1. Vorwort - diplomarbeit2010

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Diplomarbeit
Nachdiplomstudium „Unterricht an Realklassen
Studiengang 2008-2010
Mathematikunterricht an der
Mehrjahrgangsklasse
Altersgemischtes Lernen in Mathematik ohne Nachteile
für die Berufsausbildung
04. Juni 2010
eingereicht bei
Michael Renfer, Dozent, Schwerpunkt Mathematik
PH Bern, Institut Sekundarstufe 1
Peter Boss
Schulhaus
3782 Lauenen
Johannes Nydegger
Lindehus
3780 Gstaad
Mathematikunterricht an der Mehrjahrgangsklasse
Altersgemischtes Lernen in Mathematik ohne Nachteile für die Berufsausbildung
Inhaltsverzeichnis
1.
Vorwort ............................................................................................................. 4
2.
Einleitung .......................................................................................................... 6
2.1.
Thema und Schulsituation der Autoren ........................................................ 6
2.2.
Fragestellungen............................................................................................ 8
2.3.
Hypothesen .................................................................................................. 9
2.4.
Begriffserklärungen .................................................................................... 10
3.
Theorie ............................................................................................................ 11
3.1.
Vorteile und Nachteile der Mehrjahrgangsklasse (Peter Boss) .................. 11
3.2.
Didaktik des integrativen Unterrichts / sinnvolle Organisation (Johannes
Nydegger) .................................................................................................. 17
3.3.
Ungleichheit als Herausforderung (Johannes Nydegger) ........................... 24
3.4.
Kompetenzen/Ausbildung der Lehrperson (Peter Boss) ............................ 29
3.5.
Geschichte des Mehrstufenunterrichts: Maria Montessori, Peter Peterson
(Peter Boss) ............................................................................................... 34
3.6.
Altersgemischte Lerngruppen (Johannes Nydegger) ................................. 39
3.7.
Umgang mit Mehrjahrgangsklassen im Unterricht (Johannes Nydegger) .. 42
3.8.
Erfahrungen des Mehrklassenunterrichts in anderen Ländern (Peter
Boss) .......................................................................................................... 46
3.9.
Pädagogische Gründe für eine Mehrjahrgangsklassenschule (Johannes
Nydegger) .................................................................................................. 49
4.
Praxis .............................................................................................................. 51
4.1.
Vorüberlegungen ........................................................................................ 51
4.2.
Umfrage mit Auswertung: Umfrage bei Jahrgang 1992 betreffend Leistung
Math von 8. Klasse bis Lehre ..................................................................... 53
4.2.1. Schulbesuch der letzten drei obligatorischen Jahre................................ 53
4.2.2. Verwendung des neuen mathbu.ch ........................................................ 54
4.2.3. Wechsel in die Berufsschule im Fach Math ............................................ 55
4.2.4. Mathvorbereitung für die Lehre ............................................................... 57
4.2.5. Charakterisierung der Mathlehrperson ................................................... 59
4.2.6. Beeinflussung der Berufswahl durch die Mathnoten ............................... 61
1
4.2.7. Mathnoten 8. / 9. Klasse und Zwischenjahr / Lehre ................................ 63
4.2.8. Persönliche Einschätzung des Mathwissensstandes.............................. 74
4.3.
Ergebnisse, Analyse, Diskussion ............................................................... 77
4.4.
Auswertung Tandembesuche ..................................................................... 78
5.
Konsequenzen für die Zukunft...................................................................... 86
5.1.
Eigener Unterricht ...................................................................................... 86
5.2.
Praktische Tipps ............................................ Error! Bookmark not defined.
5.3.
Fazit ........................................................................................................... 86
5.4.
Ausblick ......................................................... Error! Bookmark not defined.
5.5.
Zukunftsvisionen ........................................................................................ 87
6.
Literaturverzeichnis ....................................................................................... 96
7.
Bildernachweis ............................................................................................... 98
2
Abstract
Im Rahmen der NDS Ausbildung mit Schwerpunkt Mathematik wurde an beiden
Realschulen der Autoren (Turbach und Lauenen) die vorliegende Thematik über
Mehrjahrgangsklassen untersucht. Als Schwerpunkt wurde das Thema Mathematik
an der Mehrjahrgangsklasse gewählt, da beide Autoren selber Mathematik an
altersgemischten Oberstufen unterrichten.
Im Zentrum der Untersuchung stand eine anonyme Befragung unter Jugendlichen
des Jahrgangs 1992, bei der gezielt Informationen zu relevanten Punkten zum
Thema altersgemischtes Lernen und dessen Auswirkung für die Lehre
(Sekundarstufe 2) im Fach Mathematik gesammelt wurden.
Der theoretische Teil behandelt die Thematik aus der Sicht von Personen, die über
ähnliche Themen schon geschrieben haben. Die Autoren haben relevante
pädagogische, didaktische, historische, globale und strukturbedingte aktuelle
Informationen zum Thema gesammelt und ausgewertet
Im praktischen Teil werden die Informationen zu den Fragen Mehrklassigkeit,
Lehrmittel, Wechsel in die Berufsschule, Vorbereitung für die Lehre, Beeinflussung
der Berufswahl, Noten von achter Klasse bis zweites Lehrjahr sowie momentane
Standortbestimmung jeweils in Bezug auf Mathematik zusammengestellt, dargestellt,
analysiert und interpretiert. Das Fazit der Untersuchung verifiziert die eingangs
formulierten Hypothesen vollumfänglich in ihrer Aussage und unterstreicht die
Berechtigung Mehrjahrgangsklassen weiterhin zu führen.
In einem persönlichen Teil werden anschliessend die Auswirkungen für den eigenen
Unterricht sowie visionäre Gedanken dargelegt. Die Autoren hoffen damit, einen
Nerv der Zeit in Bezug auf ein bildungsrelevantes Thema getroffen zu haben.
3
"Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen."1
1. Vorwort
In Nordamerika werden Schülerinnen und Schüler grossräumig von Schulbussen
eingesammelt und zu einer zentralen Bildungsstätte gekarrt, wo sie dann ihren
Tagesablauf strukturiert mit Unterricht, Aufgabenzeit und Pausen absolvieren. Am
späteren Nachmittag schliesslich fahren dieselben gelben Busse die gleiche Route in
der entgegengesetzten Richtung um die Schülerinnen und Schüler wieder nach
Hause zu bringen. In Australien sind die Distanzen zur nächsten Schule oft noch
schwieriger zu bewältigen als in Nordamerika. Deshalb findet man hier nebst den
Bildungsinstitutionen häufig auch die Möglichkeit für Fernunterricht, bei welchem mit
viel Selbststudium die einzelnen Unterrichtseinheiten zu Hause gemeistert werden.
Noch mehr losgelöst und ebenfalls beliebt auf beiden Kontinenten ist das
„Homeschooling.“ Bei diesem Konzept schliessen sich oft benachbarte Familien
zusammen und unterrichten ihre Kinder gemeinsam zu Hause. Die „Homeschooling“
Familien stehen in engem Kontakt mit einer öffentlichen Schule, welche das
Lernmaterial zuschickt und überprüft, ob die Ziele des Lehrplans eingehalten
werden.
Wie aber sieht es in der Schweiz aus? Auch in der Schweiz gibt es tatsächlich
Gemeinden, die ihre Kinder mit Schulbussen herumfahren müssen.2 Ebenfalls finden
sich wenige Familien, die ihre eigenen Kinder zu Hause zu unterrichten, was
allerdings mit einem relativ grossen, bürokratischen Aufwand verbunden ist. Es
stehen also beide Alternativen zur Verfügung, werden aber nur selten genutzt, denn
grundsätzlich hat sich die Schweiz dafür entschieden, die Verantwortung der
schulischen Grundbildung jeder Gemeinde selber zu übertragen. Daher haben auch
die meisten Gemeinden ihr eigenes Schulhaus um den Kindern möglichst nahe von
ihrem Zuhause eine Ausbildungsstätte zu bieten. Der sinkende Kinderdurchschnitt
pro Familie in den letzten Jahrzehnten aber hat zur Folge, dass insbesondere kleine
Schulen neu organisiert werden müssen. Topografische Begebenheiten im alpinen
1
Johann Wolfgang von Goethe, Faust, Hrsg. Albrecht Schöne, (Frankfurt am Main: Deutscher
Klassiker Verlag, 1994): I Vers 97.
2 Es wird hier nur die Situation der obligatorischen Schulzeit angesprochen. Häufig müssen
Schülerinnen und Schüler ab der Sekstufe 1 die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen um zum
nächsten Oberstufenzentrum zu gelangen. Dies kann aber ohnehin nicht mit dem System der
Schulbusse in anderen Ländern verglichen werden. Reine Schulbusse sind in der Schweiz die
Ausnahme.
4
Raum wie dem Berner Oberland erschweren es den einzelnen Gemeinden
zusätzlich, nach gemeinsamen Lösungen zu suchen für das Problem rückläufiger
Kinderzahlen. Lauenen könnte zum Beispiel problemlos mit der Nachbargemeinde
Gsteig zusammenarbeiten um sinnvolle Klassengrössen zu erreichen. Die
Entfernung zwischen beiden Orten beträgt kaum mehr als vier Kilometer, doch der
Bergkamm, welcher die beiden Gemeinden voneinander trennt, verunmöglicht eine
solche Zusammenarbeit. Der Schulweg würde zwingend über Gstaad führen, was
von der Strecke her nach bernischem Gesetz unzumutbar ist.
Die pragmatische Lösung für topografische Schwierigkeiten und rückläufige
Kinderzahlen ist, dass man aus mehreren Jahrgängen eine einzige Klasse bildet. Im
Extremfall kann dies zu Gesamtschulen führen, an denen bloss eine einzige Klasse
unterrichtet wird. Die beiden Autoren dieser Arbeit unterrichten selber an kleinen
Schulen, welche diese Veränderungen miterlebt haben und schon seit längerer Zeit
nur noch Mehrjahrgangsklassen anbieten. Da kaum andere Lösungen gefunden
werden können, geht es in den nachfolgenden Erforschungen nun darum, gezielt das
Modell der Mehrjahrgangsklassen zu untersuchen und dessen Berechtigung zu
hinterfragen. Sollte sich zeigen, dass Schülerinnen und Schüler von
Mehrjahrgangsklassen allgemein nach dem neunten Schuljahr frappante Lerndefizite
aufweisen, wäre es höchste Zeit, entsprechende Anpassungen vorzunehmen und
andere Modelle zu prüfen. Sollte sich aber herausstellen, dass Schülerinnen und
Schüler von Mehrjahrgangsklassen nach dem neunten Schuljahr besser gerüstet in
die Berufswelt einsteigen, müsste man sich Gedanken machen, ob dieses Modell
nicht bloss topografisch, sondern auch pädagogisch begründbar wäre und ob man
deshalb die Bildungslandschaft der Schweiz ganz neu überdenken müsste.
Im Kern aber soll es nicht darum gehen das ganze Bildungssystem umzukrempeln
sondern die eigene Schule kritisch zu durchleuchten mit dem Ziel, das Modell der
Mehrjahrgangsklassen als eine von mehreren Möglichkeiten zu legitimieren.
Um die Rahmenbedingungen der Arbeit nicht zu sprengen, beschränkt sich diese
Arbeit hauptsächlich auf eine Untersuchung im Fachbereich Mathematik.
5
2. Einleitung
2.1. Thema und Schulsituation der Autoren
Thema: Als Lehrer von altersgemischten Klassen in einer Randregion müssen wir
uns immer wieder der Frage stellen, ob der Unterricht an Mehrjahrgangsklassen
heute noch als zeitgemäss angesehen werden kann. Insbesondere interessiert uns
die Frage, inwieweit der heutige Mathematikunterricht in Mehrjahrgangsklassen sich
auf die Berufsausbildung auswirkt. Diesem Sachverhalt wollen wir im Berner
Oberland und speziell im Saanenland nachgehen.
Ausgangslage in Lauenen (Peter Boss): Unsere Schule besteht schon seit längerer
Zeit aus Mehrjahrgangsklassen. Die schwankenden Kinderzahlen haben dazu
geführt, dass nicht immer die gleichen Jahrgänge zu Lerngruppen zusammengefasst
werden konnten, aber grundsätzlich sind immer mindestens zwei Jahrgänge zu einer
Klasse zusammengefügt. Einzige Ausnahme bildeten zwei geburtenstarke
Jahrgänge, welche während zweier Jahre als Jahrgangsklassen geführt werden
konnten.
Zum jetzigen Zeitpunkt besteht die Schule aus einem Kindergarten, drei
Primarklassen und einer Realklasse.3 In naher Zukunft aber müssen die
Schulstrukturen neu durchdacht werden, da die Kinderzahlen auch in Lauenen
rückläufig sind. Dies wird sich kaum plötzlich ändern, da wegen unerschwinglichen
Wohneigentumspreisen und nur wenigen, teuren Mietwohnungen nicht mit einer
Welle von kinderreichen Familienzuzügen zu rechnen ist. Hinzu kommt die Tatsache,
dass bei den Eltern ein Umdenken in Bezug auf die Sekundarschule in Gstaad
stattgefunden hat. Während noch vor sieben Jahren bei meinem Stellenantritt die
Sekundarschule kaum als Ausbildungsoption betrachtet wurde, ist es heute der
Wunsch vieler Eltern, ihre Kinder die Stufe Sek 1 auf Sekundarschulniveau
absolvieren zu lassen im Wissen darum, dass die Chancen für die Berufswahl mit
einem höheren Schulabschluss oft besser sind. Dies führte dazu, dass unsere
Realschule nun bis an den unteren Überprüfungsbereich geschrumpft ist und
längerfristig auf diese Weise nicht weitergeführt werden kann.
3
Die Zusammensetzung der einzelnen Klassen sieht folgendermassen aus: 1./2. Klasse, 3./4. Klasse,
5./6. Klasse, 7. - 9. Klasse.
6
Mehrjahrgangsklassen sind also an unserer Schule nicht aus einem pädagogischen
Bewusstsein sondern aus einer demografischen Notwendigkeit heraus entstanden.
Als Schulleiter und Teilpensenlehrer an der Realschule bin ich nun gefordert,
mögliche Strukturen zu durchdenken um dann gemeinsam mit den Behörden die
nötigen Schritte einzuleiten und umzusetzen. Die Auflagen der Inspektorin dazu sind
klar: Innerhalb des nächsten Schuljahres müssen wir die Weichen für die Zukunft der
Schule Lauenen stellen. Da innerhalb der Gemeindegrenzen keine weiteren Schulen
vorhanden sind, mit denen wir eine gemeinsame Lösung anstreben könnten und
auch die Nachbargemeinde Saanen kaum daran interessiert ist uns Schüler aus
ihrem Kreis abzugeben, bleiben eigentlich nur zwei sinnvolle 4 Alternativen zur
Auswahl. Entweder trennen wir uns ganz von der Realstufe mit der Folge, dass wir
auf absehbare Zeit weiterhin mit nur zwei Jahrgängen pro Klasse unterrichten
können, oder aber wir wagen den Schritt zu Mehrjahrgangsklassen, die drei oder
sogar vier Jahrgänge pro Klasse einschliessen. Der Entscheid liegt noch vor uns,
und es ist mir ein grosses Anliegen, Erkenntnisse aus dieser Arbeit direkt in den
Entscheidungsprozess einfliessen zu lassen.
Ausgangslage in Turbach (Johannes Nydegger): Da Traditionen im Turbach sehr
wichtig sind, möchte ich zuerst einige Worte über die Geschichte unserer Schule
verlieren. Seit 1644 wird im Saanenland eine öffentliche Schule geführt. Im Turbach,
einem kleinen Seitental mit ca. 70 Postadressen, war sie bis 1865 im Haus des
Naglers untergebracht. Bis 1925 wurde sie am alten Standort beim Mattengässli als
Gesamtschule geführt. Seit dem Bau des “neuen” Schulhauses am jetzigen Platz ist
sie in eine Unter- und Oberschule aufgeteilt5 und besitzt seit der Erweiterung von
1977 eine Turnhalle mit Theaterbühne und genügend Nebenräumen. Wie erwähnt ist
dieser Werdegang der “Turbachperson” wichtig. Sie hält aus einem gesunden
landwirtschaftlichen Hintergrund stark an den gewachsenen Schultraditionen fest.
Zudem haben starke Persönlichkeiten aus dem Tal sowie zugewanderte Lehrer
jahrzehntelang die Schule geprägt und ihren Ruf weit über die Kantonsgrenzen
hinaus getragen. Der Einheimische Ernst Frautschi hat während 42 Jahren als
4
Leider lässt sich mein Lösungsvorschlag, ein Tunnel Gsteig-Lauenen-Lenk-Adelboden aus
finanziellen Gründen kaum durchführen, wäre aber eigentlich ideal, denn auf diese Weise könnten
Schülerinnen und Schüler nach Bedarf schnell und unkompliziert von einer Gemeinde zur anderen
transportiert werden.
5 Die Zusammensetzung sieht folgendermassen aus: Unterschule 1. - 4. Klasse, 13 Schulkinder, kein
Ausländeranteil, 46 % Kinder aus der Landwirtschaft. 5. - 9. Klasse, 17 Schulkinder. kein
Ausländeranteil, 82 % Kinder aus der Landwirtschaft.
7
Lehrer an der Gesamtschule gewirkt. Besonders das Theater Spielen hat in diesem
bäuerlich dominierten Tal eine grosse Tradition. Nicht zuletzt haben praktisch alle
Einheimischen unter meinem Vorvorgänger eine fundierte Theatereinführung
genossen.
Wie anderswo sind auch hier die Kinderzahlen in letzter Zeit eher etwas rückläufig.
Da nur ganz wenige Mietwohnungen angeboten werden, ist in naher Zukunft nicht
mit einem starken Anstieg der Kinderzahlen zu rechnen.
Die Tatsache, dass bei den Eltern in Bezug auf die Sekundarschule in Gstaad immer
noch ein gewisser Vorbehalt vorhanden ist, liess seit Jahrzehnten viele Kinder in der
Bäuertschule bleiben.
Die kantonale Anpassung der Ferienordnung an die Stadt Bern mit 5 Wochen (dank
örtlicher Einsprache lokal erhöht auf 7 Wochen) wird sicher auch einiges verändern.
Wenn man weiss, dass vor gut zehn Jahren noch 13 Wochen Sommerferien die
Regel waren und ein Grossteil der Eltern (7. - 9. Klasse 100 %) in der Landwirtschaft
tätig sind, muss in Zukunft eher mit einem höheren Sekundarschulanteil gerechnet
werden.
So ist es durchaus möglich, dass die Realschule schon bald bis zum unteren
Überprüfungsbereich schrumpfen und längerfristig auf diese Weise eventuell nicht
weitergeführt werden könnte.
In zwei Kilometern Entfernung befindet sich zudem die Bäuertschule Bissen, die aber
durch 2 markante Gräben vom Turbach getrennt ist. Es fährt im Moment noch sechs
Mal pro Tag ein Postauto, doch ist auch in diesem Bereich von einem
Angebotsabbau die Rede.
Eine Verlegung der Realschule an einen anderen Standort käme einer extremen
Veränderung des bestens bekannten und beliebten Schullebens gleich.
Während Jahren hat besonders mein Vorvorgänger einige verhaltensauffällige aus
andern Bäuerten stammende Kinder in der Turbachschule unterrichtet und so
knappe Jahre gut überbrückt. Ob aber bei erhöhten Mindestschülerzahlen, wie sie
die Erziehungsdirektion momentan von den Gemeinden fordert, ein Weiterbestehen
der Turbachschule gesichert ist, bleibt unklar.
2.2. Fragestellungen
Schon bei der ersten gemeinsamen Besprechung im Zweierteam einigten wir uns
darauf, dass unsere Diplomarbeit sich mit unserer speziellen Situation als kleine
8
Schulen in einer Randregion beschäftigen muss. So brauchten wir denn auch nicht
lange um auf das vorliegende Thema zu kommen, zu welchem wir uns vertieft
Gedanken machen wollten. Es stand auch von Anfang an fest, dass die Diplomarbeit
nicht einfach eine Fleissarbeit werden sollte, die nach erfolgreichem Abschluss in
einer Schublade verschwinden würde. Wir sind beide der Meinung, dass solche
zeitaufwändige Projekte einen direkten Nutzen für den eigenen Unterricht haben
müssen. Aus diesem Grund haben wir uns dafür entschieden unseren eigenen
Mathematikunterricht in Mehrjahrgangsklassen zu untersuchen, insbesondere im
Hinblick auf die Berufsbildung der Schülerinnen und Schüler, welche ihre
obligatorische Schulzeit in Mehrjahrgangsklassen absolviert haben. Dabei sind die
folgenden zentralen Fragen aufgetaucht:
- Wie stehen Schülerinnen und Schüler aus Mehrjahrgangsklassen im Fach
Mathematik auf der Sekundarstufe 2 im Vergleich zu Schülerinnen und
Schülern aus altershomogenen Klassen da?
- Wie gut ist die Grundlage, welche das mathbu.ch für eine Lehre derjenigen
Berufe bietet, in denen Math Lernbestandteil ist?
- Führt der gleichzeitig durchgeführte thematisch gruppierte
Mehrjahrgangsklassenunterricht zu einer Effizienzsteigerung im Bezug auf die
Vorbereitung, Durchführung und Nachbearbeitung einer Unterrichtseinheit?
2.3. Hypothesen
Aus der Fragestellung heraus und aufgrund der eigenen Erfahrungen haben wir die
folgenden drei Hypothesen aufgestellt:
- Schülerinnen und Schüler aus Mehrjahrgangsklassen sind in der Mathematik
auf der Stufe Sek 2 nicht benachteiligt.
- Das mathbu.ch bietet eine gute Grundlage für eine Lehre (Stufe Sek 2)
derjenigen Berufe, in denen Math relevant ist.
- Thematische Gruppierung in Mehrjahrgangsklassen führt zu effizientem
Unterricht (Vorbereitung, Durchführung, Nachbearbeitung).
9
2.4. Begriffserklärungen
Jahrgangsklassen: Schülerinnen und Schüler von Jahrgangsklassen gehören der
gleichen Altersgruppe an (normalerweise innerhalb von zwei Jahrgängen). Bei
einzelnen Kindern kann es vorkommen, dass sie ein Jahr älter oder jünger sind, weil
sie eine Klasse wiederholt oder übersprungen haben oder früher beziehungsweise
später eingeschult worden sind. Sie behandeln aber die gleichen Inhalte wie ihre
Mitschülerinnen und Mitschüler. Der Jahrgangsklasse liegt die Idee zugrunde, dass
eine homogene Lerngruppe die Voraussetzung für effizientes Lernen ist.
Mehrjahrgangsklassen: Schülerinnen und Schüler verschiedener Altersstufen werden
zu einer Klasse zusammengefasst. Oft geschieht dies aus demographischen
Gründen, da zu wenig Kinder vorhanden sind um sie in Jahrgangsklassen zu
unterrichten. Es gibt aber auch Schulen, die aus pädagogischen Überlegungen
bewusst die Form der Mehrjahrgangsklassen wählen. Die extremste Form einer
Mehrjahrgangsklasse ist die Gesamtschule, in welcher alle Kinder der ersten bis
neunten Klasse im gleichen Schulzimmer gemeinsam unterrichtet werden.
Altersgemischtes Lernen: Ältere und jüngere Kinder arbeiten und lernen gemeinsam
miteinander. Die Heterogenität einer Lerngruppe wird bewusst eingesetzt als
Qualitätsmerkmal des Unterrichts. Es wird also nicht nur miteinander sondern auch
voneinander gelernt. Dieses gemeinsame Lernen findet sowohl auf der kognitiven
wie auch auf der sozialen Ebene statt. Es ist zu beachten, dass altersgemischtes
Lernen nicht automatisch in jeder Mehrjahrgangsklasse stattfindet. Schülerinnen und
Schüler können auch in Mehrjahrgangsklassen jahrgangsweise unterrichtet werden,
je nach dem wie die Lehrperson ihren Unterricht organisiert. Es kommt also stark
darauf an, was eine Lehrperson einer Mehrjahrgangsklasse aus der Chance zum
altersgemischten Lernen macht. Schliesslich liegt es in der Hand der Lehrperson, wie
stark altersgemischtes Lernen in ihrer Mehrjahrgangsklasse umgesetzt wird.
10
3. Theorie
3.1. Vorteile und Nachteile der Mehrjahrgangsklasse (Peter Boss)
In der schweizerischen Bildungslandschaft findet man zwei vorherrschende
Klassenmodelle: Jahrgangsklassen und Mehrjahrgangsklassen.6 Bei
Jahrgangsklassen ist das biologische Alter der massgebende Faktor für die
Klassenbildung. Knaben und Mädchen eines bestimmten Jahrgangs werden zu einer
Klasse zusammengefasst. Diese „…Einteilung der Schülerschaft eines
Altersjahrganges in Jahrgangsklassen geht auf die Ökonomisierung und
Rationalisierung des Schulwesens nach der Einführung der allgemeinen Schulpflicht
im 19. Jahrhundert zurück.“7 Dabei werden auf das Alter bezogene homogene
Gruppen gebildet, bei denen zumindest theoretisch auch die Entwicklungsstufen
gleich sind. In der Praxis merkt man dann allerdings bald einmal, dass gleiches
biologisches Alter nicht automatisch auch gleiche Entwicklungsstufe bedeutet.
Mehrjahrgangsklassen berücksichtigen bei der Klasseneinteilung ebenfalls das
biologische Alter, ermöglichen aber eine natürliche Durchmischung von mehreren
Jahrgängen, was zu einer altersmässig heterogenen Zusammensetzung von Knaben
und Mädchen führt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Mehrstufigkeit allein nicht
einfach gleichgesetzt werden darf mit mehreren Jahrgängen in derselben Klasse, die
dann aber trotzdem strikte altershomogen unterrichtet werden. Hager definiert das
Prinzip der Mehrstufigkeit als „…ein prinzipielles Miteinander, das nur für
Teilbereiche aufgehoben wird.“8 Grundsätzlich werden also Unterrichtsinhalte mit
allen Altersstufen gleichzeitig erarbeitet. Dabei berücksichtigt die Lehrperson die
unterschiedlichen Entwicklungsstadien der Kinder und schafft entsprechend
differenzierte Zugänge und Bearbeitungsmöglichkeiten der Inhalte.
In diesem Kapitel geht es nun darum, Vorteile und Nachteile des Unterrichts an einer
Mehrjahrgangsklasse zu erläutern um zu prüfen, ob diese Art der
Klassenzusammensetzung weiterhin als echte Alternative zu dem gängigen Modell
der Jahrgangsklasse propagiert werden kann.
In der Literatur wird auch der Begriff „Mehrstufenklasse“ verwendet als Synonym für
Mehrjahrgangsklasse.
7 Christina Hager, „Lernen in Mehrstufenklassen“, Erziehung und Unterricht, Januar/Februar 04: S. 40.
8 Ibid.: S. 44. Die angesprochenen Teilbereiche beziehen sich auf Fächer und Unterrichtsinhalte, die
zwingend auf Vorwissen aufbauen wie zum Beispiel Französisch. Auch die Vorbereitung für Übertritte
an eine höhere Schulstufe werden üblicherweise in altershomogenen Lerngruppen durchgeführt.
6
11
Das wohl pragmatischste Argument für Mehrjahrgansklassen stützt sich auf ein
Problem, mit dem die meisten Schulen zu kämpfen haben—rückläufige
Kinderzahlen. Gemäss den Richtlinien für die Schülerzahlen9 des Kantons Bern liegt
der Überprüfungsbereich für Klassenschliessungen bei Regelklassen mit mehreren
Jahrgängen tiefer als bei Jahrgansklassen. Bildet man also aus Jahrgangsklassen
Mehrjahrgangsklassen, können bis zu einem gewissen Grad sinkende Schülerzahlen
aufgefangen werden. Demografische Veränderungen sind aber nicht der einzige
Grund für die Führung von Mehrjahrgangsklassen. Die Argumente für
altersgemischtes Lernen liegen vor allem im sozialen Bereich.
Urech schreibt: „Mehrere Studien belegen, dass ADL-Kinder10 eine positivere
Einstellung zur Schule aufweisen, ebenso Achtung vor sich selber und gegenüber
Klassenkameradinnen und –kameraden, geringere Angst sowie einen positiveren
Blick auf die Zukunft.“11 Gegenüber Jahrgangsklassen scheinen also Kinder in
heterogenen Gruppen sich im Allgemeinen wohler zu fühlen. Auch wenn nach Urech
im Leistungsbereich keine nennenswerten Unterschiede feststellbar sind, wenn
Jahrgangsklassen und Mehrjahrgangsklassen miteinander verglichen werden, ist
doch die positive Einstellung gegenüber der Schule ein wichtiger Faktor, der sowohl
Motivation wie auch Wohlbefinden eines Kindes massgeblich beeinflusst.
Ebenfalls bedeutsam sind die besseren sozialen Entwicklungs- und
Erfahrungsmöglichkeiten in der Schule. Die Mehrjahrgangsklasse bietet
insbesondere für Einzelkinder einen Mehrwert bei Erfahrungsmöglichkeiten, die in
der Familie fehlen. „Angesichts der steigenden Zahl von geschwisterlos
aufwachsenden Kindern ist anzunehmen, dass die im Familienverband nicht
vorhandene Gelegenheit, Erfahrungen im Umgang mit älteren und jüngeren Kindern
zu sammeln, sich als Defizit für das soziale Lernen erweisen könnte.“12 Bei
Mehrjahrgangsklassen besteht die Möglichkeit dieses Defizit auszugleichen. Aber
auch für Kinder mit Geschwistern kann grundsätzlich festgehalten werden, dass
Sozial- und Selbstkompetenz in Mehrjahrgansklassen stärker gefördert werden.13
Während in Jahrgangsklassen Freundschaften oft nur innerhalb der gleichen
Altersgruppe entstehen, ermöglicht die Mehrjahrgangsklasse eine Öffnung dieser
9
__________, Richtlinien für die Schülerzahlen, ERZ Bern, August 2006: S. 1.
ADL steht für „altersdurchmischtes Lernen“.
11 Christa Urech, „Altersdurchmischtes Lernen—Mehrwert durch Mehrklasse“, Vortrag an der
Lehrerinnen und Lehrerkonferenz des Kantons AG, (23.11.2006).
12 Hager: S. 45.
13 Urech: S. 30.
10
12
Altersgrenzen. Es fällt Kindern einer Mehrjahrgangsklasse einfacher, soziale
Beziehungen zu Älteren oder Jüngeren zu pflegen. Es wurde ebenfalls festgestellt,
dass auch Rangordnungen in Mehrjahrgangsklassen wesentlich flexibler sind als in
Jahrgangsklassen.14 Dies wiederum kann sich positiv auf die Teamfähigkeit des
Einzelnen auswirken.
Auch die Vorbildfunktion der älteren Kinder in einer Mehrjahrgangsklasse ist nicht zu
unterschätzen. Die Motivation etwas lernen zu wollen, kann einen positiven Effekt auf
die jüngeren Kinder derselben Klasse haben und Ansporn sein eine positive Haltung
zu adaptieren. Hinzu kommt die Möglichkeit, ältere Kinder als Helferinnen und Helfer
einzusetzen, wenn sie mit einem bestimmten Thema schon vertraut sind. Dabei sind
die Positionen klar verteilt—es sind eigentlich immer die Älteren, die Hilfestellung
anbieten und entsprechend die Jüngeren, welche die Hilfe empfangen. Dieses
Einander-Helfen öffnet Türen für soziale Kompetenzen und ist zudem für die
Kommunikation und Interaktion der Kinder förderlich. Urech spricht von positiven
Effekten, die sich bis hin zur Entwicklung von Leitungs- und Führungsqualitäten
erstrecken.15
Aus der Sicht der Lehrpersonen, die an Mehrjahrgangsklassen unterrichten, wurden
ebenfalls positive Beobachtungen gemacht. Es wurde festgestellt, dass
Lehrpersonen in einem solchen Umfeld ihre Rolle als Teammitglied verstärkt
wahrnehmen und sich von dem Einzelkämpfertum distanzieren.16
Alle bisher aufgeführten Beobachtungen, die sich auf das soziale Umfeld von
Lehrpersonen und Kindern gleichermassen beziehen, lassen sich gemäss Urech
empirisch belegen und sind daher als Vorteile gegenüber Jahrgangsklassen zu
werten.17 Die Vorteile beschränken sich aber ausschliesslich auf den sozialen
Bereich in der Schule. Was den Leistungsbereich angeht, sind bis jetzt keine
nennenswerten Unterschiede zwischen Kindern aus Mehrjahrgangs- und
Jahrgangsklassen festgestellt worden. Die Forschung belegt aber, dass
Ibid.: S. 30: „Der Wechsel von einem bestimmten Status in einen anderen kann sich in der
altersgemischten Gruppe viel schneller vollziehen.“
15 Ibid.: S. 30.
16 Ibid.: S. 30.
17 Ibid.: S. 30. Leider wird aus dem Vortrag nicht ersichtlich, auf welche empirischen Studien sich
Urech beruft. Aus meiner eigenen Erfahrung als Lehrer an Mehrjahrgangsklassen kann ich allerdings
die einzelnen Punkte nur bestätigen.
14
13
altersgemischtes Lernen zumindest keine nachteiligen Auswirkungen auf die
schulischen Leistungen hat.18
Die aufgeführten Vorteile können ergänzt werden mit den Argumenten einer kürzlich
verfassten Motion der Grünen:19
- Der Altersunterschied sorgt für Lernanreize und initiiert neue Lernmotivation
- In altersgemischten Klassen ist eher Kooperation anstelle von Konkurrenz zu
beobachten
- Die Chancengleichheit wird grösser
- Kinder mit besonderen Bedürfnissen werden besser integriert
- Kinder, die eine Klasse wiederholen, bleiben in ihrer Lerngruppe. Durch das
Vorwärts- und Rückwärtslernen (Mithören) ist die Sicherung des Gelernten
stets möglich.
Wo Vorteile herausgestrichen werden, müssen auch die Nachteile abgewogen
werden um zu einer ausgewogenen Schlussfolgerung zu kommen. Buchs zählt
sechs Nachteile auf, die er bei Mehrjahrgangsklassen sieht:20
1. Geringere Zuwendung zum einzelnen Kind
2. Verlust von Vergleichsmassstäben in der Schülerbeurteilung
3. Geringere Qualität in der Unterrichtsvorbereitung
4. Gegenseitiges Stören der verschiedenen Schülergruppen
5. Wenig Stimulation bei kleinen Gruppen
6. Lange Dauer des Zusammenseins von Schülerinnen und Schülern bei der
gleichen Lehrperson
Die einzelnen Punkte leuchten auf den ersten Blick ein, werfen aber bei genauerem
Hinsehen zumindest teilweise Fragezeichen auf. Der erste Punkt, die geringere
Zuwendung für das einzelne Kind, geht rein mathematisch gesehen nicht auf. Wenn
man davon ausgeht, dass in einer Mehrjahrgangsklasse tendenziell weniger Kinder
sind, ergibt dies pro Kind pro Lektion im Verhältnis mehr Zuwendung als dies möglich
Franziska Forster, „Altersgemischtes Lernen“, Dossier Schulpraxis 9, (Bern: Schulverlag blmv,
2007): S. 16.
19 Grüne Partei, Motion: Jahrgangsgemischtes Unterrichten, (Bern: ERZ, November 2007): S. 1.
20 Hansueli Buchs, Die Mehrklassenschule—ein Auslaufmodell als Chance zur schulischen
Integration, (PH Bern: Zertifikatsarbeit, 2008): S. 10.
18
14
ist in einer Jahrgangsklasse. Natürlich gibt es Sequenzen im Unterricht, bei denen
selbständig gearbeitet werden muss, weil die Lehrperson ihre Aufmerksamkeit voll
und ganz einer einzelnen Gruppe widmen muss. Aber die Behauptung, dass Kinder
in Mehrjahrgangsklassen weniger Zuwendung erhalten, muss als grundsätzlich
falsch zurückgewiesen werden.
Der zweite Punkt wirft die Frage der Notwendigkeit von Leistungsvergleichen auf. Ist
es wirklich erstrebenswert, dass ein Kind sich an den Leistungen seiner Peers
messen muss? Gemäss aktuellem Lehrplan stehen bei der Beurteilung Lernweg,
Lernprozess und Fortschritt im Zentrum.21 Die Leistungen und Fortschritte sollen bei
jedem Kind individuell gemessen werden. Der Vergleich spielt dabei eine
untergeordnete Rolle und kann—ohne nachteilige Auswirkungen—sogar ganz
vernachlässigt werden. Wichtig für die Lehrperson ist einzig, dass sie immer den
gleichen Beurteilungsschlüssel anwendet. Für schwächere Kinder können fehlende
Vergleichsmöglichkeiten sogar eine Chance sein, wenn nur der individuelle
Fortschritt, nicht aber der Leistungsstand innerhalb einer Lerngruppe verglichen
werden kann.
Bei Punkt drei wird die schlechtere Qualität der Unterrichtsvorbereitung
angesprochen. Wenn man als Lehrperson für eine Lektion den Stoff von mehreren
Gruppen innerhalb einer Klasse vorbereiten muss, ist diese Feststellung tatsächlich
gerechtfertigt. Allerdings wurde schon bei den Vorteilen festgehalten, dass Kinder
von Mehrjahrgangsklassen leistungsmässig nicht schlechter abschneiden, was die
Schlussfolgerung zulässt, dass grundsätzlich die Qualität des Unterrichts an
Mehrjahrgangsklassen den Vorgaben des Lehrplans entspricht. Wenn man noch die
Tatsache hinzunimmt, dass Kinder in Mehrjahrgangsklassen eine höhere
Lernmotivation haben, stellt sich die Frage, wie gravierend eine geringere Qualität
der Unterrichtsvorbereitung effektiv ist.
Definitiv als Nachteil muss das gegenseitige Ablenken der einzelnen Lerngruppen
gewertet werden. Gerade Kinder mit Konzentrationsschwierigkeiten haben es in
Mehrjahrgangsklassen nicht einfach, denn die Ablenkungsmöglichkeiten sind doch
beachtlich, da die Lehrperson häufig mit einer Lerngruppe mündlich am Arbeiten ist.
Auch den fünften Punkt muss man als Nachteil hinnehmen. Wenn im Extremfall nur
gerade ein Kind in einem Jahrgang ist, wird es schwierig, zum Beispiel den
21
Erziehungsdirektion des Kantons Bern, Lehrplan der Volksschule, (Bern: Staatlicher
Lehrmittelverlag des Kantons Bern, 1995): S. AHB20.
15
Fremdsprachenunterricht zu gestalten. Es ist in einem solchen Fall nicht möglich,
dass sich Kinder mit gleichem Lernstand gegenseitig anspornen.
Der letzte Punkt hingegen, die lange Dauer des Zusammenseins, muss nicht
zwingend ein Nachteil sein sondern kann im besten Fall sogar als Vorteil betrachtet
werden. Erstens hat man als Lehrperson die Möglichkeit für mehr Kontinuität,
zweitens muss man nicht immer wieder neu am Anfang eines Schuljahres den
Klassenzusammenhalt trainieren, weil jeweils ein schon eingeweihter Kern der
Klasse erhalten bleibt, und drittens können auf diese Weise Beziehungen über eine
längere Zeit aufgebaut werden. Nachteilig ist die lange Dauer des Zusammenseins
vor allem dann, wenn die Chemie zwischen Kind und Lehrperson nicht stimmt.
Der wohl schwerwiegendste Nachteil bei Mehrjahrgangsklassen sind nach meiner
eigenen Erfahrung die Lehrmittel, denn sie sind nicht auf Mehrklassenunterricht
ausgerichtet. Man muss sich bewusst sein, dass in der Schullandschaft Schweiz
rund 80% aller Klassen als Jahrgangsklassen geführt werden.22 Entsprechend
werden die neuen Lehrmittel auf dieses Modell ausgerichtet. Das wohl aktuellste
Beispiel dafür ist das neue Französischlehrmittel, welches noch in diesem Jahr
(2010) druckreif werden sollte. Lehrpersonen, die im Moment die Ausbildung für
Frühfranzösisch absolvieren, bemängeln die fehlende Kompatibilität für
Mehrjahrgangsklassen. Kursleiterinnen und Leiter nehmen diese Kritik mit Erstaunen
auf und geben offen zu, dass man Mehrjahrgangsklassen überhaupt nicht
berücksichtigt hat.
„Das Ziel, das erreicht werden soll, bestimmt den Weg.“ 23 Anders gesagt, die
Struktur einer Schule muss sich nach ihren pädagogischen Überzeugungen
ausrichten. Stehen Schwerpunkte im Bereich des sozialen Lernens und der inneren
Differenzierung im Zentrum, sind Mehrjahrgangsklassen eine mögliche Antwort. Man
muss sich aber bewusst sein, dass mit den Vorteilen eines solchen Modells immer
auch Nachteile in Kauf genommen werden müssen, denn auch in der Schule kann
man nicht den sprichwörtlichen Fünfer und das „Weggli“ gleichzeitig haben.
22
Bundesamt für Statistik, 2005, Klassenstrukturen der Schweiz. Für genauere Zahlen siehe Kapitel
3.5.
23 Hager: S. 46.
16
3.2. Didaktik des integrativen Unterrichts / sinnvolle Organisation (Johannes
Nydegger)
Wie kann der Unterricht speziell in einer Mehrjahrgangsklasse gestaltet werden?
Insbesondere die Frage der allgemeinen Unterrichtsgestaltung ist dabei von zentraler
Bedeutung für Lehrpersonen.
Was bei einer homogenen Situation auf den ersten Blick als relativ einfach erscheint,
entpuppt sich bei einer Mehrjahrgangsklasse als ungemein verstrickter. Es geht
nämlich nicht nur darum, parallel mehrere Gruppen zu führen und anzuleiten. Auch
die Lehrperson selbst muss Synergien zu nutzen wissen um den Grad der
Komplexität einzugrenzen und auch Zeit zu sparen. Die in jeder Lehrperson intuitiv
ablaufenden Fragen beim Sich-Beschäftigen mit Wissen stösst infolge der
Heterogenität einer Mehrjahrgangsklasse schnell an ihre Grenzen. Es gilt das
Problem einzugrenzen um es erfassen zu können.
Die oben angegebene Überschrift soll zuerst einmal anhand einer Begriffsdefinition
angegangen werden: Didaktik, vom griechischen Verb „didaskein“ abgeleitet, das
lehren bedeutet, bezieht sich vor allem auf theoretische Betrachtungen und gilt als
Basis jeder Wissensvermittlung, im Gegensatz zur Methodik, die eher den
praktischen Aspekt einschliesst.
Integrativ wird von Joller-Graf24 dahingehend definiert, dass es um die
„Wiederherstellung des Ganzen“ geht, bei dem er den Schwerpunkt auf eine einmal
bestandene Ganzheit legt. Er erklärt dabei, nicht Unverbundenes auf eine neue Art
zusammenzufügen sondern legt Wert auf das „Vollständig-Machen“ oder das
„Eingliedern-wo-es-Hingehört“. Im Hinblick auf Klassensituationen postuliert er eine
Haltungsänderung aller, so dass Aussenstehende nicht mehr die Rolle der
Aussenseiter zu übernehmen brauchen und Gruppenmitglieder, die näher beim
virtuellen Mittelpunkt stehen, allen das gleiche Gehör schenken und alle
gleichermassen ernst nehmen. Zusammenfassend definiert er Integration als „Vielfalt
zu wollen und zu nutzen“. Er geht so weit, dass er Integration als gewollte
Heterogenität bezeichnet.
Heterogenität, ein Begriff aus dem Griechischen, der mit Andersartigkeit übersetzt
werden kann, steht im Gegensatz zu Homogenität, was soviel wie Gleichartigkeit
bedeutet. Es geht nun aber nicht bloss um die triviale Bedeutung dieser Begriffe. Es
versteht sich von selbst, dass jede Gruppe unabhängig ihrer Grösse, ihres Alters und
24
Klaus Joller-Graf, Lernen und Lehren in heterogenen Gruppen—Zur Didaktik des integrativen
Unterrichts, (Donauwörth, Auer-Verlag GmbH und Luzern, Comenius-Verlag AG, 2006): S. 9.
17
ihrer Zusammensetzung eine in sich wohnende Heterogenität aufweist. Ein
Gedankenspiel soll das veranschaulichen: Eine Gruppe aus drei Personen mit vier
unterteilbaren Kriterien kann bereits 43 = 256 verschiedene Zustände einnehmen.
Eine Einjahrgangsklasse von 19 Kindern mit unterschiedlicher Motivation, kulturellem
Hintergrund, Wertvorstellungen sowie Schulzufriedenheit weist bis 274 Milliarden
(=419) Zustände auf. Dabei ist es nicht so, dass in einer Klasse alle Kinder nur vier
Zustände einnehmen könnten. Obwohl das Beispiel vor allem deskriptiven Charakter
hat, zeigt es doch, dass jede Person, die neu hinzukommt, Einfluss nimmt auf jede
andere Person in der Gruppe, und jedes fehlende Kind reduziert entsprechend die
Komplexität. Doch gibt es gegen unten auch Grenzen, die unserem Schulsystem
dejure zugrunde liegen wie zum Beispiel minimale Klassengrössen.
Viel stärker hat nun aber eine mehrjahrgangsklassige Situation Einfluss auf die
Komplexität eines integrativen Unterrichts. Nach Joller-Graf25 hat Heterogenität heute
immer noch einen negativen Anstrich. Nichtsdestotrotz wird sie in Schule und
Gesellschaft durch die Mobilität und die Globalisierung eher noch zunehmen.
Nach diesen Begriffsdefinitionen geht es nun darum aufzuzeigen, wie sich Integration
und Heterogenität in der Praxis, das heisst im Unterricht auswirken.
Oft geht man bei Heterogenität im Schulwesen von der Annahme aus, dass eine
Klasse defacto homogen ist. Einzig Kinder mit Lern- und Verhaltensschwierigkeiten
oder einem Migrationshintergrund werden als zu integrierend angesehen. Im
Weiteren werden vermehrt Kinder mit Körper- und Sinnesbehinderungen nicht mehr
an Sonderschulen unterrichtet sondern in einer Regelklasse integriert. In jüngster
Zeit gewinnt zunehmend auch die Gruppe der besonders Begabten an
Aufmerksamkeit, die generell der Hochbegabung zugeordnet wird. Dabei ist es nicht
immer so, dass speziell pädagogisch Ausgebildete wie Heilpädagoginnen und
Heilpädagogen in genügender Zahl vorhanden sind und daher die Klassenlehrkraft
einen Grossteil des Unterrichts selber übernehmen muss. Auf diese Weise entstehen
dann heterogene Lerngruppen im Schulalltag.
Es geht nun aber nicht in erster Linie darum, behindertenspezifische Merkmale
aufzulisten sondern sich Gedanken zu machen, wie diesen Kindern in Bezug auf das
Lernen grundsätzlich geholfen werden kann. Joller-Graf26 zählt sechs verschiedene
Aspekte auf, in denen Kinder eingeschränkte Fähigkeiten aufweisen: Wahrnehmung,
25
26
Ibid.: S. 12
Ibid.: S. 13 – 15.
18
Assoziation, Handlungsorganisation, Handlungssteuerung, Ausführung und
Memorisation.
Die Befürchtung, dass durch Integration obiger Kinder das Leistungsniveau einer
ganzen Klasse gesenkt wird, konnte in empirischen Untersuchungen nicht bestätigt
werden.27 Im Gegenteil, heterogene Lerngruppen zeigten leichte Vorteile gegenüber
homogenen.
Wichtig ist ausserdem, dass die Eltern voll hinter dem integrativen Modell stehen
können. Erfahrungen zeigen, dass insbesondere Eltern von Kindern mit integriertem
Schulsystem dieses viel positiver beurteilen als solche ohne Integrationshintergrund.
Wenn die Schule zum Ziel hat junge Menschen auf das selbständige Leben in der
Gesellschaft vorzubereiten, dann ist der integrative Gedanke von zentraler
Bedeutung.
Ein weiterer Aspekt in Bezug auf den integrativen Unterricht ist die
Auseinandersetzung mit der Frage, was man unter Lernen versteht und welche
Lernprozesse dabei ablaufen.
Grundsätzlich kann man sagen, dass Lernen ein aktiver Prozess ist, der von den
Lehrenden und Lernenden abhängt. Dabei können durch äussere oder innere
Einflüsse die Wahrnehmung, die Speicherung und die Wiedergabe des Lernstoffs
beeinträchtigt sein. Ausserdem ist Lernen ein energetisch hochaktiver
Lebensprozess. Bis 50 % des täglichen Kalorienverbrauchs wird bei Kleinkindern für
die Hirntätigkeit verwendet. Dabei erhalten isolierte Informationen erst durch die
Verknüpfung mit bestehendem Wissen ihren Wert. Eine Hilfe dabei ist auf bekannte
Assoziationen zurückzugreifen und ein Thema von verschiedenen Seiten
anzugehen. Auch werden neue Inhalte besser aufgenommen, wenn sie über
mehrere Sinne vermittelt werden.
Ein wichtiger Aspekt gerade im pädagogischen Bereich ist die Tatsache, dass Fehler
und erwünschte Inhalte gleich abgespeichert werden und erstere bei emotional
grosser Intensität stärker haften bleiben und deshalb nur beiläufig korrigiert werden
sollten. In diesem Zusammenhang erwähnt Joller-Graf28 auch die Nachhilfe, die
seiner Ansicht nach erst nach einem gescheiterten Lernprozess einsetzt, und somit
eine sehr begrenzte Wirksamkeit erwartet werden kann.
27
28
Ibid.: S. 16.
Ibid.: S. 35.
19
Im Gegensatz zum Lernen ist das Lehren oft zielgerichtet. Dabei werden
verschiedene Lehrprozesse angewandt, die je nach Autor unterschiedlich benannt
werden. Joller-Graf29 listet mit KAFKA (Kontakt suchen und herstellen—Aufbauen—
Flexibilisieren—Konsolidieren—Anwenden) und SAMBA (Situieren—Anstossen—
Modellieren—Begleiten/Beraten—Auswerten) zwei mögliche Vorgehensweisen auf.
Basis dieser Modelle bildet die Didaktik, die sich zum Ziel setzt das Lehren und
Lernen zu reflektieren und zu analysieren. Die Methodik von griechisch „hodos“ für
Weg und „meta“ für zu etwas hin bilden die Brücke vom ausgewählten Stoff zum
lernenden Individuum. Dabei beschreibt die Didaktik klar den primären Weg vor der
Methodik. Es ist aber nicht so, dass beide Begriffe diametral angesehen werden
sollten sondern mehr in ergänzendem Aspekt.
Bevor auf den Unterricht selbst eingegangen wird, sollen an dieser Stelle kurz noch
die Begriffe Wissen,30 Können, Rückmeldung und Motivation erläutert werden:
Lernen baut auf Wissen auf. Wer nicht über das nötige Vorwissen verfügt, muss
vorgängig unterstützt werden sich dieses anzueignen. Ferner müssen die
Wissensinhalte regelmässig angewendet respektive aufgefrischt werden, um das
grösstmögliche Potential auszuschöpfen.
Das Wissen allein genügt aber in der Regel nicht. Es gehört auch das Wissen-Wie,
das Können dazu. In unserem Kulturkreis werden mit Lesen, Schreiben und
Rechnen geeignete Arbeitstechniken vermittelt, die sehr breit angewendet werden
können.
Ein wichtiger Aspekt des Lehrens ist die Vermittlung von Rückmeldungen. Wenn
man nach gewissen Abständen die Gewissheit erhält, dass man auf dem richtigen
Weg ist, führt das zu Stabilität und positiver Arbeitshaltung. Kinder mit einer hohen
Selbstüberzeugung müssen davon etwas weniger Gebrauch machen als solche mit
eher geringem Selbstvertrauen. Dabei kann innerhalb einer Mehrjahrgangsklasse
dies auch von älteren zu jüngeren Schülern angewendet werden.
Die Motivation sollte gemäss Joller-Graf31 primär von den Lernenden selbst
aufgebaut werden. Allerdings kann es Kinder und Jugendliche geben, die sich damit
sehr schwer tun. Sie benötigen Unterstützung wie loben, Möglichkeiten der
Entspannung und belohnen.
29
Ibid.: S. 39.
Ibid.: S. 49.
31 Ibid.: S. 50.
30
20
Nach diesen Vorbemerkungen kann nun das zentrale Thema—der Unterricht—
behandelt werden. Dabei gibt es nicht das richtige Vorgehen sondern
unterschiedliche Zugänge, Herangehensweisen, verschiedenartige Lernende mit
divergenten Erfahrungen oder ungleichen Denkweisen. Es ist hilfreich, dass das
Feststellen solcher Differenzen einem Klarheit gibt über das eigene Wissen, die
eigene Einstellung. Damit ist die Voraussetzung für bewusstes Lernen geschaffen.
Der Unterricht ist folglich ein kommunikativer Prozess und zwar nicht nur zwischen
Lehrperson und Schülerinnen und Schülern sondern auch untereinander. Unterricht
ist Dialog anstelle von Monolog, Austausch statt Instruktion. Nach Joller-Graf wird
aber nur zu oft durch Segregation (Trennung) diese Möglichkeit des
Voneinanderlernens massiv beschnitten.32
Unterricht bekommt durch die folgenden Aspekte eine Qualitätsdimension, die sich
am Wohlbefinden des Kindes orientieren kann.
- Ausrichtung, dass die Vielfalt im Vordergrund steht
- alle Sinne berücksichtigen
- die Struktur des Unterrichts verändern
- ein dialogisches Prinzip fördern.
„Gemeinsames Lernen wird dabei nicht auf wenige Extrastunden abgeschoben oder
dem Unterricht systemfremd angehängt sondern ist wesentlicher Bestandteil jeder
pädagogischen Situation.“33
Guter Unterricht ist demnach mit einem maximalen Wissenszuwachs und einer
Leistungsstreuung der Besten zu den Leistungsschwächsten charakterisiert, so dass
die Leistungsstreuung während des Prozesses nicht erhöht wird sondern eher
abnimmt.
Klassen, die diese beiden Merkmale aufweisen, werden als sogenannte
Optimalklassen bezeichnet. Dabei fällt die Lehrperson durch eine klare und gut
verständliche Sprache, durch eine effiziente Klassenführung und durch eine optimale
Heranführung an den Lernstoff auf.
Die Ausrichtung des offenen Unterrichts verfolgt gemäss Joller-Graf genau diesen
Aspekt: Er wird von ihm wie folgt definiert:34
32
33
Ibid.: S. 58.
Ibid.: S. 59.
21
- eine Ausrichtung auf die zu bewältigende Lebenswelt der Kinder
- Flexibilisierung von Anforderungen und Zeit
- Entwicklung einer Solidargemeinschaft unter den Kindern
Dabei erwähnt er verschiedene Formen wie
- Planarbeit (Lernanregung nach schriftlicher Planung)
- Werkstattunterricht (in der Schweiz beliebte Form von Lernanregungen in
Postenform)
- Projektunterricht (individuelles Vorgehen anhand eines Rahmenthemas)
- Klassenkreis (eine Art Lehrgespräch)
- Planspiele (vergleichbar mit dem Drehbuch eines Films)
- Mastery Learning (1. Teil gemeinsam, 2. Teil individuell)
- Portfolio (Dokumentation einer individuellen Bearbeitung eines
Rahmenthemas)
Grundlagen dieser Unterrichtsweisen basieren auf einem direkten Lebensbezug der
Kinder, angepassten Vorkenntnissen, vorgängiger Analyse des Fähigkeitspotentials,
einer Ganzheitlichkeit in Sach- und Sozialkompetenz, handlungsorientiertem Lernen,
pädagogischer Unterstützung und Förderung, Differenzierung, Pflege eigener Rituale
und Regeln, Wiederholung und Übung sowie einer gemeinsamen Reflexion.
Unterricht sollte immer in direktem Zusammenhang mit dem Lernen der Schülerinnen
und Schüler gesehen werden. Zentral ist nicht, was von der Lehrperson gelehrt wird
sondern nur das, was von den Betroffenen gelernt wird.
Ziel jeglichen Unterrichts muss die Stärkung der individuellen Persönlichkeit der
Lernenden sein. So ist alles zu vermeiden, was die Schwächung der Persönlichkeit
begünstigt. Das heisst nicht, dass es keine Fehler geben darf—sie gehören zum
Menschen—doch sollte ihnen mit der nötigen konstruktiven Haltung begegnet
werden.
Die Quintessenz obiger Betrachtungen führt nun zur sinnvollen Planung des
Unterrichts.
Als eine mögliche Anpassung an die oben angeführten Unterrichtsformen kann
bereits bei der Planung des neuen Stundenplans Rechnung getragen werden. Es ist
sinnvoll, möglichst viele frei verfügbare Blockzeiten einzufügen, die von der
34
Ibid.: S. 62.
22
Klassenlehrkraft bestritten werden. Dabei wird je nach Flexibilität nur ein X im
Stundenplan vermerkt und thematisch vorgegangen. Es eignen sich alle Fächer,
auch solche wie Mathematik, die von vornherein als sehr aufbauend und strukturiert
angesehen werden. Eine thematische Gleichschaltung der verschiedenen Jahrgänge
vereinfacht dabei die Koordination. Wichtig sind insbesondere gemeinsame Anfangsund Schlussrituale sowie Wochenbeginn und Wochenabschlussstunden.
Ein Vorteil dieser Vorgehensweise wird von Christiane Gobbin-Claussen35 darin
gesehen, dass die Kinder individuell an einem Thema arbeiten, ihr Lerntempo selbst
bestimmen und so mehr profitieren können. Eine weitere Möglichkeit bilden die
doppelt betreuten Lektionen, in denen zwei Lehrkräfte in zwei Schulzimmern
verschieden strukturierte Aufgabenbereiche bearbeiten.
„In gewissen Fällen wurde auf die Pausenklingel ganz oder wenigstens während der
kleinen Pausen verzichtet. So konnte nach Bedarf an einem Thema weitergearbeitet
werden bis zu einem sinnvollen Unterbruch oder einem vorläufigen Abschluss.
Bei Doppeltbetreuungen ist eine gemeinsame Absprache unabdingbar. Festgefügte,
zeitlich befristete Teamsitzungen und ein routinemässiger Ablauf beeinflussen die
Arbeitspensen positiv.“36
Auch im Bereich der Materialbeschaffung kann ein Team anstelle einer Einzelperson
effizienter arbeiten. Vor Inangriffnahme eines Themas wird von allen beteiligten
Lehrpersonen Material gesammelt, gesichtet und gruppiert. Anschliessend werden
Arbeitspläne erstellt, Anweisungen zu Portfolios gegeben oder Werkstätten definiert.
Vorgängig sollte das Material für eine gewisse Zeit vorrätig, das heisst kopiert sein.
Insbesondere verlangt jahrgangsübergreifendes Unterrichten eher ein erhöhtes
Kopierkontingent, das aber eventuell durch nicht oder weniger benötigte Lehrbücher
kompensiert werden kann. Ablage- und Archivierhilfen ermöglichen unterschiedlich
strukturierten Schülerinnen und Schülern eine adäquate Aufbewahrungsmöglichkeit.
Wie überall gilt auch hier ein gut organisiertes Vorgehen.
Der Planung, Betreuung und Nachbearbeitung gilt ein grosses Augenmerk. Gerade
bei integrativen, heterogenen, jahrgangsübergreifenden Gruppen ist der Aspekt des
Wiederholens, des Mehr-als-einmal-Hörens, der Erinnerung an ähnliche
Christiane Gobbin-Claussen, “Den Stundenplan flexible gestalten” in Jahrgangsübergreifend
unterrichten—Ziele, Erfahrungen, Organisieren, Informieren, Differenzieren, Beurteilen, Hrsg.
Reinhold Christiani, (Berlin, Cornelsen-Verlag, 2006): S. 101.
36 Reinhard Stähling, “Teamarbeit inklusive” in Jahrgangsübergreifend unterrichten—Ziele,
Erfahrungen, Organisieren, Informieren, Differenzieren, Beurteilen, Hrsg. Reinhold Christiani (Berlin,
Cornelsen-Verlag, 2006): S. 48 - 53.
35
23
Vorgehensweisen vergangener Jahre keine unnötige Plackerei sondern eine
Notwendigkeit. Besonders wenn es gilt gleichzeitig zwei oder mehr Themen zu
behandeln, ist es oft sinnvoll gewisse Fächer zu koordinieren (Math, Deutsch, NMM),
nicht nur um die Lehrperson zu entlasten sondern auch um das
Erinnerungsvermögen der Kinder wach zu halten und um auf behandeltem Stoff
aufzubauen zu können.
Auch eine kritische, schriftlich formulierte Reflexion kann wichtig sein, da man je
nach Turnus erst nach zwei oder mehr Jahren den ähnlichen Stoff wieder behandelt
und vieles in der Zwischenzeit vergessen hat.
3.3. Ungleichheit als Herausforderung (Johannes Nydegger)
Ausgehend von einem Zitat soll in die Thematik eingeführt werden:
„Dass nicht alle Kinder einer Lerngruppe gleich sind, wird in der Schulpädagogik
schon sehr lange als ein ärgerlicher Sachverhalt diskutiert. So sah Johann Friedrich
Herbart um 1800 in der „Verschiedenheit der Köpfe“ das zentrale Problem des
Schulunterrichts—sein Zeitgenosse Christian Trapp empfahl folgerichtig, die
Methode „auf die Mittelköpfe“ auszurichten. Diese Empfehlung beherrscht bis heute
den deutschen Schulalltag; denn beim gemeinsam-fortschreitenden Lernen bestimmt
der fiktive Durchschnittsschüler sowohl das Niveau als auch das Tempo—dabei
müssen die einen warten, die anderen werden überfordert.“37
Dies zeigt sowohl Chance als auch Nachteiligkeit einer heterogenen
Unterrichtsgruppe. In einem Artikel des Autors Klaus-Jürgen Tillmann38 werden
Späteinschulungen, Sitzenbleiben, Sortierung auf Schulformen und Rückstufungen
als flankierende Massnahmen erwähnt um eine homogene Lerngruppe zu erhalten,
die sich an den fiktiven „Mittelköpfen“ ausrichtet. Dabei gelten nach wie vor
Jahrgangsklassen als das Mass aller Dinge, in denen postuliert wird, dass alle den
mehr oder weniger gleichen Entwicklungsstand aufweisen. Gerade in der
Übergangssituation Kindergarten—Grundschule werden in Deutschland 12 % der
Kinder zurückgestuft, vorwiegend aus sozial schwächeren Verhältnissen stammend,
37
Gerold Becker, Hrsg., Heterogenität: Unterschiede nutzen— Gemeinsamkeiten stärken, Jahresheft
XXII/2004, (Seelze: Verlag Erhard Friedrich GmbH, 2004): S. 1.
38 Klaus-Jürgen Tillmann, „System jagt Fiktion—Die homogene Lerngruppe“ in Heterogenität:
Unterschiede nutzen—Gemeinsamkeiten stärken, (Seelze: Verlag Erhard Friedrich GmbH, 2004): S.
6 - 9.
24
insbesondere Migrantenkinder.39 Dass diese angestrebte Homogenität auf Kosten
frustrierter Kinder geht, glaubt der Autor auch mit folgenden Zahlen zu untermauern:
20 % der Realschüler und 15 % der Hauptschüler werden mindestens einmal in ihrer
Schullaufbahn zurückgestuft. Mit den Selektionen zu Beginn der Schule ergibt das
eine Gruppe von 40 %, die solche Rückstufungserfahrungen machen. Dies ist ein
Wert, den er im Bildungsbereich anderer Länder so nicht findet.
Ungleichheit oder Heterogenität ist trotz der jahrgangsmässigen Gleichschaltung
allgegenwärtig. Als Beispiele dazu können unter anderem soziale Herkunft,
Geschlecht, Umfeld, und genetische Disposition genannt werden.
Lange hat man künstlich diese Ungleichheit gefördert, indem man Knaben und
Mädchen getrennt unterrichtet hat. Rousseau postulierte, dass die Andersartigkeit
der Frau auch ihre Erziehung mitzuprägen habe.40 Dabei ist dieses Postulat kaum
älter als 200 Jahre.41 Nach Cristina Allemann-Ghionda lassen sich fünf Kriterien
angeben, nach denen Differenzen oder Ungleichheiten im Bildungswesen auftreten
können:
1. Gender: biologisch und sozial konstruiert
2. Ethnie: Unterschiede in Kultur, Nationalität, Herkunftssprache, Religion
3. Rasse: Unterschiede zwischen „Europäern“ und „Nichteuropäern“ etc.
4. Klasse: unterschiedliche Gesellschaftsschichten, Bildungsniveau
5. Individuelle Merkmale wie Persönlichkeit, Begabung, Lernverhalten
Einige dieser Schlagwörter sind sehr komplexe und umstrittene Begriffe, bei denen
genetische Dispositionen und soziale Umstände beteiligt sind. Ausserdem sind
Individuen grundsätzlich komplex, Gruppen vielschichtig und deshalb die Prozesse
zu deren Untersuchung ebenfalls vielschichtig.
Daneben haben als Beispiel die PISA-Studien gezeigt, dass die soziale Herkunft
immer noch die Lesefähigkeit massgeblich bestimmt, also eine ausserschulische
Komponente darstellt.
Ibid.: S. 6. Tillmann sagt: „Den Kindern wird durch diese Massnahme zwar nicht geholfen, aber die
erste Klasse ist von möglichen ‚Problemfällen’ befreit.“
40 Cristina Allemann Ghionda, „Differenz und Ungleichheit—verkannte Herausforderungen für
Bildungsinstitutionen?“ in Heterogenität und Integration, Hrsg. Albert Tanner et al., (Zürich: Seismo
Verlag, 2006): S. 17.
41 Ibid.: S. 18.
39
25
Georg Auernheimer42 postuliert, dass Gleichheit und Anerkennung insbesondere in
der interkulturellen Pädagogik, wie sie heute im Bildungswesen vorherrschend ist, als
unverzichtbar angesehen werden sollte. Welche Art der Gleichheit meint er dabei? Er
spricht von einer Gleichheit des Auslesemechanismus, einer Gleichheit der
pädagogischen Richtlinien, einer Anerkennung multilingualer Situationen. Kritisch
äussert er sich darüber, wenn Selektionsmechanismen Migrationskinder als
besonders leistungsschwach erscheinen lassen, da man keine Rücksicht auf die
nichtdeutsche Muttersprache nimmt.
Doch ist diese Gleichheit im Bildungswesen überhaupt realistisch wenn bekannt ist,
dass sie gerade in der Notengebung kaum vorhanden ist? Noten verschiedener
Fächer sind nicht vergleichbar, Noten eines Faches sind über mehrere Jahre nicht
vergleichbar und, was besonders heikel ist: Benotungen für gleiche schulische
Leistungen sind von Klasse zu Klasse unterschiedlich.43
In seinem Artikel „Ungleichbehandlung und Gerechtigkeit“44 geht Thomas Kesselring
davon aus, dass es keine zwei gleiche Menschen gibt in Bezug auf Herkunft,
Familienzugehörigkeit, Geschwisterfolge, Geburtsort, Fähigkeiten, Interessen und
Hobbys, dass demgegenüber alle Menschen typologisch aber als gleich angesehen
werden. Ein Mensch hat das Recht auf Gleichbehandlung—gleiche Behandlung in
gleichen Situationen—und das Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz.
Im schulischen Bereich fragt er sich kritisch, ob man allen Schülerinnen und Schülern
mit den gleichen Beurteilungskriterien gerecht wird, ob man fremdsprachigen Kindern
gerecht wird, wenn man ihre Deutschkenntnisse ohne Bezug auf ihre Muttersprache
beurteilt, ob eine gleiche Note Rückschlüsse zulässt auf gleiche Fähigkeiten, ob die
Qualität verschiedener Schulen, Universitäten und Lehrpläne alle gleich sind.
Aufgrund seiner Darlegungen kommt er zum Schluss, dass ein Grossteil der
Gerechtigkeitskriterien, wie sie von Fachleuten wie Singer & Rawls45 für die
Gesellschaft aufgestellt worden sind, nicht direkt auf das Bildungswesen angewendet
Georg Auernheimer, „Gleichheit und Anerkennung als Leitmotive interkultureller Pädagogik“ in
Heterogenität und Integration, Hrsg. Albert Tanner et al., (Zürich: Seismo Verlag, 2006): S. 43.
43 Oliver Thin und Renate Valtin, „Eine Zwei ist eine Drei ist eine Vier. Oder: Sind Zensuren aus
verschiedenen Klassen vergleichbar?“ in Was ist ein gutes Zeugnis, Hrsg. Renate Valtin (Weinheim:
Juventa Verlag): S. 67 - 76.
44 Thomas Kesselring, „Ungleichbehandlung und Gerechtigkeit“ in Heterogenität und Integration, Hrsg.
Albert Tanner et al., (Zürich: Seismo Verlag, 2006): S. 92.
45 John Rawls, eine Theorie der Gerechtigkeit, (Frankfurt/Main, Suhrkpamp Verlag: 1976) und
The Law of Peoples, (Cambridge: Mass., Harvard University Press, 1999) und
Peter Singer, Praktische Ethik, (Stuttgart: Reclam Verlag, 1984) und
One World, The Ethics of Globalization, (New Haven: Yale University Press, 2002) in
Thomas Kesselring: S. 94 – 103.
42
26
werden können. Seiner Meinung nach wäre es aber sinnvoll, wenn sich die
Bildungsverantwortlichen damit auseinandersetzen würden. Daneben sieht aber
auch er, dass gerade im Bildungswesen naturbedingte Kriterien auftreten können.
„Wenn jemand den kreativen Müssiggang einer Erwerbstätigkeit vorzieht, ist
niemand verpflichtet, diese Person zu unterstützen.“46
Einen gegenteiligen Weg bestreiten im Bildungswesen die Institutionen, die bewusst
von der Gleichheit Abstand nehmen und künstlich altersdurchmischte Gruppen
zusammenstellen, oft mehr als eine Klasse parallel. Das Schulprojekt 21 des
Kantons Zürich erprobte von 1998 bis 2003 klassenübergreifende Gruppen. Dabei
waren in 13 Gemeinden rund 120 Primarschulklassen beteiligt. Das Angebot des
altersdurchmischten Lernens (kurz ADL genannt) betrug von wenigen
Wochenlektionen (mindestens zwei) bis zu ganztägigen Angeboten. Die Mehrheit der
Kinder empfand dieses Projekt als eine beliebte Ergänzung zum gewohnten
Schulalltag. Sie waren der Ansicht, dass sie von diesen Lektionen nicht nur in
sozialer sondern auch in fachlicher Hinsicht profitiert hatten. Von den Lehrkräften
wurde der hohe Organisations- und Zeitaufwand bemängelt.
Die Ablehnung des neuen Volksschulgesetzes des Kantons Zürich im November
2002 setzte aber diesem vielversprechenden Versuch ein Ende, da neben
unbestrittenen Vorteilen auch andere Punkte zur Abstimmung gelangt waren, die von
der Bevölkerung nicht goutiert worden sind. 47
Dieses Modell des klassenübergreifenden Unterrichts gibt es in ländlichen Schulen
zuhauf, da aufgrund der kleinen Schülerzahlen und der langen Schulwege bei
Alternativlösungen, die wegen transportintensiven Aufwands kaum in Frage
kommen, gar keine anderen Möglichkeiten bestehen.
Dabei fällt auf, dass dieses familiennahe Lernen, das vor- und rückgreifende Lernen,
das Bilden gemeinschaftlicher Verantwortung, das von- und miteinander Lernen
Vorteile gegenüber dem individualisierten Lernen haben kann.48
Ältere und Jüngere sind aufeinander angewiesen. Man kann durch ein mehrmaliges
Behandeln des Stoffes seinen persönlich idealsten Zugang finden, „Schnellere“ sind
in der Lage, ihre Informationen bei anderen Gruppen im gleichen Zimmer zu holen
und so weiter zu kommen.
46
Kesselring: S. 105.
Xavier Monn, „Altersgemischte Lerngruppen—Umgang mit Heterogenität“ in Heterogenität und
Integration, Hrsg. Albert Tanner et al., (Zürich: Seismo Verlag, 2006): S. 266.
48 Ibid.: S. 272.
47
27
Insbesondere Gruppen mit 1. bis 3. Klasse oder 4. bis 6. Klasse werden oft bewusst
eingesetzt. In einigen Schulgemeinden ist man sogar dazu übergegangen, auf der
Sekundarstufe 1 ohne Leistungsdifferenzierung jahrgangsdurchmischte Lerngruppen
zu bilden, nachdem man nach einer Pilotphase die Vorteile dieses Systems erkannt
hatte.
Daneben haben immer mehr erweiterte Lehr- und Lernformen wie freie Arbeit,
Werkstattunterricht, Wochenplanarbeit, Projekte und offener Unterricht die
klassischen Unterrichtsmodelle abgelöst. Allen gemeinsam ist das Bemühen, in
Situationen mit Heterogenität und unterschiedlichen Lernprozessen optimale
Bedingungen zu schaffen für das einzelne Kind.
In letzter Zeit häufig angewendet wird der Schulversuch, bei welchem die
Kindergartenjahre mit dem ersten oder auch noch dem zweiten Schuljahr zur
Basisstufe verbunden werden. Dabei besteht die Möglichkeit, die altersgemischte
Gruppe in drei, vier oder fünf Jahren zu durchlaufen. Eine Herausforderung bildet
dabei der Weg vom lernenden Spiel zum spielenden Lernen. Gerade die Tatsache,
dass 85 % der Kinder aus einer Ein- oder Zweikinderfamilie stammen, in denen
Positionen schnell bezogen und Sozialkontakte mit anderen Kindern oft erschwert
sind, wird diese Schulform als bereichernd angesehen. Nach Monn49 ist die
Forschungslage in der Schweiz aber über die Wirkung von altersgemischten Klassen
auf weiterführende Schulen unbefriedigend. Er kann nur gerade eine Studie von
Poglia und Strittmatter aus dem Jahre 1983 zitieren, welche gesamtschweizerisch
die Frage untersucht hat, ob Kinder aus Mehrklassenschulen benachteiligt sind
gegenüber den anderen. Dabei haben statistische Untersuchungen keine
Benachteiligungen in Bezug auf das schulische oder berufliche Fortkommen zutage
gebracht.50
Zum Schluss des Abschnitts sei auf ein Zitat von Xavier Monn hingewiesen:
„Kinder mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen lernen in unserer Schule nur
dann mit- und voneinander, wenn wir Heterogenität nicht als etwas Lästiges sondern
als etwas Spannendes, als eine Chance, eine Herausforderung annehmen. Nehmen
wir Abschied von der Vorstellung, Lernen lasse sich mechanisieren, rationalisieren,
49
Ibid.: S. 271: In altersheterogenen Lerngruppen lernen Kinder voneinander und miteinander, ältere
und begabtere oder in einem Gebiet weiter fortgeschrittene Kinder unterstützen jüngere oder weniger
fortgeschrittene. Die Kinder erleben sich in der Basisstufe in verschiedenen sozialen Stellungen und
Rollen. Konkurrenz in Bezug auf ihre Leistungen wird im alters- und leistungsheterogenen
Klassenverband verringert, kooperatives Lernen hingegen gefördert.
50 Ibid.: S. 273.
28
beschleunigen und nur in einem Unterricht mit möglichst gleichaltrigen,
gleichgeschalteten Kindern realisieren.“ 51 Wenn mit Begabungsförderung Ernst
gemacht werden will, gilt es, Abschied zu nehmen von dem Normierungsversuch in
unserer Schule, dem Jahrgangsklassensystem.
3.4. Kompetenzen/Ausbildung der Lehrperson (Peter Boss)
Lehrpersonen stehen im Schulalltag einer Vielfalt von Herausforderungen
gegenüber. Nebst der Erwartung, dass nach neuesten Erkenntnissen der Forschung
im Bereich der Pädagogik unterrichtet werden sollte, sind Lehrpersonen immer mehr
auch mit einer wachsenden Heterogenität in ihren Klassen konfrontiert. Die
gesetzlich verankerte Integration von Kindern mit besonderem Förderbedarf und die
Integration von Kindern mit Migrationshintergrund sind wahrscheinlich die zwei
grössten Herausforderungen in diesem Bereich. Dies trifft Lehrpersonen von
Jahrgangs- wie auch Mehrjahrgangsklassen gleichermassen. Aus diesem Grund
besteht zu Recht die Forderung nach einer Ausbildung, welche diese erschwerten
Bedingungen beim Unterrichten berücksichtigt.
„Es besteht ein allgemeiner Konsens darüber, dass es wichtig ist, alle [Lehrerinnen
und] Lehrer mit den Fertigkeiten und Fähigkeiten auszustatten, die sie brauchen, um
ihre Aufgabe erfolgreich erfüllen zu können.“52 Seitz spricht mit dieser Aussage die
Schwierigkeiten an, welche durch die wachsende Heterogenität in den Klassen
verursacht werden. Sie plädiert denn auch für eine verstärkte Professionalisierung
des Lehrerberufes; ein Schritt, der im Kanton Bern mit der Schaffung der
Pädagogischen Hochschule (PH Bern) schon vor mehreren Jahren vollzogen worden
ist. Allerdings ist die Bildung eines solchen Gefässes allein kein Garant dafür, dass
die neu ausgebildeten Lehrpersonen dann auch wirklich den Herausforderungen
ihres Berufes, im Speziellen den Herausforderungen der Heterogenität in ihren
Klassen gewachsen sind. Es liegt in der Hand der Hochschulen, die nötigen
Kompetenzen zum Umgang mit Heterogenität in der Ausbildung zu thematisieren
und einzuüben.
Welches aber sind die wichtigsten Kompetenzen, die sich Lehrpersonen in ihrer
Ausbildung aneignen können sollten, um später bei der Ausübung ihres Berufs nicht
51
Ibid.: S. 274.
Ingeborg Seitz, Heterogenität als Chance: Lehrerprofessionalität im Wandel, (Frankfurt: Peter Lang
Verlag, 2007): S. 71.
52
29
an den Herausforderungen der Heterogenität zu scheitern? Sind dies die gleichen
Kompetenzen, die auch bei altersgemischtem Unterrichten benötigt werden?
Miller benennt die drei wichtigsten Sparten in Bezug auf allgemeine Kompetenzen im
Lehrberuf folgendermassen: „Bei sich selbst, bei anderen, und bei Sachen.“ 53 In
Bezug auf den Umgang mit Heterogenität werden natürlich alle drei Sparten
durchdringt, aber besondere Kompetenzen werden speziell im Umgang mit den
anderen (Schülerinnen und Schülern) und mit der Sache (Inhalte und
Wissensvermittlung) verlangt. Wichtige Kompetenzen in diesen Bereichen sind:54
- Stufenübergreifendes Wissen
- Differenzierungsfähigkeit55
- Lehrfähigkeit
- Problemlösefähigkeit
Ergänzt werden kann diese Liste mit den von Forster aufgezählten Kompetenzen: 56
- Hohe Flexibilität und überdurchschnittliche geistige Beweglichkeit
- Sonderpädagogische Kompetenzen für die Integration aller Kinder
- Didaktisches Repertoire
Einerseits benötigt die Lehrperson ein breites Fachwissen, auf das im Unterricht
zurückgegriffen werden kann, anderseits ist aber auch die stufenübergreifende
Vernetzung dieses Wissens Grundlage für die Differenzierung innerhalb einer
Klasse. Als Beispiel kann irgendein Thema aus dem Fachbereich Mathematik
genommen werden. Eine Lehrperson, welche die 7. - 9. Klasse altersgemischt
unterrichtet, muss erstens das nötige Fachwissen der einzelnen Niveaus haben und
zweitens in der Lage sein dieses Wissen stufenübergreifend zu unterrichten und zu
verknüpfen. Bei Jahrgangsklassen fällt das stufenübergreifende Lehren zwar weg,
aber die zunehmende Heterogenität erfordert eine Differenzierung für die
Reinhold Miller, 99 Schritte zum professionellen Lehrer, (Seelze: Kallmeyer’sche
Verlagsbuchhandlung GmbH, 2005): S. 8.
54 Ibid.: S.89 - 93. Miller listet eine Reihe weiterer Kompetenzen auf, die für den Lehrerberuf wichtig
sind. Diese sind aber nicht speziell von Bedeutung, wenn es um die Aneignung von Fachwissen im
Bereich Heterogenität geht.
55 Entspricht der Forderung nach Kompetenzen zur Individualisierung der Lernangebote, wie sie von
Forster S. 11 beschrieben wird.
56 Ibid.: S. 11. Die Kompetenzen, die Forster aufzählt, sind spezifisch auf die Basisstufe ausgerichtet.
In dieser Arbeit sind nur diejenigen Kompetenzen erwähnt, welche allgemein für das altersgemischte
Lernen wichtig sind.
53
30
unterschiedlichen Leistungs- und Lernniveaus innerhalb derselben Klasse. Dies
verlangt einen hohen Grad an didaktischen Kompetenzen.
Um die Herausforderungen der Heterogenität zu meistern, benötigt eine Lehrperson
zusätzlich auch noch eine gesunde Portion Problemlösefähigkeit und Flexibilität,
denn es gibt immer wieder Situationen, in welchen nicht einfach ein vorgegebenes
Schema angewendet werden kann sondern individuelle Lösungen gefragt sind.
Es liegt auf der Hand, dass die oben genannten Kompetenzen sowohl für einen
professionellen Umgang mit Heterogenität in Jahrgansklassen wie auch im
altersgemischen Unterricht von zentraler Bedeutung sind. Aus diesem Grund
gehören diese Kompetenzen unbedingt in den obligatorischen Ausbildungsteil für
Lehrpersonen unabhängig davon, auf welcher Stufe unterrichtet wird. Nur so kann
ein positiver Einstieg in den Umgang mit Heterogenität im Berufsalltag gelingen. Dies
wiederum wirkt sich auf das Wohlbefinden der Lehrperson aus und kann längerfristig
sogar ein Burnout verhindern.57
Unabhängig von der Zusammensetzung einer Klasse sollte es das Ziel jeder
Lehrperson sein, möglichst vielen Schülerinnen und Schülern zu Lernerfolgen
verhelfen zu können. Dies setzt Kompetenzen im Bereich der Differenzierung voraus,
die gemäss einer empirischen Studie entweder nicht vorhanden sind oder aus
unbekannten Gründen nicht eingesetzt werden. Das Fazit der Studie lautet: „Sehr
wenige [Lehrerinnen und] Lehrer aller Altersgruppen differenzieren regelmässig
innerhalb des Unterrichts.“58
Interessiert hat uns in diesem Bereich natürlich insbesondere die Frage, wie stark
der Unterricht an Mehrjahrgangsklassen bei der Ausbildung an der PH Bern
gewichtet wird. Ein Blick auf den im Internet publizierten Studienplan für die Stufe
Sek 1 liess erahnen, dass altersgemischtes Lehren und Lernen kaum thematisiert
wird. Die Antwort auf unsere schriftliche Nachfrage bestätigte diese Befürchtung:
Sehr geehrter Herr Boss
…Ich habe Folgendes zusammengetragen:
57
Ibid.: S. 167 - 168. Nebst der Vorbereitung auf das berufliche Handwerk sollte die Ausbildung auch
darauf abzielen, Lehrpersonen zu einer „gesunden“ Berufs- und Lebenshaltung heranzuführen. Eine
gesunde Einstellung zeigt sich daran, dass ein Lehrperson sich engagiert, belastbar ist und
gleichzeitig ein positives Lebensgefühl hat.
58 Ibid.: S. 308 - 309. Es ist anzufügen, dass die Studie in Deutschland durchgeführt wurde. Die
Resultate lassen also streng genommen nur Resultate für Deutschland zu. Es kann aber argumentiert
werden, dass die Ausbildung für Lehrpersonen in der Schweiz und Deutschland nicht
grundverschieden sind. Aus diesem Grund—und weil meines Wissens keine ähnliche Studie für die
Schweiz besteht—kann die Aussage, dass innere Differenzierung relativ selten passiert, mit Vorbehalt
auch für unsere Schulen übernommen werden.
31
An unserem Institut gibt es keine Veranstaltung, welche sich
ausschliesslich mit der Thematik auseinander setzt. Das Thema wird aber
aufgegriffen zum Beispiel in der obligatorischen Vorlesung „Berufswahl
und Beurteilung“ (Dozent: P. Schär), und mit dem Block mit Hermann
Flueckiger (7. - 9. Aarwangen). Ausserdem wird es gestreift in der
Veranstaltung „Umgang mit heterogenen Klassen“ (DozentIn: R. Rüegg &
C. Maler) im Zusammenhang mit Umgangsformen, in welchen die
Schülerinnen und Schüler als „[Lehrerinnen und] Lehrer“ wirken
(reziprokes Lernen).
Viele Studierende lernen Mehrjahrgangsklassen im Rahmen ihrer Praktika
kennen.59
Im Weiteren schreibt Rüegg, dass es keinen Anteil an obligatorischen Lektionen gibt,
den man in den verschiedenen Praktika an einer Mehrstufenklasse zu absolvieren
hat. Es kann also durchaus sein, dass Studentinnen und Studenten ihren Abschluss
erhalten ohne jemals auch nur einen Schritt in eine Mehrstufenklasse gemacht zu
haben. Auch in Bezug auf die Motion aus dem Jahr 200860 sind bis heute
anscheinend noch keine Schritte unternommen worden. Der PH Bern ist jedenfalls
kein Auftrag vom Regierungsrat erteilt worden in diesem Themenbereich empirische
Forschungsprojekte durchzuführen. Rüegg schreibt: „Meines Wissens ist im Moment
kein entsprechendes Projekt in Arbeit.“
Konkret bedeutet dies, dass an den Schulen des Kantons Bern zwar 30% aller
Klassen mehrstufig unterrichtet werden, in der Ausbildung an der PH Bern jedoch
grösstenteils darauf verzichtet wird auf die didaktischen Besonderheiten und
erschwerten Bedingungen von solchen Klassen einzugehen. So muss man sich
fragen, ob diese Rechnung längerfristig auch wirklich aufgehen kann und wie lange
Schulen mit Mehrjahrgangsklassen offene Stellen weiterhin mit qualifizierten
Lehrpersonen abdecken können.
An einem aktuellen Beispiel kann gezeigt werden, dass die Ausbildung an der PH
Bern in der Tat kein unterstützendes Klima bietet für Lehrpersonen, die in Zukunft an
einer Mehrklassenschule zu unterrichten gedenken. Eine Praktikantin absolvierte
kürzlich ein Praktikum an einer Mehrjahrgangsklasse im Fach Englisch (7. - 9. Klasse
Lauenen). Die Vorgaben der Dozentinnen in Bezug auf die Vorbereitungen für die
Lektionen wurden in keiner Art und Weise an die zeitlich erhöhten Anforderungen
angepasst. Anstatt all die geforderten Analysen auf eine Klasse (Jahrgangsstufe) zu
beschränken, musste die Praktikantin für jede der drei Stufen einen ausführlichen
59
60
Roland Rüegg, e-mail, (PH Bern: 16. 03. 2010).
Grüne Partei: S. 5.
32
Bericht abgeben. Was bei Vorbereitungen für Jahrgangsklassen einem
Schreibaufwand von rund 15 Seiten gleichkommt, bedeutete für die Praktikantin 45
Seiten. Solch ein Verhältnisblödsinn ist in keiner Weise motivierend, nach der
Ausbildung sich für eine Stelle an einer Mehrklassenschule zu bewerben, denn es
wird ganz klar der Gedanke vermittelt, dass für den gleichen Lohn ein wesentlich
grösserer Aufwand betrieben werden muss. Dies war denn auch das Fazit eines
Schulprojekts für altersgemischtes Lernen im Kanton Zürich, bei dem viele
Lehrpersonen bei der Auswertung den erhöhten Arbeitsaufwand bemängelten.61
Nicht nur bei der Ausbildung selber wird zuwenig auf die spezifischen Kompetenzen
für den Unterricht in Mehrjahrgangsklassen geachtet sondern auch in der
Weiterbildung. Auch dazu kann ein konkretes Beispiel genannt werden: Die Schule
Lauenen wünschte vom IWB (Institut für Weiterbildung) einen Kurs zur Planung von
NMM nach den Vorgaben des Lehrplans. Als besonderen Schwerpunkt wünschte die
Schulleitung den Bereich der Differenzierung um dem altersdurchmischten Unterricht
besser gerecht zu werden. Die Absage vom IWB kam postwendend mit der Aussage,
dass die NMM Kurse auf Jahrgangsklassen zugeschnitten seien. Auch bei der
Weiterbildung wird altersgemischtes Lernen vernachlässigt.
Es ist allerdings anzufügen, dass seit der Diskussion zur Basisstufe langsam ein
Umdenken stattfindet. An der PH Bern laufen Bestrebungen, die Ausbildung
entsprechend anzupassen, damit die zukünftigen Lehrpersonen den
Herausforderungen des altersgemischten Unterrichtens besser gewachsen sind. Die
nötigen strukturellen Anpassungen aber brauchen Zeit, und man hat gemerkt, dass
gerade bei der Basisstufe mehr Lehrpersonal benötigt wird um die Aufgaben
professionell meistern zu können. Würde man diese Erkenntnis konsequent
weiterdenken, müsste dies eigentlich auch Auswirkungen auf die Stellenprozente an
gemischten Oberstufen zur Folge haben.
Auch auf politischer Ebene hat ein Umdenken eingesetzt, was man an der Motion
der Grünen erkennen kann, welche oben schon erwähnt wurde. In der Motion wird
der Regierungsrat des Kantons Bern beauftragt:62
- jahrgangsgemischtes Unterrichten in der Volksschule zu fördern
- die vielen bereits bestehenden jahrgangsgemischten Klassen zu stärken
- der PH einen entsprechenden Aus- und Weiterbildungsauftrag zu erteilen
61
62
Forster: S. 7.
Morgenthaler und Keller, Motion, (Kanton Bern: Grüne Partei, 2007): S. 1.
33
- die PH mit der wissenschaftlichen Bearbeitung des Themas „altersgemischtes
Lernen“ zu betrauen
In der Motion wird argumentiert, dass jahrgangsgemischte Klassen schon in
Pestalozzis Zeiten selbstverständlich waren und heute wieder bewusst gefördert
werden sollen. Jahrgangsgemischte Klassen werden sogar als zukunftsweisendes
Modell propagiert.
Ob dann durch die Basisstufe das Bedürfnis entsteht ein ähnliches Modell auch für
die höheren Stufen (Mittel- und sogar Oberstufe) einzuführen, damit jedes Kind
seinem eigenen Entwicklungsstand entsprechend gefördert werden kann, weiss
heute noch niemand. Ein solches Konzept ist zum jetzigen Zeitpunkt reine Utopie,
aber denkbar wäre es schon, dass bei einer zukünftigen Schulreform ein radikales
Umdenken stattfinden könnte.
3.5. Geschichte des Mehrstufenunterrichts: Maria Montessori, Peter Peterson
(Peter Boss)
Das Modell des altersgemischten Lernens funktioniert; es funktioniert sogar so gut,
dass Schulen aus pädagogischen Überlegungen von homogenen Jahrgangsklassen
zu diesem Modell wechseln. Das erstaunt überhaupt nicht, denn hinter der Idee des
altersgemischten Lernens stehen bekannte Namen wie Maria Montessori und Peter
Peterson. Das vorliegende Kapitel fasst die pädagogischen Reformen zusammen,
welche von diesen beiden Personen ausgelöst wurden.
Peter Peterson (1884 - 1952): Peter Peterson arbeitete bis zu seinem Tod als
Professor an der Universität Jena. In seiner Zeit als Universitätsleiter entwickelte er
den so genannten „Jenaplan“, in welchem er ein Schulmodell mit altersgemischten
Lerngruppen propagierte. „Der Gedanke, Alters- und Erfahrungsunterschiede für das
gemeinsame Lernen zu nutzen, führt zu einer Pädagogik altersgemischter Gruppen,
die das wechselseitige Helfen der Kinder zum Grundprinzip pädagogischer
Situationen macht.“63 Petersens Hauptgründe für die Forderung nach
altersgemischten Gruppen sind:64
63
Esther Rindisbacher, Mehrjahrgangsklassen: Wichtige Phasen und Überlegungen der
Umstrukturierung, Zertifikatsarbeit, (Bern: PH Bern, 2008): S. 10.
64 Dorothea Blendinger und Marlene Diehnelt, Kooperation zwischen Klassen: Voneinander lernen in
heterogenen Gruppen, (Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt, 2003): S. 49.
34
- die natürliche Alltagssituation altersheterogener Gruppen
- das gegenseitige Helfen
- der Erhalt des Grossteils der Gruppe (bei Zusammenfassung von drei
Jahrgängen)
- die Bildungswirksamkeit der Differenz.
Petersen wandte sich mit diesen Forderungen direkt gegen das System von
Jahrgangsklassen, welches die natürlichen altersheterogenen Gruppen auseinander
reisst und die Kinder durch ein künstlich geschaffenes Treppensystem schleust,
welches auch heute noch die Basis unseres Schulsystems bildet. Würde der
Jenaplan konsequent umgesetzt, gäbe es an unseren Schulen jeweils nur drei
Stufen: Unter-, Mittel- und Oberstufe. Die Aufteilung in diese drei Altersstufen wurde
von Petersen nicht aus reiner Willkür propagiert sondern war die Folge von sorgfältig
durchgeführten Versuchen, welche aus verschiedenen Erkenntnissen der
Psychologie bestätigt worden sind. Dietrich kommt aufgrund der Forschungsarbeit
von Petersen zum Schluss, dass die Altersgruppen auf der Idee der Erziehung
begründet sind.65 Die Unterschiedlichkeiten innerhalb der jeweiligen Altersgruppen
bieten fruchtbaren Boden für gegenseitige Lernanregung und wecken das Interesse
für Neues auf ganz natürliche Art. Gross geschrieben wird beim Jenaplan auch das
Zusammenspiel von Hilfsbedürftigkeit und Hilfsbereitschaft, welches in der
Jahrgangsklasse nie in diesem Mass erreicht werden kann.
Peterson erkannte, dass das Umsetzen des Jenaplans auch neue Lehr- und
Lernformen braucht als Erweiterung oder gänzlichen Ersatz für den damals
vorherrschenden Frontalunterricht. Kennzeichnende Merkmale dieses Unterrichts
sind:66
- Wochenarbeiten statt „Festnetzstundenplan“
- Kurse zur Sicherung des Mindestwissens
- Feiern im Dienst der Gemeinschaft
- Arbeits- und Leistungsberichte statt Noten
- Überfachliches Arbeiten in Projekten
65
66
T. Dietrich, Die Pädagogik Peter Petersens, (Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt, 1991): S. 72 - 73.
Rindisbacher: S. 10.
35
Die Lehrperson steht nicht mehr im Zentrum des Geschehens sondern rückt viel
mehr in den Hintergrund mit der Aufgabe Anreize für das Lernen zu schaffen, dann
aber die Kinder in offenem Unterricht selbständig ihre Erfahrungen machen zu
lassen.
Maria Montessori (1870 - 1952): Sie erlangte schon mit 26 Jahren den medizinischen
Abschluss und wurde so zu Italiens erster Ärztin überhaupt. Bei ihrer ersten
Anstellung in einem psychiatrischen Umfeld erwachte ihr Interesse für pädagogische
Fragen. Es gelang ihr denn auch, einigen geistig behinderten Menschen das Lesen
und Schreiben beizubringen, was in ihr die Frage weckte, weshalb Kinder der
öffentlichen Schulen keine grösseren Lernerfolge zeigten. „Den Grund sieht Maria
Montessori im unsinnlichen und geisttötenden Schulalltag.“67 Diese Erkenntnis führte
die Ärztin dazu, neues Schulmaterial zu entwickeln, mit welchem sie die Lernerfolge
zu verbessern hoffte. Der Erfolg blieb nicht aus, da sie das handelnde Lernen als
Grundlage für verbessertes Lernen propagierte.
Genau wie Petersen machte sich auch Montessori für altersgemischte Gruppen in
der Schule stark um den Verschiedenheiten von Lernbedürfnissen gerecht zu
werden, denn gemäss ihren Beobachtungen „…schaffen altershomogene
Lerngruppen Langeweile und der geistige Austausch unter den [Schülerinnen und]
Schülern wird erschwert.“68 Da ausserhalb der Schule auch immer ältere und jüngere
Kinder zu einem Beziehungsnetz gehören, war es für Montessori nahe liegend, diese
natürliche Altersheterogenität auch auf die Schulsituation zu übertragen. In diesen
von Montessori propagierten gemischten Lerngruppen können die Kinder vielfältige
Sozialerfahrungen machen, die sich positiv auf den Umgang mit anderen auswirken.
In altersgemischten Gruppen besteht die Möglichkeit, dass über mehrere Jahre
verschiedene Rollen eingenommen werden können, was die Sensibilität für die
Probleme anderer erhöht. Dies wiederum ist förderlich für ein kooperatives
Miteinander im Gegensatz zu dem Konzurrenzdenken, welches in vielen
Jahrgangsklassen vorherrschend ist.
Gemäss Montessori ist in altersgemischten Gruppen auch der Lerneffekt grösser,
weil sich die Kinder gegenseitig motivieren und einander helfen. Die jüngeren Kinder
profitieren von dem Wissen der älteren, und die älteren Kinder lernen dabei ihr
Wissen weiterzugeben. Dabei ist es nicht etwa so, dass die älteren Kinder keine
Fortschritte machen, sobald sie an der oberen Altersgrenze ihrer Lerngruppe
67
68
Ibid.: S. 11.
Blendinger: S. 48.
36
angekommen sind. Im Gegenteil, Montessori glaubt an das Prinzip vom Lernen
durch Lehren, bei welchem die älteren Kinder „…zunächst ihr Wissen analysieren
und systematisieren, bevor sie es an andere weitergeben können.“69 Das
Weitergeben von Wissen führt deshalb nicht zu einem Lernstillstand sondern ist
vielmehr eine Weiterentwicklung der eigenen Kommunikationsfähigkeit.
Rindisbacher fasst die Prinzipien der Montessori-Pädagogik folgendermassen
zusammen:70
- das Kind in seiner Persönlichkeit achten, es als ganzen, vollwertigen
Menschen sehen
- seinen Willen entwickeln helfen, ihm helfen, selbständig zu denken und zu
handeln
- ihm Gelegenheit bieten, dem eigenen Lebensbedürfnis zu folgen
- ihm helfen, Schwierigkeiten zu überwinden statt ihnen auszuweichen
Die Lehrperson, welche nach Montessori Prinzipien unterrichten will, ermöglicht
offenen Unterricht und hält sich dabei im Hintergrund. Bei Schwierigkeiten ist es nicht
die Aufgabe der Lehrperson, pfannenfertige Lösungen zu servieren sondern viel
mehr Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. Im Endeffekt soll das Kind ermächtigt werden
sich selbständig im eigenen Leben zurechtzufinden. So erstaunt es nicht, dass im
Zentrum der Montessori-Pädagogik das Wohl des Kindes steht. Statt Leistungsdruck
soll das Kind Freude am Lernen verspüren und aus eigenem Interesse heraus mit
der nötigen Portion Eigenverantwortlichkeit die Herausforderungen des Lernens
anpacken und meistern.
Im Vergleich ziehen sowohl Peterson wie auch Montessori den Lernerfolg „… nicht
aus der Gleichheit der [Schülerinnen und] Schüler sondern gerade aus der Differenz
und zwar mit dem Ziel, die entstehende Spannung fruchtbar zu machen für die
Förderung individueller und sozialer Lern- und Bildungsprozesse.“71 Sowohl bei
Petersen wie auch bei Montessori wird die Verschiedenartigkeit der Kinder
unterschiedlicher Jahrgänge als Katalysator für effizientes Lernen miteinander
verstanden. Daher erstaunt es nicht, dass die Gemeinschaft von jüngeren und
69
Ibid.: S. 50.
Rindisbacher: S. 11.
71 Blendinger: S. 50.
70
37
älteren Kindern als optimale Voraussetzung für das Lernen hervorgehoben und
entsprechend postuliert wird.
Situation im Jahr 2005: Das Gedankengut der Reformpädagogik ist heute in vielen
Schulen sichtbar an der didaktischen Vielfalt, welche die Lehrpersonen einsetzen um
ihre Ziele zu erreichen. Ebenfalls findet man in Leitbildern und Projekten zur
Qualitätsverbesserungen häufig Prinzipien aus der Reformpädagogik. Einzig die Idee
der konsequenten Umsetzung von Mehrjahrgangsklassen hat sich in der Schweiz bis
heute nicht durchgesetzt. Die Idealform von drei Jahrgängen, welche zu einer Klasse
zusammengefasst werden, betrifft nur gerade rund 3% aller Klassen in der Schweiz.
Im Kanton Bern sind es rund 7% aller Klassen, welche dem Ideal des Jenaplans
folgen. Ob die Klassen dann aber wirklich aus pädagogischen Überlegungen zu
dreistufigen Mehrjahrgangsklassen zusammengezogen worden sind, ist fraglich.
Häufig sind Mehrjahrgangsklassen in der Schweiz die Folge von sinkenden
Kinderzahlen und werden selten aus pädagogischer Überzeugung geschaffen.
Bundesamt für Statistik 2005:72
Anzahl
Schulabteilungen
Kanton
1
%
2
%
3
%
4+
%
23 553
18 850
80
3 695
15.6
696
3.1
312
1.3
Zürich
3 632
3 272
90
277
7.7
69
1.9
14
0.4
Bern
3 275
2 277
69.5
570
17.4
217
6.6
211
6.5
St. Gallen
1 714
1 430
83.4
220
12.9
58
3.4
6
0.3
Aargau
1 580
1 351
85.5
181
11.4
35
2.2
13
0.9
Waadt
1 462
994
68
468
32
Luzern
1 374
1 135
82.6
191
13.9
Genf
1 292
984
76.2
304
Wallis
1 049
790
75.3
Thurgau
1 028
1 022
99.4
Schweiz
Total Kl.
Anzahl Schulabteilungen mit ... Klassen
-
-
-
-
40
2.9
8
0.6
23.5
4
0.3
-
-
210
20.1
39
3.7
10
4
0.4
2
0.2
-
Xavier Monn, „Adieu Jahrgangsklasse!“ Serie „Altersgemischtes Lernen“ in Neue Schulpraxis,
4/2005: S. 9.
72
38
0.9
-
Freiburg
984
802
81.5
181
18.4
1
0.1
-
-
Solothurn
809
606
74.9
188
23.2
13
1.6
2
0.3
Tessin
806
612
75.9
152
18.8
35
4.3
7
1
Graubünden
735
432
58.8
205
27.9
81
11
17
2.3
Basel-Land
690
610
88.4
61
8.8
13
1.9
6
0.9
Neuenburg
554
464
83.8
69
12.4
11
2
10
1.8
Schwyz
533
490
91.8
35
6.6
4
0.8
4
0.8
Zug
340
299
87.9
36
10.6
5
1.5
-
-
Jura
294
157
53.4
119
40.5
18
6.1
-
-
Basel-Stadt
277
275
99.3
2
0.7
-
-
-
-
Sch’hausen
244
184
75.4
37
15.1
23
9.5
-
-
Appenz. AR.
215
177
82.3
37
17.2
1
0.5
-
-
Glarus
159
112
70.5
36
22.6
10
6.3
1
0.6
Nidwalden
158
98
62
55
34.9
4
2.5
1
0.6
Uri
151
117
77.5
26
17.2
6
4
2
1.3
Obwalden
132
113
85.6
18
13.6
1
0.8
-
-
Appenz. IR
66
47
71.2
13
19.7
6
9.1
-
-
3.6. Altersgemischte Lerngruppen (Johannes Nydegger)
Viele Lehrpersonen haben Angst vor jahrgangsgemischten Gruppen in Bezug auf
Planungsaufwand, Komplexität des Unterrichtens und Betreuungsmöglichkeit für das
einzelne Schulkind. Sie halten fest am Glauben, Kinder gleichen Alters befänden sich
auf gleichem Entwicklungsniveau. So wird versucht alle Schülerinnen und Schüler
mit der gleichen Methode zum selben Ergebnis zu führen um am Schluss zu merken,
dass eben nicht alle das Gleiche erreichen.
Unter dem Deckmantel einer nicht vorhandenen Klassenhomogenität behandelt man
ohne allzu intensiv reflektierten Aufwand Themen schlank und rank und oft von einer
39
dozierenden Warte aus. Doch gemäss Herzig und Lang73 gibt es keine homogenen
Lerngruppen. Egal ob Jahrgangs- oder Mehrjahrgangsklasse, differenziert muss
beim Unterrichten in beiden Situationen werden, denn unser Leben ist nicht
„homogenisiert“. Sie beobachten, dass innerhalb jahrgangsgemischten Klassen
besonders ältere Schülerinnen und Schüler je nach Situation gerne als „Lehrperson“
auftreten und Lerninhalte und -techniken an andere weitergeben. Diese fachliche
Mithilfe ist nicht zu unterschätzen, da Kinder von ihresgleichen oft besser Kritik
verkraften und Lehrpersonen so neutraler da stehen.
Besonders im sozialen Bereich kommen die Vorteile dieser Unterrichtsform schnell
zum Tragen. Ältere Kinder fungieren als Zugpferde, vermitteln Traditionen mit dem
nötigen Unterton der Überzeugung und sind in vielerlei Hinsicht Vorbilder. Diese
Funktionen lassen sich besonders in einer jahrgangsgemischten Klasse sehr gut
nutzen und entlasten die Lehrperson.
Die Idee der altersgemischten Lerngruppen ist nicht neu, wie dies schon im
vorangehenden Kapitel erläutert wurde. Bei Maria Montessori, Peter Petersen,
sowie Célestin Freinet (1896 - 1966) wurde sie erfolgreich angewendet.
Vom rechtlichen Standpunkt her ist es einer politischen Behörde, sprich Gemeinde,
auf Antrag einer Schulbehörde und nach Absprache mit dem Inspektorat freigestellt,
jahrgangsgemischte Klassen zu führen.
Für die Betreuung altersgemischter Lerngruppen ist es von Vorteil, wenn zwei
Lehrpersonen zur Verfügung stehen, damit verschiedene Niveaus und individuelle
Vorgehensweisen angeboten werden können. Ausserdem ist die Anpassung des
Stundenplans sinnvoll, in dem basierend auf einem Wochenplanunterricht freie und
festgelegte Zeiten definiert sind. Dabei wird unter Freiarbeit diejenige Zeit
verstanden, in welcher die Kinder frei gemäss ihrem Lerntempo arbeiten können. Ein
geregelter, ritualisierter Unterricht ist dabei Grundvoraussetzung.
Der Wochenplanunterricht führt die Kinder strukturiert durch den Tag und sollte
schwerpunktmässig eher zu Beginn des Tages stattfinden, wenn die Kinder noch
ausgeruht und konzentriert sind. Kinder, die Mühe mit den
Wochenplanunterteilungen und insbesondere mit den Freiarbeiten bekunden,
können anhand eines Tagesplans gemäss einer festen Struktur arbeiten und am
Ende des Tages ihr Plansoll sofort eruieren.
73
Sabine Herzig und Anke Lang, So funktioniert jahrgangsübergreifendes Lernen, (Mühlheim an der
Ruhr: Verlag an der Ruhr, 2006): S. 10.
40
Ein wichtiger Aspekt altersgemischten Lernens ist das Aufräumen und das Einhalten
der Ordnung. So arten auch Zeiten mit Freiarbeit nicht zu chaotischen Zuständen
aus und das Zimmer kann nach Unterrichtsende ohne schlechtes Gewissen
verlassen werden. Die Einführung von Ämtlis kann dabei eine grosse Hilfe sein.
Ein Grossteil der wöchentlichen Lektionen fällt normalerweise auf den
Fachunterricht. Dabei ist grundsätzlich in jedem Fach, wie Erfahrungen aus
Mehrjahrgangsklassen zeigen, eine Altersmischung angezeigt. Es erfordert zwar von
der Lehrperson ein sorgfältiges Planen, dafür können aber auch hier die sozialen
Vorteile ausgenützt werden.
Wenn man eine altergemischte Lerneinheit plant, ist es gut zu wissen, wie die
Klassenzusammensetzung genau aussieht und auch die Eigenheiten der Kinder zu
kennen. Mit einer Grobplanung verteilt auf ein Quartal oder ein Semester werden der
Rahmen und die zeitliche Gesamtdauer festgelegt. Eine Aufteilung in Wochen- sowie
Tagespläne dient der Feinstrukturierung und hilft besonders denjenigen
Lehrpersonen, die noch keine grosse Erfahrung im Umgang mit
Mehrjahrgangsunterricht haben, den roten Faden nicht zu verlieren. Auch können bei
betreuungsintensiven Kindern sofort Fragen bezüglich Qualität, Selbständigkeit,
Beenden der Arbeiten und Schwierigkeiten beantwortet werden. Dazu können zum
Beispiel „Arbeitsausweise“ oder „Arbeitsurkunden“ eingesetzt werden, wie auch
Schülerbeobachtungen und die Auswertung von Schülerarbeiten.74 Eine durch die
Lehrperson regelmässig nachgeführte Klassendatei ist dabei unerlässlich.
Trotz des häufig individuellen Arbeitens ist es eine Verpflichtung der Lehrperson, die
Ergebnisse der Kinder zu begleiten, sie zu überprüfen und Rückmeldungen zu
geben. Gewisse untergeordnete Arbeiten können auch durch ältere Kinder oder im
Klassenverband korrigiert werden.
Ein gemeinsamer, herkömmlicher, schriftlicher Test eignet sich nicht in Bezug auf
den individualisierenden Unterricht. Allenfalls können die Tests auf zwei Niveaus
abgelegt werden. Aber bei dieser Unterrichtsform ist es sinnvoll, die Anzahl der Tests
auf ein notwendiges Minimum zu reduzieren. Das Ziel der Tests soll vor allem der
Erfassung des eventuellen Förderbedarfs dienen.
Das Zusammentragen des Lernmaterials erfordert während längerer Zeit eine
intensive Beschäftigung und kann umfassend wohl erst nach mehreren Durchgängen
als bewährt angesehen werden, wobei es immer wieder aktualisiert werden sollte. Da
74
Herzig und Lang: S. 86.
41
sich dies für eine Lehrkraft oft als unzumutbar herausstellt ist die Mithilfe beim
Sammeln von Unterrichtsmaterialien durch die Kinder unbedingt zu begrüssen. Sie
setzen sich frühzeitig mit dem Thema auseinander und haben selbstgesammeltes
Material zur Hand, zu welchem sie häufig auch mehr Sorge tragen. Es kann auch
während des Unterrichts Materialien als Klassensätze gebastelt werden.
Folgende Kriterien, zusammengestellt von Herzig und Lang geben einen guten,
jedoch nicht abschliessenden Überblick über die Kriterien und Tipps betreffend
altersgemischten Lerngruppen:75
- Holen Sie die Lebenswirklichkeit der Kinder in den Klassenraum
- Bieten Sie Materialien an, mit denen das Kind einen Lernerfolg hat
- Möglichst viel Material sollte von den Kindern selbst kommen
- Ermöglichen Sie dem Kind eine selbständige Ergebniskontrolle
- Berücksichtigen Sie persönliche Interessen der Kinder
- Berücksichtigen Sie eine einfache Handhabung und gute Haltbarkeit
- Das Material sollte verschiedene Anwendungsmöglichkeiten bieten
- Berücksichtigen Sie unterschiedliche Lerntypen
- Immer Material für mehr als die vorhandenen Jahrgänge bereit halten
- Immer weiterführendes Material bereit halten
3.7. Umgang mit Mehrjahrgangsklassen im Unterricht (Johannes Nydegger)
In letzter Zeit geht der Trend hin zu altersgemischten Klassen. Besonders in den
Primarklassen wird das Vorbild der Basisstufe übernommen. Stellt diese Wandlung
eine besondere Lernchance dar? „Ja!“, begründet Dr. Matthea Wagener,76 die zurzeit
eine Professur am Lehrstuhl Grundschulpädagogik an der TU Dresden innehat.
„Die Schulanfänger wachsen in eine bereits bestehende soziale Struktur hinein.
Diese kann ihnen Sicherheit vermitteln. Jedes Kind lernt verschiedene soziale
Positionen in der Lerngruppe kennen, weil es zeitweise sowohl den jüngeren als
auch den älteren Kindern angehört. Kinder können dadurch verschiedene Blickwinkel
kennen lernen, insbesondere dann, wenn nicht nur zwei, sondern drei Jahrgänge
gemischt werden.“77
75
Ibid.: S. 125 - 128.
Matthea Wagener, „Streitpunkt Altersmischung—Jahrgangsklassen oder Jahrgangsmischung“ in
Grundschule 6, 2008: S. 51.
77 Ibid.: S. 51.
76
42
Durch vielfältige Lernangebote und unterschiedliche Lernanreize werden die Kinder
entsprechend ihrer Entwicklung und der Fähigkeit zum Lernen individuell gefördert.
Jahrgangsgemischtes Lernen befindet sich gemäss Dr. Matthea Wagener in der
Entwicklung. Es gibt kein fertiges Rezept für die Unterrichtsgestaltung. Doch dies gilt
ja auch für den Unterricht in Jahrgangsklassen. Es sind aus den Pro- und KontraArgumenten die Konsequenzen für die Weiterentwicklung eines Unterrichts zu
ziehen, der die Altersmischung nicht als Spannung im negativen sondern im
positiven Sinn sieht.78
Im Jahresheft des Friedrich Verlages79 finden sich einige Artikel, die nicht nur das
Positive einer Mehrjahrgangsklasse betonen sondern zusätzlich auch
Unterrichtsverfahren angeben und die Heterogenität als Chance darlegen.
Eine solche Chance der Heterogenität zeigt sich zum Beispiel auch in Fächern wie
Religion, meinen die beiden Forscherinnen Obst und Volkwein.80 In ihrem Artikel
weisen sie auf den produktiven Umgang mit der religiösen Heterogenität hin.
Gerade in Zeiten religiösen Pluralismus ist ein interreligiöser Dialog unabdingbar.
Dazu eignet sich die Schule, in der viele Kinder nicht einen religiösen Standpunkt
wahren sondern ihn erst finden wollen. Die Theorie bietet dazu kaum Unterstützung.
Da es zu den Tabuthemen gezählt wird, ist dies oft ein weisser Fleck in Diskussionen
unter den Religionspädagogen.
Gerade das Gespräch und die Suche nach dem Dialog ermöglichen ein besseres
Verständnis des eigenen Standpunkts sowie eine unvoreingenommene Sichtweise
für die Welt des anderen. Dabei sollte man dem Konflikt durchaus nicht aus dem
Weg gehen. Denn dieser entbrennt oft infolge Unwissenheit oder
Voreingenommenheit.
„Der moderne Mathematikunterricht drängt sich durch seine mehrseitige
Betrachtungsweise geradezu auf, altersgemischt angegangen zu werden,“ betont
Susanne Prediger in ihrem Artikel zur Vielfalt des Mathematikunterrichts.81
78
Ibid.: S. 54.
Zum Beispiel Becker: S. 63.
80 Gabriela Obst und Karin Volkwein, „Aylin erklärt Markus das Christentum“ in Heterogenität:
Unterschiede nutzen—Gemeinsamkeiten stärken, Verlagssonderbeilage, (Seelze: Friedrich Verlag,
2004): S. 82 - 85.
Zitat betreffend Markus und Aylin: “Eine Welt für alle—Ökumene” - so heisst ein Kurs im Studienfach
Evangelische Theologie am Oberstufen-Kolleg Bielefeld. Viele der Jugendlichen—v. a. mit
vermeintlich christlichem Hintergrund—sind von religiösen Traditionen völlig entfremdet. Sie treffen im
Kreis auf andere—besonders Moslems—für die Religion ein fester Bestandteil ihres alltäglichen
Lebens ist.
81 Susanne Prediger, „Vielfalt des Mathematikunterrichts“ in Heterogenität: Unterschiede nutzen—
Gemeinsamkeiten stärken, Verlagssonderbeilage, (Seelze: Friedrich Verlag, 2004): S. 86ff.
79
43
Unterschiedliche Kenntnisse ermöglichen ein Voneinander-Lernen. Als Beispiel wird
der Einsatz von Karteikarten im Freiarbeitsunterricht erwähnt. Darauf tragen sich alle
ein, welche die jeweiligen Karten gerade erst gelöst haben und so als Experten
gelten. Auch in Gruppen ohne Altersmischung wird so gearbeitet, dass sich
Schülerinnen und Schüler gegenseitig etwas erklären, doch tritt infolge der
Altershomogenität oft ein Vergleichsdruck auf. Ausserdem können verschiedene
Lösungswege, vielfach einfachere als der selber gewählte zur Erweiterung des
Lernverständnisses führen.
Auch von Seiten der Lehrperson sollte die Vielfältigkeit gefördert werden. Gerade die
Verschiedenartigkeit der Mathematik (Algebra, Geometrie, Analysis,
Wahrscheinlichkeitsrechnung, Zahlentheorie) bedingt ein gleichzeitiges Beleuchten
eines Problems. Am besten kommen solche Unterrichtsarrangements zum Tragen in
Formen, in denen sich die Lehrperson zurückhält und sich auf die Aktivitäten der
Lernenden verlässt. Leider wird häufig noch der defizitorientierte Blick angewendet
(„Wer kann das noch nicht?“) und auf den kompetenzorientierten Blick nicht
eingegangen.
Im Artikel Mädchenfächer—Jungenfächer wird von der Autorin Ursula Kessels82 auf
die Tatsache hingewiesen, dass vielerorts die Ausbildungswege von männlichen und
weiblichen Jugendlichen und damit ihre weiteren beruflichen Karrieren nach wie vor
ausgesprochen geschlechtstypisch erfolgen.
Gerade in der Adoleszenz, wo die Aufgabe besteht seine Rolle als erwachsene Frau
oder heranwachsender Mann zu finden, muss diese Rolle ausprobiert—und oft sehr
überzogen—demonstriert werden. „Es ist vermutlich eine sehr allgemeine Erfahrung,
dass Schülerinnen nie zickiger und Schüler nie grossspuriger sind als zwischen 12
und 16—sie ‚zimmern’ gerade an der Grobfassung ihrer Identität als Mann und Frau
und eignen sich an, was sie für typisch feminin oder maskulin halten.“83 Dazu eignen
sich sowohl geschlechts- wie altersgemischte Gruppen besonders.
Arnulf Kunze plädiert in seinem Artikel „Alles hängt mit allem zusammen vom Nutzen
der Differenz.“84 Er erwähnt Rituale an seinem Schulhaus wie das bei Schuleintritt
Ursula Kessels, „Mädchenfächer – Jungenfächer“ in Heterogenität: Unterschiede nutzen—
Gemeinsamkeiten stärken, Verlagssonderbeilage, (Seelze: Friedrich Verlag, 2004): S. 90ff.
83 Ibid.: S. 91.
84 Arnulf Kunze, „Alles hängt mit allem zusammen—Vom Nutzen der Differenz“ in Heterogenität
Unterschiede nutzen—Gemeinsamkeiten stärken, Verlagssonderbeilage, (Seelze: Friedrich Verlag,
2004): S. 110ff. Abschliessendes Zitat S. 113: „Wenn ich mein Bessersein nur definiere durch die
auskonkurierten Verlierer, muss ich die Gruppe, in der ich arbeite, unsolidarisch behandeln, denn ich
82
44
spezielle Willkommen-Heissen jeder Schülerin, jedes Schülers. Er möchte vermehrt
projektbezogen, altersgemischt, interessegebündelt, nicht ausgrenzend unterrichten.
Einen geradezu revolutionären Ansatz hat Falko Peschel85 in seinem Artikel „Ganz
normale Kinder! Differenzierung von oben oder Individualisierung von unten“
festgehalten. Er stellt einige Charakterzüge seiner ihm anvertrauten Kinder vor und
erläutert kurz seine Unterrichtstätigkeit vor acht Jahren.
Sein erster Versuch, eine Differenzierung für alle vorzubereiten, scheiterte daran,
stündlich, ja minütlich zu individualisieren. Dies wäre nach ihm nicht zu leisten
gewesen. Auch die Arbeitsformen Werkstattunterricht, Freie Arbeit und Wochenplan
waren ihm infolge der Arbeitsblattinflation zu suspekt und keine Alternative zum
Frontalunterricht.
Erst eine totale Individualisierung, die sich an den Interessen des Kindes orientiert,
losgelöst von jeglichem Stundenplan- und Lehrplandruck liess ihn einen passenden
Weg finden. „Es gab folglich in der Klasse keinen Unterricht im herkömmlichen Sinn.
Es gab auch kein lehrgangsmässig aufgearbeitetes Material in der Form von
Schulbüchern, Karteien, Arbeitsblättern oder Ähnlichem sondern nur ‚weisse Blätter’,
Alltagsmaterialien und ‚Werkzeuge’. Werkzeuge waren eine Buchstabentabelle zum
Schreibenlernen, ein Wörterbuch zum Nachschlagen, ein Punktfeld als
Strukturierungshilfe zum Rechnen, Sach- und Geschichtenbücher zum Lesen und
Forschen usw.“86
Nach anfänglichen Schwierigkeiten bildete sich nach und nach eine Tagesstruktur
heraus, die getragen von einer zweitägig wechselnden „Tageschefin“ oder einem
„Tageschef“ geleitet wurden. Dabei arbeiteten alle Kinder an eigenen Sachen. Vieles
wie Schreiben und Lesen brachten sich die Kinder selber bei. Durch die
regelmässige Präsentation aller Erzeugnisse konnte auch dem breitgefächerten
Lehrplan längstens Genüge getan werden. Die Fülle an Themen war so reichhaltig,
dass sie jeden Lehrplan gesprengt haben. Da keine Sanktionen vorgesehen waren,
wurde auch ab und zu das Tagescredo erwähnt: „Ich habe heute nichts gemacht.“87
Doch verglichen auf das ganze Jahr konnte bei keinem Lernenden eine
brauche sie als schwaches Gegenüber. Ausgrenzung bringt Entsolidarisierung. Den Umgang mit
Ungleichheit und die Rücksicht auf vermeintlich Schwächere lernt man so gerade nicht.“
84 Kessels: S. 91.
85 Falko Peschel, „Ganz normale Kinder! Differenzierung von oben oder Individualisierung von unten“
in Heterogenität Unterschiede nutzen—Gemeinsamkeiten stärken, Verlagssonderbeilage, (Seelze:
Friedrich Verlag, 2004): S. 21ff.
86 Ibid.: S. 22.
87 Ibid.: S. 22.
45
Bequemlichkeit oder ein Wissensdefizit festgestellt werden, wie durchgeführte
Normtests ergaben. Im Gegenteil. Die Kinder erreichten Höchstwerte. Oft lag die
ganze Klasse signifikant über den Mittelwerten. Viele erreichten die Gymnasialstufe
oder wählten die Realschule (vergleichbar der Sekundarschule). Keines der Kinder
wurde auf die Hauptschule (Realschule) oder sogar Sonderschule (früher bei uns
Kleinklasse) überwiesen. Es machte den Anschein, als ob die Klasse
leistungsmässig nach oben verschoben war.
Als Lehrer empfand er den Unterricht als weitaus angenehmer als früher. Zwar sollen
die ersten Monate sehr anstrengend gewesen sein, weil sich so viel Menschen
zuerst einmal finden mussten, aber dann lief es irgendeinmal von selbst. „Meine
Rolle ist nicht mehr die des Be-Lehrers gewesen sondern die eines Menschen, der
immer wieder erstaunt die Entdeckungen und Fortschritte der mit mir lebenden
Kinder zur Kenntnis genommen hat.“88 Er konnte sich so geben wie er war ohne die
Rolle als Verantwortlicher aufzugeben. Es war für ihn spannender, die individuellen
Resultate zu sehen als 25 gleiche Übungstexte zu korrigieren. So wurde er auch Teil
der Heterogenität der Schulklasse. Er plädiert für eine Änderung der Basis des
Unterrichts—weg von der langweiligen Illusion der Homogenität hin zur
bereichernden Vielfalt der Heterogenität. Seine Schlussfrage, die er selbst
beantwortet, soll hier den Abschluss machen: „Aber ob [Lehrerinnen und] Lehrer das
lernen wollen? Da scheinen sie alle sehr homogen zu sein.“89
3.8. Erfahrungen des Mehrklassenunterrichts in anderen Ländern (Peter Boss)
Die folgenden zwei Beispiele zeigen, dass auch ausserhalb der Schweiz die
Reformpädagogik ihre Spuren hinterlassen hat. An Schulen verschiedenster Länder
wurde und wird immer noch zumindest über die Problematik der Jahrgangsklassen
nachgedacht, denn die Homogenität, welche zum Leitprinzip der Jahrgangsklassen
wurde, ist wie die Erfahrung zeigt eine Illusion. Germann schreibt: „Heute wissen wir,
dass es die vermeintliche homogene Lerngruppe nie gegeben hat. Sie war und ist
eine Fiktion.“90
In den USA wurde zu Beginn der 60er Jahre der Einsatz von sogenannten
Tutorinnen und Tutoren geprüft. Man wollte vor allem in Ballungszentren, die
88
Ibid.: S. 23.
Ibid.: S. 24.
90 E. Germann, „Altersdurchmischtes Lernen in der Volksschule“, Schulblatt des Kantons Appenzell
Ausserrhoden, 4/2004: S. 12.
89
46
ausschliesslich nach dem Jahrgangsklassensystem organisiert waren, der
mangelnden Zuwendung und Lernberatung entgegenwirken. Es wurde versucht
neben den Fachlehrpersonen speziell ausgewählte Schülerinnen und Schüler als
Tutorinnen und Tutoren einzusetzen, die sich den sozialen Problemen widmeten und
sich um Beziehungen kümmerten. Dabei entstanden gegenseitige LehrLernbeziehungen, wie sie auch bei altersgemischtem Lernen vorzufinden sind. Die
Tutorin oder der Tutor profitierte dabei von den ihr oder ihm übertragenen
Verantwortungen des sogenannten Tutees.91 Dabei wurde oft beobachtet, dass die
vorherrschende Gleichgültigkeit gegenüber der Schule verschwand und neue
Motivation an deren Stelle trat. Der Tutee auf der anderen Seite profitierte vom
Wissen seiner Tutorin oder seines Tutors, welche oft kindsgerechter vermitteln und
erklären konnten als die Fachlehrpersonen. „Trotz positiver Auswirkungen wurden
die meisten Programme nach Auslaufen der Versuchsphase nicht weitergeführt.“92
Grund dafür war bei vielen Schulen der unverhältnismässig grosse organisatorische
Aufwand. Geblieben ist aber die Idee vom einander Helfen in altersdurchmischten
Lerngruppen. Neue Versuche mit Mehrjahrgangsklassen haben bis jetzt durchwegs
zu positiven Resultaten geführt. Es wurde erkannt, dass heterogene Lerngruppen
viel stärker der natürlichen Entwicklung eines Kindes entsprechen als homogene
Zusammensetzungen. „Kinder entwickeln sich nicht entsprechend einer bestimmten,
wohldosierten Lehrgangsabfolge in einem bestimmten, wohlisolierten
Unterrichtsfach. Sie haben ihre ganz persönliche Lerngeschichte, verfolgen zur
gleichen Zeit unterschiedliche Interessen und bilden ihren ganz eigenen Lernstil
aus.“93
Das Bildungssystem in Schweden94 überträgt den einzelnen Schulen ein hohes Mass
an Autonomie, was zu interessanten Versuchen mit Gesamtschulen ohne fixen
Stundenplan und sogar ohne Klassenzimmer führte. Die Schule von Balsta wird von
Blendinger als interessantes Beispiel für altersgemischtes Lernen zitiert. 95 An dieser
Schule wird die Freiheit der Schülerinnen und Schüler sehr hoch geschrieben. Es
wird in gemischten, heterogenen Gruppen gearbeitet, und die Lernziele werden
Übersetzt heisst das etwa „die oder der Betreute“.
Blendiger: S. 51.
93 H. Hagestedt, „Lernen durch Lehren—zwischen Reformanstrengungen und Forschungsbedenken“
in Altersgemischtes Lernen in der Schule, Hrsg. R. Laging, (Baltmannsweiler: Schneider Verlag
Hohengehren, 1999): S. 67.
94 Blendinger: S. 50 - 56. Die detaillierten Forschungsresultate zu den ausländischen Erfahrungen mit
Mehrjahrgangsklassen sind auf diesen Seiten beschrieben.
95 Ibid.: S. 52.
91
92
47
jeweils für eine Woche vorgegeben und anschliessend geprüft. Interessant ist auch,
dass bis zur neunten Klasse keine Noten gesetzt werden, trotzdem aber
leistungsorientiert gearbeitet wird. Wie sich dann der Übertritt in höhere Schulen und
Berufsausbildungen gestaltet, ist aus dem Bericht leider nicht ersichtlich, aber es darf
angenommen werden, dass es zu funktionieren scheint, da altersgemischtes Lernen
nach wie vor fester Bestandteil des schwedischen Schulsystems ist. Im Vergleich
muss natürlich auch unterstrichen werden, dass eine Lehrperson in Schweden
gerade einmal 13 Kinder zu betreuen hat im Gegensatz zu dem bernischen
Durchschnitt von rund 19 Kindern. Entsprechend sind auch die Ausgaben für die
Bildung im Verhältnis höher als in der Schweiz.
Die finanzielle Seite dürfte denn wohl in der Schweiz oder konkret im Kanton Bern
das grösste Hindernis sein für die Einführung von wirklich effizienten
Mehrklassenstrukturen. In einer schweizweiten Untersuchung von 1983 wurde als
eines der Hauptprobleme die Arbeitsüberlastung der Lehrpersonen von
Mehrklassenschulen festgestellt. Die Forderung der damaligen Untersuchung läuft
unter anderem darauf hinaus, dass Kompensationen für Mehrjahrgangsklassen
notwendig wären, um diese im Sinne der Reformpädagogik führen zu können.96 Dies
würde einerseits bedeuten, die durchschnittlichen Kinderzahlen der heterogenen
Lerngruppen massiv zu senken oder entsprechend mehr Stellenprozente pro Klasse
zu bewilligen. Eine weitere Möglichkeit wäre, den Lehrpersonen mehr Zeit für die
Vor- und Nachbereitung zuzugestehen. Alle drei Möglichkeiten aber haben eine
finanzielle Mehrbelastung zur Folge, welche kaum ein Kanton zu tragen bereit ist,
obwohl gerade das Modell in Schweden zeigt, dass der Erfolg der Bildung nicht
zuletzt dank finanziellem Engagement sich eingestellt hat.
Weitere Untersuchungen zu altersgemischtem Lernen in Schulen ausserhalb der
Schweiz kommen einstimmig zum Schluss, dass das Modell der
Mehrjahrgangsklasse im Vergleich keinen Einfluss auf die Leistungen der
Schülerinnen und Schüler hat. Die herausragenden Qualitäten einer
Mehrjahrgangsklasse sind immer im sozialen Bereich angesiedelt.
96
Edo Poglia und Anton Strittmatter, Die Situation der Mehrklassenschulen in der Schweiz, (Genf:
Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren, 1983): S. 48.
48
3.9. Pädagogische Gründe für eine Mehrjahrgangsklassenschule (Johannes
Nydegger)
Bereits der Titel des Artikels suggeriert eine positive Haltung, obwohl er als Frage
formuliert ist. In ihrem Artikel erläutern Hinz und Beutel, was sie unter dem Titel
„Anhaltende Lernfreude durch Jahrgangsmischung?“97 verstehen. Dabei führen sie
als dominante Argumente das Helferprinzip, ein Lernen von älteren oder auch
jüngeren Kindern, das Gestalten des eigenen Arbeitsprozesses oder das Aufbrechen
fester Positionen im Sozialgefüge einer Lerngruppe heran. „Besonders im Bereich
der Grundschule sind die Hoffnungen begründet, den Unterricht effektiver zu
gestalten und das einzelne Kind in seiner Persönlichkeit zu stärken.“98 Sie führen
aber ins Feld, dass sich die Unterschiede der altergemischten zu den
altershomogenen Gruppen minimal unterscheiden, machen aber gleichzeitig darauf
aufmerksam, dass die altersgemischte Gruppe gesamthaft erfolgreicher abschneidet.
Sie erhoffen sich durch einen altersgemischten Unterricht ein länger anhaltendes
Motiviert-Sein der einzelnen Kinder. Wichtig ist die Stärkung des Selbstkonzepts, das
ein Kind zu Beginn der Grundschulzeit zu beginnen beherrscht. Darunter verstehen
sie ein In-der-Lage-Sein, das eigene Können zu beurteilen und Vorstellungen von
sich selbst zu haben. Sie sprechen von einem generellen Selbstkonzept, das sich
unterteilen lässt in die folgenden vier Bereiche: akademisches Selbstkonzept
(zusammengesetzt aus Muttersprache, Geschichte, Mathematik, Biologie etc.),
soziales Selbstkonzept (Freunde, Andere), emotionales Selbstkonzept (Gefühle) und
körperliches Selbstkonzept (Fitness und Aussehen). Gerade ein berechtigtes Lob bei
einem Diktat kann bei einem Kind zu einer Stärkung des Selbstkonzepts—Im Fach
Deutsch bin ich ein guter Schüler/eine gut Schülerin—führen.
Grundschulkinder haben zu Beginn ein eher hohes Selbstkonzept, das sich aber bei
dauernder Kritik seitens der Mitschülerinnen und -schüler sowie der Lehrperson im
Verlaufe der Jahre abschwächt. Bei einem hierarchischeren Gefüge der Kinder bleibt
dieses Selbstkonzept aber konstanter. Es herrscht nicht dauernd der
Vergleichskampf mit Gleichaltrigen vor. Kinder mit positivem Selbstkonzept werden
von der Lehrperson weniger kritisiert und zudem günstiger bewertet als Kinder mit
negativem Selbstkonzept.99
Renate Hinzel und Silvia-Iris Beutel, „Anhaltende Lernfreude durch Jahrgangsmischung?“ in
Grundschule 11/2007: S. 10 – 13.
98 Ibid.: S. 10.
99 Ibid.: S. 11.
97
49
Deutsche Forschungsergebnisse zeigen im Bereich der Lesekompetenz, dass Kinder
aus jahrgangsübergreifenden Klassen erfolgreicher sind und dass sich dies auch auf
die Selbstwahrnehmung auswirkt.
Als Beispiel einer erfolgreichen Einführung des Mehrjahrgangssystems soll an dieser
Stelle die Primarschule Lindenfeld in Burgdorf angeführt werden.100 Durch eine
Schulneueröffnung in einem Burgdorfer Quartier im Jahre 2004 bot sich die Chance,
die ca. 120 Schülerinnen und Schüler der Regelklassen altersgemischt aufzuteilen in
je drei Unter- und Mittelstufenklassen. Die sechs Klassen werden von elf
Lehrpersonen unterrichtet. Zur Schule gehören zwei Kindergärten. Die damalige
Schulkommission, die diese Einteilung favorisierte, ging von der Annahme aus, dass
sich so eher soziale Kräfte freisetzen könnten, dass die Durchlässigkeit zwischen
den Stufen erhöht werde, dass die Beziehungen verbindlicher würden und dass eine
Reflexion des eigenen Lernens stattfinden könne, da eine wiederholte
Auseinandersetzung mit den Inhalten passiere.
Da das Projekt in der Burgdorfer Elternschaft nicht unumstritten war, stand das neu
zusammengestellte Kollegium von Anfang an unter Erfolgsdruck. Als flankierende
Massnahmen erhielt es spezifische Weiterbildungen zum Thema. Ausserdem
wurden sie während dreier Jahre von einer Fachperson begleitet. Die fachliche
Begleitung wurde von der Schulleitung wahrgenommen.
Nach einer intensiven Startphase sahen nicht nur die beteiligten Kinder und Eltern
Vorteile, sondern auch bei den Lehrkräften konnte eine starke positive Haltung
gegenüber diesem „neuen“ System festgestellt werden. Gerade die verstärkte
pädagogische Auseinandersetzung innerhalb des Lehrkörpers und die durch die
Heterogenität herausfordernde Parallelität wurde von vielen als sehr bereichernd
erwähnt. Im Hinblick auf die angestrebte, integrierte Schule liessen sich so
Grunderfahrungen sammeln.
Anna Müller, „Primarschule Lindenfeld, Burgdorf—Mehrjahrgangsklassen als pädagogisches
Prinzip“ in Die Schule 2009/2: S. 10 - 11.
100
50
4. Praxis
4.1. Vorüberlegungen
Das Ziel vom praktischen Teil ist es, unsere drei Hypothesen zu überprüfen und
entsprechende Konsequenzen daraus zu ziehen für unseren alltäglichen Unterricht
an Mehrjahrgangsklassen. Wir haben uns entschlossen, eine Umfrage als Instrument
für das Durchleuchten unserer Hypothesen zu kreieren. Diese haben wir dann in
einem ersten Schritt an alle Schülerinnen und Schüler des Jahrgangs 1992 im
Saanenland verschickt. Von den rund 150 verschickten Umfragen kamen zu unserer
freudigen Überraschung rund 50% ausgefüllt zurück. Trotzdem haben wir den
Eindruck gehabt, eine noch grossflächigere Befragung würde der ganzen
Auswertung mehr Gewicht verleihen. Also haben wir uns an Hans-Heini Winterberger
der GIBB Thun gewendet und ihn um seine Mithilfe gebeten. Er hat spontan
zugesagt und die Umfragen an verschiedene Berufsschullehrpersonen weitergeleitet,
welche zurzeit Lernende des Jahrgangs 1992 aus dem Berner Oberland
unterrichten. Auf diese Weise sammelte sich ein bemerkenswerter Stapel von gut
200 ausgefüllten Fragebögen bei uns. Das Datenmaterial wird nun in diesem Teil der
Diplomarbeit ausgewertet, übersichtlich dargestellt und in Bezug auf unsere
Hypothesen interpretiert.
Auch wenn sich aufgrund von 200 ausgefüllten Fragebögen noch keine empirischen
Aussagen machen lassen, ergibt die Fülle von Datenmaterial eine gute Grundlage für
fundierte Aussagen zu den vorliegenden Hypothesen. Zumindest für die Schulen des
Berner Oberlands dürften die Forschungsergebnisse gesicherte Aussagen zulassen,
welche dann auch als Ausgangspunkt für eine kritische Begutachtung des eigenen
Unterrichts dienen können.
Von den ausgefüllten Fragebögen konnten wir dreizehn Stück für die Auswertung
nicht berücksichtigen, da insbesondere bei den Fragen 7 und 8 nicht genügend oder
suspekte Aussagen gemacht wurden. Die entsprechenden Fragebögen tragen die
Nummern 202 bis 214. Ein Fragebogen kam mit dem Vermerk „geht sie nichts an“
zurück, was natürlich keine auswertbaren Daten liefert. Bei zwölf Fragebögen fehlten
entweder die Schulnoten der Oberstufe oder der Ausbildung vollständig. In diesen
Fällen ist es nicht möglich, einen sinnvollen Vergleich zwischen Sek 1 und Sek 2 zu
ziehen. Und dann war da noch dieser eine Bogen, bei welchem in jedem Semester
die höchstmögliche Note angekreuzt wurde, dann aber bei der Frage neun
51
gleichzeitig behauptet wurde, der Mathstoff sei nicht aufgeholt worden. Diese
Korrelation ist nicht nachvollziehbar und lässt darauf schliessen, dass der oder die
betreffende Lernende die Umfrage nicht ganz ernst genommen hat. Es ist natürlich
nicht auszuschliessen, dass es auch unter den ausgewerteten Fragebögen faule Eier
hat, aber die Fülle des Datenmaterials sollte eigentlich solche Fehlerquoten
ausgleichen.
Bei der Umfrage haben wir bewusst die Frage, ob die Lernenden die Real- oder
Sekundarschule besucht haben, nicht gefragt. Es kann aber mit Sicherheit gesagt
werden, dass alle Schülerinnen und Schüler der Nummern 103 bis 201 die
Realschule besucht haben, da sie alle die 7. bis 9. Klasse in Mehrjahrgangsklassen
absolviert haben. Im Oberland gibt es unseres Wissens keine Sekundarschule, die
Mehrjahrgangsklassen führt. Welche Schülerinnen und Schüler dagegen die
Sekundarschule besucht haben, kann weniger definitiv bestimmt werden, da es auch
Jahrgangsklassen an der Realstufe gibt. Für unsere Hypothesen ist aber diese
Fragestellung nicht relevant, denn schlussendlich geht es darum, den Erfolg
zwischen Schülerinnen und Schülern aus Jahrgangsklassen und
Mehrjahrgangsklassen zu vergleichen. Es sind also nicht die absoluten Noten,
welche zählen. Eine Schülerin oder ein Schüler, der die Schule mit der Note 4
verlässt und dann in der Lehre diese 4 aufrechterhalten kann, ist im Vergleich
ebenso erfolgreich wie eine Schülerin oder ein Schüler mit der Note 6 während der
Schulzeit und der Lehre. Ungünstig für unsere Hypothese wäre es erst, wenn die
Jahrgangsschülerinnen und -schüler im Durchschnitt in der Lehre bessere Noten
hätten als während der obligatorischen Schulzeit, während die Schülerinnen und
Schüler aus Mehrjahrgangsklassen im Durchschnitt sich in der Lehre verschlechtern
würden. Dies wiederum aber lässt sich problemlos aus dem Datenmaterial
herauslesen und ist nicht von der Information abhängig, ob eine Schülerin oder ein
Schüler die Sekundarschule oder Realschule besucht hat.
Ob die Schülerinnen und Schüler aus Mehrjahrgangsklassen in der Mathematik auf
der Stufe Sek 2 nicht benachteiligt sind, ob das mathbu.ch eine gute Grundlage für
die Lehre bietet, und ob die thematische Gruppierung des Mathstoffs in
Mehrjahrgangsklassen zu effizientem Unterricht führt, wie wir dies in unseren drei
Hypothesen behaupten, wird sich nun in der nachfolgenden Diskussion zeigen.
52
4.2. Umfrage mit Auswertung: Umfrage bei Jahrgang 1992 betreffend Leistung
Math von 8. Klasse bis Lehre
Von den 201 Fragebogen haben wir 102 Exemplare von Schülerinnen und Schülern
aus Jahrgangsklassen und 99 Exemplare aus Mehrjahrgangsklassen zurück
erhalten. Nach dem festgelegten Rückgabetermin sind einige weitere ausgefüllte
Fragebogen bei uns eingetroffen, die wir dann aber leider nicht mehr berücksichtigen
konnten. Diese sind auch nicht im Anhang abgelegt.
4.2.1. Schulbesuch der letzten drei obligatorischen Jahre
Diagramm 1
Die Anzahl der ausgefüllten und retournierten Fragebogen von ein- und
mehrklassigen Schülerinnen und Schülern hält sich zufälligerweise mit je rund der
Hälfte die Waage.
53
4.2.2. Verwendung des neuen mathbu.ch
Diagramm 2
Rund drei Viertel aller Schülerinnen und Schüler des Jahrgangs 1992 sind mit dem
neuen Mathematik Lehrmittel mathbu.ch unterrichtet worden. Da das alte Mathematik
Lehrmittel offiziell nicht länger in Gebrauch ist, haben wir bei der nachfolgenden
Auswertung dies berücksichtigt. Um unsere Hypothese verifizieren zu können, ist es
angebracht nach altem und neuem Lehrmittel zu unterscheiden.
Diagramm 3
Auffallend ist die ähnliche Verteilung von altem und neuem Mathbuch sowohl bei einund mehrklassigen Schulen.
54
Diagramm 4
Der Anteil des alten Mathematik Lehrmittels lag bei gut einem Viertel. Dies hat damit
zu tun, dass der Jahrgang 1992 noch in der Übergangsphase lag.
4.2.3. Wechsel in die Berufsschule im Fach Math
Diagramm 5
Dieses Diagramm zeigt, wie die mathbu.ch-Schülerinnen und -schüler aus
Jahrgangsklassen den Übergang in die Berufschule empfunden haben.
55
Diagramm 6
Dieses Diagramm zeigt die gleiche Situation allerdings für Schülerinnen und Schüler,
die mit dem alten Lehrmittel unterrichtet wurden.
Diagramm 7
Dieses Diagramm zeigt den gleichen Sachverhalt bei Mehrjahrgangsklassen mit
neuem mathbu.ch.
56
Diagramm 8
Das mathbu.ch begünstigt den Wechsel in die Berufsschule. Insbesondere der
Vergleich bei den Mehrjahrgangsklassen zeigt deutlich, dass mit dem mathbu.ch die
Erfolgsquote höher ist. Auffällig ist, dass Mehrjahrgangsklassen, die das alte
Lehrmittel verwendet haben, mit 34 % einen ungünstigen Einstieg in die
Berufsschule hatten.
4.2.4.
Mathvorbereitung für die Lehre
Im Gegensatz zur Frage drei, die die momentane objektive Situation erfasst,
beleuchtet die Frage vier die subjektive Wahrnehmung der Lernenden.
Diagramm 9
57
Dieses Diagramm zeigt die Rückmeldung der Lernenden in Bezug auf die
Vorbereitung für die Lehre (einklassig mit mathbu.ch)
Diagramm 10
Mit dem alten Mathbuch ist die subjektive Zufriedenheit in Bezug auf die
Vorbereitung der Lehre wesentlich grösser. Insgesamt aber ist der Anteil der
positiven Rückmeldungen beim neuen mathbu.ch grösser.
Diagramm 11
In Mehrklassenschulen ist der Unterschied der Zufriedenheit zwischen altem und
neuem Mathematik Lehrmittel ausgeglichener.
58
Diagramm 12
Das Datenmaterial zeigt eine signifikante Korrelation zwischen Frage drei und vier.
Wer erfolglos in die Lehre gestartet ist, hat meistens auch die Vorbereitung für die
Lehre als negativ empfunden. Die entsprechenden positiven Erfahrungen zeigen das
gleiche Bild.
Generell kann festgestellt werden, dass auch in dieser Frage mit neuem Lehrmittel
Ausgebildete einen erfolgreicheren Start in die Lehre haben. Allerdings fällt auf, dass
bei Jahrgangsklassen ein Drittel aller Lernenden mit dem alten Lehrmittel die
Vorbereitung für die Lehre als grossartig einstufen im Gegensatz zu nur einem
Fünftel aller Lernenden mit neuem Lehrmittel.
Bei den mehrklassigen Schulen ist die schon beobachtete Tendenz, dass das neue
Lehrmittel besser auf die Lehre vorbereitet, ähnlich wie in Frage drei ersichtlich.
4.2.5. Charakterisierung der Mathlehrperson
Die fünfte Aussage der Umfrage hat einen stark subjektiven Charakter. Schon nur
die Formulierung beinhaltet eine emotionale Komponente (empfand die
Mathlehrperson…). Trotzdem haben dazu fast alle Befragten eine Aussage gemacht,
wahrscheinlich wegen des vertraulichen Charakters der Umfrage.
59
Diagramm 13
Bei beiden Diagrammen sind immerhin zwei Drittel der Befragten mit ihren
Mathematik Lehrpersonen zufrieden.
Diagramm 14
Bei den Schülerinnen und Schülern von Jahrgangsklassen sind nur 10 % mit ihrer
Lehrperson gar nicht zufrieden, während es in Mehrjahrgangsklassen sogar nur 7 %
sind. Sofern die Schülerinnen und Schüler die Frage ausschliesslich auf die
Lehrperson bezogen haben, ist es trotzdem erstaunlich, dass mehr als ein Drittel
aller Lehrpersonen als negativ eingestuft werden (mässig bis katastrophal). Es kann
aber durchaus auch sein, dass nicht nur die Lehrperson sondern auch gleichzeitig
die Haltung dem Fach Mathematik gegenüber die Meinung beeinflusst. Es gibt vier
mögliche Hauptaussagen.
60
1. Mathematik wird generell als negativ empfunden, aber die Chemie zur Lehrperson
stimmt. Dies würde zu einer eher positiven Aussage führen.
2. Mathematik wird geliebt, aber die Chemie zur Lehrperson ist negativ behaftet. Dies
würde zu einer eher negativen Aussage führen.
3. Weil Mathematik grundsätzlich als negativ empfunden wird, kann die Lehrperson
gar nicht „gut“ sein. Die Aussage ist immer negativ.
4. Die vierte Aussage lautet, dass das Fach Mathematik und somit auch die
Lehrperson positiv erlebt wird.
Eine weitere Differenzierung ist mit dem vorhandenen Datenmaterial nicht möglich.
Es kann aber auch die positive Aussage unterstrichen werden: Rund zwei Drittel aller
Befragten stufen ihre Lehrpersonen als gar nicht übel bis grossartig ein.
4.2.6.
Beeinflussung der Berufswahl durch die Mathnoten
Bei der Abfassung dieser Frage haben wir erwartet, dass eine grosse Korrelation
zwischen der Berufswahl und der Mathematikleistung besteht.
Diagramm 15
Dieses Diagramm stellt die Beeinflussung der Berufswahl durch die Mathematik Note
dar (einklassige Situation mit neuem mathbu.ch).
61
Diagramm 16
Auffallend ist die fehlende Beeinflussung. Sie schwankt zwischen einem Drittel
(einklassig, altes Buch) und beinahe der Hälfte (einklassig mit mathbu.ch) aller
Befragten. Die teilweise Beeinflussung ist mit 25 % und 44 % nahezu gegengleich
verteilt.
Diagramm 17
Bei Mehrklassenschulen differiert das alte und das neue Lehrmittel nicht in gleich
starkem Mass wie bei Jahrgangsklassen.
62
Diagramm 18
Wir stellen fest, dass die Schülerinnen und Schüler aus Jahrgangsklassen sich
weniger von ihren Mathnoten der obligatorischen Schulzeit beeinflussen lassen als
diejenigen aus Mehrjahrgangsklassen (oranger Bereich). Auffallend ist, dass
Lernende, die mit dem alten Lehrmittel ausgebildet worden sind, die starke
Beeinflussung nie angekreuzt haben. Aber auch beim neuen Lehrmittel haben nur
4 % respektive 6 % eine starke Beeinflussung angegeben. Es erstaunt, dass sich
grundsätzlich nur so wenig Schülerinnen und Schüler stark beeinflussen lassen von
ihren Mathleistungen in Bezug auf die Berufswahl. Dies bedeutet, dass doch
immerhin ein Teil aller Schülerinnen und Schüler auch bei schlechten Ergebnissen
sich die Möglichkeit offen halten, einen Beruf auszuwählen, bei dem Mathematik ein
gewisses Gewicht hat. Umgekehrt heisst dies, dass gute Mathleistungen nicht
zwingend dazu führen, dass dann auch ein Beruf mit Schwergewicht Mathematik
ausgewählt wird.
4.2.7. Mathematik Noten 8. / 9. Klasse und Zwischenjahr / Lehre
Die folgenden Diagramme zeigen die Entwicklung der Mathematik Noten im Zeitraum
von fünf Jahren (8. Klasse bis 2. Lehrjahr inklusive Zwischenjahr) und die Korrelation
zwischen der Entwicklung der Mathematik Noten im selben Zeitraum und dem
gebrauchten Mathematik Lehrmittel während der obligatorischen Schulzeit. Auf der xAchse sind die absoluten Notenwerte dargestellt; auf der y-Achse kann man die
Abweichung zwischen dem Durchschnitt der obligatorischen Schulzeit und dem
Durchschnitt der Stufe Sek 2 ablesen.
63
Lesebeispiel für das erste Diagramm: Das oberste rote Kästchen stellt eine Schülerin
oder einen Schüler dar, der über die fünf gemessenen Jahre eine Durchschnittsnote
von 4.6 erzielt hat, sich aber dabei in der Lehre um fast einen ganzen Notenpunkt
verbessert hat.
Bei der Berechnung der Notendurchschnitte wurden folgende Gewichtungen
vorgenommen: 8. Klasse  Faktor 1; 9. Klasse  Faktor 1.5; Übergangsjahr 
Faktor 1; 1. Lehrjahr  Faktor 1.5; 2. Lehrjahr  Faktor 2.
Diagramm 19
Es kann festgestellt werden, dass bei Jahrgangsklassen nur wenige Extremwerte
vorkommen. Die fehlenden überdurchschnittlichen Notenwerte der einklassigen
Schulen können dahingehend interpretiert werden, dass ein gewisser Prozentsatz
der Schülerinnen und Schüler das Gymnasium besuchen und somit nicht erfasst
worden sind. Im Gegensatz dazu sind die Extremwerte bei Schülerinnen und
Schülern aus Mehrjahrgangsklassen vorhanden. Der Grossteil der Befragten aber
liegt im Bereich von 4.3 bis 5.5. Die spitz zulaufende rechte Diagrammhälfte ist damit
zu erklären, dass je höher die Durchschnittsnote, desto geringer die vertikale
Auslenkung ist. Die Note 6 als Durchschnitt muss zwingend auf der Nulllinie sein.
Dies gilt umgekehrt auch für ungenügende Noten.
64
Diagramm 20
Das alte Lehrmittel streut tendentiell weniger, wobei zu sagen ist, dass die negative
Veränderung der Mathematik Note eher stärker vertreten ist. Es gilt zu beachten,
dass das alte Lehrmittel viermal weniger häufig vertreten ist. Unsere zweite
Hypothese, dass das neue mathbu.ch eine gute Grundlage für die Lehre bietet, kann
im Vergleich zum alten Mathlehrmittel mit diesem Diagramm bestätigt werden.
Diagramm 21
Die Extremwerte werden vorwiegend von Schülerinnen und Schülern aus
Mehrklassenschulen geliefert. Auffallend ist eine gewisse Häufung der roten Werte
im Notenbereich 5 bis 5.5 im Gegensatz zur Streuung der gelben Werte, die keine
explizite Ballung zeigen.
65
Diagramm 22
Tendentiell ist der Bereich der positiven Notenveränderung (+0.4 bis +1.0) mit dem
alten Lehrmittel weniger ausgeprägt als beim mathbu.ch. Die negative Veränderung
hingegen ist bei beiden Diagrammen ähnlich stark vorhanden.
Diagramm 23
Aus dem Datenmaterial können nun Tendenzen herausgelesen werden, wie sich die
Durchschnittsnoten der Schülerinnen und Schüler von der 8. Klasse bis in das zweite
Lehrjahr entwickeln. Dabei haben sich die oben aufgeführten sieben Kategorien
ergeben. Zu den drei Hauptkategorien gehören Schülerinnen und Schüler, die
schlechter werden, besser werden oder am Ende der Lehre immer noch den
gleichen Durchschnitt aufweisen. Damit aber auch den Feinheiten des
66
Datenmaterials Rechnung getragen werden kann, haben wir vier weiterer Kategorien
geschaffen.
Lesebeispiel Kategorie hellblau: Die Schülerinnen und Schüler dieser Kategorie sind
während der ersten zwei Lehrjahre notenmässig gleich geblieben, haben sich aber
im Vergleich zur obligatorischen Schulzeit gesteigert.
Diagramm 24
Bei Jahrgangsklassen ist die sinkende Notentendenz (orange und rot) gegenüber der
steigenden Notentendenz (dunkelblau und blau) dominanter.
Diagramm 25
Es lässt sich eine leichte Tendenz feststellen, dass mehrklassige Schülerinnen und
Schüler sich vorwiegend im gleich bleibenden Notenbereich bewegen, während die
67
Schülerinnen und Schüler aus Jahrgangsklassen eine gleichmässigere Verteilung
zeigen. Insbesondere der orange Bereich (abnehmend vorher schlechter/gleich)
weist einen höheren Prozentsatz bei einklassigen Schulen auf.
In Bezug auf unsere Hypothese, dass Schülerinnen und Schüler aus
Mehrjahrgangsklassen beim Übertritt in die Lehre nicht benachteiligt sind, ist der
dunkelblaue, der hellblaue, der grüne und der orange Bereich massgeblich. Das
Diagramm zeigt in der Tat, dass Schülerinnen und Schüler aus
Mehrjahrgangsklassen mit 48 % gleich erfolgreich abschneiden wie die
Gleichaltrigen aus Jahrgangsklassen.
Die folgenden Diagramme zeigen den Notendurchschnitt verschiedener Bereiche auf
(Schule, Lehre, Gesamtnotendurchschnitt).
Diagramm 26
Dieses Diagramm zeigt den Notendurchschnitt der einklassigen Schülerinnen und
Schüler.
68
Diagramm 27
Bei Mehrklassenschulen konzentriert sich der Durchschnitt um die Note Fünf, wobei
Extremwerte gegenüber der Einklassenschulen eher untervertreten sind. Diese
Tendenz lässt sich damit erklären, dass bei Mehrklassenschulen nur
Realschülerinnen und – schüler vertreten sind.
Diagramm 28
Erst die Zusammenführung beider Diagramme lässt nun eine Gauss’sche
Glockenkurve erahnen.
69
Diagramm 29
Dieses Diagramm zeigt die Anzahl Schülerinnen und Schüler mit gleichem
Notendurchschnitt während der ersten zwei Lehrjahre mit einklassigem
Schulhintergrund.
Diagramm 30
Dieses Diagramm zeigt die Anzahl Schülerinnen und Schüler mit gleichem
Notendurchschnitt während der ersten zwei Lehrjahre mit mehrklassigem
Schulhintergrund.
70
Diagramm 31
Es fällt auf, dass besonders bei diesem Diagramm der Notenraster sich klar
abzeichnet (Spitzenwerte bei 4, 4½, 5, 5½). Dies hat damit zu tun, dass zum Teil nur
eine einzige Note aus der Lehre angegeben worden ist.
Diagramm 32
Die Verteilung der Notendurchschnitte zeichnet eine annähernd gleichmässige
Gauss’sche Glockenkurve nach, welche bei grösseren Datenmengen noch
ausgeglichener wäre.
71
Diagramm 33
Wir stellen fest, dass während der obligatorischen Schulzeit die Notdurchschnitte aus
Mehrklassenschulen etwas tiefer liegen. Beide Gruppen zeigen einen positiven
Gradienten in der Notenentwicklung. Während des zehnten Schuljahres nähern sich
die beiden Gruppen auf einem tieferen Niveau an. Ab dem ersten Lehrjahr steigern
sich Schülerinnen und Schüler aus Mehrjahrgangsklassen im Gegensatz zur Gruppe
aus Jahrgangsklassen. Im zweiten Lehrjahr beträgt die Differenz immerhin mehr als
eine Zehntelnote.
Es kann sein, dass aufgrund der Noten der Sekundarschülerinnen und –schüler
beide Noten nicht den gleichen Wert haben. Das heisst, das Niveau muss nicht
zwingend gleich hoch sein. Dies ist dann bei den Notendurchschnitten des 10.
Schuljahres ersichtlich. Nur wenige Sekundarschülerinnen und –schüler wählen ein
Zwischenjahr vor der Lehre. Das heisst, es ist vor allem die Gruppe der
Realschülerinnen und Schüler vertreten, die sich zum Ziel gesetzt hat, stoffliche
Defizite aufzuholen.
Falls die Schülerinnen und Schüler aus Mehrjahrgangsklassen jemals benachteiligt
gewesen sind, zeigt dieses Diagramm, dass sie spätestens ab dem zweiten Lehrjahr
durchschnittlich sogar erfolgreicher abschneiden als die Gruppe aus
Jahrgangsklassen. Zusammenfassend ist zu bemerken, dass insbesondere im
zweiten Lehrjahr die Schülerinnen und Schülern aus Mehrjahrgangsklassen
erfolgreicher abschneiden. Eine mögliche Erklärung dafür könnte die schon früh
antrainierte Selbständigkeit auch im Mathematik Unterricht sein.
72
Diagramm 34
Der Vergleich zwischen den Noten der achten und neunten Klasse zeigt, dass
tendenziell in der neunten Klassse die Notenwerte höher ausfallen.
Diagramm 35
Dieses Diagramm zeigt klar auf, dass im Gegensatz zur obligatorischen Schule die
Befragten häufig keine Angaben gemacht haben. Es kann davon ausgegangen
werden, dass viele Lernende kein Übergangsjahr gemacht haben und daher auch
keine Notenwerte liefern konnten. Die fehlenden Angaben beim zweiten Lehrjahr
kommen daher, dass einige dieses noch gar nicht absolviert haben.
73
Diagramm 36
Dieses Diagramm zeigt, dass die Noten der achten und neunten Klasse sich gegen
Ende der obligatorischen Schulzeit kontinuierlich positiv entwickeln. Es kann daran
liegen, dass Lehrpersonen wohlwollender beurteilen, um den Schülerinnen und
Schülern eine möglichst günstige Basis für ihre Berufswahl zu legen. Es kann aber
auch sein, dass sich die Schülerinnen und Schüler vermehrt Gedanken zu ihrer
Zukunft machen und sich bewusst werden, dass ein entsprechender Einsatz ein
breiteres Spektrum an Ausbildungsplätzen ermöglicht.
Generell kann festgestellt werden, dass die Notengebung in den ersten zwei
Lehrjahren eher etwas tiefer ausfällt als während der obligatorischen Schulzeit.
Auffallend ist der tiefe Notendurchschnitt im ersten Semester des zehnten
Schuljahrs. Häufig wählen leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler diesen
Weg um verpassten Schulstoff aufzuholen. Dies gelingt ihnen, wie die Resultate des
zweiten Semesters zeigen.
4.2.8. Persönliche Einschätzung des Mathwissensstandes
Mit Hilfe der neunten Aussage auf dem Fragebogen sollte eruiert werden, ob ein
Unterschied in Bezug auf Mehrjahrgangsklassen und Jahrgangsklassen wie auch
altem und neuem Mathematik Lehrmittel besteht. Zudem kann der subjektive
Mathematik Leistungsstand am Ende des zweiten Lehrjahres abgeschätzt werden.
Die letzte Frage auf dem Fragebogen (habe jetzt den Mathstoff aufgeholt) wurde
auffallend oft nicht angekreuzt. Wir interpretieren diesen Umstand dahingehend,
74
dass die Frage optisch ungünstig gesetzt worden war und viele Befragte sie wohl
deshalb übersehen haben.
Diagramm 37
Bei Nicht-Berücksichtigung derjenigen, die keine Angaben gemacht haben, ergeben
sich die folgenden Prozentwerte. Rund 78 % der Lernenden (einklassig mit
mathbu.ch) haben am Ende des zweiten Lehrjahres den Mathematikstoff aufgeholt.
Diagramm 38
Bei Nicht-Berücksichtigung derjenigen, die keine Angaben gemacht haben, ergeben
sich die folgenden Prozentwerte. Rund 72 % der Lernenden (einklassig mit mit altem
Mathbuch) haben am Ende des zweiten Lehrjahres den Mathematikstoff aufgeholt.
75
Diagramm 39
Bei Nicht-Berücksichtigung derjenigen, die keine Angaben gemacht haben, ergeben
sich die folgenden Prozentwerte. Rund 83 % der Lernenden (mehrklassig mit
mathbu.ch) haben am Ende des zweiten Lehrjahres den Mathematikstoff aufgeholt.
Diagramm 40
Bei Nicht-Berücksichtigung derjenigen, die keine Angaben gemacht haben, ergeben
sich die folgenden Prozentwerte. Rund 66 % der Lernenden (einklassig mit mit altem
Mathbuch) haben am Ende des zweiten Lehrjahres den Mathematikstoff aufgeholt.
Die Ergebnisse zeigen, dass beim alten Lehrmittel sowohl bei Jahrgangs- wie auch
Mehrjahrgangsklassen die Quote der Schülerinnen und Schüler, die den Mathstoff
noch nicht aufgeholt haben, markant grösser ist. Auch dieses Diagramm weist darauf
76
hin, dass mit der Grundlage des mathbu.ch der Mathstoff eher aufgeholt werden
kann, auch wenn die Aussagen subjektiver Natur sind.
4.3. Ergebnisse
Hypothese 1: Schülerinnen und Schüler aus Mehrjahrgangsklassen sind in der
Mathematik auf Sekundarstufe 2 nicht benachteiligt.
Die ausgewerteten Ergebnisse insbesondere von Diagramm 33 zeigen deutlich, dass
Schülerinnen und Schüler aus Mehrjahrgangsklassen in keiner Weise benachteiligt
sind in Bezug auf Mathematik während ihrer Ausbildung. Im Gegenteil, sie zeigen
gegenüber ihren Gleichaltrigen aus Jahrgangsklassen einen steigenden und im
zweiten Lehrjahr markant besseren Notendurchschnitt.
Hypothese 2: Das mathbu.ch bietet eine gute Grundlage für eine Lehre (Sekstufe 2)
derjenigen Berufe, in denen Mathematik relevant ist.
Im Vergleich zum alten Mathematik Lehrmittel führt die Grundausbildung mit dem
mathbu.ch zu einer höheren Erfolgsquote auf der Sekundarstufe 2, wie die
Diagramme 37 bis 40 zeigen. Auch die Gegenüberstellung von Diagramm 21 und 22
stellt dar, dass mit dem neuen Lehrmittel die positive Notenentwicklung über fünf
Jahre stärker vertreten ist als mit dem alten Lehrmittel, was die Schlussfolgerung
zulässt, dass das mathbu.ch definitiv eine gute Grundlage für die Lehre bildet. Man
könnte gemäss Datenmaterial auch eine andere Blickrichtung wählen und sogar
folgern, dass das mathbu.ch eine Leistungssteigerung bei den Lernenden zur Folge
hat.
Hypothese 3: Thematische Gruppierung in Mehrjahrgangsklassen gleichzeitig
durchgeführt führt zu effizientem Unterricht (Vorbereitung, Durchführung,
Nachbearbeitung).
Diese Hypothese konnte nicht durch die Umfrage unter den Lernenden verifiziert
werden; sie könnte nur von deren Lehrpersonen beantwortet werden. Aus diesem
Grund haben wir die Tandembesuche so angelegt, dass Aussagen zu dieser
Hypothese gemacht werden können. Diagramme 41 bis 43 zeigen, dass weniger
Wechsel innerhalb einer Lektion stattfinden, dort wo themenparallel unterrichtet wird.
Trotz jahrgangsmässigem Aufbau kann das mathbu.ch (7 bis 9) bei der Grobplanung
77
themenparallel strukturiert werden, was zu effizientem Unterrichten führt. Bei der
Befragung der Schülerinnen und Schüler während der Tandembesuche wurde
festgestellt, dass diejenigen, die themenparallel unterrichtet werden, sich besser
erinnern können an die Lernumgebungen, an welchen die anderen Klassen arbeiten.
Der Unterricht und die Nachbearbeitung werden von der Lehrperson als homogener
empfunden. Auch wenn dies nicht mit einer Fülle von Datenmaterial belegt werden
kann, bestätigt zumindest das subjektive Empfinden beider Lehrpersonen die
Hypothese.
4.4. Auswertung Tandembesuche
Die Tandembesuche erstreckten sich über eineinhalb Monate von Anfang November
bis vor Weihnachten. Die Besuche fanden jeweils am Freitag statt. Aus diesem
Grund war es oft so, dass Themen nicht unbedingt neu eingeführt sondern eher
abgeschlossen wurden. Bei der Auswertung der Tandembesuche ist zu
berücksichtigen, dass unsere beiden Schulsituationen sich doch ziemlich stark
voneinander unterscheiden, wie die Ausführungen am Anfang dieser Arbeit gezeigt
haben. Während im Turbach gleich fünf Klassen in einem Schulzimmer unterrichtet
werden, sind es in Lauenen deren drei. Aber auch bei der Anzahl Schülerinnen und
Schüler sowie bei der Erfahrung der Lehrpersonen im Umgang mit dem mathbu.ch
sind Unterschiede festzustellen, was dann auch erklärt, weshalb die
Unterrichtsbeobachtungen zum Teil nicht ganz die gleichen Resultate aufzeigen.
Während der Tandembesuche im Turbach wurde die 5. und 6. Klasse von der 7. – 9.
Klasse getrennt unterrichtet, damit vergleichbare Resultate möglich waren.
Frage 1: Wieviel Zeit erhalten die einzelnen Klassen?
Die Situation der Mehrklassigkeit spiegelt sich auch direkt im Lektionenverlauf wider.
Wie auf den Originalblättern ersichtlich ist, wurde im voraus ein Fünfminutenraster
festgelegt. Die folgenden Diagramme zeigen jeweil nur drei Viertel eines ganzen
Kreises, weil eine Lektion nur 45 Minuten dauert. Die einzelnen Farben zeigen auf,
welche Klasse zu welchem Zeitpunkt die Aufmerksamkeit der Lehrperson erhalten
hat. Bei Zeitabschnitten ohne direkte Einflussnahme der Lehrperson, sprich
Wochenplanarbeit oder Übungszeit, wurde die Farbe Gelb verwendet.
78
Diagramm 41
Der Einstieg und oft auch der Abschluss einer Lektion wurde im Turbach gemeinsam
begangen. Neben der Themenparallelisierung ist es der Lehrkraft aber auch wichtig,
dass das Kopfrechnen mittels Kärtchen wöchentlich trainiert wird. Dabei handelt es
sich um 24 einfache Grundrechenoperationen, die mit Hilfe des Kleinen Einmaleins
ausgeführt werden können.
Diagramm 42
Die Lektionen dargestellt in den ersten zwei Diagrammen zeigen jeweils einen
solchen Einstieg und Abschluss.
79
Diagramm 43
Alle drei vorhergehenden Diagramme zeigen einen relativ regelmässigen
Lektionenaufbau.
Diagramm 44
Es ist möglich, dass einzelne Abschnitte eher kürzere Auftragssequenzen waren.
Zwecks Vereinfachung der Darstellung wurde aber der Fünfminuten-Raster
beibehalten.
80
Diagramm 45
Die Variante 7./8. und 7./9.wurde nur in Lauenen unterschieden. Die Variante 8./9. ist
in der Legende nur der Vollständigkeit halber aufgeführt, wurde aber im
Beobachtungszeitraum nie so unterrichtet.
Diagramm 46
Durch die Parallelisierung der Maththemen konnte im Turbach teilweise mit allen
Klassen der Einstieg in ein Thema durchgeführt werden. Dank der oben erwähnten
Parallelisierung hat es die Lehrperson im Turbach während einer Lektion leichter,
jeder Klasse kurze Tipps zu geben, da die Oberthemen einigermassen identisch
sind. Auffallend ist, dass bis auf die letzte Lektion in der Lauenen, bei der es sich um
eine klassische „Übungslektion“ mit grossem selbständigem Anteil handelt, es im
Turbach weniger Wechsel innerhalb der Lektion gibt. (5, 4 und 4) gegenüber (7, 6,
81
und 3). Der grössere Anteil der Wochenplan- und Übungszeit im Turbach hängt wohl
damit zusammen, dass die Lehrkraft normalerweise gleichzeitig 5 Klassen
unterrichtet und darauf angewiesen ist, dass die Schüler sehr selbständig arbeiten
müssen und der Arbeitsplan sehr klar und strukturiert abgefasst werden muss. So
bleibt der Lehrperson Zeit, mit einzelnen Schülerinnen und Schülern ein konkretes
Problem kurz zu analysieren oder Tipps zu geben.
Im Austausch über die jeweiligen methodischen Ansätze fiel schnell auf, dass eine
themenmässige Gleichschaltung im Mathunterricht nicht nur der Lehrkraft etwas
nützt sondern auch den Kindern. Oft kann ein Einstieg in ein Thema mit einer
Aufgabe aus dem mathbu.ch gewählt werden und die Kinder merken so, dass sich
die Themen immer wieder wiederholen und wohl deshalb als wichtig angesehen
werden können. Sie können so auch schnell für sich persönliche Erfolgserlebnisse
einheimsen wenn sie merken, dass eine Aufgabe aus den unteren Klassen für sie
jetzt keine Probleme mehr bietet, da der mathematische Kenntnisstand sich erhöht
hat.
Fragen 2 und 3: Relevanz der behandelten Themen für die Berufswahl
In Lauenen wurden von den behandelten Themen von den befragten zwei
Schülerinnen alle als unwichtig eingestuft. Behandelte Themen: Algebra,
Argumentieren (Ecco), Ähnlichkeiten. Beide Schülerinnen interessieren sich nicht für
mathematische Probleme und stufen dieses Fach allgemein als unwichtig ein. Beide
Schülerinnen drücken klar aus, dass sie mit Sicherheit keinen Beruf wählen werden,
in welchem Mathematik von Bedeutung sein wird. Allerdings hat eine der beiden
Schülerinnen in der Zwischenzeit gemerkt, dass der Weg zu ihrem Wunschberuf
über ein zehntes Schuljahr führen wird, was zu einem bemerkenswerten
Gesinnungswandel gegenüber Mathematik geführt hat. Das Bewusstsein, dass
verschiedene mathematische Themen einen direkten Bezug zu ihrem Leben haben
ist allerdings bei beiden Schülerinnen noch nicht vorhanden.
Im Turbach wurden die behandelten Themen unterschiedlich wichtig eingestuft. Es
fällt aber auf, dass alle vier Schülerinnen und Schüler der neunten Klasse
lebensnahe Themen wie Lohn, AHV, Grafiken, Rechnungen mit Zinsen und
Versicherungen als zumindest notwendig einstufen. Daraus kann die Folgerung
gezogen werden, dass mathematische Aufgaben, die mit einem konkreten
Lebensbereich der Jugendlichen verknüpft sind, als sinnvoll empfunden werden. Im
82
Gegensatz dazu werden mathematische Spielereien wie das Rechnen im binären
Zahlenraum als klar unwichtig eingestuft, was die Berufswahl anbelangt.
Frage 4 und 5: Verständlichkeit der Arbeitspläne
Übersichtlich strukturierte und klar verständliche Arbeitspläne sind im
Mehrklassenunterricht ein absolutes Muss. Als Lehrperson muss man sich darauf
verlassen können, dass die Schülerinnen und Schüler sich mit Hilfe von diesem
Arbeitsinstrument selbständig arbeiten können. Aus der Sicht des Beobachters
waren die vorliegenden Arbeitspläne verständlich in ihrem Aufbau und Wortlaut. Nur
einzelne Details brauchten Klärung. Wichtig ist aber vor allem, dass die Schülerinnen
und Schüler die Arbeitspläne verstehen, mit denen sie arbeiten müssen. Im Turbach
war es den befragten Kindern möglich, jedes Detail zu erklären. In Lauenen wurden
einzelne Symbole und Zeichen nicht verstanden. Trotz gewissen Unklarheiten aber
konnten an beiden Schulen sich die Schülerinnen und Schüler selbständig mit ihren
Arbeitsplänen beschäftigen. Die Erkenntnisse aus diesen Beobachtungen zeigen die
Wichtigkeit einer gründlichen Einführung eines Arbeitsplans, damit dessen gesamter
Inhalt dann auch wirklich verstanden und entsprechend eingesetzt werden kann. Es
hat sich gezeigt, dass tatsächlich in der sprichwörtlichen Kürze die Würze oder eben
Übersichtlichkeit und Verständlichkeit liegt. Oder anders gesagt—ein mit
Informationen vollgestopfter Plan verfehlt höchstwahrscheinlich seinen Zweck, egal
wie schön er auch gestaltet sein mag.
Frage 6a: Unaufgeforderte Hilfestellungen innerhalb der gleichen Stufe
Die Auswertung der Strichlisten zeigt auf, dass Schülerinnen und Schüler innerhalb
der gleichen Stufe einander doch immer wieder helfen, wenn Fragen auftauchen.
Diese Kultur des Miteinanders ist eine logische Folge von Mehrjahrgangsklassen,
denn es gibt immer wieder Momente, in welchen die Lehrperson sich nur einer Stufe
widmen kann und die restlichen Schülerinnen und Schüler daher bei Fragen und
Unklarheiten ganz auf sich selber gestellt sind. Je nach Thema wird die Hilfestellung
von Gleichaltrigen mehr oder weniger benötigt, aber die Beobachtungsbogen zeigen
deutlich, dass eine klare Kultur des Miteinanders vorherrscht.
83
Frage 6b: Unaufgeforderte Hilfestellung klassenübergreifend
Natürlich kann man nicht in jeder Mathematikstunde erwarten, dass die älteren
Kinder den jüngeren helfen. Trotzdem aber ist das Resultat ernüchternd: ein einziges
Mal wurde dieser Vorteil von der Lehrperson bewusst eingesetzt, und ein weiteres
Mal geschah ein klassenübergreifender Austausch in Form von Hilfestellung. Der so
oft hochgejubelte Gewinn, den man in diesem Bereich in Mehrklassenschulen
herausschlagen könnte, ist zumindest während der beobachteten Lektionen an
beiden Schulen beinahe inexistent. Als Lehrpersonen von Mehrjahrgangsklassen
betonen wir immer wieder, wie vorteilhaft es ist, dass die älteren Kinder den jüngeren
Kindern helfen können, nur um zu beobachten, wie wir dann in der Umsetzung von
diesem Qualitätsmerkmal kläglich scheitern. Eine Erklärung für die fehlende
klassenübergreifende Hilfestellung könnte sein, dass sich entweder die Themen nicht
geeignet haben, was ich bezweifle, oder aber dass wir noch zuwenig bewusst auf
diesen Punkt achten bei unseren Vorbereitungen.
Frage 7 und 8: Erinnern sich die Klassen an die Themen, die in den unteren/oberen
Klassen behandelt werden?
Die Rückmeldungen der Schülerinnen und Schüler sind bei dieser Frage
unterschiedlich ausgefallen. Bei den Klassen in Lauenen muss gesagt werden, dass
ein Wechsel der Lehrperson stattgefunden hat und daher die Möglichkeit besteht,
dass einzelne Themen gar nicht durchgenommen worden sind und die Schülerinnen
und Schüler sich deshalb gar nicht erinnern können. Allgemein aber fällt zumindest
innerhalb der Oberstufe auf, dass ein gewisser Repetitionseffekt feststellbar ist.
Wenn also Themen in den unteren Klassen behandelt werden, weckt dies die
Erinnerungen der älteren Schülerinnen und Schüler. Auch umgekehrt konnte dieser
Effekt insbesondere im Turbach beobachtet werden. Bei fast allen Themen haben
sich jüngere Schülerinnen und Schüler daran erinnert, dass diese im vergangenen
Jahr schon einmal in ihrem Klassenzimmer behandelt worden sind. Dies zeigt, dass
in Mehrjahrgangsklassen tatsächlich ein Vor- und Rückwärtslernen möglich ist.
Frage 9: Vernetztheit der Themen
Um die Vorzüge einer Mehrjahrgangsklasse ausnützen zu können, ist es sinnvoll, an
allen Stufen jeweils die gleichen Themenbereiche auf unterschiedlichen Niveaus zu
behandeln. Auf diese Weise ist es dann auch einfacher, Schülerinnen und Schüler
84
der oberen Klassen als Helfer einzusetzen und so die Altersdurchmischung optimal
zu nützen. An der Schule im Turbach geschieht dies schon sehr gut. Es ist zwar nicht
ganz überall klar ersichtlich, wie die gewählten Themen zusammenhängen, aber
trotzdem merkt man, dass bei der Vorbereitung gezielt darauf geachtet wurde, dass
alle Schülerinnen und Schüler sich gleichzeitig zum Beispiel mit Geometrischen
Fragen auseinandersetzen. In Lauenen hingegen ist von dieser Vernetztheit noch
kaum etwas zu spüren. Die Klassen haben während der Hospitationslektionen an
zum Teil sehr unterschiedlichen Inhalten gearbeitet. In diesem Bereich kann eine
Optimierung sicher eine Entlastung der Lehrperson bringen während der
Unterrichtszeit.
85
5. Konsequenzen für die Zukunft
5.1. Eigener Unterricht
5.2. Fazit
Rückblickend auf unsere gemachten Erfahrungen kann gesagt werden, dass die
Mehrjahrgangsklassen nach wie vor ihre Berechtigung haben. Die Entwicklung der
Mehrjahrgangsklasse zeigt auf, dass nicht nur in früherer Zeit sondern auch heute
noch in diesem Sinn effizient unterrichtet werden kann. Es versteht sich, dass guter
Mehrjahrgangsklassenunterricht stark Lehrpersonen abhängig ist und mit der
Bereitschaft einhergeht, in der Vorbereitung und Durchführung einen Mehraufwand
zu leisten. Ebenfalls spielt die Ausbildung der Lehrpersonen und deren Erfahrung
eine zentrale Rolle in Bezug auf auf einen erfolgreichen Unterricht.
Im Speziellen bezogen auf den Mathematik Unterricht lässt sich aus dem
Datenmaterial der Umfrage sagen, dass insbesondere Schülerinnen und Schüler aus
Mehrjahrgangsklassen am Ende des zweiten Lehrjahres einen höheren
Notendurchschnitt aufweisen. Somit wird klar, dass Lernende aus
Mehrjahrgangsklassen tendenziell sogar besser vorbereitet sind für die Berufslehre
und diese Unterrichtsform auch auf der Oberstufe eine gute Alternative zum
Standardmodell der Jahrgangsklassen bietet.
Des Weiteren kann aus der Auswertung der Umfrage gefolgert werden, dass das
neue Mathematik Lehrmittel mathbu.ch auch auf der Realstufe die Schülerinnen und
Schüler besser vorbereitet auf die Anforderungen der Berufslehre als frühere
Lehrmittel. Daher kann das mathbu.ch generell als adäquat für die Sekundarstufe 1
bezeichnet und empfohlen werden.
Zur Steigerung eines effizienten Unterrichts in Mehrjahrgangsklassen empfiehlt sich
eine themenparallele Gruppierung der Lernumgebungen. Zwar nimmt die einmalige
Vorbereitung mehr Zeit in Anspruch und ist auch komplexer. Doch bereits bei der
Durchführung ergeben sich für die Lehrpersonen wie auch die Schülerinnen und
Schüler eine Vereinfachung, die zugleich einer Vertiefung des Unterrichts entspricht.
Je höher die Effizienz ist, desto nachhaltiger gestaltet sich der Unterricht.
Abschliessend darf nochmals betont werden, dass Mehrjahrgangsklassen aus der
Sicht der Mathematik in keiner Weise benachteiligt sind, insbesondere der Übergang
von der Sekundarstufe 1 in die Sekundarstufe 2.
86
5.3. Zukunftsvisionen
Zukunftsvision (Peter Boss): Die Situation an der Schule Lauenen habe ich im ersten
Teil dieser Arbeit ausführlich beschrieben. Im kommenden Schuljahr 2010/11 dürfen
wir nochmals vier Klassen führen. Dann aber kommt definitiv die Änderung, über die
eigentlich schon lange gesprochen wird. Wie an anderen Schulen haben auch wir
zuwenig Schülerinnen und Schüler, um weiterhin vier Klassen führen zu können. Da
es keine weiteren gemeindeinternen Schulen gibt, mit denen man sich
zusammenschliessen könnte, bleiben eigentlich zwei Möglichkeiten: Die Oberstufe
(7. – 9. Klasse) wird ins Oberstufenzentrum in Gstaad verlegt, und die Primarstufe
wird mit drei Klassen weitergeführt, oder aber man sucht nach einer sinnvollen
Lösung, alle Schülerinnen und Schüler der ersten bis neunten Klasse auf drei Stufen
aufzuteilen.
Aufgrund der theoretischen und praktischen Erkenntnisse dieser Arbeit müsste es
eigentlich möglich sein, die zweite Option ins Auge zu fassen. Allerdings muss man
sich dabei bewusst sein, dass auch wenn die Schule „im Dorf bleibt“ gerade für die
Schülerinnen und Schüler der Oberstufe die Chancengleichheit nicht gewährleistet
werden kann. Erstens ist es kaum möglich, nach Niveaus auf den einzelnen Stufen
zu unterrichten, wie dies am Oberstufenzentrum getan wird. Zweitens kann die
Schule Lauenen nie das Zusatzprogramm bieten, zu welchem Schülerinnen und
Schüler in Gstaad Zugang haben. Drittens steuert der Kanton Bern ein neues Modell
der neunten Klasse an, bei welchem individuell nach Berufsgattung einzelne Themen
und Fächer verstärkt gewichtet werden sollen. Auch diese Aufteilung kann an einer
kleinen Schule unmöglich durchgeführt werden.
In dieser Arbeit wurde aber auch ganz klar aufgezeigt, dass stufenübergreifendes
Lernen eine Chance für die Schülerinnen und Schüler sein kann. Nach mehrjähriger
Erfahrung im Fach Englisch und einjähriger Erfahrung im Fach Math an einer 7. – 9.
Klasse habe ich selber erkannt, dass der Erfolg im Unterricht nicht von der
Klassenstruktur abhängt, sondern vor allem von dem didaktischen Geschick der
Lehrperson. Die Schülerinnen und Schüler sind von Anfang an gefordert, selbständig
zu arbeiten, denn rein mathematisch gesehen hat eine Lehrperson an einer
altersdurchmischten 7. – 9. Klasse pro Lektion genau 15 Minuten Zeit, um mit den
einzelnen Stufen gemeinsam etwas zu erarbeiten. Zwei Drittel der Zeit sind die
Schülerinnen und Schüler also gefordert, selbständig zu arbeiten oder zumindest
ohne direkte Begleitung der Lehrperson inhaltlich etwas zu erarbeiten.
87
Diese Art Unterricht stellt grosse Anforderungen an die Lehrperson, welche den
Auftrag hat, das Ganze so zu strukturieren, dass für alle Beteiligten stets sinnvolle
Lernerfahrungen zur Verfügung gestellt werden, die mehrheitlich selbständig
erarbeitet werden können. Ich selber merke immer wieder, dass ich an meine
Grenzen komme und frustriert auf einzelne Lerneinheiten zurückblicken muss. Die
Reflexion von meinem eigenen Mathunterrich an der altersdurchmischten 7. – 9.
Klasse hat mich zu folgenden Erkenntnissen gebracht:
Es gibt immer wieder Situationen, in welchen eine Lerngruppe nicht weiterkommt und
dann wertvolle Zeit mit Warten verschwenden muss.
Es gibt immer wieder Situationen, in welchen ich nicht genügend Zeit aufwenden
kann, um praktische Unterrichtseinstiege vorzubereiten.
Es gibt immer wieder Situationen, in welchen mich die Organisation des
mehrstufigen Unterrichts zu erdrücken scheint.
Bestimmt können mit steigender Unterrichtserfahrung diese negativen Punkte auf ein
Minimum reduziert werden. Aber der schale Nachgeschmack wird immer bleiben: die
Durchführung des Mathunterrichts an meiner Klasse ist und bleibt im allerbesten Fall
eine verkrüppelte Version von dem Grundgedanken der Reformpädagogik. Ich
versuche nichts anderes als den einzelnen Jahrgängen den ihnen gemäss Lehrplan
zustehenden Unterrichtsstoff zu vermitteln. Zwischendurch gelingt es, thematische
Überschneidungen an allen Stufen gleichzeitig anzuschauen, aber grundsätzlich
erlebe ich selber nicht oft jenen stufenübergreifenden Unterricht, bei dem alle am
gleichen Thema auf unterschiedlichen Niveaus arbeiten.
Diese Erkenntnis lässt mindestens drei Schlüsse zu:
Ich als Lehrperson habe noch nicht erkannt, wie die Reformpädagogik in einer
Mehrjahrgangsklasse umgesetzt werden kann.
Reformpädagogik ist ein Wunschdenken, das nicht umsetzbar ist.
Anforderungen an den Unterricht und die aktuellen Lehrmittel sind nur schlecht mit
der Reformpädagogik vereinbar.
Der zweite Gedanke, dass Reformpädagogik kaum mehr als ein Wunschdenken ist,
wäre zwar eine praktische Erklärung für meine eigenen Erfahrungen, kann aber in
seiner Aussage so nicht stimmen, wie verschiedene erfolgreich geführte
Montessorischulen beweisen. Reformpädagogik ist umsetzbar, aber nur unter den
entsprechenden günstigen Bedingungen. Der erste Gedanke, dass ich selber das
Konzept der Reformpädagogik noch nicht in seiner ganzen Breite und Tiefe erfasst
88
habe, ist sicher eine richtige Feststellung. Wenn ich meinen eigenen Unterricht zu
einem echten altersgemischten Lernen wachsen lassen will, muss ich mich definitiv
noch mehr mit der theoretischen Literatur wie auch deren praktischen Umsetzung
beschäftigen. Das Hauptproblem aber bleibt meines Erachtens der dritte Gedanke:
Unsere neuen Mathematik Lehrmittel sind schlicht nicht auf altersübergreifendes
Lernen ausgerichtet. Genau an dieser Stelle setzt meine Vision für den zukünftigen
Unterricht an Mehrjahrgangsklassen an.
Um gemeinsam an einem Thema arbeiten zu können in einer Mehrjahrgangsklasse,
müssten die einzelnen Lernumgebungen zumindest teilweise miteinander
übereinstimmen. Da es in diesem Kapitel nicht um eine vertiefte Studie, sondern nur
um ein anschneiden des Problems geht, werde ich mich auf ein Beispiel in der
Geometrie beschränken: Berechnungen am Dreieck. Meine Forderung an das
Mathbu.ch ist zumindest das Koordinieren der einzelnen Lernumgebungen von der
siebten bis zur neunten Klasse. Dies ist in der aktuellen Auflage definitiv nicht der
Fall. Dreiecksberechnungen finden sich bei der 7. Klasse in der Lernumgebung 9, bei
der 8. Klasse in der Lernumgebung 13 und 18 und bei der 9. Klasse als erweiterte
Form in der Lernumgebung 6. Als Lehrperson muss ich also erstens selber die
Lernumgebungen bestimmen, welche zusammengehören, und zweitens während
des Unterrichts stets drei Bücher an verschiedenen Stellen aufgeschlagen haben. Mit
relativ kleinem Aufwand könnte zumindest dieser organisatorische Aspekt bei der
nächsten Auflage behoben werden und den Unterricht an mehrstufigen Klassen
vereinfachen.
Meine Vision geht aber weit über diese Minimalanforderung hinaus. Statt an drei
verschiedenen Klassen drei verschiedene Bücher zu haben, gibt es pro Semester
nur noch je ein Buch mit Aufgabenstellungen auf unterschiedlich schwierigem
Niveau. Das heisst, dass jeder Jahrgang über drei Jahre immer wieder an den
gleichen Lernumgebungen arbeitet, jedes Mal aber auf einem höheren Niveau. Im
Zeitalter der modernen Unterrichtsmethoden plädiere ich sogar für einen Unterricht
ohne Buch. Gemeinsame Einführungen in ein Thema basieren auf Informationen, die
direkt auf die Leinwand oder Smartboard projiziert werden. In meinem Beispiel steht
also im Zentrum das Dreieck. Bilder und einfache Erläuterungen wecken dienen als
Grundlage für die Einarbeitung in das Thema. Dabei können verschiedene
didaktische Ansätze zum Zug kommen. Man könnte zum Beispiel die Schülerinnen
und Schüler der höheren Klassen als Repetition die Inhalte der tieferen Klassen
89
erklären lassen. Man könnte in gemischten Gruppen mit gezielten
Aufgabenstellungen Entdeckungen am Dreieck machen lassen. Zentral dabei sind
zwei Gedanken: Erstens dreht sich der Unterricht um Dreiecksberechnungen, und
zweitens geht es darum, den Wissensvorsprung der Älteren zu nützen und sinnvoll
einzusetzen.
Nach einer gemeinsamen Zeit der Einführung wird der Stoff anschliessend
stufengerecht vertieft mit den entsprechenden Arbeitsblättern, so wie wir sie heute
schon kenne als Ergänzung zu den Lernumgebungen im Mathbu.ch. Ein Schritt
weiter Richtung Utopia würde bedeuten, dass die Vertiefungsaufgaben nach
Schwierigkeitsgrad aufgeschlüsselt würden, wie dies schon jetzt zumindest
angedeutet wird durch die Auftrennung von grundlegenden und schwierigeren
Aufgaben. Konsequent angewendet liesse sich so mit vertretbarem Aufwand ein
Unterrichtsmodell durchführen, das sowohl die Forderungen der Integration wie auch
der Reformpädagogik zumindest ein grosses Stück näher kommen würde.
Da aber nur ein kleiner Prozentsatz aller Oberstufen als Mehrjahrgangsklassen
geführt werden, wird meine Vision wohl immer eine solche bleiben, denn der
finanzielle und zeitliche Aufwand lohnt sich wohl kaum, für die kleine Minderheit
solche Ressourcen zu schaffen. Es lohnt sich erst dann, wenn die Bildungspolitik
sich bewusst für die Reformpädagogik einsetzt, sich vom Modell der
Jahrgangsklassen löst und konsequent für Altersdurchmischung stark macht. Bis es
soweit ist, bin ich wohl weiterhin auf meine eigene Kreativität angewiesen, den
Mathematikstoff wenigstens teilweise so zu gliedern, dass der Unterricht über drei
Stufen sinnvoll gestaltet werden kann.
Noch schwieriger wird es dann, wenn vier oder sogar fünf Klassen in einem
Schulzimmer unterrichtet werden müssen. Ob sich in einer solchen Situation meine
Vision noch durchsetzen lässt, ist fraglich, denn grundsätzlich geht es in der
Primarstufe darum, Grundoperationen zu üben und festigen, während auf der Stufe
Sek 1 der Schwerpunkt bei der Anwendung von den gelernten Grundoperationen
liegt.
Ein weiterer Punkt ist die Selektionierung, die sich meines Erachtens mit der
bewussten Durchmischung von verschiedenen Altersstufen nicht vereinen lässt.
Entweder man setzt auf die volle Trennung der einzelnen Jahrgänge und Niveaus
innerhalb der Jahrgänge, um möglichst homogene Lerngruppen zu erreichen, was
tendenziell der Bildungslandschaft des Kantons Bern entspricht. Oder aber man setzt
90
konsequent reformpädagogisches Gedankengut durch und verabschiedet sich
entsprechend von Selektion und dem Gedanken der homogenen Lerngruppe
zugunsten von einem integrativen Modell, bei welchem Unterstufe, Mittelstufe und
Oberstufe zusammengefasst werden. In der Realität müsste dann natürlich eine
Mischform gefunden werden, da auch die Vorgaben des Kantons betreffend
Schülerinnen- und Schülerzahlen eingehalten werden müssen.
Tatsache aber bleibt, dass für Mehrjahrgangsklassen insbesondere im Fach
Mathematik die Lehrmittel keine ideale Ausgangslage bieten, um den Unterricht nach
reformpädagogischen Prinzipien durchführen zu können. Die bestehenden Lehrmittel
sind vor allem ausgerichtet auf Jahrgangsklassen, daher bedarf es grosser
Kreativität und Flexibilität einer Lehrperson, die Inhalte so umzugestalten, dass ein
echter gemischter Unterricht in einer Mehrjahrgansklasse zustande kommt, bei
welchem die Schülerinnen und Schüler von der Klassenheterogenität auch wirklich
profitieren.
Zukunftsvision (Johannes Nydegger): Wenn ich nun anschliessend meine Vision von
Schule weitergeben kann, ist das wohl passend, da sie eigentlich dort beginnt wo
mein Kollege Peter Boss geendet hat.
Als Sohn eines Lehrers mit nunmehr 25 Jahren als Schüler auf der „passiven Seite“
(Primar- und Sekundarschule, Seminar Thun, Gymnasium Kirchenfeld für die
Aufnahmeprüfung an die Universität Bern, Grundstudium der Informatik, Studium der
Geologie, Nachdiplomstudium Erdwissenschaften an der ETH, Nachdiplomstudium
an der PH Bern) habe ich ein eher zwiespältiges Verhältnis gegenüber der
Wissensvermittlung. Ich habe weit über hundert Lehrpersonen erlebt, die jobend,
begeistert, geldeinsackend, fanatisch, mitfühlend, streng, kalt, zynisch,
verständnisvoll ihren Stoff vermittelt haben. Meistens ist es ihnen dabei um ihr
Wissen gegangen. Diesen Aspekt möchte ich weiter unten eingehend erläutern.
Neben meinen aktiven Schulbankzeiten habe ich mir aber einen Grossteil meines
Wissens und Könnens autodidaktisch angeeignet. Oft habe ich meinen Verstand
eingesetzt oder Profis über die Schulter geschaut und sie zu kopieren versucht. Ich
war mir auch nicht zu schade, Fragen zu stellen, auch wenn einige sich sicher sehr
verwundert haben und die Qualität der Fragen nicht immer hochstehend gewesen
sind.
Meine Erfahrungen in einem geotechnischen Ingenieurbüro, in dem ich nur allzuoft
ins kalte Wasser geworfen worden bin oder der umfassende Umbau des eigenen
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Hauses, bei dem ich in allen Bereichen Hand angelegt habe, möchte ich nicht
missen. Es soll ferne von mir sein, wenn dieser Text in irgendeiner Form arrogant
tönt, doch stufe ich bleibende Erfahrungen in dieser Qualität um einiges höher ein als
stundenlanges Repetieren von Französischverben oder Ammonitenreihen aus der
Unterkreide.
Geht nicht die heutige Schule vom Standpunkt aus, dass die wissende Lehrperson
möglichst methodisch und didaktisch professionell, ausgezeichnet geschult
(schliesslich sollte ja jeder über einen Maturaabschluss verfügen) ihr Wissen an die
nächste Generation weitergibt? Mache ich das nicht auch mit meinen vier Söhnen,
die zwischen sechs und dreizehn Jahre alt sind? Wie gebannt hängen sie an meinen
Lippen, wenn ich den älteren drei ein Buch über die Mafia und die Ermordung eines
Papstes vorlese oder ihnen die Bedeutung der Ozonschicht erkläre.
Doch tiefgreifend sind vor allem die Zeiten, in denen sie mit ihren Bedürfnissen
erscheinen und sie höchstens meinen Rat oder meine Einwilligung brauchen, um
selber aktiv zu werden. Klar, dass ich am Abend einen „Kontrollgang“ ums Haus
herum durchführen muss, um alle Werkzeuge zu entdecken, die liegen geblieben
sind und diese ins Haus beordern lasse oder ernsthafte Gespräche betreffend
Suchen und Finden von Gegenständen im Zimmer eines Halbwüchsigen durchführe
... aber Hand aufs Herz. Würde sich Pestalozzi nicht positiv im Grab umdrehen wenn
er feststellt, dass die heutige Jugend immer noch zu begeistern ist, wenn es um
etwas Handfestes oder Herziges geht? Nebenbei kann man das Kopflastige immer
noch einbauen. Wo ein Ziel ist, lässt sich oft auch ein Weg finden. Wehe aber
denjenigen Jugendlichen, die ziellos durchs Leben wandern und sich überall
(Fernsehen, Computer, Spielkonsole, bei Mutter zuhause, in der Clique) bedienen
lassen. Oh dass sie doch wenigstens zu wandern anfingen ...
Vielleicht sind diese Präliminarien sinnvoll, denn meine Vision stellt sozusagen alles
auf den Kopf, was die arrivierte Schulsituation in gut zweihundert Jahren erreicht hat.
Ich stelle mir altersgemischte, aus einem Quartier oder einer örtlichen Umgebung
stammende Jugendliche vor, die zu maximal zehnt mit ein bis zwei Personen in einer
normalen Vier- bis Fünfzimmerwohnung Unterricht leben. Vergeblich sucht man
Wandtafeln und Pulte dafür einen bis zwei grosse Tische, auf denen gewerkt und
gegessen werden kann und viele Ecken und Nischen, die als Rückzugsorte
fungieren. Jede Schülerin und jeder Schüler stellt sich sein Wochenprogramm selbst
zusammen und definiert auch die Ziele, die er erreichen will. Morgens wird
92
zusammen gestartet, mittags wird zusammen gegessen und abends wird ein
gemeinsamer Abschluss festgelegt und das Erreichte oder neu Gelernte
ausgetauscht. Dazwischen hat man viel Zeit zum Spielen, Sport treiben, die Natur
erfahren, Lesen, Putzen, Kochen, Planen etc. Die Betreuungspersonen helfen und
denken, animieren, stützen, korrigieren, geben Schwung ins Ganze oder nehmen
etwas Schwung raus, planen was planbar ist und helfen, die grossen Würfe wie
Schulausflüge, Exkursionen, Erlebnisse, Theater etc. aus der Sicht der Erwachsenen
zu betreuen.
Ich weiss, jede Leserin und jeder Leser denkt nun unwillkürlich an die Kosten und
weitere Fragen, wie: Wo kämen wir da hin, wenn Kinder und Jugendliche selbst
bestimmen würden was dran ist, was passiert mit den Faulen und Passiven? Ist das
nicht eine Überforderung der Betreuungsperson? Was können diese wohl am
Schluss ihrer Schulzeit? Wer schaut dann aber, was die so treiben? Ist das nicht zu
utopisch?
Faule und Passive hat es seit je her gegeben unabhängig des Systems und
Fensterplatzbewohner sind doch nur Alarmglocken für einen abgelöschten,
uninteressanten Unterricht.
Ich bin mir bewusst, dass die Führung einer solchen Gruppe herausfordernd wäre
und man viel vom Leben erfahren sollte, um erfolgreich zu sein. Ich denke da nicht
zuletzt an pensionierte 60- bis 70-jährige, die im Moment noch durch die Welt jetten,
endlich ihr Leben geniessen und krampfhaft nach Hobbys und Gelegenheiten
suchen, um ihr Dasein zu ertragen. Ein Eingebundensein in eine junge, vor
Begeisterung sprühende Gruppe, zwar nicht mehr die volle Verantwortung tragende
Last und dennoch gebraucht, Jugendliche begleiten in ihren Wünschen und Ängsten
- das wären sicher Diskussionspunkte, die manche und manchen aus dieser
Altersgruppe reizen könnte. Es muss ja nicht ein täglich permanentes Begleiten sein,
die Hauptverantwortung trägt ja die Lehrperson, eine Entlöhnung wäre angemessen
aber nicht überrissen.
Nun zu den Kosten. Wie viel steckt die Allgemeinheit wohl in Besoldungen von
Klassenlehrpersonen, Teilpensenlehrkräften, Schulleitungen, HPS-Stützkursen,
Betreuungsangeboten, Suchtpräventionen, Gebäudekosten, Umgebungskosten,
Reinigungskosten, Tagesschulbetreuungen, DAZ-Hilfskräften, Transportkosten,
Schulsekretariatskosten, Erziehungsangestelltebesoldungen etc.?
93
Nicht dass ich das alles abschaffen möchte, aber bei schlankeren Strukturen wäre
wohl vieles viel effizienter. Eine Teilung einer Gruppe bei einer Maximalzahl von 11
wäre angebracht, eventuell schon früher, bei einer Minimalzahl von drei Kindern
würde man wohl zusammenlegen. Es bräuchte sicher mehr Betreuungspersonen
sprich Lehrkräfte als zuvor dafür weniger der oben aufgezählten Nebenschauspieler.
Auch wäre eine Ausbildung in diese Richtung wohl nicht nur von den intellektuellen
Begabungen her relevant sondern mehr von der Fähigkeit, zwischenmenschlich stark
zu sein, begeisterungsfähig  wohl ein Allrounder. Es wäre wünschenswert, dass
man nach einigen Jahren ein Zwischenjahr in irgend einem anderen Beruf absolviert
und so den Bezug aus der Schulstube aufrechterhält und auch einem möglichen
Burnout zuvorkommt.
Experimente von Lehrkräften in diese Richtung haben gezeigt, dass das Wissen von
ähnlich unterrichteten Kindern weit über dem landesmässigen Durchschnitt liegt.
Gerade die modernen Medien erlauben bei sinnvollem Einsatz eine
Effizienzsteigerung, wie sie die Schule in ihrer Form bisher nicht gekannt hat. Aber
das Ganze geht nicht einfach so unbetreut.
Unsere Kinder eignen sich ihr Wissen schon irgendwie an, wenn nicht in der Schule
dann an anderen Orten. Ob dabei alles reflektiert zu und her geht wage ich zu
bezweifeln.
Ich bin sicher, dass die Geldbeschaffung nicht die grösste Schwierigkeit in dieser
Vision wäre und zum Stolperstein würde, sondern der Mensch als solches.
Das Ganze funktioniert nur bei einem Einsatz aller, wenn die Chemie stimmt, wenn
auf allen Seiten die Bereitschaft besteht, vom anderen zu lernen und gegenseitig
Respekt zu geben. Auf der anderen Seite würde es in einem grösseren
geographischen Umfeld (Dorf, Stadt) viele solcher „Zellen“ geben und man könnte
auch bei gröberen zwischenmenschlichen Schwierigkeiten schneller eingreifen.
Bildung würde wieder dort stattfinden, wo sie vor vier Jahrhunderten
Hauptbestandteil war. In der vergrösserten Familie, in Clans, weitab jeglicher
Zentren. Sie wäre dynamisch, unkonventionell aber hoffentlich nicht verstaubt und
trocken, denn jede Schülerin und jeder Schüler würde sie für sich selber festlegen.
94
Zur Utopie ist zu sagen, dass ich nächstes Schuljahr in fünf Klassen 17101
Schülerinnen und Schüler unterrichte, wobei ein Schüler in einigen Fächern RiLZ
benötigt und alle Lehrmittel auf jahrgangshomogene Gruppen ausgerichtet sind.
Vielleicht müsste man in den Zentren von den jahrgangsunterrichtenden Lehrkräften
demgegenüber 40-er Klassen fordern, die hat es schliesslich in der bernischen
Schullandschaft vor noch nicht allzu langer Zeit gegeben.
2 unter dem kantonal festgelegten Schnitt  Dabei handelt es sich genau um die
zwei Schülerinnen, die nächstes Jahr von unserem Tal aus in der neunten und
siebten Klasse die Sekundarschule besuchen werden.
101
95
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7. Bildernachweis/Diagrammverzeichnis
Alle 46 Diagramme wurden von den Autoren im Excel Programm selber erstellt und
im Word Dokument eingefügt. Die Weiterverwendung der Daten obliegt der
Zustimmung der Autoren.
8. Anhang
Der Anhang liegt in dreifacher Ausführung in separat gebundener Form vor. Er
beinhaltet die Umfragebogen und die daraus resultierenden Excel Tabellen sowie
sieben ausgewählte Einzelbeispiele.
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