LESSINGS GESPENSTER GESAMTTEXTFASSUNG

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LESSINGS GESPENSTER GESAMTTEXTFASSUNG
von kainkollektiv
(Stand: 30. März 2012)
1. Prolog: „Deutschland schläft, das Junge-Mädchen träumt“
Einlass:
-
Eiserner ist offen
-
Rote Kordel am zweiten Portal
-
Musik 1: Improvisation alle  Deutschlandlied
-
Sprechertexte / Lothar
-
Merle in Box unten: Schminken/Ankleiden wird auf beide
Seiten der Mauer projiziert
-
Box fährt hoch und Eiserner fährt runter
Lothar (3 Mal) : „Der Krieg, der Krieg, der Krieg!“
Sprecher:
Guten Abend, meine Damen und Herren. Zunächst ein paar einführende
Hinweise zu unserer heutigen Aufführung: Ort der Handlung ist das
Zauberschloss. Die Aufführungsdauer beträgt 5 Stunden. Die Ritter tragen
weiße Waffenröcke und Mäntel. In der Mitte ist eine Lichtung. Links aufsteigend
wird der Weg zur Gralsburg angenommen.
Ich, der Sprecher, schicke diese kleine Gesellschaft schlafen. Ich habe ein paar
Worte von dem Deutschland zu sagen, aus dem wir Ihnen diese Stimmen
heraufholen. Box fährt hoch. Bär löst die rote Kordel. Wir hören Stimmen aus
einer Zeit, in der Deutschland schlief. Und je tiefer die Schichten seiner
Bewohner hinabreichten, desto tiefer der Schlaf. Aus diesem Zustande ersteht
das klassische Zeitalter der deutschen Literatur. Während andere schwitzen
und rennen, England sich mit Goldbarren und Pfeffersäcken abkeucht, Amerika
1
im Begriff steht, sich in den öden Riesentrust zu verwandeln, der er später
werden wird, Frankreich die politischen Grundlagen für den Sieg des
Bürgertums auf dem europäischen Festland legt, schläft Deutschland einen
ehrlichen gesunden erfrischenden Schlaf.
Bitte schalten Sie Ihre Handys aus und verhalten Sie sich akustisch unauffällig.
Merle in der Box:
Und wenn er nun
Gekommen, dieser Augenblick; wenn denn
Nun meiner Wünsche wärmster, innigster
Erfüllet ist: was dann? – was dann? Was wird dann
In meiner Brust an dessen Stelle treten,
Die schon verlernt, ohn' einen herrschenden
Wunsch aller Wünsche sich zu dehnen? – Nichts?
CHOR
(3, aufgeregt, schnell) Noch zittert ihr der Schreck durch jede Nerve. •
Noch malet Feuer ihre Phantasie.
Zu allem, was sie malt. • Im Schlafe wacht, ’
Im Wachen schläft ihr Geist: • bald weniger
als Tier, bald mehr als Engel. •
(7, noch aufgeregter) Diesen Morgen ’ lag
Sie lange mit verschlossnem Aug’, • und war
Wie tot. • Schnell fuhr sie auf und rief: • (10, freudig) „Horch, Horch! •
(7, freudig) Da kommen die Kamele meines Vaters! •
Horch! • Seine sanfte Stimme selbst!“ • (3, nachdenklich) Indem
Brach sich ihr Auge wieder: • und ihr Haupt, ’
Dem seines Armes Stütze sich entzog,
(7, nachdrücklich) Stürzt auf das Kissen. •
(3) Und sieh: • Da kommt der Vater wahrlich •
Was wunder! • Ihre ganze Seele war
2
Die Zeit her nur bei ihm ••• und ihm •
(Crescendo auf 7) Dem jungen Tempelherrn, der Recha aus dem Feuer trug.
Musik 2: Hadyn Klaviertrio
Merle kommt raus und macht eine Zuschauer-Begrüßungsrunde mit
Knicksen und Verbeugungen + Jetzt-Impro:
Merle:
Guten Abend. Herzlich Willkommen. Es ist sehr freundlich, dass Sie heute
Abend hier erschienen sind. In diesem Raum liegt etwas in der Luft. Können
Sie es fühlen? Ist es ein Flirt? Ein Vertrag? Ein Geschäft? Eine Projektion? Ein
Wunder?
Merle begrüßt den Chor.
2. Kapitel I: „Der tote Hase erklärt (nicht) die Bilder“
Merle geht auf die Schräge auf das erste Wort JETZT ein Lichtwechsel
Merle:
Jetzt: ist dieser Körper im Raum, und Sie haben wieder nur sein Bild gesehen.
Jetzt sind diese Stimmen da, und Sie haben wieder nur das Zitat gehört.
Immer, wenn dieser Körper hereingeschneit kommt, mit Anmut oder mit
lautem Gepolter, ist sein Bild schon da. Das ist nicht zu verkraften, dass da
immer schon Etwas im Raum ist, wenn wir erscheinen, dass uns da Etwas
entgegen leuchtet, als wären wir nur dazu da, diesen Schein zu verkörpern.
Dass wir immer schon überholt sind, obwohl wir uns doch ständig auf der
Überholspur wähnen – wie der Hase, der so oft gegen den Igel antritt, bis er
am Ende erschöpft zusammenbricht und stirbt.
Zitat mehrmals (Mikrofon): „Ich schreite kaum, doch wähn' ich mich schon
weit. Du siehst mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit.“
Musik 3: Parsifal-Zitat danach gehen Glocken an.
3
Das ist nicht Lessing, auf den Sie alle so gespannt warten, das ist Wagners
Parsifal. Warum wird das hier zitiert? Das kann ich Ihnen auch nicht sagen. Das
müssen Sie den toten Hasen fragen, den gekreuzigten Hasen, von dem wir uns
immer wieder die Bilder erklären lassen müssen. Wir müssen uns vom toten
Hasen leider, leider, leider die Bilder noch einmal erklären lassen. Denn wir
haben vergessen, was die Bilder bedeuten. Was die Bilder und die Geschichten
bedeuten, die das hier, dieses Erscheinen, dieses Vorausleuchten erzeugt
haben. Was hat denn das hier erzeugt: Diese zufällige, diese notwendige
Versammlung, die sich an einem ziemlich gewöhnlichen Tag, an dem alles
anders ist als an allen anderen Tagen, an diesem Ort eingefunden hat? Sie
kennen dieses Haus. Es ist das Haus der Freude. Eine Stunde hier, und es
erhebt sich so mancher Tumult in unserer Seele. Unser Zusammentreffen hier,
das wurde spätestens am 31. März 2012 erfunden – also jetzt. Aber alles, was
man uns hier hinterlassen hat, ist für uns völlig unverständlich. Dieser Ort ist
uns ganz unverständlich. Wie sind wir hier noch mal hereingekommen? Wieso
sind denn die ganzen Bilder schon da gewesen, bevor wir diesen Raum, diesen
Ort der Freude betreten haben? Und wer ist dieses Mädchen in diesem
hübschen Kleid, das ihm ganz ausgezeichnet steht? Ist das etwa der tote Hase,
der hier immer die Bilder erklärt?
3. Vision I: „Austreibung der Engel aus Recha“
Musik 4: Improvisation Vision 1
Nathan erscheint übergroß als Projektion.
NATHAN.
Mein Kind! mein liebes Kind!
RECHA.
So seid Ihr es doch ganz und gar, mein Vater?
Ich glaubt', Ihr hättet Eure Stimme nur
4
Vorausgeschickt. Wo bleibt Ihr? Was für Berge,
Für Wüsten, was für Ströme trennen uns
Denn noch? Ihr atmet Wand an Wand mit mir,
Und eilt nicht, Eure Recha zu umarmen?
Die arme Recha, die indes verbrannte! –
Fast, fast verbrannte!
Es ist ein garst'ger Tod, verbrennen.
CHOR
(7, sehr nachdrücklich) Es ist ein garst’ger Tod • verbrennen.
RECHA
Wie wollen wir uns freun, und Gott,
Gott loben!
Er winkte meinem Engel, daß er s i c h t b a r
Auf seinem weißen Fittiche, mich durch
Das Feuer trüge –
Ich also, ich hab' einen Engel
Von Angesicht zu Angesicht gesehn;
NATHAN.
Meiner Recha wär'
Es Wunders nicht genug, daß sie ein M e n s c h
Gerettet, welchen selbst kein kleines Wunder
Erst retten müssen?
DAJA
Man sagt, daß Saladin den einen Tempelherrn
Begnadigt, weil er seiner Brüder einem,
Den Saladin besonders lieb gehabt, so ähnlich sehe.
NATHAN.
5
Pflegen
Sich zwei Gesichter nicht zu ähneln? – Ist
Ein alter Eindruck ein verlorner? –
Wo steckt hier das Unglaubliche? –
Sieh! eine Stirn, so oder so gewölbt;
Der Rücken einer Nase, so vielmehr
Als so geführet; Augenbraunen, die
Auf einem scharfen oder stumpfen Knochen
So oder so sich schlängeln; eine Linie,
Ein Bug, ein Winkel, eine Falt', ein Mal,
Ein Nichts, auf eines wilden Europäers
Gesicht: – und du entkömmst dem Feur, in Asien!
Das wär' kein Wunder, wundersücht'ges Mädchen?
Kein Engel! Es war ein Mensch.
Ich hol dir deinen Retter gleich.
Du darfst ihn jeden Augenblick erwarten.
Chor:
(7, wirklich wissen wollen, Nachdruck) Begreifst du nun, ’
Wie viel andächtig schwärmen leichter, als
Gut handeln ist? • Wie gern der schlaffste
Mensch andächtig schwärmt, um nur
Gut handeln nicht zu müssen!
Bild Nathans verschwindet.
4. Kapitel II: Alltag I => Merle in der Box: Musik der Alltagsgeräusche
ihrer Tätigkeiten (Schreiben/Chatten, Text mitsprechen, Zigaretten und
Kaffee/ Musik 5 leise Klangflächen Carsten Eva und Benjamin gehen
auf die Positionen für „Plus“
6
Merle:
Sie verwechseln hier etwas. Sie verwechseln mich, sie verwechseln sich mit
mir. Das ist eine Verwechslung. Aber ich kann diese Verwechslung nicht
verkörpern. Dieser Körper wurde spätestens am 21. Januar 1988 erfunden.
Lessing wurde spätestens am 22. Januar 1729 erfunden. Oder am 15. Februar
1781? Der tote Hase wurde spätestens am 26. November 1965 erfunden.
Davon können Sie sich wahrscheinlich gar kein Bild mehr machen. Wir stecken
ja noch immer fest in dieser Erzählung, dass man uns gemacht hat, dass dazu
ein Vater und eine Mutter nötig waren, dass diese Körper hier etwas
weitertragen: einen Genpool, eine historische Erfahrung, ein Gefühl, das Sie
dann wiedererkennen können, weil es uns gleich macht. Aber diese Körper
werden immerzu, wie können sie da gleich sein? (Schreib-Impro) Wenn wir
entflammt sind, wenn wir brennen, wenn es uns die Sprache verschlägt, wenn
wir dann umfallen wie Steine, bringt man uns weg. Als wären wir Verrückte,
bringt man alles, was nicht mehr spricht, weg, was nicht mehr schlägt, weg.
Wenn die Körper nicht das Blut durch ihre Adern pumpen, werden sie verpackt
und an einen Ort gebracht, in eine Klinik, auf einen Friedhof, wo wir nicht
sehen, wie sie weiter werden. Weil wir nicht reingucken wollen, in die
Kanalisation. Mein Herz, es ist ein Stein. Und es schlägt nur für mich. Da sind
wir, auf dem Friedhof, wo wir nie hin wollten. Das sind die Gefühle. Die Liebe
und der Tod, das sind die Steine, nicht dieser Körper. Und wir können
niemanden, auch uns selbst nicht davon überzeugen, dass hier eine
Verwechslung vorliegt, wenn wir erzählen, dass wir uns da verstehen würden.
Das hier sind ja nicht mal meine Worte. Die sind auch nur geborgt. (SchreibImpro: Liebessprache Internet/Klischee) Die Sprache des Herzens ist ein
unverständliches Kauderwelsch, das wir uns niemals einander ablauschen
werden. Denn mein Herz ist nicht das Herz meines Vaters. Und deines ist nicht
das deiner Mutter, die gerade vielleicht Zwiebeln schneidet oder Fernsieht oder
Angst hat davor, dass wir umfallen könnten wie Steine. Dieser Körper fühlt,
weil er wird, weil er stirbt. Es ist eine Verwechslung zu glauben, er täte das für
jemanden oder etwas. Vielleicht tut er das nicht mal für sich selbst. Wer weiß
das schon? Ich gestatte Ihnen Einblick in meine kleine Schaubühne, mein
7
Gefühls-Terrarium, in diese Pseudo-Kaaba des deutschen Stadttheaters.
Schauen Sie genau hin. Merle kommt raus: Woran glauben Sie? Dass dies ein
Ort der wahren Gefühle ist? Vielleicht ist es ja auch ein Ort, der aus Gefühlen
Waren macht. Ich stelle mir vor, die Tränen, die heute Abend fließen, werden
andere Tränen sein. Sie werden einen anderen Geschmack haben, eine andere
Konsistenz, als jene Tränen, die zu vergießen man uns ständig nötigt. Fahren
Sie mit Ihrer Zunge über den Rand der Lippen, kosten Sie von dem Salz der
Rührung, das ein Gewürz der Täuschung ist, ein Erzeugnis des Tauschhandels,
den wir Abend für Abend hier miteinander betreiben. Das ist ein kleiner
dreckiger Deal, das wir unsere Herzen tauschen sollen und das dann Liebe oder
Mitleid nennen. Das ist ein Markt, das ist ein ökonomischer Kontext, der aber
immer ausgeblendet wird im Dienste der Menschlichkeit. Hier liegt kein Flirt in
der Luft. Hier liegt eine Verwechslung vor. Und es ist nicht leicht, sie
aufzulösen.
Musik 6: PLUS
Merle geht raus mit Bär: Candlelight-Dinner (Kerze, Sekt, Papierflieger mit
Ringparabel etc.)
Sprecher:
Ich sehe, Sie sind im Bilde. Alles ist jetzt ultra, alles wächst, fließt, strömt
unaufhaltsam. Im Denken wie im Tun. Niemand kennt sich mehr. Niemand
begreift das Element, worin er schwebt und wirkt, niemand den Stoff, den er
bearbeitet. Schnelligkeit ist, was die Welt bewundert und wonach jeder strebt.
Lasst uns soviel als möglich an der Gesinnung festhalten, in der wir
herankamen; wir werden, mit vielleicht noch Wenigen, die Letzten einer
Epoche sein, die so bald nicht wiederkehrt.
Ich bitte den Chor der Zaubermädchen sich für den Zweiten Aufzug „Klingsors
Zaubergarten“ bereitzuhalten. Der Zweite Aufzug beginnt in fünf Minuten.
Musik 7: Akkordeon und Chor: „Mein Deutschland strecke die Glieder“,
3 Strophen
8
Musik 8: Eurasischer Tango beginnt nur mit Trommel
Merle: (2x) Ich hatte heute Nacht einen ganz merkwürdigen Traum. Es war
sehr traurig. Hab's aber gleich nach dem Aufwachen wieder vergessen. Ich
kann mich heutzutage nur ganz schwer erinnern. Die Zeit ist so fließend, da
weiß ich oft an dem einen Tag gar nicht mehr, was ich am vorigen getan habe.
Geschweige denn vor einer Woche. Oder vor einem Jahr. Ich kann die Tage oft
gar nicht auseinander halten. Das lässt sich nicht mehr unterscheiden. Unser
Unterscheidungsvermögen ist irgendwie angeknackst. Ich verwechsle mich
auch ständig selbst. Merles Tanz (lauter, Lichtwechsel etc.), Eurasischer
Tango, Purzelbäume etc. bis kriechen.
Ich bin irgendwie ganz haltlos, weil die Tage vorüberziehen, als wären sie ein
einziger. Die Zeit staut sich hier drin. Und die Luft ist so stickig. Unter diesen
Lampen verbrennt man fast. Kann mal jemand die Fenster aufmachen? Kann
mir mal jemand etwas Wasser bringen?
Fräulein Else-Monolog: Wenn ich fliegen könnte [...]
5. Kapitel III: Das Märchen von der Toleranz
Merle:
Jetzt sitzen, stehen, gehen Sie hier herum, heften ihre Aufmerksamkeit auf
meinen Körper und sind unsicher, ob Sie gerade getäuscht werden. Das eben
z.B., das war nicht Lessing, auf den Sie alle so gespannt warten, das war
Schnitzlers „Fräulein Else“. Sie haben Zweifel daran, ob dieser Körper für etwas
bürgt. Sie denken, dass ich Ihnen einen Bären aufbinden will. Sie fragen sich,
ob das heute Abend für Sie bis hierher ein Kuh-Handel, ein Bären-Handel
gewesen ist. Das hieße natürlich: Geld zurück. Ich spekuliere aber gar nicht
auf Ihr Geld, ich spekuliere auf Ihre Sympathien! Finden Sie mich
sympathisch?
Musik 9: Impro Merle und Carsten
Ist das hier eigentlich gerade ein Lustspiel oder ein Trauerspiel? Ich habe die
9
Orientierung verloren und weiß jetzt gar nicht mehr, ob ich lachen oder weinen
soll. Vielleicht ist es ja auch ein Falschspiel, von dem das richtige nie zu
unterscheiden wäre. Oder ein Glücksspiel, und die Einsätze gehen am Ende an
die Bank. Sie gehen am Ende immer an die Bank. Unser Spiel ist va banque.
Aber das ist doch das Glück. So lange spielen, bis alles an die Bank gegangen
ist und nichts mehr uns beschwert. Das ist Hans im Glück, oder Hans in der
Bank, der so lange tauscht, bis er nichts mehr hat. Das Tauschen als Werden
zu nichts. Wir sind zurückgeworfen auf das Jahr 1781. Wir müssen neu
beginnen. Wir müssen das Jahr 1781 immer wieder neu erfinden. 1781 hatte
Frankreich immerhin noch eine Revolution vor sich. Wir müssen ganz von
vorne anfangen, weil wir so viel hinter uns haben. Wir müssen uns die
Geschichten wieder neu erzählen, um zu sehen, ob da beim Erzählen nicht
etwas vergessen wurde. Etwas, das wir noch nicht wissen. Etwas, das wir nicht
immer schon gewusst haben, weil es uns so gleich erschienen ist. Wir müssen
immer wieder in dieser lauwarmen Suppe baden, bis sie die Extreme wieder
herausgibt, kalt und heiß, bis die Abgründe sich wieder auftun, die in ihr
schwimmen wie das Fett in der Suppe. Bis die Furcht verschwindet und die
Angst wieder erscheinen darf. Diese Angst, dass alles falsch war, dass wir alles
falsch gemacht haben. Verstehen Sie mich nicht falsch, die Geschichten wissen
um die Fehler, sie tragen sie ja in sich. Nur wir haben sie vergessen und
erzählen daher immer ganz falsch. Wir müssen uns die Geschichten des Jahres
1781 immer wieder neu erzählen, das Märchen von der Toleranz, das Märchen
von der Toleranz, das Märchen von der Toleranz...
[Bär wirft Ringparabel in Strichfassung von der Galerie!]
6. Kapitel IV: Alltag II => Merle geht in die Box: Vogue lesen, zitieren,
bemalen, zerreißen, an Box kleben
Musik 10: Kagel-Marsch 1
Sprecher:
10
Ich bitte nun den Chor der Zaubermädchen zum Einsingen in den
Chorprobenraum.
Chor: Ton-Improvisation auf A und O, wenn alle stehen, langsam leiser
werden
Kagel-Marsch 1 ein zweites Mal in Schleife
7. Vision 2: Austreibung der Wünsche
Musik 11: Impro Vision 2
Dajas Bild erscheint. Musik. Lichtwechsel.
DAJA
Mein Kind, mein liebes Kind.
RECHA.
Ich dürft ihn jeden Augenblick erwarten?
– Wie viele Augenblicke
Sind aber schon vorbei! Ah nun – wer denkt
an die verflossnen? – Ich will allein
in jedem nächsten Augenblicke leben.
Und wenn er nun
Gekommen dieser Augenblick; wenn denn
Nun meiner Wünsche wärmster, innigster
Erfüllet ist: was dann? – was dann?
DAJA.
Was dann? Dann hoff' ich, daß auch meiner Wünsche wärmster
Soll in Erfüllung gehen.
11
RECHA
Was wird dann
In meiner Brust an dessen Stelle treten,
Die schon verlernt, ohn einen herrschenden
Wunsch aller Wünsche sich zu dehnen? – Nichts?
DAJA.
Mein, mein Wunsch wird dann
An des erfüllten Stelle treten; meiner.
Mein Wunsch, dich in Europa, dich in Händen
Zu wissen, welche deiner würdig sind.
Sperre dich, so viel du willst!
Dein Wunsch sei meiner.
Des Himmels Wege sind des Himmels Wege.
Und wenn es nun dein Retter selber wäre,
Durch den sein Gott, für den er kämpft, dich in
Das Land führen wollte,
Für welches du geboren wurdest?
Es ist das Land der Wunder.
Merle kommt während des Chores raus und geht dirigierend zur Schräge.
CHOR
(8, nachdrücklich, wirklich wissen wollen) Wie weiß
man denn, • für welchen Erdkloß man geboren, ’
Wenn man’s für den nicht ist, auf welchem man
Geboren? •
(3-7 Crescendo bis „Rechas Boden“)
Was tat denn Nathan dir, • den Samen der • (8 nur ein Wort) Vernunft,•
Den er so rein ’ in Rechas Seele streute, •
Mit deines Landes Unkraut ’ oder Blumen •
So gern zu mischen? • (3) Liebe, liebe Daja •
12
er will nun deine bunten Blumen nicht
auf Rechas Boden. •
Sie selber fühlt denn ihren Boden, • auch wenn
sie noch so schön ihn kleiden, so entkräftet,
so ausgezehret durch deine Blumen, • fühlt
In ihrem Dufte, sauersüßen Dufte, •
sich so betäubt, so schwindelnd. •
8. Kapitel V: Lessings Obduktion => Merle fängt an sich zu dirigieren:
Merle:
Mehrmals Zitat Galotti: Mein Name ist Emilia Galotti. Gewalt! Gewalt! Wer
kann der Gewalt nicht trotzen? Was Gewalt heißt, ist nichts: Verführung ist die
wahre Gewalt. Ich habe Blut, so jugendliches, so warmes Blut, als eine. Auch
meine Sinne, sind Sinne. Ich bin nichts. Ich stehe für nichts. Ich kenne dieses
Haus. Es ist das Haus der Freude. Eine Stunde hier, und es erhebt sich so
mancher Tumult in meiner Seele, den die strengsten Übungen der Religion
kaum in Wochen besänftigen können. Nichts Schlimmers zu vermeiden,
springen Tausende in die Fluten, und sind Heilige!
(Merle beginnt ins Mikro zu sprechen: Musik 12: Impro Merle und Eva)
Gewalt! Gewalt! Wer kann der Gewalt nicht trotzen? Was Gewalt heißt, ist
nichts. Ich bin nichts. Mein Name ist Gotthold Ephraim Lessing. Jetzt bin ich 52
Jahre alt. Ich bin spielsüchtig. Ich bin trunksüchtig. Ich bin fettleibig. Ich bin
mittellos. Inwendig ist alles sehr, sehr dünne, wie mir gestern bescheinigt
wurde. Mein Leben ist mir, ich weiß auch nicht wie, geradezu vollkommen
fehlgeschlagen. Ich habe nie Geld besessen, selbst dann nicht, wenn ich
welches hatte. Bettler und Verwandte haben mich in den Ruin getrieben. Ich
habe stets mit Worten gehandelt, als hinge etwas davon ab. Das tut es nicht,
Sie wissen das so gut wie ich. Ich habe Jahre damit verbracht, der Welt zu
entkommen. Ich bin in Polen gewesen und habe Glücksspiel mit den Soldaten
gespielt. Das waren gute Jahre. Singt zusammen mit Teilen des Chors: Sto lat,
sto lat. Niech żyje, żyje nam. Sto lat, sto lat. Niech żyje, żyje nam. Jeszcze
13
raz, jeszcze raz, niech żyje, żyje nam. (Eva nimmt Sto Lat auf)
Man hat mich nicht erkannt. Man hat mich nicht verstanden. Man hat mich
nichts gefragt. Kein Mensch weiß mehr, mit wem er es zu tun hat. Die Erde ist
eine dünne Kruste. Das sind nicht meine Worte, wie sollte ich Ihnen etwas
vormachen, die Sie hier öfters herkommen. Ich habe Worte ausprobiert,
eigene und fremde, um zu sehen, ob sie bloß Luftwurzeln schlagen oder ob
sich mit ihnen etwas rechtes begründen ließe. Das ist nun vorbei. Ich verbitte
mir jedes Mitleid. Man schließe einen Blick in sich selbst; man setze alles, was
man weiß, als wüsste man es nicht, bei Seite; auf einmal ist man in einer
undurchdringlichen Nacht.
Musik 13: Instrumental leise, Marlene Dietrich-Lied von Eva und
Benjamin
Wissen Sie, wer ich bin? Ich bin ein Mädchen in einem hübschen Kleid, das
eine Uniform ist. Ich bin schon verflucht alt dafür, dass ich noch so jung bin.
Ich muss mir das nicht gefallen lassen. Ich muss mir nichts gefallen lassen. Ich
muss nur gefallen, sonst nichts. Und ich versuche diesem Bild Rechnung zu
tragen. Ich gebe zu, es handelt sich um ein Bild, das sich ein alter versoffener
Mann ausgedacht hat, der immer zu viel gefressen und zu viele Glücksspiele
gespielt hat. Ein aufgeschwemmter Typ, hässlich irgendwie. Ein
bemitleidenswerter Kerl. Einsam stand er in den Casinos in Breslau am
Spieltisch, mit den Soldaten hat er gesoffen und sein letztes Hemd verspielt. Er
wollte in die Welt hinaus und ist doch nicht viel weiter gekommen als
Braunschweig. Ich weiß nicht, wer von ihnen schon mal in Braunschweig war?
In Polen war er für einige Jahre, aber darüber ist so gut wie nichts bekannt.
Chor hilft Merle beim Kleid-Ausziehen. (Live-Kamera). Chor hebt Merle hoch.
Musik 15: Klarinetten-Solo Messiaen von der Galerie Carsten.
Chor trägt Merle um die Mauer herum und legt sie in der Wanne ab.
Merle (mit Mikro): Wenn wir entflammt sind, wenn wir brennen, wenn es uns
die Sprache verschlägt, wenn wir dann umfallen wie Steine, bringt man uns
14
weg. Als wären wir Verrückte, bringt man alles, was nicht mehr spricht, weg,
was nicht mehr schlägt, weg. Wenn die Körper nicht das Blut durch ihre Adern
pumpen, werden sie verpackt und an einen Ort gebracht, in eine Klinik, auf
einen Friedhof, wo wir nicht sehen, wie sie weiter werden. Weil wir nicht
reingucken wollen, in die Kanalisation. Mein Herz, es ist ein Stein. Und es
schlägt nur für mich. Da sind wir, auf dem Friedhof, wo wir nie hin wollten. Das
sind die Gefühle. Die Liebe und der Tod, das sind die Steine, nicht dieser
Körper. Und wir können niemanden, auch uns selbst nicht davon überzeugen,
dass hier eine Verwechslung vorliegt, wenn wir erzählen, dass wir uns da
verstehen würden. Die Sprache des Herzens ist ein unverständliches
Kauderwelsch, das wir uns niemals einander ablauschen werden.
9. Vision 2.5: Das Objekt der Liebe/der Sehnsucht
Musik 16: evt. Sound-Impro Vision 3
TEMPELHERR in Gold:
Des Menschen Hirn fasst so
Unendlich viel; und ist doch manchmal auch
So plötzlich voll! Von einer Kleinigkeit
So plötzlich voll! – Taugt nichts, taugt nichts.; es sei
Auch voll wovon es will. - Doch nur Geduld!
Die Seele wirkt den aufgedunsnen Stoff
Bald ineinander, schafft Raum, und Licht
Und Ordnung kommen wieder.
Lieb ich denn
Zum ersten Male? Oder war, was ich
Als Liebe kenne,
Liebe nicht? - Ist Liebe
Nur, was ich itzt empfinde?
Wenn ich sie
15
sonder alles das mir denke, was
Allein ihr so ein Jude geben konnte:
Sprich, Herz, was wär an ihr, das dir gefiel?
Nichts! Wenig! Selbst ihr Lächeln, wär es nichts
als sanfte schöne Zuckung ihrer Muskeln!
Wär, was sie lächeln macht, des Reizes unwert,
In den es sich auf ihren Munde kleidet?
Nein, selbst Ihr Lächeln nicht! Ich hab es ja
Wohl schöner noch an Aberwitz, an Tand,
an Höhnerei, an Schmeichler und an Buhler,
Verschwenden sehn! Hat's mich da auch bezaubert?
Hat's da mir auch den Wunsch entlockt, mein Leben
In seinem Sonnenscheine zu verflattern?
Ich wüsste nicht.
Was hab ich Querkopf nun gestiftet!
Dass ein einz'ger Funken dieser Leidenschaft
Doch unsers Hirns so viel verbrennen kann!
Ich müsste sie auf immer immer sehen können.
Ich beschwör dich bei den ersten Banden der Natur
Stoß mich nicht von dir.
10.
Sittah.
Kapitel VI: Chor und Recha, Zurichtung zur Puppe
(3, leise, erotisch, die Hexen von Macbeth) Was freu ich mich
nicht deiner, süßes Mädchen! •
Sei so beklemmt nur nicht! so angst! so schüchtern! •
Sei munter! ’ sei gesprächiger! vertrauter!
Recha.
Prinzessin….
Sittah.
(8, beleidigt, spitz, laut) Nicht doch! nicht Prinzessin! • (3)
Nenn Mich deine Freundin, deine Schwester •
16
Nenn mich dein Mütterchen! • Ich könnte das
Ja schier auch sein. • So jung! • so klug! • so fromm! •
Was du nicht alles weißt! ’ nicht alles mußt
Gelesen haben!
Recha.
Ich gelesen?—,
Du spottest deiner kleinen albern Schwester.
Ich kann kaum lesen.
Sittah.
(8, spitz) Kannst kaum? • (3) Lügnerin!
Recha.
Ein wenig meines Vaters Hand!—Ich meinte,
Du sprächst von Büchern.
Sittah.
Allerdings! ’ von Büchern.
Recha.
Nun, Bücher wird mir wahrlich schwer zu lesen!
Sittah.
Im Ernst?
Recha.
In ganzem Ernst. Mein Vater liebt
Die kalte Buchgelehrsamkeit, die sich
Mit toten Zeichen ins Gehirn nur drückt,
Zu wenig.
Sittah.
Ei, was sagst du! • Hat indes
Wohl nicht sehr unrecht! • Und so manches, was
Du weißt…?
Recha.
Weiß ich allein aus seinem Munde
Und könnte bei dem meisten dir noch sagen,
Wie? wo? warum? er mich's gelehrt.
17
Sittah.
(7, schnell) So hängt Sich freilich alles besser an. ’ (3) So
lernt
Mit eins die ganze Seele.—
Recha.
Sicher hast
Auch du wenig oder nichts gelesen!
Sittah.
(spitz, kurz) Wieso? • (langsamer) Ich bin nicht stolz aufs
Gegenteil. •
Allein • (spitz) wieso? • (laut, direkt) Dein Grund! Sprich!
Dein Grund?
Recha.
Du bist so schlecht und recht; so unverkünstelt;
So ganz dir selbst nur ähnlich…
Sittah.
Nun?
Recha.
Das sollen
Die Bücher uns nur selten lassen! sagt
Mein Vater.
Sittah.
O was ist dein Vater für
Ein Mann!
Recha.
Nicht wahr?
Sittah.
Wie nah er immer doch
Zum Ziele trifft!
Recha.
Nicht wahr?—Und diesen Vater—
18
Sittah.
Was ist dir, Liebe?
Recha.
Diesen Vater—
Sittah.
Gott! •
Du weinst?
Recha.
Und diesen Vater—Ah! es muß
Heraus! Mein Herz will Luft, will Luft…
Diesen Vater soll—
Soll ich verlieren!
Sittah.
Wer kann das? ’ kann das auch nur wollen, Liebe? Komm
doch zu dir, Kind!
Zug für das Kleid kommt herunter. Unterkleid wird hochgezogen. Merle geht
auf die andere Seite zur Chaiselongue. Musiker beginnen Musik 17: Bregovic
Mesecina. Merle macht sich zur Puppe. Chor spricht parallel dazu:
CHOR
(8, Geschenke unterm Weihnachtsbaum, hohe Energie, staunend und
unnachgiebig, langer erster Bogen)
O, alles herrlich! alles auserlesen! •
O, alles • wie nur Ihr es geben könnt. •
Wo wird der Silberstoff mit goldnen Ranken
Gemacht? • Was kostet er? • Das nenn' ich noch
Ein Brautkleid! Keine Königin verlangt
Es besser. •
Dieser Stoff und kein andrer muß es sein! • Er ist
Zum Brautkleid wie bestellt. • (3, langsamer, schwärmend) Der weiße Grund;
Ein Bild der Unschuld: • und die goldnen Ströme ’
Die aller Orten diesen Grund durchschlängeln; ’
19
Ein Bild des Reichtums. ’ (7, deutlich) Seht Ihr? • Allerliebst! •
(2, unnachgiebig) Schwört mir, o Recha, ’ von dieser einzigen
Gelegenheit, ’ dergleichen Euch der Himmel
Nicht zweimal schicken wird, • Gebrauch zu machen. •
(3. lieb, klebrig, über den Kopf streichelnd) Ich möchte dich
nicht anders, als du bist:
Auch wenn ich wüsste, • dass in deiner Seele
Ganz etwas anders noch sich rege. •
Was auch in deinem Innern vorgeht, ist •
(drei Schläge, 7) Natur und Unschuld. • (3) Lass es keine Sorge
Dir machen. • Mir macht es keine. • (drohend) Nur •
versprich mir: • wenn dein Herz vernehmlicher
sich einst erklärt, • mir seiner Wünsche keinen
zu bergen. •
(butterweich) Du Mädchen, ganz Gefühl...
Musik 17: Bregovic Mesecina geht weiter.
Kamera auf Merle:
Merle:
Mein Name ist Miss Sara Sampson. Geliebter, ach, könnte ich Ihnen nur halb so
lebhaft die Schrecken meiner vorigen Nacht erzählen, als ich sie gefühlt
habe!— Von Weinen und Klagen, meinen einzigen Beschäftigungen, ermüdet,
sank ich mit halb geschlossenen Augenlidern auf das Bett zurück. Die Natur
wollte sich einen Augenblick erholen, neue Tränen zu sammeln. Aber noch
schlief ich nicht ganz, als ich mich auf einmal an dem schroffsten Teile des
schrecklichsten Felsen sah. Sie gingen vor mir her, und ich folgte Ihnen mit
schwankenden ängstlichen Schritten, die dann und wann ein Blick stärkte,
welchen Sie auf mich zurückwarfen. Schnell hörte ich hinter mir ein
freundliches Rufen, welches mir stillzustehen befahl. Es war der Ton meines
Vaters—Ich Elende! kann ich denn nichts von ihm vergessen? Indem ich mich
nach der bekannten Stimme umsehen wollte, gleitete mein Fuß; ich wankte
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und sollte eben in den Abgrund herabstürzen, als ich mich, noch zur rechten
Zeit, von einer mir ähnlichen Person zurückgehalten fühlte. Schon wollte ich ihr
den feurigsten Dank abstatten, als sie einen Dolch aus dem Busen zog. Ich
rettete dich, schrie sie, um dich zu verderben! Sie holte mit der bewaffneten
Hand aus—und ach! ich erwachte mit dem Stiche. Wachend fühlte ich noch
alles, was ein tödlicher Stich Schmerzhaftes haben kann; ohne das zu
empfinden, was er Angenehmes haben muß: das Ende der Pein in dem Ende
des Lebens hoffen zu dürfen.
Merle geht zur Box, Steigerung Bregovic: Hauptthema, Folie ausziehen, Wasser
trinken, Bregovic unter folgendem Text:
Merle: Dieser Körper hier, der hat ständig irgendwelche Macken, dass man es
ihm nie recht machen kann. Dabei ist er so schön. Aber irgendwas ist immer.
Mal ist er müde, dann hungrig, dann wieder ganz aufgedreht, das Knie juckt,
obwohl man gerade dieses sehr hübsche Kleid mit dem furchtbar
unpraktischen Reifrock angezogen hat. Dann läuft die Nase, der Darm rumort
und bläht sich auf, bis das Kleid spannt und man diese sehr gut geschnürte
Korsage noch enger schnüren muss, und dann sind die Füße total kalt in
diesen sehr hübschen Schuhen, die aber leider kein warmes Innenfutter
haben. Ich wünsche mir ein Innenfutter für meine Pumps, auf der Stelle. Aber
bloß nicht aus Bärenfell. Ich bin nämlich absolut gegen die Verwendung von
Tierfellen. Da kann ich geradezu militant werden. Es darf aussehen wie echtes
Fell, aber ohne tierische Zusatzstoffe. Sonst hab ich keine Freude dran, weißt
du? Wo war ich jetzt gleich noch mal stehen geblieben? Ach ja, beim Körper.
Na, ich will doch mal sehen, dass ich den auf Vordermann bringe. Von außen
ist er ja sehr schön anzusehen, sagt meine Agentin immer, also, sie sagt
immer: „Du bist nicht so ganz klassisch schön, sondern ein bisschen kantig
schön, das verkauft sich aber hervorragend, besser als ganz klassisch, weil das
nicht langweilig wird, sondern eine ganze Palette von Bildern abdeckt.“ Aber
das alleine reicht nicht aus. Dieser Körper muss noch besser funktionieren. Ich
bin ja bereits alt, weil ich doch weiß, dass ich jung bin. Daher muss ich von
dieser Bewährungszeit profitieren und die paar rationalen Exzesse begehen,
21
die paar Abenteuer erleben, die für mein Alter vorgesehen sind, bevor meine
Jugendlichkeit verwelkt. Ich fände es übrigens toll, wenn alle Menschen schön
wären. Kann mir bitte die Technik mein Trainings-Pferd herein bringen? Danke!
Und, Musik bitte! Musik stoppt.
Lothar klingelt bei Merle.
Merle: Wer ist da?
Lothar: Der Bürgerchor aus der Nachbarschaft.
Merle: Ist gerade ganz schlecht.
Lothar: Ich bringe ein kleines Oster-Präsent von den Mädels. Darf ich kurz
reinkommen?
Merle: Das ist sehr reizend, aber gerade passt es nicht so gut. Ich hatte einen
ziemlich turbulenten Tag. Ich bin aus einem Stück abgehauen und... Ach, egal,
komm rein.
Der Chor kommt geschlossen in die Box. Merle sitzt auf der Toilette.
Dosenlachen, Luftschlangen und Konfetti, Party:
Musik 18: Schostakowitsch-Walzer
Chor tanzt aus der Box in den Raum, nach und nach Hasen-Masken holen.
Merle in der Box ins Mikro:
Ein Tanzbär war der Kett entrissen,
Kam wieder in den Wald zurück
und tanzte seiner Schar ein Meisterstück
auf den gewohnten Hinterfüßen...
„Seht“, schrie tanzend der Bär,
22
„das ist Kunst; das lernt man in der Welt.
Tut mir es nach, wenns euch gefällt,
und wenn ihr könnt!“
11.
Kapitel VII: Breslau zwischen Krieg und Spiel => Chor: von
Walzer zu Kriegs- und Spiellandschaft
Chor beginnt zu tanzen, das geht eine Weile zu Schostakowitsch-Walzer. In
den Schostakowitsch-Walzer:
Sprecher:
Meine Damen und Herren, faites vos jeux! Machen Sie Ihr Spiel! Die Einsätze
gehen an die Bank.
Aufruf an die Grenadiere des 3. Infanterie-Regiments von General
Braunschweig-Bevern: Bringen Sie sich für die Kanonade auf Breslau in
Stellung! Die Österreicher sind mit Haubitzen bis zur Stadtmauer
vorgedrungen. Gegenschlag um Mitternacht.
Merle (im Gold-Anzug in den Raum kommend ins Mikro): Guten Abend.
Herzlich Willkommen. Sehen Sie hier, meine Damen und Herren, das Deutsche
Nationaltheater, geht aufrecht, hat Rock und Hosen, hat einen Säbel! Der Has'
ist Soldat, ist noch nit viel, ist unterste Stufe von menschliche Geschlecht!
Sprecher:
Ich bitte den Chor der Zaubermädchen, sich für das Finale des 2. Aufzugs
„Untergang des Zaubergartens“ bereitzuhalten. Der Untergang steht bevor.
Chor setzt Masken auf. Schostakowitsch-Walzer geht über in KagelMarsch: Musik 19 Kagel-Marsch 6 Chor stellt sich um die Wand herum
auf. Merle marschiert, tanzt, raucht auf der Schräge.
23
Merle:
Zwischen Berg und tiefem, tiefem Tal
Saßen einst zwei Hasen,
Fraßen ab das grüne, grüne Gras
Fraßen ab das grüne, grüne Gras
Bis auf den Rasen.
Als sie sich nun satt gefressen hatten
Setzten sie sich nieder.
Bis daß der Jäger, Jäger kam,
Bis daß der Jäger, Jäger kam,
Und schoß sie nieder.
Meine Damen und Herren! Machen Sie Ihre Einsätze! Das Sterben beginnt! Es
ist sehr freundlich, dass Sie heute Abend hier erschienen sind. In diesem Raum
liegt etwas in der Luft. Können Sie es fühlen? Ist es ein Flirt? Ein Vertrag? Ein
Geschäft? Eine Projektion? Ein Wunder?
Musik stoppt. Einzelsprecher im Chor sprechen folgende Sätze ohne Musik:
Chorsprecher 1: Hier! Hier war das Tosen!
Chorsprecher 2: Waffen! Wilde Rüfe!
Chorsprecher 3: Mein Geliebter verwundet!
Chorsprecher 4: Wo finde ich den meinen?
Chorsprecher 5: Ich erwachte alleine.
Chorsprecher 6: Wohin entflohen sie?
Chorsprecher 7: Wo ist mein Geliebter?
Chorsprecher 8: Wo finde ich den meinen?
Chorsprecher 9: Wo sind unsere Liebsten? Wir sahen sie mit blutender Wunde.
Chorsprecher 10: Noch blutet die Waffe.
ALLE: Wir spielen nicht um Gold! Wir spielen nicht um Gold! Wir spielen nicht
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um Gold!
Musik 20: Kagel-Marsch 9
Musik Lessing-Porträt 2 (Müller) zu langsamem Kagel-Marsch / Der Chor sinkt
runter und setzt sich um die Mauer herum – Live-Kamera. Merle auf der
Schräge.
Ich bin 47 Jahre alt. Ich habe ein/zwei Dutzend Puppen mit Sägemehl gestopft,
das mein Blut war, einen Traum vom Theater in Deutschland geträumt und
öffentlich über Dinge nachgedacht, die mich nicht interessierten. Das ist nun
vorbei. Gestern habe ich auf meiner Haut einen toten Fleck gesehen, ein Stück
Wüste: das Sterben beginnt. Beziehungsweise: es wird schneller. Übrigens bin
ich damit einverstanden. Ein Leben ist genug. Ich habe ein neues Zeitalter
nach dem andern heraufkommen sehn, aus allen Poren Blut Kot Schweiß
triefend jedes. Die Geschichte reitet auf toten Gäulen ins Ziel. 30 Jahre lang
habe ich versucht, mit Worten mich aus dem Abgrund zu halten, brustkrank
vom Staub der Archive und von der Asche, die aus den Büchern weht, gewürgt
von meinem wachsenden Ekel an der Literatur, verbrannt von meiner immer
heftigeren Sehnsucht nach Schweigen. Ich habe die Taubstummen um ihre
Stille beneidet im Geschwätz der Akademien. Ich fange an, meinen Text zu
vergessen. Ich bin ein Sieb. Immer mehr Worte fallen hindurch. Bald werde ich
keine andere Stimme mehr hören als meine Stimme, die nach vergessenen
Worten fragt. Das sind meine Freunde. Seit einiger Zeit fange ich an, ihre
Namen zu vergessen. Vergessen ist Weisheit. Am schnellsten vergessen die
Götter. Schlafen ist gut.
Merle kommt von der Schräge runter. Auf Anschluss:
Musik 21: Marlene Dietrich nur mit Akkordeon
Merle singt Marlene Dietrich „Wenn ich mir was wünschen dürfte“
25
Man hat uns nicht gefragt,
als wir noch kein Gesicht,
ob wir leben wollen,
oder lieber nicht.
Jetzt gehe ich allein,
durch eine große Stadt,
und ich weiß nicht,
ob sie mich lieb hat?
Dann schau ich in die Stuben,
durch Tür und Fensterglas,
und ich warte, und ich warte,
auf etwas.
Wenn ich mir was wünschen dürfte,
käm ich in Verlegenheit,
was ich mir denn wünschen sollte,
eine schlimme, oder gute Zeit?
Wenn ich mir was wünschen dürfte,
möcht' ich etwas glücklich sein,
denn wenn ich gar zu glücklich wär',
hätt' ich Heimweh nach dem Traurigsein.
Menschenskind,
warum glaubst du bloß,
gerade dein Leid, dein Schmerz,
wären riesengroß,
Wünsch dir nichts!
26
Dummes Menschenkind,
Wünsche sind nur schön,
solang sie unerfüllbar sind.
Musik 22: Akkordeon-Solo während der Kamerafahrt
12.
Kapitel VIII: Nur keine Leere aufkommen lassen => Kamera-
Fahrt durch Schlaflandschaft
Merle (kommt im grünen Kleid in den Raum):
Nur keine Leere aufkommen lassen. Das ist das Land der Wunder. Das ist das
Haus der Freude. Das ist die Landschaft des Wunsches. Jetzt habe ich Wunsch
gesagt, und Sie haben wieder nur Tausch gehört. Aber das ist ja das ganze
Problem: dass wir alles vertauschen, dass wir die Dinge beim Namen nennen
und damit nichts erfassen. Dass wir einander die Wünsche ablauschen wollen,
aber die Namen sind alle so mickrig, die verraten uns nichts über die Wünsche.
Und dann ist da immer wieder diese Leere, die bloß nicht aufkommen darf.
Diese Leere, die da ist, weil alles so voll ist von den leuchtenden Bildern und
leeren Namen und toten Waren, die die riesigen Galerien füllen. Das ist nicht
zu ertragen, dass es da immer schon so voll ist, wo doch eigentlich alles leer
ist. Die Bilder sind uns völlig unverständlich. Was soll denn das sein, was die
Bilder sagen? Sie sagen ja gar nichts, sie zeigen doch bloß. Sie sind einfach da,
ohne Grund. Wir sind da, ohne Grund. Und wenn er nun gekommen, dieser
Augenblick... Was dann? Was dann? Nur keine Leere aufkommen lassen, hat
eine Kaufhausstimme neulich zu mir gesagt. Ein Kaufhaus, sagte sie, das ist
das Größte, was man sich vorstellen kann. Wieviel es braucht, bis ein Kaufhaus
an der Stelle entsteht, an der vorher nichts war, ist unvorstellbar. Ein echtes
Wunder. Es braucht alles, was wir heute sind, alles, was wir heute können,
alles, was wir heute haben. Hier und jetzt! Und was kann ich sein in diesem
alles, hier und jetzt, habe ich die Kaufhausstimme gefragt. Und sie hat mir
geantwortet: Du bist die Ware, die nicht verbrannt werden darf, ein Junges
Mädchen in einem sehr hübschen Kleid, das ihm ausgezeichnet steht. Drei
27
Jahrtausende und Milliarden von Existenzen waren nötig, um dich zu
erschaffen, um das alles hier zu erschaffen. Das hier wurde spätestens am 31.
März 2012 erschaffen. Aber das kann doch nicht alles sein. Das reicht mir
einfach nicht, das reicht mir nicht. Wir müssen das alles wieder neu erfinden,
um zu sehen, was da unterwegs liegen geblieben ist, aus Erschöpfung, aus
Angst. (Chor geht auf Position um die Kiste herum. Merle geht auf Schräge.)
Denn wir erzählen immer falsch. Und wie es wirklich gewesen ist, das ist
irgendwie nicht mehr zu ergründen. Das weiß keiner mehr. Dass etwas war,
das wissen wir. Aber wie war das noch mal genau? Wie war denn das noch mal,
als damals das Haus brannte und ich plötzlich im vierten Stock zitternd in der
Regenrinne stand? Wie bin ich da noch mal hingekommen? Ich weiß es nicht
mehr. Ich weiß nur, die Worte, die können das gar nicht: Etwas erinnern, eine
Zeit heraufbeschwören, einen Wunsch ausdrücken. Ein Wunsch ist keine
Orange. Wir sprechen nur, damit man uns ansieht. Aber Sätze sind doch keine
Augen. Wir müssen die Worte neu erfinden, damit sie etwas zu sagen haben.
Damit sie davon berichten können, wo die Körper überall gewesen sind. Dieser
Körper hier, wo der schon überall gewesen ist. Unvorstellbare Orte. Aber das
reicht mir nicht, das reicht mir einfach nicht. Neulich waren wir auf dem Dach
dieses Gebäudes, mit Blick aufs U, um in der Probenpause eine Zigarette zu
rauchen. Der Himmel war leer, hin und wieder brach die Sonne durch die
Wolken. Und beim Rückweg durch die Flure hörte ich hinter mir eine Stimme
ausrufen...
Sprecher:
Nur keine Leere aufkommen lassen.
Merle:
...während vor mir etwas aufleuchtete. Kennen Sie das auch: Je näher man ein
Bild ansieht, desto ferner sieht es zurück?
13.
Vision 4: Nathan/Hiob
Musik 23: Sound-Impro Vision 4
28
NATHAN
Ein Reitknecht hat vor achtzehn Jahren
mir ein Töchterchen gebracht von wenig Wochen.
Weil die Mutter kurz
vorher gestorben war; und sich der Vater
nach mein ich Gaza plötzlich werfen musste,
wohin das Würmchen ihm nicht folgen konnte.
Ihr wisst wohl aber nicht, dass wenig Tage
Zuvor in Gath die Christen alle Juden
Mit Weib und Kind ermordet hatten, wisst
wohl nicht, dass unter diesen meine Frau
CHOR
(7, nachdrücklich) Mit sieben hoffnungsvollen Söhnen
NATHAN
sich befunden, die in meines Bruders Hause
zu dem ich sie geflüchtet, insgesamt
verbrennen müssen
CHOR
(10) Verbrannt! • Verbrannt! • Verbrannt!
NATHAN
Ich hab drei Tag und Nächt in Asch
Und Staub vor Gott gelegen, und geweint –
CHOR
(6, leicht vorwurfsvoll) Geweint? • Beiher mit Gott auch wohl gerechtet, •
Gezürnt, getobt, dich und die Welt verwünscht,
29
NATHAN
Der Christenheit den unversöhnlichsten
Hass zugeschworen
Doch nun kam die Vernunft allmählich wieder
Sie sprach mit sanfter Stimm:
RECHA (mit leerer Stimme, Erinnerung des Traumas)
und doch ist Gott! Steh auf.
NATHAN
Ich stand und rief zu Gott: Ich will!
Willst du nur dass ich will!
Indem steigt just ein Klosterbruder
vom Pferd und überreichte mir das Kind
In einen Mantel eingehüllt
Ich nahm das Kind, trugs auf mein Lager
RECHA
Er nahm das Kind, trugs auf sein Lager
NATHAN
Küßt es, warf
mich auf die Knie und schluchzte: Gott! Auf sieben
Doch nun schon Eines wieder.
RECHA
Auf sieben,
Doch nun schon eines wieder.
RECHA
Auf sieben,
Doch nun schon eines wieder!
30
RECHA
(mehrmals) Bin Nathans Tochter nicht; er nicht mein Vater.
Wand fährt hoch. Mikros auf der Vorbühne für Chor!
14.
Kapitel IX: Nathan-Ende => Merle dirigiert unter der Wand den
Chor in der Box
Merle dirigiert den Schlusschor:
Sprecher: Meine Damen und Herren, damit steuert das Drama seinem
Höhepunkt entgegen. Die Ritter in ihren weißen Waffenröcken erscheinen vor
der Lichtung. Die Zaubermädchen haben sich im Garten aufgereiht. Auftritt ein
Mädchen in einem sehr hübschen Kleid. Erwartet wird der Erlöser.
Saladin:
Wer?
Nathan:
Rechas Bruder.
Saladin:
Rechas Bruder?
Nathan:
Ja!
Recha:
Mein Bruder? • So hab’ ich einen • Bruder?
Tempelherr:
Wo? • Wo ist er, dieser Bruder? Noch nicht hier? • Ich sollt’
ihn hier ja treffen.
Nathan:
Nur Geduld! •
Tempelherr:
Er hat ihr einen Vater aufgebunden ‘ wird Er keinen Bruder
für sie finden?
Sprecher: Jetzt herrscht Verwirrung. Wer ist der Erlöser?
Tempelherr:
Wer bin ich denn? (geflüstert)
Nathan:
Heißt Curd von Stauffen • nicht!
Tempelherr:
Wie heiß ich denn?
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Nathan:
Heißt • Leu von Filnek.
Tempelherr:
Wie?
Recha:
Wie?
Saladin:
Wie?
Nathan:
Wie?
Alle:
Wie?
Nathan:
Ihr stutzt?
Tempelherr:
Mit Recht! • Wer sagt das?
Nathan:
Ich • der mehr ’ noch mehr Euch sagen kann.
Sprecher: Dann sag es doch. Kein Mensch weiß mehr, mit wem er es zu tun
hat.
Nathan:
Eure Mutter die war eine Stauffin • Ihr Bruder, Euer Ohm, der
Euch erzogen • dem Eure Eltern Euch in Deutschland ließen ’
als von dem rauen Himmel dort vertrieben, Sie wieder
hierzulande kamen: • Der hieß Curd von Stauffen.
Tempelherr:
Was soll ich sagen? Nathan! Allerdings! So ist’s! Er selbst ist
tot. • Aber • aber • Was hat • mit diesem allen • Rechas
Bruder zu schaffen?
Recha:
Ja, mein Bruder!
Saladin:
Ja ’ ihr Bruder!
Alle:
Ihr Bruder
Nathan:
Seid Ihr!
Sprecher: Atemlose Spannung vor dem Finish des Zweiten Aufzugs. Wird die
Weltfamilie im schlafenden Deutschland, aus dem wir Ihnen diese Stimmen
heraufholen, wieder zusammenfinden und ihre Wunde schließen?
Tempelherr:
Ich? • Ich ihr Bruder?
Recha:
Er mein Bruder?
Saladin:
Geschwister!
32
Recha:
(zu Nathan) Kann nicht sein! Nicht sein! Sein Herz • weiß
nichts davon! Wir sind Betrüger! • Gott!
Saladin:
(zum Tempelherren) Betrüger? ’ Wie? ’ Das denkst Du? •
Kannst du denken? • Betrüger selbst! ’ Denn alles ist erlogen
an dir: • Gesicht und Stimm’ und Gang! • So eine Schwester
nicht erkennen wollen!
Tempelherr:
Ah! • Meine Schwester! ’ Meine Schwester!
Nathan:
Blanda von Filnek.
Tempelherr:
Blanda? • Blanda?
Saladin:
Blanda?
Recha:
Blanda?
Alle:
Blanda!
Sprecher: Meine Damen und Herren, sehen Sie das Mädchen auf der Lichtung:
Sein Name ist Hase, es weiß Bescheid. Das Ende ist unvermeidlich, denn so
steht es geschrieben.
Saladin:
Sie sind’s! Sie sind es, sind’s! Seid beide meines Bruder’s
Kinder!
Tempelherr:
Ich deines Bluts! • So waren jene Träume ’ womit man meine
Kindheit wiegte, doch ’ Doch mehr als Träume!
Saladin:
Seht den Bösewicht! • Er wusste was davon, und konnte mich
zu seinem Mörder machen wollen • Wart!
Nathan:
Zum Mörder machen wollen!
Recha:
Zum Mörder?
Saladin:
Zum Mörder?
Nathan:
Mörder!
Alle:
Mörder, Mörder, Mörder ...
Box fährt Nathan nach unten, Mauer geht runter. Saladin und Tempelherr
gehen durch die Seiten in den Zuschauerraum.
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Musik 24: Parsifal-Zitat beginnt in dem Sprechertexten, steigert sich
bis Ende Box fährt runter.
Sprecher: Wie durch ein Erdbeben versinkt das Schloss; der Garten verdorrt
zur Einöde: die Mädchen liegen als verwelkte Blumen am Boden. Das Junge
Mädchen verlässt die Lichtung. Die Erlösung ist aufgeschoben. Deutschland
schläft noch immer. In den Schlaf mischen sich Bilder eines wirren Traums. Die
Nacht ist unruhig. Bald wird es aufwachen. Nach einer Pause von fünf Minuten
beginnen wir mit dem dritten Aufzug.
Musik 25: Solo auf Eisernem Vorhang beginnt aus Parsifal heraus
Merle geht mit rosa Pferd und Hase zum Eisernen Vorhang, wo ihre Box
verschwunden ist. Carsten spielt das Solo auf dem Eisernen Vorhang zu Ende
und geht ab, wenn dieser sich hebt. Merle stellt den Sound vom Pferd an.
Chor, Bär und Musiker sitzen im Zuschauerraum. Merle steht mit Pferd und
Hasen einen Moment lang auf der Bühne im Dosen-Applaus des Hörspiels
(Lynch). Dann stellt sie das Pferd in die Mitte der Bühnenrampe und setzt sich
in den Zuschauerraum. Hörspieltext beginnt.
Mein Name ist Gotthold Ephraim Lessing. Ich bin 283 Jahre alt. Ich bin
wahrlich nur eine Mühle, und kein Riese. Da stehe ich auf meinem Platze, auf
einem Sandhügel allein, und komme zu niemandem, und
helfe niemandem, und lasse mir von niemandem helfen. Ich habe mit dem
Glück der Welt nichts zu schaffen, man verschone mich mit Berichten über ihr
Unglück. Wen meine Flügel in die Luft schleudern, der hat es sich selbst
zuzuschreiben: auch kann ich ihn nicht sanfter niedersetzen, als er fällt. Er fällt
auf eigene Kosten.
(Dosenlachen Lynch)
Vater, es ist Zeit. Es warten schon alle.
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Hinter mir schwemmt Vergangenheit an, Geröll, mit Lärm wie von begrabnen
Trommeln. Da stehe ich auf dem allzu schnell verschütteten Stehplatz. Ich
werde warten, bis das erneute Rauschen der Flügelschläge sich in Wellen durch
den Stein fortpflanzt und meinen Flug anzeigt.
(Applaus)
Vater, geht es bald los? Alle warten.
Ich hoffe im Übrigen, das wird kein Hoppel-Poppel wie beim letzten Mal. Wir
sind hier in der Tragödie.
Bugs Bunny-Song. Der rote Vorhang schließt sich. Ende.
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