Diplomarbeit Nachdiplomstudium „Unterricht an Realklassen Studiengang 2008-2010 Mathematikunterricht an der Mehrjahrgangsklasse Altersgemischtes Lernen in Mathematik ohne Nachteile für die Berufsausbildung 04. Juni 2010 eingereicht bei Michael Renfer, Dozent, Schwerpunkt Mathematik PH Bern, Institut Sekundarstufe 1 Peter Boss Schulhaus 3782 Lauenen Johannes Nydegger Lindehus 3780 Gstaad Mathematikunterricht an der Mehrjahrgangsklasse Altersgemischtes Lernen in Mathematik ohne Nachteile für die Berufsausbildung Inhaltsverzeichnis 1. Vorwort ............................................................................................................. 4 2. Einleitung .......................................................................................................... 6 2.1. Thema und Schulsituation der Autoren ........................................................ 6 2.2. Fragestellungen............................................................................................ 8 2.3. Hypothesen .................................................................................................. 9 2.4. Begriffserklärungen .................................................................................... 10 3. Theorie ............................................................................................................ 11 3.1. Vorteile und Nachteile der Mehrjahrgangsklasse (Peter Boss) .................. 11 3.2. Didaktik des integrativen Unterrichts / sinnvolle Organisation (Johannes Nydegger) .................................................................................................. 17 3.3. Ungleichheit als Herausforderung (Johannes Nydegger) ........................... 24 3.4. Kompetenzen/Ausbildung der Lehrperson (Peter Boss) ............................ 29 3.5. Geschichte des Mehrstufenunterrichts: Maria Montessori, Peter Peterson (Peter Boss) ............................................................................................... 34 3.6. Altersgemischte Lerngruppen (Johannes Nydegger) ................................. 39 3.7. Umgang mit Mehrjahrgangsklassen im Unterricht (Johannes Nydegger) .. 42 3.8. Erfahrungen des Mehrklassenunterrichts in anderen Ländern (Peter Boss) .......................................................................................................... 46 3.9. Pädagogische Gründe für eine Mehrjahrgangsklassenschule (Johannes Nydegger) .................................................................................................. 49 4. Praxis .............................................................................................................. 51 4.1. Vorüberlegungen ........................................................................................ 51 4.2. Umfrage mit Auswertung: Umfrage bei Jahrgang 1992 betreffend Leistung Math von 8. Klasse bis Lehre ..................................................................... 53 4.2.1. Schulbesuch der letzten drei obligatorischen Jahre................................ 53 4.2.2. Verwendung des neuen mathbu.ch ........................................................ 54 4.2.3. Wechsel in die Berufsschule im Fach Math ............................................ 55 4.2.4. Mathvorbereitung für die Lehre ............................................................... 57 4.2.5. Charakterisierung der Mathlehrperson ................................................... 59 4.2.6. Beeinflussung der Berufswahl durch die Mathnoten ............................... 61 1 4.2.7. Mathnoten 8. / 9. Klasse und Zwischenjahr / Lehre ................................ 63 4.2.8. Persönliche Einschätzung des Mathwissensstandes.............................. 74 4.3. Ergebnisse, Analyse, Diskussion ............................................................... 77 4.4. Auswertung Tandembesuche ..................................................................... 78 5. Konsequenzen für die Zukunft...................................................................... 86 5.1. Eigener Unterricht ...................................................................................... 86 5.2. Praktische Tipps ............................................ Error! Bookmark not defined. 5.3. Fazit ........................................................................................................... 86 5.4. Ausblick ......................................................... Error! Bookmark not defined. 5.5. Zukunftsvisionen ........................................................................................ 87 6. Literaturverzeichnis ....................................................................................... 96 7. Bildernachweis ............................................................................................... 98 2 Abstract Im Rahmen der NDS Ausbildung mit Schwerpunkt Mathematik wurde an beiden Realschulen der Autoren (Turbach und Lauenen) die vorliegende Thematik über Mehrjahrgangsklassen untersucht. Als Schwerpunkt wurde das Thema Mathematik an der Mehrjahrgangsklasse gewählt, da beide Autoren selber Mathematik an altersgemischten Oberstufen unterrichten. Im Zentrum der Untersuchung stand eine anonyme Befragung unter Jugendlichen des Jahrgangs 1992, bei der gezielt Informationen zu relevanten Punkten zum Thema altersgemischtes Lernen und dessen Auswirkung für die Lehre (Sekundarstufe 2) im Fach Mathematik gesammelt wurden. Der theoretische Teil behandelt die Thematik aus der Sicht von Personen, die über ähnliche Themen schon geschrieben haben. Die Autoren haben relevante pädagogische, didaktische, historische, globale und strukturbedingte aktuelle Informationen zum Thema gesammelt und ausgewertet Im praktischen Teil werden die Informationen zu den Fragen Mehrklassigkeit, Lehrmittel, Wechsel in die Berufsschule, Vorbereitung für die Lehre, Beeinflussung der Berufswahl, Noten von achter Klasse bis zweites Lehrjahr sowie momentane Standortbestimmung jeweils in Bezug auf Mathematik zusammengestellt, dargestellt, analysiert und interpretiert. Das Fazit der Untersuchung verifiziert die eingangs formulierten Hypothesen vollumfänglich in ihrer Aussage und unterstreicht die Berechtigung Mehrjahrgangsklassen weiterhin zu führen. In einem persönlichen Teil werden anschliessend die Auswirkungen für den eigenen Unterricht sowie visionäre Gedanken dargelegt. Die Autoren hoffen damit, einen Nerv der Zeit in Bezug auf ein bildungsrelevantes Thema getroffen zu haben. 3 "Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen."1 1. Vorwort In Nordamerika werden Schülerinnen und Schüler grossräumig von Schulbussen eingesammelt und zu einer zentralen Bildungsstätte gekarrt, wo sie dann ihren Tagesablauf strukturiert mit Unterricht, Aufgabenzeit und Pausen absolvieren. Am späteren Nachmittag schliesslich fahren dieselben gelben Busse die gleiche Route in der entgegengesetzten Richtung um die Schülerinnen und Schüler wieder nach Hause zu bringen. In Australien sind die Distanzen zur nächsten Schule oft noch schwieriger zu bewältigen als in Nordamerika. Deshalb findet man hier nebst den Bildungsinstitutionen häufig auch die Möglichkeit für Fernunterricht, bei welchem mit viel Selbststudium die einzelnen Unterrichtseinheiten zu Hause gemeistert werden. Noch mehr losgelöst und ebenfalls beliebt auf beiden Kontinenten ist das „Homeschooling.“ Bei diesem Konzept schliessen sich oft benachbarte Familien zusammen und unterrichten ihre Kinder gemeinsam zu Hause. Die „Homeschooling“ Familien stehen in engem Kontakt mit einer öffentlichen Schule, welche das Lernmaterial zuschickt und überprüft, ob die Ziele des Lehrplans eingehalten werden. Wie aber sieht es in der Schweiz aus? Auch in der Schweiz gibt es tatsächlich Gemeinden, die ihre Kinder mit Schulbussen herumfahren müssen.2 Ebenfalls finden sich wenige Familien, die ihre eigenen Kinder zu Hause zu unterrichten, was allerdings mit einem relativ grossen, bürokratischen Aufwand verbunden ist. Es stehen also beide Alternativen zur Verfügung, werden aber nur selten genutzt, denn grundsätzlich hat sich die Schweiz dafür entschieden, die Verantwortung der schulischen Grundbildung jeder Gemeinde selber zu übertragen. Daher haben auch die meisten Gemeinden ihr eigenes Schulhaus um den Kindern möglichst nahe von ihrem Zuhause eine Ausbildungsstätte zu bieten. Der sinkende Kinderdurchschnitt pro Familie in den letzten Jahrzehnten aber hat zur Folge, dass insbesondere kleine Schulen neu organisiert werden müssen. Topografische Begebenheiten im alpinen 1 Johann Wolfgang von Goethe, Faust, Hrsg. Albrecht Schöne, (Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag, 1994): I Vers 97. 2 Es wird hier nur die Situation der obligatorischen Schulzeit angesprochen. Häufig müssen Schülerinnen und Schüler ab der Sekstufe 1 die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen um zum nächsten Oberstufenzentrum zu gelangen. Dies kann aber ohnehin nicht mit dem System der Schulbusse in anderen Ländern verglichen werden. Reine Schulbusse sind in der Schweiz die Ausnahme. 4 Raum wie dem Berner Oberland erschweren es den einzelnen Gemeinden zusätzlich, nach gemeinsamen Lösungen zu suchen für das Problem rückläufiger Kinderzahlen. Lauenen könnte zum Beispiel problemlos mit der Nachbargemeinde Gsteig zusammenarbeiten um sinnvolle Klassengrössen zu erreichen. Die Entfernung zwischen beiden Orten beträgt kaum mehr als vier Kilometer, doch der Bergkamm, welcher die beiden Gemeinden voneinander trennt, verunmöglicht eine solche Zusammenarbeit. Der Schulweg würde zwingend über Gstaad führen, was von der Strecke her nach bernischem Gesetz unzumutbar ist. Die pragmatische Lösung für topografische Schwierigkeiten und rückläufige Kinderzahlen ist, dass man aus mehreren Jahrgängen eine einzige Klasse bildet. Im Extremfall kann dies zu Gesamtschulen führen, an denen bloss eine einzige Klasse unterrichtet wird. Die beiden Autoren dieser Arbeit unterrichten selber an kleinen Schulen, welche diese Veränderungen miterlebt haben und schon seit längerer Zeit nur noch Mehrjahrgangsklassen anbieten. Da kaum andere Lösungen gefunden werden können, geht es in den nachfolgenden Erforschungen nun darum, gezielt das Modell der Mehrjahrgangsklassen zu untersuchen und dessen Berechtigung zu hinterfragen. Sollte sich zeigen, dass Schülerinnen und Schüler von Mehrjahrgangsklassen allgemein nach dem neunten Schuljahr frappante Lerndefizite aufweisen, wäre es höchste Zeit, entsprechende Anpassungen vorzunehmen und andere Modelle zu prüfen. Sollte sich aber herausstellen, dass Schülerinnen und Schüler von Mehrjahrgangsklassen nach dem neunten Schuljahr besser gerüstet in die Berufswelt einsteigen, müsste man sich Gedanken machen, ob dieses Modell nicht bloss topografisch, sondern auch pädagogisch begründbar wäre und ob man deshalb die Bildungslandschaft der Schweiz ganz neu überdenken müsste. Im Kern aber soll es nicht darum gehen das ganze Bildungssystem umzukrempeln sondern die eigene Schule kritisch zu durchleuchten mit dem Ziel, das Modell der Mehrjahrgangsklassen als eine von mehreren Möglichkeiten zu legitimieren. Um die Rahmenbedingungen der Arbeit nicht zu sprengen, beschränkt sich diese Arbeit hauptsächlich auf eine Untersuchung im Fachbereich Mathematik. 5 2. Einleitung 2.1. Thema und Schulsituation der Autoren Thema: Als Lehrer von altersgemischten Klassen in einer Randregion müssen wir uns immer wieder der Frage stellen, ob der Unterricht an Mehrjahrgangsklassen heute noch als zeitgemäss angesehen werden kann. Insbesondere interessiert uns die Frage, inwieweit der heutige Mathematikunterricht in Mehrjahrgangsklassen sich auf die Berufsausbildung auswirkt. Diesem Sachverhalt wollen wir im Berner Oberland und speziell im Saanenland nachgehen. Ausgangslage in Lauenen (Peter Boss): Unsere Schule besteht schon seit längerer Zeit aus Mehrjahrgangsklassen. Die schwankenden Kinderzahlen haben dazu geführt, dass nicht immer die gleichen Jahrgänge zu Lerngruppen zusammengefasst werden konnten, aber grundsätzlich sind immer mindestens zwei Jahrgänge zu einer Klasse zusammengefügt. Einzige Ausnahme bildeten zwei geburtenstarke Jahrgänge, welche während zweier Jahre als Jahrgangsklassen geführt werden konnten. Zum jetzigen Zeitpunkt besteht die Schule aus einem Kindergarten, drei Primarklassen und einer Realklasse.3 In naher Zukunft aber müssen die Schulstrukturen neu durchdacht werden, da die Kinderzahlen auch in Lauenen rückläufig sind. Dies wird sich kaum plötzlich ändern, da wegen unerschwinglichen Wohneigentumspreisen und nur wenigen, teuren Mietwohnungen nicht mit einer Welle von kinderreichen Familienzuzügen zu rechnen ist. Hinzu kommt die Tatsache, dass bei den Eltern ein Umdenken in Bezug auf die Sekundarschule in Gstaad stattgefunden hat. Während noch vor sieben Jahren bei meinem Stellenantritt die Sekundarschule kaum als Ausbildungsoption betrachtet wurde, ist es heute der Wunsch vieler Eltern, ihre Kinder die Stufe Sek 1 auf Sekundarschulniveau absolvieren zu lassen im Wissen darum, dass die Chancen für die Berufswahl mit einem höheren Schulabschluss oft besser sind. Dies führte dazu, dass unsere Realschule nun bis an den unteren Überprüfungsbereich geschrumpft ist und längerfristig auf diese Weise nicht weitergeführt werden kann. 3 Die Zusammensetzung der einzelnen Klassen sieht folgendermassen aus: 1./2. Klasse, 3./4. Klasse, 5./6. Klasse, 7. - 9. Klasse. 6 Mehrjahrgangsklassen sind also an unserer Schule nicht aus einem pädagogischen Bewusstsein sondern aus einer demografischen Notwendigkeit heraus entstanden. Als Schulleiter und Teilpensenlehrer an der Realschule bin ich nun gefordert, mögliche Strukturen zu durchdenken um dann gemeinsam mit den Behörden die nötigen Schritte einzuleiten und umzusetzen. Die Auflagen der Inspektorin dazu sind klar: Innerhalb des nächsten Schuljahres müssen wir die Weichen für die Zukunft der Schule Lauenen stellen. Da innerhalb der Gemeindegrenzen keine weiteren Schulen vorhanden sind, mit denen wir eine gemeinsame Lösung anstreben könnten und auch die Nachbargemeinde Saanen kaum daran interessiert ist uns Schüler aus ihrem Kreis abzugeben, bleiben eigentlich nur zwei sinnvolle 4 Alternativen zur Auswahl. Entweder trennen wir uns ganz von der Realstufe mit der Folge, dass wir auf absehbare Zeit weiterhin mit nur zwei Jahrgängen pro Klasse unterrichten können, oder aber wir wagen den Schritt zu Mehrjahrgangsklassen, die drei oder sogar vier Jahrgänge pro Klasse einschliessen. Der Entscheid liegt noch vor uns, und es ist mir ein grosses Anliegen, Erkenntnisse aus dieser Arbeit direkt in den Entscheidungsprozess einfliessen zu lassen. Ausgangslage in Turbach (Johannes Nydegger): Da Traditionen im Turbach sehr wichtig sind, möchte ich zuerst einige Worte über die Geschichte unserer Schule verlieren. Seit 1644 wird im Saanenland eine öffentliche Schule geführt. Im Turbach, einem kleinen Seitental mit ca. 70 Postadressen, war sie bis 1865 im Haus des Naglers untergebracht. Bis 1925 wurde sie am alten Standort beim Mattengässli als Gesamtschule geführt. Seit dem Bau des “neuen” Schulhauses am jetzigen Platz ist sie in eine Unter- und Oberschule aufgeteilt5 und besitzt seit der Erweiterung von 1977 eine Turnhalle mit Theaterbühne und genügend Nebenräumen. Wie erwähnt ist dieser Werdegang der “Turbachperson” wichtig. Sie hält aus einem gesunden landwirtschaftlichen Hintergrund stark an den gewachsenen Schultraditionen fest. Zudem haben starke Persönlichkeiten aus dem Tal sowie zugewanderte Lehrer jahrzehntelang die Schule geprägt und ihren Ruf weit über die Kantonsgrenzen hinaus getragen. Der Einheimische Ernst Frautschi hat während 42 Jahren als 4 Leider lässt sich mein Lösungsvorschlag, ein Tunnel Gsteig-Lauenen-Lenk-Adelboden aus finanziellen Gründen kaum durchführen, wäre aber eigentlich ideal, denn auf diese Weise könnten Schülerinnen und Schüler nach Bedarf schnell und unkompliziert von einer Gemeinde zur anderen transportiert werden. 5 Die Zusammensetzung sieht folgendermassen aus: Unterschule 1. - 4. Klasse, 13 Schulkinder, kein Ausländeranteil, 46 % Kinder aus der Landwirtschaft. 5. - 9. Klasse, 17 Schulkinder. kein Ausländeranteil, 82 % Kinder aus der Landwirtschaft. 7 Lehrer an der Gesamtschule gewirkt. Besonders das Theater Spielen hat in diesem bäuerlich dominierten Tal eine grosse Tradition. Nicht zuletzt haben praktisch alle Einheimischen unter meinem Vorvorgänger eine fundierte Theatereinführung genossen. Wie anderswo sind auch hier die Kinderzahlen in letzter Zeit eher etwas rückläufig. Da nur ganz wenige Mietwohnungen angeboten werden, ist in naher Zukunft nicht mit einem starken Anstieg der Kinderzahlen zu rechnen. Die Tatsache, dass bei den Eltern in Bezug auf die Sekundarschule in Gstaad immer noch ein gewisser Vorbehalt vorhanden ist, liess seit Jahrzehnten viele Kinder in der Bäuertschule bleiben. Die kantonale Anpassung der Ferienordnung an die Stadt Bern mit 5 Wochen (dank örtlicher Einsprache lokal erhöht auf 7 Wochen) wird sicher auch einiges verändern. Wenn man weiss, dass vor gut zehn Jahren noch 13 Wochen Sommerferien die Regel waren und ein Grossteil der Eltern (7. - 9. Klasse 100 %) in der Landwirtschaft tätig sind, muss in Zukunft eher mit einem höheren Sekundarschulanteil gerechnet werden. So ist es durchaus möglich, dass die Realschule schon bald bis zum unteren Überprüfungsbereich schrumpfen und längerfristig auf diese Weise eventuell nicht weitergeführt werden könnte. In zwei Kilometern Entfernung befindet sich zudem die Bäuertschule Bissen, die aber durch 2 markante Gräben vom Turbach getrennt ist. Es fährt im Moment noch sechs Mal pro Tag ein Postauto, doch ist auch in diesem Bereich von einem Angebotsabbau die Rede. Eine Verlegung der Realschule an einen anderen Standort käme einer extremen Veränderung des bestens bekannten und beliebten Schullebens gleich. Während Jahren hat besonders mein Vorvorgänger einige verhaltensauffällige aus andern Bäuerten stammende Kinder in der Turbachschule unterrichtet und so knappe Jahre gut überbrückt. Ob aber bei erhöhten Mindestschülerzahlen, wie sie die Erziehungsdirektion momentan von den Gemeinden fordert, ein Weiterbestehen der Turbachschule gesichert ist, bleibt unklar. 2.2. Fragestellungen Schon bei der ersten gemeinsamen Besprechung im Zweierteam einigten wir uns darauf, dass unsere Diplomarbeit sich mit unserer speziellen Situation als kleine 8 Schulen in einer Randregion beschäftigen muss. So brauchten wir denn auch nicht lange um auf das vorliegende Thema zu kommen, zu welchem wir uns vertieft Gedanken machen wollten. Es stand auch von Anfang an fest, dass die Diplomarbeit nicht einfach eine Fleissarbeit werden sollte, die nach erfolgreichem Abschluss in einer Schublade verschwinden würde. Wir sind beide der Meinung, dass solche zeitaufwändige Projekte einen direkten Nutzen für den eigenen Unterricht haben müssen. Aus diesem Grund haben wir uns dafür entschieden unseren eigenen Mathematikunterricht in Mehrjahrgangsklassen zu untersuchen, insbesondere im Hinblick auf die Berufsbildung der Schülerinnen und Schüler, welche ihre obligatorische Schulzeit in Mehrjahrgangsklassen absolviert haben. Dabei sind die folgenden zentralen Fragen aufgetaucht: - Wie stehen Schülerinnen und Schüler aus Mehrjahrgangsklassen im Fach Mathematik auf der Sekundarstufe 2 im Vergleich zu Schülerinnen und Schülern aus altershomogenen Klassen da? - Wie gut ist die Grundlage, welche das mathbu.ch für eine Lehre derjenigen Berufe bietet, in denen Math Lernbestandteil ist? - Führt der gleichzeitig durchgeführte thematisch gruppierte Mehrjahrgangsklassenunterricht zu einer Effizienzsteigerung im Bezug auf die Vorbereitung, Durchführung und Nachbearbeitung einer Unterrichtseinheit? 2.3. Hypothesen Aus der Fragestellung heraus und aufgrund der eigenen Erfahrungen haben wir die folgenden drei Hypothesen aufgestellt: - Schülerinnen und Schüler aus Mehrjahrgangsklassen sind in der Mathematik auf der Stufe Sek 2 nicht benachteiligt. - Das mathbu.ch bietet eine gute Grundlage für eine Lehre (Stufe Sek 2) derjenigen Berufe, in denen Math relevant ist. - Thematische Gruppierung in Mehrjahrgangsklassen führt zu effizientem Unterricht (Vorbereitung, Durchführung, Nachbearbeitung). 9 2.4. Begriffserklärungen Jahrgangsklassen: Schülerinnen und Schüler von Jahrgangsklassen gehören der gleichen Altersgruppe an (normalerweise innerhalb von zwei Jahrgängen). Bei einzelnen Kindern kann es vorkommen, dass sie ein Jahr älter oder jünger sind, weil sie eine Klasse wiederholt oder übersprungen haben oder früher beziehungsweise später eingeschult worden sind. Sie behandeln aber die gleichen Inhalte wie ihre Mitschülerinnen und Mitschüler. Der Jahrgangsklasse liegt die Idee zugrunde, dass eine homogene Lerngruppe die Voraussetzung für effizientes Lernen ist. Mehrjahrgangsklassen: Schülerinnen und Schüler verschiedener Altersstufen werden zu einer Klasse zusammengefasst. Oft geschieht dies aus demographischen Gründen, da zu wenig Kinder vorhanden sind um sie in Jahrgangsklassen zu unterrichten. Es gibt aber auch Schulen, die aus pädagogischen Überlegungen bewusst die Form der Mehrjahrgangsklassen wählen. Die extremste Form einer Mehrjahrgangsklasse ist die Gesamtschule, in welcher alle Kinder der ersten bis neunten Klasse im gleichen Schulzimmer gemeinsam unterrichtet werden. Altersgemischtes Lernen: Ältere und jüngere Kinder arbeiten und lernen gemeinsam miteinander. Die Heterogenität einer Lerngruppe wird bewusst eingesetzt als Qualitätsmerkmal des Unterrichts. Es wird also nicht nur miteinander sondern auch voneinander gelernt. Dieses gemeinsame Lernen findet sowohl auf der kognitiven wie auch auf der sozialen Ebene statt. Es ist zu beachten, dass altersgemischtes Lernen nicht automatisch in jeder Mehrjahrgangsklasse stattfindet. Schülerinnen und Schüler können auch in Mehrjahrgangsklassen jahrgangsweise unterrichtet werden, je nach dem wie die Lehrperson ihren Unterricht organisiert. Es kommt also stark darauf an, was eine Lehrperson einer Mehrjahrgangsklasse aus der Chance zum altersgemischten Lernen macht. Schliesslich liegt es in der Hand der Lehrperson, wie stark altersgemischtes Lernen in ihrer Mehrjahrgangsklasse umgesetzt wird. 10 3. Theorie 3.1. Vorteile und Nachteile der Mehrjahrgangsklasse (Peter Boss) In der schweizerischen Bildungslandschaft findet man zwei vorherrschende Klassenmodelle: Jahrgangsklassen und Mehrjahrgangsklassen.6 Bei Jahrgangsklassen ist das biologische Alter der massgebende Faktor für die Klassenbildung. Knaben und Mädchen eines bestimmten Jahrgangs werden zu einer Klasse zusammengefasst. Diese „…Einteilung der Schülerschaft eines Altersjahrganges in Jahrgangsklassen geht auf die Ökonomisierung und Rationalisierung des Schulwesens nach der Einführung der allgemeinen Schulpflicht im 19. Jahrhundert zurück.“7 Dabei werden auf das Alter bezogene homogene Gruppen gebildet, bei denen zumindest theoretisch auch die Entwicklungsstufen gleich sind. In der Praxis merkt man dann allerdings bald einmal, dass gleiches biologisches Alter nicht automatisch auch gleiche Entwicklungsstufe bedeutet. Mehrjahrgangsklassen berücksichtigen bei der Klasseneinteilung ebenfalls das biologische Alter, ermöglichen aber eine natürliche Durchmischung von mehreren Jahrgängen, was zu einer altersmässig heterogenen Zusammensetzung von Knaben und Mädchen führt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Mehrstufigkeit allein nicht einfach gleichgesetzt werden darf mit mehreren Jahrgängen in derselben Klasse, die dann aber trotzdem strikte altershomogen unterrichtet werden. Hager definiert das Prinzip der Mehrstufigkeit als „…ein prinzipielles Miteinander, das nur für Teilbereiche aufgehoben wird.“8 Grundsätzlich werden also Unterrichtsinhalte mit allen Altersstufen gleichzeitig erarbeitet. Dabei berücksichtigt die Lehrperson die unterschiedlichen Entwicklungsstadien der Kinder und schafft entsprechend differenzierte Zugänge und Bearbeitungsmöglichkeiten der Inhalte. In diesem Kapitel geht es nun darum, Vorteile und Nachteile des Unterrichts an einer Mehrjahrgangsklasse zu erläutern um zu prüfen, ob diese Art der Klassenzusammensetzung weiterhin als echte Alternative zu dem gängigen Modell der Jahrgangsklasse propagiert werden kann. In der Literatur wird auch der Begriff „Mehrstufenklasse“ verwendet als Synonym für Mehrjahrgangsklasse. 7 Christina Hager, „Lernen in Mehrstufenklassen“, Erziehung und Unterricht, Januar/Februar 04: S. 40. 8 Ibid.: S. 44. Die angesprochenen Teilbereiche beziehen sich auf Fächer und Unterrichtsinhalte, die zwingend auf Vorwissen aufbauen wie zum Beispiel Französisch. Auch die Vorbereitung für Übertritte an eine höhere Schulstufe werden üblicherweise in altershomogenen Lerngruppen durchgeführt. 6 11 Das wohl pragmatischste Argument für Mehrjahrgansklassen stützt sich auf ein Problem, mit dem die meisten Schulen zu kämpfen haben—rückläufige Kinderzahlen. Gemäss den Richtlinien für die Schülerzahlen9 des Kantons Bern liegt der Überprüfungsbereich für Klassenschliessungen bei Regelklassen mit mehreren Jahrgängen tiefer als bei Jahrgansklassen. Bildet man also aus Jahrgangsklassen Mehrjahrgangsklassen, können bis zu einem gewissen Grad sinkende Schülerzahlen aufgefangen werden. Demografische Veränderungen sind aber nicht der einzige Grund für die Führung von Mehrjahrgangsklassen. Die Argumente für altersgemischtes Lernen liegen vor allem im sozialen Bereich. Urech schreibt: „Mehrere Studien belegen, dass ADL-Kinder10 eine positivere Einstellung zur Schule aufweisen, ebenso Achtung vor sich selber und gegenüber Klassenkameradinnen und –kameraden, geringere Angst sowie einen positiveren Blick auf die Zukunft.“11 Gegenüber Jahrgangsklassen scheinen also Kinder in heterogenen Gruppen sich im Allgemeinen wohler zu fühlen. Auch wenn nach Urech im Leistungsbereich keine nennenswerten Unterschiede feststellbar sind, wenn Jahrgangsklassen und Mehrjahrgangsklassen miteinander verglichen werden, ist doch die positive Einstellung gegenüber der Schule ein wichtiger Faktor, der sowohl Motivation wie auch Wohlbefinden eines Kindes massgeblich beeinflusst. Ebenfalls bedeutsam sind die besseren sozialen Entwicklungs- und Erfahrungsmöglichkeiten in der Schule. Die Mehrjahrgangsklasse bietet insbesondere für Einzelkinder einen Mehrwert bei Erfahrungsmöglichkeiten, die in der Familie fehlen. „Angesichts der steigenden Zahl von geschwisterlos aufwachsenden Kindern ist anzunehmen, dass die im Familienverband nicht vorhandene Gelegenheit, Erfahrungen im Umgang mit älteren und jüngeren Kindern zu sammeln, sich als Defizit für das soziale Lernen erweisen könnte.“12 Bei Mehrjahrgangsklassen besteht die Möglichkeit dieses Defizit auszugleichen. Aber auch für Kinder mit Geschwistern kann grundsätzlich festgehalten werden, dass Sozial- und Selbstkompetenz in Mehrjahrgansklassen stärker gefördert werden.13 Während in Jahrgangsklassen Freundschaften oft nur innerhalb der gleichen Altersgruppe entstehen, ermöglicht die Mehrjahrgangsklasse eine Öffnung dieser 9 __________, Richtlinien für die Schülerzahlen, ERZ Bern, August 2006: S. 1. ADL steht für „altersdurchmischtes Lernen“. 11 Christa Urech, „Altersdurchmischtes Lernen—Mehrwert durch Mehrklasse“, Vortrag an der Lehrerinnen und Lehrerkonferenz des Kantons AG, (23.11.2006). 12 Hager: S. 45. 13 Urech: S. 30. 10 12 Altersgrenzen. Es fällt Kindern einer Mehrjahrgangsklasse einfacher, soziale Beziehungen zu Älteren oder Jüngeren zu pflegen. Es wurde ebenfalls festgestellt, dass auch Rangordnungen in Mehrjahrgangsklassen wesentlich flexibler sind als in Jahrgangsklassen.14 Dies wiederum kann sich positiv auf die Teamfähigkeit des Einzelnen auswirken. Auch die Vorbildfunktion der älteren Kinder in einer Mehrjahrgangsklasse ist nicht zu unterschätzen. Die Motivation etwas lernen zu wollen, kann einen positiven Effekt auf die jüngeren Kinder derselben Klasse haben und Ansporn sein eine positive Haltung zu adaptieren. Hinzu kommt die Möglichkeit, ältere Kinder als Helferinnen und Helfer einzusetzen, wenn sie mit einem bestimmten Thema schon vertraut sind. Dabei sind die Positionen klar verteilt—es sind eigentlich immer die Älteren, die Hilfestellung anbieten und entsprechend die Jüngeren, welche die Hilfe empfangen. Dieses Einander-Helfen öffnet Türen für soziale Kompetenzen und ist zudem für die Kommunikation und Interaktion der Kinder förderlich. Urech spricht von positiven Effekten, die sich bis hin zur Entwicklung von Leitungs- und Führungsqualitäten erstrecken.15 Aus der Sicht der Lehrpersonen, die an Mehrjahrgangsklassen unterrichten, wurden ebenfalls positive Beobachtungen gemacht. Es wurde festgestellt, dass Lehrpersonen in einem solchen Umfeld ihre Rolle als Teammitglied verstärkt wahrnehmen und sich von dem Einzelkämpfertum distanzieren.16 Alle bisher aufgeführten Beobachtungen, die sich auf das soziale Umfeld von Lehrpersonen und Kindern gleichermassen beziehen, lassen sich gemäss Urech empirisch belegen und sind daher als Vorteile gegenüber Jahrgangsklassen zu werten.17 Die Vorteile beschränken sich aber ausschliesslich auf den sozialen Bereich in der Schule. Was den Leistungsbereich angeht, sind bis jetzt keine nennenswerten Unterschiede zwischen Kindern aus Mehrjahrgangs- und Jahrgangsklassen festgestellt worden. Die Forschung belegt aber, dass Ibid.: S. 30: „Der Wechsel von einem bestimmten Status in einen anderen kann sich in der altersgemischten Gruppe viel schneller vollziehen.“ 15 Ibid.: S. 30. 16 Ibid.: S. 30. 17 Ibid.: S. 30. Leider wird aus dem Vortrag nicht ersichtlich, auf welche empirischen Studien sich Urech beruft. Aus meiner eigenen Erfahrung als Lehrer an Mehrjahrgangsklassen kann ich allerdings die einzelnen Punkte nur bestätigen. 14 13 altersgemischtes Lernen zumindest keine nachteiligen Auswirkungen auf die schulischen Leistungen hat.18 Die aufgeführten Vorteile können ergänzt werden mit den Argumenten einer kürzlich verfassten Motion der Grünen:19 - Der Altersunterschied sorgt für Lernanreize und initiiert neue Lernmotivation - In altersgemischten Klassen ist eher Kooperation anstelle von Konkurrenz zu beobachten - Die Chancengleichheit wird grösser - Kinder mit besonderen Bedürfnissen werden besser integriert - Kinder, die eine Klasse wiederholen, bleiben in ihrer Lerngruppe. Durch das Vorwärts- und Rückwärtslernen (Mithören) ist die Sicherung des Gelernten stets möglich. Wo Vorteile herausgestrichen werden, müssen auch die Nachteile abgewogen werden um zu einer ausgewogenen Schlussfolgerung zu kommen. Buchs zählt sechs Nachteile auf, die er bei Mehrjahrgangsklassen sieht:20 1. Geringere Zuwendung zum einzelnen Kind 2. Verlust von Vergleichsmassstäben in der Schülerbeurteilung 3. Geringere Qualität in der Unterrichtsvorbereitung 4. Gegenseitiges Stören der verschiedenen Schülergruppen 5. Wenig Stimulation bei kleinen Gruppen 6. Lange Dauer des Zusammenseins von Schülerinnen und Schülern bei der gleichen Lehrperson Die einzelnen Punkte leuchten auf den ersten Blick ein, werfen aber bei genauerem Hinsehen zumindest teilweise Fragezeichen auf. Der erste Punkt, die geringere Zuwendung für das einzelne Kind, geht rein mathematisch gesehen nicht auf. Wenn man davon ausgeht, dass in einer Mehrjahrgangsklasse tendenziell weniger Kinder sind, ergibt dies pro Kind pro Lektion im Verhältnis mehr Zuwendung als dies möglich Franziska Forster, „Altersgemischtes Lernen“, Dossier Schulpraxis 9, (Bern: Schulverlag blmv, 2007): S. 16. 19 Grüne Partei, Motion: Jahrgangsgemischtes Unterrichten, (Bern: ERZ, November 2007): S. 1. 20 Hansueli Buchs, Die Mehrklassenschule—ein Auslaufmodell als Chance zur schulischen Integration, (PH Bern: Zertifikatsarbeit, 2008): S. 10. 18 14 ist in einer Jahrgangsklasse. Natürlich gibt es Sequenzen im Unterricht, bei denen selbständig gearbeitet werden muss, weil die Lehrperson ihre Aufmerksamkeit voll und ganz einer einzelnen Gruppe widmen muss. Aber die Behauptung, dass Kinder in Mehrjahrgangsklassen weniger Zuwendung erhalten, muss als grundsätzlich falsch zurückgewiesen werden. Der zweite Punkt wirft die Frage der Notwendigkeit von Leistungsvergleichen auf. Ist es wirklich erstrebenswert, dass ein Kind sich an den Leistungen seiner Peers messen muss? Gemäss aktuellem Lehrplan stehen bei der Beurteilung Lernweg, Lernprozess und Fortschritt im Zentrum.21 Die Leistungen und Fortschritte sollen bei jedem Kind individuell gemessen werden. Der Vergleich spielt dabei eine untergeordnete Rolle und kann—ohne nachteilige Auswirkungen—sogar ganz vernachlässigt werden. Wichtig für die Lehrperson ist einzig, dass sie immer den gleichen Beurteilungsschlüssel anwendet. Für schwächere Kinder können fehlende Vergleichsmöglichkeiten sogar eine Chance sein, wenn nur der individuelle Fortschritt, nicht aber der Leistungsstand innerhalb einer Lerngruppe verglichen werden kann. Bei Punkt drei wird die schlechtere Qualität der Unterrichtsvorbereitung angesprochen. Wenn man als Lehrperson für eine Lektion den Stoff von mehreren Gruppen innerhalb einer Klasse vorbereiten muss, ist diese Feststellung tatsächlich gerechtfertigt. Allerdings wurde schon bei den Vorteilen festgehalten, dass Kinder von Mehrjahrgangsklassen leistungsmässig nicht schlechter abschneiden, was die Schlussfolgerung zulässt, dass grundsätzlich die Qualität des Unterrichts an Mehrjahrgangsklassen den Vorgaben des Lehrplans entspricht. Wenn man noch die Tatsache hinzunimmt, dass Kinder in Mehrjahrgangsklassen eine höhere Lernmotivation haben, stellt sich die Frage, wie gravierend eine geringere Qualität der Unterrichtsvorbereitung effektiv ist. Definitiv als Nachteil muss das gegenseitige Ablenken der einzelnen Lerngruppen gewertet werden. Gerade Kinder mit Konzentrationsschwierigkeiten haben es in Mehrjahrgangsklassen nicht einfach, denn die Ablenkungsmöglichkeiten sind doch beachtlich, da die Lehrperson häufig mit einer Lerngruppe mündlich am Arbeiten ist. Auch den fünften Punkt muss man als Nachteil hinnehmen. Wenn im Extremfall nur gerade ein Kind in einem Jahrgang ist, wird es schwierig, zum Beispiel den 21 Erziehungsdirektion des Kantons Bern, Lehrplan der Volksschule, (Bern: Staatlicher Lehrmittelverlag des Kantons Bern, 1995): S. AHB20. 15 Fremdsprachenunterricht zu gestalten. Es ist in einem solchen Fall nicht möglich, dass sich Kinder mit gleichem Lernstand gegenseitig anspornen. Der letzte Punkt hingegen, die lange Dauer des Zusammenseins, muss nicht zwingend ein Nachteil sein sondern kann im besten Fall sogar als Vorteil betrachtet werden. Erstens hat man als Lehrperson die Möglichkeit für mehr Kontinuität, zweitens muss man nicht immer wieder neu am Anfang eines Schuljahres den Klassenzusammenhalt trainieren, weil jeweils ein schon eingeweihter Kern der Klasse erhalten bleibt, und drittens können auf diese Weise Beziehungen über eine längere Zeit aufgebaut werden. Nachteilig ist die lange Dauer des Zusammenseins vor allem dann, wenn die Chemie zwischen Kind und Lehrperson nicht stimmt. Der wohl schwerwiegendste Nachteil bei Mehrjahrgangsklassen sind nach meiner eigenen Erfahrung die Lehrmittel, denn sie sind nicht auf Mehrklassenunterricht ausgerichtet. Man muss sich bewusst sein, dass in der Schullandschaft Schweiz rund 80% aller Klassen als Jahrgangsklassen geführt werden.22 Entsprechend werden die neuen Lehrmittel auf dieses Modell ausgerichtet. Das wohl aktuellste Beispiel dafür ist das neue Französischlehrmittel, welches noch in diesem Jahr (2010) druckreif werden sollte. Lehrpersonen, die im Moment die Ausbildung für Frühfranzösisch absolvieren, bemängeln die fehlende Kompatibilität für Mehrjahrgangsklassen. Kursleiterinnen und Leiter nehmen diese Kritik mit Erstaunen auf und geben offen zu, dass man Mehrjahrgangsklassen überhaupt nicht berücksichtigt hat. „Das Ziel, das erreicht werden soll, bestimmt den Weg.“ 23 Anders gesagt, die Struktur einer Schule muss sich nach ihren pädagogischen Überzeugungen ausrichten. Stehen Schwerpunkte im Bereich des sozialen Lernens und der inneren Differenzierung im Zentrum, sind Mehrjahrgangsklassen eine mögliche Antwort. Man muss sich aber bewusst sein, dass mit den Vorteilen eines solchen Modells immer auch Nachteile in Kauf genommen werden müssen, denn auch in der Schule kann man nicht den sprichwörtlichen Fünfer und das „Weggli“ gleichzeitig haben. 22 Bundesamt für Statistik, 2005, Klassenstrukturen der Schweiz. Für genauere Zahlen siehe Kapitel 3.5. 23 Hager: S. 46. 16 3.2. Didaktik des integrativen Unterrichts / sinnvolle Organisation (Johannes Nydegger) Wie kann der Unterricht speziell in einer Mehrjahrgangsklasse gestaltet werden? Insbesondere die Frage der allgemeinen Unterrichtsgestaltung ist dabei von zentraler Bedeutung für Lehrpersonen. Was bei einer homogenen Situation auf den ersten Blick als relativ einfach erscheint, entpuppt sich bei einer Mehrjahrgangsklasse als ungemein verstrickter. Es geht nämlich nicht nur darum, parallel mehrere Gruppen zu führen und anzuleiten. Auch die Lehrperson selbst muss Synergien zu nutzen wissen um den Grad der Komplexität einzugrenzen und auch Zeit zu sparen. Die in jeder Lehrperson intuitiv ablaufenden Fragen beim Sich-Beschäftigen mit Wissen stösst infolge der Heterogenität einer Mehrjahrgangsklasse schnell an ihre Grenzen. Es gilt das Problem einzugrenzen um es erfassen zu können. Die oben angegebene Überschrift soll zuerst einmal anhand einer Begriffsdefinition angegangen werden: Didaktik, vom griechischen Verb „didaskein“ abgeleitet, das lehren bedeutet, bezieht sich vor allem auf theoretische Betrachtungen und gilt als Basis jeder Wissensvermittlung, im Gegensatz zur Methodik, die eher den praktischen Aspekt einschliesst. Integrativ wird von Joller-Graf24 dahingehend definiert, dass es um die „Wiederherstellung des Ganzen“ geht, bei dem er den Schwerpunkt auf eine einmal bestandene Ganzheit legt. Er erklärt dabei, nicht Unverbundenes auf eine neue Art zusammenzufügen sondern legt Wert auf das „Vollständig-Machen“ oder das „Eingliedern-wo-es-Hingehört“. Im Hinblick auf Klassensituationen postuliert er eine Haltungsänderung aller, so dass Aussenstehende nicht mehr die Rolle der Aussenseiter zu übernehmen brauchen und Gruppenmitglieder, die näher beim virtuellen Mittelpunkt stehen, allen das gleiche Gehör schenken und alle gleichermassen ernst nehmen. Zusammenfassend definiert er Integration als „Vielfalt zu wollen und zu nutzen“. Er geht so weit, dass er Integration als gewollte Heterogenität bezeichnet. Heterogenität, ein Begriff aus dem Griechischen, der mit Andersartigkeit übersetzt werden kann, steht im Gegensatz zu Homogenität, was soviel wie Gleichartigkeit bedeutet. Es geht nun aber nicht bloss um die triviale Bedeutung dieser Begriffe. Es versteht sich von selbst, dass jede Gruppe unabhängig ihrer Grösse, ihres Alters und 24 Klaus Joller-Graf, Lernen und Lehren in heterogenen Gruppen—Zur Didaktik des integrativen Unterrichts, (Donauwörth, Auer-Verlag GmbH und Luzern, Comenius-Verlag AG, 2006): S. 9. 17 ihrer Zusammensetzung eine in sich wohnende Heterogenität aufweist. Ein Gedankenspiel soll das veranschaulichen: Eine Gruppe aus drei Personen mit vier unterteilbaren Kriterien kann bereits 43 = 256 verschiedene Zustände einnehmen. Eine Einjahrgangsklasse von 19 Kindern mit unterschiedlicher Motivation, kulturellem Hintergrund, Wertvorstellungen sowie Schulzufriedenheit weist bis 274 Milliarden (=419) Zustände auf. Dabei ist es nicht so, dass in einer Klasse alle Kinder nur vier Zustände einnehmen könnten. Obwohl das Beispiel vor allem deskriptiven Charakter hat, zeigt es doch, dass jede Person, die neu hinzukommt, Einfluss nimmt auf jede andere Person in der Gruppe, und jedes fehlende Kind reduziert entsprechend die Komplexität. Doch gibt es gegen unten auch Grenzen, die unserem Schulsystem dejure zugrunde liegen wie zum Beispiel minimale Klassengrössen. Viel stärker hat nun aber eine mehrjahrgangsklassige Situation Einfluss auf die Komplexität eines integrativen Unterrichts. Nach Joller-Graf25 hat Heterogenität heute immer noch einen negativen Anstrich. Nichtsdestotrotz wird sie in Schule und Gesellschaft durch die Mobilität und die Globalisierung eher noch zunehmen. Nach diesen Begriffsdefinitionen geht es nun darum aufzuzeigen, wie sich Integration und Heterogenität in der Praxis, das heisst im Unterricht auswirken. Oft geht man bei Heterogenität im Schulwesen von der Annahme aus, dass eine Klasse defacto homogen ist. Einzig Kinder mit Lern- und Verhaltensschwierigkeiten oder einem Migrationshintergrund werden als zu integrierend angesehen. Im Weiteren werden vermehrt Kinder mit Körper- und Sinnesbehinderungen nicht mehr an Sonderschulen unterrichtet sondern in einer Regelklasse integriert. In jüngster Zeit gewinnt zunehmend auch die Gruppe der besonders Begabten an Aufmerksamkeit, die generell der Hochbegabung zugeordnet wird. Dabei ist es nicht immer so, dass speziell pädagogisch Ausgebildete wie Heilpädagoginnen und Heilpädagogen in genügender Zahl vorhanden sind und daher die Klassenlehrkraft einen Grossteil des Unterrichts selber übernehmen muss. Auf diese Weise entstehen dann heterogene Lerngruppen im Schulalltag. Es geht nun aber nicht in erster Linie darum, behindertenspezifische Merkmale aufzulisten sondern sich Gedanken zu machen, wie diesen Kindern in Bezug auf das Lernen grundsätzlich geholfen werden kann. Joller-Graf26 zählt sechs verschiedene Aspekte auf, in denen Kinder eingeschränkte Fähigkeiten aufweisen: Wahrnehmung, 25 26 Ibid.: S. 12 Ibid.: S. 13 – 15. 18 Assoziation, Handlungsorganisation, Handlungssteuerung, Ausführung und Memorisation. Die Befürchtung, dass durch Integration obiger Kinder das Leistungsniveau einer ganzen Klasse gesenkt wird, konnte in empirischen Untersuchungen nicht bestätigt werden.27 Im Gegenteil, heterogene Lerngruppen zeigten leichte Vorteile gegenüber homogenen. Wichtig ist ausserdem, dass die Eltern voll hinter dem integrativen Modell stehen können. Erfahrungen zeigen, dass insbesondere Eltern von Kindern mit integriertem Schulsystem dieses viel positiver beurteilen als solche ohne Integrationshintergrund. Wenn die Schule zum Ziel hat junge Menschen auf das selbständige Leben in der Gesellschaft vorzubereiten, dann ist der integrative Gedanke von zentraler Bedeutung. Ein weiterer Aspekt in Bezug auf den integrativen Unterricht ist die Auseinandersetzung mit der Frage, was man unter Lernen versteht und welche Lernprozesse dabei ablaufen. Grundsätzlich kann man sagen, dass Lernen ein aktiver Prozess ist, der von den Lehrenden und Lernenden abhängt. Dabei können durch äussere oder innere Einflüsse die Wahrnehmung, die Speicherung und die Wiedergabe des Lernstoffs beeinträchtigt sein. Ausserdem ist Lernen ein energetisch hochaktiver Lebensprozess. Bis 50 % des täglichen Kalorienverbrauchs wird bei Kleinkindern für die Hirntätigkeit verwendet. Dabei erhalten isolierte Informationen erst durch die Verknüpfung mit bestehendem Wissen ihren Wert. Eine Hilfe dabei ist auf bekannte Assoziationen zurückzugreifen und ein Thema von verschiedenen Seiten anzugehen. Auch werden neue Inhalte besser aufgenommen, wenn sie über mehrere Sinne vermittelt werden. Ein wichtiger Aspekt gerade im pädagogischen Bereich ist die Tatsache, dass Fehler und erwünschte Inhalte gleich abgespeichert werden und erstere bei emotional grosser Intensität stärker haften bleiben und deshalb nur beiläufig korrigiert werden sollten. In diesem Zusammenhang erwähnt Joller-Graf28 auch die Nachhilfe, die seiner Ansicht nach erst nach einem gescheiterten Lernprozess einsetzt, und somit eine sehr begrenzte Wirksamkeit erwartet werden kann. 27 28 Ibid.: S. 16. Ibid.: S. 35. 19 Im Gegensatz zum Lernen ist das Lehren oft zielgerichtet. Dabei werden verschiedene Lehrprozesse angewandt, die je nach Autor unterschiedlich benannt werden. Joller-Graf29 listet mit KAFKA (Kontakt suchen und herstellen—Aufbauen— Flexibilisieren—Konsolidieren—Anwenden) und SAMBA (Situieren—Anstossen— Modellieren—Begleiten/Beraten—Auswerten) zwei mögliche Vorgehensweisen auf. Basis dieser Modelle bildet die Didaktik, die sich zum Ziel setzt das Lehren und Lernen zu reflektieren und zu analysieren. Die Methodik von griechisch „hodos“ für Weg und „meta“ für zu etwas hin bilden die Brücke vom ausgewählten Stoff zum lernenden Individuum. Dabei beschreibt die Didaktik klar den primären Weg vor der Methodik. Es ist aber nicht so, dass beide Begriffe diametral angesehen werden sollten sondern mehr in ergänzendem Aspekt. Bevor auf den Unterricht selbst eingegangen wird, sollen an dieser Stelle kurz noch die Begriffe Wissen,30 Können, Rückmeldung und Motivation erläutert werden: Lernen baut auf Wissen auf. Wer nicht über das nötige Vorwissen verfügt, muss vorgängig unterstützt werden sich dieses anzueignen. Ferner müssen die Wissensinhalte regelmässig angewendet respektive aufgefrischt werden, um das grösstmögliche Potential auszuschöpfen. Das Wissen allein genügt aber in der Regel nicht. Es gehört auch das Wissen-Wie, das Können dazu. In unserem Kulturkreis werden mit Lesen, Schreiben und Rechnen geeignete Arbeitstechniken vermittelt, die sehr breit angewendet werden können. Ein wichtiger Aspekt des Lehrens ist die Vermittlung von Rückmeldungen. Wenn man nach gewissen Abständen die Gewissheit erhält, dass man auf dem richtigen Weg ist, führt das zu Stabilität und positiver Arbeitshaltung. Kinder mit einer hohen Selbstüberzeugung müssen davon etwas weniger Gebrauch machen als solche mit eher geringem Selbstvertrauen. Dabei kann innerhalb einer Mehrjahrgangsklasse dies auch von älteren zu jüngeren Schülern angewendet werden. Die Motivation sollte gemäss Joller-Graf31 primär von den Lernenden selbst aufgebaut werden. Allerdings kann es Kinder und Jugendliche geben, die sich damit sehr schwer tun. Sie benötigen Unterstützung wie loben, Möglichkeiten der Entspannung und belohnen. 29 Ibid.: S. 39. Ibid.: S. 49. 31 Ibid.: S. 50. 30 20 Nach diesen Vorbemerkungen kann nun das zentrale Thema—der Unterricht— behandelt werden. Dabei gibt es nicht das richtige Vorgehen sondern unterschiedliche Zugänge, Herangehensweisen, verschiedenartige Lernende mit divergenten Erfahrungen oder ungleichen Denkweisen. Es ist hilfreich, dass das Feststellen solcher Differenzen einem Klarheit gibt über das eigene Wissen, die eigene Einstellung. Damit ist die Voraussetzung für bewusstes Lernen geschaffen. Der Unterricht ist folglich ein kommunikativer Prozess und zwar nicht nur zwischen Lehrperson und Schülerinnen und Schülern sondern auch untereinander. Unterricht ist Dialog anstelle von Monolog, Austausch statt Instruktion. Nach Joller-Graf wird aber nur zu oft durch Segregation (Trennung) diese Möglichkeit des Voneinanderlernens massiv beschnitten.32 Unterricht bekommt durch die folgenden Aspekte eine Qualitätsdimension, die sich am Wohlbefinden des Kindes orientieren kann. - Ausrichtung, dass die Vielfalt im Vordergrund steht - alle Sinne berücksichtigen - die Struktur des Unterrichts verändern - ein dialogisches Prinzip fördern. „Gemeinsames Lernen wird dabei nicht auf wenige Extrastunden abgeschoben oder dem Unterricht systemfremd angehängt sondern ist wesentlicher Bestandteil jeder pädagogischen Situation.“33 Guter Unterricht ist demnach mit einem maximalen Wissenszuwachs und einer Leistungsstreuung der Besten zu den Leistungsschwächsten charakterisiert, so dass die Leistungsstreuung während des Prozesses nicht erhöht wird sondern eher abnimmt. Klassen, die diese beiden Merkmale aufweisen, werden als sogenannte Optimalklassen bezeichnet. Dabei fällt die Lehrperson durch eine klare und gut verständliche Sprache, durch eine effiziente Klassenführung und durch eine optimale Heranführung an den Lernstoff auf. Die Ausrichtung des offenen Unterrichts verfolgt gemäss Joller-Graf genau diesen Aspekt: Er wird von ihm wie folgt definiert:34 32 33 Ibid.: S. 58. Ibid.: S. 59. 21 - eine Ausrichtung auf die zu bewältigende Lebenswelt der Kinder - Flexibilisierung von Anforderungen und Zeit - Entwicklung einer Solidargemeinschaft unter den Kindern Dabei erwähnt er verschiedene Formen wie - Planarbeit (Lernanregung nach schriftlicher Planung) - Werkstattunterricht (in der Schweiz beliebte Form von Lernanregungen in Postenform) - Projektunterricht (individuelles Vorgehen anhand eines Rahmenthemas) - Klassenkreis (eine Art Lehrgespräch) - Planspiele (vergleichbar mit dem Drehbuch eines Films) - Mastery Learning (1. Teil gemeinsam, 2. Teil individuell) - Portfolio (Dokumentation einer individuellen Bearbeitung eines Rahmenthemas) Grundlagen dieser Unterrichtsweisen basieren auf einem direkten Lebensbezug der Kinder, angepassten Vorkenntnissen, vorgängiger Analyse des Fähigkeitspotentials, einer Ganzheitlichkeit in Sach- und Sozialkompetenz, handlungsorientiertem Lernen, pädagogischer Unterstützung und Förderung, Differenzierung, Pflege eigener Rituale und Regeln, Wiederholung und Übung sowie einer gemeinsamen Reflexion. Unterricht sollte immer in direktem Zusammenhang mit dem Lernen der Schülerinnen und Schüler gesehen werden. Zentral ist nicht, was von der Lehrperson gelehrt wird sondern nur das, was von den Betroffenen gelernt wird. Ziel jeglichen Unterrichts muss die Stärkung der individuellen Persönlichkeit der Lernenden sein. So ist alles zu vermeiden, was die Schwächung der Persönlichkeit begünstigt. Das heisst nicht, dass es keine Fehler geben darf—sie gehören zum Menschen—doch sollte ihnen mit der nötigen konstruktiven Haltung begegnet werden. Die Quintessenz obiger Betrachtungen führt nun zur sinnvollen Planung des Unterrichts. Als eine mögliche Anpassung an die oben angeführten Unterrichtsformen kann bereits bei der Planung des neuen Stundenplans Rechnung getragen werden. Es ist sinnvoll, möglichst viele frei verfügbare Blockzeiten einzufügen, die von der 34 Ibid.: S. 62. 22 Klassenlehrkraft bestritten werden. Dabei wird je nach Flexibilität nur ein X im Stundenplan vermerkt und thematisch vorgegangen. Es eignen sich alle Fächer, auch solche wie Mathematik, die von vornherein als sehr aufbauend und strukturiert angesehen werden. Eine thematische Gleichschaltung der verschiedenen Jahrgänge vereinfacht dabei die Koordination. Wichtig sind insbesondere gemeinsame Anfangsund Schlussrituale sowie Wochenbeginn und Wochenabschlussstunden. Ein Vorteil dieser Vorgehensweise wird von Christiane Gobbin-Claussen35 darin gesehen, dass die Kinder individuell an einem Thema arbeiten, ihr Lerntempo selbst bestimmen und so mehr profitieren können. Eine weitere Möglichkeit bilden die doppelt betreuten Lektionen, in denen zwei Lehrkräfte in zwei Schulzimmern verschieden strukturierte Aufgabenbereiche bearbeiten. „In gewissen Fällen wurde auf die Pausenklingel ganz oder wenigstens während der kleinen Pausen verzichtet. So konnte nach Bedarf an einem Thema weitergearbeitet werden bis zu einem sinnvollen Unterbruch oder einem vorläufigen Abschluss. Bei Doppeltbetreuungen ist eine gemeinsame Absprache unabdingbar. Festgefügte, zeitlich befristete Teamsitzungen und ein routinemässiger Ablauf beeinflussen die Arbeitspensen positiv.“36 Auch im Bereich der Materialbeschaffung kann ein Team anstelle einer Einzelperson effizienter arbeiten. Vor Inangriffnahme eines Themas wird von allen beteiligten Lehrpersonen Material gesammelt, gesichtet und gruppiert. Anschliessend werden Arbeitspläne erstellt, Anweisungen zu Portfolios gegeben oder Werkstätten definiert. Vorgängig sollte das Material für eine gewisse Zeit vorrätig, das heisst kopiert sein. Insbesondere verlangt jahrgangsübergreifendes Unterrichten eher ein erhöhtes Kopierkontingent, das aber eventuell durch nicht oder weniger benötigte Lehrbücher kompensiert werden kann. Ablage- und Archivierhilfen ermöglichen unterschiedlich strukturierten Schülerinnen und Schülern eine adäquate Aufbewahrungsmöglichkeit. Wie überall gilt auch hier ein gut organisiertes Vorgehen. Der Planung, Betreuung und Nachbearbeitung gilt ein grosses Augenmerk. Gerade bei integrativen, heterogenen, jahrgangsübergreifenden Gruppen ist der Aspekt des Wiederholens, des Mehr-als-einmal-Hörens, der Erinnerung an ähnliche Christiane Gobbin-Claussen, “Den Stundenplan flexible gestalten” in Jahrgangsübergreifend unterrichten—Ziele, Erfahrungen, Organisieren, Informieren, Differenzieren, Beurteilen, Hrsg. Reinhold Christiani, (Berlin, Cornelsen-Verlag, 2006): S. 101. 36 Reinhard Stähling, “Teamarbeit inklusive” in Jahrgangsübergreifend unterrichten—Ziele, Erfahrungen, Organisieren, Informieren, Differenzieren, Beurteilen, Hrsg. Reinhold Christiani (Berlin, Cornelsen-Verlag, 2006): S. 48 - 53. 35 23 Vorgehensweisen vergangener Jahre keine unnötige Plackerei sondern eine Notwendigkeit. Besonders wenn es gilt gleichzeitig zwei oder mehr Themen zu behandeln, ist es oft sinnvoll gewisse Fächer zu koordinieren (Math, Deutsch, NMM), nicht nur um die Lehrperson zu entlasten sondern auch um das Erinnerungsvermögen der Kinder wach zu halten und um auf behandeltem Stoff aufzubauen zu können. Auch eine kritische, schriftlich formulierte Reflexion kann wichtig sein, da man je nach Turnus erst nach zwei oder mehr Jahren den ähnlichen Stoff wieder behandelt und vieles in der Zwischenzeit vergessen hat. 3.3. Ungleichheit als Herausforderung (Johannes Nydegger) Ausgehend von einem Zitat soll in die Thematik eingeführt werden: „Dass nicht alle Kinder einer Lerngruppe gleich sind, wird in der Schulpädagogik schon sehr lange als ein ärgerlicher Sachverhalt diskutiert. So sah Johann Friedrich Herbart um 1800 in der „Verschiedenheit der Köpfe“ das zentrale Problem des Schulunterrichts—sein Zeitgenosse Christian Trapp empfahl folgerichtig, die Methode „auf die Mittelköpfe“ auszurichten. Diese Empfehlung beherrscht bis heute den deutschen Schulalltag; denn beim gemeinsam-fortschreitenden Lernen bestimmt der fiktive Durchschnittsschüler sowohl das Niveau als auch das Tempo—dabei müssen die einen warten, die anderen werden überfordert.“37 Dies zeigt sowohl Chance als auch Nachteiligkeit einer heterogenen Unterrichtsgruppe. In einem Artikel des Autors Klaus-Jürgen Tillmann38 werden Späteinschulungen, Sitzenbleiben, Sortierung auf Schulformen und Rückstufungen als flankierende Massnahmen erwähnt um eine homogene Lerngruppe zu erhalten, die sich an den fiktiven „Mittelköpfen“ ausrichtet. Dabei gelten nach wie vor Jahrgangsklassen als das Mass aller Dinge, in denen postuliert wird, dass alle den mehr oder weniger gleichen Entwicklungsstand aufweisen. Gerade in der Übergangssituation Kindergarten—Grundschule werden in Deutschland 12 % der Kinder zurückgestuft, vorwiegend aus sozial schwächeren Verhältnissen stammend, 37 Gerold Becker, Hrsg., Heterogenität: Unterschiede nutzen— Gemeinsamkeiten stärken, Jahresheft XXII/2004, (Seelze: Verlag Erhard Friedrich GmbH, 2004): S. 1. 38 Klaus-Jürgen Tillmann, „System jagt Fiktion—Die homogene Lerngruppe“ in Heterogenität: Unterschiede nutzen—Gemeinsamkeiten stärken, (Seelze: Verlag Erhard Friedrich GmbH, 2004): S. 6 - 9. 24 insbesondere Migrantenkinder.39 Dass diese angestrebte Homogenität auf Kosten frustrierter Kinder geht, glaubt der Autor auch mit folgenden Zahlen zu untermauern: 20 % der Realschüler und 15 % der Hauptschüler werden mindestens einmal in ihrer Schullaufbahn zurückgestuft. Mit den Selektionen zu Beginn der Schule ergibt das eine Gruppe von 40 %, die solche Rückstufungserfahrungen machen. Dies ist ein Wert, den er im Bildungsbereich anderer Länder so nicht findet. Ungleichheit oder Heterogenität ist trotz der jahrgangsmässigen Gleichschaltung allgegenwärtig. Als Beispiele dazu können unter anderem soziale Herkunft, Geschlecht, Umfeld, und genetische Disposition genannt werden. Lange hat man künstlich diese Ungleichheit gefördert, indem man Knaben und Mädchen getrennt unterrichtet hat. Rousseau postulierte, dass die Andersartigkeit der Frau auch ihre Erziehung mitzuprägen habe.40 Dabei ist dieses Postulat kaum älter als 200 Jahre.41 Nach Cristina Allemann-Ghionda lassen sich fünf Kriterien angeben, nach denen Differenzen oder Ungleichheiten im Bildungswesen auftreten können: 1. Gender: biologisch und sozial konstruiert 2. Ethnie: Unterschiede in Kultur, Nationalität, Herkunftssprache, Religion 3. Rasse: Unterschiede zwischen „Europäern“ und „Nichteuropäern“ etc. 4. Klasse: unterschiedliche Gesellschaftsschichten, Bildungsniveau 5. Individuelle Merkmale wie Persönlichkeit, Begabung, Lernverhalten Einige dieser Schlagwörter sind sehr komplexe und umstrittene Begriffe, bei denen genetische Dispositionen und soziale Umstände beteiligt sind. Ausserdem sind Individuen grundsätzlich komplex, Gruppen vielschichtig und deshalb die Prozesse zu deren Untersuchung ebenfalls vielschichtig. Daneben haben als Beispiel die PISA-Studien gezeigt, dass die soziale Herkunft immer noch die Lesefähigkeit massgeblich bestimmt, also eine ausserschulische Komponente darstellt. Ibid.: S. 6. Tillmann sagt: „Den Kindern wird durch diese Massnahme zwar nicht geholfen, aber die erste Klasse ist von möglichen ‚Problemfällen’ befreit.“ 40 Cristina Allemann Ghionda, „Differenz und Ungleichheit—verkannte Herausforderungen für Bildungsinstitutionen?“ in Heterogenität und Integration, Hrsg. Albert Tanner et al., (Zürich: Seismo Verlag, 2006): S. 17. 41 Ibid.: S. 18. 39 25 Georg Auernheimer42 postuliert, dass Gleichheit und Anerkennung insbesondere in der interkulturellen Pädagogik, wie sie heute im Bildungswesen vorherrschend ist, als unverzichtbar angesehen werden sollte. Welche Art der Gleichheit meint er dabei? Er spricht von einer Gleichheit des Auslesemechanismus, einer Gleichheit der pädagogischen Richtlinien, einer Anerkennung multilingualer Situationen. Kritisch äussert er sich darüber, wenn Selektionsmechanismen Migrationskinder als besonders leistungsschwach erscheinen lassen, da man keine Rücksicht auf die nichtdeutsche Muttersprache nimmt. Doch ist diese Gleichheit im Bildungswesen überhaupt realistisch wenn bekannt ist, dass sie gerade in der Notengebung kaum vorhanden ist? Noten verschiedener Fächer sind nicht vergleichbar, Noten eines Faches sind über mehrere Jahre nicht vergleichbar und, was besonders heikel ist: Benotungen für gleiche schulische Leistungen sind von Klasse zu Klasse unterschiedlich.43 In seinem Artikel „Ungleichbehandlung und Gerechtigkeit“44 geht Thomas Kesselring davon aus, dass es keine zwei gleiche Menschen gibt in Bezug auf Herkunft, Familienzugehörigkeit, Geschwisterfolge, Geburtsort, Fähigkeiten, Interessen und Hobbys, dass demgegenüber alle Menschen typologisch aber als gleich angesehen werden. Ein Mensch hat das Recht auf Gleichbehandlung—gleiche Behandlung in gleichen Situationen—und das Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz. Im schulischen Bereich fragt er sich kritisch, ob man allen Schülerinnen und Schülern mit den gleichen Beurteilungskriterien gerecht wird, ob man fremdsprachigen Kindern gerecht wird, wenn man ihre Deutschkenntnisse ohne Bezug auf ihre Muttersprache beurteilt, ob eine gleiche Note Rückschlüsse zulässt auf gleiche Fähigkeiten, ob die Qualität verschiedener Schulen, Universitäten und Lehrpläne alle gleich sind. Aufgrund seiner Darlegungen kommt er zum Schluss, dass ein Grossteil der Gerechtigkeitskriterien, wie sie von Fachleuten wie Singer & Rawls45 für die Gesellschaft aufgestellt worden sind, nicht direkt auf das Bildungswesen angewendet Georg Auernheimer, „Gleichheit und Anerkennung als Leitmotive interkultureller Pädagogik“ in Heterogenität und Integration, Hrsg. Albert Tanner et al., (Zürich: Seismo Verlag, 2006): S. 43. 43 Oliver Thin und Renate Valtin, „Eine Zwei ist eine Drei ist eine Vier. Oder: Sind Zensuren aus verschiedenen Klassen vergleichbar?“ in Was ist ein gutes Zeugnis, Hrsg. Renate Valtin (Weinheim: Juventa Verlag): S. 67 - 76. 44 Thomas Kesselring, „Ungleichbehandlung und Gerechtigkeit“ in Heterogenität und Integration, Hrsg. Albert Tanner et al., (Zürich: Seismo Verlag, 2006): S. 92. 45 John Rawls, eine Theorie der Gerechtigkeit, (Frankfurt/Main, Suhrkpamp Verlag: 1976) und The Law of Peoples, (Cambridge: Mass., Harvard University Press, 1999) und Peter Singer, Praktische Ethik, (Stuttgart: Reclam Verlag, 1984) und One World, The Ethics of Globalization, (New Haven: Yale University Press, 2002) in Thomas Kesselring: S. 94 – 103. 42 26 werden können. Seiner Meinung nach wäre es aber sinnvoll, wenn sich die Bildungsverantwortlichen damit auseinandersetzen würden. Daneben sieht aber auch er, dass gerade im Bildungswesen naturbedingte Kriterien auftreten können. „Wenn jemand den kreativen Müssiggang einer Erwerbstätigkeit vorzieht, ist niemand verpflichtet, diese Person zu unterstützen.“46 Einen gegenteiligen Weg bestreiten im Bildungswesen die Institutionen, die bewusst von der Gleichheit Abstand nehmen und künstlich altersdurchmischte Gruppen zusammenstellen, oft mehr als eine Klasse parallel. Das Schulprojekt 21 des Kantons Zürich erprobte von 1998 bis 2003 klassenübergreifende Gruppen. Dabei waren in 13 Gemeinden rund 120 Primarschulklassen beteiligt. Das Angebot des altersdurchmischten Lernens (kurz ADL genannt) betrug von wenigen Wochenlektionen (mindestens zwei) bis zu ganztägigen Angeboten. Die Mehrheit der Kinder empfand dieses Projekt als eine beliebte Ergänzung zum gewohnten Schulalltag. Sie waren der Ansicht, dass sie von diesen Lektionen nicht nur in sozialer sondern auch in fachlicher Hinsicht profitiert hatten. Von den Lehrkräften wurde der hohe Organisations- und Zeitaufwand bemängelt. Die Ablehnung des neuen Volksschulgesetzes des Kantons Zürich im November 2002 setzte aber diesem vielversprechenden Versuch ein Ende, da neben unbestrittenen Vorteilen auch andere Punkte zur Abstimmung gelangt waren, die von der Bevölkerung nicht goutiert worden sind. 47 Dieses Modell des klassenübergreifenden Unterrichts gibt es in ländlichen Schulen zuhauf, da aufgrund der kleinen Schülerzahlen und der langen Schulwege bei Alternativlösungen, die wegen transportintensiven Aufwands kaum in Frage kommen, gar keine anderen Möglichkeiten bestehen. Dabei fällt auf, dass dieses familiennahe Lernen, das vor- und rückgreifende Lernen, das Bilden gemeinschaftlicher Verantwortung, das von- und miteinander Lernen Vorteile gegenüber dem individualisierten Lernen haben kann.48 Ältere und Jüngere sind aufeinander angewiesen. Man kann durch ein mehrmaliges Behandeln des Stoffes seinen persönlich idealsten Zugang finden, „Schnellere“ sind in der Lage, ihre Informationen bei anderen Gruppen im gleichen Zimmer zu holen und so weiter zu kommen. 46 Kesselring: S. 105. Xavier Monn, „Altersgemischte Lerngruppen—Umgang mit Heterogenität“ in Heterogenität und Integration, Hrsg. Albert Tanner et al., (Zürich: Seismo Verlag, 2006): S. 266. 48 Ibid.: S. 272. 47 27 Insbesondere Gruppen mit 1. bis 3. Klasse oder 4. bis 6. Klasse werden oft bewusst eingesetzt. In einigen Schulgemeinden ist man sogar dazu übergegangen, auf der Sekundarstufe 1 ohne Leistungsdifferenzierung jahrgangsdurchmischte Lerngruppen zu bilden, nachdem man nach einer Pilotphase die Vorteile dieses Systems erkannt hatte. Daneben haben immer mehr erweiterte Lehr- und Lernformen wie freie Arbeit, Werkstattunterricht, Wochenplanarbeit, Projekte und offener Unterricht die klassischen Unterrichtsmodelle abgelöst. Allen gemeinsam ist das Bemühen, in Situationen mit Heterogenität und unterschiedlichen Lernprozessen optimale Bedingungen zu schaffen für das einzelne Kind. In letzter Zeit häufig angewendet wird der Schulversuch, bei welchem die Kindergartenjahre mit dem ersten oder auch noch dem zweiten Schuljahr zur Basisstufe verbunden werden. Dabei besteht die Möglichkeit, die altersgemischte Gruppe in drei, vier oder fünf Jahren zu durchlaufen. Eine Herausforderung bildet dabei der Weg vom lernenden Spiel zum spielenden Lernen. Gerade die Tatsache, dass 85 % der Kinder aus einer Ein- oder Zweikinderfamilie stammen, in denen Positionen schnell bezogen und Sozialkontakte mit anderen Kindern oft erschwert sind, wird diese Schulform als bereichernd angesehen. Nach Monn49 ist die Forschungslage in der Schweiz aber über die Wirkung von altersgemischten Klassen auf weiterführende Schulen unbefriedigend. Er kann nur gerade eine Studie von Poglia und Strittmatter aus dem Jahre 1983 zitieren, welche gesamtschweizerisch die Frage untersucht hat, ob Kinder aus Mehrklassenschulen benachteiligt sind gegenüber den anderen. Dabei haben statistische Untersuchungen keine Benachteiligungen in Bezug auf das schulische oder berufliche Fortkommen zutage gebracht.50 Zum Schluss des Abschnitts sei auf ein Zitat von Xavier Monn hingewiesen: „Kinder mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen lernen in unserer Schule nur dann mit- und voneinander, wenn wir Heterogenität nicht als etwas Lästiges sondern als etwas Spannendes, als eine Chance, eine Herausforderung annehmen. Nehmen wir Abschied von der Vorstellung, Lernen lasse sich mechanisieren, rationalisieren, 49 Ibid.: S. 271: In altersheterogenen Lerngruppen lernen Kinder voneinander und miteinander, ältere und begabtere oder in einem Gebiet weiter fortgeschrittene Kinder unterstützen jüngere oder weniger fortgeschrittene. Die Kinder erleben sich in der Basisstufe in verschiedenen sozialen Stellungen und Rollen. Konkurrenz in Bezug auf ihre Leistungen wird im alters- und leistungsheterogenen Klassenverband verringert, kooperatives Lernen hingegen gefördert. 50 Ibid.: S. 273. 28 beschleunigen und nur in einem Unterricht mit möglichst gleichaltrigen, gleichgeschalteten Kindern realisieren.“ 51 Wenn mit Begabungsförderung Ernst gemacht werden will, gilt es, Abschied zu nehmen von dem Normierungsversuch in unserer Schule, dem Jahrgangsklassensystem. 3.4. Kompetenzen/Ausbildung der Lehrperson (Peter Boss) Lehrpersonen stehen im Schulalltag einer Vielfalt von Herausforderungen gegenüber. Nebst der Erwartung, dass nach neuesten Erkenntnissen der Forschung im Bereich der Pädagogik unterrichtet werden sollte, sind Lehrpersonen immer mehr auch mit einer wachsenden Heterogenität in ihren Klassen konfrontiert. Die gesetzlich verankerte Integration von Kindern mit besonderem Förderbedarf und die Integration von Kindern mit Migrationshintergrund sind wahrscheinlich die zwei grössten Herausforderungen in diesem Bereich. Dies trifft Lehrpersonen von Jahrgangs- wie auch Mehrjahrgangsklassen gleichermassen. Aus diesem Grund besteht zu Recht die Forderung nach einer Ausbildung, welche diese erschwerten Bedingungen beim Unterrichten berücksichtigt. „Es besteht ein allgemeiner Konsens darüber, dass es wichtig ist, alle [Lehrerinnen und] Lehrer mit den Fertigkeiten und Fähigkeiten auszustatten, die sie brauchen, um ihre Aufgabe erfolgreich erfüllen zu können.“52 Seitz spricht mit dieser Aussage die Schwierigkeiten an, welche durch die wachsende Heterogenität in den Klassen verursacht werden. Sie plädiert denn auch für eine verstärkte Professionalisierung des Lehrerberufes; ein Schritt, der im Kanton Bern mit der Schaffung der Pädagogischen Hochschule (PH Bern) schon vor mehreren Jahren vollzogen worden ist. Allerdings ist die Bildung eines solchen Gefässes allein kein Garant dafür, dass die neu ausgebildeten Lehrpersonen dann auch wirklich den Herausforderungen ihres Berufes, im Speziellen den Herausforderungen der Heterogenität in ihren Klassen gewachsen sind. Es liegt in der Hand der Hochschulen, die nötigen Kompetenzen zum Umgang mit Heterogenität in der Ausbildung zu thematisieren und einzuüben. Welches aber sind die wichtigsten Kompetenzen, die sich Lehrpersonen in ihrer Ausbildung aneignen können sollten, um später bei der Ausübung ihres Berufs nicht 51 Ibid.: S. 274. Ingeborg Seitz, Heterogenität als Chance: Lehrerprofessionalität im Wandel, (Frankfurt: Peter Lang Verlag, 2007): S. 71. 52 29 an den Herausforderungen der Heterogenität zu scheitern? Sind dies die gleichen Kompetenzen, die auch bei altersgemischtem Unterrichten benötigt werden? Miller benennt die drei wichtigsten Sparten in Bezug auf allgemeine Kompetenzen im Lehrberuf folgendermassen: „Bei sich selbst, bei anderen, und bei Sachen.“ 53 In Bezug auf den Umgang mit Heterogenität werden natürlich alle drei Sparten durchdringt, aber besondere Kompetenzen werden speziell im Umgang mit den anderen (Schülerinnen und Schülern) und mit der Sache (Inhalte und Wissensvermittlung) verlangt. Wichtige Kompetenzen in diesen Bereichen sind:54 - Stufenübergreifendes Wissen - Differenzierungsfähigkeit55 - Lehrfähigkeit - Problemlösefähigkeit Ergänzt werden kann diese Liste mit den von Forster aufgezählten Kompetenzen: 56 - Hohe Flexibilität und überdurchschnittliche geistige Beweglichkeit - Sonderpädagogische Kompetenzen für die Integration aller Kinder - Didaktisches Repertoire Einerseits benötigt die Lehrperson ein breites Fachwissen, auf das im Unterricht zurückgegriffen werden kann, anderseits ist aber auch die stufenübergreifende Vernetzung dieses Wissens Grundlage für die Differenzierung innerhalb einer Klasse. Als Beispiel kann irgendein Thema aus dem Fachbereich Mathematik genommen werden. Eine Lehrperson, welche die 7. - 9. Klasse altersgemischt unterrichtet, muss erstens das nötige Fachwissen der einzelnen Niveaus haben und zweitens in der Lage sein dieses Wissen stufenübergreifend zu unterrichten und zu verknüpfen. Bei Jahrgangsklassen fällt das stufenübergreifende Lehren zwar weg, aber die zunehmende Heterogenität erfordert eine Differenzierung für die Reinhold Miller, 99 Schritte zum professionellen Lehrer, (Seelze: Kallmeyer’sche Verlagsbuchhandlung GmbH, 2005): S. 8. 54 Ibid.: S.89 - 93. Miller listet eine Reihe weiterer Kompetenzen auf, die für den Lehrerberuf wichtig sind. Diese sind aber nicht speziell von Bedeutung, wenn es um die Aneignung von Fachwissen im Bereich Heterogenität geht. 55 Entspricht der Forderung nach Kompetenzen zur Individualisierung der Lernangebote, wie sie von Forster S. 11 beschrieben wird. 56 Ibid.: S. 11. Die Kompetenzen, die Forster aufzählt, sind spezifisch auf die Basisstufe ausgerichtet. In dieser Arbeit sind nur diejenigen Kompetenzen erwähnt, welche allgemein für das altersgemischte Lernen wichtig sind. 53 30 unterschiedlichen Leistungs- und Lernniveaus innerhalb derselben Klasse. Dies verlangt einen hohen Grad an didaktischen Kompetenzen. Um die Herausforderungen der Heterogenität zu meistern, benötigt eine Lehrperson zusätzlich auch noch eine gesunde Portion Problemlösefähigkeit und Flexibilität, denn es gibt immer wieder Situationen, in welchen nicht einfach ein vorgegebenes Schema angewendet werden kann sondern individuelle Lösungen gefragt sind. Es liegt auf der Hand, dass die oben genannten Kompetenzen sowohl für einen professionellen Umgang mit Heterogenität in Jahrgansklassen wie auch im altersgemischen Unterricht von zentraler Bedeutung sind. Aus diesem Grund gehören diese Kompetenzen unbedingt in den obligatorischen Ausbildungsteil für Lehrpersonen unabhängig davon, auf welcher Stufe unterrichtet wird. Nur so kann ein positiver Einstieg in den Umgang mit Heterogenität im Berufsalltag gelingen. Dies wiederum wirkt sich auf das Wohlbefinden der Lehrperson aus und kann längerfristig sogar ein Burnout verhindern.57 Unabhängig von der Zusammensetzung einer Klasse sollte es das Ziel jeder Lehrperson sein, möglichst vielen Schülerinnen und Schülern zu Lernerfolgen verhelfen zu können. Dies setzt Kompetenzen im Bereich der Differenzierung voraus, die gemäss einer empirischen Studie entweder nicht vorhanden sind oder aus unbekannten Gründen nicht eingesetzt werden. Das Fazit der Studie lautet: „Sehr wenige [Lehrerinnen und] Lehrer aller Altersgruppen differenzieren regelmässig innerhalb des Unterrichts.“58 Interessiert hat uns in diesem Bereich natürlich insbesondere die Frage, wie stark der Unterricht an Mehrjahrgangsklassen bei der Ausbildung an der PH Bern gewichtet wird. Ein Blick auf den im Internet publizierten Studienplan für die Stufe Sek 1 liess erahnen, dass altersgemischtes Lehren und Lernen kaum thematisiert wird. Die Antwort auf unsere schriftliche Nachfrage bestätigte diese Befürchtung: Sehr geehrter Herr Boss …Ich habe Folgendes zusammengetragen: 57 Ibid.: S. 167 - 168. Nebst der Vorbereitung auf das berufliche Handwerk sollte die Ausbildung auch darauf abzielen, Lehrpersonen zu einer „gesunden“ Berufs- und Lebenshaltung heranzuführen. Eine gesunde Einstellung zeigt sich daran, dass ein Lehrperson sich engagiert, belastbar ist und gleichzeitig ein positives Lebensgefühl hat. 58 Ibid.: S. 308 - 309. Es ist anzufügen, dass die Studie in Deutschland durchgeführt wurde. Die Resultate lassen also streng genommen nur Resultate für Deutschland zu. Es kann aber argumentiert werden, dass die Ausbildung für Lehrpersonen in der Schweiz und Deutschland nicht grundverschieden sind. Aus diesem Grund—und weil meines Wissens keine ähnliche Studie für die Schweiz besteht—kann die Aussage, dass innere Differenzierung relativ selten passiert, mit Vorbehalt auch für unsere Schulen übernommen werden. 31 An unserem Institut gibt es keine Veranstaltung, welche sich ausschliesslich mit der Thematik auseinander setzt. Das Thema wird aber aufgegriffen zum Beispiel in der obligatorischen Vorlesung „Berufswahl und Beurteilung“ (Dozent: P. Schär), und mit dem Block mit Hermann Flueckiger (7. - 9. Aarwangen). Ausserdem wird es gestreift in der Veranstaltung „Umgang mit heterogenen Klassen“ (DozentIn: R. Rüegg & C. Maler) im Zusammenhang mit Umgangsformen, in welchen die Schülerinnen und Schüler als „[Lehrerinnen und] Lehrer“ wirken (reziprokes Lernen). Viele Studierende lernen Mehrjahrgangsklassen im Rahmen ihrer Praktika kennen.59 Im Weiteren schreibt Rüegg, dass es keinen Anteil an obligatorischen Lektionen gibt, den man in den verschiedenen Praktika an einer Mehrstufenklasse zu absolvieren hat. Es kann also durchaus sein, dass Studentinnen und Studenten ihren Abschluss erhalten ohne jemals auch nur einen Schritt in eine Mehrstufenklasse gemacht zu haben. Auch in Bezug auf die Motion aus dem Jahr 200860 sind bis heute anscheinend noch keine Schritte unternommen worden. Der PH Bern ist jedenfalls kein Auftrag vom Regierungsrat erteilt worden in diesem Themenbereich empirische Forschungsprojekte durchzuführen. Rüegg schreibt: „Meines Wissens ist im Moment kein entsprechendes Projekt in Arbeit.“ Konkret bedeutet dies, dass an den Schulen des Kantons Bern zwar 30% aller Klassen mehrstufig unterrichtet werden, in der Ausbildung an der PH Bern jedoch grösstenteils darauf verzichtet wird auf die didaktischen Besonderheiten und erschwerten Bedingungen von solchen Klassen einzugehen. So muss man sich fragen, ob diese Rechnung längerfristig auch wirklich aufgehen kann und wie lange Schulen mit Mehrjahrgangsklassen offene Stellen weiterhin mit qualifizierten Lehrpersonen abdecken können. An einem aktuellen Beispiel kann gezeigt werden, dass die Ausbildung an der PH Bern in der Tat kein unterstützendes Klima bietet für Lehrpersonen, die in Zukunft an einer Mehrklassenschule zu unterrichten gedenken. Eine Praktikantin absolvierte kürzlich ein Praktikum an einer Mehrjahrgangsklasse im Fach Englisch (7. - 9. Klasse Lauenen). Die Vorgaben der Dozentinnen in Bezug auf die Vorbereitungen für die Lektionen wurden in keiner Art und Weise an die zeitlich erhöhten Anforderungen angepasst. Anstatt all die geforderten Analysen auf eine Klasse (Jahrgangsstufe) zu beschränken, musste die Praktikantin für jede der drei Stufen einen ausführlichen 59 60 Roland Rüegg, e-mail, (PH Bern: 16. 03. 2010). Grüne Partei: S. 5. 32 Bericht abgeben. Was bei Vorbereitungen für Jahrgangsklassen einem Schreibaufwand von rund 15 Seiten gleichkommt, bedeutete für die Praktikantin 45 Seiten. Solch ein Verhältnisblödsinn ist in keiner Weise motivierend, nach der Ausbildung sich für eine Stelle an einer Mehrklassenschule zu bewerben, denn es wird ganz klar der Gedanke vermittelt, dass für den gleichen Lohn ein wesentlich grösserer Aufwand betrieben werden muss. Dies war denn auch das Fazit eines Schulprojekts für altersgemischtes Lernen im Kanton Zürich, bei dem viele Lehrpersonen bei der Auswertung den erhöhten Arbeitsaufwand bemängelten.61 Nicht nur bei der Ausbildung selber wird zuwenig auf die spezifischen Kompetenzen für den Unterricht in Mehrjahrgangsklassen geachtet sondern auch in der Weiterbildung. Auch dazu kann ein konkretes Beispiel genannt werden: Die Schule Lauenen wünschte vom IWB (Institut für Weiterbildung) einen Kurs zur Planung von NMM nach den Vorgaben des Lehrplans. Als besonderen Schwerpunkt wünschte die Schulleitung den Bereich der Differenzierung um dem altersdurchmischten Unterricht besser gerecht zu werden. Die Absage vom IWB kam postwendend mit der Aussage, dass die NMM Kurse auf Jahrgangsklassen zugeschnitten seien. Auch bei der Weiterbildung wird altersgemischtes Lernen vernachlässigt. Es ist allerdings anzufügen, dass seit der Diskussion zur Basisstufe langsam ein Umdenken stattfindet. An der PH Bern laufen Bestrebungen, die Ausbildung entsprechend anzupassen, damit die zukünftigen Lehrpersonen den Herausforderungen des altersgemischten Unterrichtens besser gewachsen sind. Die nötigen strukturellen Anpassungen aber brauchen Zeit, und man hat gemerkt, dass gerade bei der Basisstufe mehr Lehrpersonal benötigt wird um die Aufgaben professionell meistern zu können. Würde man diese Erkenntnis konsequent weiterdenken, müsste dies eigentlich auch Auswirkungen auf die Stellenprozente an gemischten Oberstufen zur Folge haben. Auch auf politischer Ebene hat ein Umdenken eingesetzt, was man an der Motion der Grünen erkennen kann, welche oben schon erwähnt wurde. In der Motion wird der Regierungsrat des Kantons Bern beauftragt:62 - jahrgangsgemischtes Unterrichten in der Volksschule zu fördern - die vielen bereits bestehenden jahrgangsgemischten Klassen zu stärken - der PH einen entsprechenden Aus- und Weiterbildungsauftrag zu erteilen 61 62 Forster: S. 7. Morgenthaler und Keller, Motion, (Kanton Bern: Grüne Partei, 2007): S. 1. 33 - die PH mit der wissenschaftlichen Bearbeitung des Themas „altersgemischtes Lernen“ zu betrauen In der Motion wird argumentiert, dass jahrgangsgemischte Klassen schon in Pestalozzis Zeiten selbstverständlich waren und heute wieder bewusst gefördert werden sollen. Jahrgangsgemischte Klassen werden sogar als zukunftsweisendes Modell propagiert. Ob dann durch die Basisstufe das Bedürfnis entsteht ein ähnliches Modell auch für die höheren Stufen (Mittel- und sogar Oberstufe) einzuführen, damit jedes Kind seinem eigenen Entwicklungsstand entsprechend gefördert werden kann, weiss heute noch niemand. Ein solches Konzept ist zum jetzigen Zeitpunkt reine Utopie, aber denkbar wäre es schon, dass bei einer zukünftigen Schulreform ein radikales Umdenken stattfinden könnte. 3.5. Geschichte des Mehrstufenunterrichts: Maria Montessori, Peter Peterson (Peter Boss) Das Modell des altersgemischten Lernens funktioniert; es funktioniert sogar so gut, dass Schulen aus pädagogischen Überlegungen von homogenen Jahrgangsklassen zu diesem Modell wechseln. Das erstaunt überhaupt nicht, denn hinter der Idee des altersgemischten Lernens stehen bekannte Namen wie Maria Montessori und Peter Peterson. Das vorliegende Kapitel fasst die pädagogischen Reformen zusammen, welche von diesen beiden Personen ausgelöst wurden. Peter Peterson (1884 - 1952): Peter Peterson arbeitete bis zu seinem Tod als Professor an der Universität Jena. In seiner Zeit als Universitätsleiter entwickelte er den so genannten „Jenaplan“, in welchem er ein Schulmodell mit altersgemischten Lerngruppen propagierte. „Der Gedanke, Alters- und Erfahrungsunterschiede für das gemeinsame Lernen zu nutzen, führt zu einer Pädagogik altersgemischter Gruppen, die das wechselseitige Helfen der Kinder zum Grundprinzip pädagogischer Situationen macht.“63 Petersens Hauptgründe für die Forderung nach altersgemischten Gruppen sind:64 63 Esther Rindisbacher, Mehrjahrgangsklassen: Wichtige Phasen und Überlegungen der Umstrukturierung, Zertifikatsarbeit, (Bern: PH Bern, 2008): S. 10. 64 Dorothea Blendinger und Marlene Diehnelt, Kooperation zwischen Klassen: Voneinander lernen in heterogenen Gruppen, (Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt, 2003): S. 49. 34 - die natürliche Alltagssituation altersheterogener Gruppen - das gegenseitige Helfen - der Erhalt des Grossteils der Gruppe (bei Zusammenfassung von drei Jahrgängen) - die Bildungswirksamkeit der Differenz. Petersen wandte sich mit diesen Forderungen direkt gegen das System von Jahrgangsklassen, welches die natürlichen altersheterogenen Gruppen auseinander reisst und die Kinder durch ein künstlich geschaffenes Treppensystem schleust, welches auch heute noch die Basis unseres Schulsystems bildet. Würde der Jenaplan konsequent umgesetzt, gäbe es an unseren Schulen jeweils nur drei Stufen: Unter-, Mittel- und Oberstufe. Die Aufteilung in diese drei Altersstufen wurde von Petersen nicht aus reiner Willkür propagiert sondern war die Folge von sorgfältig durchgeführten Versuchen, welche aus verschiedenen Erkenntnissen der Psychologie bestätigt worden sind. Dietrich kommt aufgrund der Forschungsarbeit von Petersen zum Schluss, dass die Altersgruppen auf der Idee der Erziehung begründet sind.65 Die Unterschiedlichkeiten innerhalb der jeweiligen Altersgruppen bieten fruchtbaren Boden für gegenseitige Lernanregung und wecken das Interesse für Neues auf ganz natürliche Art. Gross geschrieben wird beim Jenaplan auch das Zusammenspiel von Hilfsbedürftigkeit und Hilfsbereitschaft, welches in der Jahrgangsklasse nie in diesem Mass erreicht werden kann. Peterson erkannte, dass das Umsetzen des Jenaplans auch neue Lehr- und Lernformen braucht als Erweiterung oder gänzlichen Ersatz für den damals vorherrschenden Frontalunterricht. Kennzeichnende Merkmale dieses Unterrichts sind:66 - Wochenarbeiten statt „Festnetzstundenplan“ - Kurse zur Sicherung des Mindestwissens - Feiern im Dienst der Gemeinschaft - Arbeits- und Leistungsberichte statt Noten - Überfachliches Arbeiten in Projekten 65 66 T. Dietrich, Die Pädagogik Peter Petersens, (Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt, 1991): S. 72 - 73. Rindisbacher: S. 10. 35 Die Lehrperson steht nicht mehr im Zentrum des Geschehens sondern rückt viel mehr in den Hintergrund mit der Aufgabe Anreize für das Lernen zu schaffen, dann aber die Kinder in offenem Unterricht selbständig ihre Erfahrungen machen zu lassen. Maria Montessori (1870 - 1952): Sie erlangte schon mit 26 Jahren den medizinischen Abschluss und wurde so zu Italiens erster Ärztin überhaupt. Bei ihrer ersten Anstellung in einem psychiatrischen Umfeld erwachte ihr Interesse für pädagogische Fragen. Es gelang ihr denn auch, einigen geistig behinderten Menschen das Lesen und Schreiben beizubringen, was in ihr die Frage weckte, weshalb Kinder der öffentlichen Schulen keine grösseren Lernerfolge zeigten. „Den Grund sieht Maria Montessori im unsinnlichen und geisttötenden Schulalltag.“67 Diese Erkenntnis führte die Ärztin dazu, neues Schulmaterial zu entwickeln, mit welchem sie die Lernerfolge zu verbessern hoffte. Der Erfolg blieb nicht aus, da sie das handelnde Lernen als Grundlage für verbessertes Lernen propagierte. Genau wie Petersen machte sich auch Montessori für altersgemischte Gruppen in der Schule stark um den Verschiedenheiten von Lernbedürfnissen gerecht zu werden, denn gemäss ihren Beobachtungen „…schaffen altershomogene Lerngruppen Langeweile und der geistige Austausch unter den [Schülerinnen und] Schülern wird erschwert.“68 Da ausserhalb der Schule auch immer ältere und jüngere Kinder zu einem Beziehungsnetz gehören, war es für Montessori nahe liegend, diese natürliche Altersheterogenität auch auf die Schulsituation zu übertragen. In diesen von Montessori propagierten gemischten Lerngruppen können die Kinder vielfältige Sozialerfahrungen machen, die sich positiv auf den Umgang mit anderen auswirken. In altersgemischten Gruppen besteht die Möglichkeit, dass über mehrere Jahre verschiedene Rollen eingenommen werden können, was die Sensibilität für die Probleme anderer erhöht. Dies wiederum ist förderlich für ein kooperatives Miteinander im Gegensatz zu dem Konzurrenzdenken, welches in vielen Jahrgangsklassen vorherrschend ist. Gemäss Montessori ist in altersgemischten Gruppen auch der Lerneffekt grösser, weil sich die Kinder gegenseitig motivieren und einander helfen. Die jüngeren Kinder profitieren von dem Wissen der älteren, und die älteren Kinder lernen dabei ihr Wissen weiterzugeben. Dabei ist es nicht etwa so, dass die älteren Kinder keine Fortschritte machen, sobald sie an der oberen Altersgrenze ihrer Lerngruppe 67 68 Ibid.: S. 11. Blendinger: S. 48. 36 angekommen sind. Im Gegenteil, Montessori glaubt an das Prinzip vom Lernen durch Lehren, bei welchem die älteren Kinder „…zunächst ihr Wissen analysieren und systematisieren, bevor sie es an andere weitergeben können.“69 Das Weitergeben von Wissen führt deshalb nicht zu einem Lernstillstand sondern ist vielmehr eine Weiterentwicklung der eigenen Kommunikationsfähigkeit. Rindisbacher fasst die Prinzipien der Montessori-Pädagogik folgendermassen zusammen:70 - das Kind in seiner Persönlichkeit achten, es als ganzen, vollwertigen Menschen sehen - seinen Willen entwickeln helfen, ihm helfen, selbständig zu denken und zu handeln - ihm Gelegenheit bieten, dem eigenen Lebensbedürfnis zu folgen - ihm helfen, Schwierigkeiten zu überwinden statt ihnen auszuweichen Die Lehrperson, welche nach Montessori Prinzipien unterrichten will, ermöglicht offenen Unterricht und hält sich dabei im Hintergrund. Bei Schwierigkeiten ist es nicht die Aufgabe der Lehrperson, pfannenfertige Lösungen zu servieren sondern viel mehr Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. Im Endeffekt soll das Kind ermächtigt werden sich selbständig im eigenen Leben zurechtzufinden. So erstaunt es nicht, dass im Zentrum der Montessori-Pädagogik das Wohl des Kindes steht. Statt Leistungsdruck soll das Kind Freude am Lernen verspüren und aus eigenem Interesse heraus mit der nötigen Portion Eigenverantwortlichkeit die Herausforderungen des Lernens anpacken und meistern. Im Vergleich ziehen sowohl Peterson wie auch Montessori den Lernerfolg „… nicht aus der Gleichheit der [Schülerinnen und] Schüler sondern gerade aus der Differenz und zwar mit dem Ziel, die entstehende Spannung fruchtbar zu machen für die Förderung individueller und sozialer Lern- und Bildungsprozesse.“71 Sowohl bei Petersen wie auch bei Montessori wird die Verschiedenartigkeit der Kinder unterschiedlicher Jahrgänge als Katalysator für effizientes Lernen miteinander verstanden. Daher erstaunt es nicht, dass die Gemeinschaft von jüngeren und 69 Ibid.: S. 50. Rindisbacher: S. 11. 71 Blendinger: S. 50. 70 37 älteren Kindern als optimale Voraussetzung für das Lernen hervorgehoben und entsprechend postuliert wird. Situation im Jahr 2005: Das Gedankengut der Reformpädagogik ist heute in vielen Schulen sichtbar an der didaktischen Vielfalt, welche die Lehrpersonen einsetzen um ihre Ziele zu erreichen. Ebenfalls findet man in Leitbildern und Projekten zur Qualitätsverbesserungen häufig Prinzipien aus der Reformpädagogik. Einzig die Idee der konsequenten Umsetzung von Mehrjahrgangsklassen hat sich in der Schweiz bis heute nicht durchgesetzt. Die Idealform von drei Jahrgängen, welche zu einer Klasse zusammengefasst werden, betrifft nur gerade rund 3% aller Klassen in der Schweiz. Im Kanton Bern sind es rund 7% aller Klassen, welche dem Ideal des Jenaplans folgen. Ob die Klassen dann aber wirklich aus pädagogischen Überlegungen zu dreistufigen Mehrjahrgangsklassen zusammengezogen worden sind, ist fraglich. Häufig sind Mehrjahrgangsklassen in der Schweiz die Folge von sinkenden Kinderzahlen und werden selten aus pädagogischer Überzeugung geschaffen. Bundesamt für Statistik 2005:72 Anzahl Schulabteilungen Kanton 1 % 2 % 3 % 4+ % 23 553 18 850 80 3 695 15.6 696 3.1 312 1.3 Zürich 3 632 3 272 90 277 7.7 69 1.9 14 0.4 Bern 3 275 2 277 69.5 570 17.4 217 6.6 211 6.5 St. Gallen 1 714 1 430 83.4 220 12.9 58 3.4 6 0.3 Aargau 1 580 1 351 85.5 181 11.4 35 2.2 13 0.9 Waadt 1 462 994 68 468 32 Luzern 1 374 1 135 82.6 191 13.9 Genf 1 292 984 76.2 304 Wallis 1 049 790 75.3 Thurgau 1 028 1 022 99.4 Schweiz Total Kl. Anzahl Schulabteilungen mit ... Klassen - - - - 40 2.9 8 0.6 23.5 4 0.3 - - 210 20.1 39 3.7 10 4 0.4 2 0.2 - Xavier Monn, „Adieu Jahrgangsklasse!“ Serie „Altersgemischtes Lernen“ in Neue Schulpraxis, 4/2005: S. 9. 72 38 0.9 - Freiburg 984 802 81.5 181 18.4 1 0.1 - - Solothurn 809 606 74.9 188 23.2 13 1.6 2 0.3 Tessin 806 612 75.9 152 18.8 35 4.3 7 1 Graubünden 735 432 58.8 205 27.9 81 11 17 2.3 Basel-Land 690 610 88.4 61 8.8 13 1.9 6 0.9 Neuenburg 554 464 83.8 69 12.4 11 2 10 1.8 Schwyz 533 490 91.8 35 6.6 4 0.8 4 0.8 Zug 340 299 87.9 36 10.6 5 1.5 - - Jura 294 157 53.4 119 40.5 18 6.1 - - Basel-Stadt 277 275 99.3 2 0.7 - - - - Sch’hausen 244 184 75.4 37 15.1 23 9.5 - - Appenz. AR. 215 177 82.3 37 17.2 1 0.5 - - Glarus 159 112 70.5 36 22.6 10 6.3 1 0.6 Nidwalden 158 98 62 55 34.9 4 2.5 1 0.6 Uri 151 117 77.5 26 17.2 6 4 2 1.3 Obwalden 132 113 85.6 18 13.6 1 0.8 - - Appenz. IR 66 47 71.2 13 19.7 6 9.1 - - 3.6. Altersgemischte Lerngruppen (Johannes Nydegger) Viele Lehrpersonen haben Angst vor jahrgangsgemischten Gruppen in Bezug auf Planungsaufwand, Komplexität des Unterrichtens und Betreuungsmöglichkeit für das einzelne Schulkind. Sie halten fest am Glauben, Kinder gleichen Alters befänden sich auf gleichem Entwicklungsniveau. So wird versucht alle Schülerinnen und Schüler mit der gleichen Methode zum selben Ergebnis zu führen um am Schluss zu merken, dass eben nicht alle das Gleiche erreichen. Unter dem Deckmantel einer nicht vorhandenen Klassenhomogenität behandelt man ohne allzu intensiv reflektierten Aufwand Themen schlank und rank und oft von einer 39 dozierenden Warte aus. Doch gemäss Herzig und Lang73 gibt es keine homogenen Lerngruppen. Egal ob Jahrgangs- oder Mehrjahrgangsklasse, differenziert muss beim Unterrichten in beiden Situationen werden, denn unser Leben ist nicht „homogenisiert“. Sie beobachten, dass innerhalb jahrgangsgemischten Klassen besonders ältere Schülerinnen und Schüler je nach Situation gerne als „Lehrperson“ auftreten und Lerninhalte und -techniken an andere weitergeben. Diese fachliche Mithilfe ist nicht zu unterschätzen, da Kinder von ihresgleichen oft besser Kritik verkraften und Lehrpersonen so neutraler da stehen. Besonders im sozialen Bereich kommen die Vorteile dieser Unterrichtsform schnell zum Tragen. Ältere Kinder fungieren als Zugpferde, vermitteln Traditionen mit dem nötigen Unterton der Überzeugung und sind in vielerlei Hinsicht Vorbilder. Diese Funktionen lassen sich besonders in einer jahrgangsgemischten Klasse sehr gut nutzen und entlasten die Lehrperson. Die Idee der altersgemischten Lerngruppen ist nicht neu, wie dies schon im vorangehenden Kapitel erläutert wurde. Bei Maria Montessori, Peter Petersen, sowie Célestin Freinet (1896 - 1966) wurde sie erfolgreich angewendet. Vom rechtlichen Standpunkt her ist es einer politischen Behörde, sprich Gemeinde, auf Antrag einer Schulbehörde und nach Absprache mit dem Inspektorat freigestellt, jahrgangsgemischte Klassen zu führen. Für die Betreuung altersgemischter Lerngruppen ist es von Vorteil, wenn zwei Lehrpersonen zur Verfügung stehen, damit verschiedene Niveaus und individuelle Vorgehensweisen angeboten werden können. Ausserdem ist die Anpassung des Stundenplans sinnvoll, in dem basierend auf einem Wochenplanunterricht freie und festgelegte Zeiten definiert sind. Dabei wird unter Freiarbeit diejenige Zeit verstanden, in welcher die Kinder frei gemäss ihrem Lerntempo arbeiten können. Ein geregelter, ritualisierter Unterricht ist dabei Grundvoraussetzung. Der Wochenplanunterricht führt die Kinder strukturiert durch den Tag und sollte schwerpunktmässig eher zu Beginn des Tages stattfinden, wenn die Kinder noch ausgeruht und konzentriert sind. Kinder, die Mühe mit den Wochenplanunterteilungen und insbesondere mit den Freiarbeiten bekunden, können anhand eines Tagesplans gemäss einer festen Struktur arbeiten und am Ende des Tages ihr Plansoll sofort eruieren. 73 Sabine Herzig und Anke Lang, So funktioniert jahrgangsübergreifendes Lernen, (Mühlheim an der Ruhr: Verlag an der Ruhr, 2006): S. 10. 40 Ein wichtiger Aspekt altersgemischten Lernens ist das Aufräumen und das Einhalten der Ordnung. So arten auch Zeiten mit Freiarbeit nicht zu chaotischen Zuständen aus und das Zimmer kann nach Unterrichtsende ohne schlechtes Gewissen verlassen werden. Die Einführung von Ämtlis kann dabei eine grosse Hilfe sein. Ein Grossteil der wöchentlichen Lektionen fällt normalerweise auf den Fachunterricht. Dabei ist grundsätzlich in jedem Fach, wie Erfahrungen aus Mehrjahrgangsklassen zeigen, eine Altersmischung angezeigt. Es erfordert zwar von der Lehrperson ein sorgfältiges Planen, dafür können aber auch hier die sozialen Vorteile ausgenützt werden. Wenn man eine altergemischte Lerneinheit plant, ist es gut zu wissen, wie die Klassenzusammensetzung genau aussieht und auch die Eigenheiten der Kinder zu kennen. Mit einer Grobplanung verteilt auf ein Quartal oder ein Semester werden der Rahmen und die zeitliche Gesamtdauer festgelegt. Eine Aufteilung in Wochen- sowie Tagespläne dient der Feinstrukturierung und hilft besonders denjenigen Lehrpersonen, die noch keine grosse Erfahrung im Umgang mit Mehrjahrgangsunterricht haben, den roten Faden nicht zu verlieren. Auch können bei betreuungsintensiven Kindern sofort Fragen bezüglich Qualität, Selbständigkeit, Beenden der Arbeiten und Schwierigkeiten beantwortet werden. Dazu können zum Beispiel „Arbeitsausweise“ oder „Arbeitsurkunden“ eingesetzt werden, wie auch Schülerbeobachtungen und die Auswertung von Schülerarbeiten.74 Eine durch die Lehrperson regelmässig nachgeführte Klassendatei ist dabei unerlässlich. Trotz des häufig individuellen Arbeitens ist es eine Verpflichtung der Lehrperson, die Ergebnisse der Kinder zu begleiten, sie zu überprüfen und Rückmeldungen zu geben. Gewisse untergeordnete Arbeiten können auch durch ältere Kinder oder im Klassenverband korrigiert werden. Ein gemeinsamer, herkömmlicher, schriftlicher Test eignet sich nicht in Bezug auf den individualisierenden Unterricht. Allenfalls können die Tests auf zwei Niveaus abgelegt werden. Aber bei dieser Unterrichtsform ist es sinnvoll, die Anzahl der Tests auf ein notwendiges Minimum zu reduzieren. Das Ziel der Tests soll vor allem der Erfassung des eventuellen Förderbedarfs dienen. Das Zusammentragen des Lernmaterials erfordert während längerer Zeit eine intensive Beschäftigung und kann umfassend wohl erst nach mehreren Durchgängen als bewährt angesehen werden, wobei es immer wieder aktualisiert werden sollte. Da 74 Herzig und Lang: S. 86. 41 sich dies für eine Lehrkraft oft als unzumutbar herausstellt ist die Mithilfe beim Sammeln von Unterrichtsmaterialien durch die Kinder unbedingt zu begrüssen. Sie setzen sich frühzeitig mit dem Thema auseinander und haben selbstgesammeltes Material zur Hand, zu welchem sie häufig auch mehr Sorge tragen. Es kann auch während des Unterrichts Materialien als Klassensätze gebastelt werden. Folgende Kriterien, zusammengestellt von Herzig und Lang geben einen guten, jedoch nicht abschliessenden Überblick über die Kriterien und Tipps betreffend altersgemischten Lerngruppen:75 - Holen Sie die Lebenswirklichkeit der Kinder in den Klassenraum - Bieten Sie Materialien an, mit denen das Kind einen Lernerfolg hat - Möglichst viel Material sollte von den Kindern selbst kommen - Ermöglichen Sie dem Kind eine selbständige Ergebniskontrolle - Berücksichtigen Sie persönliche Interessen der Kinder - Berücksichtigen Sie eine einfache Handhabung und gute Haltbarkeit - Das Material sollte verschiedene Anwendungsmöglichkeiten bieten - Berücksichtigen Sie unterschiedliche Lerntypen - Immer Material für mehr als die vorhandenen Jahrgänge bereit halten - Immer weiterführendes Material bereit halten 3.7. Umgang mit Mehrjahrgangsklassen im Unterricht (Johannes Nydegger) In letzter Zeit geht der Trend hin zu altersgemischten Klassen. Besonders in den Primarklassen wird das Vorbild der Basisstufe übernommen. Stellt diese Wandlung eine besondere Lernchance dar? „Ja!“, begründet Dr. Matthea Wagener,76 die zurzeit eine Professur am Lehrstuhl Grundschulpädagogik an der TU Dresden innehat. „Die Schulanfänger wachsen in eine bereits bestehende soziale Struktur hinein. Diese kann ihnen Sicherheit vermitteln. Jedes Kind lernt verschiedene soziale Positionen in der Lerngruppe kennen, weil es zeitweise sowohl den jüngeren als auch den älteren Kindern angehört. Kinder können dadurch verschiedene Blickwinkel kennen lernen, insbesondere dann, wenn nicht nur zwei, sondern drei Jahrgänge gemischt werden.“77 75 Ibid.: S. 125 - 128. Matthea Wagener, „Streitpunkt Altersmischung—Jahrgangsklassen oder Jahrgangsmischung“ in Grundschule 6, 2008: S. 51. 77 Ibid.: S. 51. 76 42 Durch vielfältige Lernangebote und unterschiedliche Lernanreize werden die Kinder entsprechend ihrer Entwicklung und der Fähigkeit zum Lernen individuell gefördert. Jahrgangsgemischtes Lernen befindet sich gemäss Dr. Matthea Wagener in der Entwicklung. Es gibt kein fertiges Rezept für die Unterrichtsgestaltung. Doch dies gilt ja auch für den Unterricht in Jahrgangsklassen. Es sind aus den Pro- und KontraArgumenten die Konsequenzen für die Weiterentwicklung eines Unterrichts zu ziehen, der die Altersmischung nicht als Spannung im negativen sondern im positiven Sinn sieht.78 Im Jahresheft des Friedrich Verlages79 finden sich einige Artikel, die nicht nur das Positive einer Mehrjahrgangsklasse betonen sondern zusätzlich auch Unterrichtsverfahren angeben und die Heterogenität als Chance darlegen. Eine solche Chance der Heterogenität zeigt sich zum Beispiel auch in Fächern wie Religion, meinen die beiden Forscherinnen Obst und Volkwein.80 In ihrem Artikel weisen sie auf den produktiven Umgang mit der religiösen Heterogenität hin. Gerade in Zeiten religiösen Pluralismus ist ein interreligiöser Dialog unabdingbar. Dazu eignet sich die Schule, in der viele Kinder nicht einen religiösen Standpunkt wahren sondern ihn erst finden wollen. Die Theorie bietet dazu kaum Unterstützung. Da es zu den Tabuthemen gezählt wird, ist dies oft ein weisser Fleck in Diskussionen unter den Religionspädagogen. Gerade das Gespräch und die Suche nach dem Dialog ermöglichen ein besseres Verständnis des eigenen Standpunkts sowie eine unvoreingenommene Sichtweise für die Welt des anderen. Dabei sollte man dem Konflikt durchaus nicht aus dem Weg gehen. Denn dieser entbrennt oft infolge Unwissenheit oder Voreingenommenheit. „Der moderne Mathematikunterricht drängt sich durch seine mehrseitige Betrachtungsweise geradezu auf, altersgemischt angegangen zu werden,“ betont Susanne Prediger in ihrem Artikel zur Vielfalt des Mathematikunterrichts.81 78 Ibid.: S. 54. Zum Beispiel Becker: S. 63. 80 Gabriela Obst und Karin Volkwein, „Aylin erklärt Markus das Christentum“ in Heterogenität: Unterschiede nutzen—Gemeinsamkeiten stärken, Verlagssonderbeilage, (Seelze: Friedrich Verlag, 2004): S. 82 - 85. Zitat betreffend Markus und Aylin: “Eine Welt für alle—Ökumene” - so heisst ein Kurs im Studienfach Evangelische Theologie am Oberstufen-Kolleg Bielefeld. Viele der Jugendlichen—v. a. mit vermeintlich christlichem Hintergrund—sind von religiösen Traditionen völlig entfremdet. Sie treffen im Kreis auf andere—besonders Moslems—für die Religion ein fester Bestandteil ihres alltäglichen Lebens ist. 81 Susanne Prediger, „Vielfalt des Mathematikunterrichts“ in Heterogenität: Unterschiede nutzen— Gemeinsamkeiten stärken, Verlagssonderbeilage, (Seelze: Friedrich Verlag, 2004): S. 86ff. 79 43 Unterschiedliche Kenntnisse ermöglichen ein Voneinander-Lernen. Als Beispiel wird der Einsatz von Karteikarten im Freiarbeitsunterricht erwähnt. Darauf tragen sich alle ein, welche die jeweiligen Karten gerade erst gelöst haben und so als Experten gelten. Auch in Gruppen ohne Altersmischung wird so gearbeitet, dass sich Schülerinnen und Schüler gegenseitig etwas erklären, doch tritt infolge der Altershomogenität oft ein Vergleichsdruck auf. Ausserdem können verschiedene Lösungswege, vielfach einfachere als der selber gewählte zur Erweiterung des Lernverständnisses führen. Auch von Seiten der Lehrperson sollte die Vielfältigkeit gefördert werden. Gerade die Verschiedenartigkeit der Mathematik (Algebra, Geometrie, Analysis, Wahrscheinlichkeitsrechnung, Zahlentheorie) bedingt ein gleichzeitiges Beleuchten eines Problems. Am besten kommen solche Unterrichtsarrangements zum Tragen in Formen, in denen sich die Lehrperson zurückhält und sich auf die Aktivitäten der Lernenden verlässt. Leider wird häufig noch der defizitorientierte Blick angewendet („Wer kann das noch nicht?“) und auf den kompetenzorientierten Blick nicht eingegangen. Im Artikel Mädchenfächer—Jungenfächer wird von der Autorin Ursula Kessels82 auf die Tatsache hingewiesen, dass vielerorts die Ausbildungswege von männlichen und weiblichen Jugendlichen und damit ihre weiteren beruflichen Karrieren nach wie vor ausgesprochen geschlechtstypisch erfolgen. Gerade in der Adoleszenz, wo die Aufgabe besteht seine Rolle als erwachsene Frau oder heranwachsender Mann zu finden, muss diese Rolle ausprobiert—und oft sehr überzogen—demonstriert werden. „Es ist vermutlich eine sehr allgemeine Erfahrung, dass Schülerinnen nie zickiger und Schüler nie grossspuriger sind als zwischen 12 und 16—sie ‚zimmern’ gerade an der Grobfassung ihrer Identität als Mann und Frau und eignen sich an, was sie für typisch feminin oder maskulin halten.“83 Dazu eignen sich sowohl geschlechts- wie altersgemischte Gruppen besonders. Arnulf Kunze plädiert in seinem Artikel „Alles hängt mit allem zusammen vom Nutzen der Differenz.“84 Er erwähnt Rituale an seinem Schulhaus wie das bei Schuleintritt Ursula Kessels, „Mädchenfächer – Jungenfächer“ in Heterogenität: Unterschiede nutzen— Gemeinsamkeiten stärken, Verlagssonderbeilage, (Seelze: Friedrich Verlag, 2004): S. 90ff. 83 Ibid.: S. 91. 84 Arnulf Kunze, „Alles hängt mit allem zusammen—Vom Nutzen der Differenz“ in Heterogenität Unterschiede nutzen—Gemeinsamkeiten stärken, Verlagssonderbeilage, (Seelze: Friedrich Verlag, 2004): S. 110ff. Abschliessendes Zitat S. 113: „Wenn ich mein Bessersein nur definiere durch die auskonkurierten Verlierer, muss ich die Gruppe, in der ich arbeite, unsolidarisch behandeln, denn ich 82 44 spezielle Willkommen-Heissen jeder Schülerin, jedes Schülers. Er möchte vermehrt projektbezogen, altersgemischt, interessegebündelt, nicht ausgrenzend unterrichten. Einen geradezu revolutionären Ansatz hat Falko Peschel85 in seinem Artikel „Ganz normale Kinder! Differenzierung von oben oder Individualisierung von unten“ festgehalten. Er stellt einige Charakterzüge seiner ihm anvertrauten Kinder vor und erläutert kurz seine Unterrichtstätigkeit vor acht Jahren. Sein erster Versuch, eine Differenzierung für alle vorzubereiten, scheiterte daran, stündlich, ja minütlich zu individualisieren. Dies wäre nach ihm nicht zu leisten gewesen. Auch die Arbeitsformen Werkstattunterricht, Freie Arbeit und Wochenplan waren ihm infolge der Arbeitsblattinflation zu suspekt und keine Alternative zum Frontalunterricht. Erst eine totale Individualisierung, die sich an den Interessen des Kindes orientiert, losgelöst von jeglichem Stundenplan- und Lehrplandruck liess ihn einen passenden Weg finden. „Es gab folglich in der Klasse keinen Unterricht im herkömmlichen Sinn. Es gab auch kein lehrgangsmässig aufgearbeitetes Material in der Form von Schulbüchern, Karteien, Arbeitsblättern oder Ähnlichem sondern nur ‚weisse Blätter’, Alltagsmaterialien und ‚Werkzeuge’. Werkzeuge waren eine Buchstabentabelle zum Schreibenlernen, ein Wörterbuch zum Nachschlagen, ein Punktfeld als Strukturierungshilfe zum Rechnen, Sach- und Geschichtenbücher zum Lesen und Forschen usw.“86 Nach anfänglichen Schwierigkeiten bildete sich nach und nach eine Tagesstruktur heraus, die getragen von einer zweitägig wechselnden „Tageschefin“ oder einem „Tageschef“ geleitet wurden. Dabei arbeiteten alle Kinder an eigenen Sachen. Vieles wie Schreiben und Lesen brachten sich die Kinder selber bei. Durch die regelmässige Präsentation aller Erzeugnisse konnte auch dem breitgefächerten Lehrplan längstens Genüge getan werden. Die Fülle an Themen war so reichhaltig, dass sie jeden Lehrplan gesprengt haben. Da keine Sanktionen vorgesehen waren, wurde auch ab und zu das Tagescredo erwähnt: „Ich habe heute nichts gemacht.“87 Doch verglichen auf das ganze Jahr konnte bei keinem Lernenden eine brauche sie als schwaches Gegenüber. Ausgrenzung bringt Entsolidarisierung. Den Umgang mit Ungleichheit und die Rücksicht auf vermeintlich Schwächere lernt man so gerade nicht.“ 84 Kessels: S. 91. 85 Falko Peschel, „Ganz normale Kinder! Differenzierung von oben oder Individualisierung von unten“ in Heterogenität Unterschiede nutzen—Gemeinsamkeiten stärken, Verlagssonderbeilage, (Seelze: Friedrich Verlag, 2004): S. 21ff. 86 Ibid.: S. 22. 87 Ibid.: S. 22. 45 Bequemlichkeit oder ein Wissensdefizit festgestellt werden, wie durchgeführte Normtests ergaben. Im Gegenteil. Die Kinder erreichten Höchstwerte. Oft lag die ganze Klasse signifikant über den Mittelwerten. Viele erreichten die Gymnasialstufe oder wählten die Realschule (vergleichbar der Sekundarschule). Keines der Kinder wurde auf die Hauptschule (Realschule) oder sogar Sonderschule (früher bei uns Kleinklasse) überwiesen. Es machte den Anschein, als ob die Klasse leistungsmässig nach oben verschoben war. Als Lehrer empfand er den Unterricht als weitaus angenehmer als früher. Zwar sollen die ersten Monate sehr anstrengend gewesen sein, weil sich so viel Menschen zuerst einmal finden mussten, aber dann lief es irgendeinmal von selbst. „Meine Rolle ist nicht mehr die des Be-Lehrers gewesen sondern die eines Menschen, der immer wieder erstaunt die Entdeckungen und Fortschritte der mit mir lebenden Kinder zur Kenntnis genommen hat.“88 Er konnte sich so geben wie er war ohne die Rolle als Verantwortlicher aufzugeben. Es war für ihn spannender, die individuellen Resultate zu sehen als 25 gleiche Übungstexte zu korrigieren. So wurde er auch Teil der Heterogenität der Schulklasse. Er plädiert für eine Änderung der Basis des Unterrichts—weg von der langweiligen Illusion der Homogenität hin zur bereichernden Vielfalt der Heterogenität. Seine Schlussfrage, die er selbst beantwortet, soll hier den Abschluss machen: „Aber ob [Lehrerinnen und] Lehrer das lernen wollen? Da scheinen sie alle sehr homogen zu sein.“89 3.8. Erfahrungen des Mehrklassenunterrichts in anderen Ländern (Peter Boss) Die folgenden zwei Beispiele zeigen, dass auch ausserhalb der Schweiz die Reformpädagogik ihre Spuren hinterlassen hat. An Schulen verschiedenster Länder wurde und wird immer noch zumindest über die Problematik der Jahrgangsklassen nachgedacht, denn die Homogenität, welche zum Leitprinzip der Jahrgangsklassen wurde, ist wie die Erfahrung zeigt eine Illusion. Germann schreibt: „Heute wissen wir, dass es die vermeintliche homogene Lerngruppe nie gegeben hat. Sie war und ist eine Fiktion.“90 In den USA wurde zu Beginn der 60er Jahre der Einsatz von sogenannten Tutorinnen und Tutoren geprüft. Man wollte vor allem in Ballungszentren, die 88 Ibid.: S. 23. Ibid.: S. 24. 90 E. Germann, „Altersdurchmischtes Lernen in der Volksschule“, Schulblatt des Kantons Appenzell Ausserrhoden, 4/2004: S. 12. 89 46 ausschliesslich nach dem Jahrgangsklassensystem organisiert waren, der mangelnden Zuwendung und Lernberatung entgegenwirken. Es wurde versucht neben den Fachlehrpersonen speziell ausgewählte Schülerinnen und Schüler als Tutorinnen und Tutoren einzusetzen, die sich den sozialen Problemen widmeten und sich um Beziehungen kümmerten. Dabei entstanden gegenseitige LehrLernbeziehungen, wie sie auch bei altersgemischtem Lernen vorzufinden sind. Die Tutorin oder der Tutor profitierte dabei von den ihr oder ihm übertragenen Verantwortungen des sogenannten Tutees.91 Dabei wurde oft beobachtet, dass die vorherrschende Gleichgültigkeit gegenüber der Schule verschwand und neue Motivation an deren Stelle trat. Der Tutee auf der anderen Seite profitierte vom Wissen seiner Tutorin oder seines Tutors, welche oft kindsgerechter vermitteln und erklären konnten als die Fachlehrpersonen. „Trotz positiver Auswirkungen wurden die meisten Programme nach Auslaufen der Versuchsphase nicht weitergeführt.“92 Grund dafür war bei vielen Schulen der unverhältnismässig grosse organisatorische Aufwand. Geblieben ist aber die Idee vom einander Helfen in altersdurchmischten Lerngruppen. Neue Versuche mit Mehrjahrgangsklassen haben bis jetzt durchwegs zu positiven Resultaten geführt. Es wurde erkannt, dass heterogene Lerngruppen viel stärker der natürlichen Entwicklung eines Kindes entsprechen als homogene Zusammensetzungen. „Kinder entwickeln sich nicht entsprechend einer bestimmten, wohldosierten Lehrgangsabfolge in einem bestimmten, wohlisolierten Unterrichtsfach. Sie haben ihre ganz persönliche Lerngeschichte, verfolgen zur gleichen Zeit unterschiedliche Interessen und bilden ihren ganz eigenen Lernstil aus.“93 Das Bildungssystem in Schweden94 überträgt den einzelnen Schulen ein hohes Mass an Autonomie, was zu interessanten Versuchen mit Gesamtschulen ohne fixen Stundenplan und sogar ohne Klassenzimmer führte. Die Schule von Balsta wird von Blendinger als interessantes Beispiel für altersgemischtes Lernen zitiert. 95 An dieser Schule wird die Freiheit der Schülerinnen und Schüler sehr hoch geschrieben. Es wird in gemischten, heterogenen Gruppen gearbeitet, und die Lernziele werden Übersetzt heisst das etwa „die oder der Betreute“. Blendiger: S. 51. 93 H. Hagestedt, „Lernen durch Lehren—zwischen Reformanstrengungen und Forschungsbedenken“ in Altersgemischtes Lernen in der Schule, Hrsg. R. Laging, (Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 1999): S. 67. 94 Blendinger: S. 50 - 56. Die detaillierten Forschungsresultate zu den ausländischen Erfahrungen mit Mehrjahrgangsklassen sind auf diesen Seiten beschrieben. 95 Ibid.: S. 52. 91 92 47 jeweils für eine Woche vorgegeben und anschliessend geprüft. Interessant ist auch, dass bis zur neunten Klasse keine Noten gesetzt werden, trotzdem aber leistungsorientiert gearbeitet wird. Wie sich dann der Übertritt in höhere Schulen und Berufsausbildungen gestaltet, ist aus dem Bericht leider nicht ersichtlich, aber es darf angenommen werden, dass es zu funktionieren scheint, da altersgemischtes Lernen nach wie vor fester Bestandteil des schwedischen Schulsystems ist. Im Vergleich muss natürlich auch unterstrichen werden, dass eine Lehrperson in Schweden gerade einmal 13 Kinder zu betreuen hat im Gegensatz zu dem bernischen Durchschnitt von rund 19 Kindern. Entsprechend sind auch die Ausgaben für die Bildung im Verhältnis höher als in der Schweiz. Die finanzielle Seite dürfte denn wohl in der Schweiz oder konkret im Kanton Bern das grösste Hindernis sein für die Einführung von wirklich effizienten Mehrklassenstrukturen. In einer schweizweiten Untersuchung von 1983 wurde als eines der Hauptprobleme die Arbeitsüberlastung der Lehrpersonen von Mehrklassenschulen festgestellt. Die Forderung der damaligen Untersuchung läuft unter anderem darauf hinaus, dass Kompensationen für Mehrjahrgangsklassen notwendig wären, um diese im Sinne der Reformpädagogik führen zu können.96 Dies würde einerseits bedeuten, die durchschnittlichen Kinderzahlen der heterogenen Lerngruppen massiv zu senken oder entsprechend mehr Stellenprozente pro Klasse zu bewilligen. Eine weitere Möglichkeit wäre, den Lehrpersonen mehr Zeit für die Vor- und Nachbereitung zuzugestehen. Alle drei Möglichkeiten aber haben eine finanzielle Mehrbelastung zur Folge, welche kaum ein Kanton zu tragen bereit ist, obwohl gerade das Modell in Schweden zeigt, dass der Erfolg der Bildung nicht zuletzt dank finanziellem Engagement sich eingestellt hat. Weitere Untersuchungen zu altersgemischtem Lernen in Schulen ausserhalb der Schweiz kommen einstimmig zum Schluss, dass das Modell der Mehrjahrgangsklasse im Vergleich keinen Einfluss auf die Leistungen der Schülerinnen und Schüler hat. Die herausragenden Qualitäten einer Mehrjahrgangsklasse sind immer im sozialen Bereich angesiedelt. 96 Edo Poglia und Anton Strittmatter, Die Situation der Mehrklassenschulen in der Schweiz, (Genf: Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren, 1983): S. 48. 48 3.9. Pädagogische Gründe für eine Mehrjahrgangsklassenschule (Johannes Nydegger) Bereits der Titel des Artikels suggeriert eine positive Haltung, obwohl er als Frage formuliert ist. In ihrem Artikel erläutern Hinz und Beutel, was sie unter dem Titel „Anhaltende Lernfreude durch Jahrgangsmischung?“97 verstehen. Dabei führen sie als dominante Argumente das Helferprinzip, ein Lernen von älteren oder auch jüngeren Kindern, das Gestalten des eigenen Arbeitsprozesses oder das Aufbrechen fester Positionen im Sozialgefüge einer Lerngruppe heran. „Besonders im Bereich der Grundschule sind die Hoffnungen begründet, den Unterricht effektiver zu gestalten und das einzelne Kind in seiner Persönlichkeit zu stärken.“98 Sie führen aber ins Feld, dass sich die Unterschiede der altergemischten zu den altershomogenen Gruppen minimal unterscheiden, machen aber gleichzeitig darauf aufmerksam, dass die altersgemischte Gruppe gesamthaft erfolgreicher abschneidet. Sie erhoffen sich durch einen altersgemischten Unterricht ein länger anhaltendes Motiviert-Sein der einzelnen Kinder. Wichtig ist die Stärkung des Selbstkonzepts, das ein Kind zu Beginn der Grundschulzeit zu beginnen beherrscht. Darunter verstehen sie ein In-der-Lage-Sein, das eigene Können zu beurteilen und Vorstellungen von sich selbst zu haben. Sie sprechen von einem generellen Selbstkonzept, das sich unterteilen lässt in die folgenden vier Bereiche: akademisches Selbstkonzept (zusammengesetzt aus Muttersprache, Geschichte, Mathematik, Biologie etc.), soziales Selbstkonzept (Freunde, Andere), emotionales Selbstkonzept (Gefühle) und körperliches Selbstkonzept (Fitness und Aussehen). Gerade ein berechtigtes Lob bei einem Diktat kann bei einem Kind zu einer Stärkung des Selbstkonzepts—Im Fach Deutsch bin ich ein guter Schüler/eine gut Schülerin—führen. Grundschulkinder haben zu Beginn ein eher hohes Selbstkonzept, das sich aber bei dauernder Kritik seitens der Mitschülerinnen und -schüler sowie der Lehrperson im Verlaufe der Jahre abschwächt. Bei einem hierarchischeren Gefüge der Kinder bleibt dieses Selbstkonzept aber konstanter. Es herrscht nicht dauernd der Vergleichskampf mit Gleichaltrigen vor. Kinder mit positivem Selbstkonzept werden von der Lehrperson weniger kritisiert und zudem günstiger bewertet als Kinder mit negativem Selbstkonzept.99 Renate Hinzel und Silvia-Iris Beutel, „Anhaltende Lernfreude durch Jahrgangsmischung?“ in Grundschule 11/2007: S. 10 – 13. 98 Ibid.: S. 10. 99 Ibid.: S. 11. 97 49 Deutsche Forschungsergebnisse zeigen im Bereich der Lesekompetenz, dass Kinder aus jahrgangsübergreifenden Klassen erfolgreicher sind und dass sich dies auch auf die Selbstwahrnehmung auswirkt. Als Beispiel einer erfolgreichen Einführung des Mehrjahrgangssystems soll an dieser Stelle die Primarschule Lindenfeld in Burgdorf angeführt werden.100 Durch eine Schulneueröffnung in einem Burgdorfer Quartier im Jahre 2004 bot sich die Chance, die ca. 120 Schülerinnen und Schüler der Regelklassen altersgemischt aufzuteilen in je drei Unter- und Mittelstufenklassen. Die sechs Klassen werden von elf Lehrpersonen unterrichtet. Zur Schule gehören zwei Kindergärten. Die damalige Schulkommission, die diese Einteilung favorisierte, ging von der Annahme aus, dass sich so eher soziale Kräfte freisetzen könnten, dass die Durchlässigkeit zwischen den Stufen erhöht werde, dass die Beziehungen verbindlicher würden und dass eine Reflexion des eigenen Lernens stattfinden könne, da eine wiederholte Auseinandersetzung mit den Inhalten passiere. Da das Projekt in der Burgdorfer Elternschaft nicht unumstritten war, stand das neu zusammengestellte Kollegium von Anfang an unter Erfolgsdruck. Als flankierende Massnahmen erhielt es spezifische Weiterbildungen zum Thema. Ausserdem wurden sie während dreier Jahre von einer Fachperson begleitet. Die fachliche Begleitung wurde von der Schulleitung wahrgenommen. Nach einer intensiven Startphase sahen nicht nur die beteiligten Kinder und Eltern Vorteile, sondern auch bei den Lehrkräften konnte eine starke positive Haltung gegenüber diesem „neuen“ System festgestellt werden. Gerade die verstärkte pädagogische Auseinandersetzung innerhalb des Lehrkörpers und die durch die Heterogenität herausfordernde Parallelität wurde von vielen als sehr bereichernd erwähnt. Im Hinblick auf die angestrebte, integrierte Schule liessen sich so Grunderfahrungen sammeln. Anna Müller, „Primarschule Lindenfeld, Burgdorf—Mehrjahrgangsklassen als pädagogisches Prinzip“ in Die Schule 2009/2: S. 10 - 11. 100 50 4. Praxis 4.1. Vorüberlegungen Das Ziel vom praktischen Teil ist es, unsere drei Hypothesen zu überprüfen und entsprechende Konsequenzen daraus zu ziehen für unseren alltäglichen Unterricht an Mehrjahrgangsklassen. Wir haben uns entschlossen, eine Umfrage als Instrument für das Durchleuchten unserer Hypothesen zu kreieren. Diese haben wir dann in einem ersten Schritt an alle Schülerinnen und Schüler des Jahrgangs 1992 im Saanenland verschickt. Von den rund 150 verschickten Umfragen kamen zu unserer freudigen Überraschung rund 50% ausgefüllt zurück. Trotzdem haben wir den Eindruck gehabt, eine noch grossflächigere Befragung würde der ganzen Auswertung mehr Gewicht verleihen. Also haben wir uns an Hans-Heini Winterberger der GIBB Thun gewendet und ihn um seine Mithilfe gebeten. Er hat spontan zugesagt und die Umfragen an verschiedene Berufsschullehrpersonen weitergeleitet, welche zurzeit Lernende des Jahrgangs 1992 aus dem Berner Oberland unterrichten. Auf diese Weise sammelte sich ein bemerkenswerter Stapel von gut 200 ausgefüllten Fragebögen bei uns. Das Datenmaterial wird nun in diesem Teil der Diplomarbeit ausgewertet, übersichtlich dargestellt und in Bezug auf unsere Hypothesen interpretiert. Auch wenn sich aufgrund von 200 ausgefüllten Fragebögen noch keine empirischen Aussagen machen lassen, ergibt die Fülle von Datenmaterial eine gute Grundlage für fundierte Aussagen zu den vorliegenden Hypothesen. Zumindest für die Schulen des Berner Oberlands dürften die Forschungsergebnisse gesicherte Aussagen zulassen, welche dann auch als Ausgangspunkt für eine kritische Begutachtung des eigenen Unterrichts dienen können. Von den ausgefüllten Fragebögen konnten wir dreizehn Stück für die Auswertung nicht berücksichtigen, da insbesondere bei den Fragen 7 und 8 nicht genügend oder suspekte Aussagen gemacht wurden. Die entsprechenden Fragebögen tragen die Nummern 202 bis 214. Ein Fragebogen kam mit dem Vermerk „geht sie nichts an“ zurück, was natürlich keine auswertbaren Daten liefert. Bei zwölf Fragebögen fehlten entweder die Schulnoten der Oberstufe oder der Ausbildung vollständig. In diesen Fällen ist es nicht möglich, einen sinnvollen Vergleich zwischen Sek 1 und Sek 2 zu ziehen. Und dann war da noch dieser eine Bogen, bei welchem in jedem Semester die höchstmögliche Note angekreuzt wurde, dann aber bei der Frage neun 51 gleichzeitig behauptet wurde, der Mathstoff sei nicht aufgeholt worden. Diese Korrelation ist nicht nachvollziehbar und lässt darauf schliessen, dass der oder die betreffende Lernende die Umfrage nicht ganz ernst genommen hat. Es ist natürlich nicht auszuschliessen, dass es auch unter den ausgewerteten Fragebögen faule Eier hat, aber die Fülle des Datenmaterials sollte eigentlich solche Fehlerquoten ausgleichen. Bei der Umfrage haben wir bewusst die Frage, ob die Lernenden die Real- oder Sekundarschule besucht haben, nicht gefragt. Es kann aber mit Sicherheit gesagt werden, dass alle Schülerinnen und Schüler der Nummern 103 bis 201 die Realschule besucht haben, da sie alle die 7. bis 9. Klasse in Mehrjahrgangsklassen absolviert haben. Im Oberland gibt es unseres Wissens keine Sekundarschule, die Mehrjahrgangsklassen führt. Welche Schülerinnen und Schüler dagegen die Sekundarschule besucht haben, kann weniger definitiv bestimmt werden, da es auch Jahrgangsklassen an der Realstufe gibt. Für unsere Hypothesen ist aber diese Fragestellung nicht relevant, denn schlussendlich geht es darum, den Erfolg zwischen Schülerinnen und Schülern aus Jahrgangsklassen und Mehrjahrgangsklassen zu vergleichen. Es sind also nicht die absoluten Noten, welche zählen. Eine Schülerin oder ein Schüler, der die Schule mit der Note 4 verlässt und dann in der Lehre diese 4 aufrechterhalten kann, ist im Vergleich ebenso erfolgreich wie eine Schülerin oder ein Schüler mit der Note 6 während der Schulzeit und der Lehre. Ungünstig für unsere Hypothese wäre es erst, wenn die Jahrgangsschülerinnen und -schüler im Durchschnitt in der Lehre bessere Noten hätten als während der obligatorischen Schulzeit, während die Schülerinnen und Schüler aus Mehrjahrgangsklassen im Durchschnitt sich in der Lehre verschlechtern würden. Dies wiederum aber lässt sich problemlos aus dem Datenmaterial herauslesen und ist nicht von der Information abhängig, ob eine Schülerin oder ein Schüler die Sekundarschule oder Realschule besucht hat. Ob die Schülerinnen und Schüler aus Mehrjahrgangsklassen in der Mathematik auf der Stufe Sek 2 nicht benachteiligt sind, ob das mathbu.ch eine gute Grundlage für die Lehre bietet, und ob die thematische Gruppierung des Mathstoffs in Mehrjahrgangsklassen zu effizientem Unterricht führt, wie wir dies in unseren drei Hypothesen behaupten, wird sich nun in der nachfolgenden Diskussion zeigen. 52 4.2. Umfrage mit Auswertung: Umfrage bei Jahrgang 1992 betreffend Leistung Math von 8. Klasse bis Lehre Von den 201 Fragebogen haben wir 102 Exemplare von Schülerinnen und Schülern aus Jahrgangsklassen und 99 Exemplare aus Mehrjahrgangsklassen zurück erhalten. Nach dem festgelegten Rückgabetermin sind einige weitere ausgefüllte Fragebogen bei uns eingetroffen, die wir dann aber leider nicht mehr berücksichtigen konnten. Diese sind auch nicht im Anhang abgelegt. 4.2.1. Schulbesuch der letzten drei obligatorischen Jahre Diagramm 1 Die Anzahl der ausgefüllten und retournierten Fragebogen von ein- und mehrklassigen Schülerinnen und Schülern hält sich zufälligerweise mit je rund der Hälfte die Waage. 53 4.2.2. Verwendung des neuen mathbu.ch Diagramm 2 Rund drei Viertel aller Schülerinnen und Schüler des Jahrgangs 1992 sind mit dem neuen Mathematik Lehrmittel mathbu.ch unterrichtet worden. Da das alte Mathematik Lehrmittel offiziell nicht länger in Gebrauch ist, haben wir bei der nachfolgenden Auswertung dies berücksichtigt. Um unsere Hypothese verifizieren zu können, ist es angebracht nach altem und neuem Lehrmittel zu unterscheiden. Diagramm 3 Auffallend ist die ähnliche Verteilung von altem und neuem Mathbuch sowohl bei einund mehrklassigen Schulen. 54 Diagramm 4 Der Anteil des alten Mathematik Lehrmittels lag bei gut einem Viertel. Dies hat damit zu tun, dass der Jahrgang 1992 noch in der Übergangsphase lag. 4.2.3. Wechsel in die Berufsschule im Fach Math Diagramm 5 Dieses Diagramm zeigt, wie die mathbu.ch-Schülerinnen und -schüler aus Jahrgangsklassen den Übergang in die Berufschule empfunden haben. 55 Diagramm 6 Dieses Diagramm zeigt die gleiche Situation allerdings für Schülerinnen und Schüler, die mit dem alten Lehrmittel unterrichtet wurden. Diagramm 7 Dieses Diagramm zeigt den gleichen Sachverhalt bei Mehrjahrgangsklassen mit neuem mathbu.ch. 56 Diagramm 8 Das mathbu.ch begünstigt den Wechsel in die Berufsschule. Insbesondere der Vergleich bei den Mehrjahrgangsklassen zeigt deutlich, dass mit dem mathbu.ch die Erfolgsquote höher ist. Auffällig ist, dass Mehrjahrgangsklassen, die das alte Lehrmittel verwendet haben, mit 34 % einen ungünstigen Einstieg in die Berufsschule hatten. 4.2.4. Mathvorbereitung für die Lehre Im Gegensatz zur Frage drei, die die momentane objektive Situation erfasst, beleuchtet die Frage vier die subjektive Wahrnehmung der Lernenden. Diagramm 9 57 Dieses Diagramm zeigt die Rückmeldung der Lernenden in Bezug auf die Vorbereitung für die Lehre (einklassig mit mathbu.ch) Diagramm 10 Mit dem alten Mathbuch ist die subjektive Zufriedenheit in Bezug auf die Vorbereitung der Lehre wesentlich grösser. Insgesamt aber ist der Anteil der positiven Rückmeldungen beim neuen mathbu.ch grösser. Diagramm 11 In Mehrklassenschulen ist der Unterschied der Zufriedenheit zwischen altem und neuem Mathematik Lehrmittel ausgeglichener. 58 Diagramm 12 Das Datenmaterial zeigt eine signifikante Korrelation zwischen Frage drei und vier. Wer erfolglos in die Lehre gestartet ist, hat meistens auch die Vorbereitung für die Lehre als negativ empfunden. Die entsprechenden positiven Erfahrungen zeigen das gleiche Bild. Generell kann festgestellt werden, dass auch in dieser Frage mit neuem Lehrmittel Ausgebildete einen erfolgreicheren Start in die Lehre haben. Allerdings fällt auf, dass bei Jahrgangsklassen ein Drittel aller Lernenden mit dem alten Lehrmittel die Vorbereitung für die Lehre als grossartig einstufen im Gegensatz zu nur einem Fünftel aller Lernenden mit neuem Lehrmittel. Bei den mehrklassigen Schulen ist die schon beobachtete Tendenz, dass das neue Lehrmittel besser auf die Lehre vorbereitet, ähnlich wie in Frage drei ersichtlich. 4.2.5. Charakterisierung der Mathlehrperson Die fünfte Aussage der Umfrage hat einen stark subjektiven Charakter. Schon nur die Formulierung beinhaltet eine emotionale Komponente (empfand die Mathlehrperson…). Trotzdem haben dazu fast alle Befragten eine Aussage gemacht, wahrscheinlich wegen des vertraulichen Charakters der Umfrage. 59 Diagramm 13 Bei beiden Diagrammen sind immerhin zwei Drittel der Befragten mit ihren Mathematik Lehrpersonen zufrieden. Diagramm 14 Bei den Schülerinnen und Schülern von Jahrgangsklassen sind nur 10 % mit ihrer Lehrperson gar nicht zufrieden, während es in Mehrjahrgangsklassen sogar nur 7 % sind. Sofern die Schülerinnen und Schüler die Frage ausschliesslich auf die Lehrperson bezogen haben, ist es trotzdem erstaunlich, dass mehr als ein Drittel aller Lehrpersonen als negativ eingestuft werden (mässig bis katastrophal). Es kann aber durchaus auch sein, dass nicht nur die Lehrperson sondern auch gleichzeitig die Haltung dem Fach Mathematik gegenüber die Meinung beeinflusst. Es gibt vier mögliche Hauptaussagen. 60 1. Mathematik wird generell als negativ empfunden, aber die Chemie zur Lehrperson stimmt. Dies würde zu einer eher positiven Aussage führen. 2. Mathematik wird geliebt, aber die Chemie zur Lehrperson ist negativ behaftet. Dies würde zu einer eher negativen Aussage führen. 3. Weil Mathematik grundsätzlich als negativ empfunden wird, kann die Lehrperson gar nicht „gut“ sein. Die Aussage ist immer negativ. 4. Die vierte Aussage lautet, dass das Fach Mathematik und somit auch die Lehrperson positiv erlebt wird. Eine weitere Differenzierung ist mit dem vorhandenen Datenmaterial nicht möglich. Es kann aber auch die positive Aussage unterstrichen werden: Rund zwei Drittel aller Befragten stufen ihre Lehrpersonen als gar nicht übel bis grossartig ein. 4.2.6. Beeinflussung der Berufswahl durch die Mathnoten Bei der Abfassung dieser Frage haben wir erwartet, dass eine grosse Korrelation zwischen der Berufswahl und der Mathematikleistung besteht. Diagramm 15 Dieses Diagramm stellt die Beeinflussung der Berufswahl durch die Mathematik Note dar (einklassige Situation mit neuem mathbu.ch). 61 Diagramm 16 Auffallend ist die fehlende Beeinflussung. Sie schwankt zwischen einem Drittel (einklassig, altes Buch) und beinahe der Hälfte (einklassig mit mathbu.ch) aller Befragten. Die teilweise Beeinflussung ist mit 25 % und 44 % nahezu gegengleich verteilt. Diagramm 17 Bei Mehrklassenschulen differiert das alte und das neue Lehrmittel nicht in gleich starkem Mass wie bei Jahrgangsklassen. 62 Diagramm 18 Wir stellen fest, dass die Schülerinnen und Schüler aus Jahrgangsklassen sich weniger von ihren Mathnoten der obligatorischen Schulzeit beeinflussen lassen als diejenigen aus Mehrjahrgangsklassen (oranger Bereich). Auffallend ist, dass Lernende, die mit dem alten Lehrmittel ausgebildet worden sind, die starke Beeinflussung nie angekreuzt haben. Aber auch beim neuen Lehrmittel haben nur 4 % respektive 6 % eine starke Beeinflussung angegeben. Es erstaunt, dass sich grundsätzlich nur so wenig Schülerinnen und Schüler stark beeinflussen lassen von ihren Mathleistungen in Bezug auf die Berufswahl. Dies bedeutet, dass doch immerhin ein Teil aller Schülerinnen und Schüler auch bei schlechten Ergebnissen sich die Möglichkeit offen halten, einen Beruf auszuwählen, bei dem Mathematik ein gewisses Gewicht hat. Umgekehrt heisst dies, dass gute Mathleistungen nicht zwingend dazu führen, dass dann auch ein Beruf mit Schwergewicht Mathematik ausgewählt wird. 4.2.7. Mathematik Noten 8. / 9. Klasse und Zwischenjahr / Lehre Die folgenden Diagramme zeigen die Entwicklung der Mathematik Noten im Zeitraum von fünf Jahren (8. Klasse bis 2. Lehrjahr inklusive Zwischenjahr) und die Korrelation zwischen der Entwicklung der Mathematik Noten im selben Zeitraum und dem gebrauchten Mathematik Lehrmittel während der obligatorischen Schulzeit. Auf der xAchse sind die absoluten Notenwerte dargestellt; auf der y-Achse kann man die Abweichung zwischen dem Durchschnitt der obligatorischen Schulzeit und dem Durchschnitt der Stufe Sek 2 ablesen. 63 Lesebeispiel für das erste Diagramm: Das oberste rote Kästchen stellt eine Schülerin oder einen Schüler dar, der über die fünf gemessenen Jahre eine Durchschnittsnote von 4.6 erzielt hat, sich aber dabei in der Lehre um fast einen ganzen Notenpunkt verbessert hat. Bei der Berechnung der Notendurchschnitte wurden folgende Gewichtungen vorgenommen: 8. Klasse Faktor 1; 9. Klasse Faktor 1.5; Übergangsjahr Faktor 1; 1. Lehrjahr Faktor 1.5; 2. Lehrjahr Faktor 2. Diagramm 19 Es kann festgestellt werden, dass bei Jahrgangsklassen nur wenige Extremwerte vorkommen. Die fehlenden überdurchschnittlichen Notenwerte der einklassigen Schulen können dahingehend interpretiert werden, dass ein gewisser Prozentsatz der Schülerinnen und Schüler das Gymnasium besuchen und somit nicht erfasst worden sind. Im Gegensatz dazu sind die Extremwerte bei Schülerinnen und Schülern aus Mehrjahrgangsklassen vorhanden. Der Grossteil der Befragten aber liegt im Bereich von 4.3 bis 5.5. Die spitz zulaufende rechte Diagrammhälfte ist damit zu erklären, dass je höher die Durchschnittsnote, desto geringer die vertikale Auslenkung ist. Die Note 6 als Durchschnitt muss zwingend auf der Nulllinie sein. Dies gilt umgekehrt auch für ungenügende Noten. 64 Diagramm 20 Das alte Lehrmittel streut tendentiell weniger, wobei zu sagen ist, dass die negative Veränderung der Mathematik Note eher stärker vertreten ist. Es gilt zu beachten, dass das alte Lehrmittel viermal weniger häufig vertreten ist. Unsere zweite Hypothese, dass das neue mathbu.ch eine gute Grundlage für die Lehre bietet, kann im Vergleich zum alten Mathlehrmittel mit diesem Diagramm bestätigt werden. Diagramm 21 Die Extremwerte werden vorwiegend von Schülerinnen und Schülern aus Mehrklassenschulen geliefert. Auffallend ist eine gewisse Häufung der roten Werte im Notenbereich 5 bis 5.5 im Gegensatz zur Streuung der gelben Werte, die keine explizite Ballung zeigen. 65 Diagramm 22 Tendentiell ist der Bereich der positiven Notenveränderung (+0.4 bis +1.0) mit dem alten Lehrmittel weniger ausgeprägt als beim mathbu.ch. Die negative Veränderung hingegen ist bei beiden Diagrammen ähnlich stark vorhanden. Diagramm 23 Aus dem Datenmaterial können nun Tendenzen herausgelesen werden, wie sich die Durchschnittsnoten der Schülerinnen und Schüler von der 8. Klasse bis in das zweite Lehrjahr entwickeln. Dabei haben sich die oben aufgeführten sieben Kategorien ergeben. Zu den drei Hauptkategorien gehören Schülerinnen und Schüler, die schlechter werden, besser werden oder am Ende der Lehre immer noch den gleichen Durchschnitt aufweisen. Damit aber auch den Feinheiten des 66 Datenmaterials Rechnung getragen werden kann, haben wir vier weiterer Kategorien geschaffen. Lesebeispiel Kategorie hellblau: Die Schülerinnen und Schüler dieser Kategorie sind während der ersten zwei Lehrjahre notenmässig gleich geblieben, haben sich aber im Vergleich zur obligatorischen Schulzeit gesteigert. Diagramm 24 Bei Jahrgangsklassen ist die sinkende Notentendenz (orange und rot) gegenüber der steigenden Notentendenz (dunkelblau und blau) dominanter. Diagramm 25 Es lässt sich eine leichte Tendenz feststellen, dass mehrklassige Schülerinnen und Schüler sich vorwiegend im gleich bleibenden Notenbereich bewegen, während die 67 Schülerinnen und Schüler aus Jahrgangsklassen eine gleichmässigere Verteilung zeigen. Insbesondere der orange Bereich (abnehmend vorher schlechter/gleich) weist einen höheren Prozentsatz bei einklassigen Schulen auf. In Bezug auf unsere Hypothese, dass Schülerinnen und Schüler aus Mehrjahrgangsklassen beim Übertritt in die Lehre nicht benachteiligt sind, ist der dunkelblaue, der hellblaue, der grüne und der orange Bereich massgeblich. Das Diagramm zeigt in der Tat, dass Schülerinnen und Schüler aus Mehrjahrgangsklassen mit 48 % gleich erfolgreich abschneiden wie die Gleichaltrigen aus Jahrgangsklassen. Die folgenden Diagramme zeigen den Notendurchschnitt verschiedener Bereiche auf (Schule, Lehre, Gesamtnotendurchschnitt). Diagramm 26 Dieses Diagramm zeigt den Notendurchschnitt der einklassigen Schülerinnen und Schüler. 68 Diagramm 27 Bei Mehrklassenschulen konzentriert sich der Durchschnitt um die Note Fünf, wobei Extremwerte gegenüber der Einklassenschulen eher untervertreten sind. Diese Tendenz lässt sich damit erklären, dass bei Mehrklassenschulen nur Realschülerinnen und – schüler vertreten sind. Diagramm 28 Erst die Zusammenführung beider Diagramme lässt nun eine Gauss’sche Glockenkurve erahnen. 69 Diagramm 29 Dieses Diagramm zeigt die Anzahl Schülerinnen und Schüler mit gleichem Notendurchschnitt während der ersten zwei Lehrjahre mit einklassigem Schulhintergrund. Diagramm 30 Dieses Diagramm zeigt die Anzahl Schülerinnen und Schüler mit gleichem Notendurchschnitt während der ersten zwei Lehrjahre mit mehrklassigem Schulhintergrund. 70 Diagramm 31 Es fällt auf, dass besonders bei diesem Diagramm der Notenraster sich klar abzeichnet (Spitzenwerte bei 4, 4½, 5, 5½). Dies hat damit zu tun, dass zum Teil nur eine einzige Note aus der Lehre angegeben worden ist. Diagramm 32 Die Verteilung der Notendurchschnitte zeichnet eine annähernd gleichmässige Gauss’sche Glockenkurve nach, welche bei grösseren Datenmengen noch ausgeglichener wäre. 71 Diagramm 33 Wir stellen fest, dass während der obligatorischen Schulzeit die Notdurchschnitte aus Mehrklassenschulen etwas tiefer liegen. Beide Gruppen zeigen einen positiven Gradienten in der Notenentwicklung. Während des zehnten Schuljahres nähern sich die beiden Gruppen auf einem tieferen Niveau an. Ab dem ersten Lehrjahr steigern sich Schülerinnen und Schüler aus Mehrjahrgangsklassen im Gegensatz zur Gruppe aus Jahrgangsklassen. Im zweiten Lehrjahr beträgt die Differenz immerhin mehr als eine Zehntelnote. Es kann sein, dass aufgrund der Noten der Sekundarschülerinnen und –schüler beide Noten nicht den gleichen Wert haben. Das heisst, das Niveau muss nicht zwingend gleich hoch sein. Dies ist dann bei den Notendurchschnitten des 10. Schuljahres ersichtlich. Nur wenige Sekundarschülerinnen und –schüler wählen ein Zwischenjahr vor der Lehre. Das heisst, es ist vor allem die Gruppe der Realschülerinnen und Schüler vertreten, die sich zum Ziel gesetzt hat, stoffliche Defizite aufzuholen. Falls die Schülerinnen und Schüler aus Mehrjahrgangsklassen jemals benachteiligt gewesen sind, zeigt dieses Diagramm, dass sie spätestens ab dem zweiten Lehrjahr durchschnittlich sogar erfolgreicher abschneiden als die Gruppe aus Jahrgangsklassen. Zusammenfassend ist zu bemerken, dass insbesondere im zweiten Lehrjahr die Schülerinnen und Schülern aus Mehrjahrgangsklassen erfolgreicher abschneiden. Eine mögliche Erklärung dafür könnte die schon früh antrainierte Selbständigkeit auch im Mathematik Unterricht sein. 72 Diagramm 34 Der Vergleich zwischen den Noten der achten und neunten Klasse zeigt, dass tendenziell in der neunten Klassse die Notenwerte höher ausfallen. Diagramm 35 Dieses Diagramm zeigt klar auf, dass im Gegensatz zur obligatorischen Schule die Befragten häufig keine Angaben gemacht haben. Es kann davon ausgegangen werden, dass viele Lernende kein Übergangsjahr gemacht haben und daher auch keine Notenwerte liefern konnten. Die fehlenden Angaben beim zweiten Lehrjahr kommen daher, dass einige dieses noch gar nicht absolviert haben. 73 Diagramm 36 Dieses Diagramm zeigt, dass die Noten der achten und neunten Klasse sich gegen Ende der obligatorischen Schulzeit kontinuierlich positiv entwickeln. Es kann daran liegen, dass Lehrpersonen wohlwollender beurteilen, um den Schülerinnen und Schülern eine möglichst günstige Basis für ihre Berufswahl zu legen. Es kann aber auch sein, dass sich die Schülerinnen und Schüler vermehrt Gedanken zu ihrer Zukunft machen und sich bewusst werden, dass ein entsprechender Einsatz ein breiteres Spektrum an Ausbildungsplätzen ermöglicht. Generell kann festgestellt werden, dass die Notengebung in den ersten zwei Lehrjahren eher etwas tiefer ausfällt als während der obligatorischen Schulzeit. Auffallend ist der tiefe Notendurchschnitt im ersten Semester des zehnten Schuljahrs. Häufig wählen leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler diesen Weg um verpassten Schulstoff aufzuholen. Dies gelingt ihnen, wie die Resultate des zweiten Semesters zeigen. 4.2.8. Persönliche Einschätzung des Mathwissensstandes Mit Hilfe der neunten Aussage auf dem Fragebogen sollte eruiert werden, ob ein Unterschied in Bezug auf Mehrjahrgangsklassen und Jahrgangsklassen wie auch altem und neuem Mathematik Lehrmittel besteht. Zudem kann der subjektive Mathematik Leistungsstand am Ende des zweiten Lehrjahres abgeschätzt werden. Die letzte Frage auf dem Fragebogen (habe jetzt den Mathstoff aufgeholt) wurde auffallend oft nicht angekreuzt. Wir interpretieren diesen Umstand dahingehend, 74 dass die Frage optisch ungünstig gesetzt worden war und viele Befragte sie wohl deshalb übersehen haben. Diagramm 37 Bei Nicht-Berücksichtigung derjenigen, die keine Angaben gemacht haben, ergeben sich die folgenden Prozentwerte. Rund 78 % der Lernenden (einklassig mit mathbu.ch) haben am Ende des zweiten Lehrjahres den Mathematikstoff aufgeholt. Diagramm 38 Bei Nicht-Berücksichtigung derjenigen, die keine Angaben gemacht haben, ergeben sich die folgenden Prozentwerte. Rund 72 % der Lernenden (einklassig mit mit altem Mathbuch) haben am Ende des zweiten Lehrjahres den Mathematikstoff aufgeholt. 75 Diagramm 39 Bei Nicht-Berücksichtigung derjenigen, die keine Angaben gemacht haben, ergeben sich die folgenden Prozentwerte. Rund 83 % der Lernenden (mehrklassig mit mathbu.ch) haben am Ende des zweiten Lehrjahres den Mathematikstoff aufgeholt. Diagramm 40 Bei Nicht-Berücksichtigung derjenigen, die keine Angaben gemacht haben, ergeben sich die folgenden Prozentwerte. Rund 66 % der Lernenden (einklassig mit mit altem Mathbuch) haben am Ende des zweiten Lehrjahres den Mathematikstoff aufgeholt. Die Ergebnisse zeigen, dass beim alten Lehrmittel sowohl bei Jahrgangs- wie auch Mehrjahrgangsklassen die Quote der Schülerinnen und Schüler, die den Mathstoff noch nicht aufgeholt haben, markant grösser ist. Auch dieses Diagramm weist darauf 76 hin, dass mit der Grundlage des mathbu.ch der Mathstoff eher aufgeholt werden kann, auch wenn die Aussagen subjektiver Natur sind. 4.3. Ergebnisse Hypothese 1: Schülerinnen und Schüler aus Mehrjahrgangsklassen sind in der Mathematik auf Sekundarstufe 2 nicht benachteiligt. Die ausgewerteten Ergebnisse insbesondere von Diagramm 33 zeigen deutlich, dass Schülerinnen und Schüler aus Mehrjahrgangsklassen in keiner Weise benachteiligt sind in Bezug auf Mathematik während ihrer Ausbildung. Im Gegenteil, sie zeigen gegenüber ihren Gleichaltrigen aus Jahrgangsklassen einen steigenden und im zweiten Lehrjahr markant besseren Notendurchschnitt. Hypothese 2: Das mathbu.ch bietet eine gute Grundlage für eine Lehre (Sekstufe 2) derjenigen Berufe, in denen Mathematik relevant ist. Im Vergleich zum alten Mathematik Lehrmittel führt die Grundausbildung mit dem mathbu.ch zu einer höheren Erfolgsquote auf der Sekundarstufe 2, wie die Diagramme 37 bis 40 zeigen. Auch die Gegenüberstellung von Diagramm 21 und 22 stellt dar, dass mit dem neuen Lehrmittel die positive Notenentwicklung über fünf Jahre stärker vertreten ist als mit dem alten Lehrmittel, was die Schlussfolgerung zulässt, dass das mathbu.ch definitiv eine gute Grundlage für die Lehre bildet. Man könnte gemäss Datenmaterial auch eine andere Blickrichtung wählen und sogar folgern, dass das mathbu.ch eine Leistungssteigerung bei den Lernenden zur Folge hat. Hypothese 3: Thematische Gruppierung in Mehrjahrgangsklassen gleichzeitig durchgeführt führt zu effizientem Unterricht (Vorbereitung, Durchführung, Nachbearbeitung). Diese Hypothese konnte nicht durch die Umfrage unter den Lernenden verifiziert werden; sie könnte nur von deren Lehrpersonen beantwortet werden. Aus diesem Grund haben wir die Tandembesuche so angelegt, dass Aussagen zu dieser Hypothese gemacht werden können. Diagramme 41 bis 43 zeigen, dass weniger Wechsel innerhalb einer Lektion stattfinden, dort wo themenparallel unterrichtet wird. Trotz jahrgangsmässigem Aufbau kann das mathbu.ch (7 bis 9) bei der Grobplanung 77 themenparallel strukturiert werden, was zu effizientem Unterrichten führt. Bei der Befragung der Schülerinnen und Schüler während der Tandembesuche wurde festgestellt, dass diejenigen, die themenparallel unterrichtet werden, sich besser erinnern können an die Lernumgebungen, an welchen die anderen Klassen arbeiten. Der Unterricht und die Nachbearbeitung werden von der Lehrperson als homogener empfunden. Auch wenn dies nicht mit einer Fülle von Datenmaterial belegt werden kann, bestätigt zumindest das subjektive Empfinden beider Lehrpersonen die Hypothese. 4.4. Auswertung Tandembesuche Die Tandembesuche erstreckten sich über eineinhalb Monate von Anfang November bis vor Weihnachten. Die Besuche fanden jeweils am Freitag statt. Aus diesem Grund war es oft so, dass Themen nicht unbedingt neu eingeführt sondern eher abgeschlossen wurden. Bei der Auswertung der Tandembesuche ist zu berücksichtigen, dass unsere beiden Schulsituationen sich doch ziemlich stark voneinander unterscheiden, wie die Ausführungen am Anfang dieser Arbeit gezeigt haben. Während im Turbach gleich fünf Klassen in einem Schulzimmer unterrichtet werden, sind es in Lauenen deren drei. Aber auch bei der Anzahl Schülerinnen und Schüler sowie bei der Erfahrung der Lehrpersonen im Umgang mit dem mathbu.ch sind Unterschiede festzustellen, was dann auch erklärt, weshalb die Unterrichtsbeobachtungen zum Teil nicht ganz die gleichen Resultate aufzeigen. Während der Tandembesuche im Turbach wurde die 5. und 6. Klasse von der 7. – 9. Klasse getrennt unterrichtet, damit vergleichbare Resultate möglich waren. Frage 1: Wieviel Zeit erhalten die einzelnen Klassen? Die Situation der Mehrklassigkeit spiegelt sich auch direkt im Lektionenverlauf wider. Wie auf den Originalblättern ersichtlich ist, wurde im voraus ein Fünfminutenraster festgelegt. Die folgenden Diagramme zeigen jeweil nur drei Viertel eines ganzen Kreises, weil eine Lektion nur 45 Minuten dauert. Die einzelnen Farben zeigen auf, welche Klasse zu welchem Zeitpunkt die Aufmerksamkeit der Lehrperson erhalten hat. Bei Zeitabschnitten ohne direkte Einflussnahme der Lehrperson, sprich Wochenplanarbeit oder Übungszeit, wurde die Farbe Gelb verwendet. 78 Diagramm 41 Der Einstieg und oft auch der Abschluss einer Lektion wurde im Turbach gemeinsam begangen. Neben der Themenparallelisierung ist es der Lehrkraft aber auch wichtig, dass das Kopfrechnen mittels Kärtchen wöchentlich trainiert wird. Dabei handelt es sich um 24 einfache Grundrechenoperationen, die mit Hilfe des Kleinen Einmaleins ausgeführt werden können. Diagramm 42 Die Lektionen dargestellt in den ersten zwei Diagrammen zeigen jeweils einen solchen Einstieg und Abschluss. 79 Diagramm 43 Alle drei vorhergehenden Diagramme zeigen einen relativ regelmässigen Lektionenaufbau. Diagramm 44 Es ist möglich, dass einzelne Abschnitte eher kürzere Auftragssequenzen waren. Zwecks Vereinfachung der Darstellung wurde aber der Fünfminuten-Raster beibehalten. 80 Diagramm 45 Die Variante 7./8. und 7./9.wurde nur in Lauenen unterschieden. Die Variante 8./9. ist in der Legende nur der Vollständigkeit halber aufgeführt, wurde aber im Beobachtungszeitraum nie so unterrichtet. Diagramm 46 Durch die Parallelisierung der Maththemen konnte im Turbach teilweise mit allen Klassen der Einstieg in ein Thema durchgeführt werden. Dank der oben erwähnten Parallelisierung hat es die Lehrperson im Turbach während einer Lektion leichter, jeder Klasse kurze Tipps zu geben, da die Oberthemen einigermassen identisch sind. Auffallend ist, dass bis auf die letzte Lektion in der Lauenen, bei der es sich um eine klassische „Übungslektion“ mit grossem selbständigem Anteil handelt, es im Turbach weniger Wechsel innerhalb der Lektion gibt. (5, 4 und 4) gegenüber (7, 6, 81 und 3). Der grössere Anteil der Wochenplan- und Übungszeit im Turbach hängt wohl damit zusammen, dass die Lehrkraft normalerweise gleichzeitig 5 Klassen unterrichtet und darauf angewiesen ist, dass die Schüler sehr selbständig arbeiten müssen und der Arbeitsplan sehr klar und strukturiert abgefasst werden muss. So bleibt der Lehrperson Zeit, mit einzelnen Schülerinnen und Schülern ein konkretes Problem kurz zu analysieren oder Tipps zu geben. Im Austausch über die jeweiligen methodischen Ansätze fiel schnell auf, dass eine themenmässige Gleichschaltung im Mathunterricht nicht nur der Lehrkraft etwas nützt sondern auch den Kindern. Oft kann ein Einstieg in ein Thema mit einer Aufgabe aus dem mathbu.ch gewählt werden und die Kinder merken so, dass sich die Themen immer wieder wiederholen und wohl deshalb als wichtig angesehen werden können. Sie können so auch schnell für sich persönliche Erfolgserlebnisse einheimsen wenn sie merken, dass eine Aufgabe aus den unteren Klassen für sie jetzt keine Probleme mehr bietet, da der mathematische Kenntnisstand sich erhöht hat. Fragen 2 und 3: Relevanz der behandelten Themen für die Berufswahl In Lauenen wurden von den behandelten Themen von den befragten zwei Schülerinnen alle als unwichtig eingestuft. Behandelte Themen: Algebra, Argumentieren (Ecco), Ähnlichkeiten. Beide Schülerinnen interessieren sich nicht für mathematische Probleme und stufen dieses Fach allgemein als unwichtig ein. Beide Schülerinnen drücken klar aus, dass sie mit Sicherheit keinen Beruf wählen werden, in welchem Mathematik von Bedeutung sein wird. Allerdings hat eine der beiden Schülerinnen in der Zwischenzeit gemerkt, dass der Weg zu ihrem Wunschberuf über ein zehntes Schuljahr führen wird, was zu einem bemerkenswerten Gesinnungswandel gegenüber Mathematik geführt hat. Das Bewusstsein, dass verschiedene mathematische Themen einen direkten Bezug zu ihrem Leben haben ist allerdings bei beiden Schülerinnen noch nicht vorhanden. Im Turbach wurden die behandelten Themen unterschiedlich wichtig eingestuft. Es fällt aber auf, dass alle vier Schülerinnen und Schüler der neunten Klasse lebensnahe Themen wie Lohn, AHV, Grafiken, Rechnungen mit Zinsen und Versicherungen als zumindest notwendig einstufen. Daraus kann die Folgerung gezogen werden, dass mathematische Aufgaben, die mit einem konkreten Lebensbereich der Jugendlichen verknüpft sind, als sinnvoll empfunden werden. Im 82 Gegensatz dazu werden mathematische Spielereien wie das Rechnen im binären Zahlenraum als klar unwichtig eingestuft, was die Berufswahl anbelangt. Frage 4 und 5: Verständlichkeit der Arbeitspläne Übersichtlich strukturierte und klar verständliche Arbeitspläne sind im Mehrklassenunterricht ein absolutes Muss. Als Lehrperson muss man sich darauf verlassen können, dass die Schülerinnen und Schüler sich mit Hilfe von diesem Arbeitsinstrument selbständig arbeiten können. Aus der Sicht des Beobachters waren die vorliegenden Arbeitspläne verständlich in ihrem Aufbau und Wortlaut. Nur einzelne Details brauchten Klärung. Wichtig ist aber vor allem, dass die Schülerinnen und Schüler die Arbeitspläne verstehen, mit denen sie arbeiten müssen. Im Turbach war es den befragten Kindern möglich, jedes Detail zu erklären. In Lauenen wurden einzelne Symbole und Zeichen nicht verstanden. Trotz gewissen Unklarheiten aber konnten an beiden Schulen sich die Schülerinnen und Schüler selbständig mit ihren Arbeitsplänen beschäftigen. Die Erkenntnisse aus diesen Beobachtungen zeigen die Wichtigkeit einer gründlichen Einführung eines Arbeitsplans, damit dessen gesamter Inhalt dann auch wirklich verstanden und entsprechend eingesetzt werden kann. Es hat sich gezeigt, dass tatsächlich in der sprichwörtlichen Kürze die Würze oder eben Übersichtlichkeit und Verständlichkeit liegt. Oder anders gesagt—ein mit Informationen vollgestopfter Plan verfehlt höchstwahrscheinlich seinen Zweck, egal wie schön er auch gestaltet sein mag. Frage 6a: Unaufgeforderte Hilfestellungen innerhalb der gleichen Stufe Die Auswertung der Strichlisten zeigt auf, dass Schülerinnen und Schüler innerhalb der gleichen Stufe einander doch immer wieder helfen, wenn Fragen auftauchen. Diese Kultur des Miteinanders ist eine logische Folge von Mehrjahrgangsklassen, denn es gibt immer wieder Momente, in welchen die Lehrperson sich nur einer Stufe widmen kann und die restlichen Schülerinnen und Schüler daher bei Fragen und Unklarheiten ganz auf sich selber gestellt sind. Je nach Thema wird die Hilfestellung von Gleichaltrigen mehr oder weniger benötigt, aber die Beobachtungsbogen zeigen deutlich, dass eine klare Kultur des Miteinanders vorherrscht. 83 Frage 6b: Unaufgeforderte Hilfestellung klassenübergreifend Natürlich kann man nicht in jeder Mathematikstunde erwarten, dass die älteren Kinder den jüngeren helfen. Trotzdem aber ist das Resultat ernüchternd: ein einziges Mal wurde dieser Vorteil von der Lehrperson bewusst eingesetzt, und ein weiteres Mal geschah ein klassenübergreifender Austausch in Form von Hilfestellung. Der so oft hochgejubelte Gewinn, den man in diesem Bereich in Mehrklassenschulen herausschlagen könnte, ist zumindest während der beobachteten Lektionen an beiden Schulen beinahe inexistent. Als Lehrpersonen von Mehrjahrgangsklassen betonen wir immer wieder, wie vorteilhaft es ist, dass die älteren Kinder den jüngeren Kindern helfen können, nur um zu beobachten, wie wir dann in der Umsetzung von diesem Qualitätsmerkmal kläglich scheitern. Eine Erklärung für die fehlende klassenübergreifende Hilfestellung könnte sein, dass sich entweder die Themen nicht geeignet haben, was ich bezweifle, oder aber dass wir noch zuwenig bewusst auf diesen Punkt achten bei unseren Vorbereitungen. Frage 7 und 8: Erinnern sich die Klassen an die Themen, die in den unteren/oberen Klassen behandelt werden? Die Rückmeldungen der Schülerinnen und Schüler sind bei dieser Frage unterschiedlich ausgefallen. Bei den Klassen in Lauenen muss gesagt werden, dass ein Wechsel der Lehrperson stattgefunden hat und daher die Möglichkeit besteht, dass einzelne Themen gar nicht durchgenommen worden sind und die Schülerinnen und Schüler sich deshalb gar nicht erinnern können. Allgemein aber fällt zumindest innerhalb der Oberstufe auf, dass ein gewisser Repetitionseffekt feststellbar ist. Wenn also Themen in den unteren Klassen behandelt werden, weckt dies die Erinnerungen der älteren Schülerinnen und Schüler. Auch umgekehrt konnte dieser Effekt insbesondere im Turbach beobachtet werden. Bei fast allen Themen haben sich jüngere Schülerinnen und Schüler daran erinnert, dass diese im vergangenen Jahr schon einmal in ihrem Klassenzimmer behandelt worden sind. Dies zeigt, dass in Mehrjahrgangsklassen tatsächlich ein Vor- und Rückwärtslernen möglich ist. Frage 9: Vernetztheit der Themen Um die Vorzüge einer Mehrjahrgangsklasse ausnützen zu können, ist es sinnvoll, an allen Stufen jeweils die gleichen Themenbereiche auf unterschiedlichen Niveaus zu behandeln. Auf diese Weise ist es dann auch einfacher, Schülerinnen und Schüler 84 der oberen Klassen als Helfer einzusetzen und so die Altersdurchmischung optimal zu nützen. An der Schule im Turbach geschieht dies schon sehr gut. Es ist zwar nicht ganz überall klar ersichtlich, wie die gewählten Themen zusammenhängen, aber trotzdem merkt man, dass bei der Vorbereitung gezielt darauf geachtet wurde, dass alle Schülerinnen und Schüler sich gleichzeitig zum Beispiel mit Geometrischen Fragen auseinandersetzen. In Lauenen hingegen ist von dieser Vernetztheit noch kaum etwas zu spüren. Die Klassen haben während der Hospitationslektionen an zum Teil sehr unterschiedlichen Inhalten gearbeitet. In diesem Bereich kann eine Optimierung sicher eine Entlastung der Lehrperson bringen während der Unterrichtszeit. 85 5. Konsequenzen für die Zukunft 5.1. Eigener Unterricht 5.2. Fazit Rückblickend auf unsere gemachten Erfahrungen kann gesagt werden, dass die Mehrjahrgangsklassen nach wie vor ihre Berechtigung haben. Die Entwicklung der Mehrjahrgangsklasse zeigt auf, dass nicht nur in früherer Zeit sondern auch heute noch in diesem Sinn effizient unterrichtet werden kann. Es versteht sich, dass guter Mehrjahrgangsklassenunterricht stark Lehrpersonen abhängig ist und mit der Bereitschaft einhergeht, in der Vorbereitung und Durchführung einen Mehraufwand zu leisten. Ebenfalls spielt die Ausbildung der Lehrpersonen und deren Erfahrung eine zentrale Rolle in Bezug auf auf einen erfolgreichen Unterricht. Im Speziellen bezogen auf den Mathematik Unterricht lässt sich aus dem Datenmaterial der Umfrage sagen, dass insbesondere Schülerinnen und Schüler aus Mehrjahrgangsklassen am Ende des zweiten Lehrjahres einen höheren Notendurchschnitt aufweisen. Somit wird klar, dass Lernende aus Mehrjahrgangsklassen tendenziell sogar besser vorbereitet sind für die Berufslehre und diese Unterrichtsform auch auf der Oberstufe eine gute Alternative zum Standardmodell der Jahrgangsklassen bietet. Des Weiteren kann aus der Auswertung der Umfrage gefolgert werden, dass das neue Mathematik Lehrmittel mathbu.ch auch auf der Realstufe die Schülerinnen und Schüler besser vorbereitet auf die Anforderungen der Berufslehre als frühere Lehrmittel. Daher kann das mathbu.ch generell als adäquat für die Sekundarstufe 1 bezeichnet und empfohlen werden. Zur Steigerung eines effizienten Unterrichts in Mehrjahrgangsklassen empfiehlt sich eine themenparallele Gruppierung der Lernumgebungen. Zwar nimmt die einmalige Vorbereitung mehr Zeit in Anspruch und ist auch komplexer. Doch bereits bei der Durchführung ergeben sich für die Lehrpersonen wie auch die Schülerinnen und Schüler eine Vereinfachung, die zugleich einer Vertiefung des Unterrichts entspricht. Je höher die Effizienz ist, desto nachhaltiger gestaltet sich der Unterricht. Abschliessend darf nochmals betont werden, dass Mehrjahrgangsklassen aus der Sicht der Mathematik in keiner Weise benachteiligt sind, insbesondere der Übergang von der Sekundarstufe 1 in die Sekundarstufe 2. 86 5.3. Zukunftsvisionen Zukunftsvision (Peter Boss): Die Situation an der Schule Lauenen habe ich im ersten Teil dieser Arbeit ausführlich beschrieben. Im kommenden Schuljahr 2010/11 dürfen wir nochmals vier Klassen führen. Dann aber kommt definitiv die Änderung, über die eigentlich schon lange gesprochen wird. Wie an anderen Schulen haben auch wir zuwenig Schülerinnen und Schüler, um weiterhin vier Klassen führen zu können. Da es keine weiteren gemeindeinternen Schulen gibt, mit denen man sich zusammenschliessen könnte, bleiben eigentlich zwei Möglichkeiten: Die Oberstufe (7. – 9. Klasse) wird ins Oberstufenzentrum in Gstaad verlegt, und die Primarstufe wird mit drei Klassen weitergeführt, oder aber man sucht nach einer sinnvollen Lösung, alle Schülerinnen und Schüler der ersten bis neunten Klasse auf drei Stufen aufzuteilen. Aufgrund der theoretischen und praktischen Erkenntnisse dieser Arbeit müsste es eigentlich möglich sein, die zweite Option ins Auge zu fassen. Allerdings muss man sich dabei bewusst sein, dass auch wenn die Schule „im Dorf bleibt“ gerade für die Schülerinnen und Schüler der Oberstufe die Chancengleichheit nicht gewährleistet werden kann. Erstens ist es kaum möglich, nach Niveaus auf den einzelnen Stufen zu unterrichten, wie dies am Oberstufenzentrum getan wird. Zweitens kann die Schule Lauenen nie das Zusatzprogramm bieten, zu welchem Schülerinnen und Schüler in Gstaad Zugang haben. Drittens steuert der Kanton Bern ein neues Modell der neunten Klasse an, bei welchem individuell nach Berufsgattung einzelne Themen und Fächer verstärkt gewichtet werden sollen. Auch diese Aufteilung kann an einer kleinen Schule unmöglich durchgeführt werden. In dieser Arbeit wurde aber auch ganz klar aufgezeigt, dass stufenübergreifendes Lernen eine Chance für die Schülerinnen und Schüler sein kann. Nach mehrjähriger Erfahrung im Fach Englisch und einjähriger Erfahrung im Fach Math an einer 7. – 9. Klasse habe ich selber erkannt, dass der Erfolg im Unterricht nicht von der Klassenstruktur abhängt, sondern vor allem von dem didaktischen Geschick der Lehrperson. Die Schülerinnen und Schüler sind von Anfang an gefordert, selbständig zu arbeiten, denn rein mathematisch gesehen hat eine Lehrperson an einer altersdurchmischten 7. – 9. Klasse pro Lektion genau 15 Minuten Zeit, um mit den einzelnen Stufen gemeinsam etwas zu erarbeiten. Zwei Drittel der Zeit sind die Schülerinnen und Schüler also gefordert, selbständig zu arbeiten oder zumindest ohne direkte Begleitung der Lehrperson inhaltlich etwas zu erarbeiten. 87 Diese Art Unterricht stellt grosse Anforderungen an die Lehrperson, welche den Auftrag hat, das Ganze so zu strukturieren, dass für alle Beteiligten stets sinnvolle Lernerfahrungen zur Verfügung gestellt werden, die mehrheitlich selbständig erarbeitet werden können. Ich selber merke immer wieder, dass ich an meine Grenzen komme und frustriert auf einzelne Lerneinheiten zurückblicken muss. Die Reflexion von meinem eigenen Mathunterrich an der altersdurchmischten 7. – 9. Klasse hat mich zu folgenden Erkenntnissen gebracht: Es gibt immer wieder Situationen, in welchen eine Lerngruppe nicht weiterkommt und dann wertvolle Zeit mit Warten verschwenden muss. Es gibt immer wieder Situationen, in welchen ich nicht genügend Zeit aufwenden kann, um praktische Unterrichtseinstiege vorzubereiten. Es gibt immer wieder Situationen, in welchen mich die Organisation des mehrstufigen Unterrichts zu erdrücken scheint. Bestimmt können mit steigender Unterrichtserfahrung diese negativen Punkte auf ein Minimum reduziert werden. Aber der schale Nachgeschmack wird immer bleiben: die Durchführung des Mathunterrichts an meiner Klasse ist und bleibt im allerbesten Fall eine verkrüppelte Version von dem Grundgedanken der Reformpädagogik. Ich versuche nichts anderes als den einzelnen Jahrgängen den ihnen gemäss Lehrplan zustehenden Unterrichtsstoff zu vermitteln. Zwischendurch gelingt es, thematische Überschneidungen an allen Stufen gleichzeitig anzuschauen, aber grundsätzlich erlebe ich selber nicht oft jenen stufenübergreifenden Unterricht, bei dem alle am gleichen Thema auf unterschiedlichen Niveaus arbeiten. Diese Erkenntnis lässt mindestens drei Schlüsse zu: Ich als Lehrperson habe noch nicht erkannt, wie die Reformpädagogik in einer Mehrjahrgangsklasse umgesetzt werden kann. Reformpädagogik ist ein Wunschdenken, das nicht umsetzbar ist. Anforderungen an den Unterricht und die aktuellen Lehrmittel sind nur schlecht mit der Reformpädagogik vereinbar. Der zweite Gedanke, dass Reformpädagogik kaum mehr als ein Wunschdenken ist, wäre zwar eine praktische Erklärung für meine eigenen Erfahrungen, kann aber in seiner Aussage so nicht stimmen, wie verschiedene erfolgreich geführte Montessorischulen beweisen. Reformpädagogik ist umsetzbar, aber nur unter den entsprechenden günstigen Bedingungen. Der erste Gedanke, dass ich selber das Konzept der Reformpädagogik noch nicht in seiner ganzen Breite und Tiefe erfasst 88 habe, ist sicher eine richtige Feststellung. Wenn ich meinen eigenen Unterricht zu einem echten altersgemischten Lernen wachsen lassen will, muss ich mich definitiv noch mehr mit der theoretischen Literatur wie auch deren praktischen Umsetzung beschäftigen. Das Hauptproblem aber bleibt meines Erachtens der dritte Gedanke: Unsere neuen Mathematik Lehrmittel sind schlicht nicht auf altersübergreifendes Lernen ausgerichtet. Genau an dieser Stelle setzt meine Vision für den zukünftigen Unterricht an Mehrjahrgangsklassen an. Um gemeinsam an einem Thema arbeiten zu können in einer Mehrjahrgangsklasse, müssten die einzelnen Lernumgebungen zumindest teilweise miteinander übereinstimmen. Da es in diesem Kapitel nicht um eine vertiefte Studie, sondern nur um ein anschneiden des Problems geht, werde ich mich auf ein Beispiel in der Geometrie beschränken: Berechnungen am Dreieck. Meine Forderung an das Mathbu.ch ist zumindest das Koordinieren der einzelnen Lernumgebungen von der siebten bis zur neunten Klasse. Dies ist in der aktuellen Auflage definitiv nicht der Fall. Dreiecksberechnungen finden sich bei der 7. Klasse in der Lernumgebung 9, bei der 8. Klasse in der Lernumgebung 13 und 18 und bei der 9. Klasse als erweiterte Form in der Lernumgebung 6. Als Lehrperson muss ich also erstens selber die Lernumgebungen bestimmen, welche zusammengehören, und zweitens während des Unterrichts stets drei Bücher an verschiedenen Stellen aufgeschlagen haben. Mit relativ kleinem Aufwand könnte zumindest dieser organisatorische Aspekt bei der nächsten Auflage behoben werden und den Unterricht an mehrstufigen Klassen vereinfachen. Meine Vision geht aber weit über diese Minimalanforderung hinaus. Statt an drei verschiedenen Klassen drei verschiedene Bücher zu haben, gibt es pro Semester nur noch je ein Buch mit Aufgabenstellungen auf unterschiedlich schwierigem Niveau. Das heisst, dass jeder Jahrgang über drei Jahre immer wieder an den gleichen Lernumgebungen arbeitet, jedes Mal aber auf einem höheren Niveau. Im Zeitalter der modernen Unterrichtsmethoden plädiere ich sogar für einen Unterricht ohne Buch. Gemeinsame Einführungen in ein Thema basieren auf Informationen, die direkt auf die Leinwand oder Smartboard projiziert werden. In meinem Beispiel steht also im Zentrum das Dreieck. Bilder und einfache Erläuterungen wecken dienen als Grundlage für die Einarbeitung in das Thema. Dabei können verschiedene didaktische Ansätze zum Zug kommen. Man könnte zum Beispiel die Schülerinnen und Schüler der höheren Klassen als Repetition die Inhalte der tieferen Klassen 89 erklären lassen. Man könnte in gemischten Gruppen mit gezielten Aufgabenstellungen Entdeckungen am Dreieck machen lassen. Zentral dabei sind zwei Gedanken: Erstens dreht sich der Unterricht um Dreiecksberechnungen, und zweitens geht es darum, den Wissensvorsprung der Älteren zu nützen und sinnvoll einzusetzen. Nach einer gemeinsamen Zeit der Einführung wird der Stoff anschliessend stufengerecht vertieft mit den entsprechenden Arbeitsblättern, so wie wir sie heute schon kenne als Ergänzung zu den Lernumgebungen im Mathbu.ch. Ein Schritt weiter Richtung Utopia würde bedeuten, dass die Vertiefungsaufgaben nach Schwierigkeitsgrad aufgeschlüsselt würden, wie dies schon jetzt zumindest angedeutet wird durch die Auftrennung von grundlegenden und schwierigeren Aufgaben. Konsequent angewendet liesse sich so mit vertretbarem Aufwand ein Unterrichtsmodell durchführen, das sowohl die Forderungen der Integration wie auch der Reformpädagogik zumindest ein grosses Stück näher kommen würde. Da aber nur ein kleiner Prozentsatz aller Oberstufen als Mehrjahrgangsklassen geführt werden, wird meine Vision wohl immer eine solche bleiben, denn der finanzielle und zeitliche Aufwand lohnt sich wohl kaum, für die kleine Minderheit solche Ressourcen zu schaffen. Es lohnt sich erst dann, wenn die Bildungspolitik sich bewusst für die Reformpädagogik einsetzt, sich vom Modell der Jahrgangsklassen löst und konsequent für Altersdurchmischung stark macht. Bis es soweit ist, bin ich wohl weiterhin auf meine eigene Kreativität angewiesen, den Mathematikstoff wenigstens teilweise so zu gliedern, dass der Unterricht über drei Stufen sinnvoll gestaltet werden kann. Noch schwieriger wird es dann, wenn vier oder sogar fünf Klassen in einem Schulzimmer unterrichtet werden müssen. Ob sich in einer solchen Situation meine Vision noch durchsetzen lässt, ist fraglich, denn grundsätzlich geht es in der Primarstufe darum, Grundoperationen zu üben und festigen, während auf der Stufe Sek 1 der Schwerpunkt bei der Anwendung von den gelernten Grundoperationen liegt. Ein weiterer Punkt ist die Selektionierung, die sich meines Erachtens mit der bewussten Durchmischung von verschiedenen Altersstufen nicht vereinen lässt. Entweder man setzt auf die volle Trennung der einzelnen Jahrgänge und Niveaus innerhalb der Jahrgänge, um möglichst homogene Lerngruppen zu erreichen, was tendenziell der Bildungslandschaft des Kantons Bern entspricht. Oder aber man setzt 90 konsequent reformpädagogisches Gedankengut durch und verabschiedet sich entsprechend von Selektion und dem Gedanken der homogenen Lerngruppe zugunsten von einem integrativen Modell, bei welchem Unterstufe, Mittelstufe und Oberstufe zusammengefasst werden. In der Realität müsste dann natürlich eine Mischform gefunden werden, da auch die Vorgaben des Kantons betreffend Schülerinnen- und Schülerzahlen eingehalten werden müssen. Tatsache aber bleibt, dass für Mehrjahrgangsklassen insbesondere im Fach Mathematik die Lehrmittel keine ideale Ausgangslage bieten, um den Unterricht nach reformpädagogischen Prinzipien durchführen zu können. Die bestehenden Lehrmittel sind vor allem ausgerichtet auf Jahrgangsklassen, daher bedarf es grosser Kreativität und Flexibilität einer Lehrperson, die Inhalte so umzugestalten, dass ein echter gemischter Unterricht in einer Mehrjahrgansklasse zustande kommt, bei welchem die Schülerinnen und Schüler von der Klassenheterogenität auch wirklich profitieren. Zukunftsvision (Johannes Nydegger): Wenn ich nun anschliessend meine Vision von Schule weitergeben kann, ist das wohl passend, da sie eigentlich dort beginnt wo mein Kollege Peter Boss geendet hat. Als Sohn eines Lehrers mit nunmehr 25 Jahren als Schüler auf der „passiven Seite“ (Primar- und Sekundarschule, Seminar Thun, Gymnasium Kirchenfeld für die Aufnahmeprüfung an die Universität Bern, Grundstudium der Informatik, Studium der Geologie, Nachdiplomstudium Erdwissenschaften an der ETH, Nachdiplomstudium an der PH Bern) habe ich ein eher zwiespältiges Verhältnis gegenüber der Wissensvermittlung. Ich habe weit über hundert Lehrpersonen erlebt, die jobend, begeistert, geldeinsackend, fanatisch, mitfühlend, streng, kalt, zynisch, verständnisvoll ihren Stoff vermittelt haben. Meistens ist es ihnen dabei um ihr Wissen gegangen. Diesen Aspekt möchte ich weiter unten eingehend erläutern. Neben meinen aktiven Schulbankzeiten habe ich mir aber einen Grossteil meines Wissens und Könnens autodidaktisch angeeignet. Oft habe ich meinen Verstand eingesetzt oder Profis über die Schulter geschaut und sie zu kopieren versucht. Ich war mir auch nicht zu schade, Fragen zu stellen, auch wenn einige sich sicher sehr verwundert haben und die Qualität der Fragen nicht immer hochstehend gewesen sind. Meine Erfahrungen in einem geotechnischen Ingenieurbüro, in dem ich nur allzuoft ins kalte Wasser geworfen worden bin oder der umfassende Umbau des eigenen 91 Hauses, bei dem ich in allen Bereichen Hand angelegt habe, möchte ich nicht missen. Es soll ferne von mir sein, wenn dieser Text in irgendeiner Form arrogant tönt, doch stufe ich bleibende Erfahrungen in dieser Qualität um einiges höher ein als stundenlanges Repetieren von Französischverben oder Ammonitenreihen aus der Unterkreide. Geht nicht die heutige Schule vom Standpunkt aus, dass die wissende Lehrperson möglichst methodisch und didaktisch professionell, ausgezeichnet geschult (schliesslich sollte ja jeder über einen Maturaabschluss verfügen) ihr Wissen an die nächste Generation weitergibt? Mache ich das nicht auch mit meinen vier Söhnen, die zwischen sechs und dreizehn Jahre alt sind? Wie gebannt hängen sie an meinen Lippen, wenn ich den älteren drei ein Buch über die Mafia und die Ermordung eines Papstes vorlese oder ihnen die Bedeutung der Ozonschicht erkläre. Doch tiefgreifend sind vor allem die Zeiten, in denen sie mit ihren Bedürfnissen erscheinen und sie höchstens meinen Rat oder meine Einwilligung brauchen, um selber aktiv zu werden. Klar, dass ich am Abend einen „Kontrollgang“ ums Haus herum durchführen muss, um alle Werkzeuge zu entdecken, die liegen geblieben sind und diese ins Haus beordern lasse oder ernsthafte Gespräche betreffend Suchen und Finden von Gegenständen im Zimmer eines Halbwüchsigen durchführe ... aber Hand aufs Herz. Würde sich Pestalozzi nicht positiv im Grab umdrehen wenn er feststellt, dass die heutige Jugend immer noch zu begeistern ist, wenn es um etwas Handfestes oder Herziges geht? Nebenbei kann man das Kopflastige immer noch einbauen. Wo ein Ziel ist, lässt sich oft auch ein Weg finden. Wehe aber denjenigen Jugendlichen, die ziellos durchs Leben wandern und sich überall (Fernsehen, Computer, Spielkonsole, bei Mutter zuhause, in der Clique) bedienen lassen. Oh dass sie doch wenigstens zu wandern anfingen ... Vielleicht sind diese Präliminarien sinnvoll, denn meine Vision stellt sozusagen alles auf den Kopf, was die arrivierte Schulsituation in gut zweihundert Jahren erreicht hat. Ich stelle mir altersgemischte, aus einem Quartier oder einer örtlichen Umgebung stammende Jugendliche vor, die zu maximal zehnt mit ein bis zwei Personen in einer normalen Vier- bis Fünfzimmerwohnung Unterricht leben. Vergeblich sucht man Wandtafeln und Pulte dafür einen bis zwei grosse Tische, auf denen gewerkt und gegessen werden kann und viele Ecken und Nischen, die als Rückzugsorte fungieren. Jede Schülerin und jeder Schüler stellt sich sein Wochenprogramm selbst zusammen und definiert auch die Ziele, die er erreichen will. Morgens wird 92 zusammen gestartet, mittags wird zusammen gegessen und abends wird ein gemeinsamer Abschluss festgelegt und das Erreichte oder neu Gelernte ausgetauscht. Dazwischen hat man viel Zeit zum Spielen, Sport treiben, die Natur erfahren, Lesen, Putzen, Kochen, Planen etc. Die Betreuungspersonen helfen und denken, animieren, stützen, korrigieren, geben Schwung ins Ganze oder nehmen etwas Schwung raus, planen was planbar ist und helfen, die grossen Würfe wie Schulausflüge, Exkursionen, Erlebnisse, Theater etc. aus der Sicht der Erwachsenen zu betreuen. Ich weiss, jede Leserin und jeder Leser denkt nun unwillkürlich an die Kosten und weitere Fragen, wie: Wo kämen wir da hin, wenn Kinder und Jugendliche selbst bestimmen würden was dran ist, was passiert mit den Faulen und Passiven? Ist das nicht eine Überforderung der Betreuungsperson? Was können diese wohl am Schluss ihrer Schulzeit? Wer schaut dann aber, was die so treiben? Ist das nicht zu utopisch? Faule und Passive hat es seit je her gegeben unabhängig des Systems und Fensterplatzbewohner sind doch nur Alarmglocken für einen abgelöschten, uninteressanten Unterricht. Ich bin mir bewusst, dass die Führung einer solchen Gruppe herausfordernd wäre und man viel vom Leben erfahren sollte, um erfolgreich zu sein. Ich denke da nicht zuletzt an pensionierte 60- bis 70-jährige, die im Moment noch durch die Welt jetten, endlich ihr Leben geniessen und krampfhaft nach Hobbys und Gelegenheiten suchen, um ihr Dasein zu ertragen. Ein Eingebundensein in eine junge, vor Begeisterung sprühende Gruppe, zwar nicht mehr die volle Verantwortung tragende Last und dennoch gebraucht, Jugendliche begleiten in ihren Wünschen und Ängsten - das wären sicher Diskussionspunkte, die manche und manchen aus dieser Altersgruppe reizen könnte. Es muss ja nicht ein täglich permanentes Begleiten sein, die Hauptverantwortung trägt ja die Lehrperson, eine Entlöhnung wäre angemessen aber nicht überrissen. Nun zu den Kosten. Wie viel steckt die Allgemeinheit wohl in Besoldungen von Klassenlehrpersonen, Teilpensenlehrkräften, Schulleitungen, HPS-Stützkursen, Betreuungsangeboten, Suchtpräventionen, Gebäudekosten, Umgebungskosten, Reinigungskosten, Tagesschulbetreuungen, DAZ-Hilfskräften, Transportkosten, Schulsekretariatskosten, Erziehungsangestelltebesoldungen etc.? 93 Nicht dass ich das alles abschaffen möchte, aber bei schlankeren Strukturen wäre wohl vieles viel effizienter. Eine Teilung einer Gruppe bei einer Maximalzahl von 11 wäre angebracht, eventuell schon früher, bei einer Minimalzahl von drei Kindern würde man wohl zusammenlegen. Es bräuchte sicher mehr Betreuungspersonen sprich Lehrkräfte als zuvor dafür weniger der oben aufgezählten Nebenschauspieler. Auch wäre eine Ausbildung in diese Richtung wohl nicht nur von den intellektuellen Begabungen her relevant sondern mehr von der Fähigkeit, zwischenmenschlich stark zu sein, begeisterungsfähig wohl ein Allrounder. Es wäre wünschenswert, dass man nach einigen Jahren ein Zwischenjahr in irgend einem anderen Beruf absolviert und so den Bezug aus der Schulstube aufrechterhält und auch einem möglichen Burnout zuvorkommt. Experimente von Lehrkräften in diese Richtung haben gezeigt, dass das Wissen von ähnlich unterrichteten Kindern weit über dem landesmässigen Durchschnitt liegt. Gerade die modernen Medien erlauben bei sinnvollem Einsatz eine Effizienzsteigerung, wie sie die Schule in ihrer Form bisher nicht gekannt hat. Aber das Ganze geht nicht einfach so unbetreut. Unsere Kinder eignen sich ihr Wissen schon irgendwie an, wenn nicht in der Schule dann an anderen Orten. Ob dabei alles reflektiert zu und her geht wage ich zu bezweifeln. Ich bin sicher, dass die Geldbeschaffung nicht die grösste Schwierigkeit in dieser Vision wäre und zum Stolperstein würde, sondern der Mensch als solches. Das Ganze funktioniert nur bei einem Einsatz aller, wenn die Chemie stimmt, wenn auf allen Seiten die Bereitschaft besteht, vom anderen zu lernen und gegenseitig Respekt zu geben. Auf der anderen Seite würde es in einem grösseren geographischen Umfeld (Dorf, Stadt) viele solcher „Zellen“ geben und man könnte auch bei gröberen zwischenmenschlichen Schwierigkeiten schneller eingreifen. Bildung würde wieder dort stattfinden, wo sie vor vier Jahrhunderten Hauptbestandteil war. In der vergrösserten Familie, in Clans, weitab jeglicher Zentren. Sie wäre dynamisch, unkonventionell aber hoffentlich nicht verstaubt und trocken, denn jede Schülerin und jeder Schüler würde sie für sich selber festlegen. 94 Zur Utopie ist zu sagen, dass ich nächstes Schuljahr in fünf Klassen 17101 Schülerinnen und Schüler unterrichte, wobei ein Schüler in einigen Fächern RiLZ benötigt und alle Lehrmittel auf jahrgangshomogene Gruppen ausgerichtet sind. Vielleicht müsste man in den Zentren von den jahrgangsunterrichtenden Lehrkräften demgegenüber 40-er Klassen fordern, die hat es schliesslich in der bernischen Schullandschaft vor noch nicht allzu langer Zeit gegeben. 2 unter dem kantonal festgelegten Schnitt Dabei handelt es sich genau um die zwei Schülerinnen, die nächstes Jahr von unserem Tal aus in der neunten und siebten Klasse die Sekundarschule besuchen werden. 101 95 6. Literaturverzeichnis __________. Richtlinien für die Schülerzahlen, Bern: Erziehungsdirektion des Kantons Bern, August 2006. Allemann Ghionda, Cristina. „Differenz und Ungleichheit—verkannte Herausforderungen für Bildungsinstitutionen?“ in Heterogenität und Integration. Hrsg. Albert Tanner et al. Zürich: Seismo Verlag, 2006: S. 14 - 27. Auernheimer, Georg. „Gleichheit und Anerkennung als Leitmotive interkultureller Pädagogik“ in Heterogenität und Integration. Hrsg. Albert Tanner et al. Zürich: Seismo Verlag, 2006): S. 42 - 45. Becker, Gerold. Hrsg. 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