Luhmann Zitate zu Mensch und Subjekt

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Luhmann Zitate zu Mensch und Subjekt
aus: Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main:
Suhrkamp 19966.
"Sieht man den Menschen als Teil der Umwelt der Gesellschaft an (statt als Teil der
Gesellschaft selbst), ändert das die Prämissen aller Fragestellungen der Tradition, also auch
die Prämissen des klassischen Humanismus. Das heißt nicht, daß der Mensch als weniger
wichtig eingeschätzt würde im Vergleich zur Tradition. Wer das vermutet (und aller Polemik
gegen diesen Vorschlag liegt eine solche Unterstellung offen oder versteckt zu Grunde), hat
den Paradigmawechsel in der Systemtheorie nicht begriffen.
Die Systemtheorie geht von der Einheit der Differenz von System und Umwelt aus. Die Umwelt
ist konstitutives Moment dieser Differenz, ist also für das System nicht weniger wichtig als das
System selbst. Die Theoriedisposition ist in dieser Abstraktionslage noch völlig offen für
verschiedenartige Wertungen. Die Umwelt mag manches enthalten, was für das System (unter
welchen Gesichtspunkten immer) wichtiger ist als Bestandteile des Systems selbst; aber auch
die gegenteilige Konstellation ist in der Theorie erfaßbar. Gewonnen wird mit der
Unterscheidung von System und Umwelt aber die Möglichkeit, den Menschen als Teil der
gesellschaftlichen Umwelt zugleich komplexer und ungebundener zu begreifen, als dies möglich
wäre, wenn er als Teil der Gesellschaft aufgefaßt werden müßte; denn Umwelt ist im Vergleich
zum System eben derjenige Bereich der Unterscheidung, der höhere Komplexität und
geringeres Geordnetsein aufweist. Dem Menschen werden so höhere Freiheiten im Verhältnis
zu seiner Umwelt konzediert, insbesondere Freiheiten zu unvernünftigem und unmoralischem
Verhalten. Er ist nicht mehr Maß der Gesellschaft. Diese Idee des Humanismus kann nicht
kontinuieren. Denn wer wollte ernsthaft und durchdacht behaupten, daß die Gesellschaft nach
dem Bildes des Menschen, Kopf oben usw., geformt werden könnte." (Luhmann, a.a.O., S
288f.)
"Kant hatte mit dem Vorurteil eingesetzt, dass Vielheit (in der Form von Sinnesdaten) gegeben
und Einheit konstituiert (synthetisiert) werden müsse. Erst das Auseinanderziehen dieser
Aspekte, also erst das Problematisieren von Komplexität, macht das Subjekt zum Subjekt –
und zwar zum Subjekt des Zusammenhangs von Vielheit und Einheit, nicht nur zum Hersteller
der Synthese."(Luhmann, a.a.O., S 51)
"Man kann, will man die Subjekt-Terminologie retten, noch sagen: ein Bewußtsein sei ein
Subjekt der Welt, neben dem es andere Subjektarten gibt, vor allem soziale Systeme. Oder:
psychische und soziale Systeme seien Subjekte der Welt. Oder: sinnhafte Selbstreferenz sei
Subjekt der Welt. Oder: Welt sei ein Sinnkorrelat. In jedem Falle sprengen solche Thesen die
klare cartesische Differenz von Subjekt und Objekt. Will man den Subjektbegriff von dieser
Differenz her denken, wird er unbrauchbar, die Differenz wird sozusagen selbst subjektiviert.
Das selbstreferentielle Subjekt und das selbstreferentielle Objekt werden isomorph gedacht so wie eigentlich auch die Vernunft und das Ding an sich bei Kant. Und kommt man dann nicht
mit dem einfachen Begriff der Selbstreferenz aus?" (Luhmann, a.a.O., S. 595)
"Als Reflexionstheorie des Wissenschaftssystems hat die Erkenntnistheorie es primär mit dem
Verhältnis von Erkenntnis und Gegenstand, das heißt mit dem Realitätsbezug der Erkenntnis
zu tun. Pure Selbstreferenz an dieser Stelle würde heißen: real ist, was die Erkenntnis als real
bezeichnet. Diese Auskunft war immer und bleibt auch heute unbefriedigend. Man muß den
Zirkel aber nicht vermeiden, man muß ihn durch Konditionierungen unterbrechen. Das ist die
Funktion von Gründen. Sie transformieren den circulus vitiosus aber nur in einen infiniten
Regreß, denn man muß jetzt nach den Gründen für die Gründe fragen. Daher wird der infinite
Regreß mit Approximationshoffnungen ausgestattet, die letztlich in funktionierender
Komplexität rückversichert sind. Wenn man die Gründe wieder begründet und jede Etappe für
Kritik offen und revisionsbereit hält, wird es immer unwahrscheinlicher, daß ein solches
Gebäude ohne { jeden Realitätsbezug hätte aufgeführt werden können. Die Zirkularität ist
nicht eliminiert, sie ist in Gebrauch genommen, ist entfaltet, ist enttautologisiert. Ohne diesen
basalen Selbstbezug würde jede Erkenntnis zusammenbrechen. Nur mit seiner Hilfe ist eine
umweltsensible Struktur aufzuführen, die dem, was die Wissenschaft dann Realität
(Gegenstände, Objekte usw.) nennt, Information abgewinnt.
Die erkenntnistheoretische Semantik des 18. Jahrhunderts hatte in dem Moment, als dieser
Sachverhalt entstand, sich geweigert, ihn zu akzeptieren. Verständlicherweise! Er war zu neu.
Nach der hochriskanten Ablehnung aller religiösen oder metaphysisch-kosmischen
Instituierung von Erkenntnis konnte man nicht sogleich den nächsten Schritt tun und jeden
Gedanken an eine letztgewisse Außenfundierung fahren lassen. Man kam diesem Schritt so
weit wie möglich entgegen und verlegte das, was die Funktion einer Außenfundierung hatte, in
das Bewußtsein. Dazu mußte Bewußtsein als ein über Empirizitäten hinausgehender
»transzendentaler« Sachverhalt, als »Subjekt« der Welt begriffen werden. So konnte die
Selbstreferenz des Bewußtseins, Subjekt genannt, als Quelle der Erkenntnis und als Quelle der
Erkenntnis der Bedingungen der Erkenntnis zugleich in Anspruch genommen werden. Eine im
Erkenntnisprozeß nicht mehr disponible Ebene kontrollierbarer Bedingungen war denkbar
gemacht, und zugleich war jedem, der an Erkenntnis teilnehmen wollte, zugemutet, sie in sich
selbst als unumstößliche Gewißheiten zu erfahren.
Ein geniales, höchst erfolgreiches, merkwürdiges Kompromiß zwischen Zugeständnis und
Ablehnung von Selbstreferenz. Ein Apriori in Begründungsfunktion, als ob nicht schon das ein
Widerspruch in sich selbst wäre. Die Überlieferung hat diesen Gedanken bewahrt, ausgebeutet
und wiederholt revitalisiert. Er ist in der Tat, wenn man das Problem ernst nimmt, das er sich
stellt, nicht zu überbieten. Aber der Plausibilitätsentzug schreitet unaufhaltsam fort. Man findet
heute wohl kaum noch jemanden, der authentisch so denkt. Wer transzendentales Denken
vertritt - und man kann das natürlich, wenn man Bücher schreibt oder Kongressreferate hält -,
begründet dies historisch mit Theoriewissen: mit Kant." (Luhmann 1996, a.a.O., S. 648f.)
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