Ethische Aspekte der klinischen Forschung in Entwicklungsländern

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STELLUNGNAHME DER EUROPÄISCHEN GRUPPE FÜR ETHIK
DER NATURWISSENSCHAFTEN UND DER NEUEN
TECHNOLOGIEN BEI DER EUROPÄISCHEN KOMMISSION
30.Januar 2003
Nr. 17
Original: Englisch
ETHISCHE ASPEKTE DER KLINISCHEN FORSCHUNG IN ENTWICKLUNGSLÄNDERN
Bezug:
Ersuchen der Europäischen Kommission vom 29. Mai 2001
Berichterstatter:
Inez de Beaufort und Yvon Englert
****************************************************************************************
*************************************
Die Europäische Gruppe für Ethik der Naturwissenschaften und der Neuen Technologien
(EGE),
gestützt auf das Ersuchen von Romano Prodi, Präsident der Europäischen Kommission, an die
EGE;
gestützt auf den Vertrag über die Europäische Union, geändert durch den Vertrag von
Amsterdam, insbesondere auf Artikel 6 (ex-Artikel F) der gemeinsamen Bestimmungen über
die Achtung von Grundrechten;
gestützt auf den Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft, insbesondere auf
Artikel 152 (ex-Artikel 129) über das Gesundheitswesen;
gestützt auf die Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 28. September 2000, die
vom Europäischen Rat in Biarritz am 14. Oktober 2000 verabschiedet wurde, insbesondere
auf Artikel 1 über die Würde des Menschen, auf Artikel 3 über das Recht auf Integrität der
Person, mit Bezug zum Grundsatz der freien und informierten Zustimmung, sowie auf Artikel
13, der die Freiheit der Forschung zusichert;
gestützt auf den Aktionsplan Wissenschaft und Gesellschaft, der von der Kommission im
Dezember 2001 angenommen wurde, und auf Aktion 33 über den Aufbau von Strukturen und
Einrichtungen zur ethischen Überprüfung in verschiedenen Gegenden der Welt;
gestützt auf den Beschluß Nr. 1513/2002/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom
27. Juni 2002 über das Sechste Rahmenprogramm im Bereich der Forschung als Beitrag zur
Schaffung des europäischen Forschungsraums (2002-2006);
gestützt auf die Entscheidung des Rates vom 30. September 2002 über ein
spezifisches Programm im Bereich der Forschung: "Integration und Stärkung des
Europäischen Forschungsraums" (2002-2006);
gestützt auf die Richtlinie 2001/20/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4.
April 2001 über die Anwendung der guten klinischen Praxis bei der Durchführung von
klinischen Prüfungen mit Humanarzneimitteln;
gestützt auf die Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6.
November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodex für Humanarzneimittel;
gestützt auf die Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24.
Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener
Daten und beim freien Datenverkehr;
gestützt auf das Übereinkommen des Europarates über Menschenrechte und Biomedizin, das
am 4. April 1997 in Oviedo unterzeichnet wurde, insbesondere auf Artikel 15 über die
Freiheit der Forschung, und auf die Artikel 16 und 17 über den Schutz von Personen, an
denen Forschung vorgenommen wird;
gestützt auf die vom Weltärztebund 1964 angenommene Deklaration von Helsinki, die 1975,
1983, 1989, 1996 und 2000 revidiert wurde;
gestützt auf die 1993 verabschiedeten und im Oktober 2002 abgeänderten internationalen
Ethik-Leitlinien des CIOMS (Rat der Internationalen Organisationen auf dem Gebiet der
medizinischen Wissenschaften) für die biomedizinische Forschung am Menschen;
gestützt auf die Leitlinien der International Conference on Harmonisation in Bezug auf
klinische Prüfungen;
gestützt auf die Berichte und Stellungnahmen nationaler Ethikkommissionen, wie den Bericht
des Nuffield-Bioethikrats (UK 2002), den Bericht des Nationalen BioethikBeratungsausschusses (USA 2001) und den Bericht des Nationalen Ethikausschusses (FR
1993);
gestützt auf den runden Tisch der Gruppe am 1. Oktober 2002 in Brüssel mit Mitgliedern des
Europäischen Parlaments, Rechtssachverständigen, Philosophen, Naturwissenschaftlern,
Vertretern der Industrie, Religionsvertretern, Vertretern von Patientenvereinigungen und
anderen Interessengruppen sowie von internationalen und europäischen Organisationen
(UNESCO, Europarat, EMEA, WTO, WIPO, EPA);
gestützt auf die Sachverständigen-Anhörungen vom 19. April 2002, vom 4. Juni 2002, vom 3.
September 2002, vom 25. Oktober 2002 und vom 5. November 2002;
gestützt auf die von der Gruppe an das Institut für Prospektive Technologiestudien (Sevilla) in
Auftrag gegebenen Studien von Dolores Ruiz Ibarreta über die “ethische Kontroverse um die
Verwendung von Placebos für klinische Prüfungen in Entwicklungsländern: Auswirkungen
auf internationale Forschungsleitlinien und wissenschaftliche Literatur” und “von der
Industrie finanzierte klinische Prüfungen in Entwicklungsländern”;
nach Anhörung der Berichterstatter Inez de Beaufort und Yvon Englert;
1. IN ERWÄGUNG NACHSTEHENDER GRÜNDE :
ALLGEMEINER HINTERGRUND
1.1
Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts erbringt die klinische Forschung in den westeuropäischen
Kulturen einen bedeutenden Erkenntniszuwachs im Bereich der menschlichen Gesundheit:
Sie dient der Entwicklung von Prävention, Diagnose und Therapie von Erkrankungen und
Behinderungen. Die bestehenden Kodizes im Rahmen des nationalen Rechts oder
internationaler Texte beziehen sich vorrangig auf klinische Forschung zur Entwicklung neuer
Medikamente; die darin festgelegten Grundsätze und Bedingungen können jedoch ebenso für
die medizinische Forschung im Bereich therapeutischer oder präventiver Verfahren generell
Geltung haben.
1.2
Bis ein neues Medikament in den Verkehr gebracht werden kann, bedarf es jahrelanger
Forschung, die folgende Etappen umfaßt:
-
-
die präklinische Phase, die In-Vitro-Untersuchungen beispielsweise zu biochemischen und
pharmakologischen Eigenschaften und Toxizität beinhalten kann; sowie Untersuchungen
am Tier, einschließlich der Verwendung von Tiermodellen zur Prüfung der potentiellen
therapeutischen oder toxischen Wirkung;
die klinische Phase unter Einbeziehung des Menschen, die jedoch erst nach Abschluß der
vorhergehenden Etappen eingeleitet wird.
1.3
Klinische Prüfungen sind ein wesentlicher Bestandteil medizinischer Forschung zur
Entwicklung neuer Therapieformen oder neuer diagnostischer Verfahren.
An Phase I von klinischen Prüfungen, in der die Toxizität eines neuen Produkts getestet wird,
nehmen gesunde Freiwillige teil.
An Phase II von klinischen Prüfungen, in der die potentielle Wirkung des Medikaments auf
die Krankheit getestet wird, nimmt eine begrenzte Anzahl von Patienten teil.
An Phase III von klinischen Prüfungen zur Beurteilung der Wirksamkeit des Medikaments
und zur Bestimmung der geeigneten Dosierung nimmt eine größere Anzahl von Patienten teil.
Phase IV von klinischen Prüfungen wird eingeleitet, wenn das Produkt bereits auf dem Markt
ist, damit potentielle seltene Nebenwirkungen definiert werden können.
1.4
Die Beurteilung der Wirksamkeit eines neuen Medikaments beruht auf dem Vergleich einer
Gruppe von Patienten, denen das neue Medikament verabreicht wird, mit einer Gruppe von
Patienten, die eine andere Therapie erhalten. Existiert noch keine Therapie, kann die
Vergleichsgruppe ein Placebo erhalten.
Ein neues Medikament kann auch zur Kombination mit einer Standard-Therapie, und nicht als
Ersatz für eine solche Therapie entwickelt werden. In diesem Fall wird die Patientengruppe,
der das neue Medikament in Kombination mit der Standardtherapie verabreicht wird, mit
einer Gruppe verglichen, die zusätzlich zur Standard-Therapie ein Placebo erhält. Die
Teilnahme an einer Placebogruppe bei einer klinischen Prüfung bedeutet also nicht
notwendigerweise, dass die betreffende Gruppe überhaupt keine Therapie erhält.
Wenn eine andere Therapieform bereits existiert, läßt sich durch den Einsatz eines Placebos
auch schneller und mit einer begrenzten Anzahl an Testpersonen herausfinden, ob ein neues
Medikament bei der Behandlung einer Krankheit eine spezifische Wirkung hat. Eine derartige
Placebo-kontrollierte Prüfung wird jedoch nicht die Frage klären können, ob das neue
Medikament eine größere oder geringere Wirksamkeit aufweist als die bereits existierenden
Therapieformen.
1.5
Die Rechtfertigung für klinische Prüfungen liegt in der Gewinnung von Erkenntnissen zur
Verbesserung der medizinischen Versorgung. Abgesehen vom Nutzen für die medizinische
Versorgung durch die Entwicklung von neuen Therapieformen helfen klinische Prüfungen die
Qualität der medizinischen Versorgung zu verbessern, regen den Technologietransfer an und
tragen zum Ausbau des Fachwissens bei. Ihre Durchführung hat oft einen wesentlichen
Einfluß auf die Finanzierung von klinischen Einrichtungen. Klinische Prüfungen können
ferner zu kommerziellen wie auch zu Werbezwecken durchgeführt werden.
1.6
Seit 1983 unterstützt die Europäische Kommission die wissenschaftliche Zusammenarbeit mit
Entwicklungsländern durch mehrere aufeinander folgende Rahmenprogramme zu
spezifischen Forschungsgebieten wie Gesundheit, Landwirtschaft und Umwelt. Dabei wurden
nicht nur bilaterale, sondern auch regionale Partnerschaften entwickelt, wie etwa die von
Entwicklungsländern untereinander, an denen 123 Länder Asiens, der AKP-Staaten1,
Lateinamerikas und des Mittelmeerraumes beteiligt waren.
1.7
Das Sechste Rahmenprogramm basiert auf einer neuen Strategie, die den
Entwicklungsländern die Möglichkeit einer EU-Finanzierung für alle im Programm
festgelegten Bereiche bietet.
Darüber hinaus schlug die Europäische Kommission im August 2002 eine langfristige
Partnerschaft zwischen Europa und den Entwicklungsländern mit dem Ziel gemeinsamer
Anstrengungen bei der Bekämpfung von Armutskrankheiten wie AIDS, Malaria und
Tuberkulose vor. Das „Programm der europäischen Länder und Entwicklungsländer für
klinische Versuche“ (EDCTP, European-Developing Countries Clinical Trials Programme)
wird mit 600 Mio. EUR dotiert, wobei jeweils die Europäische Gemeinschaft, die
Teilnehmerstaaten und die Industrie jeweils ein Drittel übernehmen.
1.8
Entwicklungsländer und Industrieländer unterscheiden sich aufgrund wirtschaftlicher und
gesellschaftlicher Rahmenbedingungen. In Entwicklungsländern gibt es nur eine begrenzte
oder gar keine Infrastruktur für eine umfassende Versorgung der Bevölkerung , insbesondere
im Bereich der medizinischen Versorgung.
Darüber hinaus bestehen mitunter auch kulturelle Unterschiede im Hinblick auf Traditionen,
Familien- oder Gemeinschaftsstrukturen sowie moralischer Wertvorstellungen.
1.9
In den Industriestaaten herrscht eine weitgehend einheitliche Vorstellung darüber, was eine
gute wissenschaftliche Methode ausmacht, die nach logischen und rationalen Gesichtspunkten
aufgebaut ist. Andere Kulturen kennen teilweise andersartige medizinische Traditionen, die
unserer Vorstellung von wissenschaftlicher Forschung nicht in jedem Fall entsprechen.
Forschungstätigkeit beinhaltet nicht nur eine wissenschaftliche, sondern auch eine kulturelle
1
AKP-Staaten: die Staaten Afrikas, des Karibischen Raums und des Pazifik.
Dimension, ein Umstand der sich besonders bei der Bewertung einer klinischen Prüfung nach
ethischen Gesichtspunkten auswirken könnte.
1.10
Eine klinische Prüfung zur Beurteilung der Validität eines neuen therapeutischen oder
diagnostischen Verfahrens ist ein zeit- und kostenaufwendiger Prozess. Im Laufe des
vergangenen Jahrzehnts verlagerte sich die klinische Forschung allmählich vom öffentlichen
zum privaten Sektor. Investitionen zur Erforschung vor allem von Tropenkrankheiten
und/oder Armutskrankheiten, die zu den vorrangigen Anliegen der öffentlichen
Gesundheitsvorsorge gehören, wurden abgezogen und flossen rentableren Forschungsarbeiten
zu Krankheiten und Therapien zu. Der Beitrag des privaten Sektors, d. h. der
pharmazeutischen Industrie, wächst verglichen mit dem Beitrag des öffentlichen Sektors
rapide. Darüber hinaus wird die Durchführung von klinischen Prüfungen immer öfter
zwischengeschalteten Strukturen übertragen, wie etwa Vertragsforschungsorganisationen oder
Site Management Organisations.
1.11
Zudem zeichnet sich ein Trend zur Auslagerung klinischer Prüfungen in Länder ab, in denen
ihre Durchführung mit geringeren Kosten verbunden ist und weniger regulativen Zwängen
unterliegt. Außerdem stehen potentiell eine große Zahl - insbesondere von nicht
vorbehandelten - Patienten für klinische Prüfungen zur Verfügung. Diese Auslagerung
klinischer Forschung in Entwicklungsländer betrifft besonders Prüfungen der Phasen III und
IV.
1.12
Es ist zu unterscheiden zwischen klinischen Prüfungen, die in bestimmten
Entwicklungsländern durchgeführt werden, weil die erforschte Krankheit sowie die erkrankte
Population, der die Forschung zugute kommen würde, in den betreffenden
Entwicklungsländern angesiedelt sind. Dies schließt Krankheiten ein, die ausschließlich in
Entwicklungsländern auftreten (wie etwa Tropenkrankheiten), oder solche, die auch in
Industrieländern vorkommen, in den Entwicklungsländern jedoch eine höhere Morbidität oder
Mortalität aufweisen, und klinischen Prüfungen, die aus rein praktischen Erwägungen in
Entwicklungsländern durchgeführt werden.
1.13
Gesundheitsprobleme, die sich auf Entwicklungsländer beschränken, hängen sehr häufig mit
der gesellschaftlichen Realität und den Lebensbedingungen der betreffenden Länder
zusammen. Vielfach ist Armut die Hauptursache von „Krankheiten“. Im wirtschaftlichen
Kontext von Entwicklungsländern kann die Durchführung von klinischen Prüfungen dabei
behilflich sein, die bestmögliche Verwendung begrenzter Ressourcen zu ermitteln. Der
Kosten-Nutzen-Ansatz stellt dann einen wesentlichen Bestandteil des Protokolls dar; diese
Überlegung wird auch in den Industrieländern immer häufiger angestellt.
1.14
In Entwicklungsländern durchgeführte klinische Prüfungen tragen oft zur Entwicklung von
neuen Medikamenten bei, die sodann in den Industrieländern, nicht aber in
Entwicklungsländern zum Einsatz kommen. Klinische Prüfungen zur Entwicklung neuer
Medikamente, die ausschließlich für Entwicklungsländer bestimmt sind, wie etwa Therapien
zur Behandlung von Tropenkrankheiten, sind verhältnismäßig selten.
RECHTLICHER HINTERGRUND
 Auf nationaler Ebene
1.15 Nationale Vorschriften
Viele Industrieländer verfügen über einen umfassenden rechtlichen und ethischen Rahmen,
der bei der Durchführung von klinischen Prüfungen berücksichtigt werden soll. Der Verzicht
auf einen ähnlichen Standard in Gastländern könnte den Schutz der Teilnehmer an klinischen
Prüfungen gefährden.
 Auf Gemeinschaftsebene
1.16
Richtlinie 2001/83/EG
Die Richtlinie 2001/83/EG zur Schaffung eines Gemeinschaftskodex für Humanarzneimittel
nimmt in Anhang I Teil 4 (B) Bezug auf die Erklärung von Helsinki: „Alle klinischen Studien
sind im Einklang mit den in der geltenden revidierten Fassung der Erklärung von Helsinki
niedergelegten ethischen Grundsätzen durchzuführen“.
Zum Einsatz von Placebo stellt die Richtlinie fest: “Generell müssen die klinischen
Prüfungen als kontrollierte klinische Studien und möglichst randomisiert durchgeführt
werden; jede andere Anordnung ist zu rechtfertigen. Die Kontrollbehandlung bei den
Prüfungen wird von Fall zu Fall verschieden sein und durch ethische Erwägungen
mitbestimmt werden; so kann der Wirksamkeitsvergleich zwischen einem neuen Arzneimittel
und einem bereits bekannten bisweilen einem Wirksamkeitsvergleich mit einem Placebo
vorzuziehen sein.“
1.17
Richtlinie 2001/20/EG
Die Richtlinie 2001/20/EG über die Anwendung der guten klinischen Praxis bei der
Durchführung von klinischen Prüfungen mit Humanarzneimitteln wurde am 4. April 2001
angenommen. Die Mitgliedstaaten müssen sie bis Mai 2003 umsetzen und spätestens ab
Mai 2004 anwenden.
Die Kommission muß vor Mai 2003 detaillierte Leitlinien zur Umsetzung der Richtlinie
veröffentlichen, die auf die Festlegung von Grundsätzen zum Schutz der Testpersonen sowie
die Schaffung einer guten klinischen Praxis bei der Prüfung von Humanarzneimitteln
(einschließlich Zell- und Gentherapie) zielen.
Die Richtlinie nimmt auf sämtliche in der EU oder in Drittstaaten durchgeführte klinische
Prüfungen Bezug (Phase I bis IV), mit deren Hilfe die Wirksamkeit von Arzneimitteln
beurteilt werden soll. Sie erstreckt sich nicht auf Anwendungsbeobachtungen wie etwa
epidemiologische Untersuchungen. Die Richtlinie gilt für alle Patientengruppen, enthält
jedoch besondere Bestimmungen für Kinder und nichtzustimmungsfähige Erwachsene, die
keine rechtsgültige freie und informierte Zustimmung abgeben können.
1.18
Europäische Arzneimittelagentur (EMEA)
Die EMEA wurde im Jahr 1993 von der EU eingerichtet. Ihre Rolle besteht in der Abgabe
von Stellungnahmen, auf deren Grundlage die Europäische Kommission über die
Vermarktungsgenehmigung von Arzneimitteln entscheidet.
Bei der Prüfung des Dossiers mit der Beschreibung der von öffentlichen oder privaten
Institutionen durchgeführten klinischen Prüfung sowie dem Antrag auf Marktzulassung für
ein Arzneimittel beurteilt die EMEA nicht nur Wirksamkeit, Sicherheit und Kosten des
Arzneimittels, sondern auch die Beachtung der guten klinischen Praxis und das Vorliegen
einer freien und informierten Zustimmung sowie eines positiven Votums einer
Ethikkommissionen. Wenn Probleme insbesondere ethischer Natur ausgemacht werden, kann
die EMEA der Kommission nahe legen, die Marktzulassung zu verweigern oder eine bereits
durch die Mitgliedstaaten erteilte Marktzulassung zurückzuziehen. Dies ist besonders für
europäische Unternehmen von Bedeutung, die ihre Forschungsarbeit in Entwicklungsländern
durchführen. Diese Mitteilung wird veröffentlicht. Die EMEA wird nach Abschluß der
klinischen Prüfung bei Vorlage des Dossiers, also nicht vor oder während der Prüfung, tätig.
1.19
Zuständigkeit der EU
Die EU verfügt über keine direkte Zuständigkeit für die Regulierung von Forschung im
Allgemeinen, die Kompetenz der Mitgliedstaaten ist. Allerdings ist die EU für die
Marktzulassung von Arzneimitteln im Binnenmarkt zuständig. Diese Zulassung wird von der
Kommission auf Grundlage der EMEA-Berichte erteilt und kann verweigert werden, wenn
bei der Durchführung der klinischen Prüfungen ethische Grundsätze mißachtet werden. Im
Übrigen ist die EU für die Beachtung von ethischen Grundsätzen bei jedem EU-finanzierten
Forschungsprojekt, unabhängig von dem Land, in dem es durchgeführt wird, verantwortlich.
 Auf internationaler Ebene
1.20
International Conference on Harmonisation (ICH)
Im Rahmen der 1990 ins Leben gerufenen ICH diskutieren Vertreter von Zulassungsbehörden
und der pharmazeutischen Industrie der EU, Japans und der Vereinigten Staaten
wissenschaftliche und technische Aspekte der Arzneimittelzulassung. Damit soll ein Forum
für den Dialog zwischen allen Beteiligten geschaffen und die Erarbeitung von Leitlinien
ermöglicht werden, die zu einer umfassenderen Harmonisierung beitragen sollen.
Einige der Leitlinien betreffen klinische Prüfungen und gehen auf die Placebo-Frage ein. So
heißt es in der Leitlinie zur Auswahl der Kontrollgruppe (E 10): “Ob eine bestimmte Placebokontrollierte Studie ethisch gerechtfertigt ist, hängt in manchen Fällen davon ab, was man als
klinisch erwiesen ansieht, sowie von den besonderen Umständen der Studien.“ „Es sollte
darauf hingewiesen werden, dass die Existenz einer Placebo-Gruppe oder einer nicht
behandelten Kontrollgruppe nicht gleichzeitig bedeutet, dass der Patient keinerlei Therapie
erhält“.
1.21
Die Helsinki-Deklaration des Weltärztebundes (WMA)
Der Weltärztebund ist eine internationale, unabhängige Vereinigung zur Vertretung der
Ärzteschaft.
1947 gegründet, repräsentiert der WMA annähernd 70 nationale Berufsvereinigungen. Auch
einzelne Ärzte können als assoziierte Mitglieder beitreten.
Der Weltärztebund ist bestrebt, in der Medizin einen hohen ethischen Standard zu fördern
sowie Ärzten in Form von Deklarationen und Stellungnahmen ethische Leitlinien an die Hand
zu geben.
Die Organisation hält einmal jährlich ihre Generalversammlung ab, in die Vertreter der
nationalen Berufsvereinigungen sowie der assoziierten Mitglieder entsandt werden. Sie ist das
Beschlußorgan.
Die Deklaration von Helsinki, die 1964 anläßlich der 18. Generalversammlung des
Weltärztebundes angenommen wurde, legt die ethischen Grundsätze fest, die Ärzte bei der
Durchführung medizinischer Forschung am Menschen, an menschlichem Material oder
identifizierbaren menschlichen Daten beachten müssen.
Die Deklaration von Helsinki ist zwar nicht rechtsverbindlich, besitzt jedoch eine weithin
anerkannte moralische Kraft.
Seit 1964 wurde die Deklaration mehrere Male abgeändert. Die bislang letzte Version wurde
im Oktober 2000 in Edinburgh angenommen und enthält insbesondere Änderungen in Bezug
auf die Verwendung von Placebos in klinischen Prüfungen, womit der außerordentlich breiten
und intensiven Diskussion Rechnung getragen wurde.
In der früheren Fassung heißt es, dass die „beste erprobte Methode“ der Kontrollgruppe
zugute kommen solle, und dass ein Placebo verwendet werden könne, wenn es kein erprobtes
Verfahren gebe.
Artikel 29 der aktuellen Fassung aus dem Jahr 2000 besagt, dass die „gegenwärtig beste
Methode“ der Kontrollgruppe zugute kommen solle und ein Placebo verwendet werden
könne, wenn kein erprobtes Verfahren verfügbar sei.
Ein Jahr später veröffentlichte der Weltärztebund einen Versuch der Klarstellung, der insofern
als Kompromiß zur Änderung des Artikels 29 angesehen werden kann, als er jene
Bedingungen nennt, die zur Verwendung von Placebo-kontrollierten Prüfungen vorliegen
müssen, wenn es ein erprobtes Verfahren gibt. Dies gilt, wenn:

ein Placebo aus methodologischen Gründen zur Feststellung von Wirksamkeit oder
Sicherheit einer neuen Methode erforderlich ist,
oder

die Prüfung einen geringfügigen Krankheitszustand zum Gegenstand hat, ohne dass das
Risiko einer schwer wiegenden oder irreversiblen Schädigung des Patienten besteht.
1.22
Konvention des Europarates
Der Europarat ist eine zwischenstaatliche Organisation, die sich der Förderung von
Menschenrechten und Demokratie in Europa verschrieben hat. Zu seinen Aufgabenbereichen
zählen auch Gesundheit und Bildung. Der seit 1949 bestehende Europarat zählt heute 44
Mitglieder, zu denen auch die 15 Mitgliedstaaten der Europäischen Union gehören. Im Jahr
1950 entstand die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die von
den 44 Mitgliedstaaten unterzeichnet und ratifiziert wurde und nunmehr rechtsverbindlich ist.
Das Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick
auf die Anwendung von Biologie und Medizin, bekannt als „Bioethik-Konvention“, wurde im
April 1997 in Oviedo (Spanien) zur Unterzeichnung aufgelegt.
Ein Zusatzprotokoll zur Bioethik-Konvention über biomedizinische Forschung befindet sich
in Vorbereitung. Das Protokoll wird die Bedingungen festlegen, die erfüllt sein müssen, wenn
Testpersonen an Forschungsprojekten mitwirken, sowie auf die Frage der Forschung in
Ländern eingehen, die das Protokoll nicht unterzeichnen werden.
1.23 Der Rat der internationalen Organisationen auf dem Gebiet der medizinischen
Wissenschaften (CIOMS)
Der Rat der internationalen Organisationen auf dem Gebiet der medizinischen Wissenschaften
(CIOMS) ist eine internationale gemeinnützige Nichtregierungsorganisation, die von WHO
und UNESCO im Jahr 1949 ins Leben gerufen wurde. Der CIOMS vertritt einen
beträchtlichen Teil der Wissenschaftler auf dem Gebiet der Biomedizin. Im Jahr 2001 bestand
seine Mitgliedschaft aus 48 internationalen Organisationen, die viele biomedizinische
Disziplinen vertreten, und 18 nationalen Mitgliedern, die im Wesentlichen die Akademien der
Wissenschaften und die medizinischen Forschungsräte der einzelnen Staaten repräsentieren.
Das besondere Verdienst des CIOMS um die Ethik in der Biomedizin liegt in der Herausgabe
von internationalen Leitlinien zur Anwendung von ethischen Grundsätzen in verschiedenen
Schlüsselbereichen, wobei insbesondere die internationalen medizinisch-ethischen Richtlinien
für Forschungsuntersuchungen am Menschen zu nennen sind, die gemeinsam mit der WHO
ausgearbeitet und 1993 veröffentlicht wurden. Sie fanden insbesondere in
Entwicklungsländern umfassend Anwendung. Die revidierte und aktualisierte Fassung wurde
im Oktober 2002 veröffentlicht.
ETHISCHER HINTERGRUND
Ethische Aspekte der Partnerschaft zwischen Industriestaaten und
Entwicklungsländern
1.24
Die Globalisierung betrifft eine steigende Anzahl menschlicher Aktivitäten, darunter auch
Forschungsaktivitäten. In diesem Bereich werden die Projekte inzwischen weltweit und nicht
mehr nur auf nationaler oder internationaler Ebene abgewickelt.
Da sich Globalisierung in einer äußerst heterogenen Welt vollzieht, da extremer Reichtum
und extreme Armut nebeneinander existieren und die Existenz von Ungerechtigkeit eine
unbestrittene Tatsache ist, können die Beziehungen zwischen den Beteiligten nicht per se
gerecht sein. Folglich gilt es Regeln festzulegen, um Ausbeutung und wachsender
Ungerechtigkeit einen Riegel vorzuschieben. Unter den zu behandelnden ethischen Fragen
herrscht Konsens etwa über die Veröffentlichung - auch negativer - Ergebnisse oder die
Notwendigkeit, seltene Krankheiten und armutsbedingte Krankheiten zu erforschen, die nur
in Entwicklungsländern auftreten. Bei folgenden Themen besteht dagegen keine Einigkeit:
 Unter welchen Voraussetzungen ist die Verwendung eines Placebos akzeptabel?
 Wenn die Wirksamkeit eines neuen Arzneimittels geprüft wird, sollte es dann immer mit
der besten erprobten Methode verglichen werden, auch wenn sie für gewöhnlich in dem
Land, in dem die Prüfung durchgeführt wird, gar nicht verfügbar ist, oder sollte das beste
verfügbare Verfahren angewandt werden?
 Gibt es universelle Werte, und können sie unabhängig vom soziokulturellen Kontext
Anwendung finden?
1.25
Die Legitimität der Ziele einer klinischen Prüfung ist abhängig von der Analyse seiner
Relevanz. Dabei gilt es die Gesundheitsprioritäten der Partner zu berücksichtigen, Risiko und
Nutzen für Einzelne und Gemeinschaften abzuwägen und den potentiellen Auswirkungen auf
die medizinische Versorgung des Gastlandes Rechnung zu tragen. Der Begriff Gemeinschaft
kann jedoch sehr unterschiedlich aufgefaßt werden (im Sinne von Bürgern eines Staates oder
im Sinne von Mitgliedern derselben Gruppe innerhalb eines Staates oder in verschiedenen
Ländern, die an derselben Krankheit leiden oder denselben gesellschaftlichen Realitäten
unterworfen sind). Das kann sich auch auf die Festlegung von Bedürfnissen und
Gesundheitsprioritäten der betreffenden Gemeinschaft niederschlagen.
1.26
Klinische Prüfungen wirken sich zuallererst dadurch positiv auf die medizinische Versorgung
aus, dass sie zu neuen Erkenntnissen führen, die Weitergabe von neuem Wissen und Knowhow und den Zugang zu neuen Therapieformen ermöglichen sowie den Grundstein für
leistungsfähige Strukturen und Einrichtungen legen. Negative Auswirkungen können
allerdings ebenfalls, und zwar dergestalt auftreten, dass das vor Ort existierende
Gesundheitssystem beeinträchtigt wird.
1.27
Die Teilnahme an einer klinischen Prüfung bedeutet stets ein gewisses Risiko für die
Teilnehmer. Entweder erhalten sie ein neues Medikament, dessen potentielle negative
Auswirkungen vielleicht noch unbekannt sind, oder ihnen wird ein Placebo verabreicht, so
dass sie weder die Standard-Therapie erhalten noch ihnen die potentielle positive Wirkung
des zu prüfenden neuen Medikaments zugute kommt.
Ethische Aspekte im Zusammenhang mit kultureller Diversität
1.28
In verschiedenen Kulturen gelten mitunter auch unterschiedliche Werte. Ist der Sponsor der
Forschung ein Vertreter eines paternalistischen oder imperialistischen Ansatzes, wird er dem
Gastland seine eigenen Werte aufzuzwingen suchen. Wenn andererseits die Achtung lokaler
Gebräuche zu Relativismus und Mißachtung von Werten führt, die in Europa als fundamental
angesehen werden, besteht die Gefahr der Doppelmoral.
1.29
Die Art und Weise, wie die Patienten informiert werden, sowie das Vorgehen zur Erlangung
der Zustimmungserklärung können je nach spezifischer Situation des Landes, in dem eine
klinische Prüfung durchgeführt wird, variieren. Maßgebend sind u. a. das
Alphabetisierungsniveau, das Ausmaß wissenschaftlichen Verständnisses und die
Organisation der Gemeinschaft. All dies kann das Einwilligungsverfahren bezüglich der
Teilnahme von Personen, insbesondere von Frauen, an einer klinischen Prüfung beeinflussen.
1.30
Verschiedene Kulturen können bezüglich der Privatsphäre und personenbezogener Daten
unterschiedliche Positionen vertreten. Dies kann sich auf die Akzeptanz bestimmter Aspekte
von Forschungsprotokollen, d. h. die Erhebung von Daten, das Recht auf Zugang zu den
eigenen Daten und das Recht auf Einspruch auswirken.
1.31
Auch Gesellschaften können in verschiedenen Teilen der Welt unterschiedlich organisiert
sein. Während in den europäischen Gesellschaften Individualismus und die Suche nach Glück
einen wachsenden Stellenwert haben, gleichzeitig aber auf Ebene des Staates eine starke
kollektive Solidarität praktiziert wird, um allen den Zugang zu medizinischer Versorgung zu
ermöglichen, räumen andere Gesellschaften der lokalen Gemeinde oder der Familie im
Verhältnis zur staatlichen Solidarität einen höheren Rang ein.
Ethische Aspekte im Zusammenhang mit wirtschaftlichen Unterschieden
1.32
Prinzipiell beruht die Teilnahme an einer klinischen Prüfung auf Freiwilligkeit. Um
Ausbeutung zu verhindern, sollten keine finanziellen oder sonstigen Vergünstigungen
angeboten werden. Der Schutz der Teilnehmer an klinischen Prüfungen in Industriestaaten
wurde über Jahrzehnte hinweg in Übereinstimmung mit den bestehenden sozioökonomischen
Gegebenheiten aufgebaut. Die genaue Übertragung eines solchen Schutzsystems auf die
Entwicklungsländer wird den Teilnehmern nicht denselben Grad an Schutz garantieren, wenn
die soziökonomischen Besonderheiten des Landes nicht berücksichtigt werden. Das Protokoll
kann nicht außer Acht lassen, in welchem Kontext die klinische Prüfung durchgeführt wird. In
einem Kontext von Armut und fehlender medizinischer Versorgung kann die Teilnahme an
einer klinischen Prüfung für den Patienten die einzige Möglichkeit für den Zugang zu
medizinischer Versorgung darstellen.
1.33
Der Umstand, dass Forschung in einem Entwicklungsland durchgeführt wird, beinhaltet für
den Forschungsträger eine zusätzliche Verantwortung gegenüber dem Patienten, aber auch
gegenüber der lokalen Gemeinschaft, in der die Prüfung stattfindet.
Diese Verantwortung geht über das Ende der klinischen Prüfung hinaus.
1.34
Der Zweck einer klinischen Prüfung besteht oft im Vergleich einer neuen Therapieform mit
einem bereits etablierten Verfahren, das jedoch nicht immer allen zugänglich ist. Der Begriff
„verfügbare Therapie“ kann in Abhängigkeit vom jeweiligen medizinischen Standard sehr
verschiedene Situationen umfassen.
In Industrieländern ist die Standardtherapie im günstigsten Fall üblicherweise für alle
Patienten verfügbar, auch wenn sie mit erheblichen Kosten oder dem Einsatz von
Hochtechnologie verbunden ist.
In anderen Fällen haben Patienten keinen Zugang zur Standardtherapie und erhalten eine
weniger wirksame, kostengünstigere Alternativtherapie. Im ungünstigsten Fall steht für die
Patienten überhaupt keine Therapie zur Verfügung. Manche Placebo-kontrollierte Studien
wurden in Entwicklungsländern allein zu dem Zweck durchgeführt, kostengünstigere
Alternativlösungen zu finden, wenn das Standardverfahren aus wirtschaftlichen Gründen
nicht verfügbar war; dieses Vorgehen erweckte Zweifel an der Legitimität der Prüfungen.
Außerdem mag die Tendenz bestehen, ein Placebo einzusetzen, selbst wenn es andere
existierende Therapieformen gibt, da die Verwendung von Placebos in einer klinischen
Prüfung der rascheste, billigste und effizienteste Weg sein kann, die Wirksamkeit eines neuen
Medikaments zu testen. Dann allerdings werden die Patienten in der Kontrollgruppe um die
bestehende erprobte Therapie gebracht.
2. STELLUNGNAHME
Die Gruppe gibt folgende Stellungnahme ab:
GELTUNGSBEREICH DER STELLUNGNAHME
2.1.
Die vorliegende Stellungnahme betrachtet die ethischen Aspekte von klinischen Prüfungen,
die im Rahmen von europäischen Forschungsprogrammen in Entwicklungsländern
durchgeführt werden. Diese Tatsache wirft Fragestellungen ethischer Natur auf, die sich
insbesondere in Bezug auf sozioökonomische Ungleichgewichte und Armut, aber auch auf
kulturelle Unterschiede beziehen. Letztere stellen einen Faktor dar, der die Praxis von
klinischen Prüfungen unabhängig von sozioökonomischen Faktoren beeinflussen kann.
Zudem sind die Begriffe Industrieland und Entwicklungsland selbst sehr vage, da ein
fließender Übergang von sehr armen Ländern bis hin zu Ländern besteht, deren
Lebensstandard dem der Industrieländer sehr nahe kommt. Die Mitglieder der Gruppe weisen
darauf hin, dass die Mehrzahl der in dieser Stellungnahme angesprochenen Probleme auf die
gewaltigen wirtschaftlichen Unterschiede unserer Welt zurückzuführen sind.
Ziel der Stellungnahme ist es, die Kommission bei der Wahrnehmung ihrer Verantwortung
bezüglich der Durchführung von EU-finanzierten Forschungsaktivitäten in Ländern zu
unterstützen, die sich kulturell oder wirtschaftlich vom westeuropäischen Kontext
unterscheiden. Bestimmte Aspekte dieser Stellungnahme könnten auch bei
Forschungsarbeiten Berücksichtigung finden, die kulturelle Minderheiten oder Randgruppen
in Industriestaaten einbeziehen. Schließlich könnte sie auch für die Europäische
Arzneimittelagentur relevant sein.
ALLGEMEINER ANSATZ
2.2
Die Durchführung von EU-Forschungsprogrammen in Entwicklungsländern sollte auf
Solidarität basieren und in Einklang mit der Charta der Grundrechte stehen, die in der
Präambel bestimmt: „[Die Union] gründet sich [...] auf die unteilbaren und universellen Werte
der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität.“ Daher kann
Forschung am Menschen nicht ausschließlich mit einer wirtschaftlichen Tätigkeit
gleichgesetzt werden, die den Gesetzen des Marktes unterworfen ist. Vielmehr muß sie unter
dem Gesichtspunkt der Solidarität und mit Hinblick darauf, dass Gesundheit ein öffentliches
Gut, und nicht eine Ware darstellt, nach Maßgabe grundlegender Prinzipien geregelt werden.
Entsprechend dem universellen Ansatz, für den im Rahmen dieser Stellungnahme optiert
wurde, müssen die grundlegenden ethischen Maßstäbe, die für klinische Prüfungen in den
Industriestaaten gelten, überall Anwendung finden. Auch wenn bei der Umsetzung dieser
Regeln Schwierigkeiten auftreten können, würde ihre Schwächung den grundlegenden
Prinzipien der Menschenrechte und der Menschenwürde sowie ihrer universellen Geltung und
dem Schutz, den sie bieten sollen, widersprechen.
Die grundlegenden ethischen Prinzipien wurden von der Gruppe bereits in früheren
Stellungnahmen ausgeführt. Genannt seien hier insbesondere:
 das Prinzip der Achtung der Würde des Menschen und der Grundsatz der
Nichtausbeutung, Nichtdiskriminierung und Nichtinstrumentalisierung;
 das Prinzip der individuellen Autonomie (das die Erteilung freien und informierten
Zustimmung und die Achtung der Privatsphäre und der Vertraulichkeit
personenbezogener Daten beinhaltet);
 das Prinzip der Gerechtigkeit, der Wohltätigkeit und der Schadensvermeidung,
insbesondere im Hinblick auf die Verbesserung der Gesundheit und den
Gesundheitsschutz;
 das Prinzip der Verhältnismäßigkeit (die eingesetzten Forschungsmethoden müssen
zur Erreichung der verfolgten Ziele erforderlich sein, und es bestehen keine besser zu
akzeptierenden Alternativmethoden).
Diese grundlegenden ethischen Prinzipien liegen den Bedingungen zugrunde, die erfüllt sein
müssen, wenn klinische Forschung so durchgeführt werden soll, wie in zahlreichen
internationalen Leitlinien oder Konventionen bestimmt wurde. Die Bedingungen betreffen
sowohl die Modalitäten der ethischen und wissenschaftlichen Bewertung von
Forschungsprotokollen als auch die Umstände der Erteilung einer freien und informierten
Zustimmung, den Schutz der teilnehmenden Patienten und die Weitergabe der erzielten
Ergebnisse.
Sie sind in allen EU-Staaten rechtswirksam. Doch existiert nicht in allen Ländern, in denen
EU-finanzierte Forschungsarbeiten durchgeführt werden, ein gesetzlicher Rahmen, oder er ist
mangels entsprechender Mittel und Kapazitäten oder geeigneter Verwaltungssysteme nicht
anwendbar.
Die Stellungnahme behandelt bestimmte Forschungsfragen im Zusammenhang mit
Entwicklungsländern.
BESONDERE
THEMEN
ENTWICKLUNGSLÄNDERN
2.3
IM
ZUSAMMENHANG
MIT
UNGLEICHHEIT
Die tiefe Kluft zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern bezüglich
Lebensstandard und Zugang zu medizinischer Versorgung ist ein Beispiel für die
herrschende Ungleichheit in der Welt. Auch wenn die wissenschaftliche Forschung mit ihren
Zielen diese Ungerechtigkeit nicht allein beseitigen kann, sollten die in Entwicklungsländern
durchgeführten Forschungsarbeiten diese Kluft nicht noch weiter vertiefen, sondern sie zu
vermindern suchen. Die im privaten oder öffentlichen Rahmen in Entwicklungsländern
tätigen Forscher haben die moralische Pflicht, konkret zur Überwindung der Ungleichheit
beizutragen.
2.4
PARTNERSCHAFTEN
Die Mitwirkung sämtlicher Partner, sowohl der kostentragenden Institutionen als auch der
Gastländer oder –gemeinschaften, ist in jeder Phase der Forschungstätigkeit wesentlich, von
der Festlegung des Programms und der Forschungsprioritäten bis hin zum Follow-up nach
Abschluß der Prüfungen.
Die Mitwirkung lokaler Wissenschaftler des Gastlandes bereits in einem sehr frühen Stadium
der Planung und Durchführung der Forschungstätigkeit ist entscheidend, wenn eine Kultur der
Zusammenarbeit aufgebaut und nicht Hilfe aus Barmherzigkeit geleistet werden soll. Ihr
Wissen um die Bedingungen vor Ort sowie um lokale Traditionen ist ebenfalls erforderlich,
um die örtlichen Bedürfnisse zu erkennen.
2.5
GLOBALISIERUNG
Im Kontext der Globalisierung der Forschung muß der optimale Schutz des Teilnehmers
unabhängig davon, wo eine klinische Prüfung durchgeführt wird, Vorrang haben: Daher
sollte sie nur dann in Ländern mit einem weniger geeigneten medizinischen Umfeld
stattfinden, wenn dafür zwingende Gründe angeführt werden können. Dies wären
insbesondere folgende:
- Die Prüfung zielt auf bestimmte Gesundheitsprobleme der betreffenden Länder ab, wie
2.6
etwa Tropenkrankheiten;
Die Prüfung bezieht sich auf Krankheiten, die zwar auch in Industrieländern, besonders
häufig jedoch in Entwicklungsländern auftreten;
Die Prüfung dient der Entwicklung von Therapieformen, die für das betreffende Land
von besonderem Interesse sind (etwa eine neue, kostengünstigere Therapie).
UMGANG MIT INTERESSENKONFLIKTEN
Die Werte und ethischen Grundsätze sowohl der kostentragenden Stellen als auch des
Gastlandes müssen respektiert werden. Sie gehen implizit oder explizit aus Regelwerken
oder bestimmten Gepflogenheiten hervor. Im Falle von Interessenkonflikten der Partner
sollte jede nur erdenkliche Anstrengung unternommen werden, um auf dem
Verhandlungswege Lösungen herbeizuführen, ohne dadurch jedoch Abstriche bei der
Achtung der grundlegenden ethischen Prinzipien zu machen. Menschenrechte müssen in all
diesen Ländern explizit geachtet werden. Ist keine Lösung zu erzielen, muss jede Partei ein
Vetorecht besitzen.
2.7
FREIWILLIGE EINWILLIGUNG NACH AUFKLÄRUNG
Die Einbeziehung von Menschen, die die lokalen Bedingungen und Traditionen kennen und
imstande sind, die Interessen der Betroffenen zu verteidigen, ist erforderlich, um die besten
Verfahren zur Information der potentiellen Prüfungsteilnehmer sicherzustellen.
Je nach Gegebenheiten vor Ort kann es hilfreich sein, von Repräsentanten der Gemeinschaft
oder Personen, denen die Gemeinschaft eine gewisse Autorität zuerkennt, oder von der
Familie die Zustimmung zur Durchführung eines Forschungsprojekts einzuholen. Dennoch
muß immer die Person, die an einer Prüfung teilnimmt, die freie und informierte Zustimmung
selbst abgeben.
2.8
ETHIK-KOMMISSION
Die wissenschaftliche und ethische Bewertung des Forschungsprotokolls sollte von EthikKommissionen aller beteiligten Länder vorgenommen werden. Die Gastländer müssen dazu
über einen rechtlichen und ethischen Rahmen verfügen, um an der Auswertung der klinischen
Prüfung effizient und unabhängig teilnehmen zu können. Die Gruppe unterstützt
nachdrücklich EU-Initiativen zum Aufbau lokaler Ethik-Kommissionen in den Gastländern,
was unter dem Gesichtspunkt des Aufbaus von leistungsfähigen Strukturen und Einrichtungen
als Priorität angesehen werden sollte. Besteht keine lokale Ethik-Kommission, soll die
Bewertung von einem gemischten Ausschuss vorgenommen werden, der sich aus Vertretern
der EU-Mitgliedstaaten und der Gastländer zusammensetzt. Die Mitglieder dieses
Ausschusses müssen unabhängig sein; dem Ausschuss müssen Personen angehören, die
Patienteninteressen wahrnehmen. Falls es nicht möglich ist, dass ein unabhängiger lokaler
Vertreter an der Bewertung mitwirkt, sollten in dem betreffenden Land keine klinischen
Prüfungen durchgeführt werden.
2.9
BEWERTUNG
Bei der Bewertung eines Forschungsprotokolls sollte besonderes Augenmerk auf folgende
Themen gerichtet werden:
- Relevanz der Durchführung der Forschung in einem Entwicklungsland. Besondere
Aufmerksamkeit ist geboten, wenn das Ziel der klinischen Prüfung nicht mit den
Gesundheitsprioritäten des Gastlandes übereinstimmt;
- Risiko-Nutzen-Verhältnis für den Einzelnen und für die Gemeinschaft;
- Auswirkungen nach Projektabschluss. Der erwartete Nutzen für die lokale Gemeinschaft,
innerhalb der die Prüfung stattfindet, sollte insbesondere hinsichtlich des zukünftigen
Zugangs zur potentiellen neuen Therapie, zum Technologietransfer und zum Aufbau von
Strukturen und Einrichtungen detailliert beschrieben werden;
- Einbindung der Gemeinschaft auf verschiedenen Stufen des Prozesses (Zielfestlegung,
Ausarbeitung des Protokolls und der Modalitäten der freien und informierten Zustimmung
usw.).
Die Gruppe merkt an, dass die Finanzierungsbedingungen des Projekts und das Entgelt für die
Mitarbeiter an klinischen Versuchen ungeachtet des Orts/Landes der Durchführung von
Forschungsarbeiten transparent sein sollten, um unangemessenen Druck oder den möglichen
Verlust der Unabhängigkeit zu vermeiden.
2.10 PLACEBOS
Im Prinzip sollte der Einsatz von Placebos in Entwicklungsländern nach denselben Regeln
erfolgen wie in europäischen Ländern. Jegliche Ausnahme muß gerechtfertigt werden: Ein
offensichtlicher Grund besteht, wenn das vorrangige Ziel der klinischen Prüfung der
vereinfachte Zugang zu Therapien oder eine Kostensenkung ist; dies ist in Ländern der Fall,
wo die Standard-Therapie aus logistischen oder finanziellen Gründen nicht verfügbar ist. Hier
kann es somit gerechtfertigt sein, von der Regel des besten erprobten Verfahrens
abzuweichen. Die Begründung für die Verwendung eines Placebos muß eindeutig aus dem
Forschungsprotokoll hervorgehen, das den Ethik-Kommissionen vorgelegt wird und
insbesondere von der lokalen Kommission gebilligt werden muß.
Nach Ansicht zweier Mitglieder der Gruppe könnte die Verwendung von Placebos zum
Zweck der Entwicklung von kostengünstigen Therapien allerdings bedeuten, dass
unterschiedliche Maßstäbe für arme und reiche Länder akzeptiert werden. Die in
Entwicklungsländern durchgeführte Forschung könnte so zu einem Teufelskreis führen:
Einerseits tragen klinische Prüfungen in Entwicklungsländern zur Entwicklung neuer
Therapien bei, die in den reichen Ländern patentiert werden können, dann aber für arme
Länder unerschwinglich sind, andererseits ist die Nichtverfügbarkeit von
Therapiemöglichkeiten in den ärmsten Ländern teilweise durch die Patentkosten bedingt.
2.11
SCHUTZ DER PATIENTEN
Versicherung, Haftungs- und Schadensversicherung für die Teilnehmer an einer klinischen
Prüfung und ihre Angehörigen müssen unabhängig vom Ort der Durchführung der Prüfung
denselben Standards entsprechen.
2.12 THERAPIEVERSORGUNG WÄHREND DER PRÜFUNGEN
In den Industrieländern wird die zur klinischen Prüfung eingesetzte Referenz-Therapie
zumeist von den öffentlichen Gesundheitsdiensten, das neue Medikament vom Sponsor zur
Verfügung gestellt. Wird eine Prüfung in einem Land oder einer Gemeinschaft durchgeführt,
in der die Patienten aus Kostengründen nicht die Standard-Therapie erhalten, hat der Sponsor
für sie aufzukommen.
2.13 THERAPIEVERSORGUNG NACH ABSCHLUSS DER PRÜFUNG
In Industrieländern ist es üblich, ein erprobtes neues Medikament, das sich als wirksam
erwiesen hat, nach Beendigung der klinischen Prüfung unentgeltlich an sämtliche Teilnehmer
abzugeben, solange es noch nicht über das reguläre Gesundheitssystem erhältlich ist. Dies
muß auch in Entwicklungsländern gelten, selbst wenn das Medikament gegebenenfalls für die
gesamte Lebensdauer zur Verfügung gestellt werden müßte. Darüber hinaus sollte eine
Verpflichtung dazu bestehen, dass die klinische Prüfung auch der Gemeinschaft zugute
kommt, die an der Entwicklung des Medikaments mitgewirkt hat. Dieser Verpflichtung kann
nachgekommen werden, indem z.B. die Versorgung der Gemeinschaft mit dem Medikament
zu einem erschwinglichen Preis sichergestellt wird oder erforderliche Strukturen und
Einrichtungen aufgebaut werden. Im Protokoll klinischer Prüfungen muß angegeben sein, wer
die Nutznießer sind, und auf welche Weise und wie lange sie begünstigt werden. Um
Konflikte mit Patentrechten zu vermeiden, sollten die Ergebnisse der Forschung als
öffentlicher Besitz angesehen werden, wenn sie vorwiegend mit öffentlichen Mitteln
finanziert wurde. Andernfalls sollte ein System von Zwangslizenzen für Entwicklungsländer
ins Auge gefaßt werden, wie die Gruppe bereits in der Stellungnahme Nr. 162 betonte.
2.14 BEKANNTGABE DER ERGEBNISSE
Die an einer klinischen Prüfung beteiligten Wissenschaftler und Ärzte sowie die Teilnehmer
sollten über die Ergebnisse der Prüfung informiert werden. Auch negative Ergebnisse müssen
veröffentlicht und zugänglich gemacht werden. Generell sind die gewonnenen Erkenntnisse
aus einem Forschungsprojekt in einem Entwicklungsland der wissenschaftlichen Gemeinde
und der Bevölkerung des betreffenden Landes wirkungsvoll zugänglich zu machen. Der Rolle
von lokalen Wissenschaftlern und klinischen Personal im Forschungsprojekt sollte im
Rahmen von Publikationen und Patenten auf angemessene Weise Rechnung getragen werden.
2.15 SCHLUSSFOLGERUNG
Die Finanzierung von Forschung zur Eindämmung besonders akuter Gesundheitsprobleme
der Entwicklungsländer ist allein schon aus Gründen der Solidarität gerechtfertigt. Die
Gruppe begrüßt daher die EU-Politik der Finanzierung von Forschung in
Entwicklungsländern zur Bekämpfung von Armutskrankheiten.
Stellungnahme zu den ethischen Aspekten der Patentierung von Erfindungen im Zusammenhang mit menschlichen
Stammzellen, veröffentlicht am 7. Mai 2002, Punkt 2.9: „Die Europäische Gruppe für Ethik unterstreicht die Tatsache, dass
es Aufgabe der Staaten ist, ein gesetzliches Verfahren für Zwangslizenzen einzuführen und zu prüfen, ob der unbehinderte
Zugang zur medizinischen Versorgung ein solches Verfahren rechtfertigt.“
2
Die Europäische Gruppe für Ethik der Naturwissenschaften und der Neuen Technologien
Der Vorsitzende: Göran Hermerén
Die Mitglieder:
Nicos C. Alivizatos
Inez de Beaufort
Rafael Capurro
Yvon Englert
Catherine Labrusse-Riou
Anne Mc Laren
Linda Nielsen
Pere Puigdomenech Rosell
Stefano Rodota
Günter Virt
Peter Whittaker
\\BXL-DOSSIERS\DOSSIERS\GOPA\GOPA-2003-00132\GOPA-2003-00132-01-00-DETRA-00.DOC
Comparaison final avis 17 – 9 jan
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