichtlichen; sie liegen in einer noch tieferen Schicht.
Die richtige Stellung des christlichen Vokabulars
Die genannten Begriffe können w e s e n s m ä ß i g nicht der
A u s g a n g s p u n k t des christlichen Verstehens sein, sondern das
Z i e l . Pointiert ausgedrückt: Man darf mit ihnen ebensowenig ins
Haus fallen, wie man bei einem seel*) Es ist selbstverständlich, daß wir damit nicht die Kirchensprache
überhaupt, z. B. in der Liturgie, abtun wollen. Sie hat ihren ganz bestimmten Ort sowohl in der Dogmatik wie im Gottesdienst. Man kann ihrer aus
vielen Gründen, die hier nicht behandelt werden können, keineswegs
entraten. Nur in die Predigt gehört sie nicht hinein. Die Gefahr der Doppelgleisigkeit der Existenz besteht in flagranter Form seit der Aufklärung.
Gerade bei aufklärerischen Denkern (z. B. bei Lessing ; vgl. dazu mein
Buch „Vernunft und Offenbarung. Studien zur Religionsphilosophie Lessings") findet sich typischerweise immer wieder die Redewendung, daß sie
mit dem Herzen Christen, mit dem Kopfe aber Heiden seien. So wird die
Wirklichkeit unwillkürlich in zwei Dimensionen abgeteilt.
280
sorgerlichen Krankenbesuch — immer von Ausnahmen abgesehen —
mit der Tür oder mit dem Gebetbuch ins Haus fallen darf. Die
genannten Worte dürfen gleichsam nicht am A n f a n g der Predigt
auftauchen,
sondern
am
Ende.
Sie
sind
nicht
V o r a u s s e t z u n g , , sondern s u m m a r i s c h e s F a z i t .
Ich führe dafür zwei Belege an:
E i n m a l : Die Worte „Sünde", „Gnade", „Rechtfertigung",
„Erlösung" usw. sind abstrakte Begriffe. Das Wesen der Abstraktion
besteht darin, daß aus einer Summe konkreter Dinge oder Ereignisse
das Gemeinsame abgezogen wird, daß dann das abgezogene
Gemeinsame mit anderem Gleichartigen zusammengestellt wird und
sò gewisse Ergebnisse gewonnen werden. Es gibt also noch eine
beliebig häufige Potenzierung der Abstraktion. Der gewonnene Begriff
wird damit zum Produkt komplizierter geistiger Operationen.
Damit ist dann die große Gefahr gegeben, daß der gewonnene
Begriff zur gemünzten Vokabel wird und ohne ein Wissen um die
vorangegangenen Operationen oder auch Erfahrungen gebraucht
werden kann. Ich darf dafür ein triviales Beispiel anführen : Der Satz
„Goethe ist der deutsche Dichterfürst" ist das auf eine abstrakte Formel
gebrachte Produkt der Lektüre, eines inneren „existentiellen" Umgangs
mit Goethe und des Vergleichs mit allen andern Dichtern, die für eine
Konkurrenz in Betracht kommen. Genau so aber kann nun der Satz
„Goethe ist der deutsche Dichterfürst" auch im Schulaufsatz
irgendeines Backfischs auftauchen. Intellektuell kann sich der
Backfisch unter diesem nachgesprochenen Satz sogar etwas vorstellen,
nämlich ganz einfach dies, daß Goethe größer ist als die andern
Dichter, daß er — in Analogie zu der Lebenserfahrung des Backfischs
— der Primus in der Klasse der Dichter ist. Trotzdem wirkt es
peinlich, einen solchen Satz aus solchem Munde zu hören. Warum?
Weil der Backfisch den genannten Satz nicht „durchgemacht" und an
sich
281
selbst erfahren hat; weil er also die Operationen, die abschließend in
jenem abstrakten Satze zusammengefaßt sind (existentieller Umgang
mit Goethe; Kenntnis anderer Dichter und Vergleich mit ihnen), nicht
selber vollzogen hat. Dadurch wirkt der an sich richtige Satz schal.
Was nützt die Wahrheit „an sich", die in jenem Satze korrekt
ausgesprochen sein mag, wenn sie keine Wahrheit „für mich" ist? Ich
wohne dann nicht in dem Gehäuse, das ich mit meinen Worten
aufführe. Kierkegaard meint etwas Ähnliches, wenn er davon spricht,
daß die Wahrheit in der „Subjektivität", d. h. im V e r h ä l t n i s zum
Gegenstande, sitze.
Damit hängt es auch wohl zusammen, daß die Evangelien keine
„Lehre" von der Sünde bringen, sondern von S ü n d e n berichten,
besser: von Konkretionen der Sünde. Ebenso sprechen sie nicht vom
Glauben, sondern von glaubenden Menschen oder einzelnen Formen
des Glaubens. Es kommt mehrfach vor, daß Jesus erst in einem
Schlußwort das Geschehen einer Geschichte auf einen Begriffsnenner
bringt. Ich denke ζ. B. an die Geschichte vom Kanaanäischen Weib :
Das, was Glaube ist, hat diese Frau erfahren, indem sie hilfesuchend
ihre Hände nach dem Nazarener ausstreckte und darauf vertraute, daß
er die Güte und die Macht habe, ihr zu helfen. Vielleicht hat sie das
Wort „Glaube" vorher nie in den Mund genommen und kaum bewußt
gehört. Und erst als Jesus am Ende der Geschichte erklärt, „O Weib,
dein Glaube ist groß ; dir geschehe, wie du willst" — da merkt sie, daß
das, was sie erlebt und erfahren hat, „Glaube" gewesen sei. Erst am
Schluß, gleichsam in einem summarischen Fazit über das Geschehene,
nimmt Jesus den „Begriff" in den Mund.
Vielleicht liegt ein ähnlicher Sachverhalt bei der höchst
merkwürdigen Wahrung des M e s s i a s g e h e i m n i s s e s Jesu
vor. Wie ist es zu erklären, daß Jesus immer wieder verbietet, ihm
dieses Prädikat öffentlich beizulegen, es zu verbreiten? Er wußte, daß
die Menschen seiner Zeit mit diesem Be
282
griff eine ganz bestimmte Vorstellung, ein „Vor"-Urteil, verbanden, in
das sein wirklicher Christuscharakter keineswegs einging. Eine
vorzeitige Verbreitung und Anwendung des Christusprädikates auf ihn
hätte nur zur Verfestigung jener Vorurteile und damit zur Verkennung
seiner wirklichen Person und Aufgabe führen müssen. Deshalb ist er
den umgekehrten Weg gegangen: Wo ein Mensch — wie etwa Petrus
— ihm wirklich begegnete und als Ergebnis dieser Begegnung den
Satz fand: Du bist Christus, du bist der Messias, du bist der Sohn des
lebendigen Gottes — da hat er dieses Prädikat geduldet, da war es
sogar sein Z i e l . Auch hier ist es also typisch : Die Kenntnis des
zentralen abstrahierenden Begriffs, der alle Begegnung mit Jesus
zusammenfaßt, ist nicht die V o r - Bedingung dafür, daß man ihm
begegnen kann, sondern ist die N a c h - Wirkung dieser Begegnung.
Das allein ist der gesunde Weg der Abstraktion, der Lehr- und Dogmenbildung.
Dieser Weg muß in jeder Predigt neu gegangen werden, ja sogar in
der religiösen Auseinandersetzung. Es hat z.B. keinen Sinn,
apologetisch einen Begriff in Schutz zu nehmen oder jemandem
anzudemonstrieren (ζ. B. den Begriff „Jungfrauengeburt" oder
„Prädestination"), bei dem die in der Begegnung mit Jesus liegenden
Voraussetzungen noch nicht gegeben sind. In diesem Falle m u ß das
Verständnis eines solchen Begriffs dilatorisch behandelt werden. Der
Begriff der „Prädestination" etwa ist biblisch nur zu verstehen, wenn
vorher die „Rechtfertigung allein aus Gnaden" verstanden und
vollzogen ist. Vorher würde die Behandlung der Prädestinationsfrage
zu einer reinen Begriffsspekulation führen. Wer mit jungen Menschen,
die immer wieder gerade das Prädestinationsproblem aufs Tapet
bringen, umgeht, weiß es ganz genau, wie hier die intellektuelle
Witterung für Begriffe und Probleme der mit eigenen Beinen
zurückgelegten Wegstrecke weit vorausläuft. Der Seelsorger und der
Prediger hat es aber
283
mit den Beinen und nicht mit der Nase zu tun. Es hat ihm ausschließlich um die akute und reale Wegstrecke zu gehen. Gerade im
Umgang mit Intellektuellen kann man nicht vorsichtig genug in der
Handhabung der Begriffs-Ebene sein. Sonst kann es geschehen, daß
klar gedacht wird — und nichts p a s s i e r t . Es ist d i e Gefahr des
ReHgionsunterrichts und des Theologiestudiums, daß der
Abstraktionssektor den Begegnungssektor so entscheidend überwiegt
und daß Denken und Erfahrung hier kaum in Kongruenz zu bringen
sind. Es gibt keine prinzipielle Patentlösung dieser Not. Um so mehr
sollte man um sie wissen. Und um so mehr sollte in der Predigt
wenigstens der richtige O r t des Begriffs gefunden werden : Er gehört
an den Schluß. Das mag man sich vom „Stil" der Seelsorge Jesu
merken1).
Aus allem Gesagten ist schon deutlich geworden, daß es dabei
keineswegs nur um eine methodisch-pädagogische Maßnahme geht.
Auch für die eigene und zwar die sachlich-theologische Bemühung des
Predigers um den Text ist die richtige Lokalisierung des Begriffs von
produktiver Bedeutung.
Konkretisierung und Zerlegung der Begriffe
Man wird nämlich finden, wie relativ leicht sich mit abstrakten
Begriffen operieren läßt; dazu bedarf es nur einer gewissen Schulung
des. Denkens und einiger schulmäßig gehandhabter Technik, die in
keiner Weise mit existentieller Aneignung verbunden zu sein braucht.
Gerade der an seinen Meister gebundene, ' in seinem Geiste denkende,
„räuspernde und spuckende" Student (und hier vielleicht g e r a d e
wieder der Theologiestudent) kann dafür groteske und zahl*) Selbstverständlich darf das nun nicht im Sinne eines Rezeptes
mechanisch gehandhabt werden, so daß der Prediger überhaupt nicht
mehr wagt, diese Begriffe am Anfang einer Predigt in den Mund zu
nehmen. Es kommt nur darauf an, daß er sich über die prinzipielle
Stellung des Begriffs ganz klar ist. Er wird dann schon unter der Hand die
richtigen Akzente bekommen. Denn n u r auf diese kommt es an.
284
1
reiche Beispiele liefern. Die Gefahr der Backfisch-Existenz ist bei
allen abstrakten Begriffsrednern übermächtig. Umgekehrt ist es viel
schwerer, unter Umgehung jener Begriffe ihren sachlichen I n h a l t
zu entfalten. Zu dem Zweck nämlich muß ich den Sachverhalt ganz
anders für mich selber klären. Ich muß den speziellen scopus (=
Blickpunkt) in der betreffenden Perikope ermitteln ; und endlich muß
ich die Erfahrungen, die zur B i l d u n g jenes Begriffs geführt haben,
ganz anders in mir nachvollziehen. Man pflegt ja auch ganz
unabhängig von theologischen Fragen davon zu sprechen, daß nur
d a s wirklich verstanden sei, was man mit andern und eigenen
Worten wiedergeben könne. So kann es für den Prediger ein
wirkliches Training bedeuten, wenn er eine Perikope — vielleicht aus
der paulinischen Literatur—zunächst für sich selbst in eine Sprache
übersetzt, in der keiner der paulinischen Zentralbegriffe' vorkommt.
Freilich wird gerade d a n n alles darauf hinauslaufen, daß der
Begriff „Sünde" oder „Gnade" oder „Rechtfertigung" als Ergebnis nun
auch wirklich r e s u l t i e r t . Ich muß als Prediger zeigen, daß
wirklich von Adam und Eva über den Gichtbrüchigen bis zur
eschatologischen Unbußfertigkeit der Menschen die Sünde i m m e r
d a s s e l b e ist und deswegen natürlich auch auf einen
allumfassenden Begriff gebracht werden darf. Aber ich muß es eben
z e i g e n , wieso der konkrete Fall des Sündigens zu diesem innersten
Wesen der Sünde in Beziehung steht. Die Arbeit der Predigt besteht
nicht in der Mitteilung von E r g e b n i s s e n , sondern im Zeigen
von W e g e n .
Dasselbe Problem wird in anderer Spiegelung nochmals sichtbar an
der P a u s c h a l b e i c h t e , die wir mit un-sern Abendmahlsfeiern
zu verbinden pflegen und die in dem ganz einfachen „Ja" zum
Ausdruck gebracht wird, das die Gemeinde als Bestätigung ihres
Sündenbekenntnisses spricht. Der Ausdruck „Pauschalbeichte" soll
schon daraufhinweisen,
285
daß irgend etwas an dieser Beichtform nicht in Ordnung ist oder daß
jedenfalls die Unordnung in gefährlichster Weise d r o h t . Der
pauschale und summarische Charakter dieser Beichte ist nämlich nur
so und h ö c h s t e n s nur so möglich, daß das summarische
Sündenbekenntnis das Ergebnis und die letzte Zusammenfassung eines
persönlichen Rechenschaftsberichtes ist, der vorangegangen ist, sei es
im stillen Kämmerlein vor mir selbst oder aber einem Bruder
gegenüber. Ohne dieses Vorangehen wird die Beichte in den meisten
Fällen zu einer äußeren Farce,'weil dann (dann!) das Wort „Ich
Sünder" in keinem Verhältnis zu meinen Lebenstatsachen steht,
sondern wirklich zum „Begriff" geworden ist.
Wir ertappen uns ja selbst auch oft genug dabei, daß uns sogar das
einfache Sprechen des Vaterunsers eine fast z,u summarische Sache ist.
(Wer kann es denn, in jedem Augenblick fassen: „Dein Reich . . .",
„Dein Wille . . ." -? Sind diese Worte in ihrer raschen Folge und in der
Häufigkeit ihres Gesprochenwerdens nicht fast zu übermächtig für eine
persönliche Aneignung? Und kommt es nicht gerade d a h e r , daß
ausgerechnet das Vaterunser, das dem Plappern der Heiden wehren
sollte, selbst zum Gegenstand eines Plapperns geworden ist?) Deshalb
ist Luthers Rat sehr gut, daß man das Vaterunser betend entfalten und
im Entfalten sich aneignen solle, so daß dann die Worte des
Vaterunsers selbst das Fazit dieser Entfaltung darstellen.
Von unserer speziellen Zeitgeschichte her wäre dem noch folgende
Erwägung hinzuzufügen:
Der säkularisierte Mensch hat heute ein Kino-Auge. Er hat in einem
bedrohlichen Ausmaß überhaupt keine Kraft mehr zu einer Reflexion,
die bloße Andeutungen oder summarische Begriffsmitteilungen
selbständig aufnehmen und durch eigene innere Operationen ergänzen
könnte. Daher ist auch die Krisis des Kriminalromans (ja des Romans
überhaupt) gegenüber dem F i l m zu verstehen: denn im Film
286
wird einem die produzierende und zur Belebung des Wortes nötige
Phantasie a b g e n o m m e n . Ja noch mehr: Selbst sein A u g e ,
von Gedanken ganz abgesehen, muß alles direkt und in einzelne
Anschaulichkeiten zerlegt, vorgesetzt bekommen. Ich erinnere nur an
die „Groß-Aufnahm'e" im Film, in der der entscheidende
Gesichtsausdruck des Schauspielers oder auch das nervöse Spiel seiner
Hände oder das unruhige Stampfen seiner Füße dem Zuschauer in
einer höchst spezialisierten und unübersehbaren Weise nahe gebracht
wird. Das Bühnenbild im Theater fordert demgegenüber eine ungleich
größere Aktivität des Zuschauers, weil er jene wichtigen
Ausdruckssymbole selber auffinden und wirklich „suchen" muß.
Daraus folgt, daß man diesem Menschen möglichst wenig allgemein,
sondern sehr spezialisiert predigen muß. Habe ich ζ. B. über das Wort
zu predigen „In der Welt habt ihr Angst . . .", so muß ich dem Hörer
behilflich sein, seine p e r s ö n l i c h e Beängstigung zu finden. Tue
ich das nicht, sondern lasse ich den Begriff perfekt stehen, so werden
viele bei dem Wort „Angst" einfach den Typus eines feigen
Menschentums vor Augen haben. Deshalb wird man sofort
spezialisieren müssen. Ich füge zu dem Zweck den entsprechenden
Satz aus einer wirklich gehaltenen Predigt an (der als solcher anstößig
sein mag und nicht einmal glücklich formuliert zu sein braucht, der
aber doch die Richtung andeutet, die wir beschritten sehen möchten):
Jesus sagt nicht: „einige ängstliche Gemüter, einige zimperliche alte
Jungfern, einige wasserscheue Individuen, die sich nicht vom
Sprungbrett ins kalte Wasser trauen, hätten Angst. Sondern er sagt das
Wort von der Angst zu Männern, die zum guten Teil später den
Märtyrertod gestorben sind und die man heute vermutlich als heroisch
bezeichnen würde, wenn man ihnen gegenüber nicht einen blinden
Fleck im Auge haben wollte." Mit diesen Sätzen ist die Ebene
angedeutet, auf der diese Art „Angst" erlebt wird; aber sie wird so
angedeutet, daß von
287
verschiedenen höchst konkreten Punkten aus geometrische Örter auf
diese Ebene hin bestimmt werden. Es wird m. a. W. der Versuch
gemacht, unter den verschiedenen Möglichkeiten der Angst die
e i n e , auf die es hier ankommt, durch Großaufnahme
herauszustellen x).
Aus allen diesen Erfahrungen muß die Predigt lernen.
Ein guter Teil des Vorwurfs, daß die Predigt einen nicht berührt
habe, daß, sie beziehungslos über und neben meinem Leben stehen
geblieben sei, geht auf Kosten der falschen summarischen
Predigtweise, bei der der Prediger zudem auch selber immer leerer
wird und der Routine zu verfallen droht. Gerade die letztere
Bedrohung muß schon deshalb näher rücken, weil der Prediger sich
den entscheidenden und schwersten Arbeitsgang bei der
Begriffspredigt erspart. Der Versuch, nun nachträglich die versäumte
Lebensnähe (die aus t h e o l o g i s c h e n Gründen versäumte
Lebensnähe)
durch
christliche
Beispielschätze
wieder
zurückzuerobern, ist dann auch ein vergebliches Unterfangen.
ERGEBNIS
Wir haben nunmehr das Predigtproblem der Gegenwart unter dem
Stichwort der „seelsorgerlichen Predigt" nach verschiedenen Seiten
abgeschritten.
Unser Stichwort wurde dabei nach folgenden Richtungen entfaltet :
ι. Die seelsorgerliche Predigt wächst aus dem Dialog hervor und ist
selbst ein Dialog. Sie ist eine Wiederholung des Selbstgespräches
zwischen dem geistlichen und dem natürlichen Menschen in uns nach
a u ß e n hin.
2. Der seelsorgerliche Dialog ist nur möglich aus der S o 1 i *) Ich halte den Begriff „Angst" im Sinne der Lutherübersetzung für
zulässig, obwohl im Urtext thlipsis = Bedrängnis steht. Doch ist das hier
nicht weiter zu begründen.
288
d a r i t ä t heraus, aus dem also, was der Hebräerbrief „Mit-Leiden"
nennt.
3. Die Solidarität ihrerseits ist nur dadurch möglich, daß wir aus
der bloßen Innerlichkeit heraustreten und daß wir die Geschichte, in
der wir alle leben, unter Gericht und Gnade stellen. Anders
ausgedrückt: die Solidarität ist nur dadurch möglich, daß wir von Gott
als der die Geschichte tragenden Realität ausgehen und daß wir die
Geschichte folglich als etwas verstehen, das unter Gottes Gebot und
Gnade erbaut wird oder an beidem zerbricht.
4. Das letztere aber bedeutet nichts anderes, als daß wir den
Ö f f e n t l i c h k e i t s a n s p r u c h der Predigt proklamieren, selbst
wenn sie in den Katakomben und unter praktischem A u s s c h l u ß
der Öffentlichkeit erfolgt.
Die Predigt bezieht sich nicht nur auf die private Innerlichkeit, auf die
Ich-Einsamkeit mit Gott oder—in einem gebräuchlicheren Worte
ausgedrückt — auf die persönliche Bekehrung, sondern sie ist zugleich
eine Welt-Angelegenheit, einfach deshalb, weil Jesus Christus alle
Gewalt gegeben ist im Himmel und auf Erden. W o d a s
Evangelium
nicht
mehr
gepredigt
wird,
z e r f ä l l t d i e O r d n u n g d e r W e l t . Wir haben das in einem
früheren Kapitel am Beispiel des Vertrauens gesehen: Wo Gott aus dem
Leben ele-miniert wird, regiert die Angst vor dem Menschen, und die
Gemeinschaften zerstieben in zentrifugaler Jagd. Luther hat in
erschütternden Prognosen und Warnungen auf dieses mög- -liehe
Schicksal Deutschlands hingewiesen. Und Reinhold Schneider sagt vom
gottlosen Tatmenschentum, daß alles, was es zu vereinen strebe, sich
wieder spalten müsse und „Not und Unheil" das schauerliche Produkt
seiner sogenannten schöpferischen, in Wirklichkeit aber gottlosdestruktiven Kräfte sei.
Wenn nicht alles trügt, sind wir in diese „Freiheit" des gottgelösten
Tatmenschentums eingetreten. Das mag uns daran
289
erinnern, daß wir als Prediger nicht nur die Verantwortung für die
K i r c h e , sondern daß wir sie als Kirche auch für die W e l t tragen,
daß wir ein Wächteramt haben.
Wir k ö n n t e n aber diese Verantwortung einfach nicht tragen,
wenn wir die Welt erst erobern müßten, wenn es also um den
E i n b r u c h in jene Öffentlichkeit ginge, die uns so hermetisch
verschlossen ist. Aber ein Denken, das d a r a u f ausginge, wäre auch
im Ansatz verfehlt : C h r i s t u s i s t d i e ö f f e n t l i c h e
E r s c h e i n u n g s c h l e c h t h i n , auch wenn er unter den
Paragraphen der Entkonfes-sionalisierung des öffentlichen Lebens fällt.
Die Welt ißt oder trinkt sich an ihm das Leben oder das Gericht. Auch
ein Totschweigen bedeutet nicht seine Eliminierung, sondern eine
Entscheidung fürs Gericht: „Sein Blut komme über uns und unsere
Kinder . . . " Gibt es eine öffentlichere Öffentlichkeit? Und wenn er
totgeschwiegen wird, ist er auch dann noch -ein öffentliches
Geheimnis.
Noch einmal : Nicht w i r haben die Hand des Herrn zu nehmen und
ihn in die Öffentlichkeit der Kontinente und Inseln, in die
Öffentlichkeit der Presse, des Rundfunks und des Geredes zu bringen.
Sondern diese Hand i s t über die Kontinente und Inseln, über die
Wissenschaften und Künste, über Presse und Rundfunk gereckt, und
wir haben nichts anderes zu tun, als hinter dieser ausgereckten Hand
herzumarschieren und zu bezeugen, wie drohend und winkend ihr
Schatten über der Welt sichtbar ist. Darum haben wir die Wirtschaftler
und Politiker, die Kaufleute und Arbeiter, die Künstler und die
Wissenschaftler nicht nur anzusprechen auf den sozusagen privaten
Person-Kern hin, der in allen gleich ist, auf das MenschlichAllzumenschliche in ihnen, sondern haben ihnen auch etwas von der
Ordnung ihres Lebens- und Arbeitsgebietes unter Christus zu sagen.
Wir haben über das Verhält-.nis von Evangelium und Weltordnung
nachzudenken, e i η
290
fach deshalb, weil Christus eine öffentliche
Erscheinung ist.
Es geht in der Predigt des Evangeliums, wenn ich mich pointiert
ausdrücken darf, letztlich nicht nur um die Erbauung der Seele,
sondern um die Erbauung der Welt oder ihren Zerfall. (Daß und
inwiefern beides nicht voneinander zu trennen ist, sondern aufs engste
zusammengehört, brauche ich nach allem Gesagten nicht mehr
auszuführen; ebensowenig dies,
daß diese unter der Geduld Gottes zu erbauende Welt --------------------zugleich der v e r g e h e n d e Äon ist, der immer nur „auf Abbruch"
erbaut und erhalten wird.) Es geht um den ganzen Äon. Der
Geschichtsbegriff des Alten Testaments ist förmlich geladen mit
diesem Wissen. Schon darum ist uns der alte Bund als Hintergrund des
neuen unentbehrlich. Es geht um das Geheimnis, daß die
Weltgeschichte i η die Reichsgottesgeschichte eingebaut ist und daß es
keine aus ihr ausgeklammerten Gebiete und Gestalten gibt, von der
angeblich wertfreien Naturwissenschaft bis zu den großen Männern,
die i h r e Geschichte zu machen meinen — sei es nun Nebu-kadnezar
oder Hitler.
Darum lebt die Predigt aus dem königlichen Realismus, der es
einfach weiß, daß wir es nicht mit einem Drüben zu tun haben, nach
dem die Aussicht uns verrammt ist, sondern mit einem Hier und Jetzt,
in dem es einfach und höchst realistisch um Bestand und Untergang
der Welt geht. Das „Realistischste" an einer mathematischen
Gleichung, wenn ich einmal so sprechen und einen früheren Gedanken
noch einmal aufgreifen darf, ist das V o r z e i c h e n , vor der
Klammer und nicht der I η h a 11, der Klammer. Und das
„Realistischste" in der Geschichte ist nicht die technische oder
kulturelle oder militärische Leistung innerhalb der Klammer unseres
Lebens, sondern das Vorzeichen: das Zeichen der Macht nämlich, in
deren Namen wir leben, und damit die Frage, welchem Herrn wir
gehören.
18 T h i e l i c k e , Fragen des Christentums.
291
D a s ist der Öffentlichkeitsanspruch unserer Predigt. Das ist auch
ihr Wächteramt. Wir sind als Christen und als Prediger nicht nur Salz,
sondern sind im buchstäblichen Sinne und wirklich im Sinne des
scopus dieser Stelle : Licht der W e l t und Salz der E r d e .
292
Von Helmut ThielicJce erschienen ferner: Geschichte und
Existenz. Grundlegung einer evangelischen Theologie der Geschichte. (G.
Bertelsmann, Gütersloh)
Vernunft und Offenbarung. Eine Studie über die Religionsphilosophie
Lessings (C. Bertelsmann, Gütersloh)
Das Verhältnis zwischen dem Ethischen und dem Ästhetischen. Eine
systematische Untersuchung. (Felix Meiner, Leipzig)
Kritik der natürlichen Theologie. 2. Aufl. (Chr. Kaiser, München)
Die Krisis der Theologie. Zur Auseinandersetzung zwischen Barth und
Gogarten. ( J. C. Hinrichs Verlag, Leipzig)
Das Amt des Beters. Theologische Besinnung über das Wesen des Gebetes. (Lichtweg-Verlag, Essen)
Christus oder Antichristus. 3. Aufl. (Emil Müller, Barmen)
Schuld und Schicksal. Gedanken eines Christen über das Tragische.
(Furche-Verlag, Berlin)
Jesus Christus am Scheidewege. Eine biblische Besinnung. (FurcheVerlag, Tübingen). Auszugsweise in englischer Übersetzung erschienen. Neuauflage unter dem Titel „Zwischen Gott und Satan".
(Furche-Verlag, Tübingen)
Wo ist Gott? Briefwechsel. 4. Aufl. 9.—21. Tausend. 1940. (Vanden-hoeck
& Ruprecht, Göttingen)
In letzter Zeit erschienen: Tod und Leben. Studien zur
christlichen Anthropologie. 2. Aufl. 1946. 225 S. ( J. C. B. Mohr (Paul
Siebeck), Tübingen). Schweizerische Ausgabe 1944, Verlag Oikumene
Genf
Das Gebet, das die Welt umspannt. Reden über das Vaterunser. 2. Aufl.
6.—15. Tausend. 1946. 164 S. ( Quell-Verlag, Stuttgart)
Der Glaube der Christenheit. Reden über den christlichen Glauben. 1947.
480 S. (Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen)
Demnächst werden erscheinen: Kirche und
Öffentlichkeit. Grundlegung einer lutherischen Kulturethik. Als Nr. 1 in
der „Forsctmngsreihe der Ev. Akademie" (Furche-Verlag, Tübingen)
Theologie der Anfechtung. Wissenschaftliche Aufsätze. Etwa 350 S. ( J. C.
B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen)
Christus unser Schicksal. Briefe, Aufsätze, Reden.Etwa 300 S. (Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen)
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