Schwerpunktthema im Latein-Abitur 2014: Ovid, Metamorphosen

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Schwerpunktthema im Latein-Abitur 2014: Ovid, Metamorphosen
Regionale Fortbildungen
Regierungspräsidium Stuttgart
Herbst 2013
Verhalten der Götter
und
Interpretationsaspekte der „Metamorphosen“ am Beispiel
der Apollo-Daphne- Erzählung
Uwe Neumann
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Inhalt
1. Text: Apollo und Daphne (Metamorphosen I 452-567) …………………………………………………
2
2. Vergleich mit Hyginus, Fabulae ……………………………………………………………………………….. 6
3. Erste Dimension: Psychologische Darstellung eines siegreichen Gottes Die Rivalität der Bogenschützen Cupido und Apollo (452-473)……………………………………...……… 6
4. Zweite Dimension: Eine einseitige Lebenswahl - Psychologie bei Daphne (474-489) …………... ……..
7
5. Dritte Dimension: Ein Gott mit menschlichen Schwächen - Apollo als Liebender (490-503)…..………. 10
6. Vierte Dimension: Die Werberede - das rhetorische Versagen Apollos (504-524)………………………. 11
7. Fünfte Dimension: Männer- und Frauenrolle - Die Verfolgung Daphnes (525-542) ………..….. …….. 14
8. Sechste Dimension: Das Verwandlungsmotiv in den „Metamorphosen“
und die Verwandlung der Daphne (543-552) …………………………………………………………………. 16
9. Siebte Dimension: Metrik und Erzählweise ………………………………………………………………… 18
10. Achte Dimension: Die politische Ebene - Augustus und der Lorbeerbaum (553-567) ……………… 19
11. Neunte Dimension: Ovids Humor und sein literarisches Spiel ein Autor ohne tiefere Bedeutung? ………...…………………………………………………………………… 22
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Text: Apollo und Daphne (Met. I, 452-567)
Metamorphosen I 452-567
Primus amor Phoebi Daphne Peneia, quem non
fors ignara dedit, sed saeva Cupidinis ira.
Delius hunc nuper, victa serpente superbus,
viderat adducto flectentem cornua nervo (455)
'quid' que 'tibi, lascive puer, cum fortibus armis?'
dixerat: 'ista decent umeros gestamina nostros,
qui dare certa ferae, dare vulnera possumus hosti,
qui modo pestifero tot iugera ventre prementem
stravimus innumeris tumidum Pythona sagittis. (460)
tu face nescio quos esto contentus amores
inritare tua, nec laudes adsere nostras!'
filius huic Veneris 'figat tuus omnia, Phoebe,
te meus arcus' ait; 'quantoque animalia cedunt
cuncta deo, tanto minor est tua gloria nostra.' (465)
dixit et eliso percussis aere pennis
inpiger umbrosa Parnasi constitit arce
eque sagittifera prompsit duo tela pharetra
diversorum operum: fugat hoc, facit illud amorem;
quod facit, auratum est et cuspide fulget acuta, (470)
quod fugat, obtusum est et habet sub harundine plumbum.
hoc deus in nympha Peneide fixit, at illo
laesit Apollineas traiecta per ossa medullas;
protinus alter amat, fugit altera nomen amantis
silvarum latebris captivarumque ferarum (475)
exuviis gaudens innuptaeque aemula Phoebes:
vitta coercebat positos sine lege capillos.
multi illam petiere, illa aversata petentes
inpatiens expersque viri nemora avia lustrat
nec, quid Hymen, quid Amor, quid sint conubia curat. (480)
Die erste Liebe des Phoebus war Daphne, die nicht der blinde Zufall stiftete,
sondern der wilde Zorn Amors. Der Gott von Delos, stolz auf den Sieg über
die Schlange, hatte ihn eben gesehen, wie er die Sehne spannte und den
Bogen krümmte (455), und hatte zu ihm gesagt: „Was hast Du, übermütiger
Junge, mit kräftigen Waffen? Diese Würde passt zu meinen Schultern, der ich
es vermag, unfehlbare Wunden einem wilden Tier, einem Feind zuzufügen,
und der ich eben mit unzähligen Pfeilen den aufgebrachten Python
niedergestreckt habe, der mit seinem giftigen Bauch so viel Land bedeckt.
(460)
Du sollst zufrieden sein, mit Deiner Fackel irgendwelche Liebschaften anzustiften, und maße Dir nicht meinen Ruhm an!“
Der Sohn der Venus sprach zu ihm: „Mag Dein Bogen, Phoebus, alles treffen,
Dich trifft mein Bogen. Und wie sehr alle Lebewesen hinter einem Gott
zurückbleiben, umso viel geringer ist Dein Ruhm als meiner.“ (465)
So sprach er, schlug mit seinen Flügeln und flatterte durch die Luft und
stellte sich flink auf die schattige Spitze des Parnaß.
Aus dem Köcher voller Pfeile nahm er zwei Geschosse von unter-schiedlicher
Wirkung: das eine vertreibt, das andere bewirkt die Liebe. Das die Liebe
bewirkt, ist vergoldet und glänzt mit scharfer Spitze (470); das sie vertreibt,
ist stumpf und hat Blei unter dem Schaft.
Dieses schoss der Gott in die Nymphe, die Tochter des Peneus, aber
mit jenem verwundete er durch die Knochen das Mark Apollos.
Sogleich liebt der eine, die andere flieht schon das Wort „Geliebte“.
An Waldverstecken und an Fellen gefangener Tiere (475) hat sie ihre Freude
und eifert der unverheirateten Diana nach. Eine Binde hielt das kunstlos
frisierte Haar zusammen. Viele warben um sie, jene aber wies die Werbenden
zurück, kann keinen Mann ertragen und lebt ohne Mann und durchstreift die
abgelegenen Wälder. Sie kümmert sich nicht darum, was Hymen, was Liebe,
was Ehe bedeuten. (480)
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saepe pater dixit: 'generum mihi, filia, debes,'
saepe pater dixit: 'debes mihi, nata, nepotes';
illa velut crimen taedas exosa iugales
pulchra verecundo suffuderat ora rubore
inque patris blandis haerens cervice lacertis (485)
'da mihi perpetua, genitor carissime,' dixit
'virginitate frui! dedit hoc pater ante Dianae.'
ille quidem obsequitur, sed te decor iste, quod optas
esse, vetat, votoque tuo tua forma repugnat:
Phoebus amat visaeque cupit conubia Daphnes, (490)
quodque cupit, sperat, suaque illum oracula fallunt,
utque leves stipulae demptis adolentur aristis,
ut facibus saepes ardent, quas forte viator
vel nimis admovit vel iam sub luce reliquit,
sic deus in flammas abiit, sic pectore toto (495)
uritur et sterilem sperando nutrit amorem.
spectat inornatos collo pendere capillos
et 'quid, si comantur?' ait. videt igne micantes
sideribus similes oculos, videt oscula, quae non
est vidisse satis; laudat digitosque manusque (500)
bracchiaque et nudos media plus parte lacertos;
si qua latent, meliora putat. fugit ocior aura
illa levi neque ad haec revocantis verba resistit:
'nympha, precor, Penei, mane! non insequor hostis;
nympha, mane! sic agna lupum, sic cerva leonem, (505)
sic aquilam penna fugiunt trepidante columbae,
hostes quaeque suos: amor est mihi causa sequendi!
me miserum! ne prona cadas indignave laedi
crura notent sentes et sim tibi causa doloris!
aspera, qua properas, loca sunt: moderatius, oro, (510)
curre fugamque inhibe, moderatius insequar ipse.
cui placeas, inquire tamen: non incola montis,
non ego sum pastor, non hic armenta gregesque
Oft sagte der Vater: „Einen Schwiegersohn, Tochter, schuldest Du mir.“ Oft
sagte der Vater: „Du schuldest mir, Tochter, Enkel.“
Jene aber hasst wie ein Verbrechen die Hochzeitsfackeln; ihr schönes Gesicht
war von schamhafter Röte gefärbt und schmeichelnd umarmte sie mit ihren
Armen den Hals des Vaters (485) und sagte:
„Erlaube mir, liebster Vater, ewig Jungfrau zu bleiben. Auch der Diana hat
dies ihr Vater erlaubt.“ Jener gibt ihr zwar nach, aber Deine Schönheit
verbietet Dir, das zu sein, was Du wünschst, und Deinem Wunsch steht
Deine schöne Gestalt entgegen. Phoebus liebt sie, und nachdem er sie erblickt
hatte, begehrt er die Vereinigung (490). Und was er begehrt, erhofft er, und
ihn täuschen die eigenen Orakelsprüche. Wie leichte Stoppeln, nachdem die
Ähren geerntet worden sind, in Brand geraten; wie Zäune durch Fackeln
entbrennen, die zufällig ein Wanderer zu sehr näherte oder im
Morgengrauen zurückließ, so ging der Gott in Flammen auf, so wird er in der
ganzen Brust ein Opfer des Feuers (495) und nährt mit Hoffnung eine
fruchtlose Liebe. Er betrachtet die ungeschmücken Haare ihr auf dem
Nacken hängen und sagt: „Was, wenn sie noch gekämmt werden?“ Er sieht
die Augen von Feuer strahlen, gleich wie die Sterne, er sieht den Mund, den
gesehen zu haben, nicht genug ist. Er lobt die Finger, die Hände (500), die
Unterarme und die Oberarme, die bis über die Hälfte unbedeckt sind. Was
verborgen ist, hält er für noch besser. Jene aber flieht schneller als die
flüchtige Luft, und sie bleibt nicht auf diese Worte, die sie zurückrufen,
stehen:
„Nymphe, ich bitte Dich, du Kind des Peneus, warte! Nicht als Feind folge
ich dir. Nymphe, warte! So flieht das Lamm vor dem Wolf, der Hirsch vor
dem Löwen (505), so vor dem Adler mit zitterndem Flügel die Taube, ein
jedes vor seinem Feind. Die Liebe ist für mich der Grund, Dich zu verfolgen!
Ach, ich Armer! Dass Du nicht kopfüber stürzst und Dornen Deine
Unterschenkel, die es nicht verdienen, verletzt zu werden, ritzen, und dass
ich Dir dann der Grund des Schmerzes bin! Rauh ist die Gegend, durch die
Du eilst: langsamer, ich bitte Dich, (510) laufe, und zügle Deine Flucht,
langsamer werde ich Dich dann verfolgen. Wem Du gefällst, frage doch: ich
bin kein Bergbewohner, kein Hirte, nicht als struppiger Geselle bewache ich
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horridus observo. nescis, temeraria, nescis,
quem fugias, ideoque fugis: mihi Delphica tellus (515)
et Claros et Tenedos Patareaque regia servit;
Iuppiter est genitor; per me, quod eritque fuitque
estque, patet; per me concordant carmina nervis.
certa quidem nostra est, nostra tamen una sagitta
certior, in vacuo quae vulnera pectore fecit! (520)
inventum medicina meum est, opiferque per orbem
dicor, et herbarum subiecta potentia nobis.
ei mihi, quod nullis amor est sanabilis herbis
nec prosunt domino, quae prosunt omnibus, artes!'
Plura locuturum timido Peneia cursu (525)
fugit cumque ipso verba inperfecta reliquit,
tum quoque visa decens; nudabant corpora venti,
obviaque adversas vibrabant flamina vestes,
et levis inpulsos retro dabat aura capillos,
auctaque forma fuga est. sed enim non sustinet ultra (530)
perdere blanditias iuvenis deus, utque monebat
ipse Amor, admisso sequitur vestigia passu.
ut canis in vacuo leporem cum Gallicus arvo
vidit, et hic praedam pedibus petit, ille salutem;
alter inhaesuro similis iam iamque tenere (535)
sperat et extento stringit vestigia rostro,
alter in ambiguo est, an sit conprensus, et ipsis
morsibus eripitur tangentiaque ora relinquit:
sic deus et virgo est hic spe celer, illa timore.
qui tamen insequitur pennis adiutus Amoris, (540)
ocior est requiemque negat tergoque fugacis
inminet et crinem sparsum cervicibus adflat.
viribus absumptis expalluit illa citaeque
victa labore fugae spectans Peneidas undas
'fer, pater,' inquit 'opem! si flumina numen habetis, (545)
qua nimium placui, mutando perde figuram!'
Rinder- und Schafherden. Du hast keine Ahnung, Törin, keine Ahnung, vor
wem Du Reißaus nimmst, und deshalb fliehst Du. Mir dient das delphische
Land (515), Claros, Tenedos und die Königsburg von Patara. Jupiter ist mein
Vater. Durch mich wird offenbar, was sein wird, was gewesen ist und was
ist. Durch mich stimmen Gesang und Saitenklang zusammen. Mein Pfeil ist
treffsicher, aber noch mehr als meiner ein einziger, der in meiner
sorgenfreien Brust eine Wunde schlug (520)! Die Heilkunst ist meine
Erfindung, ich werde Helfer überall in der Welt genannt, und die Macht der
Kräuter steht mir zu Gebote. Weh mir, dass die Liebe durch keine Kräuter
heilbar ist und dass die Künste, die allen nützen, ihrem Herrn nicht nützen!“
Die Tochter des Peneus floh vor dem, der noch mehr sagen wollte, in
ängstlichem Lauf (525), und mit ihm ließ sie seine unvollendete Rede zurück.
Auch in diesem Augenblick schien sie schön; den Körper entblößten die
Windstöße, der entgegen wehende Luftzug ließ die Kleider flattern, und die
leichte Luft erfasste das Haar und wehte es nach hinten. Die Schönheit der
Gestalt wurde durch die Flucht vermehrt. Aber der jugendliche Gott vermag
es nicht mehr (530), Schmeicheleien zu verschwenden, und wie Amor selbst
mahnte, folgt er ihren Spuren mit beschleunigtem Schritt. Wie ein gallischer
Jagdhund auf offenem Feld einen Hasen erblickt, und dieser die Beute, jener
Rettung mit seinen Beinen erstrebt. Der eine gleicht einem, der gleich
zupacken wird, und hofft schon augenblicklich zu halten (535) und streift mit
ausgestreckter Schnauze die Läufe, der andere ist im Zweifel, ob er schon
gefasst ist, und reißt sich von den packenden Zähnen los und lässt das Maul,
das ihn schon berührt, hinter sich. So ist der Gott und das Mädchen, dieser
aus Hoffnung schnell, jene aus Angst. Er jedoch, der sie verfolgt, beflügelt
von den Schwingen des Liebesgottes (540), ist schneller, gönnt ihr keine
Erholung und droht dicht im Rücken der Fliehenden und lässt sie seinen
Atem auf ihrem über den Nacken gebreiteten Haar spüren.
Jene verließen ihre Kräfte und sie erbleichte, und erschöpft von der Mühe der
schnellen Flucht, blickt sie auf die Fluten des Peneus und spricht:
„Hilf, Vater! Wenn ihr Flüsse göttliche Macht besitzt (545), die schöne
Gestalt, mit der ich allzu sehr gefallen habe, zerstöre durch Verwandlung!“
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vix prece finita torpor gravis occupat artus,
mollia cinguntur tenui praecordia libro,
in frondem crines, in ramos bracchia crescunt, (550)
pes modo tam velox pigris radicibus haeret,
ora cacumen habet: remanet nitor unus in illa.
Hanc quoque Phoebus amat positaque in stipite dextra
sentit adhuc trepidare novo sub cortice pectus
conplexusque suis ramos ut membra lacertis (555)
oscula dat ligno; refugit tamen oscula lignum.
cui deus 'at, quoniam coniunx mea non potes esse,
arbor eris certe' dixit 'mea! semper habebunt
te coma, te citharae, te nostrae, laure, pharetrae;
tu ducibus Latiis aderis, cum laeta Triumphum (560)
vox canet et visent longas Capitolia pompas;
postibus Augustis eadem fidissima custos
ante fores stabis mediamque tuebere quercum,
utque meum intonsis caput est iuvenale capillis,
tu quoque perpetuos semper gere frondis honores!' (565)
finierat Paean: factis modo laurea ramis
adnuit utque caput visa est agitasse cacumen.
Kaum hatte sie ihre Bitte vollendet, befällt eine schwere Starre ihre Glieder,
und von zartem Bast wird ihre Brust umfasst,
zu Laub wächst das Haar, zu Zweigen die Arme (550),
der eben noch so schnelle Fuß haftet an trägen Wurzeln,
das Gesicht bedeckt ein Baumwipfel: einzig der Glanz bleibt in ihr.
Auch diese liebt Phoebus, und er legt seine Rechte an den Stamm und spürt
noch das Herz unruhig schlagen unter der eben entstandenen Rinde, er
umarmt mit seinen Armen die Zweige, als wenn es Glieder wären (555), und
küsst das Holz. Das Holz weicht dennoch vor den Küssen zurück.
Zu ihr spricht der Gott: „Aber da Du meine Frau nicht sein kannst,
wirst Du gewiss mein Baum sein! Immer werden Dich, Du Lorbeerbaum,
mein Haar, meine Leier und mein Köcher tragen,
Du wirst den latinischen Feldherrn nahe sein, wenn froh die Stimme
„Triumph“ singt (560) und das Kapitol lange Triumphzüge sieht:
An den Türpfosten des Augustus wirst Du zugleich als treue Wächterin vor
dem Eingang stehen und den Eichenkranz in der Mitte beschützen. Und wie
mein Haupt mit seinen langen Haaren immer jugendlich bleibt, trage auch
Du ewig Dein ehrenhaftes Laub.“ (565)
Der Heilgott Apollo hatte geendigt: mit den neu entstandenen Zweigen
nickte der Lorbeer und schien den Wipfel wie einen Kopf zu bewegen.
(Übersetzung: Uwe Neumann)
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Vergleich mit Hyginus, Fabulae
Worin die besondere Leistung Ovids und die spezifischen Merkmale seiner „Metamorphosen“ bestehen,
wird sehr schnell deutlich, wenn man ihn mit einem Autor vergleicht, der denselben Stoff gestaltet hat.
Auch Hygin hat in seinen „Fabulae“ den Apollo-Daphne-Mythos aufgenommen:
Apollo Daphnen Penei fluminis filiam virginem cum persequeretur, illa a Terra praesidium petit, quae eam recepit
in se et in arborem laurum commutavit. Apollo inde ramum fregit et in caput imposuit.
Hygin beschränkt sich jedoch auf eine karge Inhaltsangabe. Dagegen macht Ovid den altbekannten Stoff
interessant, indem er psychologisiert, die problematischen Seiten der Figuren entwickelt, dramatisiert,
Figurenrede und Erzählerbericht sprachlich und rhetorisch ausarbeitet. Der Konflikt zwischen den
beiden Figuren tritt bei Ovid stärker hervor, er erhält eine politische Ebene durch den Verweis auf
Augustus. Ferner gibt es Anspielungen auf literarische Vorlagen, und es ist zu erkennen, dass Ovid es
auch gereizt hat, sich mit literarischen Traditionen auseinander zu setzen. Während Hygin keine tieferen
Ebenen aufweist und sein Text zu keiner eingehenden Betrachtung Anlass gibt, lässt sich der Text Ovids
unter mehreren Aspekten betrachten.
1. Dimension: Psychologische Darstellung eines siegreichen Gottes - Die Rivalität der Bogenschützen
Cupido und Apollo
Apollo hat als junger Gott soeben einen wichtigen Sieg errungen. Er hat den Python getötet, nachdem er
sich vorher, gewissermaßen zu Trainingszwecken, nur an Jagdwild versucht hatte (441-444). Damit dieser
Ruhm von Dauer ist, stiftet er die Pythischen Spiele (446f.), deren Sieger noch nicht mit Lorbeer bekränzt
wurden, sondern mit Eichenlaub (449f.).
Apollo befindet sich im Vollgefühl seines Sieges gegen den Python (454 victa serpente superbus), aber
sein Selbstbewusstsein ist nicht ungebrochen, da er keinesfalls mühelos seinen ersten Sieg errungen hat
(stravimus innumeris sagitttis, 460; bei der Tötung des Python heißt es, Apollo habe ihn besiegt mille
gravem telis, exhausta paene pharetra, 443). Der eben errungene Erfolg genügt Apollo noch nicht, sein
Ego verlangt nach weiterer Bestätigung. Er braucht den Triumph über einen zweiten Bogenschützen,
über Amor. Deshalb bricht er einen Streit vom Zaun, in dem er Amor beleidigt und ihm das Recht
abspricht, sich dieser Waffe zu widmen. Er streicht dabei seine Qualität als Schütze heraus (dare certa …
vulnera possumus hosti, 458) - und merkt nicht, dass die hohe Zahl der Pfeilschüsse mit diesem Selbstlob,
vor allem dem Attribut „certa“ unvereinbar ist. Apollos Anrede an Cupido (456-462) ist voller
Herabsetzungen, die zeigen, dass Apollo seinen Ruhm noch durch die Verkleinerung eines
konkurrierenden Bogenschützen steigern möchte. Obwohl Apollo einen Erfolg errungen hat, findet er
keine Souveränität. Und obwohl er sich wie ein Erwachsener verhalten könnte („Der Kügere gibt nach“),
zeigt er noch ausgeprägtere Züge eines „puer“ als Amor selbst:
'quid' que 'tibi, lascive puer, cum fortibus armis?'
dixerat: 'ista decent umeros gestamina nostros,
qui dare certa ferae, dare vulnera possumus hosti,
qui modo pestifero tot iugera ventre prementem
stravimus innumeris tumidum Pythona sagittis.
tu face nescio quos esto contentus amores
Gegensatz lascive puer - fortibus armis; auch Apollo verhält sich
nicht erwachsen, sondern als „puer“; “nostros” betont am Versende
Selbstlob, betont durch Wiederholungsfigur
Beweis durch den Sieg über Python, dessen Größe (tot iugera) und
Gefährlichkeit (pestifero, tumidum) betont werden
Herabsetzung durch “nescio quos”, Gegensätze sagittis - face; fera /
hostis - amores; stravimus - inritare
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inritare tua, nec laudes adsere nostras!'
Betonung des Possessivpronomens nostras (vgl. nostros, 457),
Gegensatz zu „tua“
(456-462)
In der folgenden Erzählung erweist sich jedoch Amor paradoxerweise als der bessere Bogenschütze,
denn er braucht nicht unzählige Pfeile, ihm reicht je einer, um Apollo verliebt und Daphne
unempfindlich gegen jede amouröse Annäherung zu machen.
Aufgaben (zu 456-465) :
1. Ordnen Sie die folgenden lateinischen Ausdrücke
a) dem Bereich Apollos
b) dem Bereich Amors zu!
dare certa vulnera - fortia arma - face - puer - laudes - inritare amores - sagittae
2. Wie stellt Apollo in seiner Rede sich selbst, und wie stellt er Cupido dar?
3. Über welche Stellen hat sich Cupido vermutlich geärgert? Mit welchen Worten beleidigt Apollo Amor?
4. Gibt es Gründe, weshalb Apollo Cupido herabsetzt?
5. Bewerten Sie Apollos Verhalten gegenüber dem jüngeren (puer) Cupido!
6. Welche der folgenden Aussagen über Apollo trifft zu? Begründen Sie jeweils Ihre Meinung!
a) Apollo hat ein großes Selbstbewusstsein.
b) Apollo ist erfolgreich.
c) Apollo ist leicht zu verunsichern.
d) Apollo schätzt sich richtig ein.
8. Vergleichen Sie die Gegenüberstellung Amor-Apoll mit der Situation aus Amores I,1 (s. Seite 23)!
2. Dimension: Eine einseitige Lebenswahl - Psychologie bei Daphne
Die Vorstellung der Daphne macht deutlich, dass es den liebesverhindernden Pfeil Amors im Grunde
nicht gebraucht hätte; Daphne hatte auch so schon eine Lebensweise gewählt, die denkbar weit von Liebe
entfernt ist. Ihr bevorzugter Raum ist der Wald, ihre Lieblingsbeschäftigung die Jagd, die traditionell als
Ersatz für die Liebe gilt. Sie legt keinen Wert auf Schönheitspflege (positos sine lege capillos) und hat
offenbar ein gebrochenes Verhältnis zu ihrer körperlichen Erscheinung. Ihre Identität, die Ganzheit ihrer
Person ist gefährdet, sie braucht das Vorbild der Diana (aemula Phoebes) und möchte weniger sie selbst
sein als Diana. Konsequent meidet sie jeden Kontakt zu Männern und ist ihrem Werben unzugänglich.
Ihrer Abwehr (aversata) ist dabei auch ein übertriebener Zug beigemischt: sie dämonisiert den von ihr
gefürchteten Bereich der Liebe (velut crimen taedas exosa iugales). Ihre Existenz ist völlig auf sich
bezogen. Sie hört nicht auf die Bitte des Vaters, der sie mahnt, dass sie ihm einen Schwiegersohn und
Enkel schulde. Die parallele Wortstellung in 481f. deutet an, dass der Vater diese Bitte immer wieder
vorgebracht hat - und immer wieder ohne Erfolg. Daphne beantwortet diese Bitte mit einer eigenen Bitte.
Sie umschlingt den Hals des Vaters mit „schmeichelnden Armen“ (das Hyperbaton drückt die
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Umarmung aus) und bittet um ewige Jungfrauenschaft. Diese habe Jupiter Diana ebenfalls gewährt.
Diese Bitte ist geschickt vorgetragen. Sie dreht den Spieß um: nicht sie schuldet dem Vater etwas,
sondern der Vater ihr. Dabei stellt sie sich auf eine Stufe mit Diana (die betont am Versende steht), der
Vater soll sich an der kaum hinterfragbaren Autorität des obersten Gottes Jupiter orientieren. Sie
appelliert also wirkungsvoll an den Vater, sich Jupiter als Beispiel zu nehmen und nicht hinter diesem
zurückzubleiben:
protinus alter amat, fugit altera nomen amantis
silvarum latebris captivarumque ferarum
exuviis gaudens innuptaeque aemula Phoebes:
vitta coercebat positos sine lege capillos.
multi illam petiere, illa aversata petentes
inpatiens expersque viri nemora avia lustrat
nec, quid Hymen, quid Amor, quid sint conubia curat.
saepe pater dixit: 'generum mihi, filia, debes,'
saepe pater dixit: 'debes mihi, nata, nepotes';
illa velut crimen taedas exosa iugales
pulchra verecundo suffuderat ora rubore
inque patris blandis haerens cervice lacertis
'da mihi perpetua, genitor carissime,' dixit
'virginitate frui! dedit hoc pater ante Dianae.'
Jagd als Ersatzleben, Ferne von sozialen Beziehungen
Orientierung an Diana - geliehene Identität
Keine Schönheitspflege, Verachtung des Äußeren
Polyptoton (illam - illa; petiere - petentes), Rahmung multi (Nom.) petentes (Akk.): das sie umringende Werben wird deutlich; aversata Vermeidung
Sie will nicht nur nicht, sie kann es auch nicht ertragen; avia - Ferne von
sozialen Beziehungen
Parallelismus: saepe … dixit - immer wiederholte Bitten; Chiasmus:
„debes“ betont am Ende bzw. am Anfang des Satzes
Hyperbel: velut crimen exosa
Hyperbaton in - cervice; blandis - lacertis: Umarmung wird verdeutlicht
Orientierung an Diana; Appell an den Vater, sich auch an dem “pater“
Jupiter zu orientieren
(474-487)
Die ganze Stelle zeigt eine einseitige, problematische und anfechtbare Lebenswahl Daphnes. Sie
klammert alles, was mit Liebe zu tun hat, aus ihrem Leben aus. Dieser Entscheidung haftet dabei etwas
Zwanghaftes und Verkrampftes an, denn sie meidet nicht nur die Ehe, sondern sie hasst sie, als ob sie ein
Verbrechen wäre, sie ist impatiens viri und aversata. Sie maßt sich an, wie Diana leben zu können, und
stellt sich außerhalb sozialer Bezüge. Ihr fehlt somit jede natürliche Einstellung zur Liebe, zur Ehe und
mittelbar auch zu ihrem Körper, der mit seiner Schönheit hierfür eine Bedeutung hat. Andererseits kann
man sagen, dass Daphne eine pubertäre Phase durchläuft, in der sie um ihre Identität ringt, diese aber
noch nicht gefunden hat. Dieses Defizit kompensiert sie durch das Idol Diana und durch eine
extravagante Lebensweise.
Aufgaben (zu 474-487):
1. Welches Leben strebt Daphne an, und welches Leben verabscheut sie? Sammeln Sie alle lateinischen
Textstellen, in denen die Lebensweise und der Charakter der Daphne hervortreten!
2. Wie wird der Charakter Daphnes im lateinischen Text bewertet? Was ist Ihre eigene Meinung? Was
denkt vermutlich der Vater über seine Tochter?
3. Werten Sie Vers 478 sprachlich und stilistisch genau aus! - Welche Schlussfolgerung für ihren
Charakter ergibt sich?
4. Werten Sie jeweils die Verse 481-482 sowie 485-487 sprachlich und stilistisch genau aus! - Welches Bild
über das Verhältnis von Vater und Tochter ergibt sich aus diesen Stellen?
5. Der Vater denkt über Daphne … - Entscheiden Sie, welchen Aussagen Sie zustimmen, und begründen
Sie jeweils Ihre Meinung:
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a) Meine Tochter übertreibt ihr Hobby.
b) Meine Tochter ist in einer Krise und braucht
Hilfe.
c) Ich erreiche meine Tochter nicht.
d) Vorbilder wie Diana sind gut für Daphne.
6. Vermutlich ist Daphne in etwa im Pubertätsalter. Werten Sie den folgenden psychologischen
Sachtext aus, und entscheiden Sie, welche der dort aufgeführten Merkmale auch auf Daphne zutreffen!
„Die Selbstfindung beschreibt somit einen in der Pubertät beginnenden Prozess, durch den ein Mensch versucht,
sich in seinen Eigenheiten und Zielen zu definieren, vor allem in Abgrenzung von der Gesellschaft und ihren
Einflüssen. Der Prozess der Selbstfindung wird jedoch erst durch die Fähigkeiten der Reflexion, des Nachdenkens
über sich selbst sowie durch das kritische Abstandnehmen von sich selbst, welche die Menschen erst im Jugendalter
entwickeln, möglich gemacht. […]
Das Äußere spielt in diesem Lebensalter eine große Rolle, da dieses einen Teil der Identität darstellt und die
individuelle Persönlichkeit repräsentieren soll. Viele Jugendliche haben in dieser Zeit aufgrund ihres äußeren
Erscheinungsbildes Angst nicht akzeptiert, verspottet oder vom anderen Geschlecht missachtet zu werden. Auf
Grund dessen werden oft Vorbilder oder Teenidole als Maßstab für die Persönlichkeitsentwicklung herangezogen,
um so sein eigenes Selbst zu finden. […]
Allmählich verändert sich jedoch die Suche nach dem eigenen Ich vom Äußeren zum Inneren. Nicht mehr das
optische Erscheinungsbild steht im Vordergrund, sondern Eigenschaften, Fähigkeiten und Einstellungen gewinnen
zunehmend an Bedeutung. Eine Kluft zwischen der subjektiven und optativen Identität entsteht und erzeugt
beachtliche Spannungen. Die Größe der Diskrepanz zwischen diesen Identitäten kann signifikante Fehlhaltungen
mit sich bringen.
Bei der Identifikation […] handelt es sich um […] die Hereinnahme von Verhaltens- und Denkweisen anderer
Personen, die vom Individuum als vorbildlich akzeptiert werden. Somit kann man unter Identifikation ein
Bestreben, einem anderen Menschen, den man als Vorbild ansieht, möglichst ähnlich und gleich zu sein,
ansehen.“(Quelle: Gabriele Krumphuber, Doris Penninger, Christa Schmolmüller: Wie wirkt sich der Einfluss von
Vorbildern und Teenidolen auf die Persönlichkeit Jugendlicher aus; http://psychologie.
stangl.eu/entwicklung/ideale.shtml, Abruf am 11.07.2013)
7. Vorbild oder Idol? - Daphne orientiert sich stark an der Göttin Diana. Klären Sie mit Hilfe des
folgenden Sachtextes, ob Diana ein Vorbild oder ein Idol ist, und begründen Sie Ihre Meinung!
„Wie hält man Vorbilder, Stars und Idole am einfachsten auseinander? Indem man sich ansieht, welche Ebenen bei
ihren Anhängern angesprochen werden. Wo das Vorbild an intellektuelle und moralische Vorstellungen appelliert,
der Star an Gefühle und Leidenschaften, da offenbart das Idol irrationale Energien […].“ (Quelle: Gabriele
Krumphuber, Doris Penninger, Christa Schmolmüller: Wie wirkt sich der Einfluss von Vorbildern und Teenidolen
auf die Persönlichkeit Jugendlicher aus; http://psychologie.stangl.eu/entwicklung/ideale.shtml, Abruf am
11.07.2013)
8. Angenommen, Amor hätte nur Apollo mit seinem Pfeil getroffen … - Wie würde die weitere
Erzählung dann ablaufen?
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3. Dimension: Ein Gott mit menschlichen Schwächen - Apollo als Liebender
Apoll verliebt sich in Daphne und mit dem Entstehen der Liebe werden seine göttlichen Eigenschaften
fraglich und fragil. Er empfindet und handelt wie ein Mensch. Damit entsteht etwas Unpassendes in
seinem Verhalten, letztlich Komik. Er wünscht, er hofft, er begehrt. Mit dieser Erzählung ist Liebe als
Thema in die „Metamorphosen“ eingeführt. Ovid stellt vor allem Liebeswünsche und
Liebesannäherungen außerhalb der Norm dar. Apollo hilft sein göttliches Wesen nicht. Im Gegenteil:
seine eigenen Orakel täuschen ihn (491). In dem Gleichnis wird die verzehrende Leidenschaft
verdeutlicht, die der Gott Apoll nicht bändigen kann. Apoll ist der Gott des Maßes, der Vernunft - und
hier wird er Opfer nicht zu beherrschender Affekte! Er berauscht sich an der Schönheit Daphnes, und
durch seine Wertung, dass die unfrisierten Haare noch durch eine entsprechende Haarpflege gewinnen
würden, erweist er sich als Kenner der Materie und auch als Leser der „Ars Amatoria“.
Phoebus amat visaeque cupit conubia Daphnes,
quodque cupit, sperat, suaque illum oracula fallunt,
utque leves stipulae demptis adolentur aristis,
ut facibus saepes ardent, quas forte viator
vel nimis admovit vel iam sub luce reliquit,
sic deus in flammas abiit, sic pectore toto
Hoffnung, Vergeblichkeit seiner Vorhersagefähigkeit
Gleichnis: demptis aristis - Fruchtlose Liebe (sterilis amor)
Brennender Zaun: die Schranke, Hemmung fällt weg
Unkontrollierbare, zerstörerische und ihn ganz erfassende
Leidenschaft
uritur - Apollo ist Objekt, passiv, kontrolliert nicht
uritur et sterilem sperando nutrit amorem.
spectat inornatos collo pendere capillos
et 'quid, si comantur?' ait. videt igne micantes
sideribus similes oculos, videt oscula, quae non
est vidisse satis; laudat digitosque manusque
bracchiaque et nudos media plus parte lacertos;
si qua latent, meliora putat.
(490-502)
Aufgaben (zu 490-502):
1. Wodurch entsteht die Leidenschaft Apolls? Was erscheint ihm an Daphne attraktiv?
2. Vergleichen Sie die Wahrnehmung Apollos von Daphnes Schönheit mit Ars Amatoria III 107-133 (s.
Seite 24)! Was fällt auf?
3. Der Text enthält zwei Vergleiche. Werten Sie diese Vergleiche genau aus, und arbeiten Sie heraus,
welche Aspekte der Leidenschaft Apollos dadurch betont werden!
4. Apollo hat als Gott bestimmte Eigenschaften. Informieren Sie sich über diese, und vergleichen Sie
hiermit den lateinischen Text!
5. Bewerten Sie folgende These von Richard Heinze: „In den Metamorphosen ist Ovid sichtlich bestrebt, die
Götter […] mit einer Majestät zu bekleiden, wie sie nach seinem Stilgefühl der Würde epischer Dichtung zukommt;
Vergil ist dafür sein Führer gewesen.“ (R. Heinze, Ovids elegische Erzählung. Leipzig 1919, 11)
6. Stellen Sie die Thesen der beiden folgenden Zitate aus der Sekundärliteratur gegenüber! Welche
Auffassung leuchtet Ihnen mehr ein? Begründen Sie Ihre Ansicht!
- 10 -
Zitat I
„Die schönen Interpretationen Doblhofers […], die immer das Wort ‚Ichspaltung‘ enthalten, haben durchweg nichts
mit Ichspaltung zu tun. Wenn dem zart liebenden und hoffenden Apollo seine Orakelgabe im Stich läßt (met. 1,491:
‚suaque illum oracula fallunt‘), so ist er nicht in Gott und Mensch gespalten, sondern eine Person, die in der Liebe
einheitlich und ganz bei sich ist.“ (E.A.Schmidt, Ovids poetische Menschenwelt. Heidelberg 1991, S. 54)
Zitat II
„Bei Ovid [wird] aus dem sieggewohnten und siegesgewissen, rasch handelnden Gott ein liebender, werbender und
hoffender (!) Mensch. […] Diese ‚Ich-Spaltung‘ […], und zwar hier in zwei Naturen, göttliche und menschliche, in
einer Brust, ist ein Thema, das in erstaunlicher Fülle und Variation bei Ovid immer wiederkehrt. […] Apollon liebt
und hofft: das heißt, darin ist er ein Mensch; die Gabe der Weissagung aber gehört seinem alter ego, ist ein
spezifisch göttliches Attribut. Darum verliert er sie in dem Augenblick, wo die Menschennatur in ihm regiert.“
(Ernst Doblhofer, Ovidius urbanus. Eine Studie zum Humor in Ovids Metamorphosen, Philologus 104, 1960, 63-91
u. 223-235, hier: S. 85)
4. Dimension: Die Werberede - das rhetorische Versagen Apollos
Apoll versucht mit Rhetorik, Daphne für sich zu gewinnen. Diese Rede kann keinen Erfolg haben, zum
einen aus dem Grund, dass die Grundkonstellation (verliebter Gott - liebesfeindliche Daphne) diesen
nicht zulässt; zum anderen weil die Rede in sich der Situation an keiner Stelle angemessen ist. Das
Redeziel, Daphne zur Einwilligung in die Liebe zu bewegen, versucht Apoll auf drei Ebenen zu
erreichen:
- er spricht von sich und streicht seine Bedeutung und seine Gefühle für Daphne heraus;
- er spricht Daphne an und versucht, geeignete Affekte in ihr zu erregen;
- er verweist auf Tatsachen, die nicht bestritten werden können.
Seine rhetorische Strategie ist jedoch verfehlt. Er nennt seine vier Machtbereiche: er ist Orakelgott, Gott
der Musik, ein guter Bogenschütze, und er ist der Gott der Heilkunst. In allen diesen Bereichen versagt
der Gott - und er entlarvt sich in seiner Rede sogar selbst: Er kann sich selbst nicht von der Liebe heilen;
Amor ist der bessere Bogenschütze; seine Hoffnungen werden nicht in Erfüllung gehen, deshalb ist auch
seine Orakelfähigkeit entwertet, und als Gott der Musik müsste er „singen“, also keine Hexameter
sprechen, sondern elegische Distichen. Der traditionelle Götterhymnus wird in der Apollo-Rede von
Ovid parodiert. Apollos Rede ist die eines Angebers, der seine Person, sein „Ich“, in den Vordergrund
rückt und seine Verdienste anpreist. Er wiederholt damit seine angeberische Selbstpreisung, die er
gegenüber Amor gezeigt hat und aus der sich seine unglücklich-unpassende Liebe zu Daphne ergeben
hat: dare certa vulnera possumus.
'nympha, precor, Penei, mane! non insequor hostis;
nympha, mane! sic agna lupum, sic cerva leonem,
sic aquilam penna fugiunt trepidante columbae,
hostes quaeque suos: amor est mihi causa sequendi!
me miserum! ne prona cadas indignave laedi
crura notent sentes et sim tibi causa doloris!
aspera, qua properas, loca sunt: moderatius, oro,
negative Begriffe aus dem Bereich „Kampf, Jagd“
Gleichnis mit negativen Assoziationen: Daphne als Beute
Erkennen der Ursache: möglich auch: Amor est …
Selbstmitleid, Sorge um Daphne
- 11 -
curre fugamque inhibe, moderatius insequar ipse.
Paradox und Entlarvung der Sorge: er will sie in jedem Fall
verfolgen
Daphne ist für ihn da; Selbstlob ex negativo: Verkennung
des Charakters der Daphne: mons, pastor wären ihre Welt
Vorwurf an Daphne
cui placeas, inquire tamen: non incola montis,
non ego sum pastor, non hic armenta gregesque
horridus observo. nescis, temeraria, nescis,
quem fugias, ideoque fugis: mihi Delphica tellus
et Claros et Tenedos Patareaque regia servit;
Iuppiter est genitor; per me, quod eritque fuitque
estque, patet; per me concordant carmina nervis.
certa quidem nostra est, nostra tamen una sagitta
certior, in vacuo quae vulnera pectore fecit!
inventum medicina meum est, opiferque per orbem
dicor, et herbarum subiecta potentia nobis.
ei mihi, quod nullis amor est sanabilis herbis
nec prosunt domino, quae prosunt omnibus, artes!'
Apollo hält eine “Prahlrede” im Ich-Stil - Parodie auf den
traditionellen Hymnenstil auf einen Gott im Du-Stil
Selbstmitleid
Selbstmitleid
(504-524)
Ein Beispiel für den Du-Stil, mit dem ein Gott angeredet wird, um ihn zu verehren oder ihn um etwas zu
bitten, findet sich in den „Metamorphosen“ bei der Anrufung des Bacchus IV 11ff. Bacchus habe viele
Namen, und er verfüge über unerschöpfliche Jugend:
tu puer aeternus, tu formosissimus alto
conspiceris caelo; tibi, cum sine cornibus adstas,
uirgineum caput est; Oriens tibi uictus, adusque
decolor extremo qua tinguitur India Gange.
Penthea tu, uenerande, bipenniferumque Lycurgum
sacrilegos mactas, Tyrrhenaque mittis in aequor
corpora, tu biiugum pictis insignia frenis
colla premis lyncum. bacchae satyrique sequuntur,
quique senex ferula titubantis ebrius artus
sustinet et pando non fortiter haeret asello.
quacumque ingrederis, clamor iuuenalis et una
femineae uoces inpulsaque tympana palmis
concauaque aera sonant longoque foramine buxus. (Met. IV, 18-30)
Apollos Verdienste widerlegen sich selbst, denn die Liebe macht ihn gerade ohnmächtig. Er zeigt keine
Empathie für Daphne, sie ist ihm nur im Hinblick auf sich selbst wichtig, nicht um ihrer selbst willen (cui
placeas). Er weiß nicht - und es interessiert ihn auch nicht -, was Daphne wichtig ist. Sonst würde er sich
nicht damit preisen, dass er mit Berg und Wald nichts zu tun hat - das sind ja die Bereiche der Daphne!
Überhaupt zeichnet seine Rede eine deutliche Egozentrik aus. Zudem deckt sich sein Verhalten nicht mit
den Worten: er behauptet, sie nicht als hostis zu verfolgen - doch das tut er, und später wird dieser
aggressive Zug noch deutlicher. Ebenso wenn er behauptet, sie solle langsamer fliehen, dann werde er sie
auch langsamer verfolgen. Die Wortwahl mit zahlreichen abschreckenden Begriffen aus den Sachfeldern
„Jagd“, „feindliches Verhalten“ ist ebenfalls wenig geeignet, Vertrauen bei Daphne zu erzeugen. Die
Vergleiche mit den Beutetieren, die jeweils von ihrem hostis verfolgt werden, sind alles andere als
taktvoll. Daphne muss sich verfolgt und bedroht vorkommen.
Aufgaben (zu 504-524):
1. Was sagt Apollo über sich selbst aus?
- 12 -
2. Die Rede des Apollo kann man in folgende vier Abschnitte unterteilen: 504-507; 508-511; 512-522; 523524. Begründen Sie diese Gliederung, indem Sie aus dem lateinischen Text Gliederungssignale benennen
und jedem Abschnitt eine Überschrift geben!
3. Die Rede Apollos enthält mehrere Negationen. Was wird jeweils verneint? Welche Wirkung haben
diese Stellen möglicherweise auf Daphne?
4. Vergleichen Sie die Rede Apollos an Cupido (457-460) mit 512-518, und bewerten Sie das rhetorische
Geschick Apollos!
5. Vergleichen Sie die Beschreibung der Lebensweise der Daphne (475-477) mit der Selbstbeschreibung
Apollos (513-514)! Bewerten Sie von dieser Stelle ausgehend die Angemessenheit und die
Erfolgsaussichten der Apollo-Rede!
6. Vergleichen Sie den Hymnus auf Bacchus (Metamorphosen IV 18-30) mit der Apollo-Rede! Was folgt
hieraus für die Darstellung des Apollo?
7. Sortieren Sie die Überzeugungsmittel Apollos nach dem rhetorischen Dreieck! Welche Stellen lassen
sich dabei nicht eindeutig auf Ich-Du-Es verteilen?
a) Ich - Apollo spricht von sich und will Daphne durch Vorzüge seiner Person überzeugen.
b) Du - Apollo spricht Daphne an und will geeignete Affekte in ihr erregen.
c) Es - Apollo führt objekt feststehende Tatsachen an, die für seine Absichten sprechen.
Ich (Ethos: Überzeugung wird über die Person des Redners hergestellt)
DU (Pathos: Überzeugung
Es (Logos: Überzeugung wird über Fakten wird
wird über Anrede und Affekte hergestellt)
und Sachargumente hergestellt)
8. Nehmen Sie an, ein Verlagslektor habe die beiden Verse aspera, qua properas, loca sunt: moderatius, oro, /
curre fugamque inhibe, moderatius insequar ipse nicht drucken wollen, weil sie die Logik verletzen. Ovid
habe aber diese Verse nicht streichen wollen. Wie könnte er sie verteidigt haben?
9. Ein Ovidforscher hat zu diesen beiden Versen geschrieben: Die Verse 510-511 (‚laufe langsamer, damit du
dich nicht verletzt; ich werde auch langsamer folgen‘) seien ein Paradox. „Der ovidische Witz beleuchtet die
Dialektik der Liebe: Zartheit, Zärtlichkeit und Verständnis einerseits und wieder auch Habenwollen, Besitz und
Macht zu sein.“ (E.A. Schmidt, Ovids poetische Menschenwelt. Heidelberg 1991, S. 54).
Leuchtet Ihnen diese Interpretation ein? - Begründen Sie Ihre Meinung!
10. Nennen Sie die Machtbereiche Apollos, die er selbst anführt! - Wie glaubwürdig können diese seine
Vorzüge belegen?
- 13 -
11. Wie hätte Apollo sprechen müssen, um möglicherweise mehr Erfolg bei Daphne zu haben?
5. Dimension: Männer- und Frauenrolle - Die Verfolgung Daphnes
Daphne lässt sich durch ihre Flucht auf die Opferrolle festlegen, Apollos Verhalten erscheint dabei immer
gewaltsamer. Dies wird vor allem mit dem Vergleich zu einer Hetzjagd verdeutlicht.
ut canis in vacuo leporem cum Gallicus arvo
vidit, et hic praedam pedibus petit, ille salutem;
alter inhaesuro similis iam iamque tenere
sperat et extento stringit vestigia rostro,
alter in ambiguo est, an sit conprensus, et ipsis
morsibus eripitur tangentiaque ora relinquit:
sic deus et virgo est hic spe celer, illa timore.
(533-539)
Paradoxerweise ist jedoch Apollo nicht nur ein Hetzender, sondern selbst ein Gehetzter. In der Trilogie
Apoll - Python (Kampf) - Apoll-Amor (Streit) - Apoll-Daphne (Verfolgung) ist ein klarer Abstieg hin zum
jeweils weniger Ehrenhaften und einem Gott Angemessenen festzustellen. - Als die Situation für Daphne
ausweglos wird, bittet sie um Hilfe und um Verwandlung (mutando perde figuram!).
Bemerkenswerterweise hat Daphne an keiner Stelle verbale oder andere Gegenwehr geleistet, obwohl sie
ja als Jägerin geübt im Umgang mit Waffen gewesen sein muss. Der Wunsch, durch Verwandlung dem
Zugriff Apollos endgültig entzogen zu sein, unterstreicht die Passivität Daphnes ein weiteres Mal: sie
wehrt sich nicht aktiv, sondern ruft jemanden anderen an, der nun seinerseits nicht den Angreifer
zurückdrängen soll, sondern ihm das entziehen soll, dem er nachjagt, ihre Schönheit. Apollo dagegen
handelt aktiv und aggressiv. Die Bitte an Daphne, langsamer zu rennen, damit sie sich nicht verletze,
wird spätestens durch diese Verfolgungsszene als unehrlich entlarvt.
Ob Ovids Text männliches Verhalten anklagt, ist eine schwer zu entscheidende Frage. Der Erzähler
wertet und kommentiert nicht. Doch immerhin wird man sagen können, dass die Erzählung deutlich
macht, wie aggressiv sich Apollo vehält und wie wehrlos dagegen Daphne ist.
Aufgaben (zu 533-539):
1. Werten Sie das Jagdgleichnis im Hinblick auf die Charakteristik der Figuren aus!
2. Vergleichen Sie den Anfang der Apollo-Rede (non insequor hostis; nympha, mane! sic agna lupum, sic cerva
leonem, sic aquilam penna fugiunt trepidante columbae, hostes quaeque suos: amor est mihi causa sequendi!) mit
dem Jagdgleichnis! Welche Folgerungen für den Charakter und das Verhalten Apollos ergeben sich aus
diesem Vergleich?
3. Gäbe es Handlungsalternativen für Daphne? Was würde ihr in einem Kurs „Selbstverteidigung für
Frauen“ heute beigebracht werden?
Vgl. den folgenden Text aus einer Internet-Anzeige für Selbstverteidigungskurse für Frauen:
„Gewalt gegen Mädchen und Frauen ist eine traurige und doch alltäglich zu beobachtende Tatsache, die
erfreulicherweise in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend in den Mittelpunkt allgemeiner Aufmerksamkeit
- 14 -
gerückt ist. Verschiedene Projekte und Forschungen, in denen nicht nur sexuelle Übergriffe, sondern Gewaltformen
jeglicher Art bis hin zum Stalking analysiert wurden, führten zu erschreckenden Erkenntnissen über das Ausmaß
an Gewalt und deren Folgen. Um der Gewaltspirale etwas entgegensetzen zu können, wird die Gewaltprävention
immer unverzichtbarer. Eine Möglichkeit der Prävention ist die Organisation von Selbstverteidigungs- und
Selbstbehauptungskursen. […] Frauen und Mädchen zu stärken, ihr Selbstbewusstsein und ihre Selbstachtung zu
fördern und sie bei einem glücklichen und selbstbestimmten Leben zu unterstützen, ist unser gemeinsames Ziel bei
der Organisation und Durchführung von Selbstverteidigungs- und Selbstbehauptungskursen. […] Frauen und
Mädchen sollen ständig gefordert werden, starkes Benehmen zu erlernen. Wir haben nichts zu verlieren außer
unseren Ketten!“ (Quelle: www.jede-kann-sich-wehren.de; Abruf am 11.07.2013)
4. In Goethes Tragödie „Faust I“ möchte Faust mit der Hilfe des Mephistopheles das junge Mädchen
Margarete für sich gewinnen. Vergleichen Sie die Einstellung, die Faust und Apollo jeweils zur Liebe und
gegenüber Daphne bzw. Margarete haben!
Faust:
Beim Himmel, dieses Kind ist schön!
So etwas hab ich nie gesehn.
Sie ist so sitt- und tugendreich,
Und etwas schnippisch doch zugleich.
Der Lippe Rot, der Wange Licht,
Die Tage der Welt vergeß ich's nicht!
Wie sie die Augen niederschlägt,
Hat tief sich in mein Herz geprägt;
Wie sie kurz angebunden war,
Das ist nun zum Entzücken gar!
Mephistopheles tritt auf.
Faust:
Hör, du mußt mir die Dirne schaffen!
Mephistopheles:
Nun, welche?
Faust:
Sie ging just vorbei.
Mephistopheles:
Da die? Sie kam von ihrem Pfaffen,
Der sprach sie aller Sünden frei
Ich schlich mich hart am Stuhl vorbei,
Es ist ein gar unschuldig Ding,
Das eben für nichts zur Beichte ging;
Über die hab ich keine Gewalt!
Faust:
Ist über vierzehn Jahr doch alt.
Mephistopheles:
Du sprichst ja wie Hans Liederlich,
Der begehrt jede liebe Blum für sich,
Und dünkelt ihm, es wär kein Ehr
Und Gunst, die nicht zu pflücken wär;
Geht aber doch nicht immer an.
- 15 -
Faust:
Mein Herr Magister Lobesan,
Laß Er mich mit dem Gesetz in Frieden!
Und das sag ich Ihm kurz und gut:
Wenn nicht das süße junge Blut
Heut Nacht in meinen Armen ruht,
So sind wir um Mitternacht geschieden. (Goethe, Faust I, V.2609ff.)
5. Informieren Sie sich anhand des folgenden psychologischen Sachtextes über die Eigenschaften, die eine
vernünftig und human handelnde Persönlichkeit kennzeichnen, und bewerten Sie Apollo vor diesem
Hintergrund!
"Eine Person strebt intelligent und selbstständig die Ziele an, die ihrer persönlichen Befriedigung dienen, aber den
Interessen der Gemeinschaft nicht zuwiderlaufen, sondern diese häufig fördern.
Eine Person übernimmt die Verantwortung für die eigenen Handlungen.
Eine Person handelt sozial reversibel gegenüber anderen. Sie handelt so, als ob sie selbst der andere wäre, der von ihren
Handlungen und Maßnahmen betroffen wird.
Eine Person arbeitet mit anderen Menschen kooperativ und effektiv in der Bewältigung von Problemen zusammen […].
Eine Person nimmt die wesentlichen Beeinträchtigungen des eigenen Lebens und des Lebens anderer wahr […]. Sie
schafft gerechtere, befriedigendere Bedingungen für andere und für sich selbst. […]
Eine Person verzichtet beim Anstreben der eigenen Ziele und der Ziele der eigenen Gruppe auf psychische und
physische Gewalt sowie auf Manipulation. […]
Eine Person kann ihre eigenen Erfahrungen, Gedanken und Kenntnisse in einer für andere einfach verständlichen Form
mitteilen.
Eine Person kann sich flexibel und intelligent auf neue Situationen und Probleme einstellen.
Eine Person plant das eigene Leben unter dem Gesichtspunkt der Vergänglichkeit durch den Tod."
(Reinhard Tausch, Anne-Marie Tausch, Erziehungspsychologie. Begegnung von Person zu Person.
Göttingen et al. 1979 (= 9. Aufl.), S. 19f.)
6. Dimension: Das Verwandlungsmotiv in den „Metamorphosen“ und die Verwandlung der Daphne
Die Verwandlung der Daphne in einen Lorbeerbaum unterstreicht ihr Wesen, das sie schon vorher
ausgezeichnet hat: sie lebt in der Natur, fern von sozialen Beziehungen, sie spricht nicht, ist für sich, hat
Standhaftigkeit, aber auch keine Flexibilität, sie ist von ihrem attraktiven Körper und der Sexualität
befreit. Ihre isolierte, auf sich beschränkte Lebensweise wird auf diese Weise endgültig. Zugleich hat
diese Verwandlung eine aitiologische Ebene: ab jetzt gibt es Lorbeerbäume und damit jenen Baum, der
mit Apoll in enger Verbindung steht.
vix prece finita torpor gravis occupat artus,
mollia cinguntur tenui praecordia libro,
in frondem crines, in ramos bracchia crescunt,
pes modo tam velox pigris radicibus haeret,
ora cacumen habet: remanet nitor unus in illa.
Hanc quoque Phoebus amat positaque in stipite dextra
sentit adhuc trepidare novo sub cortice pectus
Betonung der Starre Daphnes und der Unmöglichkeit der
Bewegung
Betonung der Unbeweglichkeit
Wahrnehmung von Daphnes Gefühlen: Spur von Empathie bei Apoll?
- 16 -
conplexusque suis ramos ut membra lacertis
oscula dat ligno; refugit tamen oscula lignum.
ligno - lignum: Polyptoton - Betonung der Verhärtung Daphnes
(547-556)
Es ist merkwürdig, dass Daphne so schnell nach der Verwandlung versöhnlich gestimmt ist: Apollo lässt
dem Lorbeerbaum offenbar eine Erhöhung und eine Perspektive zukommen, die den Wünschen der
Daphne entsprechen. Hatte sie sich ursprünglich von ihrem Vater gewünscht perpetua virginitate frui
(486f.), so fordert Apollo sie jetzt auf: perpetuos semper gere frondis honores (565). Hinzu kommt wohl
noch, dass Apollo in anderer Haltung zur verwandelten Daphne spricht. In Vers 554 (sentit adhuc
trepidare novo sub cortice pectus) wird deutlich, dass er zum ersten Mal Daphnes Gefühle, ihr Inneres,
wahrnimmt. Er „liebt“ den Baum (hanc quoque Phoebus amat, 553). Doch dieser „Liebe“ fehlt der
aggressive, besitzergreifende Zug, den das vorherige bis zur Vergewaltigungsabsicht gesteigerte
Begehren des Apollos hatte.
Betrachtet man die Typologie der Verwandlungen in den „Metamorphosen“, wird man konstatieren
müssen, dass diese durch unterschiedliche Merkmale charakterisiert sind, doch dass diese nicht alle
erfüllt sein müssen. Im einzelnen lassen sich folgende Merkmale nennen:
- Verwandlungen bringen das Wesen zum Vorschein oder betonen es. (Wichtige Ausnahme: Callisto
hatte vor ihrer Verwandlung keine Wesensmerkmale eines Bären.)
- Verwandlungen sind Metaphern oder Allegorien, die die Welt vermenschlichen. Menschliche und
psychische Besonderheiten sind durch die verwandelten Formen zu Metaphern geworden. Moralische
oder charakterliche Eigenschaften werden durch körperliche Besonderheiten ausgedrückt (der LorbeerBaum ist insofern eine Metapher für die starre, sich selbst genügende Lebensform der Daphne).
- Verwandlungen erklären, dass etwas Neues in die Welt gekommen ist (Aitiologie).
- Verwandlungen haben narrative Funktion und bringen eine Erzählung zu ihrem Abschluss: als Strafe,
Belohnung, Rettung, Erlösung, Rache.
Die Verwandlungen von Menschen sind immer dauerhaft. Es bleibt den Göttern vorbehalten, wieder in
ihre ursrüngliche Gestalt zurückzukehren (z.B. Minerva erscheint Arachne als alte Frau).
Schließlich lassen sich noch zwei Grundtypen unterscheiden. Die verwandelten Gestalten verfügen
entweder noch über ihr früheres Selbstgefühl und ihr Ichbewusstsein, oder aber der frühere Mensch wird
ausgelöscht, und die Metamorphose führt eine Art Tod des Menschen herbei.
Aufgaben (zu 547-556):
1. Entspricht die Verwandlung dem Wunsch Daphnes, oder läuft sie ihm zuwider? Welche Vorteile hat
sie durch die Verwandlung, welche Nachteile?
2. Welche Stellen betonen die Folgen einer Verwandlung in einen Baum? - Was sagen diese Stellen über
Daphne aus?
- 17 -
2. Ovid hat ca. 250 Verwandlungssagen in seine „Metamorphosen“ aufgenommen. Deshalb hat er
sicherlich ein Schema entwickelt, das er bei der Gestaltung dieses Motivs zugrunde gelegt hat. Füllen Sie
die folgende Tabelle aus!
Wer oder was
Wie läuft die
Welche
Was bleibt
Welche Folgen
Welche Folgen
löst die
Verwandlung
Funktion für
innerlich oder
hat die Ver-
hat die Ver-
Verwandlung
ab (Beginn,
die Erzählung
äußerlich nach
wandlung für
wandlung für
aus?
Ende)?
hat die Ver-
der Ver-
die verwandel-
andere, für die
wandlung?
wandlung er-
te Person?
Welt (Aitio-
(Lohn, Strafe,
halten?
logie)?
etc.)
7. Dimension: Metrik und Erzählweise
a) Aufgabe zur Metrik:
Fertigen Sie eine metrische Analyse der Verse 525 - 526 an! Inwiefern passen Form und Inhalt
(Verfolgung) hier zusammen?
b) Aufgabe zum Paradox:
Das „Sachwörterbuch der Literatur“ von Gero von Wilpert definiert das „Paradoxon“ als „scheinbar
widersinnige und zunächst nicht einleuchtende, da der allgemeinen Meinung und Kenntnis
widersprechende Behauptung, z.B. Vereinigung gegensätzlicher Begriffe und Aussagen in ein Objekt“.
Ovid hat in seinen „Metamorphosen“ ausgiebigen Gebrauch von paradoxen Zuspitzungen gemacht.
Sammeln Sie solche aus der Apollo-Daphne-Erzählung, und überlegen Sie, welche Einstellung zur Welt
in dieser Darstellungsart möglicherweise deutlich wird?
c) Aufgaben zum Hervortreten des Erzählers:
1. In den Versen 488-489 kommentiert der Erzähler das Geschehen: sed te decor iste, quod optas / esse vetat,
votoque tuo tua forma repugnat. Informieren Sie sich, wie diese Stilfigur heißt, und beschreiben Sie die
Wirkung, die sie für diese Metamorphose hat!
- 18 -
2. Ein direktes Hervortreten des Erzählers lässt sich sonst nicht feststellen. Man könnte jedoch sagen, dass
das Jagdgleichnis 533-539 ein indirekter Kommentar zum Geschehen ist. Entwickeln Sie aus diesem
Gleichnis einen direkten Kommentar des Erzählers!
d) Aufgaben zur Kategorie „Angemessenheit“
In der Rhetorik gibt es die Kategorie der „Angemessenheit“ (lat. aptum). Nach dieser Kategorie sind bei
Reden, aber auch bei literarischen Werken „ein angemessener Stil, Aufbau und Länge, der angemessene
Zeitpunkt und die Art des Publikums, an das sich der Redner richtet, zu beachten. […] Stil und Sprache sollen dem
Gegenstand […], der Situation, der Gattung und dem Alter sowie dem Charakter der handelnden Personen
angemessen sein.“ (wikipedia-Artikel „decorum“, Abruf am 17. Juli 2013)
1. Prüfen Sie, ob Ovid diese Vorschriften zur Angemessenheit bei seiner Darstellung des Gottes Apollon
beachtet hat. Sie können hierzu die Darstellung desselben Gottes am Anfang der „Ilias“ (s. Seite 23)
vergleichen.
2. Bewerten Sie die Angemessenheit bei den Bezügen auf die römische Geschichte und auf Augustus, die
am Schluss der Apollo-Daphne-Erzählung hergestellt werden!
3. Welche Schlussfolgerung ziehen Sie aus Ihren Beobachtungen?
8. Dimension: Die politische Ebene - Augustus und der Lorbeerbaum
Am Schluss der Apollo-Daphne-Erzählung wird ein Bezug zur römischen Welt, zur Zeit Ovids und zu
Augustus hergestellt. Der Lorbeer werde, so spricht Apollo, nicht nur ihn selbst auszeichnen, sondern
auch die römischen Feldherrn im Triumphzug, und auch an den Türpfosten des Augustus werde der
Lorbeer stehen. Die bislang rein mythologische Erzählung erhält nun einen politischen Bezug, und es ist
die Frage, wie dieser aufzufassen ist. Es sind folgende Möglichkeiten denkbar:
- Augustus sollte durch diese Stelle geehrt werden.
- Augustus sollte durch diese Stelle verspottet und in ein unvorteilhaftes Licht gerückt werden oder
schärfer: Augustus wird kritisiert als ein Herrscher, der ähnlich wie Apollo agiert.
- Ovid treibt mit der Figur des Augustus ein ambivalentes Spiel, das sich eindeutiger Bewertung entzieht.
Es gibt für alle drei Deutungsrichtungen Gründe - und auch das ist schon ein interessantes Ergebnis:
Ovid hat es offenbar nicht intendiert, Augustus so zu präsentieren, dass der Gedanke an Kritik und Spott
unmöglich ist - bzw. dass Spott und Kritik zweifelsfrei hervortreten. Ovids Text zeigt also eine
Ambivalenz, die keine Eindeutigkeit erkennen lässt - wohl aber, dass es Ovid gereizt hat, mit beiden
Lesarten zu spielen. Ihm ist es nicht wichtig, Augustus zu verherrlichen oder ihn zu kritisieren. Vielmehr
wollte er mit ihm ein Spiel treiben, das er auch mit literarischen Traditionen getrieben hat. Und ebenso
wenig wie man sagen kann, dass er Homer oder Vergil kritisiert hat, wird man sagen können, dass ihm
eine Kritik an der Politik des Kaisers wichtig war.
- 19 -
Die Bezüge zu Augustus sind im übrigen deutlich im Text hervorgehoben. Es finden sich nahezu
wörtliche Übereinstimmungen zwischen dem Tatenbericht des Augustus und der Ovid-Stelle. Augustus
schreibt im Monumentum Ancyranum 34:
In consulatu sexto et septimo, postquam bella civilia exstinxeram, per consensum universorum potitus rerum
omnium, rem publicam ex mea potestate in senatus populique Romani arbitrium transtuli. Quo pro merito meo
senatus consulto Augustus appellatus sum et laureis postes aedium mearum vestiti publice coronaque civica
super ianuam meam fixa est et clupeus aureus in curia Iulia positus, quem mihi senatum populumque Romanum
dare virtutis clementiaeque et iustitiae et pietatis caussa testatum est per eius clupei inscriptionem. Post id tempus
auctoritate omnibus praestiti, potestatis autem nihilo amplius habui quam ceteri qui mihi quoque in magistratu
conlegae fuerunt.
In meinem sechsten und siebten Konsulat habe ich, nachdem ich die Flammen der Bürgerkriege gelöscht hatte und
mit der einmütigen Zustimmung der gesamten Bevölkerung in den Besitz der staatlichen Allgewalt gelangt war,
das Gemeinwesen aus meiner Machtbefugnis wieder der Ermessensfreiheit des Senats und des römischen Volkes
überantwortet. Für dieses mein Verdienst wurde mir auf Beschluss des Senats der Name Augustus gegeben. Die
Türpfosten meines Hauses wurden auf staatlichen Beschluß mit Lorbeer geschmückt, und ein Bürgerkranz wurde
über meinem Tor angebracht. Ein goldener Schild wurde in der Curia Julia aufgestellt, den mir der Senat und das
römische Volk geweiht haben wegen meiner Tapferkeit und Milde, meiner Gerechtigkeit und Hingabe, wie es die
Aufschrift auf diesem Schild bezeugt. Seit dieser Zeit überragte ich alle übrigen an Autorität, an Amtsgewalt aber
besaß ich nicht mehr als die anderen, die auch ich im Amt zu Kollegen hatte. (Übersetzung: Marion Giebel)
cui deus 'at, quoniam coniunx mea non potes esse,
arbor eris certe' dixit 'mea! semper habebunt
te coma, te citharae, te nostrae, laure, pharetrae;
tu ducibus Latiis aderis, cum laeta Triumphum
vox canet et visent longas Capitolia pompas;
postibus Augustis eadem fidissima custos
ante fores stabis mediamque tuebere quercum,
utque meum intonsis caput est iuvenale capillis,
tu quoque perpetuos semper gere frondis honores!'
finierat Paean: factis modo laurea ramis
adnuit utque caput visa est agitasse cacumen.
(557-567)
Die Verbindung zwischen Augustus und Apollo wird auch sonst erwähnt. Bei Sueton, Augustus 70,1
heißt es, dass Augustus an einem Festessen in der Gestalt des Apollo teilgenommen habe:
Cena quoque eius secretior in fabulis fuit, quae vulgo dodekatheos vocabatur; in qua deorum dearumque habitu
discubuisse convivas et ipsum pro Apolline ornatum non Antoni modo epistulae singulorum nomina amarissime
enumerantis exprobrant, sed et sine auctore notissimi versus.
Bei Sueton, Augustus 94,4 findet sich auch das Gerücht, Augustus sei der Sohn des Apollo:
In Asclepiadis Mendetis Theologumenon libris lego, Atiam, cum ad sollemne Apollinis sacrum media nocte
venisset, posita in templo lectica, dum ceterae matronae dormirent, obdormisse; draconem repente irrepsisse ad eam
pauloque post egressum; illam expergefactam quasi a concubitu mariti purificasse se; et statim in corpore eius
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exstitisse maculam velut picti draconis nec potuisse umquam exigi, adeo ut mox publicis balineis perpetuo
abstinuerit; Augustum natum mense decimo et ob hoc Apollinis filium existimatum.
Augustus hat auch bei seinen Tempelbauten Apollo eine herausgehobene Stellung eingeräumt. Vor dem
28 v. Chr. eingeweihten Apollo-Tempel hat Augustus im Jahre 17 v. Chr. die Schlussfeierlichkeiten der
Säkularfeier abhalten lassen und hierdurch sein Regime legitimiert. Den Bezug zu Apollo stellt Horaz in
seinem „Carmen saeculare“ heraus:
augur et fulgente decorus arcu
Phoebus acceptusque novem Camenis,
qui salutari levat arte fessos
corporis artus,
si Palatinas videt aequus arces,
remque Romanam Latiumque felix
alterum in lustrum meliusque semper
prorogat aevum. (61-68)
Aufgaben (zu 557-567):
1. Bewerten Sie den Schluss dieser „Metamorphose“ - ein happy end?
2. Vergleichen Sie die zweite Rede Apollos mit der ersten, und versuchen Sie zu erklären, weshalb
Daphne sich nun schließlich Apollo zu fügen scheint!
3. Vergleichen Sie die Bitte der Daphne an ihren Vater da mihi perpetua […] virginitate frui (486f.) mit der
Aufforderung Apollos: perpetuos semper gere frondis honores (565)!
4. Vergleichen Sie die Funktion des Lorbeerbaumes für Augustus, die in der Ovid-Stelle und die von
Augustus selbst in seinem Tatenbericht genannt wird!
5. Wie könnte Augustus es aufnehmen, wenn er am Schluss dieser „Metamorphose“ erwähnt wird?
6. Nehmen Sie an, ein Literaturkritiker habe über die „Apollo-Daphne-Erzählung“ folgende Rezension
geschrieben:
„Unser literarischer Provokateur Ovid hat wieder zugeschlagen: er arbeitet gerade an einer Sammlung von
Verwandlungssagen, und eine dieser Sagen, in der Apollo die Nymphe Daphne verfolgt, ist vorab bekannt
geworden. Diese Erzählung ist ein Skandal. Wir alle wissen, wie eng die Beziehung zwischen Augustus und dem
Gott Apollo ist. Ihm hat unser Kaiser einen seiner wichtigsten Tempel gewidmet, Apollo ist geradezu sein
Schutzgott, und manche sagen sogar, Apollo sei sein Vater. Und eben diesen Apollo hat Ovid in beispielloser
Manier lächerlich gemacht. Wir sehen einen Gott, der sich verliebt und der wie ein plumper Jüngling der Daphne
hinterherrennt. Als ob es für einen Gott nicht elegantere Wege gäbe, eine Frau für sich zu gewinnen … Und wie
dieser Apollo hilflos eine Werberede an die Daphne hält: wie ein Prahlhans, ein Aufschneider spricht dieser Apollo.
Kein Wunder, dass Daphne die Flucht ergreift! - Nicht genug damit, Apollo will sogar rohe Gewalt anwenden. Der
Gott der Heilkunst und der Musik - ein Gewalttäter! Das alles ist in höchstem Maße ärgerlich. Aber der Gipfel der
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Unverschämtheit ist es, dass Ovid die Stirn hat, eine direkte Verbindung zwischen dieser Geschichte und Augustus
herzustellen. Damit zieht er nicht nur Apollo in den Schmutz, sondern auch unseren Kaiser.“
Was könnte Ovid gegen diese Vorwürfe einwenden?
7. Welche Stellen belegen die These, Ovid übe Kritik an Augustus, und welche Stellen sprechen für das
Gegenteil?
8. Welcher der beiden Auffassungen aus der Sekundärliteratur können Sie eher zustimmen? Begründen
Sie Ihre Meinung!
Auffassung A
„Spott und Panegyrik stoßen in der Daphne-Erzählung so eng aneinander, dass es ausgeschlossen erscheint, die
Haltung des Erzählers oder gar die des realen Autors Ovid gegenüber Augustus eindeutig zu bestimmen.“ (Niklas
Holzberg, Apollos erste Liebe und die Folgen, Gymnasium 106, 1999, 317-334)
Anmerkung: Panegyrik - Herrscherlob
Auffassung B
„Manches, was Ovid z.B. in den Metamorphosen über die Götter schrieb, konnte ohne Zweifel leicht als ein Hieb
auf die augusteischen Ideale aufgefasst werden. Im großen und ganzen handeln die Götter dort so, dass es nahe liegt,
sie zu verachten oder gar zu hassen. Sie schaden oft den Menschen und helfen ihnen beinahe nie. Vor allem sind sie
hemmungslose Frauenjäger. Sie strafen die Menschen mit rücksichtsloser Härte, oft für unbedeutende
Vergehungen.“ (Sven Lundström, Ovids Metamorphosen und die Politik des Kaisers, Uppsala 1980, S. 20)
9. Augustus hat in seiner Regierungszeit auch Ehegesetze erlassen. Die lex Iulia de adulteriis (das Iulische
Gesetz zur Bestrafung von Ehebruch stellte Ehebruch (adulterium) und Unzucht (stuprum) unter Strafe.
Mit Unzucht ist die Verführung von unverheirateten Frauen bzw. von Witwen gemeint. Ein zweites
Gesetz, die lex Iulia de maritandis ordinibus (Iulisches Gesetz über die Ehen zwischen den
Bürgerständen), forderte von Männern, zwischen dem 25. und 60. Lebensjahr eine Ehe einzugehen.
Frauen unterlagen zwischen dem 20. und 50. Lebensjahr dieser Vorschrift. Verstöße gegen dieses
Ehegebot zogen Bußgelder nach sich.
Wie verhalten sich Daphne und Apollo hinsichtlich dieser Ehegesetze?
9. Dimension: Ovids Humor und sein literarisches Spiel - ein Autor ohne tiefere Bedeutung?
Die ovidischen Figuren sind auch für sich genommen verständlich, aber richtig würdigen kann man sie
erst, wenn man ihre literarischen Vorgänger kennt. Ovid setzt letztlich die Kenntnis der literarischen
Traditionen voraus, mit denen er sein Spiel treibt. So wird die pointierte Darstellungsweise der ApolloDaphne-Erzählung erst sichtbar, wenn man prägnante Apollo-Darstellungen aus der Literatur, etwa die
aus dem Anfang der „Ilias“ hinzuzieht. Ein Apollo-Priester hat Agamemnon um die Rückgabe seiner
Tochter gebeten, die dieser geraubt hatte. Doch Agamemnon weist dies zurück. Der Priester wendet sich
daraufhin an Apollo:
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Homer, Ilias I 34-52
Und wie er einsam jetzt hinwandelte, flehte der Alte
Viel zum Herrscher Apollon, dem Sohn der lockigen Leto:
„Höre mich, Gott, der du Chrysa mit silbernem Bogen umwandelst,
Samt der heiligen Killa, und Tenedos mächtig beherrschest,
Smintheus! hab ich dir je den prangenden Tempel gekränzet,
Oder hab' ich dir je von erlesenen Farren und Ziegen
Fette Schenkel verbrannt; so gewähre mir dieses Verlangen:
Meine Tränen vergilt mit deinem Geschoß den Achaiern!“
Also rief er betend; ihn hörete Phöbos Apollon.
Schnell von den Höhn des Olympos enteilet' er, zürnenden Herzens,
Auf der Schulter den Bogen und ringsverschlossenen Köcher.
Laut erschallen die Pfeile zugleich an des Zürnenden Schulter,
Als er einher sich bewegt'; er wandelte, düster wie Nachtgraun;
Setzte sich drauf von den Schiffen entfernt, und schnellte den Pfeil ab;
Und ein schrecklicher Klang entscholl dem silbernen Bogen.
Nur Maultier' erlegt' er zuerst und hurtige Hunde:
Doch nun gegen sie selbst das herbe Geschoß hinwendend,
Traf er; und rastlos brannten die Totenfeuer in Menge. (Übersetzung: Johann Heinrich Voss)
Dieser Apollo ist über jede Komik erhaben. In seiner schrecklichen Rache für seinen Priester steht er am
Beginn der unheilvollen Geschichte der „Ilias“, die den Zorn des Achills und seine schrecklichen
Auswirkungen zum Thema hat. Nichts stellt die Würde dieses Gottes in Frage. Bei Ovid steht Apollo am
Beginn (primus amor) von einer ganzen Reihe von Götterlieben, und seine Würde ist in ein ironisch
gebrochenes Licht getaucht.
Schließlich zitiert Ovid auch seine eigene Werke, und so ist in der Auseinandersetzung zwischen Cupido
und Apollo der Disput zwischen Amor und dem Dichter Ovid gespiegelt, der sich in Amores I,1 findet.
Ovid, Amores, I,1,1-26
Arma gravi numero violentaque bella parabam
edere, materia conveniente modis.
par erat inferior versus - risisse Cupido
dicitur atque unum surripuisse pedem.
'Quis tibi, saeve puer, dedit hoc in carmina iuris?
Pieridum vates, non tua turba sumus.
[…]
nec mihi materia est numeris levioribus apta,
aut puer aut longas compta puella comas.'
Questus eram, pharetra cum protinus ille soluta
legit in exitium spicula facta meum,
lunavitque genu sinuosum fortiter arcum,
'quod' que 'canas, vates, accipe' dixit 'opus!'
Me miserum! certas habuit puer ille sagittas.
uror, et in vacuo pectore regnat Amor.
Ich hatte vor, von Waffen und gewaltsamen Kriegen im
Hexameter zu erzählen, mit dem zum Thema passenden
Versmaß. Der zweite Vers war gleichlang. Cupido hat so heißt es - darüber gelacht und einen Versfuß
gestohlen. „Wer gab dir, schrecklicher Junge, dieses
Recht gegen mein Gedicht? Ich bin ein Musendichter,
nicht Dein Gefolge. […]
Auch habe ich gar keinen Stoff , der zum leichteren
Versmaß passt, einen Jungen oder ein Mädchen mit
langem gekämmten Haar.“ So lautete meine Klage, als
jener seinen Köcher öffnete und die für mein Verderben
gemachten Pfeile auswählte. Und er spannte den Bogen
kräftig auf dem Knie und sagte: „Das Werk, Dichter,
das Du besingen kannst, empfange hiermit!“ Ich
Armer! Jener Junge hatte sicher treffende Pfeile. Ich
erglühe in Liebe, und Amor herrscht in meinem leeren
Herz.
(Übersetzung: Uwe Neumann)
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Ovid wird also von Amor daran gehindert, sich mit einem ernsthaften dichterischen Stoff zu beschäftigen
und sich der Gattung des Heldenepos zu widmen. Ebenso wird Apollo von Amor in eine Situation
gebracht, die dem Ernst seiner Person abträglich ist und ihn zur Liebe zwingt.
Schließlich zeigt Apollo in seiner Vorliebe für kunstvoll frisiertes Haar die gleiche Wertung, wie sie in der
„Ars amatoria“ zum Ausdruck kommt. Es scheint beinahe, als habe er diesen Text gelesen:
Ovid, Ars amatoria, III 107-133
Corpora si veteres non sic coluere puellae,
Nec veteres cultos sic habuere viros;
[…]
Simplicitas rudis ante fuit: nunc aurea Roma est,
Et domiti magnas possidet orbis opes.
Aspice, quae nunc sunt Capitolia, quaeque fuerunt:
Alterius dices illa fuisse Iouis.
[…]
Prisca iuvent alios: ego me nunc denique natum
Gratulor: haec aetas moribus apta meis.
[…]
Vos quoque nec caris aures onerate lapillis,
Quos legit in viridi decolor Indus aqua,
[…]
Munditiis capimur: non sint sine lege capilli.
Wenn die Mädchen der Vorzeit ihren Körper noch nicht
so pflegten, so hatten sie ja auch keine gepflegten
Männer. […]
Früher herrschte rohe Einfachheit: heute aber ist Rom
golden und verfügt über riesigen Reichtum der
besiegten Welt. Schau nur, was heute das Kapitol ist
und was es früher war. Du wirst sagen, dass es einem
anderen Jupiter gehört hat. […]
Das Alte soll andere erfreuen: ich bin froh, heute zu
leben. Diese Zeit passt zu meinem Charakter.
[…]
Ihr Frauen schmückt Eure Ohren nicht mit teuren
Steinen, die dunkle Inder im grünen Wasser sammeln.
[…]
Von zierlichem Äußeren werden wir beeindruckt: die
Haare sollen nicht ungeordnet sein.
(Übersetzung: Uwe Neumann)
Ovid hat, als er anfing zu dichten, in allen Gattungen eine reiche Tradition vorgefunden. Um nicht ein
reiner Epigone zu werden, hat er begonnen, mit der Tradition spielerisch umzugehen. Ovid übernimmt
die tradierten Gattungen und ihre Themen, doch ist sein Verhältnis zu ihnen distanziert, ironisierend und
oft auch parodistisch. Nach der antiken Dichtungstheorie war es jedenfalls unausweichlich, dass Ovid
nach einer Möglichkeit gesucht hat, um sich von den Vorgängern abzusetzen. In seinem Literaturexkurs
führt der Historiker Velleius Paterculus aus:
Alitur aemulatione ingenium, et nunc invidia, nunc admiratio imitationem accendit, naturaque quod summo
studio petitum est, ascendit in summum difficilisque in perfecto mora est, naturaliterque quod procedere non potest,
recedit. Et ut primo ad consequendos quos priores ducimus accendimur, ita ubi aut praeteriri aut aequari eos posse
desperavimus, studium cum spe senescit, et quod adsequi non potest, sequi desinit et velut occupatam relinquens
materiam quaerit novam, praeteritoque eo, in quo eminere non possumus, aliquid, in quo nitamur, conquirimus.
(I,17,6f.)
Das gilt auch für die „Metamorphosen“, für die Gattung des Epos also, in dem vor allem Vergil mit
seiner „Aeneis“ einen kaum mehr zu überbietenden Gipfel erreicht hat. Ovid hat deshalb das Heldenepos
nicht mehr fortgeführt, sondern einen eigenen Weg verfolgt. Sein Werk hat keinen stringenten
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Erzählfaden mehr, und es führt auch nicht auf einen historisch-politischen Horizont zu. Man hat Ovid
deshalb als un-augusteisch bezeichnet.
Gibt es bei Ovid also gar keine ernsthafte, ernst zu nehmende Seite? Setzt sich seine ganze Literatur aus
Parodie, Rhetorik und paradoxen Zuspitzungen zusammen? Ist es vor allem ein artifizielles Spiel?
Der Vergleich zu Vergil ist erhellend. Der letzte Satz des Aeneis-Proömiums lautet:
tantae molis erat Romanam condere gentem. (Aeneis, I 33)
Für Vergil gibt es ein sinnvolles Ziel der Geschichte. Der Weg dorthin ist schwer, voller Leid, da der
Mensch immer wieder auf Widerstände stößt. Vergil hat diesen Gegensatz prägnant in das Wechselspiel
von Fatum und Fortuna gefasst. Die Geschichte - und auch die „Aeneis“ - führt zu einem als sinnvoll
gesehenen Ziel. Das garantieren die „fata“. Doch es gibt auch die Querschläge der Fortuna, die die „fata“
durchkreuzen. Als die troischen Frauen auf Sizilien aus Überdruss an den ständigen Irrfahrten - von Iris
verleitet - die Schiffe in Brand setzen, tröstet den verzweifelten Aeneas ein Seher:
nate dea, quo fata trahunt retrahuntque, sequamur;
quidquid erit, superanda omnis fortuna ferendo est. (Aeneis V 709f.)
Sohn der Göttin, folgen wir, wohin uns das Fatum treibt und zurücktreibt;
was auch immer sein wird, jedes Geschick muss durch Ertragen überwunden werden.
Ovid gibt ebenfalls ein Ziel seiner Erzählung an: ad mea tempora will er die Handlung führen. Und
tatsächlich könnte man hier vermuten, dass sein Werk in einer Verherrlichung der eigenen Zeit und der
Herrschaft des Augustus mündet. Aber er nimmt dieses Ziel nicht ernst. Während bei Vergil der Weg
zum Ziel und das Ziel glaubwürdig miteinander verknüpft waren, gibt es bei Ovid einen Bruch.
So ist es im Großen - und in der Apollo-Daphne-Erzählung im Kleinen. Daphne widerfährt bei Ovid
etwas so Schreckliches und ihrem Wesen so Entgegengesetztes, dass das positive Ende hierzu nicht passt.
Umgekehrt ist der Gott Apollo so stark seiner Würde beraubt worden, als dass man in den
Liebesverwicklungen etwas dem vergilischen Fatum Analoges wirken sehen könnte. Eher erinnert der
Gang der Handlung an das Wirken der Fortuna als an Fatum.
Ovid hat deshalb keine „Botschaft“, wie sie Vergil hatte. Und die großen Dinge der Politik sind ihm nicht
wichtig. Stattdessen treibt er mit ihnen ein geistreiches Spiel, das erkennbar darauf abzielt, dasjenige, was
anderen ernst ist, mit paradoxen Zuspitzungen zu verfremden, witzige Pointen aus dem altbekannten
Stoff zu gewinnen, der von den Vorgängern in ernster Weise behandelt worden ist. Sein literarisches
Spiel bedeutet jedoch auch, dass man Ovid nicht auf eine eindeutige Aussage festlegen kann. Die
folgenden Ausführungen von Huizinga passen deshalb auch auf Ovid:
"Ernst ist Nichtspiel und nichts anderes. Der Bedeutungsinhalt von Spiel dagegen ist mit Nichternst keineswegs
definiert oder erschöpft: Spiel ist etwas Eigenes.“ (Johan Huizinga, Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im
Spiel, Amsterdam 1939, dt. Übersetzung von H.Nachod, Reinbek 1956, S. 50)
Ovid schreibt Werke, die ihren Sinn in sich tragen, die in gewisser Weise zweckfrei - wie ein Spiel - sind.
Er ist kein Autor, der in irgendeiner Weise etwas bewirken will. Huizingas Definition des Spiels lässt sich
ebenfalls auf Ovid anwenden: Spiel „ist eine Handlung, die innerhalb gewisser Grenzen von Zeit, Raum und
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Sinn verläuft, in einer sichtbaren Ordnung, nach freiwillig angenommenen Regeln, außerhalb der Sphäre
materieller Nützlichkeit oder Notwendigkeit.“(Huizinga, S. 129)
Ovids literarisches Spiel schafft eine eigene Welt, die tatsächlich anders ist als das gewöhnliche Leben, es
gelten andere Gesetze als in der realen Welt. Und insofern ist sein Werk zweckfrei, es verfolgt keine
unmittelbaren Interessen oder einen Nutzen. Es bietet jedoch auch die Möglichkeit, eine tiefere und
ernstere Ebene in ihm zu finden. Es ist in hohem Maße Kunst, aber nicht nur Kunst um der Kunst willen.
Denn trotz allen Witzes und aller Zweckfreiheit nimmt Ovid doch einiges ernst:
- Die „Metamorphosen“ zeigen ein Interesse am Menschen, vor allem an den Motiven und den
psychologischen Hintergründen für seine Handlungen. Die Bandbreite menschlicher Befindlichkeiten
wird gewissermaßen - bis in die Extreme - durchgespielt. Ovid wertet nicht, er moralisiert nicht, aber er
zeigt, wozu Menschen in der Lage sind. Mit den „Metamorphosen“ kann sich ein Leser, und vor allem
ein gebildeter Leser, auf hohem Niveau unterhalten, aber er kann auch ein Bewusstsein für menschliche
Verhaltensweisen gewinnen.
- Durch den spielerischen Umgang mit literarischen Traditionen eröffnet sich Ovid eine große Freiheit.
Die „Metamorphosen“ zeigen die Möglichkeiten der literarischen und sprachlichen Kreativität. Es wird
deutlich, was in einem oft dargestellten, scheinbar in allen Nuancen bekannten Stoff an
Gestaltungsmöglichkeiten steckt. Ovid hat gezeigt, dass Traditionen nicht nur Festlegung, Enge und
Begrenztheit bedeuten müssen, sondern dass sie Phantasie und Einfallsreichtum auch dazu
herausfordern, ihren Spielraum zu finden und zu gestalten.
- Eine ähnliche Tendenz zeigt sich bei der Art, wie Ovid göttliche und menschliche Autoritäten darstellt.
Diese werden immer wieder in ironische und paradoxe Bezüge gestellt. Ihre tradierte Würde,
Erhabenheit, ihre scheinbar zweifelsfreie Größe erhält ein Fragezeichen. Auch hier entsteht eine neue
Freiheit, und möglicherweise ergibt sich als Schlussfolgerung, dass nichts so perfekt es, wie es manche
gerne behaupten, dass deshalb sich alles verändern kann und der Leser von Ovids Darstellung dazu
aufgerufen wird, über Ovids Menschen und Götter mit derselben inneren Freiheit nachzudenken, die
dieses Werk insgesamt auszeichnet.
Aufgaben:
1. Bewerten Sie das folgende Zitat von E.A.Schmidt! Welches Bewusstsein für das „Menschliche“ kann
der Leser aus der Apollo-Daphne-Erzählung gewinnen?
„Ovids Thema ist der individuelle Mensch. Er erzählt von Menschen in außerordentlichen Situationen, in Krisen,
in Momenten gesteigerten Daseins und unerträglichen Leidens. Es gibt keine antike Dichtung vergleichbaren
Umfangs, die ebenso auf individuelle Menschen und ihr Erleben und Schicksal gerichtet wäre wie die
Metamorphosen. Das Interesse, das den Menschen trifft, ist weder historisch noch politisch […]; es ist ‚moralisch‘
(im nicht moralisierenden alten Sinn des Wortes), d.h. anthropologisch, psychologisch, ‚rein menschlich‘. Bereiche
und Mächte über und in den Menschen wie Götter, Schicksal, Krieg dienen dazu, die Situationen zu erzeugen, in
denen der einzelne Mensch angeschaut und Menschliches verstanden werden kann.“ (E.A.Schmidt, Ovids poetische
Menschenwelt, Heidelberg 1991, 17)
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2. Stellen Sie die Thesen zu Ovids Art des Dichtens aus dem folgenden Zitat heraus, und bewerten Sie
diese!
„Auch die Metamorphosen“ knüpfen bezüglich Form, Stoff und Sprache an eine literarische Tradition an: die
Tradition des Heldenepos und des epischen Lehrgedichts (oder Sach-Epos), und wiederum mußte sich Ovid in der
Situation sehen, daß er diese literarische Gattung (nach Vergil!) nicht mehr weiter verfeinern und weiterentwickeln
konnte, ohne sie auch zu verändern und zu erneuern. Das Resultat ist ein in mancher Hinsicht unepisches und unaugusteisches Epos, das stellenweise durchaus auch als Epos-Parodie gelten kann, das bekanntlich auch Züge einer
Reihe anderer Gattungen aufweist, das oft burlesk ist, aber auch ernst in der feinen Charakterzeichnung und der
differenzierten Darstellung der Gefühlsregungen von Menschen und Göttern, deren Leidenschaft und Schwächen
Ovid oft so respektlos darstellt, daß seine Relegation durch einen um eine restaurative Religionspolitik bemühten
Herrscher tatsächlich nicht verwundert.“ (Therese Fuhrer, Der Götterhymnus als Prahlrede. Zum Spiel mit einer
literarischen Form in Ovids „Metamorphosen“, Hermes 127, 1999, S. 356)
3. Können Sie der folgenden Auffassung zustimmen?
»Bei Virgil halten sich äußeres Geschehen und innere Bedeutung gegenseitig. Ovid streicht die Bedeutung [...] Das
äußere Geschehen, das keine Bedeutung mehr hält, wird wertlos und gΙeichgüΙtig.“ (Friedrich Mehmel, Valerius
Flaccus, Diss. Hamburg 1934, 106)
4. Der Schriftsteller Martin Walser hat in einem Essay über die Bedeutung des Lesens geschrieben.
Inwiefern ließe sich seine Auffassung vom Wert des Lesens auch auf Ovid übertragen?
„Ein Buch ist eine Schaufel, mit der ich mich umgraben kann. [… ] [Literatur] befreit die von Zwecken und
Gewohnheiten verschüttete Wirklichkeit. […]. [Literatur vermittelt die Erfahrung], einmal zu sehen, zu lesen, zu
erleben, wie unendlich vielgestaltet die Wirklichkeit ist, wie unendlich differenziert jeder Mensch, ganz gleich wie
dumm oder wie klug oder gut oder böse er sein mag, es genügt, den Reichtum zu erleben, den [Literatur] sichtbar
macht, um selbst wenigstens ein bisschen reicher zu werden.“ (Martin Walser: Leseerfahrungen mit Marcel Proust.
In: Erfahrungen und Leseerfahrungen, Frankfurt/Main 1965, zitiert nach : edition suhrkamp 109; S. 124)
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