Max Webers - Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie

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Werner Gephart
Einführung
in die Rechtssoziologie
Max Webers
Vorlesung im Sommersemester 2003
In Zusammenarbeit mit Heinrich Gbur
1
Prof. Dr. jur. Werner Gephart - Seminar für Soziologie
Adenauerallee 98a - 53113 Bonn
Einführung in die „Rechtssoziologie“ Max Webers (SoSe 2003)
Veranstaltungstyp: Grundlagenveranstaltung
Zeit: Do 16.00-18.00 Uhr HS G (Juridicum)
Sprechstunde: im Anschluss an die Veranstaltung sowie nach Vereinbarung
Übersicht
Erste Vorlesung ................................................................................................... 4
Zum schwierigen Verhältnis von Rechtswissenschaft
und Soziologie
Zweite Vorlesung............................................................................................... 48
Recht und soziologische Begriffsbildung.
Die Geburt der Soziologie aus dem Geist der Jurisprudenz
Dritte Vorlesung ................................................................................................ 71
Gesellschaft, Handeln, Recht und Ordnung.
Juristischer und soziologischer Begriff des Rechts
Vierte Vorlesung................................................................................................ 87
Dimensionen des „rationalen“ Rechts
Fünfte Vorlesung ............................................................................................. 102
Recht und Kultur. Kulturelle Aspekte des Rechts in der deutschen
Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts
2
Sechste Vorlesung ........................................................................................... 116
Die Rationalisierung des
Eigengesetzlichkeit des Rechts
Rechts
als
Entfaltung
der
Siebte Vorlesung.............................................................................................. 145
Recht und Religion in der Entwicklung des Rechts
Schluss ............................................................................................................. 171
Die
Gefährdung
der
rationalen
Rechtskultur.
Materiale
Gerechtigkeit statt formaler Rationalität
Bibliographie .................................................................................................. 177
3
ERSTE VORLESUNG
Zum schwierigen Verhältnis von
Rechtswissenschaft und Soziologie
Ich möchte Ihnen in dieser Vorlesung die soziologische Betrachtung des Rechts
nahe bringen. Es ist eine andere als die in „der“ Rechtswissenschaft gepflegte.
Auch hier müsste man unterscheiden: zwischen einer rechtsdogmatischen,
rechtshistorischen oder einer über das Recht reflektierenden Disziplin, wie der
Rechtstheorie, der Allgemeinen Rechtslehre oder der Rechtsphilosophie.
Was zeichnet also die soziologische Betrachtung des Rechts bzw. eine
rechtssoziologische Spezialdisziplin aus, wie unterscheidet sie sich von der
juristischen Betrachtung des Rechts und was kann sie für die Fragestellungen
der Jurisprudenz, nicht zuletzt eine Antwort auf die quid-juris-Frage zu geben,
tatsächlich leisten? Das sind noch Vorfragen einer Soziologie des Rechts bzw.
einer rechtssoziologischen Betrachtung des Rechts, deren Beantwortung freilich
ganz entscheidend für die Rolle ist, die der Soziologie im juristischen
Forschungszusammenhang legitimerweise zugewiesen werden kann.
Um Ihnen diese für das Verhältnis von Jurisprudenz und Soziologie auch
faktisch zentrale Fragestellung zu vermitteln, habe ich mich dazu entschieden,
einen Klassiker der Rechtssoziologie ins Zentrum der Darstellung zu rücken,
der in besonderer Weise geeignet erscheint, dieser schwierigen Beziehung
Rechnung zu tragen und der gleichzeitig wichtige, materiale Beiträge für die
Entwicklung der Rechtssoziologie geleistet hat. Und nicht nur dies: Max
Weber gilt für die Mutterdisziplin der Soziologie, als eine der bedeutenden, für
manche gar als die mythische Gründergestalt. Wie wir im Verlauf der
Vorlesung sehen werden, ist Weber in besonderer Weise also für eine solche
exemplarische Rolle der Vermittlung von juristischer und soziologischer
Betrachtungsweise des Rechts prädestiniert. Denn Weber war Jurist, hatte eine
glänzende Juristenkarriere im Kaiserreich durchlaufen, vom ersten
Staatsexamen bis zur zweiten Staatsprüfung, juristischer Promotion und
Habilitation, bevor er, über den Umweg der Nationalökonomie, schließlich
zum Begründer, wenn nicht Erfinder der Soziologie in Deutschland wurde.
Allein diese Entwicklung belegt, dass es nicht nur darum geht, wie sozusagen
4
die frohe Botschaft der Soziologie, wie traurig sie auch immer sein mag, der
Jurisprudenz zu überbringen ist, sondern auch den Spuren des Rechts in der
Entwicklung der Soziologie nachzugehen. Denn machen wir uns nichts vor:
Den Juristen erscheint die Soziologie leicht als ein Heilsbringer, der seine
Versprechungen, normative Probleme zu lösen, gar nicht einhalten kann –
übrigens aus zwingenden logischen Gründen wie wir sehen werden –, während
die Soziologie ihrerseits sich ihrer juristischen Erbschaft nur ungern erinnern
möchte.
Es gilt also nicht nur einer Reserviertheit der Rechtswissenschaft gegenüber der
Soziologie auf den Grund zu gehen, sondern auch umgekehrt zu fragen warum
das Recht eine Art „Stiefkind“ der Soziologie geworden ist, obwohl in der
Gründungsphase der Disziplin, Rechtswissenschaft und Soziologie so eng
miteinander verzahnt waren, dass man von einer „Geburt der Soziologie aus
dem Geist der Jurisprudenz“ sprechen könnte. Dies möchte ich Ihnen in
wenigen Gedankenstrichen in einem ersten Schritt zunächst darlegen (I), um
sodann darauf einzugehen, wie bei unserem Autor, Max Weber, das Verhältnis
von soziologischer und juristischer Betrachtung des Rechts bestimmt wird (II).
Anschließend werden wir sehen, wie Differenzen und Gemeinsamkeiten der
normativen und empirischen Betrachtungsweise von Recht am Beispiel einer
sozialwissenschaftlichen Grundfrage aufscheinen, in der sich Rechtsphilosophie
und Soziologie in der Fragerichtung treffen: dem Problem sozialer Ordnung
(III).
5
II.
Das Recht als „soziologisches Stiefkind“
„After the brilliant start by Durkheim and Max Weber about the turn of the
century, it is something of a mystery why the social sciences and particularly,
perhaps, sociology have shown so little interest in the study of law and legal
systems.”1
1. Auf die von Parsons formulierte Frage, warum denn die Sozialwissenschaften
nach dem glänzenden Auftakt bei Durkheim und Weber das Interesse am Recht
verloren haben, gibt es eine Reihe von denkbaren Antworten: Zunächst
figurieren „Klassiker“ zwar als Orientierungspunkte einer Disziplin, die mit
ihrer Identität noch immer Probleme hat,2 gleichwohl bleibt die Ausschöpfung
des Potenzials der Klassiker hinter den verbalen Beschwörungen von
Rezipienten vielfach zurück, während die Orientierung an den Klassikern
anderen wiederum viel zu weit geht. Dies lässt sich gerade  wie wir sehen
werden – am Beispiel der soziologischen Betrachtung von Recht belegen.
2. Es liegt aber auch die Vermutung nahe, die Schwierigkeiten der Soziologen
mit dem Recht3 auf das zu untersuchende Objekt zurückzuführen: nämlich
Struktureigenschaften des modernen Rechts selbst. Damit ist die zwangsläufige
Fremdheit des modernen Rechts für alle diejenigen gemeint, die nicht zur
„Profession“ der Juristen gehören. Der moderne „Mythos“ des Rechts besteht
vor allem darin, dass er für den Laien undurchdringlich ist, während die
Nachmittags-Court-TV-Shows gerade an dieser Illusion arbeiten: der
Verstehbarkeit des Rechts. Insofern findet sich der Sozialwissenschaftler in
einer vergleichbaren Situation zum Betroffenen, der sein Recht „sucht“. Die
praktischen Zugangsbarrieren zum Recht mögen durch allerlei Vorkehrungen
unterlaufen werden; für die theoretischen hat es sich erwiesen, dass schlichte
interprofessionelle Verständigung nicht ausreicht. Die hierfür erforderlichen
1
2
3
Vgl. Talcott Parsons, Law as an Intellectual Stepchild, in: H.M. Johnson (Hrsg.), Social
System and Legal Process, San Francisco 1977, S. 11-58.
Wolf Lepenies hat diesen Gesichtspunkt in seiner Geschichte der Soziologie, 4 Bde.,
Frankfurt am Main 1981, in den Vordergrund gerückt.
Helmut Schelsky kommt von der soziologischen Seite her das Verdienst zu, diese
Barrieren überwunden zu haben. Vgl. insbesondere die Aufsatzsammlung Die Soziologen
und das Recht, Opladen 1980.
6
kommunikativen Voraussetzungen haben in dem Austausch von
Sozialwissenschaften und Jurisprudenz offensichtlich in nur unzureichender
Weise vorgelegen.4 Dennoch bleibt zu bezweifeln, ob es an der Misere der
Diskursbedingungen liegt, oder ob es nicht „tiefer“ liegende Momente für die
merkwürdige Fremdheit von Soziologie und Jurisprudenz gibt.
3. Die paradoxe These lautet, dass die Entfremdung gerade auf einer allzu
großen Nähe beruht,5 in der die Ursprünge des soziologischen Denkens und der
soziologische Gehalt der juristischen Denkformen im Dunkeln blieben. Max
Weber hat vor allem die methodologischen Differenzen von juristischem und
soziologischem Denken in aller Schärfe pointieren wollen, wie wir später noch
sehen werden; dabei ist freilich der juristische Hintergrund nicht nur in der
Kategorienlehre äußerst eindrucksvoll, wenn man den Blick auf diesen
Zusammenhang einmal eingestellt hat. Es würde in umgekehrter Richtung die
durchgängige Soziologiefremdheit vieler Juristen plausibel machen, die auf der
Suche nach dem Neuen häufig enttäuscht werden: Entweder sind die erwarteten
naturwissenschaftlichen Aussagen mit den intrinsischen Schwächen
entsprechender Hypothesen im Bereich der Sozialwissenschaften belastet, oder
die Entfaltung von Theoriegebäuden entpuppt sich als eine schlichte Imitation
von „Begriffsjurisprudenz“, die man doch überwunden glaubt. Wenn aus dieser
Situation gerade ein exponierter Vertreter der Rechtssoziologie, Niklas
Luhmann, das Lob der Dogmatik anstimmt, wird es dem Juristen auch noch
leicht gemacht, sich auf dem beruhigten Gewissen eines traditionsreichen
Faches auszuruhen.
Nun ist der Versuch immer reizvoll, festgefahrene Diskussionen durch die
Umkehrung der Perspektive wieder in Gang zu setzen. Die These von der
Jurisprudenz als besserer Soziologie freilich ist hierfür riskant: Die Soziologen
würden damit endgültig von der Sozialwissenschaft ausgeschlossen und die
Juristen müssten sich in ihren Abwehrmechanismen bestärkt fühlen. Wir
kommen damit zur vierten These, die zum Verständnis der systematischen
Vernachlässigung von Recht in der Soziologie des „nachklassischen Zeitalters“
4
5
Vgl. zu dieser Problematik das jüngst von Doris Lucke herausgegebene Schwerpunktheft
der Zeitschrift für Rechtssoziologie, 1988 (Heft 2) über die Verwendung soziologischen
Wissens in juristischen Zusammenhängen.
Als allgemeines wissenschaftsgeschichtliches Problem ist dies von Wolf Lepenies unter
dem
treffenden
Bild
Gefährliche
Wahlverwandtschaften.
Essays
zur
Wissenschaftsgeschichte, Stuttgart 1989, erfasst.
7
führen soll. Weder die mangelnde Klassikerrezeption innerhalb der Soziologie,
noch die Struktureigenschaften des modernen Rechts selbst und auch nicht die
heimliche Wahlverwandtschaft von Rechtswissenschaft und Soziologie sind
ausreichende Erklärungsmomente.
4. Vielmehr scheinen eigendynamische Momente der Disziplinentwicklung
mitzuspielen, die zu einer Umkehrung der ehemals engen Verzahnung von
Gesellschaftstheorie und Soziologie des Rechts geführt haben. Talcott Parsons
sucht seine Antwort auf das „Mysterium“ des Verschwindens von Recht in der
Soziologie aus der Eigenart der Fachentwicklung selbst zu begründen. In einer
weit ausholenden wissenschaftsgeschichtlichen Perspektive6 zeigt er auf, mit
welchen Schwierigkeiten die traditionsreiche „ökonomische“ Perspektive zu
kämpfen hat, wenn sie Recht erfassen will: im klassischen Utilitarismus
interessiert Recht nur am Rande, als Randbedingung ökonomischen Handelns
und der moderne Utilitarismus in seiner Variante des Marxismus könne Recht
nur als abhängige Variable der Produktionsverhältnisse begreifen. Neben einer
„ökonomischen“ Perspektive, die in der Systemlogik von Parsons als Ausfluss
von „Ökonomie“ im sozialen Handlungssystem zu verstehen ist, wird die
Dominanz der „politischen“ Sichtweise für eine Verfehlung der eigentümlichen
Problemstellung von Recht verantwortlich gemacht. Und hierfür ist gerade Max
Weber belangt, der zwar in besonderer Weise als Jurist und Soziologe  wie
Parsons bemerkt  dem Recht auf der Spur war; aber in der Betonung des
Zwangsmomentes komme eine unstatthafte Nähe zur politischen
Problemstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungsfindung zum Ausdruck,
hinter der die Autonomie des Rechts auch bei Weber verblassen würde.7
Demgegenüber stellt die „kulturelle“ Betrachtungsweise von Recht auf die
steuernde Kraft übergeordneter Werte und Normen ab, in der die
Eigengesetzlichkeit von Recht nunmehr aus „kultureller“ Fremdsteuerung
verloren ginge. Allein die „gemeinschaftliche“ Perspektive loziert Recht in
dem Funktionsfeld, das zugleich für Parsons den Kernbereich der
soziologischen Perspektive überhaupt darstellt: die Integrationsebene. Dennoch
gibt es auch aus diesem Blickpunkt, in dem das Problem der Erzeugung
gesamtgesellschaftlicher Solidarität im Vordergrund steht, eine ausgearbeitete
Theorie des Rechts noch nicht. Demnach fällt das Recht – wie Parsons
6
7
Vgl. Talcott Parsons, Law as an Intellectual Stepchild, a.a.O.
Wir werden in unserer Lektüre Webers zeigen, dass dieses Bild nicht zutrifft.
8
zugesteht – durch die Maschen der ökonomischen, politischen, kulturellen und
auch gemeinschaftlichen Perspektiven hindurch. In der Logik des späten
Parsons liegt die Richtung einer Lösung auf der Hand: Recht muss als
Phänomen begriffen werden, das als Interpenetration von ökonomischer,
politischer, gemeinschaftlicher und kultureller Sphäre konstituiert wird.
Wie sehr Webers Auffassung vom Recht sich in diesem analytischen Schema
deuten lässt, werden wir im Verlauf der Vorlesung sehen:
Disziplingeschichtlich ist dieser Vorgang als Abkoppelung der
Gesellschaftstheorie vom Recht und seiner Analyse zu begreifen, nachdem in
der Soziologie Max Webers und Emile Durkheims eine überaus enge
Verbindung zwischen Gesellschaftstheorie und Rechtsanalyse bestanden hatte.
Es ist daher kein Zufall, wenn mit der Wiederentdeckung der Klassiker für die
soziologische Theorie auch das Recht wieder theoriefähig geworden ist.
„Recht“ hat damit in zentralen Ansätzen der jüngeren Theoriediskussion seinen
strategischen Platz zurückgewonnen.8 Die Gesellschaftstheorie greift das Recht
wieder auf, ohne dass freilich ersichtlich wäre, in welchem Ausmaß sie
ihrerseits von der Analyse des Rechts als einer zentralen Struktur des sozialen
Lebens profitiert hat. Dieser Zusammenhang ist in der Aufbruchphase der
Soziologie sinnfällig.
Diese ambivalente Einschätzung von Recht ist eng mit der Mehrdeutigkeit
sozialer Ordnung verknüpft. Wie „Ordnung“ und „Recht“ in der parallelen
Deutung von soziologischer Theorie und Rechtsphilosophie verknüpft sind,
bildet den später nachfolgenden theoretischen Bezugsrahmen unserer
Rekonstruktion der Wechselwirkung von Gesellschaftstheorie und Recht.
8
Während sich die Rechtssoziologie – von wenigen Ausnahmen (etwa Luhmann)
abgesehen – zu einer soziologischen Teildisziplin entwickelt hat. Diese wird in der
Bundesrepublik institutionell über die Fachgemeinschaft der Rechtssoziologischen
Vereinigung und die Sektion Rechtssoziologie in der DGS sowie eigene Zeitschriften
(Zeitschrift für Rechtssoziologie) und Periodica (Jahrbuch für Rechtssoziologie und
Rechtstheorie) sowie die Einrichtung von Lehrbüchern befördert.
9
I.
Die Unterscheidung von
juristischer und soziologischer Betrachtungsweise
„Wenn von ‚Recht‘, ‚Rechtsordnung‘, ‚Rechtssatz‘ die Rede ist, so
muß besonders streng auf die Unterscheidung juristischer und
soziologischer Betrachtungsweise geachtet werden.“9
Für das Verständnis Webers ist die Art der Unterscheidung von juristischer und
empirischer Betrachtungsweise grundlegend. Sie berührt schwierige Probleme
seiner Wissenschaftslehre, die wir hier nur in einem ersten Anlauf behandeln
wollen.10 Das Problem der Unterscheidung empirischer und normativer
Betrachtungsweise zieht sich wie ein roter Leitfaden durch das gesamte Werk
von der „Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter“, der juristischen
Promotion, über seine verschiedenen Aufsätze zur Wissenschaftslehre bis in
sein Hauptwerk „Wirtschaft und Gesellschaft“ hinein. Ich möchte Sie im
Folgenden mit den Grundgedanken dieser Unterscheidung anhand einiger
markanter Zitate konfrontieren, aus dem die These einer radikalen logischen
Trennung von juristischer und empirischer Begriffsbildung, normativer und
empirischer Geltung einer Regel, sowie empirischer und juristischer
Betrachtungsweise deutlich hervorgeht, die gleichzeitig behauptet, dass
rechtssoziologische Erkenntnis nur im Hinblick auf den möglichen normativen
Sinn einer Norm überhaupt möglich sei und die Frage empirischer Geltung sich
von dem „idealen“ Sinn der Norm zu lösen habe, um die Faktizität der Geltung
zu erfassen.
1. „Juristische Konsequenzmacherei“
9
10
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 181.
Vgl. die nach wie vor hervorragende Darstellung bei Fritz Loos, Zur Wert- und
Rechtslehre Max Webers, Tübingen 1970, S. 93 ff.
10
und „soziale Theorie“
Interessant ist ein wenig beachteter Ausgangspunkt in der juristischen
Dissertation Webers. Hier ist der Rechtshistoriker nämlich äußerst skeptisch
inwieweit zum rechtshistorischen Verständnis der
Solidarhaftung der
Gesellschafter der Bezug auf Vorstellungen einer „Gesamtperson“
philosophischer Provenienz erforderlich sei, oder aber eigengesetzliche
Überlegungen der juristischen Problemlage zur Geltung kommen. Webers
Antwort ist negativ: „Wieder ein Beweis dafür, wie weit juristische
Konsequenzmacherei Grundlage der einzelnen Entscheidungen der Juristen ist
und wie wenig man deshalb berechtigt ist, darin Ausflüsse einer tiefliegenden
philosophischen oder sozialen Theorie zu sehen.“11
2. Normativer Sinn des juristischen Begriffs,
faktische Wirkungsweise der Rechtsvorstellung
und die Vorbildfunktion der normativen für die empirische
Begriffsbildung
In den methodologischen Arbeiten Webers bricht sich dann eine radikale
Trennung der juristischen und der soziologischen Betrachtungsweise Bahn, die
zuerst in dem Aufsatz über „Roscher und Knies“ formuliert ist. Mit dem
Aufsatz über „Roscher und Knies und die logischen Probleme der
Nationalökonomie“ wird die Folge methodologischer Schriften eröffnet, die
zunächst noch ganz im Zeichen der schweren Erkrankung Webers steht. Aus
Nervi schreibt Weber noch am 3.1.1903: „Ich hoffe, wenigstens die
Stoffeinteilung für den Rest dieser verfl... Arbeit mit nach Hause zu bringen.“12
Am Ende macht Weber die Arbeit zu Roscher und Knies gar für den
unvermeidlichen Rücktritt vom Amt verantwortlich. Dabei merkt Marianne
Weber über diese „lastende methodologische Zufallsarbeit“13 kritisch an: „Sie
11
12
13
Max Weber, Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter. Nach
südeuropäischen Quellen, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und
Wirtschaftsgeschichte, hrsg. von Marianne Weber, Tübingen 1988 (zuerst 1924), S. 312443 (S. 431).
Zit. bei Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild, Tübingen 1926, S. 274.
Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild, a.a.O., S. 278.
11
führt Weber zum erstenmal von konkreter Stoffgestaltung fort in weitschichtige
logische Problematik hinein und zwingt zur kritischen Durchdringung schon
gesponnener und teilweise veralteter Gedankengewebe. Dies ist an sich nicht
anregend, denn es springen dabei keine neuen Einsichten in die Realität
heraus.“14 Aber für das Verständnis der uns interessierenden Frage nach der
Rolle juristischer Begriffsbildung und ihrer möglichen empirischen Bedeutung
ist der Beitrag grundlegend. So wird die juristische Begriffsbildung einer
„kausalen“ gegenübergestellt: „Sie erfolgt, soweit sie begriffliche Abstraktion
ist, unter der Fragestellung: wie muß der zu definierende Begriff X gedacht
werden, damit alle diejenigen positiven Normen, welche jenen Begriff
verwenden oder voraussetzen, widerspruchslos und sinnvoll, neben- und
miteinander bestehen können?“15 Dies könne man zwar teleologische
Begriffsbildung nennen, um diese „eigenartige ‚subjektive Welt‘ der
juristischen Dogmatik“ zu kennzeichnen.
Juristische Begriffsbildung ist also Abstraktion, die den zu bildenden Begriff im
Hinblick auf seine Vereinbarkeit mit anderen Rechtsnormen, also im Sinne der
Widerspruchsfreiheit systematisch ausformt. Dieser systematisierende
Blickwinkel dogmatisch-normativer Sinnfindung verliert sich, sobald der von
seinem Ursprung her juristische Begriff in einen empirischen Zusammenhang
gerät: „Für letztere (die juristische Dogmatik W.G.) steht der begriffliche
Geltungsbereich gewisser Rechtsnormen, für jede empirisch-geschichtliche
Betrachtung dagegen das faktische ‚Bestehen‘ einer ‚Rechtsordnung‘, eines
konkreten ‚Rechtsinstituts‘ oder ‚Rechtsverhältnisses‘ nach Ursachen und
Wirkungen in Frage. Sie finden als diesen ‚faktischen Bestand‘ in der
historischen Wirklichkeit die ‚Rechtsnormen‘ einschließlich der Produkte der
dogmatisch-juristischen Begriffsbildung lediglich als in den Köpfen der
Menschen vorhandene Vorstellungen vor, als einen der Bestimmungsgründe
ihres Wollens und Handelns neben anderen, und sie behandeln diese
Bestandteile der objektiven Wirklichkeit wie alle anderen: kausal zurechnend.
Das ‚Gelten‘ eines bestimmten ‚Rechtssatzes‘ kann z.B. für die abstrakte
14
15
Ebd.; Max Weber sieht dies freilich anders: „Ausdrücklich sei dabei bemerkt, daß die
Frage, ob dabei für die praktische Methodik der Nationalökonomie etwas ‚herauskommt‘,
a limine abgelehnt wird.“ (in: Roscher und Knies und die logischen Probleme der
historischen Nationalökonomie, S. 1-145, hier S. 46/Fn. 2, in Max Weber, Gesammelte
Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. von Johannes Winkelmann, Tübingen 1988.)
Max Weber, Roscher und Knies, a.a.O., S. 86 f.
12
ökonomische Theorie unter Umständen begrifflich sich auf den Inhalt
reduzieren: daß bestimmte ökonomische Zukunftserwartungen eine an
Sicherheit grenzende faktische Chance der Realisierung haben.“16 Wenn Weber
nun von dem „begrifflichen“ Geltungsbereich eines Rechtssatzes, also doch
wohl im Sinne der Begriffsjurisprudenz gewonnenen Bestimmung des
normativen Normsinnes, den faktischen Geltungsbereich, bzw. das „faktische
Bestehen“ einer Rechtsordnung oder eines Rechtsinstituts, unterscheidet, dann
stellt sich die Frage, wie diese „Faktizität“ denn vermittelt sein soll. Bedeutet es
die Befolgung des Normsinnes, oder die Anerkennung des normativen
Geltungsanspruchs und wie soll die Brücke aus dem heterogenen „Reich des
Normativen“ in das der „empirischen Wirklichkeit“ geschlagen werden? Hier
betont Weber, dass diese Verbindung nicht über den Weg äußeren Verhaltens,
indem die beobachtete Wirklichkeit also mit dem normativ gebotenen Verhalten
verglichen würde, sondern indem der Normgehalt, bzw. dogmatische
Rechtsinhalt, sich in den Repräsentationen des Akteurs als ein Handlungsmotiv
wiederfindet, d.h. der empirische Geltungsbereich, bzw. der faktische Bestand
einer Rechtsordnung oder eines Rechtsinstituts ist über die
handlungsmotivierende „Vorstellung“ von der Geltung der Norm vermittelt.
Insofern reicht also die normative Welt in die empirische hinein, was im
Übrigen auch die selbstverständliche Erwartung jeder Rechtssetzung ist, dass
sie handlungsrelevant werde. Nur: ob dieses auch geschieht, ist eine empirisch
offene Frage, die nicht im Wege äußeren Zwangs verläuft, also nicht
ausschließlich durch einen Erzwingungsstab zu bewerkstelligen ist, sondern
durch Einwirkung auf die Vorstellungskraft „in den Köpfen“ der
Rechtsunterworfenen erfolgt. Damit hat Weber also implizit wichtige Aussagen
über die Wirkungsweise von Recht im normativen Sinne getroffen.
Hiervon zu unterschieden ist freilich ein neuer Gedanke, dass die „politische
oder soziale Geschichte“, von der Weber hier spricht, terminologisch auf
juristische Begriffsbildung im Zusammenhang kausal-historischer Zurechnung
zurückgreift: „Und wenn die politische oder soziale Geschichte juristische
Begriffe verwenden – wie sie dies fortwährend tun – so wird das ideale
Geltenwollen des Rechtssatzes hier nicht erörtert, sondern die juristischen
Normen sind nur der für die Geschichte allein in Betracht kommenden
faktischen Realisierung gewisser äußerer Handlungen von Mensch zu Mensch
16
Max Weber, Roscher und Knies, a.a.O., S. 87.
13
terminologisch soweit substituiert, als dies nach Lage der Sache möglich ist.“17
Damit ist eine neuer Gedanke angesprochen, der erklärt, warum die von Weber
so scharf attackierte Konfusion normativ-juristischer Begriffsbildung und
wortgleicher, aber logisch differenter empirischer Begriffsbildung so leicht und
vielfach unbemerkt vonstatten geht. Weil es nämlich innere Gründe für die
Verwendung
der
juristisch-normativen
Begriffe
im
empirischen
Aussagezusammenhang gibt, die auf der faktischen Eingelebtheit, Plastizität
und auch vermuteten Kausalrelevanz des juristischen Begriffsarsenals beruht.
So insbesondere, wenn die aus der juristischen „subjektiven Welt“, wie Weber
sagt, genommenen Kollektivbegriffe für die Wirklichkeit selbst gehalten
werden, obwohl sie jeweils nur die Wahrscheinlichkeit bezeichnet, dass eine
bestimmte Art des Handelns faktisch abläuft: „Das Wort ist dasselbe, – was
gemeint ist, etwas in logischem Sinn toto coelo Verschiedenes. Der juristische
Terminus ist hier teils Bezeichnung einer oder vieler faktischer Beziehungen,
teils ein ‚idealtypischer‘ Kollektivbegriff geworden. Daß dies leicht übersehen
wird, ist die Folge der Bedeutung rechtlicher Termini in der Praxis unseres
Alltagslebens; – und im übrigen ist der Sehfehler nicht häufiger und nicht
schwerwiegender als der umgekehrte: daß Gebilde juristischen Denkens mit
Naturobjekten identifiziert werden. Der wirkliche Tatbestand ist, wie gesagt:
daß der juristische Terminus zur Erfassung eines rein kausal zu analysierenden
realen Sachverhaltes verwendet wird und normalerweise auch verwendet
werden kann, weil wir alsbald dem Geltenwollen juristischer Begriffsgebilde
das faktisch existente soziale Kollektivum unterschieben.“18 Diese
untergründige Verwicklung von normativer und empirischer Begriffsbildung
taucht dann im gleichen Bild des „Unterschiebens“ im Kategorienaufsatz, wenn
Weber von dieser Notwendigkeit als dem „Schicksal“ aller Soziologie spricht.
3. Das Kausalitätsproblem
als juristische und empirisch-historische Zurechnung
17
18
Max Weber, ebd.
Max Weber, a.a.O., S. 87.
14
Auch im Eduard-Meyer-Aufsatz finden wir einschlägige Aussagen über das
Verhältnis
von
Rechtswissenschaft
und
empirisch-historischen
Sozialwissenschaften. So sei für die leidige Kausalitätsfrage gerade die
juristische Theoriebildung, insbesondere im Strafrecht, auf fruchtbare Weise für
die methodologischen Probleme der empirischen, nicht-normativen Disziplinen
nutzbar zu machen. Die Jurisprudenz könne nämlich dort hilfreich sein, wo
„die Geschichtslogik noch im argen liegt“.19 Folgende Annahme wird von
Weber zugrunde gelegt: „Daß gerade die Juristen, in erster Linie die
Kriminalisten, das Problem behandelten, ist naturgemäß, da die Frage nach der
strafrechtlichen Schuld, insoweit sie das Problem enthält: unter welchen
Umständen man behaupten könne, daß jemand durch sein Handeln einen
bestimmten äußeren Erfolg ‚verursacht‘ habe, reine Kausalitätsfrage ist, – und
zwar offenbar von der gleichen logischen Struktur wie die historische
Kausalitätsfrage.“20 Damit ist die Kausalitätsfrage sowohl für die strafrechtliche
wie die historische „Zurechnung“ auf den Handlungsbegriff zentriert. Hierfür
gibt es einen inneren Grund, wie Weber anschließend ausführt: „Denn ebenso
wie die Geschichte sind die Probleme der praktischen Beziehungen der
Menschen zueinander und insbesondere der Rechtspflege ‚anthropozentrisch‘
orientiert, d. h. sie fragen nach der kausalen Bedeutung menschlicher
Handlungen.“21 Auf dieser „Gleichstellung“ fußt daher die Übertragung der
juristischen Kausalitätslehre auf die Geschichtswissenschaft.
Im Unterschied nun zur naturwissenschaftlichen Kausalanalyse sind
Jurisprudenz und Geschichtswissenschaft insofern durch ein gemeinsames
Erkenntnisziel verbunden, als es in beiden Wissenschaften um die Zurechnung
„konkreter“ Erfolge zu „konkreten“ Ursachen geht, „nicht auf die Ergründung
abstrakter ‚Gesetzlichkeiten‘.“22 Damit scheint im Übrigen das methodologische
Problem der „historischen Gesetze“ vorab negativ entschieden zu sein. Wir
werden allerdings sehen, wie auch die juristische Kausalanalyse ohne
„Abstraktionen“ und „Regeln“ nicht auszukommen vermag, so dass auch die
Geschichtswissenschaft, soweit sie nach Weber kausal deutend verfährt, diesen
Charakter annehmen muss.
19
20
21
22
Ebd.
Ebd., S. 269. (Hervorhebung von W.G.)
Ebd., S. 270.
Ebd., S. 270.
15
Dies trifft bereits auf die Auswahl der möglichen Kausalfaktoren zu, die im
Strafrecht durch das spezifische strafrechtliche Interesse der Subsumtion eines
Handelns unter einen Straftatbestand geprägt und in der Geschichtswissenschaft
durch die spezifische historische Bedeutung bestimmt ist. Erst nach dieser
Vorselektion stellt sich im Strafrecht die Frage, ob die als strafrechtlich relevant
identifizierte Handlung für den tatbestandsmäßigen Erfolg „kausal“ war. Nach
der sogenannten Äquivalenztheorie23, die Max Weber implizit heranzieht,
werden zunächst alle „Ursachen“ als gleichwertig („äquivalent“) betrachtet. Ihr
Kausalbeitrag wird, nach der ständigen Rechtsprechung des Reichsgerichts24,
mithilfe der folgenden Formel entwickelt: „Ursache ist jede Bedingung, die
nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß der Erfolg (in seiner konkreten
Gestalt) entfiele.“
Insofern ist also die nüchterne, auf „Tatsachen“ erpichte Jurisprudenz bereits
für die allererste Selektion relevanter Kausalfaktoren auf Überlegungen zum
hypothetischen Geschehensablauf angewiesen. Max Weber überspringt diese
Stufe, indem sogleich die Frage aufgeworfen wird, ob eine Änderung des
„Erfolges“ eingetreten wäre, wenn „wir von den tatsächlichen kausalen
Komponenten des Verlaufs eine oder einige in bestimmter Richtung abgeändert
denken.“25
In der Geschichtswissenschaft, die ja zunächst die Legitimität hypothetischer
Geschehensabläufe nach der Äquivalenzformel anerkennen müsste, reicht diese
Auswahl aus der unendlichen Fülle denkbarer Kausalverbindungen
ebensowenig hin wie in der Strafrechtswissenschaft.
Dort ist in Anlehnung an Arbeiten des Physiologen von Kries, den Weber
übrigens in seiner Freiburger Zeit kennengelernt hatte, die „Lehre von der
adäquaten Verursachung“ entwickelt worden – so der Titel der Arbeit des
23
24
25
Diese wird M. von Buri (Über Causalität und deren Verantwortung, 1873) zugeschrieben.
Vgl. RGSt (Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen) 1, S. 373 ff.; 5, S. 29 ff.;
75, S. 372 ff. Auf den in der Formel enthaltenen Zirkelschluss weist Günther Jakobs,
Strafrecht. Allgemeiner Teil, Berlin / New York 19912, S. 156 hin.
Max Weber, Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik, in Max
Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, a. a. O., S. 215-290, hier S. 273.
16
Rechtsreferendars Dr. Gustav Radbruch26, die Weber seinen „Kritischen Studien
auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik“ zugrunde legte.27
Der dogmatische Anlass zur Entwicklung der Adäquanztheorie waren die mit
dem Schuldprinzip nur schwer vereinbaren Tatbestände der sogenannten
„erfolgsqualifizierten“ Delikte, die eine verschärfte Haftung auch für lediglich
verursachte, aber nicht einmal fahrlässig verschuldete Folgen nach damaligem
Recht vorsahen.28 In seiner kritischen Studie kommt Gustav Radbruch, wie
Weber richtig bemerkt, auch nur zu einer begrenzten Anwendung der
Adäquanztheorie, insbesondere für die erfolgsqualifizierten Delikte. Hiermit
seien dann die historischen Zurechnungsurteile vergleichbar: „In gleicher
logischer Lage mit jenen Fällen befindet sich aber eben die Geschichte.“29
Wir müssen sehen, ob diese These Webers haltbar ist. In völliger Parallele zu
Radbruchs Ausführungen weist Weber zunächst darauf hin, dass sich die
kausale Zurechnung in einer „Serie von Abstraktionen“ vollzieht. So muss für
die Frage, ob ein bestimmter „Erfolg“ nur „zufällig“ oder „adäquat“ verursacht
ist, sowohl die vermeintliche causa als auch der Erfolg „generalisiert“ werden.30
Nach Radbruch stellt die objektive Vorhersehbarkeit des Erfolges die Grenze
des Adäquanzurteils dar: „Adäquate Bedingung eines Erfolges ist mithin eine
solche Bedingung, bei deren Setzung der Erfolg objektiv voraussehbar war, eine
solche Bedingung, welche ‚möglicher Träger einer subjektiven Verschuldung‘
zu sein vermag.“31 Die Frage nach dem hypothetischen Kausalverlauf hat sich
damit in ein prognostisches Urteil der Möglichkeit eines Geschehensablaufs
gekehrt. Um diesen Modalbegriff kreist Webers methodologisches Interesse,
wenn er darauf insistiert, dass diese Art der „objektiven Möglichkeit“ nicht auf
26
27
28
29
30
31
Vgl. Gustav Radbruch, Die Lehre von der adäquaten Verursachung, in: Abhandlungen des
kriminalistischen Seminars, hrsg. von Franz v. Liszt, Neue Folge, Erster Band, Heft 3,
Berlin 1902, S. 325-407.
Es würde zu weit gehen, in der Zitierung Radbruchs das persönliche Moment
überzubewerten. Freilich sollte man wissen, dass Weber erst 1914 – also acht Jahre nach
dem Eduard-Meyer-Aufsatz – eine Gelegenheit sah, Gustav Radbruch „aufrichtig Glück
zu wünschen zu der, weiß Gott! späten und ganz unzulänglichen Anerkennung, die Sie
endlich finden...“ (Max Weber, Brief vom 20. IV. 1914 an Gustav Radbruch, Nachlass
Radbruch, Universität Heidelberg).
Zum strafrechtsgeschichtlichen Hintergrund vgl. Günther Jakobs, Strafrecht. Allgemeiner
Teil, a.a.O., S. 163 f.
Max Weber, Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik, a.a.O.,
S. 271/Fn. 1.
Gustav Radbruch, Die Lehre von der adäquaten Verursachung, a.a.O., S. 344 ff.
Ebd., S. 348.
17
einem nur unvollständigen, daher eben nur „möglichen“ Wissen beruhte,
sondern gerade umgekehrt gelte: „Die Kategorie der ‚Möglichkeit‘ kommt also
nicht in ihrer negativen Gestalt zur Verwendung, in dem Sinne also, daß sie ein
Ausdruck unseres Nicht- resp. Nichtvollständigwissens im Gegensatz zum
assertorischen oder apodiktischen Urteil ist, sondern gerade umgekehrt bedeutet
sie hier die Bezugnahme auf ein positives Wissen von ‚Regeln des Geschehens‘,
auf unser ‚nomologisches‘ Wissen, wie man zu sagen pflegt.“32
Das „Möglichkeitsurteil“ hat nämlich die Gestalt, dass wir bei der Analyse von
„Bestandteilen“ des Geschehens fragen, „welcher Erfolg von jedem einzelnen
von ihnen, bei Vorhandensein der anderen als ‚Bedingungen‘ nach einer
Erfahrungsregel zu ‚erwarten‘ gewesen wäre.“33 Die Grundlage des
Kausalurteils wird somit eine „Erfahrungsregel“. Während die strafrechtliche
Adäquanzlehre sich danach verzweigt, auf wessen Urteil es bei dieser Prognose
für die strafrechtliche Zurechnung ankommt – den „Täter“, den allwissenden
Akteur oder den „Normalakteur“ –, begnügt sich Weber mit dem Standard
„allgemeiner Erfahrungsregeln“, der in die nachfolgende Formel für das
historische Zurechnungsurteil mündet: „Die Erwägung der kausalen Bedeutung
eines historischen Faktums wird zunächst mit der Fragestellung beginnen: ob
bei Ausschaltung desselben aus dem Komplex der als mitbedingend in Betracht
gezogenen Faktoren oder bei seiner Abänderung in einem bestimmten Sinne der
Ablauf der Geschehnisse nach allgemeinen Erfahrungsregeln eine in den für
unser Interesse entscheidenden Punkten irgendwie anders gestaltete Richtung
hätte einschlagen können...“34 In dieser Formel nun sind bei Weber zwei
Momente der juristischen Kausalitätslehre ineinander verschlungen: die Frage
der Kausalrelevanz nach dem Modus hypothetischer Kausalverläufe und die
Hervorhebung „wesentlicher“ Ursachen für das Adäquanzurteil. Hierin liegt
nicht die einzige Abweichung vom juristischen Sinn des Kausalproblems. Es ist
Webers Verdienst, mit dem Dogma der positivistischen Geschichtswissenschaft
gründlich aufgeräumt zu haben, sie habe sich nur um die „Wirklichkeit“, nicht
aber um „Möglichkeiten“ zu kümmern. Ganz unmissverständlich heißt es: „Um
die wirklichen Kausalzusammenhänge zu durchschauen, konstruieren wir
32
33
34
Max Weber, Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik, a.a.O.,
S. 276.
Ebd.
Ebd., S. 282 f.
18
unwirkliche.“35 Hinter diese methodologische Einsicht dürfe die Historiographie
nicht mehr zurückfallen. „Abstraktion“ und sogar „Phantasiegebilde“ sind nicht
nur zulässig, sondern notwendige Voraussetzung des historischen Kausalurteils.
Dafür bleibt der logische Status der „allgemeinen Erfahrungsregeln“ unklar.
Gustav Radbruch hatte angesichts der „Vagheit des Typischen, allgemein
Bekannten u.s.w.“36 die Lehre von der adäquaten Verursachung für das
Strafrecht gerade abgelehnt, weil es dem richterlichen Ermessen Platz
einräume. Radbruch war freilich auf einem anderen Wege für die seinerzeit in
der Strafrechtsdogmatik umstrittenen erfolgsqualifizierten Delikte37 zu einem
ähnlichen Ergebnis gekommen. Es läge die rechtspositivistische – wie
Radbruch meint: auf „methodologisch völlig unanfechtbarem Wege“ ermittelte
– ratio legis darin, über das Erfordernis der Kausalität hinaus noch deren
Adäquanz in den genannten Fällen zu verlangen: „Die Verantwortlichkeit tritt
ein, wenn ein hoher Grad objektiver Voraussehbarkeit des Erfolges vorlag.“38
Hiermit trägt Gustav Radbruch der Einsicht Rechnung, dass gerade über „das
Maß der Rückwirkung des Schuldproblems auf das Kausalproblem“39 die
verschiedenen Kausalitätstheorien streiten. Während aber Radbruch die
Adäquanzfrage zum Schuldproblem rechnet, erliegt Weber der Illusion, mit der
Formel „allgemeiner Erfahrungsregeln“, die im Strafrecht den Schuldvorwurf
des Nichtwissens begründen mag oder eher nicht-adäquate Kausalverläufe
auszuscheiden hilft, einen Maßstab für das historische Urteil kausaler
Zurechnung gefunden zu haben. Die normative Relevanz des Alltagsverstandes
mag für die Strafrechtslehre gelten40, für das historische Zurechnungsurteil aber
wird – wie aus der klarstellenden Formulierung Radbruchs oben ja ersichtlich
war – nunmehr die Kategorie der Verantwortlichkeit in die
Geschichtswissenschaft hineingetragen.
4. Normative, empirische Geltung einer Regel und
35
36
37
38
39
40
Ebd., S. 287.
Gustav Radbruch, Die Lehre von der adäquaten Verursachung, a.a.O., S. 373.
Das Erfordernis fahrlässiger „Verursachung“ des Erfolges ist erst später über § 56 in das
StGB eingefügt worden.
Gustav Radbruch, Die Lehre von der adäquaten Verursachung, a.a.O., S. 390.
Ebd., S. 328.
Dabei ist es lange Zeit unklar geblieben, dass es in der strafrechtlichen Kausalitätslehre
um Probleme der normativen Zurechnung geht.
19
ihre „komplizierten Kausalverknüpfungen“
In einem ungemein polemischen Aufsatz, einer Auseinandersetzung mit Rudolf
Stammlers Werk „Wirtschaft und Recht nach der materialistischen
Geschichtsauffassung. Eine sozialphilosophische Untersuchung“ (2. Aufl.
1906), der eine vernichtenden Kritik dieses Autors enthält, die von Invektiven
durchsetzt ist, wenn er von dem „Monströsen“ diese Buches spricht (S.291),
oder ein „Dickicht von Scheinwahrheiten, Halbwahrheiten, falsch formulierten
Wahrheiten und hinter unklaren Formulierungen versteckten Nicht-Wahrheiten,
von scholastischen Fehlschlüssen und Sophismen vermerkt –, welche die
Auseinandersetzung mit dem Buche zu einem, schon des wesentlich negativen
Ergebnisses wegen, unerfreulichen, dabei unendlich lästigen und höchst
weitläufigen Geschäft machen.“
Geht man in der Werkentwicklung noch einen Schritt weiter zurück, so ist im
Stammler-Aufsatz eine auf die Norm bezogene, ebenso empirisch gemeinte
Rechtsbetrachtung zu finden. Dies scheint Webers Rechtsauffassung in
unmittelbare Nähe zu der von Durkheim seit der Einführungsvorlesung
entwickelten These zu bringen, nach der Recht als Struktur des sozialen Lebens
zu betrachten sei. Freilich ist dies gerade das Modell des Rechts, das von Weber
aufs Schärfste, in hochgradig gereiztem Tonfall, kritisiert wird. Er führt aus,
„daß es sinnlos ist, die Beziehung der Rechtsregel zum ‚Sozialen Leben‘ derart
zu fassen, daß das Recht als die – oder eine – ‚Form‘ des ‚sozialen Lebens‘
aufgefaßt werden könnte […]“41 Wie kommt Weber zu dieser Aussage, die
direkt auf Durkheim gemünzt schiene, falls Weber diese Auffassung Durkheims
zur Kenntnis genommen hätte?42
Sie hat zunächst damit zu tun, dass Weber nicht passt, wie Stammler „die
Möglichkeit einer selbständigen und eigenartigen sozialen Wissenschaft“43 an
41
42
43
Max Weber, R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung,
a. a. O., S. 349.
Da sich unsere Interpretation Durkheims auf posthum bzw. sehr versteckt publizierte
Arbeiten Durkheims (etwa in den Annalen der Universität von Bordeaux) stützt, ist eine
Kenntnis dieser Schriften durch Weber objektiv unmöglich. Insoweit stellt sich das
Problem der wechselseitigen Nichtzurkenntnisnahme von Durkheim und Weber nicht (vgl.
aber zur Streitfrage Edward A. Tiryakian, A Problem for the Sociology of Knowledge:
The Mutual Unawarness of Emile Durkheim and Max Weber, in: European Journal of
Sociology 7, 1965, S. 330-336).
Rudolf Stammler, Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung.
Eine sozialphilosophische Untersuchung, 2. Aufl. Leipzig 1906, S. 109.
20
die Vorstellung des „sozialen Lebens“ koppelt. Er behauptet nämlich, die
Wechselwirkungslehre Simmels z.B. führe zwangsläufig auf eine
naturwissenschaftliche Betrachtung von einzelnen Menschen als Wirkverhältnis
zurück. Es ist die Stammlersche „Lösung“ des Emergenzproblems, die Weber
herausfordert, nämlich in der äußeren „Reguliertheit“ des sozialen Lebens eine
die Einzelwesen verbindende „Form“ entdeckt zu haben.
Webers Thema, das sich an der Rezension R. Stammlers entfaltet, ist auf der
unmittelbar wahrnehmbaren Ebene die Ambivalenz und Mehrdeutigkeit des
„Regelbegriffs“, der die „stete Gefahr der hoffnungslosen Konfusion des
Empirischen mit dem Normativen auf das Maximum“44 steigen lässt. In der
Stammler-Auseinandersetzung wird aber zugleich die handlungsförmige
Bestimmung des Gegenstandsbereichs einer verstehenden Soziologie
vorbereitet, wie sie im Kategorien-Aufsatz explizite Gestalt annimmt. Sie
entzündet sich an Stammlers Bestimmung des „sozialen Lebens“, dessen
formale Eigenart darin bestehe, dass es „geregeltes“ Zusammenleben sei.
Eine die „Konfusion des Empirischen mit dem Normativen“ vermeidende
Betrachtung stellt nach Weber nämlich zwei Bedeutungen von „Regel“ fest, die
beide nicht dafür taugen, „Recht“ als „Form“ des sozialen Lebens zu
betrachten. Einmal ist mit „Regel“ der gelten sollende Sinn einer Norm
gemeint, eine Aufgabe, die im Skatspiel von der „Skatjurisprudenz“, im
„Rechtsleben“ von der Rechtswissenschaft zur Ermittlung der „juristischen
Wahrheit“ 45 erfüllt wird, die als ein „rein ideelles, vom juristischen Forscher
destilliertes Objekt begrifflicher Analyse“46 behandelt wird. Das „Gelten“ der
Regel in diesem Sinne ist das Ergebnis – so Weber – der gedanklichen
Verbindung von „Begriffen“, ein „Gelten-Sollen“ für den juristischen Intellekt.
Diesem „idealen“ Sinn der „Regel“ aber kommt keinerlei Bedeutung für die
„empirische“ Geltung der Regel zu. So heißt es im Stammler-Aufsatz: „Die
Rechtsregel, als ‚Idee‘ gefaßt, ist ja keine empirische Regelmäßigkeit oder
‚Geregeltheit‘, sondern eine Norm, die als ‚gelten sollend‘ gedacht werden
kann, also ganz gewiß keine Form des Seienden, sondern ein Wertstandard, an
dem das faktische Sein wertend gemessen wird, wenn wir ‚juristische Wahrheit‘
44
45
46
Max Weber, R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung,
a. a. O., S. 343 (eigene Hervorh.).
So die Formulierung im Stammler-Aufsatz, a. a. O., S. 347.
Max Weber, R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung,
a. a. O., S. 346.
21
wollen.“47 Wenn also dem Recht als „Idee“ die Bedeutung abgesprochen wird,
scheint sich eine Nähe zu Durkheims Kritik des juridischen Idealismus
einzustellen.48 Aber Weber tendiert nun keineswegs zu einem schlichten
Normrealismus als „Form“ des sozialen Lebens, vielmehr gilt: „Die
Rechtsregel, empirisch betrachtet, ist aber erst recht keine ‚Form‘ des sozialen
Seins, wie immer das letztere begrifflich bestimmt werden möge, sondern eine
sachliche Komponente der empirischen Wirklichkeit, eine Maxime […]“49 Und
das heißt: Nur soweit die am Recht beteiligten Personen, „Richter“, „Anwälte“,
„Gerichtsvollzieher“, „Polizisten“ und die „Rechtsgenossen“ sich an der
Vorstellung vom Gelten-Sollen der „Regel“ orientieren, ist das soziale Sein
durch ein rechtliches Sollen bestimmt. Da aber das Ausmaß der empirischen
Geltung ungewiss ist, was nicht zuletzt die Implementationsforschung belegt
und in Durkheims Normalitätsthese der Regelabweichung auch positiv
gewendet ist,50 macht nach Weber die Rede von „Recht als Form des sozialen
Lebens“ keinen Sinn.
Und dies hat darin seinen Grund, dass es – entgegen dem panjuristischen51 Bild
unterschiedliche Relevanzstufen52 der rechtlichen Geordnetheit des Handelns
gibt, die zu einer differenzierten Einschätzung der kausalen Tragweite der
empirischen Rechtsordnungen für die „Kulturtatsachen“ führt, so Webers
Terminologie im Stammler-Aufsatz. Weber formuliert dies nicht ohne Ironie als
eine Kritik des juristischen Weltbildes. So heißt es: „Der Fachjurist freilich ist
begreiflicherweise geneigt, den Kulturmenschen im allgemeinen als potentiellen
Prozeßführer zu betrachten, in demselben Sinn, wie etwa der Schuster ihn als
potentiellen Schuhkäufer und der Skatspieler ihn als potentiellen ‚dritten Mann‘
ansieht.“53
47
48
49
50
51
52
53
Max Weber, R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung,
a. a. O., S. 349.
So vor allem in der Kritik von Gaston Richard, a. a. O.
Max Weber, R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung,
a. a. O., S. 349.
Emile Durkheim, Regeln der soziologischen Methode, Neuwied und Berlin 1961 (1895),
S. 155 ff. Zur soziologischen Deutung siehe auch: Werner Gephart, Strafe und
Verbrechen. Die Theorie Emile Durkheims, Opladen 1990, Kap. 1, S. 4-33.
Dieser treffende Ausdruck stammt von Jean Carbonnier, Sociologie juridique, Paris 1972.
Vgl. die ausbaufähige Formulierung im Stammler-Aufsatz, a. a. O., S. 352.
Max Weber, R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung,
a. a. O., S. 352.
22
Was ist nun unter „Recht“ oder „Rechtsordnung“ im Zusammenhang der
Stammler-Kritik zu verstehen? Im „normativen“ Sinne kann nur die „ideelle
Normordnung“ gemeint sein, deren begriffliche Vernetzung genau dem „Ideal“
entsprechen müsste, das in Webers Rechtssoziologie durch die Postulate der
gemeinrechtlichen Jurisprudenz als: „formal-rationalstes“ System des Rechts
ausgewiesen wird. Verwandtschaft und Differenz zu Kelsens Grundidee der
reinen Rechtslehre54 sind offenkundig.
Empirisch farblos bzw. unzureichend bleibt dieser Begriff der „empirischen“
Rechtsordnung. Denn es kommt ja ausschließlich auf die Vorstellung von der
Geltung im jeweiligen Handeln an, so dass Weber am Ende eine rein
kognitivistische Vorstellung von der empirischen Rechtsordnung zu entwickeln
scheint. Weber formuliert: „Das ‚empirische Sein‘ des Rechts als Maximebildenden ‚Wissens‘ konkreter Menschen nannten wir hier: die empirische
‚Rechtsordnung‘.“55
Nun: was hat Weber aus dieser polemischen Kritik dieses von ihm sogenannten
„Geschichtsspiritualisten“ an positiver Deutung der Beziehung von juristischer
und empirischer Betrachtungsweise entwickelt?
„Wir haben also gesehen, daß die ‚Skatregel‘ als ‚Voraussetzung‘ in drei
logisch ganz verschiedenen Funktionen bei der empirischen Erörterung eine
Rolle spielen kann: klassifikatorisch und begriffskonstitutiv bei der Abgrenzung
des Objekts, heuristisch bei seiner kausalen Erkenntnis und endlich als eine
kausale Determinante des zu erkennenden Objekts selbst. Und wir haben ferner
schon vorher uns überzeugt, in wie grundverschiedenem Sinne die Skatregel
selbst Objekt des Erkennens werden kann: skatpolitisch, skatjuristisch, – in
beiden Fällen als ‚ideelle‘ Norm, endlich empirisch, als faktisch wirkend und
bewirkt. Daraus mag man vorläufig entnehmen, wie unbedingt nötig es ist,
jeweils auf das sorgsamste festzustellen, in welchem Sinn man von der
‚Bedeutung‘ der ‚Regel‘ als ‚Voraussetzung‘ irgend welchen Erkennens spricht,
wie vor allem die stete Gefahr der hoffnungslosen Konfusion des Empirischen
54
55
Vgl. hierzu Fritz Loos, Zur Wert- und Rechtslehre Max Webers, Tübingen 1970. Siehe
auch: Noberto Bobbio, Max Weber und Hans Kelsen, in: Manfred Rehbinder und KlausPeter Tieck (Hrsg.), Max Weber als Rechtssoziologe, Berlin 1987, S. 109-126.
Max Weber, R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung,
a. a. O., S. 350 (letzte Hervorh. W.G.).
23
mit dem Normativen auf das Maximum steigen muß, wenn man nicht sorgsam
jede Zweideutigkeit des Ausdrucks vermeidet.“56
Diese Konfusion scheint Weber selbst zu befördern, wenn es so klingt, als gäbe
es in der „Regel“ überhaupt einen gemeinsamen Gegenstand von juristischer
und empirischer Betrachtungsweise.57
Wegen der grundlegenden Bedeutung der nachfolgenden Schlüsselpassage, sei
sie hier vollständig wiedergegeben:
„Ein bestimmter ‚Paragraph‘ des Bürgerlichen Gesetzbuchs kann in
verschiedenem Sinn Gegenstand des Nachdenkens werden. Zunächst
rechtspolitisch: man kann von ethischen Prinzipien aus seine normative
‚Berechtigung‘, ferner von bestimmten ‚Kulturidealen‘ oder von politischen, –
‚machtpolitischen‘ oder ‚sozialpolitischen‘, – Postulaten aus seinen Wert oder
Unwert für die Verwirklichung jener Ideen, oder vom ‚Klassen‘- oder
persönlichen Interessenstandpunkt aus seinen ‚Nutzen‘ oder ‚Schaden‘ für jene
Interessen diskutieren. Diese Art von direkt wertender Erörterung der ‚Regel‘
als solcher, die uns mutatis mutandis schon beim ‚Skat‘ begegnet ist, scheiden
wir hier vorerst einmal gänzlich aus, da sie logisch keine prinzipiell neuen
Probleme bietet. Dann bleibt zweierlei. Man kann bezüglich des gedachten
Paragraphen nun noch fragen, einmal: was ‚bedeutet‘ er begrifflich? und ein
andres Mal: was ‚wirkt‘ er empirisch? Daß die Beantwortung dieser beiden
Fragen Voraussetzung einer fruchtbaren Erörterung der Frage des ethischen,
politischen usw. Wertes des Paragraphen ist, ist eine Sache für sich: die Frage
nach dem ‚Wert‘ ist deshalb natürlich doch eine durchaus selbständige, streng
von diesen beiden letztgenannten zu scheidende. Sehen wir uns nun diese
beiden Fragen auf ihr logisches Wesen hin an. In beiden Fällen ist
grammatisches Subjekt des Fragesatzes: ‚er‘, d.h. der betreffende ‚Paragraph‘, –
und doch handelt es sich beide Male um ganz und gar verschiedene
Gegenstände, die sich hinter diesem ‚er‘ verstecken. In dem ersten Fall ist ‚er‘,
der ‚Paragraph‘ nämlich, eine in Worte gefaßte Gedankenverbindung, die nun
immer weiter als ein rein ideelles, vom juristischen Forscher destilliertes Objekt
begrifflicher Analyse behandelt wird. Im zweiten ist ‚er‘ – der ‚Paragraph‘
zunächst einmal die empirische Tatsache, daß, wer eines von den ‚Bürgerliches
Gesetzbuch‘ genannten Papierfaszikeln zur Hand nimmt, an einer bestimmten
56
57
Max Weber, ebd. S. 342f.
So auch Fritz Loos, a.a.O., S. 96.
24
Stelle regelmäßig einen Ausdruck58 findet, durch den in seinem Bewußtsein
nach den ‚Deutungs‘-Grundsätzen, die ihm empirisch anerzogen sind – mit
mehr oder minder großer Klarheit und Eindeutigkeit – bestimmte Vorstellungen
über die faktischen Konsequenzen, welche ein bestimmtes äußeres Verhalten
nach sich ziehen könne, erweckt werden. Dieser Umstand hat nun weiter zur
empirisch regelmäßigen – wenn auch keineswegs faktisch ausnahmslosen –
Folge, daß gewisse psychische und physische ‚Zwangsinstrumente‘ demjenigen
zur Seite stehen, der gewissen, üblicherweise ‚Richter‘ genannten, Personen in
einer bestimmten Art die Meinung beizubringen weiß, daß jenes ‚äußere
Verhalten‘ in einem konkreten Fall vorgelegen habe oder vorliege. Er hat zur
ferneren Folge, daß jeder auch ohne diese Bemühung jener, ‚Richter‘ genannten
Personen, mit einem starken Maß von Wahrscheinlichkeit auf ein bestimmtes
Verhalten andrer ihm gegenüber ‚rechnen‘ kann, – daß er m.a.W. eine gewisse
Chance hat, z.B. auf die faktisch ungestörte Verfügung über ein bestimmtes
Objekt zählen zu können, und daß er nun auf Grund dieser Chance sich sein
Leben gestalten kann und gestaltet. Das empirische ‚Gelten‘ des betreffenden
‚Paragraphen‘ bedeutet also im letzteren Fall eine Serie von komplizierten
Kausalverknüpfungen in der Realität des empirisch-geschichtlichen
Zusammenhangs, ein durch die Tatsache, daß ein bestimmtes Papier mit
bestimmten ‚Schriftzeichen‘ bedeckt wurde, hervorgerufenes reales SichVerhalten von Menschen zueinander und zur außermenschlichen ‚Natur‘. Das
‚Gelten‘ eines Rechtssatzes in dem oben zuerst behandelten ‚idealen‘ Sinn
bedeutet dagegen ein für das wissenschaftliche Gewissen desjenigen, der
‚juristische Wahrheit‘ will, verbindliches gedankliches Verhältnis von
Begriffen zueinander: ein ‚Gelten-Sollen‘ bestimmter Gedankengänge für den
juristischen Intellekt. Der Umstand andererseits, daß ein solches ideales
‚Gelten-Sollen‘ eines bestimmten ‚Rechtssatzes‘ aus bestimmten
Wortverbindungen von solchen empirischen Personen, welche ‚juristische
Wahrheit‘ wollen, faktisch ‚erschlossen‘ zu werden pflegt, ist seinerseits
natürlich wieder keineswegs ohne empirische Konsequenzen, vielmehr von der
allergrößten empirisch-historischen Bedeutsamkeit. Denn auch die Tatsache,
daß es eine ‚Jurisprudenz‘ gibt und die empirisch-historisch gewordene Art der
sie jeweils de facto beherrschenden ‚Denkgewohnheiten‘ ist von der
erheblichsten praktisch-empirischen Tragweite für die faktische Gestaltung des
58
Emendation: Bei Weber heißt es „Aufdruck“.
25
Verhaltens der Menschen schon deshalb, weil in der empirischen Realität die
‚Richter‘ und andre ‚Beamte‘, welche dies Verhalten durch bestimmte
physische und psychische Zwangsmittel zu beeinflussen in der Lage sind, ja
eben dazu erzogen werden, ‚juristische Wahrheit‘ zu wollen und dieser
‚Maxime‘ – in faktisch sehr verschiedenem Umfang – nachleben. Daß unser
‚soziales Leben‘ empirisch ‚geregelt‘, d.h. hier: in ‚Regelmäßigkeiten‘, verläuft,
in dem Sinne, daß z.B. alltäglich der Bäcker, der Metzger, der Zeitungsjunge
sich einstellt usw. usw. – diese ‚empirische‘ Regelmäßigkeit ist von dem
Umstand, daß eine ‚Rechtsordnung‘ empirisch, d.h. aber: als eine das Handeln
von Menschen kausal mitbestimmende Vorstellung von etwas, das sein soll, als
‚Maxime‘ also, existent ist, natürlich auf das allerfundamentalste mit
determiniert. Aber nicht nur jene empirischen Regelmäßigkeiten, sondern auch
diese empirische ‚Existenz‘ des ‚Rechts‘ sind natürlich etwas absolut anderes
als die juristische Idee seines ‚Gelten-Sollens‘. Das ‚empirische‘ Gelten kommt
ja dem ‚juristischen Irrtum‘ eventuell in genau dem gleichen Maße zu wie der
‚juristischen Wahrheit‘, und die Frage nach dem, was in concreto ‚juristische
Wahrheit‘ ist, d.h. gedanklich nach ‚wissenschaftlichen‘ Grundsätzen als solche
‚gelten‘ solle oder hätte ‚gelten‘ sollen, ist logisch gänzlich verschieden von
der: was de facto empirisch in einem konkreten Fall oder in einer Vielheit von
Fällen als kausale ‚Folge‘ des ‚Geltens‘ eines bestimmten ‚Paragraphen‘
eingetreten ist. Die ‚Rechtsregel‘ ist in dem einen Fall eine ideale gedanklich
erschließbare Norm, im andren Fall ist sie eine empirisch, als mehr oder minder
konsequent und häufig befolgt, feststellbare Maxime des Verhaltens konkreter
Menschen. Eine ‚Rechtsordnung‘ gliedert sich in dem einen Fall in ein System
von Gedanken und Begriffen, welches der wissenschaftliche Rechtsdogmatiker
als Wertmaßstab benützt, um das faktische Verhalten gewisser Menschen: der
‚Richter‘, ‚Advokaten‘, ‚Delinquenten‘, ‚Staatsbürger‘ usw. daran, juristisch
wertend, zu messen und als der idealen Norm entsprechend oder nicht
entsprechend anzuerkennen oder zu verwerfen, – im andern Fall löst sie sich
in einen Komplex von Maximen in den Köpfen bestimmter empirischer
Menschen auf, welche deren faktisches Handeln und durch sie indirekt das
anderer kausal beeinflussen.“59
59
Max Weber, Rudolf Stammlers „Überwindung“, a.a.O., S. 345-348.
26
Juristische und empirische Geltung einer Regel sind also aufs Schärfste
geschieden, insbesondere ist bei der Rede von der Existenz einer Rechtsnorm
höchste Vorsicht geboten: sie kann im Sinne des ideell Gelten-Sollenden
gemeint sein, von dem wir hoffen, dass es für die in einer Rechtsgemeinschaft
zu verbindlicher Auslegung Berufenen auch als „Recht“ erkannt werde, für ihr
praktisches Handeln also empirisch wirksam wird und auch noch davon zu
unterscheiden ist, inwieweit die Alltagsakteure in ihrem Handeln die Geltung
der Norm unterstellen und sich in ihrem praktischen Handeln danach
ausrichten.
5. Zur banalen Empirie
der Regelanwendung
Von welchen Banalitäten die Umsetzung eines ideal geltenden normativen
Sinns in der Rechtsanwendungswirklichkeit abhängt, führt Weber im Anschluss
an den Diskussionsbeitrag von H. Kantorowicz über „Rechtswissenschaft und
Soziologie“ auf dem ersten deutschen Soziologentag aus: „Ob nun im einzelnen
Fall sich diese Rechtssätze faktisch in einem Urteil, welches, wenn wir auf den
Sinn des Rechtssatzes sehen, – also eine ganz andere Frage als die
soziologische stellen – „richtig“ ist, realisieren, – nun, das hängt von einer
Unmasse soziologischer Umstände und ganz konkreter Dinge ab. Gewiß auch
davon unter Umständen, ob der Richter etwa einen sehr starken Frühschoppen
hinter sich hat. Es hängt von der Art der Vorerziehung des Juristen ab, es hängt
von tausend konkreten Verhältnissen ab, die, ob sozialer oder nicht sozialer
Natur, jedenfalls reine Faktizitäten sind. Das „Gelten“ eines Rechtssatzes im
soziologischen Sinn ist ein empirisches Wahrscheinlichkeitsexempel über
Fakta, das Gelten im juristischen Sinn ist ein logisches Soll, und das sind zwei
ganz verschiedene Dinge...“60 Kontingente Umstände aus der Lebenswelt des
rechtsanwendenden Richters, der Frühschoppen, oder aber auch der
„Vorerziehung“ des Richters. Dies verweist auf eine empirische
Richtersoziologie, wie sie Weber selbst nie betrieben hat, allenfalls als
60
Max Weber, Diskussionsrede zu dem Vortrag von H. Kantorowicz, Rechtswissenschaft
und Soziologie, abgedr. in: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und
Sozialpolitik, hrsg. von Marianne Weber, 2. Aufl. 1988 (zuerst 1924), S. 476-483, hier S.
478.
27
Typologie der rechtskulturell bedingten Richtergestalten im angelsächsischen
und kontinentalen Recht, nicht aber als eine Untersuchung der richterlichen
Lebenswelten und ihrer „Vorerziehung“ d.h. doch wohl ihrer klassen- und
schichtenbedingten allgemeinen Sozialisationserfahrungen und ihrer jeweils
spezifischen fachlichen „Vorerziehung“, also ihrer „juristischen Sozialisation“.
So sehr also die Wirklichkeit der Rechtsanwendung vom Normideal
abzuweichen vermag, so wenig kann die empirische Erforschung des Rechts
umgekehrt auf die rechtsdogmatische Betrachtung verzichten. Und dies gilt
auch für die Erforschung der rechtsgeschichtlichen Wirklichkeit. Nicht nur
werde das rechtshistorisch Bedeutsame durch rechtsdogmatische Fragen der
Gegenwart mitbestimmt, sondern als heuristisches Prinzip leitet es auch die
rechtshistorische Forschung. Weber führt eine für die Rechtsgeschichte
wichtige Beobachtung ein: „Darum würde ich es für unberechtigt halten, etwa
den Unterschied zu machen: das Recht, das nicht mehr gilt, nur als Faktum und
nicht als ‚Norm’ zu betrachten und das Recht, das noch gilt, nicht als Faktum,
sondern als Norm.“ 61 D.h. Rechtsgeschichte befasst sich mit der Geschichte
normativer Geltung, also dem „Geltenwollen“ eines Rechtssatzes, der durch
seine bloße Historizität nicht ins rein Faktische gewendet wird, während das
gegenwärtig normativ geltende Recht sowohl im Hinblick auf seinen
normativen Gehalt, wie seinen faktischen Geltungsbereich betrachtet werden
kann. Die Scheidelinie von Faktizität und Normativität ist der von historisch
gegenwärtigem oder vergangenem gegenüber „völlig heteronom“, wie Weber
wohl sagen würde.
6. Verhältnis der verstehenden Soziologie
zur Rechtsdogmatik
61
Max Weber, Diskussionsrede zu dem Vortrag von H. Kantorowicz, Rechtswissenschaft
und Soziologie, a.a.O., S. 481.
28
In dem grundlegenden Beitrag über „Einige Kategorien der verstehenden
Soziologie“ kommt Weber in dem älteren Teil dieses von der
Entstehungsgeschichte her umstrittenen Aufsatzes in einem eigenen Abschnitt
auf das „Verhältnis zur Rechtsdogmatik“ zu sprechen. Hier hat ein
Perspektivenwechsel stattgefunden: es geht nicht mehr um die Bedeutung der
soziologischen Betrachtung für die Jurisprudenz, sondern um die Bedeutung der
Jurisprudenz, insbesondere ihrer Begriffsbildungsleistungen für die entstehende,
von Weber erstmals aus der Sphäre unerträglicher Dilettantenleistungen
herausgehobenen „verstehenden Soziologie“. Das Postulat des „Verstehens“ ist
zunächst der Grund, warum diese Art der Soziologie sich von
Kollektivbegriffen lösen muss, weil sie nicht verstehbare Subjekte konstruiert:
denn ein substanzhaft vorgestellter „Staat“ ist nur vermittels seiner Akteure
„verstehbar“. Wie Weber gerade in seiner Dissertation gezeigt hatte, kann es
gute juristische Gründe für die Annahme einer juristischen Persönlichkeit des
Staates oder auch der Handlungs- und Zurechnungsfähigkeit von
„Gesellschaftsformen“ geben. Um die Konstruktion normativer Zurechnung
aber geht es der Soziologie nicht: „Die Soziologie hat es dagegen, soweit für sie
das ‚Recht‘ als Objekt in Betracht kommt, nicht mit der Ermittelung des logisch
richtigen ‚objektiven‘ Sinngehaltes von ‚Rechtssätzen‘ zu tun, sondern mit
einem Handeln, als dessen Determinanten und Resultanten natürlich unter
anderem auch Vorstellungen von Menschen über den ‚Sinn‘ und das ‚Gelten‘
bestimmter Rechtssätze eine bedeutsame Rolle spielen.“62 Diese
Geltungsvorstellung kann nun Anknüpfungspunkt etwa der Wirtschaftsakteure
darüber sein, ob sie berechtigte Erwartungen hegen können, dass ihr
Vertragspartner seinem Handeln eine Geltungsvorstellung etwa des
Vertragsrechts zugrunde legt und darüber hinaus erwartet, dass gegebenenfalls
auch der beurteilende Richter eine solche Erwartung der Erwartungserwartung
hegt und sie in Anwendung des idealiter logisch objektiv zu ermittelnden
Normsinnes auch, in wie immer gearteter Abweichung von dieser Erwartung,
verbindlich bestimmen und mit den Mitteln des jeweiligen rechtlichen
„Erzwingungsstabes“ durchsetzen wird.
Aus diesem Tatbestand aber folgt – so Weber – das Begriffsbildungsmonopol
der Jurisprudenz für die „verstehende“ Soziologie, die eben auf die
62
Max Weber, Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, in: Logos.
Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur 4, 1913, S. 253-294, abgedr. in:
Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1973, S. 440.
29
Vorstellungen über die Geltung einer normativen Ordnung aus Gründen der
kausalen Zurechnung des Handelns besondere Rücksicht zu nehmen habe: „Es
ist aber allerdings das unvermeidliche Schicksal aller Soziologie: daß sie für die
Betrachtung des überall stetige Übergänge zwischen den ‚typischen‘ Fällen
zeigenden realen Handelns sehr oft die scharfen, weil auf syllogistischer
Interpretation von Normen ruhenden, juristischen Ausdrücke verwenden muss,
um ihnen dann ihren eigenen, von dem juristischen der Wurzel nach
verschiedenen, Sinn unterzuschieben.“63 So mag man an die begrifflichen
Unterscheidungen der römischrechtlichen „actiones“ oder an die Vertragstypen
des Besonderen Schuldrechts denken, die eine Trennschärfe der rechtlichen
Zurechnung begründen, auch wenn sie damit die von Weber oft so bezeichneten
„flüssigen“ Übergänge des Handelns künstlich einfrieren.
7. Die Unterscheidung von juristischer und soziologischer
Betrachtungsweise und die Differenzierung der Geltungsarten
In der als Manuskript überlieferten Analyse der Beziehung von „Die Wirtschaft
und die Ordnungen“, in dem das ursprüngliche Konzept des Weberschen
Grundrissbeitrages zum Recht besonders präsent ist64, wird die Unterscheidung
von rechtssoziologischer und rechtsdogmatischer Analyse des Rechts
ausdrücklich von einer Objektdifferenz geschieden und auf eine solche der
reinen „Betrachtungsweisen“ zurückgeführt: „Es liegt auf der Hand, daß beide
Betrachtungsweisen sich gänzlich heterogene Probleme stellen und ihre
‚Objekte‘ direkt gar nicht in Berührung miteinander geraten können, daß die65
ideelle ‚Rechtsordnung‘ der Rechtstheorie direkt mit dem Kosmos des
faktischen wirtschaftlichen Handelns nichts zu schaffen hat, da beide in
verschiedenen Ebenen liegen: die eine in der des ideellen Geltensollens, die
andere in der des realen Geschehens.“66 Beziehungen zwischen „Wirtschaft und
Recht“, worum es Weber im Anschluss an die Stammler-Auseinandersetzung
geht, betreffen nicht die Beziehungen der Wirtschaft zu einer ideellen
63
64
65
66
Max Weber, ebd.
In dem Stoffverteilungsplan heißt es unter 4.a) „Wirtschaft und Recht (1. prinzipielles
Verhältnis, 2. Epochen der Entwicklung des heutigen Zustands)“.
Es folgt: ‹ideell gelten sollend[e]›.
S. 181.
30
normativen Ordnung, sondern zum faktischen Geltungsbereich des Rechts.
Damit also unterscheidet Weber nicht nur – wie Jellinek an den er anknüpft –
einen juristischen und einen soziologischen Staatsbegriff, sondern zergliedert
den Begriff des Rechts selbst in einen juristischen und einen soziologischen,
wie wir noch näher sehen werden. Weber geht darüber hinaus: Sämtliche
Grundbegriffe der Rechtstheorie „Recht“, „Rechtsordnung“, „Rechtssatz“
weisen eine völlig unterschiedliche Bedeutung auf, je nachdem ob sie im Sinne
normativer oder faktischer Geltung gemeint sind. Die empirischen
Geltungsgründe, Fügsamkeitsmotive und objektive „Garantien“, wie es in
dieser für „Wirtschaft und Gesellschaft“ bestimmten Passage heißt, lassen wir
hier außer Acht. Das Trennungspostulat wird nirgends so konsequent
entwickelt, wie es in dem Eröffnungssatz von „Die Wirtschaft und die
Ordnungen“ formuliert ist: „Wenn von ‚Recht‘, ‚Rechtsordnung‘, ‚Rechtssatz‘
die Rede ist, so muss besonders streng auf die Unterscheidung juristischer und
soziologischer Betrachtungsweise geachtet werden.“67
Dies führt unter anderem zu dem später zu vertiefenden Ergebnis, dass die
rechtsdogmatische Konstruktion eines wirtschaftlichen Sachverhalts
rechtshistorisch und zwischen Rechtskulturen variierend sehr unterschiedlich
ausfallen kann, ohne dass der Effekt auf die Wirtschaft, nämlich
Berechenbarkeit des Handelns der Wirtschaftsakteure zu garantieren, hierdurch
beeinflusst wäre.
67
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5.
Auflage, Tübingen 1980, S. 181.
31
Zwischenergebnis
Das Verhältnis von Rechtswissenschaft und Soziologie lässt sich nunmehr wie
folgt bestimmen:
(1) Die Sphäre des ideellen Geltensollens ist von der des faktischen
Geschehens grundlegend geschieden.
(2) Rechtswissenschaft im normativen Sinne ist daher von einer
empirischen Rechtssoziologie zu unterscheiden (Konfusionsverbot).
(3) Nicht das einheitliche Objekt, sondern die jeweilige Betrachtungsweise
konstituiert den „Gegenstand“ der normativen und der empirischen
Betrachtungsweise, die besonders scharf geschieden werden müssen,
wenn auch der wissenschaftliche Sprachgebrauch in der Rede von
„Recht“, „Rechtssatz“ oder „Rechtsordnung“ diese logische Differenz
nicht sichtbar werden lässt.
(4) Nur im Hinblick auf das Geltensollende ist der historische Sinn einer
Rechtsnorm ebenso wie der positiv geltendende Norminhalt zu
ermitteln, ohne dass er hierdurch in die Faktizität hineinreicht. Die
faktische Geltung einer Norm lässt sich, in Bezug auf vergangene oder
gegenwärtige Geltung, freilich nur im Hinblick auf einen normativen
Geltungssinn überhaupt beurteilen.
(5) Weil normative und kausale Sphäre völlig heterogen sind, kann es auch
kein direktes kausales Wirken des ideellen Normgehalts in die
faktische Geltungssphäre geben.
(6) Die „Wirkung“ der Norm verläuft vielmehr über die Vorstellung der
Akteure von der Geltung der Normen, gleichgültig worauf diese
Fügsamkeitsmotive beruhen: auf der Anerkennung des jeweiligen
Normgehaltes, einer allgemeinen Rechtstreue, oder der Furcht vor dem
Einsatz des Erzwingungsstabes. Freilich sei die Wirkungschance der
ideellen Rechtsnorm erhöht, soweit in einem gewissen Ausmaß die
Norm um deswillen befolgt werde, weil sie geboten sei, also von einem
Legitimitätseinverständnis getragen sei.
(7) Hat die soziologische Betrachtung die Erklärung und das Verstehen
menschlichen Handelns zum Gegenstand, dann liegt es nahe, dass ihre
32
Begriffsbildungsstrategie auf diejenigen Begriffe zurückgreift, die in
den praktischen Handlungsorientierungen des Menschen faktisch in
weitem Umfang wirksam sind. Dies trifft wegen seiner faktisches
Handeln ordnenden Leistung, insbesondere in der okzidentalen Welt zu,
deren Weltbild durch einen juristischen Rationalismus auch im Alltag
geprägt sei. Daher macht die menschliches Handeln verstehen wollende
Soziologie Begriffsanleihen in der Jurisprudenz, auch wenn sie –
insbesondere für die zahlreichen aus innerjuristischen Gründen
sinnvollen, weil für Zurechnungsfragen tauglichen Kollektivbegriffe –
ihnen dann einen „eigenen“, eben empirisch möglichen Sinn
unterschiebt.
(8) Aus diesen Annahmen ergibt sich zugleich, dass die Soziologie für die
Ermittlung des ideell geltenden Sinns einer Rechtsnorm oder einer
Rechtsordnung als Aufgabe der rechtswissenschaftlichen Dogmatik
nichts beizutragen weiß. Eine Soziologisierung der Jurisprudenz, wie
sie in Teilen der Freirechtsschule bzw. einer marxistisch angeleiteten
Rechtslehre postuliert wird, ist nach Weber faktisch, wegen des
logischen Hiatus von Sein und Sollen zum Scheitern verurteilt, zugleich
aber, wie wir sehen werden, mit dem normativen Gehalt der
okzidentalen Rechtskultur unvereinbar.
(9) Dies bedeutet nicht, dass die Feststellung über die faktische Geltung
einer normativen Ordnung rechtlich unerheblich wäre, etwa als das
Recht auf Handelsgewohnheiten oder Sitten und Gebräuche verweist,
also zum Bestandteil normativ, positiv geltenden Rechts macht,
insoweit es faktisch gilt. Auch ist jede Feststellung über den Schwund
der faktischen Rechtsgeltung von größtem Belang für die Frage, ob eine
Rechtsidee noch als Handlungsorientierung fungiert, das Rechtssystem
sich an die Faktizität anpassen soll, oder aber auf seiner Fortgeltung
insistieren muss und hierfür geeignete Maßnahmen zu treffen hat, die
sich wieder zweckrationalen Erwägungen aufschließen, nicht aber in
ihrer Finalität von einer empirischen Disziplin aus zu entscheiden sind.
(10) Nur unter Beachtung dieser Differenzierung macht die soziologische
Betrachtung des Rechts nach Max Weber Sinn. Sie vermeidet die
naturalistische Bestimmung der Norm- und Rechtsinhalte und gewinnt
für die Soziologie die Begriffsbildungserfahrung der Jurisprudenz, der
33
sie ihrerseits die Grenzen ihrer Norm- und Rechtsgeltungsansprüche
aufzeigt.
34
III.
Über den Zusammenhang von Handeln, Ordnung und Recht.
Rechtsphilosophische und soziologische Traditionen
Wenn sich der Gegenstand der Soziologie auf eine einzige Formel bringen
ließe, wäre das Bewusstsein der Krise oder einer „anomischen“ Situation der
Disziplin weniger verbreitet. Und dennoch wird immer wieder der Versuch
unternommen, eine Problemformel zu präsentieren, die zu vereinten
Anstrengungen einlädt.
Bislang hat das Problem sozialer Ordnung nur wenig von seiner theoretischen
Integrationskraft eingebüßt, gerade weil es auch zwischen verschiedenen
Perspektiven der Soziologie zu differenzieren verhieß. Die Karriere dieses
Begriffs nachzuzeichnen, hieße, eine Inhaltsgeschichte der Soziologie zu
liefern. Dennoch kann auf einen Vorblick nicht verzichtet werden, in dem das
Vorverständnis der Ordnungsfrage so expliziert wird, dass es die vorgestellten
Arbeiten zur problematischen Verbindung von Gesellschaftstheorie und
Rechtssoziologie zu sortieren hilft. Dies ist umso aussichtsreicher, als auch
Rechtsphilosophie und Rechtstheorie das Problem der Ordnung zu ihrem
eigenen Traditionsbestand zählen.68 In der Rückwendung zu den zentralen
Figuren der Rechtsphilosophie gelangt man nunmehr zu Autoren, die – aus dem
Blickwinkel der Disziplingeschichte der Soziologie – zu ihren eigenen
Vorläufern zählen.
Die Frage nach der Formulierung des Ordnungsproblems führt also in die
gemeinsame Geschichte der Disziplinen zurück, als sich die Soziologie noch
nicht aus den Rechts- und Staatswissenschaften ausgegliedert hatte.69 Der kühne
Vergleich einer soziologischen und rechtsphilosophischen Lektüre von:
Aristoteles, Hobbes und Rousseau soll im Folgenden Gemeinsamkeiten und
Differenzen der Perspektiven beleuchten. Zugleich entwickeln wir ein erstes
68
69
Dies wird z.B. in der Rechtsphilosophie von Ryffel überdeutlich; vgl. Hans Ryffel,
Grundprobleme der Rechts- und Staatsphilosophie, Neuwied und Berlin 1969.
Diese Hypothese bildete den Hintergrund der auf Autoren und Paradigmen konzentrierten
Analyse einer Wechselwirkung von Gesellschaftstheorie und Recht. Dies ist nicht mit
einem soziologiehistorischen Anspruch zu verwechseln, in dem nicht nur weitere Autoren
(z.B. Gabriel Tarde, René Worms u.v.a.), sondern auch die Ebene der Institutionen, z.B.
das „Institut International de Sociologie“, stärker zu berücksichtigen wäre, als wir es im
Schlusskapitel tun werden.
35
Grundraster, in das sich die Aufbereitung soziologischer Klassiker für eine
allgemeine soziologische Theorie des Rechts einordnen lässt.
1. Recht als Entscheidung der Polisgemeinschaft darüber,
was gerecht ist: Aristoteles
Die rechtsphilosophische Leitfrage nach der Möglichkeit und den Bedingungen
materialer Gerechtigkeit70 hat in der Geschichte der Rechtsphilosophie eine
Ausgestaltung gefunden, in der die Deutung des Ordnungsproblems mit einer
Konzeption des Handelns korrespondiert, aus deren Verbindung Rechtsbegriff
und Rechtsfunktion hergeleitet werden.
Aristoteles lässt die menschliche Gemeinschaft aus der teleologischen
Bestimmung des Menschen als „zoon politikon“ hervorgehen. Familie, Haus
und Dorf sind soziale Gemeinschaften, die nur innerhalb einer präexistenten
umfassenden Gemeinschaft denkbar sind, deren Gemeinsamkeit in der Vernunft
(logos) begründet ist. Die Zurechenbarkeit von Handlungen ist die
Voraussetzung des Rechts. Zurechenbar sind Handlungen dann, wenn wir auch
anders hätten handeln können. Die Zurechnung wird damit auf Kontingenz
gestützt. Und Kontingenz liegt der Unterscheidung von Naturrecht und
positivem Recht zugrunde: „Das für politische Gemeinschaften geltende Recht
zerfällt in das natürliche und das gesetzliche. Natürlich ist jenes, das überall die
gleiche Kraft besitzt, unabhängig davon, ob es anerkannt ist oder nicht.
Gesetzlich ist jenes, dessen Inhalt ursprünglich so oder anders sein kann und
erst durch positive Festsetzung so bestimmt wird.“71 Gerechtigkeit ist nur im
Staat zu verwirklichen: „Die Gerechtigkeit (dikaiosyne) aber stammt erst vom
Staate her, denn das Recht ist die Ordnung der staatlichen Gemeinschaft; das
Recht (dike) aber ist die Entscheidung darüber, was gerecht ist.“72
Die soziologische Interpretation73 hat die Merkmale herausgearbeitet, unter
denen die Polis der Ort ist, an dem Politik, Recht und Ethik zusammenfließen.
Sie ist bei Aristoteles als Gemeinschaft derer konzipiert, die zur Teilnahme am
70
71
72
73
Vgl. insbes. Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, Göttingen 1962.
Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1129 b.
Aristoteles, Politik, 1253 a.
Vgl. insbes. Richard Münch, Basale Soziologie. Soziologie der Politik, Opladen 1982,
S. 29-38.
36
Gerichtsverfahren und der Gesetzgebung berechtigt sind. Und dies gilt nur für
den, der zu vernunftgemäßem und tugendhaftem Handeln befähigt ist, also für
die ethisch Qualifizierten.74 Tugend und Gerechtigkeit als einzige in sich selbst
begründete Zwecke menschlichen Handelns fallen mit der Zweckbestimmung
der polis zusammen, auf die der Mensch als zoon politikon eben deshalb
angewiesen ist, weil ihm als Einzelnem die Verwirklichung von Tugend und
Gerechtigkeit nicht möglich ist.
Diese enge Verschlingung von Handeln, Recht und Ordnung hat ihre
soziologischen Grenzen in der zunehmenden Eigenständigkeit komplexer
sozialer Strukturen, die „richtige“ Entscheidungen weder im Medium des
ethischen Diskurses noch durch die Auswahl der ethisch Qualifizierten rein
automatisch hervorbringt.75 Das Modell einer ethischen Steuerung von Recht
und Politik durch ein tugendhaftes und gerechtes Handeln scheitert also an den
Komplexitätsschranken (Luhmann) bzw. dem zwangsläufigen Übergang von
der „Lebenswelt“ in die Sphäre der „Systemwelt“ (Habermas ).76
In der rechtsphilosophischen Deutung von Hans Welzel hingegen wird die
Preisgabe der „Idee eines ideellen Naturrechts“, und zwar aus: empirischen
Gründen beklagt. Nicht der Mangel an empirischen Überlegungen – wie sie von
soziologischer Seite moniert werden –, sondern die empirisch orientierte
Relativierung der besten Verfassung, mit starkem Mittelstand und gemäßigter
Herrschaftsform, ist der Kritikpunkt eines Rechtsphilosophen! Dafür wird die
Aristotelische Zurechnungslehre in ihrer Bedeutung für die strafrechtliche Lehre
von Schuld und Handlung gewürdigt,77 die bis zu Pufendorf hin die
philosophische und strafrechtliche Handlungslehre78 bestimmt hat und in der
Erfassung des Problems der Handlungskontingenz noch heute nachwirkt.
74
75
76
77
78
Hierauf verweist auch Joachim Ritter in dem Vortrag Das Naturrecht bei Aristoteles hin.
Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel. Frankfurt am Main 1969.
So argumentiert Richard Münch, Basale Soziologie. Soziologie der Politik, a.a.O.,
S. 38 ff.
Vgl. auch Jürgen Habermas, Die klassische Lehre von der Politik in ihrem Verhältnis zur
Sozialphilosophie, in: Jürgen Habermas, Theorie und Praxis, Frankfurt am Main 1968;
siehe auch unten Kap. 2, Zweiter Teil.
Vgl. Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, a.a.O., S. 35-37.
Vgl. auch die interessante Rezension zu Loening, Geschichte der strafrechtlichen
Zurechnungslehre, Jena 1903, die in Victor Karadys Werkverzeichnis (Emile Durkheim,
Textes, Bd. 3, Paris 1975, S. 520) Durkheim zugeschrieben wird, obwohl sie – nicht
signiert – nach der Zuständigkeit in der Année sociologique auf Paul Fauconnet
zurückgehen dürfte (vgl. L’Année sociologique 8, 1903, S. 477-479).
37
2. Krieg und Ordnung:
Das Hobbessche Problem
Wenn wir den ideengeschichtlichen Zeitraffer bei Thomas Hobbes anhalten,
stoßen wir auf den Theorieproduzenten, der als Ahnvater des soziologischen
Ordnungsproblems79 und gleichzeitig bleibender Bezugspunkt der
rechtsphilosophischen Diskussion gilt.
Unter rechtsphilosophischem Vorzeichen ist die eigentliche Tat des Thomas
Hobbes der Nachweis, „daß die Hauptaufgabe des Rechts nicht ist, eine ideale,
sondern eine wirkliche Ordnung zu schaffen.“80 Er suspendiert den Zweifel,
der sich gegenüber der Geltungskraft des positiven Rechts, aus der Sphäre eines
überpositiven Rechts, erhebt. Es ist der bloße Ordnungswert der rechtlichen
Ordnung, der den Naturzustand des Chaos überwindet. Und damit unternimmt
Hobbes eine naturrechtliche Begründung des positiven Rechts. Ihre empirische
Ausrichtung ist die „bedeutendste Komplementärtheorie zum idealistischen
Naturrecht“.81
Worin liegt nun die „empirische“ Ausrichtung von Hobbes? Es ist die Annahme
einer Doppelnatur des Menschen, die zur Überwindung des Naturzustandes und
der Herausbildung sozialer Ordnung führt: „Der Staat ist die Resultante aus den
beiden Grundkräften des Menschen: aus dem Naturtrieb, der zum Krieg aller
gegen alle führt, und aus der gegenseitigen Furcht, die aus jenem bellum
omnium contra omnes entsteht.“82
Die Legitimität des Staates gründet in seiner Fähigkeit, Sicherheit und Schutz
zu gewähren. Hieraus resultiert zugleich die Grenze der Gehorsamkeitspflicht:
„The obligation of subjects to the sovereign, is understood to last as long, and
79
80
81
82
Die gilt nicht nur für Talcott Parsons, sondern etwa auch für Ferdinand Tönnies, der über
Hobbes zur Differenzierung von Gesellschaft und Gemeinschaft gelangt ist; (vgl. hierzu:
Werner Gephart, Soziologie im Aufbruch. Zur Wechselwirkung von Durkheim, Schäffle,
Tönnies und Simmel, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1982,
S. 1-25 (S. 6 ff.).
Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, a.a.O., S. 115.
Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, a.a.O., S. 116.
Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, a.a.O., S. 117.
38
no longer, than the power lasteth, by which he is able to protect them.”83 Damit
fällt die Begründung von Rechtspflichten mit der Staatsfunktion zusammen.
Erst die staatliche Positivierung erhebt Darstellungen über Gut und Böse in den
Status von „Recht“. Das Recht bezieht sich auf Handlungen, deren Wertnatur –
ursprünglich indifferent – aus dem Bezug auf Recht erwächst in der Form des
voluntaristischen Befehls: Auctoritas non veritas facit legem.
Soweit Hobbes in der ordnungsbegründenden Leistung des faktischen Rechts
einen materialen Wert, die Rechtssicherheit, begründet, ist die einmalige
Synthese von Positivität und Idealität gelungen. So die These von Hans Welzel.
Eine Einschränkung ist nur in der Verabsolutierung eines einzigen Werts: der
Sicherheit des Lebens zu sehen, worin freilich der Werthorizont des Menschen
nicht ausgeschöpft ist. Ordnungsproblem, Handlungslehre und Recht sind also
in der rechtsphilosophischen Deutung von Hobbes auf charakteristische Weise
miteinander verbunden.
Die soziologische Rekonstruktion für Zwecke der soziologischen
Theoriebildung
unterscheidet
sich
von
dieser,
exemplarisch
herausgenommenen, rechtsphilosophischen84 Deutung in unzweideutiger Weise.
Das berühmte Kapitel von Talcott Parsons über „Hobbes and the problem of
order“ setzt freilich mit einem fundamentalen Irrtum ein: „Hobbes is almost
entirely devoid of normative thinking. He sets up no ideal of what conduct
should be, but merely investigates the ultimate conditions of social life.”85
Diese letzten Bedingungen des sozialen Lebens sind aus der Vielfalt der
Leidenschaften hergeleitet: Der Mensch ist kein vernunftloses Wesen. Im
Rahmen einer „utilitaristischen“ Theorie – im Sinne von Parsons – muss die
Rationalität der Akteure unterstellt werden. Aus ihr sind jedoch keine Grenzen
für die Verfolgung ihrer Leidenschaften abzuleiten. Gewalt und Betrug sind die
notwendigen Konsequenzen dieser Ausstattung des Individuums. Der
Naturzustand ist erbärmlich: So heißt es im Leviathan:
83
84
85
Thomas Hobbes, Leviathan. Or the Matter, Form and Power of a Commonwealth.
Ecclesiastical and Civil. The English Works of Thomas Hobbes, ed. by William
Molesworth, London 1839 (1651), chapt. 21, p. 208.
Vgl. etwa Otfried Höffe (Hrsg.), Thomas Hobbes. Anthropologie und Staatsphilosophie,
Freiburg 1981.
Talcott Parsons, The Structure of Social Action, New York 1968 (1937), S. 89. Auch
Schelsky ist der juristisch normative Hintergrund entgangen. Vgl. Helmut Schelsky,
Thomas Hobbes. Eine politische Idee, Berlin 1981 (1941).
39
„... no arts; no letters; no society; and which is worst of all, continual fear, and
danger of violent death; and the life of man, solitary, poor, nasty, brutish, and
short.”86 Gerade die individuelle Zweck-Mittel-Rationalität führt unter der
Annahme knapper Güter zum hemmungslosen Kampf aller gegen alle. Da
Macht das universelle Mittel zur Erlangung knapper Güter ist, wird die
Erlangung und Erweiterung von Macht zum unmittelbaren Handlungsziel.
Damit ist dann der kumulative Prozess des Aufbaus und der wechselseitigen
Verstärkung von Macht in Gang gesetzt: „A purely utilitarian society is chaotic
and unstable, because in the absence of limitations on the use of means,
particularly force and fraud, it must, in the nature of the case, resolve itself into
an unlimited struggle for power; and in the struggle for the immediate end,
power, all prospect of attainment of the ultimate, of what Hobbes called the
diverse passions, is irreparably lost.”87 Parsons ist fasziniert, wie viele andere,88
von der Radikalität des Ansatzes, der in seinem theoretischen System sowohl
die allgemeinen Grenzen des utilitaristischen Ansatzes aufweist, wie die
spezifische „Lösung“ des Ordnungsproblems von Hobbes diskreditiert: Der
Utilitarismus führt entweder zu einer Begrenzung der möglichen
Handlungsziele oder der Begrenzung des Handlungsspielraums durch
konditionale Elemente der Handlungssituation. Die Hobbessche „Lösung“, das
Machtproblem durch Steigerung von Macht zu lösen, muss nach der
Einschätzung Parsons’ in höchstem Maße instabil bleiben, solange die Furcht
vor Sanktionen nicht durch andere Motive der Handlungsorientierung ergänzt
wird. Die von Parsons sogenannte „voluntaristische“ Handlungstheorie versteht
sich – wie wir weiter sehen werden – als Lösung dieser Problematik. Ein
wesentliches Element zur Umgehung des utilitaristischen Dilemmas ist hierbei
der Aufbau einer gemeinsamen normativen Ordnung. Soweit die Hobbes-
86
87
88
Thomas Hobbes, Leviathan, a.a.O., chapt. 13, p. 113.
Talcott Parsons, The structure of social action, a.a.O., S. 93 f.
Die Deutung von Carl Schmitt hebt gegenüber dieser rationalistischen Deutung die
mythologischen Aspekte im Denken von Hobbes hervor, vgl. Carl Schmitt, Der Leviathan
in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols,
Köln 1982 (1938). Zu einer neueren Deutung des symbolischen Gehalts vgl. die Studie
von Reinhard Brandt, Das Titelblatt des Leviathan und Goyas El Gigante, in: Udo
Bernbach und Klaus M. Kodalle (Hrsg.), Furcht und Freiheit, Leviathan-Diskussion
300 Jahre nach Thomas Hobbes, Opladen 1982, S. 203-231.
40
Lektüre von Parsons, die gerade den juristisch-normativen Anteil im Denken
von Hobbes gering schätzt.89
Die Diskrepanz zwischen der rechtsphilosophischen und der soziologischen
Deutung ist danach offensichtlich. Betont die Lesart von Hans Welzel gerade
die faktische Ordnungsleistung des beliebigen Rechts als eines für sich:
materialen Wertes, so versucht Parsons gerade darzulegen, warum die
Hobbessche Lösung nicht einmal faktische „Ordnung“ erzeugen kann.
3. Das Recht als Ausgeburt der kollektiven kommunikativen Vernunft der
volonté générale: Jean Jacques Rousseau
In der Deutung von Welzel knüpft Jean Jacques Rousseau unmittelbar an die
Problemstellung von Hobbes an, Positivität und Idealität miteinander zu
versöhnen. Die Grundfrage lautet: „Trouver une forme d’association qui
défende et protège de toute la force commune la personne et les biens de chaque
associe, et par laquelle chacun, s’unissant à tous, n’obéisse pourtant qu’à luimême, et reste aussi libre qu’auparavant.’ Tel est le problème fondamental dont
le Contrat social donne la solution.“90 Rousseau durchbricht in seiner „Lösung“
des Problems die Konsensfiktionen der Anerkennungslehre von Hobbes, die im
Unterwerfungsvertrag die Herrschaft auf Dauer stellt: Nur ein
gemeinschaftliches Interesse stellt die Vermittlung von individueller Freiheit
und gesellschaftlicher Bindung her, während ein Sonderinteresse als volonté
particulière keinen Anspruch auf allgemeine Verbindlichkeit erheben kann.
Damit ist also zugleich ein Moment der inhaltlichen Richtigkeit eingeführt: „Ist
ein Interesse in der Weise gemeinschaftlich“ – so die Deutung von Welzel –,
„daß jeder einzelne, wenn er dafür eintritt, zugleich sein eigenes wahrnimmt, so
ist es allein vermöge dieser gleichmäßigen Gemeinschaftlichkeit notwendig
auch inhaltlich richtig, mag es auch von objektiv-transzendentalem Standpunkt
materialer Richtigkeit aus kein wahres Interesse sein.“91
89
90
91
Vgl. hierzu die bezeichnenderweise von Ferdinand Tönnies erstmals edierte Studie von
Thomas Hobbes: The Elements of Law. Natural and Politic, ed. by Ferdinand
Tönnies, 1889, with a new Introduction by M.M. Goldsmith, London 1969.
Jean-Jacques Rousseau, Du contrat social ou Principes du droit politique, in: Du contrat
social et autres oeuvres politiques, Paris 1975 [Garnier] (1762), chap. I, 6, S. 243.
Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, a.a.O., S. 159.
41
Die Richtigkeit ist danach Folge, nicht Bedingung der Allgemeinheit seines
Interesses: „Er wollte die von Hobbes ungelöste Antinomie zwischen
Staatsmacht und Staatszweck, zwischen potentia absoluta und potentia ordinata
überwinden, den wirklichen Staat so konstruieren, daß das Richtige gleichsam
von selbst herausspringt, so daß ein idealer Maßstab – gleichgültig, ob im Sinne
des alten Naturrechts oder im Sinne der kantischen regulativen Idee –
überflüssig wird.“92 Damit also fällt im „Contrat social“, der ja den zumeist
unterschlagenen Untertitel der „Principes du droit publique“ trägt, die
theoretische Begründungslast der Konstruktion von Verfahren zu, in der die
volonté générale von den volontés particulières geschieden wird.
Unter dem Gesichtspunkt materialer Richtigkeit freilich muss die Frage, ob das
so erzeugte allgemeine Interesse auch das „Richtige“ ist, offen bleiben. Es sei
denn, der wirkliche Konsens verbürgt zugleich die materiale Wahrheit der
normativ formulierten Geltungsansprüche. Diese Ambivalenz von
„prozeduraler Rationalität“93 und durch den richtigen Gebrauch der Vernunft
enstehender Rationalität wird uns in den konkurrierenden Sichtweisen von
Niklas Luhmann und Jürgen Habermas wiederbegegnen.
Der rechtsphilosophischen Deutung soll nunmehr eine soziologisch orientierte
Interpretation gegenübergestellt werden. Emile Durkheim hat in einer frühen
Schrift eine prototypische soziologische Deutung der Philosophie Rousseaus
geliefert.94
Ebenso wie Parsons an Hobbes die immanente Instabilität einer reinen
Machtordnung demonstriert, interessiert Durkheim die Frage, inwiefern aus den
Annahmen der Naturrechtslehre Rousseaus eine Ordnung plausibel wird, die
aus der normativen Durchdringung des sozialen Lebens erwachsen soll.
92
93
94
Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, a.a.O., S. 160.
So die Formel von Klaus Eder. Prozedurale Rationalität. Moderne Rechtsentwicklung
jenseits von formaler Rationalisierung, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 7, 1986, S.130.
Sie legt einerseits den Grundstein seiner eigenen Norm- und Wertlehre und macht uns
zugleich plausibel, aus welchen inneren Gründen Durkheim auch in Rousseau seinen
„précurseur“ findet. In der Tradition der Kritischen Theorie – man vergleiche die
Einleitung Adornos zu „Philosophie und Soziologie“ – ist dies eben keineswegs
selbstverständlich. Das Pariser Exil hat freilich auf ironische Weise die emigrierten
Vertreter der Kritischen Theorie mit den Resten der Durkheimschule in Verbindung
gebracht.
42
Die Rousseau-Deutung von Durkheim akzentuiert drei Momente, die im
Übrigen für die Entwicklung seines eigenen Ansatzes von grundlegender
Bedeutung sind:
(a) Der Naturzustand wird dadurch charakterisiert, dass Bedürfnisse und Mittel
in einem ausgeglichenen Verhältnis zueinander stehen: Abundanz und ein
karges Bedürfnisniveau garantieren dieses harmonische Paradies, das nur von
solitären Individuen bevölkert ist.
Diese nicht-soziale Ursprungsnatur des Menschen ist nach Durkheim für die
Widersprüche verantwortlich, die sich aus dem Rousseau’schen System
ergeben. Dennoch wird die Umwandlung des Naturzustandes in den
gesellschaftlichen Zustand aus einer Annahme plausibel, die den Kern der
impliziten Persönlichkeitstheorie von Durkheim ausmachen wird: die
Unordnung in der Bedürfnislage des Menschen, die eintritt, sobald die
begrenzenden und wohlrespektierten Kräfte der äußeren Natur zur
unmittelbaren Bedürnisbefriedigung nicht mehr ausreichen. Dann reagiert die
„Natur“ des Menschen mit einer Anpassung der Intelligenz, die gleichzeitig
neue Bedürfnisse weckt: „Or une fois l’équilibre rompu, c’en est fait; les
désordres s’engendrent les uns les autres. Une fois que la borne naturelle est
franchie, il n’est plus rien qui contienne la nature dévoyée. Les passions
s’engendrent les unes les autres; elle stimulent l’intelligence, celle-ci vient leur
offrir des objectifs nouveaux qui les excitent, les exaspèrent. “ 95
Erst aus dieser Situation der ungehemmten und durch die Intelligenz
entfesselten Bedürfniskrisen entsteht ein Gefühl von gegenseitiger
Abhängigkeit der Menschen untereinander. Auf diese Weise wird der
Naturzustand auf „natürliche“ Weise verlassen.
(b) Im Gegensatz zur Überzeugung eines Montesquieu bewirkt die zunehmende
Interdependenz, als Folge einer rudimentären Arbeitsteilung, nicht automatisch
auch die soziale Kohäsion: „L’harmonie naissait (selon Montesquieu, W.G.) du
partage des fonctions et de la réciprocité des services. Les individus étaient
directement liés les uns aux autres et la cohésion totale n’était qu’une résultante
de toutes ces affinités particulières. “ 96 Das einigende Band resultiert vielmehr
95
96
Emile Durkheim, Le contrat social de Rousseau, nach einer Vorlesung Durkheims
posthum von Xavier Léon veröffentlicht in: Revue de Métaphysique et de Morale 25,
1918, S. 1-23; S. 129-161; abgedr. in: Emile Durkheim, Montesquieu et Rousseau.
Précurseurs de la sociologie, Paris 1966 (S. 134).
Emile Durkheim, Le contrat social de Rousseau, a.a.O., S. 186.
43
aus der volonté générale, die ganz auffällige Parallelen zu Durkheims Lehre der
conscience collective aufweist.97 Der Verlust der bedürfnisbegrenzenden
äußeren Natur bedarf – so Durkheim – einer neuen Kraft, die sich über das
Individuum setzt und ihm den gleichen Respekt wie die verlorene Natur
einflößt: Dies kann nur die soziale Welt sein, die sich in der volonté générale zu
einer moralischen Kraft verdichtet.
(c) Aber die volonté générale bedarf ebenso wie der individuelle „Wille“ der
Manifestation, um wirksam zu werden. Diese Rolle wird durch die
Gesetzgebung erfüllt. Volonté générale und Normfindung sind dabei aufs
Engste miteinander verschmolzen. Emile Durkheim führt aus: „Le seul moyen
de remédier au mal ... est donc d’armer la loi d’une force réelle, supérieure à
l’action de toute volonté particulière. “ 98
Damit sind zugleich nach Durkheim die immanenten Instabilitäten einer
Ordnung bezeichnet, die aus der Generierung allgemein verbindlicher,
zwanglos akzeptierter Normen allein nicht entstehen kann. „Mais une telle
cohésion n’est possible que dans une cité médiocrement étendue où la société
est partout présente, où tout le monde est placé dans des conditions d’existence
à peu près semblables et vit de la même vie. Chaque individu tend davantage à
suivre son sens propre; et par suite l’unité politique ne peut se maintenir que
grâce à la constitution d’un gouvernment tellement fort qu’il est nécessité à se
substituer à la volonté collective et à dégénérer en despotisme.“99
Eine nur geringe Systemgröße, die Omnipräsenz der sozialen Kräfte und die
Gleichheit der Existenzbedingungen sind also die Voraussetzungen einer
normativen Ordnung, in der das Gesetz mit dem Gemeinwillen zusammenfließt,
ohne dass die Normkonformität durch Zwang garantiert sein müsste. Sobald
diese idealen Bedingungen verlassen sind, schlüge die normative Ordnung in
eine Machtordnung um, die den selbstzerstörerischen Mechanismus der
Machtentfaltung eben so auslöst, wie er in der Lösung des Thomas Hobbes
angelegt ist. Während in der rechtsphilosophischen Kritik von Welzel die
allergrößten Zweifel in die gleichsam automatische Selbsterzeugung einer
materialen Wertethik aus dem Geiste der volonté générale gesetzt werden, ist
97
98
99
Vgl. die Formulierung ebda., S. 181, mit derjenigen der Division du travail social, Paris,
1893.
Emile Durkheim, Le contrat social des Rousseau, a.a.O., S. 150.
Emile Durkheim, Le contrat social de Rousseau, a.a.O., S. 187.
44
dies nicht das Problem von Durkheim. Er moniert vielmehr, dass Rousseau die
Integrationsfrage als Folgeproblem sozialer Differenzierung mit dem allzu
naiven Denkmittel der Interdependenz lösen wolle.100 Was vor allem in der
deutschen Rousseau-Kritik als Totalitarismusverdacht erscheint,101 liest sich bei
Emile Durkheim dahin, dass Rousseau das Problem sozialer Differenzierung
unterschätzt habe. Die rein normenorientierte Lösung der Ordnungsfrage führt
also in ein normativistisches Dilemma, entweder den Tatbestand sozialer
Differenzierung zu unterschätzen, oder das Abgleiten in eine reine
Machtordnung hinter den Formeln eines Gemeinwillens voluntaristisch zu
kaschieren.
Aus unserer Lektüre von Aristoteles, Hobbes und Rousseau kristallisiert sich als
die grundlegende Fragestellung zu einer Re-Lektüre auch der soziologischen
Klassiker heraus: Wie ist eine soziale Ordnung denkbar, in der „Gesellschaft“
nicht allein durch fragwürdig gewordene gemeinsame Zwecke und auch nicht
durch eine bloße, in sich selbstdestruktive Machtakkumulation
zusammengehalten ist, aber auch der vermeintlichen Einheit rein normativer
Ordnungen misstraut wird?
In der Verschränkung von (rechts-)philosophischer und soziologischer Deutung
der den Disziplinen gemeinsamen Theoriefiguren Aristoteles, Hobbes und
Rousseau hat sich somit ein wechselbezüglicher Problemzusammenhang von
Handeln, Ordnungsbildung und Rechtsvorstellung herausgeschält. Das
teleologische Handlungsmodell102 des Aristoteles begünstigt eine
Ordnungsvorstellung, die auf ein gemeinsames Gut bezogen ist. Dieser
„teleologischen Ordnung“ entspricht ein Rechtsbegriff, der zwischen den
100 Dass Durkheims eigene Lösung der „Formes élémentaires de la vie religieuse“ Rousseaus,
im Übrigen ja auch biographisch bedeutsamen, „religion civique“ nahe steht, ist eine
andere Frage. Allerdings ist zu bezweifeln, ob die Eigenschaften der religion civique dazu
angetan sind, die Folgeprobleme differenzierter Gesellschaften zu lösen: „Les dogmes de
la religion civile doivent êtres simples, en petit nombre, énoncés avec précision, sans
explications ni commentaires.“ (Jean-Jacques Rousseau, Du contrat social ou Principes du
droit politique, a.a.O., S. 325)
101 So vor allem die Deutung von Iring Fetscher: Rousseaus politische Philosophie. Zur
Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs. 2. erw. Auflage, Neuwied 1968.
102 Der Sprachgebrauch knüpft an Habermas und Münch an. Zur Handlungstheorie am
klarsten: Jürgen Habermas, Erläuterungen zum Begriff des kommunikativen Handelns,
Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M,
1982; Richard Münch, Theorie des Handelns. Zur Rekonstruktion der Beiträge von
Talcott Parsons, Emile Durkheim und Max Weber, Frankfurt am Main 1982; siehe weiter
unten Zweiter Teil, Kap. 2 und 3.
45
ewigen Wahrheiten des natürlichen und des kontingent gesatzten Rechts
unterscheidet. Das strategische Handlungsmodell des Hobbes führt zu einer
Ordnungsidee, die durch den Aufbau von Macht geprägt ist. Das Rechtskonzept
bleibt durch die Entwicklung der Machtordnung bestimmt und in seiner
Stabilität begrenzt. Das normenregulierte Handlungsmodell von Rousseau hat
eine Entsprechung im Aufbau einer normativen Ordnung, in der Individual- und
Allgemeininteresse der Intention nach untereinander versöhnt sind. Recht und
Ordnung verschmelzen zu einer Einheit, die das gesamte soziale Leben
durchdringt.
In einem ersten Rekonstruktionsschritt wollen wir diesen Zusammenhang
schematisch festhalten:
Schaubild (1): Der Zusammenhang von Handeln, Ordnungsbildung und Recht
Handeln
Aristoteles
(Schütz)
Hobbes
(Parsons)
Rousseau
(Durkheim)
teleologisches
Handeln
strategisches
Handeln
Normenreguliertes Handeln
Ordnung
Recht
teleologische
Ordnung
Naturrecht und
positives Recht
Machtordnung
durch Macht
garantiertes
Zwangrecht
normative Ordnung
46
Wie aber stellt sich dieser Zusammenhang für Weber dar?
Fragen zur Wiederholung der ersten Vorlesungseinheit
1. Gibt es Gründe, warum das Recht ein soziologisches „Stiefkind“
geblieben ist, d. h. aus einer ursprünglich zentralen Position der
soziologischen Forschung an die Peripherie verdrängt wurde?
2. Wenn man Gesellschaft, wie bei Talcott Parsons, in vier primäre
Subsysteme der Gesellschaft (Kultur, Gemeinschaft, Politik,
Wirtschaft) differenziert, wo ist dann der Ort des Rechts?
3. In Webers Analyse von Recht ist die Unterscheidung von
juristischer Betrachtungsweise grundlegend.
3.1. Was bedeutet diese Unterscheidung für die Frage der
empirischen und der normativen Geltung eines
Rechtssatzes?
3.2. Gibt es trotz der Trennung von normativer und empirischer
Sphäre ein „Hineinwirken“ der Norm in die empirische
Geltungssphäre?
3.3. Inwieweit spielt hierbei die Vorstellung der Akteure von
der Geltung der Norm eine Rolle? (Faktische Kraft des
Normativen)
3.4. Ist angesichts der Trennungsthese eine „Soziologisierung“
der Jurisprudenz möglich oder überhaupt wünschenswert?
3.5. Nennen Sie ein Beispiel für eine normative Positivierung
faktisch geltender Bräuche und Usancen im Recht
(Normative Kraft des Faktischen)!
4. Schildern Sie den Prozess der wechselseitigen Abstimmung von
Erwartungen (als „Einverständnishandeln“) und zeigen Sie,
welche Rolle hierbei der Bezug auf „normative Ordnungen“
einnimmt!
5. Charakterisieren sie das Ordnungsproblem bei Thomas Hobbes
und zeigen Sie, wie Recht und Herrschaft den Ausweg aus dem
Naturzustand weisen sollen.
47
Zweite Vorlesung
Recht und soziologische Begriffsbildung.
Die Geburt der Soziologie aus dem Geist der Jurisprudenz
„Es ist aber allerdings das unvermeidliche Schicksal aller Soziologie:
daß sie für die Betrachtung des überall stetige Übergänge zwischen den
‚typischen‘ Fällen zeugenden realen Handelns sehr oft die scharfen,
weil auf syllogistischer Interpretation von Normen ruhenden,
juristischen Ausdrücke verwenden muß, um ihnen dann ihren eigenen,
von dem juristischen der Wurzel nach verschiedenen Sinn
unterzuschieben.“103
Zu den auffälligsten Tatbeständen in der Aneignung Max Webers gehört die
Tatsache, dass ganz unterschiedliche Disziplinen sich seiner Erbschaft
versichern wollen: Die Wissenschaftstheorie als Zweig der Philosophie sieht
Weber als einen der ihren an,104 die Geschichtswissenschaft beginnt, Max
Weber für sich zu reklamieren,105 während für die Soziologie nie infrage stand,
daß ihr Gründervater Soziologe und sonst gar nichts ist, was in merkwürdigem
Kontrast zu der Tatsache steht, dass Weber das Wort „Soziologie“ bis in seine
letzten Lebensjahre in distanzierende Anführungszeichen setzt.
In diesem Bild der disziplingeschichtlichen und systematischen Zurechnungen
Max Webers wird freilich seine unbestreitbare fachgeschichtliche Herkunft aus
der Jurisprudenz vernachlässigt.
Angesichts der gewaltigen interpretatorischen Kraftakte, die auf das Werk Max
Webers zielen,106 bleibt dieser Tatbestand in sich untersuchungswürdig. Ich
103 Max Weber, Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, in: Logos.
Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur 4, 1913, S. 253-294, abgedr. in:
Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1973, S. 440.
104 Dies lässt sich seit Alexander von Scheltings Arbeit verfolgen, vgl. Max Webers
Wissenschaftslehre. Das logische Problem der historischen Kulturerkenntnis. Die Grenzen
der Soziologie des Wissens, Tübingen 1934.
105 Vgl. insbesondere die Beiträge in Jürgen Kocka (Hrsg.), Max Weber, der Historiker,
Göttingen 1986. [Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 73]
106 So einerseits die religionssoziologische Pointierung bei Friedrich H. Tenbruck
andererseits die „anthropologische“ Deutung einer einzigen Problemstellung im Werk
Max Webers bei Wilhelm Hennis (Max Webers Fragestellung, Tübingen 1987).
48
möchte im Folgenden etwas Bescheideneres unternehmen: Zunächst ist – auch
noch vor der vollständigen Veröffentlichung des Briefwechsels – aus allgemein
zugänglichen Quellen zu zeigen, in welcher Weise sich Max Weber als Jurist
verstanden hat (I); sodann lässt sich an ausgewählten Beispielen demonstrieren,
inwieweit Webers juristische Herkunft in das soziologische Denken übergreift
(II), um schließlich das Verhältnis zur Religionssoziologie anzusprechen (III).
I.
„Öde Juristerei“ und Lob des formal-rationalen Rechts.
Ambivalenzen in Webers Verhältnis zur Jurisprudenz
Max Weber hat vom Studium der Rechte über die juristische Promotion, das
Assessorexamen bis zur Habilitation an der juristischen Fakultät eine glatte,
wenn nicht glänzende Juristenkarriere durchlaufen.107 Dennoch ist sein
Verhältnis zur Jurisprudenz nicht ungetrübt; es ist vielmehr außerordentlich
zwiespältig. Über die Studienmotivation wissen wir nur wenig, wenn man von
dem außerordentlichen Bildungsdrang absieht, der die Jugendbriefe durchzieht.
Max Weber sen. war Jurist, und so lag die Jurisprudenz wohl näher als die noch
unreife Nationalökonomie oder gar die brotlosen Künste der Philosophie; von
Soziologie ganz zu schweigen, die es ja allenfalls dem Namen nach und als
Schreckbild positivistisch-französischer Wissenschaften gab.
Aus den Jugendbriefen108 geht nun hervor, zu welchen Seiten der Jurisprudenz
sich Weber hingezogen fühlte. Das Strafrecht ist ihm zuwider und überdies von
minderem intellektuellem Wert. Um die auf Tanzlustbarkeiten verschwendete
Zeit zu charakterisieren – Weber zog den Paukboden dem Tanzboden vor –
führt er aus: „Innerhalb dieses Zeitraumes kann man den allgemeinen Teil des
Reichsstrafgesetzbuches ganz durcharbeiten und den besonderen wenigstens bis
107 Wichtige Hinweise finden sich in der Einleitung von Jürgen Deininger zu: Max Weber,
Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht, hrsg.
von Jürgen Deininger, Tübingen 1986 (1891). [MWG I/2]; vgl. auch den nach meinen
Recherchen erschienenen Artikel von Realino Marra, Gli studi giuridici nella formazione
di Max Weber (Heidelberg 1882 – Berlino 1892), in: Materiali per una storia della cultura
giuridica 29, 1989, S. 355-404. Nunmehr auch: ders. Dalla communità al diritto moderno,
La formazione giuridica di Max Weber 1882-1889, Turin 1992.
108 Vgl. Max Weber Jugendbriefe. Mit einer Einführung von Marianne Weber, Tübingen o.J.
(1936), S. 214.
49
zu den gemeingefährlichen Verbrechen.“109 Es kann daher auch nicht
verwundern, in Webers „kulturwissenschaftlichen“ oder „soziologischen“
Schriften kaum etwas von Strafe und Verbrechen zu lesen. Dies war übrigens
bei Durkheim, der eben kein gelernter Jurist war, anders.
Gleichwohl hat die eher oberflächliche Befassung mit dem Strafrecht gereicht,
um – u.a. unter Bezug auf Gustav Radbruch110 – nicht nur den eigenen
Handlungsbegriff zu formen, sondern auch die Bedeutung hypothetischer
Kausalverläufe für das historische Zurechnungsurteil zu importieren.111
Weber entspricht vielmehr dem Bild des Zivilrechtlers, dessen Schulung in der
gemeinrechtlichen Doktrin die Konturen des formal-rationalen Rechts liefert:
„Systemglaube“, „Lückenlosigkeit“, „vollständige Subsumierbarkeit“ der
Wirklichkeit unter rechtlich geformte Tatbestände usf.112; dieser „Idealtypus“
des Rechts ist so weit vom „wirklichen“ Recht entfernt, dass die Tatsachen des
Rechts gar nicht erst in den Blick zu geraten scheinen.
Dennoch ist Weber als Jurist kein eingefleischter Dogmatiker, sondern von
Beginn an rechtshistorisch interessiert. Und dies gilt auch für seinen Zugang
zum römischen Recht.
So moniert Weber in einem Studienbrief an die Mutter, dass die Darstellung der
„Institutionen“ durch den berühmten Lehrer des römischen Rechts Immanuel
Bekker zwar gefällig sei, dafür aber wird das Kolleg über römische
Rechtsgeschichte kritisiert: „Die römische Rechtsgeschichte dagegen, die er
ganz mit dem anderen Kolleg zusammenhängend liest, gefällt mir, dem Puchta
noch im Kopf sitzt, (...) deshalb weniger, weil es keine Geschichte ist, sondern
in erster Linie eine Darstellung des ausgebildeten römischen Zivil- und
Kriminalprozesses mit wenigen rechtsvergleichenden Intermezzos.“113
109 Brief an die Mutter vom 24. Januar 1888, abgedr. in: Max Weber, Jugendbriefe, a.a.O., S.
289.
110 Die Briefe Radbruchs an Weber werden demnächst im Zuge der Briefedition das
Verhältnis Radbruch – Weber ein Stück weiter erhellen.
111 Vgl. Max Weber, Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik,
abgedr. in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre a.a.O., S. 215-290, S. 268 ff.
Diese juristische Pointe entgeht Tenbruck in seiner Diskussion des Meyer-Aufsatzes; vgl.
Friedrich H. Tenbruck, Max Weber und Eduard Meyer, in: Wolfgang J. Mommsen und
Wolfgang Schwentker (Hrsg.), Max Weber und seine Zeitgenossen, Göttingen 1988, S.
337-379.
112 Vgl. die Aufzählung der Merkmale des formal-rationalen Rechts am Schluss des § 1 der
sogenannten „Rechtssoziologie“ Max Webers.
113 Brief an die Mutter vom 2. Mai 1882, abgedr. in: Max Weber, Jugendbriefe, a.a.O., S. 41.
50
Damit ist vom ersten Semester an eine Vorliebe für die geschichtliche
Betrachtung des Rechts zu sehen. Zum besseren Verständnis dieser
Orientierung ist daran zu erinnern, dass – wie Weber durch den Bezug auf
Puchta andeutet – die gemeinrechtliche Praxis als Rechtsgeschichte angelegt
war, während das historisch weiter zurückliegende römische Recht als
dogmatisches System entwickelt wurde.
Wenn man Webers weitere Studien hinzunimmt – neben der rechtshistorischen
Prägung durch die Kollegien Theodor Mommsens hat Weber die LogikVorlesung von Kuno Fischer verfolgt – so nimmt es nicht wunder, dass
Spannungen gegenüber einem Studium auftreten, dessen Abschluss auf die
Rechtspraxis zielt. Weber greift eben von Beginn an über die pure
Rechtsdogmatik hinaus, was ihn in die typischen Examensnöte versetzt.
So gesteht Weber in einem weiteren Schreiben an die Mutter vom 17. Februar
1886 zu, dass er sich zur Examensvorbereitung mit einem Repetitorium hätte
befassen sollen. Noch ein Jahr zuvor hatte er über einen Kameraden der
Alemannen berichtet: „ ... er schwitzt hier im Repetitorium bei einem Assessor
– ich glaube, daß ich dergleichen gerade so gut nicht mitmache.“114 Am Ende
schwindet freilich dem cand. jur. Max Weber jun. der Mut: „... ich glaube mich
mit außerordentlich vielen Sachen abgegeben zu haben, die dabei durchaus
nicht in Betracht kommen und mit denen mich zu befassen ich gerade so gut bis
nach dem Examen hätte aufschieben können.“115
Es ist vielleicht interessant, mit dieser Selbstkritik die Vorschläge Emile
Durkheims zur Reform des juristischen Studiums zu vergleichen.116 Gegen eine
allzu formale juristische Ausbildung wäre nach Durkheims Auffassung
eigentlich die Soziologie zu empfehlen. Nur angesichts der mangelnden Reife
dieser Disziplin – so Durkheim! – müsse diese Aufgabe von der
Rechtsgeschichte erfüllt werden. So heißt es in einer Debatte mit Charles Gide:
„ ... la seule manière de donner à la jeunesse l'éducation juridique qui convient,
114 Brief aus Göttingen vom 2. November 1885, abgedr. in: Max Weber, Jugendbriefe, a.a.O.,
S. 185.
115 Brief vom 17. Februar 1886 an die Mutter, abgedr. in: Max Weber, Jugendbriefe, a.a.O.,
S. 202.
116 Emile Durkheim, Contribution à un débat de l'Union pour la vérité. Sur la réforme des
institutions judiciaires: l'enseignement du droit, in: Libres entretiens, 3e série, Bureau de
l'Union pour la vérité 1907; abgedr. in: Emile Durkheim, Textes 1, hrsg. von Victor
Karady, Paris 1975, S. 243-245.
51
c'est de lui donner le sens de ce qu'est l'évolution juridique: ce que peut bien
faire un enseignement historique bien conçu. “117
Max Weber hat sich also, im Spiegel der Auffassung Durkheims, durchaus auf
dem richtigen Wege befunden, zumal dieser behauptet hatte: „ ... histoire et
sociologie sont deux disciplines étroitement parentes et destinées à se confondre
de plus en plus.“118
Nur in der Examenssituation bedauert Weber, auf den wir zurückkommen
wollen, die „außerordentlich vielen Sachen“, die er hätte aufschieben können:
„Jetzt indessen werde ich die Sache eben so versuchen müssen, obwohl jeder
Professor zugesteht, daß die Leute, welche sich haben ‚einpauken‘ lassen, selbst
ohne vorher etwas getan zu haben, weit bessere Examenskandidaten sind als die
strebsamsten Lichter der Studentenschaft.“119
In Professor Frensdorff hat Weber nun wenigstens einen Privatrepetitor, auch
wenn ihn dieser nur in deutscher Rechtsgeschichte examiniert.
Für Webers weiteren Weg ist nun entscheidend, dass er – nach gleichwohl
bestandenem Examen – das Angebot, eine deutsch-rechtliche Dissertation zu
schreiben, höflichst ablehnt. Die Begründung macht Webers Verhältnis zur
Rechtsgeschichte nochmals deutlich: Es sei einfach mit der noch zu
gewinnenden „juristischen Bildung“ unvereinbar, neben dem bildungsträchtigen
Römischen Recht bzw. dem Pandektenrecht auch noch die „Masse politischen
Materials“ im preußischen Landrecht ernsthaft zu betreiben.120 So wird Weber
seine juristische Promotion mit einer Arbeit über die Geschichte der
Handelsgesellschaften im Mittelalter bei Levin Goldschmidt bestreiten.121
Trotz dieses eindeutigen wissenschaftlichen Interesses zieht es Weber auch zur
Praxis hin. In einem weiteren Brief an Frensdorff schildert er sein
unübersehbares Vergnügen an der zivilistischen Arbeit: „Wenigstens merkt man
bei der gegenwärtigen Tätigkeit bei den Zivilkammern doch wieder, was längst
117 Emile Durkheim, in: Textes 1, a.a.O., S. 244.
118 Ebd.
119 Brief vom 17. Februar 1886 an die Mutter, abgedr. in: Max Weber, Jugendbriefe, a.a.O.,
S. 202.
120 Brief an Prof. Frensdorff vom 22. Januar 1887, abgedr. in: Max Weber, Jugendbriefe,
a.a.O., S. 216.
121 Vgl. Max Weber, Entwickelung des Solidarhaftprinzips und des Sondervermögens der
offenen Handelsgesellschaft aus den Haushalts- und Gewerbegemeinschaften in den
italienischen Städten, 1889.
52
nicht mehr der Fall gewesen ist, daß man nicht einer degenerierten Spezies
eines Kanzlisten, sondern ein vielfach der Verwendung zugänglicher Jurist ist
und bei einer juristischen Behörde und nicht in einer schlichten Schreiberstube
gedrillt wird.“122 Diese Einschätzung trifft für die Arbeit in Strafsachen nicht zu,
die er schlichtweg „öde“ findet, und denen er „nie erhebliches
wissenschaftliches Interesse abzugewinnen“123 vermocht hat.
Aus einem Brief an Hermann Baumgarten wissen wir, dass er sich um eine
Stelle als Syndikus beworben hat. Vom Scheitern berichtet er mit großem
Bedauern: „Ich habe eine ganz außerordentliche Sehnsucht nach einer
praktischen Tätigkeit, und diese würde hier vielleicht befriedigt und damit
erledigt worden sein.“124
Weber schlägt dennoch die wissenschaftliche Laufbahn ein, wobei seine
Habilitation nicht ohne Schwierigkeiten verläuft, weil sein in der Promotion
rechtshistorisch anvisiertes Fachgebiet, das Handelsrecht, an der Berliner
Fakultät nach Einschätzung Goldschmidts übermäßig vertreten sei.125
Die Habilitationsschrift schließlich handelt über Römische Agrargeschichte in
ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht.126
Als Privatdozent ist Weber dann verpflichtet, die für sich selbst als
„unwissenschaftlich“ abgelehnten Repetitorien selbst abzuhalten, wonach seine
anfangs empfundene pädagogische Berufung immer mehr zu schwinden
scheint. Die Bewerbung auf einen Lehrstuhl für Nationalökonomie in Freiburg
wird danach plausibel, zumal Weber in einem Brief an Hermann Baumgarten
bekennt: „Ich meinerseits bin im Laufe der Zeit ungefähr zu einem Drittel
Nationalökonom geworden.“127 Und an die Mutter schreibt er, seinen
122 Brief an Prof. Frensdorff vom 16. Juni 1887, abgedr. in: Max Weber, Jugendbriefe, a.a.O.,
S. 247.
123 Brief an Prof. Frensdorff vom 22. Januar 1887, abgedr. in: Max Weber, Jugendbriefe,
a.a.O., S. 215.
124 Brief vom 3. Januar 1891, abgedr. in: Max Weber, Jugendbriefe, a.a.O., S. 326.
125 Brief an Hermann Baumgarten vom 3. Januar 1891, abgedr. in: Max Weber, Jugendbriefe,
a.a.O., S. 326.
126 Vgl. Max Weber, Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und
Privatrecht, hrsg. von Jürgen Deininger, Tübingen 1986 (1891), [MWG I/2].
127 Vgl. den Brief vom 3. Januar 1891, abgedr. in: Max Weber, Jugendbriefe, a.a.O., S. 327.
53
Hoffnungen auf eine Berufung nach Freiburg Ausdruck verleihend: „Leid täte
es mir, wenn ich an die doch relativ öde Juristerei geschmiedet bliebe.“128
Webers Verhältnis zur Jurisprudenz ist also mehrfach gebrochen: Der
juristische Formalismus stößt ihn ab, so sehr günstig in seiner sogenannten
„Rechtssoziologie“ ein Lob der juristischen Dogmatik angestimmt wird. Zu den
einzelnen Rechtsgebieten fühlt sich Weber in unterschiedlichem Maße
hingezogen. Das öffentliche Recht, insbesondere Staatsrecht und
Verfassungsrecht, steht hinter den zivilistischen Interessen zurück. Gleichwohl
reicht die Befassung mit diesem Rechtsgebiet bis in die „Rechtssoziologie“
hinein, deren erster Paragraph ursprünglich „Privates und öffentliches Recht“129
überschrieben war; die soziologische Staatslehre ist ohne den über Georg
Jellinek130 vermittelten Hintergrund der neueren öffentlich-rechtlichen
Dogmatik undenkbar; aber auch die Staatslehre Labands ist an verschiedenen
Stellen nachzuweisen. Im Übrigen aber verkörpert Weber das Bild eines
klassischen Zivilrechtlers. Diese Zweifel an der Jurisprudenz als Wissenschaft
haben sich jedoch nicht in einer methodologischen Kritik der zeitgenössischen
Rechtswissenschaft entladen131, sondern sie scheinen eher den Wechsel in die
Nationalökonomie mitzumotivieren.
128 Brief an die Mutter vom 26. Juli 1893, abgedr. in: Max Weber, Jugendbriefe, a.a.O., S.
372.
129 Vgl. das in der Bayerischen Staatsbibliothek im Max-Weber-Depot befindliche
Manuskript zur sogenannten „Rechtssoziologie“.
130 In dem von Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Schwentker herausgegebenen
Sammelband (Max Weber und seine Zeitgenossen, Göttingen 1988) sind die Beziehungen
Webers zur juristischen Zunft ausgeklammert.
131 Insoweit sind Manfred Rehbinders Anmerkungen über methodologische Defizite im
Rechtsdenken Max Webers nicht ganz abwegig. Vgl. Manfred Rehbinder, Max Weber und
die Rechtswissenschaft, in: ders. und Klaus Peter Tieck (Hrsg.), Max Weber als
Rechtssoziologe, Berlin 1987, S. 127-149.
54
II.
Zur Metamorphose juristischer Begriffe
in soziologische Idealtypen
Was bleibt aber von dieser disziplingeschichtlichen Herkunft Max Webers aus
den Traditionen der deutschen Rechtswissenschaft übrig? Ist die juristische
„Sozialisation“, wie man es im soziologischen Jargon ausdrücken würde, eine
bloße Jugendsünde oder vielleicht eine dauerhafte Erbschaft, wenn nicht
Hypothek und als solche gar das konstitutive Merkmal seiner Art von
Soziologie?
Die bisherige Weber-Forschung hat sich diese Frage eigenartiger Weise nicht
gestellt. Wir wollen freilich die These weiter verfolgen, dass erst vor dem
disziplingeschichtlichen Hintergrund der Jurisprudenz die Eigenart der
Soziologie Max Webers überhaupt verständlich wird.132
Wir sind für diese Deutung nicht einmal auf hermeneutische Kunststücke
angewiesen, sondern wir müssen nur Weber selbst beim Wort nehmen: So heißt
es im „Kategorienaufsatz“ in einer Schlüsselpassage für das Werk Max Webers:
„Es ist aber allerdings das unvermeidliche Schicksal aller Soziologie: daß sie
für die Betrachtung des überall stetige Übergänge zwischen den ‚typischen‘
Fällen zeugenden realen Handelns sehr oft die scharfen, weil auf syllogistischer
Interpretation von Normen ruhenden, juristischen Ausdrücke verwenden muß,
um ihnen dann ihren eigenen, von dem juristischen der Wurzel nach
verschiedenen Sinn unterzuschieben.“133
Dieses „unvermeidliche Schicksal“, wie Weber etwas pathetisch sagt, lässt sich
in einer Reihe von Schlüsselbegriffen der Weberschen Soziologie nachweisen.
Der idealtypische Aufbau der sozialen Welt ist in dem älteren Teil des
Kategorienaufsatzes134 nämlich um rein juristisch geprägte Ordnungstypen
132 Vgl. auch die ausführliche Argumentation in: Werner Gephart, Gesellschaftstheorie und
Recht. Das Recht im soziologischen Diskurs der Moderne, Frankfurt am Main 1993, S.
419ff.
133 Max Weber, Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, in: Logos.
Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur 4, 1913, S. 253-294; abgedr. in:
Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, a.a.O., S. 440.
134 So heißt es in der Eingangsfußnote des Kategorienaufsatzes: „Der zweite Teil des
Aufsatzes ist ein Fragment aus einer schon vor längerer Zeit geschriebenen Darlegung,
welche der methodischen Begründung sachlicher Untersuchungen, darunter eines Beitrags
(„Wirtschaft und Gesellschaft“) für ein demnächst erscheinendes Sammelwerk dienen
55
zentriert:
„Zweckverein“
und
„Anstalt“
als
Prototypen
des
„Gesellschaftshandelns“ sowie „Tausch“ und „Verband“ als Grundfiguren des
sogenannten „Einverständnishandelns“.135
Die definitorische Bestimmung des „Zweckvereins“ verwendet die rein
juristischen Kategorien der „Satzung“, der „Vereinsorgane“, der
„Vereinszwecke“ und des „Zweckvermögens“.136 In der „Soziologischen
Kategorienlehre“ wird diese Linie fortgesetzt, auch wenn die juristischen
Quellen der Begriffsbildung verdeckter sind als die unmittelbare Entlehnung
von Merkmalskombinationen aus der Zivilrechtsdogmatik wie im Beispiel des
Zweckvereins. „Brauch“, „Sitte“, „Konvention“ und „Recht“ und insbesondere
die idealtypische Konstitution von Zurechnungsmustern für fremdes Handeln
über die Rechtsfigur von „Stellvertretung“ und „Repräsentation“, dies sind dem
juristischen Sprachgebrauch entlehnte Begriffe, um ihnen „dann ihren eigenen,
von dem juristischen der Wurzel nach verschiedenen, Sinn unterzuschieben“.137
Bevor wir weiter der Frage nachgehen, wie sich denn diese Metamorphose von
juristischer Dogmatik in soziologische Idealtypen vollziehen soll, ist
darzulegen, worauf die Wahlverwandtschaft von juristischer und soziologischer
Begriffsbildung eigentlich gründet. Steht die Philosophie der Soziologie nicht
viel näher als die Jurisprudenz? Und ist nicht ebenso die Nationalökonomie
näher an den Tatbeständen von „Wirtschaft und Gesellschaft“ als die „öde
Juristerei“, wie Weber in seinen Jugendjahren formulierte? Schließlich sollte
doch auch die Geschichtswissenschaft eine eigene Begrifflichkeit anbieten, der
sich eine historisch orientierte, verstehende Soziologie bedienen könnte.
Es gibt hierfür einen sachlichen Grund, der über die professionelle Sozialisation
Max Webers als Jurist – wie wir sie angedeutet haben – hinausreicht. Der
Grund liegt in der Ausdeutung der Handlungsproblematik. Im älteren Teil des
Kategorienaufsatzes ist dieses Thema in überraschend „moderner“ Weise
formuliert. So führt Weber zunächst aus, was er unter „Gemeinschaftshandeln“
verstanden wissen möchte: „Von ‚Gemeinschaftshandeln‘ wollen wir da
sprechen, wo menschliches Handeln subjektiv sinnhaft auf das Verhalten
sollte und von welcher andre Teile wohl anderweit gelegentlich publiziert werden.“ (Max
Weber, Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, a.a.O., S. 427, Fn. 1).
135 Diese Logik ist näher entwickelt in: Werner Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht. Das
Recht im soziologischen Diskurs der Moderne, a.a.O.
136 Max Weber, Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, a.a.O., S. 447.
137 Ebd., S. 440.
56
anderer Menschen bezogen wird.“138 Ein wichtiger Unterfall dieses, am
Verhalten anderer orientierten Handelns (das Weber später soziales Handeln
nennt) „bildet insbesondere dessen sinnhafte Orientierung an den Erwartungen
eines bestimmten Verhaltens anderer und den darnach für den Erfolg des
eigenen Handelns (subjektiv) geschätzten Chancen.“139 Hieraus folgt dann die
Analyse des Grunddilemmas sozialer Beziehungen, das Talcott Parsons die
double contingency nennt. So heißt es bei Weber: „Aber: die Erwartungen eines
bestimmten Verhaltens anderer Menschen können sich bei dem subjektiv
rational Handelnden auch darauf gründen, daß er ein subjektiv sinnhaftes
Verhalten von ihnen erwarten, also auch dessen Charakter aus bestimmten
sinnhaften Beziehungen, mit einem verschieden großen Grade von
Wahrscheinlichkeit, vorausberechnen zu können subjektiv glaubt.“140 Das an
bloßen „Erwartungen“ orientierte Handeln ist Weber aber nur ein äußerst labiler
Grenzfall. Soweit diese Erwartungen aber gehegt werden aufgrund von
normativen Ordnungen sind stabile soziale Beziehungen möglich.
Damit ist die Annahme einer rudimentären normativen Ordnung in die Analyse
der Grundsituation menschlichen Handelns eingebaut. Und das heißt: „Recht“
ist ein zentraler soziologischer Grundtatbestand. Nur wenn die Akteure ihre
Erwartungen und die Erwartungserwartungen kontrafaktisch stabil halten141,
sind fortdauernde soziale Beziehungen und perennierende soziale Gebilde
möglich. Diese Leistungen werden vom „Recht“ nicht nur durch die
Bereitstellung eines Erzwingungsstabes erbracht, sondern durch die kognitive
Vorstrukturierung von typischen Erwartungen und Erwartungserwartungen
ermöglicht. Das Recht enthält also geronnene, kondensierte Erwartungsbilder
oder „Typisierungen“, wie Alfred Schütz142 sie genannt hat.
Wenn also die conditio humana durch das bei Weber formulierte Problem der
Erwartungsbildung bestimmt ist und die Aufgabe der Soziologie darin besteht,
die so bedingte Eigenart von Handeln zu verstehen und in ihrem Ablauf zu
138
139
140
141
Ebd., S. 441.
Ebd.
Ebd.
Vgl. die Formulierungen von Niklas Luhmann, vor allem in: Rechtssoziologie, 2 Bde.,
Reinbek bei Hamburg 1972.
142 Vgl. hierzu auch meine Deutung von Alfred Schütz, der paradoxerweise als gelernter
Bankjurist das Recht aus seinen Analysen der Lebenswelt verbannt hat:
Gesellschaftstheorie und Recht. Das Recht im soziologischen Diskurs der Moderne,
a.a.O., S. 71-76.
57
erklären, dann besitzen die im Recht kondensierten Erwartungsbilder einen
hervorragenden, methodologischen Stellenwert für die kognitive Strukturierung
sozialer Handlungszusammenhänge.
Aus dieser Analyse erklärt sich auch, dass Weber bei dieser juridischen
Grundlegung der Soziologie mit der neukantianischen Scheidung von Tatsachen
und Werturteilen gar nicht in Konflikt gerät.143 Denn die Verwendung
rechtsdogmatischer Figuren für die Bildung soziologischer Idealtypen ist – wie
wir sahen – auf deren kognitiven Aspekt beschränkt. Wo die juristische
Konstruktion der sozialen Welt von deren Überkomplexität „entlastet“ – und sei
es durch eine analoge „Parallelwertung in der Laiensphäre“ –, kann sie
Anknüpfungspunkte für die soziologische Begriffsbildung liefern. Und je mehr
bestimmte Rechtsvorstellungen in einer Rechtskultur auch faktisch gelten, umso
mehr ist diese juridische Technik der soziologischen Begriffsbildung den
tatsächlichen Abläufen sozialen Handelns auch „adäquat“.
Nicht mehr und nicht weniger ist also mit Webers Diktum vom
„unvermeidlichen Schicksal aller Soziologie“ gemeint.144
Läßt sich also das Werk Max Webers auf seine juristischen Fundamente
reduzieren? Gibt es endlich das Passepartout, mit dem sich alle verborgenen
Winkel des vielschichtigen Werkes aufschließen lassen?
Diese Art des Reduktionismus erscheint mir ebenso einseitig wie die
umstandslose
Vereinnahmung
Webers
als
Soziologe,
Historiker,
Nationalökonom oder: Politiker.145 Auch wird die Auswertung der noch
unveröffentlichten nationalökonomischen Vorlesungen und des gedruckten
„Grundrisses“ über die ökonomischen Hintergründe im Denken Webers
wichtige Aufschlüsse geben.
Und schließlich scheint das zentrale Thema der religionssoziologischen
Schriften, das Verhältnis von „Ethik und Welt“, mit der juristischen Perspektive
nur wenig gemein zu haben. Anstelle einer hier in toto gar nicht zu leistenden
143 Diese Differenz ist im Stammler-Aufsatz minutiös dargelegt; vgl. Max Weber, R.
Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung, abgedr. in: Max
Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, a.a.O., S. 291-383.
144 Max Weber, Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, a.a.O., S. 440.
145 Andererseits wäre es nicht weniger verfehlt, Webers Leidenschaft für Politik
auszublenden. Hierzu nach wie vor unübertroffen: Wolfgang J. Mommsen, Max Weber
und die deutsche Politik 1890-1920, 2. überarb. und erw. Aufl., Tübingen 1974.
58
disziplingeschichtlichen Verortung Max Webers146 wollen wir deshalb einen
Blick auf seine religionssoziologische Optik werfen, die den juristischen
Blickwinkel in charakteristischer Weise ergänzt.
III.
Das religionssoziologische Fundament
einer juristisch inspirierten Sicht der sozialen Welt
Insbesondere Webers Entdeckung der Eigenart des okzidentalen Rationalismus
ist nicht – zumindest nicht unmittelbar – aus dem juristischen Denkansatz
hervorgegangen, sondern einer, mit der Protestantismusstudie eingeleiteten,
„Kehre“ zu verdanken.147 Und diese fragt nach dem Zusammenhang von
protestantischer Ethik und dem Geist des Kapitalismus, ohne dass auf der einen
oder der anderen Seite der Wechselwirkung das Recht als Indikator oder
Kausalfaktor ins Spiel käme. Es wird zwar ein Zusammenhang von
protestantischer Ethik und dem „Geist des kapitalistischen Rechts“ nicht gerade
ausgeschlossen. So heißt es in einer Fußnote am Ende der
Protestantismusstudie: „Es wäre ein leichtes gewesen, darüber hinaus zu einer
förmlichen ‚Konstruktion‘, die alles an der modernen Kultur ‚Charakteristische‘
aus dem protestantischen Rationalismus logisch deduzierte, fortzuschreiten.“148
Eine solche Deduktion hat Weber für das Recht auch gar nicht erst versucht.
Denn bei aller Wahlverwandtschaft des englischen Puritanismus mit einem
systematisch kodifizierten Recht149 hat sich in den Kernländern der
146 Dies ist, trotz des außerordentlich informativen Sammelbandes über Max Weber und seine
Zeitgenossen (hrsg. von Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Schwentker. Göttingen
1988), ein Desiderat der Weber-Forschung.
147 Helwig Schmidt-Glintzer vertritt die Auffassung, dass für Weber der Gegensatz von
Okzident und Orient lange vor der Ausarbeitung eines religionssoziologischen Programms
selbstverständlich war. Vgl. den Hinweis auf die „Agrarverhältnisse im Altertum“ in der
Einleitung zu: Max Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Konfuzianismus und
Taoismus: Schriften 1915-1920, hrsg. von Helwig Schmidt-Glintzer in Zusammenarbeit
mit Petra Kolonko, Tübingen 1989, [MWG I/19] S. 12 ff.
148 Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Nach der
überarbeiteten Fassung in den Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie, Bd.1,
Tübingen 1920, Fn. 3 von S. 205, S. 206.
149 In der sogenannten „Rechtssoziologie“ heißt es: „Die englischen Puritaner haben ein solch
systematisch kodifiziertes Recht ebenso wie die römischen Plebejer und das deutsche
Bürgertum des 19. Jahrhunderts verlangt.“ (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft,
a.a.O., S. 471).
59
protestantischen Ethik ja ein ganz anderer Typus des Rechts durchgesetzt, der
Weber – trotz aller verbalen Beschwörungen des Gegenteils – als schlichtweg
defizitär
gegenüber
dem
systematischen,
formal
rationalisierten
Kontinentalrecht erscheint.
Gleichwohl ist das Recht für die Charakterisierung des okzidentalen
Rationalismus keineswegs belanglos. In der „Vorbemerkung“ zu den
Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie gehört die Rechtslehre zu den
Errungenschaften, die in den außerokzidentalen Wissenschaften nicht
entwickelt wurden: „Für eine rationale Rechtslehre fehlen anderwärts trotz aller
Ansätze in Indien (Mimamsa-Schule), trotz umfassender Kodifikationen
besonders in Vorderasien und trotz aller indischen und sonstigen Rechtsbücher,
die streng juristischen Schemata und Denkformen des römischen und des daran
geschulten okzidentalen Rechts.“150 Aber nicht allein die Entwicklung der
Rechtslehre als Wissenschaft, sondern ihre Implementation in die
„Sozialordnung“ ist das für Weber Entscheidende. Denn der rationale
privatwirtschaftliche Betrieb mit stehendem Kapital und zuverlässiger
Kalkulation ist nur auf dem Boden eines berechenbaren Rechts und einer
berechenbaren Verwaltung möglich. Dass aber dieser funktionale
Zusammenhang151 auf bedeutende wirtschaftliche Interessen verweist, erklärt
noch nicht, warum die auch in anderen Kulturen vorhandenen kapitalistischen
Interessen ein solches Recht nicht geschaffen haben.152
Nach der „Vorbemerkung“ zu urteilen, sind die vergleichenden
religionssoziologischen Studien also auch als Antwort auf die rechtshistorische
Frage zu lesen, warum nur im Okzident ein formal-rationales Recht entstanden
ist. „Recht“ würde danach also mit anderen Worten durch „Religion“ erklärt.
Damit zeichnet sich übrigens eine Konvergenz mit Durkheims These vom
religiösen Charakter der sozialen Institutionen ab, insbesondere vom religiösen
150 Max Weber, Vorbemerkung zu: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd.1,
Tübingen 1920, S. 2.
151 Vgl. die Formulierungen der Vorbemerkung zu: Gesammelte Aufsätze zur
Religionssoziologie, Bd.1, a.a.O., S. 11.
152 Daneben ist der strukturelle Zusammenhang bedeutsam: die Trennung von „Haushalt und
Betrieb“ sowie die differenzierungstheoretisch deutbare Trennung verschiedener Sphären
wird aufgrund bestimmter rechtsdogmatischer Figuren (Sonderung von Betriebsvermögen
und privatem Vermögen, Inkompatibilitätsregeln etc.) erleichtert, wenn nicht erst
ermöglicht. Richard Münch hat demgegenüber darauf hingewiesen, wie gerade im
Rechtsbegriff Webers weniger Differenzierung als „Interpenetration“ herrscht (vgl.
Richard Münch, Die Struktur der Moderne, Frankfurt am Main 1984, S. 380 ff.).
60
Ursprung des Rechts.153 Aber lassen sich „Recht und Religion“ wirklich in ein
solches Determinationsverhältnis pressen? So wie sich ein trivialisierter Marx
ökonomisieren ließ, müssten wir dann Weber und Durkheim einen
idealistischen Reduktionismus der diversen Kulturformen auf eine einzige
Basisstruktur, nämlich die Religion, vorwerfen.
Mit Webers abstraktester Formel zur Erklärung des okzidentalen Rationalismus
sind solche reduktionistischen Strategien jedenfalls nicht vereinbar. Es heißt ja
in der Schlüsselpassage, dass es für den kulturgeschichtlichen Unterschied zur
außerokzidentalen Welt allein darauf ankomme, „welche Sphären und in
welcher Richtung sie rationalisiert wurden.“154
Sind nun „Recht“ und „Religion“ als solche „Sphären“ zu konstruieren, die sich
durch unterschiedliche „Eigengesetzlichkeiten“ auszeichnen? Wir kehren damit
über einen vermeintlichen Umweg zur Frage zurück, warum sich Weber neben
„Recht“ als einem Grundmuster sozialer Handlungszusammenhänge – aus dem
sich gar, wie wir sahen, die Kategorien des soziologischen Denkens herleiten –
auf die Problematik der Religion überhaupt einlassen muss. Oder anders
formuliert: Wodurch ist die „Eigengesetzlichkeit“ der religiösen Sphäre geprägt
und wodurch unterscheidet sie sich von der ihr gegenüber fremden
„Eigengesetzlichkeit“ des Rechts?
In der „Einleitung“ in die Wirtschaftsethik der Weltreligionen ist das Problem
der Religionen so umschrieben: „Stets steckte dahinter eine Stellungnahme zu
etwas, was an der realen Welt als spezifisch ‚sinnlos‘ empfunden wurde und
also die Forderung: daß das Weltgefüge in seiner Gesamtheit ein irgendwie
sinnvoller ‚Kosmos‘ sei oder: werden könne und solle.“155 Dieses
metaphysische Deutungsbedürfnis ist aber, wie Weber in der systematischen
„Religionssoziologie“156
ausführt,
erst
das
Ergebnis
eines
153 Dieser religiöse Ursprung des Rechts ist näher entwickelt in: Emile Durkheim, Leçons de
sociologie. Physique des moers et du droit, Paris 1969 (1950). Siehe hierzu auch die
Hinweise bei Werner Gephart, Strafe und Verbrechen. Die Theorie Emile Durkheims,
Opladen 1990, S. 144 ff.
154 Max Weber, „Vorbemerkung“, a.a.O., S. 12.
155 Max Weber, Einleitung, in den Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie, Bd.1,
Tübingen 1920, S. 253.
156 Über die Zusammenhänge von Webers Grundrissbeitrag mit den vergleichenden
religionssoziologischen Untersuchungen vgl. auch Wolfgang Schluchter, Max Webers
Religionssoziologie. Eine werkgeschichtliche Rekonstruktion, in: Max Webers Sicht des
antiken Christentums, Frankfurt am Main 1985, S. 525-560.
61
Entwicklungsprozesses, in dem sich die „rein“ religiöse Problematik von
anderen Zweckbestimmungen ablöst: „Denn der ‚Sinn‘ des spezifischen
religiösen Sichverhaltens wird, parallel mit jener Rationalisierung des Denkens,
zunehmend weniger in rein äußeren Vorteilen des ökonomischen Alltags
gesucht und insofern also das Ziel des religiösen Sichverhaltens
‚irrationalisiert‘, bis schließlich diese ‚außerweltlichen‘, d.h. zunächst:
außerökonomischen Ziele als das dem religiösen Sichverhalten spezifische
gelten.“157 Nach Weber setzt also erst die Ausdifferenzierung der Religion deren
Eigengesetzlichkeit frei, während in Durkheims religionssoziologischem
Universalismus der religiöse Ursprung aller Institutionen apriori feststeht.
157 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 259.
62
Exkurs
Die Verschlingung von Recht und Religion
in der Soziologie Emile Durkheims
Seit den „Cours de science sociale“158 in Bordeaux war Emile Durkheim
bemüht, die sozialen Tatsachen, die „faits sociaux“, in ihren objektiven
Manifestationen zu erfassen. In der „science positive de la morale en
Allemagne“ geschult, war der äußerlich erkennbare und objektivierbare
Indikator der „vie sociale“ zunächst das Recht. Dies mag damit zu tun haben,
dass in Bourdeaux noch unklar war, wo dieser „Cours de science sociale“ im
Spektrum der Fakultäten zu plazieren sei. So könnte die verblüffende Dominanz
des Rechts als Indikator der sozialen Strukturen von den Erwartungen der
Rechtsstudenten mitgeprägt sein; Durkheims Studie zur Arbeitsteilung setzt
diese Linie freilich fort.159 So gilt ja in der „Division du travail social“ das Recht
als methodologischer Indikator für den Wandel der Integrationsformen von der
„solidarité mécanique“ zur „solidarité organique“. Die Argumentation ist
geläufig. Interessant ist jedenfalls, dass das Recht über die methodologische
Funktion hinaus eine materiale Bedeutung erhält. Recht ist nämlich nicht nur
Indikator, sondern auch heimlicher Integrator der durch den Prozess
funktionaler Differenzierung erodierenden Gesellschaft, wie die Überlegungen
zu den pathologischen Formen der Arbeitsteilung belegen.160 In den Regeln der
soziologischen Methode (1895) schließlich hat sich Recht als soziologisches
Paradigma verfestigt: das „fait social“ katexochen ist das von außen, mit
Zwangsgewalt dem Individuum oktroyierte Recht, wie auch die Einzelbeispiele
belegen.161 Überdies ist das soziologische Denken selbst normativ strukturiert,
denn es geht Durkheim nicht um irgendwelche erkenntnislogischen
Überlegungen, sondern um die, materiale Richtigkeit verbürgenden, Regeln der
158 Vgl. Emile Durkheim, Cours de science sociale. Leçon d'ouverture, in: Revue
internationale de l'enseignement 15, 1888, S. 23-48.
159 Emile Durkheim, De la division du travail social, Paris 1973 (1893).
160 Vgl. insbesondere das erste Kapitel des dritten Buches der „Division“; siehe auch Werner
Gephart, Strafe und Verbrechen. Die Theorie Emile Durkheims, a.a.O.
161 So heißt es an zentraler Stelle: „ Quand je m'acquitte de ma tâche de frère, d'époux ou de
citoyen, quand j'exécute les engagements que j'ai contractés, je remplis des devoirs qui
sont définis, en dehors de moi, dans le droit et dans les moeurs. “ (Emile Durkheim, Les
règles de la méthode sociologique, Paris 1895, S. 6) .
63
soziologischen Methode, die von den streitbaren Mitarbeitern an der „Année
sociologique“ auch als Anweisungen, wenn nicht doktrinäre Zumutungen,
gedeutet wurden.
Das Recht als soziologisches Paradigma setzt sich schließlich in der „Année
sociologique“ fort. So geraten zahllose Arbeiten aus der Rechtsgeschichte und
Rechtsanthropologie in die Fänge der kritischen Rezensenten, die ja nichts
weiter wollten, als einen Überblick über die soziologische Forschung zu liefern.
Und dies geschah eben in den juristischen Schriften, auch wenn ihre Autoren
nicht wussten, dass sie nach Durkheims Soziologieverständnis materiale
Soziologie betrieben und sonst gar nichts.
Auch wenn in dem Aufbau der „Année sociologique“ im Sinn einer „division
du travail sociologique“ die „sociologie du droit“ ein Stück weit
ausdifferenziert ist, so belegt die über das ganze Rezensionswerk verstreute
Besprechung juristischer Arbeiten, wie weit Recht als soziologisches
Paradigma, wie ich es nenne, reicht.162
Diese juridische Schicht im Werke Emile Durkheims wird durch eine zweite
überlagert. Emile Durkheims Ruhm ist ja, bei aller Kritik im Einzelnen, in
seiner Religionssoziologie begründet.
Ohne den Exkurs mit werkgeschichtlichen Details zu überfrachten, lässt sich
die Entwicklung im Denken Emile Durkheims im Wesentlichen so beschreiben:
Die rechtssoziologische Optik wird kontinuierlich von der Religion überformt
und von einer zeitweiligen Gleichrangigkeit bis zum soziologischen Primat des
Religiösen fortentwickelt. Freilich wäre es allzu einfach, Religion erst in der
ethnologischen Phase zu verorten. Vielmehr ist Religion von Beginn an im
Durkheimschen Denken präsent. So ist es der Verlust der Religion, der zum
Zerfall der „conscience collective“163 führt, und es sind die dogmatischen und
strukturellen Differenzen der Religionen, die unterschiedliche Selbstmordraten
von Protestanten, Katholiken und Juden im „Suicide“164 zu erklären vermögen.
Schließlich fällt in einem bezeichnenden Brief an den abtrünnigen Gaston
Richard die klassische Formel: „Rien de plus flou et de diffus comme la
162 Zum juridischen Ursprung der Soziologie Emile Durheims vgl. mit zahlreichen Belegen:
Werner Gephart, Strafe und Verbrechen. Die Theorie Emile Durkheims, a.a.O.
163 Emile Durkheim, De la division du travail social, a.a.O., S. 142 ff.
164 Vgl. Emile Durkheim, Le suicide. Etude de sociologie, Paris 1969 (1897).
64
réligiosité. Il est vrai que je la définis, mais les choses flous et diffuses se
définissent.“165
Wie aber ist Religion definiert? Wenn die „faits religieux“ spezifische „faits
sociaux“ sind, dann müssten sie ja durch die vom juridischen Denken geprägten
Merkmale der Äußerlichkeit und des Zwangs definiert sein. Durkheim, der
einen enormen Eifer in der „découpage de l'objet“ entfaltet, befasst sich um die
Jahrhundertwende erstmals systematisch166 mit der „définition des phénomènes
religieux“. Religiöse Phänomene unterscheiden sich demnach von den hier
relevanten wissenssoziologischen Tatbeständen dadurch, dass der Inhalt der
religiösen
Vorstellungen
obligatorisch
ist,
während
die
kollektiven
Repräsentationen der Wissenschaft gerade den Zweifel zulassen. Dieser
Definitionsversuch führt allerdings in enorme Schwierigkeiten, da nunmehr
Recht, Moral und Religion ununterscheidbar miteinander verschlungen sind.
Der komplexere Religionsbegriff der „Formes élémentaires de la vie
religieuse“167 führt ein Stück weit aus diesem definitorischen Zirkel heraus.
„Religion“ meint danach sowohl kollektive Vorstellungen wie Interaktionen
und deren institutionelle Verkörperungen, nämlich religiöse Ideen, Rituale und
die Religionsgemeinschaft. Auch wenn der Religionsbegriff damit von
idealistischen Reduktionen auf die Ebene bloßer Repräsentationen befreit ist,
bleibt das Problem, nach welchen Kriterien Ideen, Interaktionen und
Gemeinschaften gerade als religiöse zu kennzeichnen sind.
Durkheims Antwort ist bekannt, wenn auch vielfach ungenau verstanden:
Überall wo das Profane und das Heilige aufeinanderstoßen, wo diese
elementare Aufteilung der Welt in eine heilige, unberührbare Zone und in eine
ungefährliche Sphäre des profanen Alltags thematisiert wird, herrscht
„Religion“.
Durkheims Religionsbegriff ist damit von naturalistischen Vorstellungen über
den „Ort“ des Religiösen weitgehend frei, ganz ebenso wie Recht nicht als
quasi räumlich ausdifferenziertes Phänomen zu fassen ist. Auch wenn die
zirkuläre Bestimmung von Religion durch den normativen Zwang zum Glauben
165 Brief an Gaston Richard vom 11. Mai 1899, abgedr. in: Emile Durkheim, Textes 2, hrsg.
von Victor Karady, Paris 1975, S. 9.
166 Emile Durkheim, De la définition des phénomènes religieux, in: L'Année sociologique 2,
1899, S. 1-28.
167 Emile Durkheim, Les formes élémentaires de la vie religieuse. Le système totémique en
Australie, Paris 1912.
65
und die Definition des Rechts durch den heiligen Respekt vor unantastbaren
Werten nicht überwunden ist, macht die Verschlingung von Recht und Religion
den Reiz von Durkheims Analysen des sozialen Lebens aus.
***
Zwischen der rechtlich-sozialen und der religiösen „Sphäre“ besteht in Webers
„System“ ein fundamentaler Unterschied: „Recht“ ist auf die kognitive
Abstimmung von Erwartungen und ihre verbindliche Durchsetzung in der Welt
spezialisiert, während „Religion“, je weiter sie von urwüchsigen Formen
entfernt ist, auf außerweltliche Ziele gerichtet ist, ohne hierdurch ihre sozialen
Funktionen, d.h. innerweltlichen Konsequenzen, zu verlieren.
In seinen vergleichenden religionssoziologischen Studien und der eher
systematischen Abhandlung in „Wirtschaft und Gesellschaft“ ist Weber aber
genau an diesen innerweltlichen Folgen der Religion interessiert. Und das heißt
einerseits für die sozialen Voraussetzungen der Ausdifferenzierung einer
religiösen Problemstellung und eines hierauf bezogenen Handelns sowie für die
daran anschließende Konfiguration religiöser Spezialisten und Laien.
Religiöse Praktiken und Typen der religiösen Gemeinschaft werden hierbei in
ihrer Wechselwirkung mit den religiösen Ideen behandelt, womit Webers und
Durkheims soziologischer Begriff von Religion als nahezu deckungsgleich
erscheint.168 Zum anderen aber interessiert Weber bekanntlich die Frage, welche
Konsequenzen sich aus der religiösen Orientierung an außerweltlichen Zielen
für das Handeln in der Welt ergeben. Und das heißt nicht zuletzt, ob eine
religiöse Prämie darauf gesetzt ist, die Welt zu fliehen oder aber sich die
paradoxe Synthese einstellt, religiöser und insofern außerweltlicher Bedürfnisse
168 Bei Max Weber ist zu lesen: „Wirklich sicher aber wird diese abstrakte Vorstellung erst
durch ein kontinuierlich einem und demselben Gott gewidmeten Tun, den ‚Kultus‘, und
durch seine Verbindung mit einem kontinuierlichen Verband von Menschen, eine
Dauergemeinschaft, für die er als Dauernder solche Bedeutung hat.“ (Max Weber,
Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 250, Hervorhebung von W.G.); Bei Emile
Durkheim heißt es: „Une religion est un système solidaire de croyances et de pratiques
relatives à des choses sacrées, c'est à dire séparées, interdites, croyances et pratiques, qui
unissent en une même communauté morale, appelée Eglise, tous ceux qui y adhèrent.“
(Emile Durkheim, Les formes élémentaires de la vie religieuse, a.a.O., S. 65,
Hervorhebung von W.G.)
66
wegen die Welt nach Maßgabe ihrer „Eigengesetzlichkeiten“ und nicht nach
dem Bild eines außerweltlichen Reiches aktiv zu gestalten.
Hier geht es Weber offenkundig um die Beziehung von religiöser Ethik und
„Welt“, das heißt: um die Regulierung des praktischen Handelns im profanen
Alltag durch religiös bedingte, heilige Normen.
Die innere Verwandtschaft von Recht und Religion ist damit sinnfällig. Insofern
gibt es systematische Gründe für die mehrfach beobachteten strukturellen
Parallelen von Webers Rechts- und Religionssoziologie169. In der rechtlichen
und religiösen Entwicklung haben sich spezifische „Trägerfiguren“
herausgebildet, die außerordentliche Ähnlichkeiten aufweisen. Die Differenz
von „heiligem“ Wissen bzw. juristischem Wissen zur „Gemeinde“ bzw. den
Laien ist für beide Sphären in ihrer soziologischen Struktur bedeutsam.
Systematisierung mit Konkretisierungsleistungen zu verbinden, sind
gleichlaufende Probleme rechtlicher und religiöser Systeme. Die Auswirkung
der Professionalisierung auf den Charakter der jeweiligen Ideensysteme u.s.f.;
all dies sind außerordentlich verwandte Strukturmuster.
Überdies aber findet eine vielfältige Wechselwirkung zwischen religiösen und
rechtlichen Ideen statt, ein Austausch der Organisationsformen und sicher auch
ein Machtkampf um den Primat der Lebensgestaltung. Diese faktische
Konkurrenz der religiösen Mächte mit den rechtlichen bzw. politischen
Ordnungen durchzieht das Werk Max Webers. Ihre Rekonstruktion
überschreitet den begrenzten Anspruch dieser Arbeit.170
Wir wollten vielmehr auf das Problem aufmerksam machen, dass Recht und
Religion zwei unterschiedlich eingestellte „soziologische Blicke“ voraussetzen,
die im Werk Max Webers einander ergänzen. Die juristische Prägung Webers
wirkt von der juristischen Dissertation und Habilitation noch in den artistischen
Begriffskonstruktionen171 des Kategorienaufsatzes und der Kategorienlehre
nach. Dieser juridische Anteil im Werk Max Webers stellt aber mehr als die
169 Vgl. etwa Hubert Treiber, Wahlverwandtschaften zwischen Webers Religions- und
Rechtssoziologie, in: Stefan Breuer und Hubert Treiber (Hrsg.), Zur Rechtssoziologie
Max Webers, Opladen 1984.
170
Sie ist Gegenstand von „Gesellschaftstheorie und Recht. Das Recht im soziologischen
Diskurs der Moderne“, a.a.O., S. 522ff.
171 Dies geschieht, ohne in den von Marx perhorreszierten „Kultus“ der Begriffe zu verfallen
(vgl. die beißende Kritik an der mysteriösen Begriffsbildung insbesondere der Juristen und
Politiker, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, Berlin 1981, [MEW
Bd. 3] S. 347).
67
bloße „Form“ dar, deren „Inhalt“ dann aus der Religionssoziologie geschöpft
würde. Recht ist vielmehr auf die wechselseitige Abstimmung von unsicheren
Erwartungen und deren verbindliche Durchsetzung eingestellt. Weil es hierfür
der Zurechnung zu einem Subjekt bedarf, das für die Enttäuschung von
Erwartungen verantwortlich gemacht wird, stiftet die juristische Kategorie der
Handlung die Verbindung von kausal bewirkten äußeren Vorgängen mit einem
handelnden Subjekt. Weber hat diese juristische Kategorie des Handelns, die im
typisch juristischen Duktus das „Unterlassen“ einschließt, zum Grundbegriff
seiner Soziologie erhoben.172
Der Handlungsbegriff bildet aber auch das Scharnier zur Religionssoziologie,
denn dort beschäftigt sich Weber vornehmlich mit der Frage, welche
Auswirkungen die Lösung der religiösen Problemstellung auf das Handeln173
besitzt: die Paradoxie von religiös bedingter innerweltlicher Askese und
profanem Aktivismus ist die Zauberformel zur Deutung der Moderne, ein
Handlungstypus oder auch Habitus – wie nicht erst Bourdieu sagt –, dem eine
nicht nur juristische, sondern auch innerreligiös bedeutsame Lehre der
„Rechtfertigung“ zugrundeliegt. Insofern fließen nicht nur bei Durkheim Recht
und Religion ineinander, sondern auch Webers Analysen der okzidentalen
Kultur sind von der Durchdringung „idealer“ Sphären geprägt, die nach
Marxens Vorstellung nichts weiter sein sollten als pure „Illusionen“.
***
Webers Diktum vom „unvermeidlichen Schicksal aller Soziologie“ ist insoweit
zu relativieren bzw. zu ergänzen. Nicht nur Recht und Jurisprudenz liefern die
Begriffe, Stichworte und Fragestellungen für die Soziologie, sondern neben
Nationalökonomie
und
Philosophie
ist
Religion
und
das
172 Ich beschäftige mich im zweiten Kapitel mit der Frage, was die von Weber rezipierten
Nationalökonomen, insbesondere Friedrich Gottl, Historiker und Philosophen zu Webers
Handlungslehre beitragen. Wie noch in der Diskussion der methodologischen Fragen der
Geschichtswissenschaft – so im Eduard-Meyer-Aufsatz – die juristische Perspektive
durchschlägt (nämlich in der Berücksichtigung „hypothetischer Kausalverläufe“), ist
besonders eindrucksvoll.
173 Wolfgang Schluchter hebt in diesem Sinne die Kategorie der Lebensführung im Werk
Max Webers hervor; vgl. Wolfgang Schluchter, Religion und Lebensführung, 2. Bd.,
Frankfurt am Main 1989.
68
religionswissenschaftliche Paradigma für Max Webers eigenes Verständnis von
Soziologie grundlegend.
Überdies muss der behauptete Universalitätsanspruch bezweifelt werden, dass
es sich hierbei um das „unvermeidliche Schicksal aller Soziologie“ handeln
würde. Es gibt ja eine Reihe von soziologischen Perspektiven, die das Recht
nahezu systematisch ausblenden. Freilich lässt sich zeigen, dass die Schwächen
dieser Ansätze gerade darin beruhen, dass sie die eigentümliche Leistung von
Recht für die Regulierung des sozialen Lebens verkennen.
Zumindest für Weber war dieses „Schicksal“ nicht zuletzt unvermeidlich, wenn
einem doch recht unsoliden Fach ein schärferes Profil gegeben werden sollte.
Dass Webers Eifer bei der Formulierung soziologischer Kategorien hierbei
nicht in einer schalen „Begriffssoziologie“ endete, hat man wohl auch dem
Umstand zu verdanken, dass seine juristische Formation von Anfang an über
die reine Dogmatik hinausgriff.
69
Fragen zur zweiten Vorlesungseinheit
1. Welchen Stellenwert nimmt die juristische Ausbildung im Werk
Max Webers ein.
2. Eruieren sie Grunddaten der Biographie Max Webers mithilfe der
Ihnen zugänglichen Recherchemittel!
3. Charakterisieren sie Max Webers Verhältnis zur Jurisprudenz
seiner Zeit!
4. Wie erklärt es sich, dass es nach Weber „das unvermeidliche
Schicksal aller Soziologie“ sei, „daß sie für die Betrachtung des
überall stetige Übergänge zwischen den ‚typischen‘ Fällen
zeugenden realen Handelns sehr oft die scharfen, weil auf
syllogistischer Interpretation von Normen ruhenden, juristischen
Ausdrücke verwenden muß, um ihnen dann ihren eigenen, von
dem juristischen der Wurzel nach verschiedenen Sinn
unterzuschieben.“
5. Wenn „Recht“ und „Religion“ als Grundsphären moderner
Gesellschaften gelten, wie gerade der Vergleich mit dem
französischen Begründer der Soziologie Emile Durkheim zeigt,
wie werden dann „Recht“ und „Religion“ voneinander
geschieden?
70
Dritte Vorlesung
Gesellschaft, Handeln, Recht und Ordnung.
Juristischer und soziologischer Begriff des Rechts
I. Zum Rechtsbegriff Max Webers
Webers Rechtsbegriff ist vielschichtig. Je nach Betonung der Handlungs-,
Norm-, Sanktions- oder Ordnungskomponente im Rechtsbegriff variiert auch
die Nähe zum Konzept von Herrschaft.
Wer in Webers sog. „Rechtssoziologie“ eine Bestimmung des Rechtsbegriffs
erwartet, wird enttäuscht: Webers systematische „Rechtssoziologie“174 in der
uns überlieferten Form setzt nämlich eigenartiger Weise mit einer zwar unter
juristischen Gesichtspunkten zentralen Fragestellung ein, der Abgrenzung von
öffentlichem und privatem Recht, um sich dann aber über den soziologischen
Rechtsbegriff selbst auszuschweigen. Es gibt auch keinen Verweis auf die in
den „Soziologischen Grundbegriffen“ vorgenommene Begriffsbestimmung.175
Andererseits setzt die Paginierung des Manuskripts der sog.
„Rechtssoziologie“, eines veritablen „Collagenwerks“, mit der Seite 12 auf der
maschinenschriftlichen Unterlage ein, auf der Weber seine handschriftlich
verfassten Korrekturgebirge aufschichtete, so dass zu vermuten ist, dass ein
erster, auf den soziologischen Rechtsbegriff gemünzter Teil herausgelöst wurde.
Auch der ältere Teil des Kategorienaufsatzes, der ja aus der Konzeption für
174
175
Die textkritische Analyse der sog. „Rechtssoziologie“ wird zeigen, dass divergierende
Schwerpunkte des überlieferten Textes, Universalgeschichte des Privatrechts einerseits
und Rationalisierung des Rechts andererseits, auf einem Wandel des Weberschen Projekts
beruhen: im „Stoffverteilungsplan“ zielt es, in der Beziehung von Wirtschaft und Recht,
auf „Epochen der Entwicklung des heutigen Zustandes“ während es im „Werkplan“ als
„Entwicklungsbedingungen des Rechts“ ausgewiesen ist. Diese konzeptionelle Differenz
mit weitreichenden Folgen für die Deutung der „Rechtssoziologie“ lässt sich auf der
Ebene der Materialität des überlieferten Manuskriptes nachweisen (vgl. hierzu demnächst
den Band „Recht“, MWG I/22-3).
Vgl. die §§ 4, 5, 6 und 7 der Soziologischen Grundbegriffe, in: Max Weber, Wirtschaft
und Gesellschaft, A.a.O.,S. 14-20. Dies bestätigt die nicht mehr bestreitbare Einsicht, dass
die „Rechtssoziologie“ zu den Vorkriegsmanuskripten zählt, anders aber Johannes
Winckelmann, Max Webers hinterlassenes Hauptwerk.
71
einen ursprünglich geplanten methodologischen Beitrag zum „Grundriß der
Nationalökonomie“ hervorging,176 enthält keine explizite Definition von Recht
als einem Begriff, auf dessen Entwicklung eine „verstehende Soziologie“ nicht
verzichten könnte. Nur in einer Fußnote ist eine Definition von Recht
versteckt.177 Dafür ist hier in der Sache das Problem der Erwartungsbildung und
Stabilisierung außerordentlich klar umschrieben, so dass die bekannte
systemtheoretische Definition von Luhmann178 eine ehrwürdige Quelle
aufzuweisen hat.
1. Recht als Handeln
Wo Weber freilich „Recht“ im Kategorien-Aufsatz umschreibt, nämlich in der
Abgrenzung von juristischer und soziologischer Begriffsbildung, da scheint
„Recht“ im soziologischen Sinne auf „Handeln“ reduziert. So lautet die
zentrale Passage: „Die Soziologie hat es dagegen, soweit für sie das ‚Recht‘ als
Objekt in Betracht kommt, nicht mit der Ermittlung des logisch richtigen
‚objektiven‘ Sinngehaltes von ‚Rechtssätzen‘ zu tun, sondern mit einem
Handeln, als dessen Determinanten und Resultanten natürlich unter anderem
auch Vorstellungen von Menschen über den ‚Sinn‘ und das ‚Gelten‘ bestimmter
Rechtssätze eine bedeutsame Rolle spielen.“179 Recht ist also nichts weiter als
eine bestimmte Art des Handelns. Dies würde zu Holmes berühmter Definition
von „Recht“ als „principles of what the courts will do in fact“180 durchaus
176
177
178
179
180
So Max Weber in der ersten Fußnote zum Kategorienaufsatz, a. a. O., S. 427.
Auf Seite 445 des Kategorienaufsatzes findet sich eine bemerkenswerte, bislang in der
Deutung um das Verhältnis von „Kategorienaufsatz“ und „Die Wirtschaft und die
Ordnungen“ unbeachtete Formulierung: „Als ‚Recht’ gilt uns soziologisch eine in ihrer
empirischen Geltung durch einen ‚Zwangsapparat’ (im bald zu erörternden Sinn), als
Konvention eine nur durch ‚soziale Mißbilligung’ der zur ‚Rechts’- bzw. ‚Konventions’Gemeinschaft vergesellschafteten Gruppe garantierte Ordnung.“ Diese Formulierung setzt
den Einbau der Garantienlehre in den Rechtsbegriff von „Die Wirtschaft und die
Ordnungen“ voraus!
Auch wenn Luhmann diesen Zusammenhang mit „alteuropäischer“ Theoriebildung
geflissentlich übersieht. Vgl. insbes. Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, 2 Bde. Reinbeck
b. Hamburg,1972. S. hierzu Werner Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht. Das Recht
im soziologischen Diskurs der Moderne, Frankfurt am Main 1993, Zweiter Teil, Kap. 1, S.
97-127.
Max Weber, Ueber einige Kategorien der verstehenden Soziologie, a. a. O., S. 440.
Vgl. Oliver Holmes, The Path of the Law, in: Harvard Law Review 10, 1887, S. 457-478,
hier S. 461.
72
passen, ebenso wie der einschränkende Nachsatz über die Vorstellungen, die
zur Geltung des Rechts gebildet werden, in Emile Durkheim eine Stütze fände,
der in einer vernichtenden Rezension über den abtrünnigen Gaston Richard die
idealistische Reduktion des Rechts als „Idée du droit“ attackiert hatte.181
Insofern kommt in Webers handlungsbezogener Umschreibung des Rechts der
„Realismusanspruch“ zur Geltung.
Unklar bleiben die Akteure dieses rechtsbezogenen Handelns, sowie Strukturen
und Organisationsformen der „Rechtsgemeinschaft“.
2. Recht als Norm
oder Kritik des Rechts als „Form“ des sozialen Lebens
Geht man in der Werkentwicklung noch einen Schritt weiter zurück, so ist im
Stammler-Aufsatz182 eine auf die Norm bezogene, ebenso empirisch gemeinte
Rechtsbetrachtung zu finden. Dies scheint Webers Rechtsauffassung in
unmittelbare Nähe zu der von Durkheim seit der Einführungsvorlesung
entwickelten These zu bringen, nach der Recht als Struktur des sozialen Lebens
zu betrachten sei. Freilich ist dies gerade das Modell des Rechts, das von Weber
aufs Schärfste, in hochgradig gereiztem Tonfall, kritisiert wird. Er führt aus,
„daß es sinnlos ist, die Beziehung der Rechtsregel zum ‚Sozialen Leben‘ derart
zu fassen, daß das Recht als die – oder eine – ‚Form‘ des ‚sozialen Lebens‘
aufgefaßt werden könnte […]“.183 Wie kommt Weber zu dieser Aussage, die
direkt auf Durkheim gemünzt schiene, falls Weber diese Auffassung Durkheims
zur Kenntnis genommen hätte?184
181
182
183
184
Vgl. Emile Durkheim, Richard G., Essai sur l’origine de l’idée de droit, in: Revue
philosophique 35, 1893, S. 290-296.
Max Weber, R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung, in:
Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 24, 1907, S. 94-151, abegdr. in: Max
Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, a. a. O., S. 291-359.
Max Weber, R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung,
a. a. O., S. 349.
Da sich unsere Interpretation Durkheims auf posthum bzw. sehr versteckt publizierte
Arbeiten Durkheims (etwa in den Annalen der Universität von Bordeaux) stützt, ist eine
Kenntnis dieser Schriften durch Weber objektiv unmöglich. Insoweit stellt sich das
Problem der wechselseitigen Nichtzurkenntnisnahme von Durkheim und Weber nicht (vgl.
aber zur Streitfrage Edward A. Tiryakian, A Problem for the Sociology of Knowledge:
The Mutual Unawarness of Emile Durkheim and Max Weber, in: European Journal of
Sociology 7, 1965, S. 330-336).
73
Sie hat zunächst damit zu tun, dass es Weber nicht passt, wie Stammler „die
Möglichkeit einer selbständigen und eigenartigen sozialen Wissenschaft“185 an
die Vorstellung des „sozialen Lebens“ koppelt. Er behauptet nämlich, die
Wechselwirkungslehre Simmels z.B. führe zwangsläufig auf eine
naturwissenschaftliche Betrachtung von einzelnen Menschen als Wirkverhältnis
zurück. Es ist die Stammlersche „Lösung“ des Emergenzproblems, die Weber
herausfordert, nämlich in der äußeren „Reguliertheit“ des sozialen Lebens eine
die Einzelwesen verbindende „Form“ entdeckt zu haben.
Webers Thema, das sich an der Rezension R. Stammlers entfaltet, ist auf der
unmittelbar wahrnehmbaren Ebene die Ambivalenz und Mehrdeutigkeit des
„Regelbegriffs“, der die „stete Gefahr der hoffnungslosen Konfusion des
Empirischen mit dem Normativen auf das Maximum“186 steigen lässt. In der
Stammler-Auseinandersetzung wird aber zugleich die handlungsförmige
Bestimmung des Gegenstandsbereichs einer verstehenden Soziologie
vorbereitet, wie sie im Kategorien-Aufsatz explizite Gestalt annimmt. Sie
entzündet sich an Stammlers Bestimmung des „sozialen Lebens“, dessen
formale Eigenart darin bestehe, dass es „geregeltes“ Zusammenleben sei.
Eine die „Konfusion des Empirischen mit dem Normativen“ vermeidende
Betrachtung stellt nach Weber nämlich zwei Bedeutungen von „Regel“ fest, die
beide nicht dafür taugen, „Recht“ als „Form“ des sozialen Lebens zu
betrachten. Einmal ist mit „Regel“ der gelten sollende Sinn einer Norm
gemeint, eine Aufgabe, die im Skatspiel von der „Skatjurisprudenz“, im
„Rechtsleben“ von der Rechtswissenschaft zur Ermittlung der „juristischen
Wahrheit“ 187 erfüllt wird, die als ein „rein ideelles, vom juristischen Forscher
destilliertes Objekt begrifflicher Analyse“188 behandelt wird. Das „Gelten“ der
Regel in diesem Sinne ist das Ergebnis – so Weber – der gedanklichen
Verbindung von „Begriffen“, ein „Gelten-Sollen“ für den juristischen Intellekt.
Diesem „idealen“ Sinn der „Regel“ aber kommt keinerlei Bedeutung für die
„empirische“ Geltung der Regel zu. So heißt es im Stammler-Aufsatz: „Die
185
186
187
188
Rudolf Stammler, Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung.
Eine sozialphilosophische Untersuchung, 2. Aufl. Leipzig 1906, S. 109.
Max Weber, R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung,
a. a. O., S. 343 (eigene Hervorh.).
So die Formulierung im Stammler-Aufsatz, a. a. O., S. 347.
Max Weber, R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung,
a. a. O., S. 346.
74
Rechtsregel, als ‚Idee‘ gefaßt, ist ja keine empirische Regelmäßigkeit oder
‚Geregeltheit‘, sondern eine Norm, die als ‚gelten sollend‘ gedacht werden
kann, also ganz gewiß keine Form des Seienden, sondern ein Wertstandard, an
dem das faktische Sein wertend gemessen wird, wenn wir ‚juristische Wahrheit‘
wollen.“189 Wenn also dem Recht als „Idee“ die Bedeutung abgesprochen wird,
scheint sich eine Nähe zu Durkheims Kritik des juridischen Idealismus
einzustellen.190 Aber Weber tendiert nun keineswegs zu einem schlichten
Normrealismus als „Form“ des sozialen Lebens, vielmehr gilt: „Die
Rechtsregel, empirisch betrachtet, ist aber erst recht keine „Form“ des sozialen
Seins, wie immer das letztere begrifflich bestimmt werden möge, sondern eine
sachliche Komponente der empirischen Wirklichkeit, eine Maxime […]“.191 Und
das heißt: Nur soweit die am Recht beteiligten Personen, „Richter“, „Anwälte“,
„Gerichtsvollzieher“, „Polizisten“ und die „Rechtsgenossen“ sich an der
Vorstellung vom Gelten-Sollen der „Regel“ orientieren, ist das soziale Sein
durch ein rechtliches Sollen bestimmt. Da aber das Ausmaß der empirischen
Geltung ungewiss ist, was nicht zuletzt die Implementationsforschung belegt
und in Durkheims Normalitätsthese der Regelabweichung auch positiv
gewendet ist,192 macht nach Weber die Rede von „Recht als Form des sozialen
Lebens“ keinen Sinn.
Und dies hat darin seinen Grund, dass es – entgegen dem panjuristischen193
Bild, das wir von Webers Auffassung der sozialen Wirklichkeit bisher
gezeichnet haben, unterschiedliche Relevanzstufen194 der rechtlichen
Geordnetheit des Handelns gibt, die zu einer differenzierten Einschätzung der
kausalen Tragweite der empirischen Rechtsordnungen für die „Kulturtatsachen“
führt, so Webers Terminologie im Stammler-Aufsatz. Weber formuliert dies
nicht ohne Ironie als eine Kritik des juristischen Weltbildes. So heißt es: „Der
Fachjurist freilich ist begreiflicherweise geneigt, den Kulturmenschen im
189
190
191
192
193
194
Max Weber, R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung,
a. a. O., S. 349.
So vor allem in der Kritik von Gaston Richard, a. a. O.
Max Weber, R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung,
a. a. O., S. 349.
Emile Durkheim, Regeln der soziologischen Methode, Neuwied und Berlin 1961 (1895),
S. 155 ff. Zur soziologischen Deutung siehe auch: Werner Gephart, Strafe und
Verbrechen. Die Theorie Emile Durkheims, Opladen 1990, Kap. 1, S. 4-33.
Dieser treffende Ausdruck stammt von Jean Carbonnier, Sociologie juridique, Paris 1972.
Vgl. die ausbaufähige Formulierung im Stammler-Aufsatz, a. a. O., S. 352.
75
allgemeinen als potentiellen Prozeßführer zu betrachten, in demselben Sinn, wie
etwa der Schuster ihn als potentiellen Schuhkäufer und der Skatspieler ihn als
potentiellen ‚dritten Mann‘ ansieht.“195
Was ist nun unter „Recht“ oder „Rechtsordnung“ im Zusammenhang der
Stammler-Kritik zu verstehen? Im „normativen“ Sinne kann nur die „ideelle
Normordnung“ gemeint sein, deren begriffliche Vernetzung genau dem „Ideal“
entsprechen müsste, das in Webers Rechtssoziologie durch die Postulate der
gemeinrechtlichen Jurisprudenz als: „formal-rationalstes“ System des Rechts
ausgewiesen wird. Verwandtschaft und Differenz zu Kelsens Grundidee der
reinen Rechtslehre196 sind offenkundig.
Empirisch farblos bzw. unzureichend bleibt dieser Begriff der „empirischen“
Rechtsordnung. Denn es kommt ja ausschließlich auf die Vorstellung von der
Geltung im jeweiligen Handeln an, so dass Weber am Ende eine rein
kognitivistische Vorstellung von der empirischen Rechtsordnung zu entwickeln
scheint. So heißt es ausdrücklich: „Das ‚empirische Sein’ des Rechts als
Maxime-bildenden ‚Wissens’ konkreter Menschen nannten wir hier: die
empirische ‚Rechtsordnung’.“197
3. Recht als Wissen
Die Bestimmung von Recht durch Wissen mag im Kontext der Kritik einer
unzureichenden „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung
nahe gelegen haben – Webers berühmte Formel von der Wechselwirkung der
„Ideen“ und „Interessen“ aus der „Einleitung in die Wirtschaftsethik der
Weltreligionen“198 ergäbe ja ein anderes Bild; als empirisch weitreichende
Auszeichnung reicht diese kognitive Bestimmung des empirischen Sinns gewiss
nicht, da ja gerade die paradoxe Frage besteht, wie „Recht“ als Wissen
195
196
197
198
Max Weber, R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung,
a. a. O., S. 352.
Vgl. hierzu Fritz Loos, Zur Wert- und Rechtslehre Max Webers, Tübingen 1970. Siehe
auch: Noberto Bobbio, Max Weber und Hans Kelsen, in: Manfred Rehbinder und KlausPeter Tieck (Hrsg.), Max Weber als Rechtssoziologe, Berlin 1987, S. 109-126.
Max Weber, R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung,
a. a. O., S. 350 (letzte Hervorh. W.G.).
Vgl. die berühmte Passage in: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie,
Band 1, Tübingen 91988, S. 252.
76
operieren soll, obwohl gerade ein immenses Nicht-Wissen über die
„Rechtsordnung“, nunmehr im „normativen Sinne“, Voraussetzung ihres
Funktionierens ist. Weber hat die positive Bedeutung bzw. die „PräventivWirkung des Nicht-Wissens“199 über Recht in den Zusammenhang der
Auflösung eines vormals verbindlichen Alltagswissens gestellt, das sich gerade
im Zuge der fortschreitenden Differenzierung und: Rationalisierung der
Lebensbereiche entfaltet.
Wie Wolfgang J. Mommsens klassische Studie über „Max Weber und die
deutsche Politik“ einklagt, ist ein Verständnis Webers unter Vernachlässigung
der Herrschaftsfrage unmöglich. Und diese spielt sich nicht in den Köpfen der
Akteure als „Vorstellung“ von der Geltung einer Ordnung ab, sondern sie
erfolgt vor dem Hintergrund einer unterschiedlichen Verteilung realer
Machtmittel. Dementsprechend hatte Parsons das Zentrum der Rechtsanalyse
Webers im politischen Sektor der Gesellschaft verortet.200 Wir wollen daher
sehen, ob in die Bestimmung des „Substrats“ von Recht, an dem sich die
„Epochen der Entwicklung ihres heutigen Zustandes“201 bzw. der
Rationalisierungsprozess des Rechts vollziehen, das Problem von „Macht“ und
„Herrschaft“ einfließt.
Zu diesem Zwecke wollen wir einmal die in der Anordnung des „Grundrisses“
umstrittene Passage über den Zusammenhang von „Rechtsordnung und
Wirtschaftsordnung“ sowie die Formulierungen letzter Hand in den
„Soziologischen Grundbegriffen“ betrachten.
In dem Fragment „Die Wirtschaft und die Ordnungen“202 gerät gegenüber der
Handlungsperspektive des Kategorienaufsatzes und der Normperspektive der
Stammler-Kritik nunmehr die Sanktion ins Zentrum der Betrachtung.
199
200
201
202
So die prägnante Formel von Heinrich Popitz, Über die Präventivwirkung des
Nichtwissens. Dunkelziffer, Norm und Strafe, Tübingen 1968, [Recht und Staat in
Geschichte und Gegenwart; Band 350].
Vgl. u.a. Talcott Parsons, Law as an Intellectual stepchild, in: H.M. Johnson (Hrsg.),
Social System and Legal Process, San Francisco 1977, S. 11-58. Zur Rekonstruktion von
Parsons Rechtsbegriff vgl. Werner Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht, a. a. O.,
Zweiter Teil, Kap. 3, S. 179-270.
So die konzeptionell zu unterscheidende, insbesondere im § 2 der Rechtssoziologie
realisierte Formel des Stoffverteilungsplans von 1910!
Das Manuskript ist von Webers Hand überschrieben als: „Die Wirtschaft und die
Ordnungen“, was in der von Johannes Winckelmann besorgten Ausgabe fälschlich als die
„Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen“ wiedergegeben ist.
77
4. Recht als Sanktionsapparat
So können mannigfache Motive zur Geltung einer Ordnung beitragen; von
„garantiertem“ Recht aber will Weber nur dort sprechen, „wo die Chance
besteht, es werde gegebenenfalls ‚um ihrer selbst willen‘ Zwang, ‚Rechtzwang‘,
eintreten“.203 Diese Formulierung ist sehr genau zu lesen, denn sie enthält nicht,
wie Weber ja gemeinhin zugeschrieben wird, eine schlichte Bestimmung von
Recht durch Macht, indem Recht an die Machtverhältnisse ausgeliefert sei.
Vielmehr wird die Garantie der Rechtsordnung zur unbedingten, durch keinerlei
utilitaristische Motive irritierbaren, von Opportunitätsgründen unabhängige:
Rechtspflicht des Staates. Damit ist das „Zwangsmoment im Recht“204 von
vornherein ethisch überhöht, ebenso wie die Befolgungsmotive ethische
Dignität aufweisen, wenn sie nicht in Furcht vor negativen Folgen oder in
Erwartung von Belohnungen bestehen. Hat man Parsons’ Utilitarismuskritik vor
Augen, so findet sich diese in der Tat auch in Webers Konzeption des Rechts
bestätigt, auf der Seite der interessenunabhängigen Befolgungsmotive der
Rechtsgenossen, wie der Durchsetzungsmotive von Recht auf Seiten des
Zwangsapparates, die „um ihrer selbst willen“ befolgt werden. Somit fließen
normative Geltungsvorstellungen in den empirischen Begriff des Rechts als
Sanktionsapparat mit ein, was in den „Soziologischen Grundbegriffen“ dann
weiter systematisiert wird.
Unter „Rechtsordnung“, im empirischen Sinne, wird also weder die auf „Recht“
bezogene normative Ordnung noch die Gesamtheit des Regelsystems
verstanden, sondern: „Wir wollen vielmehr überall da von ‚Rechtsordnung‘
sprechen, wo die Anwendung irgendwelcher, physischer oder psychischer,
Zwangsmittel in Aussicht steht, die von einem Zwangsapparat, d. h. von einer
oder mehreren Personen ausgeübt wird, welche sich zu diesem Behuf für den
Fall des Eintritts des betreffenden Tatbestandes bereithalten, wo also eine
203
204
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 182 (eigene Hervorh.).
Zu Durkheims Sicht vgl. die Rezension von E. Neukamp, Das Zwangsmoment im Recht in
entwicklungsgeschichtlicher Bedeutung (Berlin 1898), in: L’Année sociologique 3, 1900,
S. 324-325.
78
spezifische Art der Vergesellschaftung zum Zweck des ‚Rechtszwanges‘
existiert.“205
Eine mögliche Richtung der „Epochen der Entwicklung ihres heutigen
Zustandes“, so die Formulierung des „Stoffverteilungsplanes, bzw. die
„Rationalisierung“ des Rechts, könnte sich also aus der Entfaltung dieses
„Zwangsapparates“ ergeben, der sich von der ungeschiedenen Gesamtheit der
„Sippe“ bis zur Ausdifferenzierung eines „Erzwingungsstabes“ entwickelt, ein
Prozess, der in engem Zusammenhang mit der Entfaltung des „Staates“ stehen
muss. So ist das „staatlich“ garantierte Recht eine der letzten
„Entwicklungsstufen“206 des Rechts: „Von ‚staatlichem‘, das heißt: staatlich
garantiertem, Recht wollen wir da und insoweit sprechen, als die Garantie
dafür: der Rechtszwang, durch die spezifischen, im Normalfall also: direkt
physischen Zwangsmittel der politischen Gemeinschaft ausgeübt wird.“207 Das
„Schicksal“ der Rechtsentwicklung ist von dort her eng mit dem Prozess der
Monopolisierung legitimer Gewaltmittel im Staat verknüpft.
5. Recht als Interesse
Unter dem Titel „Bedeutung und Grenzen des Rechtszwangs für die
Wirtschaft“208 findet sich eine grundlegende Erörterung der wechselseitigen
Beziehung von Recht und Wirtschaft, die sich als Kritik einer ökonomischen
Rechtslehre lesen lässt.209
Wenn man nämlich fragt, was eigentlich durch eine Rechtsordnung garantiert
sein soll, so lautet eine, insbesondere vom Marxismus vertretene Auffassung,210
dass ökonomische Interessen Objekt der Rechtsgarantie seien. Webers Antwort
ist eindeutig: Mit Rudolf von Ihering, dem Weber im Unterschied zu
205
206
207
208
209
210
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 185.
So an die ausdrückliche Formulierung Webers in: Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S.
183.
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 183.
Max Weber, abgedr. in: Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 195-198.
Vgl. hierzu im theoriegeschichtlichen Kontext: Werner Gephart, Gesellschaftstheorie und
ökonomische Analyse des Rechts, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 16, 1995, S. 156169.
Siehe hierzu Werner Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht, a. a. O., Dritter Teil, Kap.
1. S. 275-320.
79
Durkheim211 positiv bewertet, wird dem „Interesse“ eine zentrale Rolle für das
Rechtsverständnis eingeräumt. Aber die Vielfalt der Interessen lässt sich nicht
auf irgendwie geartete „ökonomische“ Beziehungen, Begehren oder
Vorzugslagen reduzieren: „Das Recht (immer im soziologischen Sinn)
garantiert keineswegs nur ökonomische, sondern die allerverschiedensten
Interessen, von den normalerweise elementarsten: Schutz rein persönlicher
Sicherheit bis zu rein ideellen Gütern wie der eigenen ‚Ehre’ und derjenigen
göttlicher Mächte. Es garantiert vor allem auch politische, kirchliche, familiäre
oder andere Autoritätsstellungen […]“212
Ist die Rechtsordnung nicht der bloße Ausschuss ökonomischer Interessen, so
kann – theoretisch – die Rechtsordnung völlig unverändert eine vollständige
Veränderung der Wirtschaftsordnung überdauern, d.h. es mögen etwa
privatkapitalistische Rechtsinstitute auch in einer sozialistischen Rechtsordnung
fortbestehen. Eine direkte Korrespondenz von Rechtsordnung und
Wirtschaftsordnung wird auch in der umgekehrten Richtung aufgelöst: der
gleiche wirtschaftliche Effekt ist mit unterschiedlichen juristischen
Konstruktionen erreichbar.213 Es gibt also keine simple Eins-zu-Eins-Beziehung
von Wirtschaftsordnung und Rechtsordnung.
Nun soll durch diese Einschränkung der wirtschaftlichen Bedingtheit der
„Rechtsordnung“ keineswegs die Bedeutung ökonomischer Interessen geleugnet
werden. Aber auch dieser zugestandene Einfluss der Wirtschaft, oder besser:
des Wirtschaftens auf die Rechtsordnung ist nicht nur auf direktem Wege,
sondern sehr vermittelt wirksam: „Natürlich steht die Rechtsgarantie in
weitestem Umfang direkt im Dienst ökonomischer Interessen. Und soweit dies
scheinbar oder wirklich nicht direkt der Fall ist, gehören ökonomische
Interessen zu den allermächtigsten Beeinflussungsfaktoren der Rechtsbildung,
da jede eine Rechtsordnung garantierende Gewalt irgendwie vom
Einverständnishandeln der zugehörigen sozialen Gruppen in ihrer Existenz
getragen wird und die soziale Gruppenbildung in hohem Maße durch
Konstellationen materieller Interessen mitbedingt ist.“214
211
212
213
214
Durkheims negative Rechtssoziologie entzündete sich ja gerade an Iherings „Zweck im
Recht“, siehe Werner Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht, a. a. O., Dritter Teil, Kap.
2, S. 321-418.
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 196.
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 196.
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 196.
80
Weber leugnet also keineswegs die Kategorie des Interesses. Aber das Interesse
transformiert sich nicht umstandslos in Rechtsformen. Das durch Zwang
garantierte Recht besitzt umso höhere Geltungschancen, als es an der
Vorstellung von der Geltung der Ordnung – also „Einverständnishandeln“215 im
Sinne des Kategorien-Aufsatzes – orientiert ist.
Der dem
Einverständnishandeln zugrundeliegende „Rechtsglaube“ ist nicht atomistisch
verteilt,216 sondern er wird durch Prozesse der Bildung von Gruppen
vorgeformt und kanalisiert.
Zu den „Trägerschichten“ der von Weber analysierten rechtlichen Entwicklung
gehören
also
nicht nur die Vertreter unterschiedlicher „Typen des
Rechtsdenkens“, sondern die Gruppierungen der am Recht interessierten
Kreise: die „Rechtsgemeinschaft“.
Wirtschaft und Recht sind „in ihrem prinzipiellen Verhältnis“ noch auf andere
Weise miteinander verknüpft. Auch wenn es keine eindeutig notwendige
Entsprechung von Rechtsform und Wirtschaftsform gibt, so ist mit der
Entwicklung des Marktes ein ganz spezifischer Bedarf an Recht entstanden,
nämlich nach einem für die Marktinteressenten berechenbaren Recht. Und weil
die „Eigengesetzlichkeiten“217 des Marktes ihrerseits die Entwicklung der
politischen Gewalten beeinflussen, gilt nach Weber die folgende
Wechselwirkung von Wirtschaft und Recht: „Die universelle Herrschaft der
Marktvergesellschaftung verlangt einerseits ein nach rationalen Regeln
kalkulierbares Funktionieren des Rechts. Und andererseits begünstigt die
Marktverbreiterung, die wir als charakteristische Tendenz jener kennenlernen
werden, kraft der ihr immanenten Konsequenzen die Monopolisierung und
Reglementierung aller „legitimen“ Zwangsgewalt durch eine universalistische
215
216
217
Als „Einverständnis“ definiert Max Weber im Kategorienaufsatz „den Tatbestand [],
daß ein an Erwartungen des Verhaltens Anderer orientiertes Handeln um deswillen eine
empirisch ‚geltende‘ Chance hat, diese Erwartungen erfüllt zu sehen, weil die
Wahrscheinlichkeit objektiv besteht: daß diese anderen jene Erwartungen trotz des
Fehlens einer Vereinbarung als sinnhaft ‚gültig‘ für ihr Verhalten praktisch behandeln
werden“ (Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie,a.a.O., S. 279). Die
Tatsache, dass der Begriff des „Einverständnishandelns“ – wie an weiteren Stellen von
„Die Wirtschaft und die Ordnungen“ – im Weberschen Manuskript handschriftlich
eingezogen ist (Mskr. S. 16), belegt die Anpassung einer älteren Textstufe an die
Handlungsterminologie des Kategorienaufsatzes.
Insofern neigt Weber auch nicht zu dem von Parsons diagnostizierten positivistischen
Dilemma der „randomness of ends“ hin.
Wir kommen auf die zentrale Bedeutung dieses Begriffs zurück.
81
Zwangsanstalt vermöge der Zersetzung aller partikulären, meist auf
ökonomischen
Monopolen
ruhenden
ständischen
und
anderen
Zwangsgebilde.“218
Recht und Wirtschaft sind in ihrem prinzipiellen Verhältnis also vielfach
verschlungen und insbesondere durch die vermittelnde Instanz der
Herrschaftsordnung miteinander verzahnt.
Dieser Zusammenhang wird in den letzten Formulierungen Webers zum
Rechtsproblem, wie sie in den „Soziologischen Grundbegriffen“ zu Webers
Grundrissbeitrag zu finden sind, weiter vertieft.
Die „Soziologischen Grundbegriffe“ haben bei aller Bewunderung der nahezu
klassischen Formulierungen auch viel Unverständnis ausgelöst. Sie sind vor
allem dadurch für die Lektüre von „Wirtschaft und Gesellschaft“ in der bislang
überlieferten Form so außerordentlich irreführend, weil Weber die bis zur
Begriffssoziologie aufgetürmten Verschachtelungen in seinen materialen
Studien der Vorkriegsmanuskripte gar nicht mehr einlösen konnte. Vielmehr
liegt einigen der aus dem Nachlass herausgegebenen Manuskripten die im
Kategorien-Aufsatz von 1913 entwickelte Terminologie zugrunde, dessen
sorgsame Einarbeitung in eine ältere Textschicht sich insbesondere in der
Edition von „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ wird zeigen lassen.
6. Recht als „äußerer Zwang“
Die erste Überraschung liegt darin, dass „Recht“ – entgegen unserer
Deutungshypothese – gar nicht als eine der definitionswürdigen „Kategorien“
im Paragraphenwerk der Kategorienlehre aufgenommen wird, obwohl eine
Reihe der aufgenommenen Begriffe juristischen Ursprungs sind. Dies gilt für
„soziales Handeln“ (§ 1), was sich z. B. bei Ihering als „soziale Handlung“
findet; es trifft auf die Idee „legitimer Ordnung“ (§ 5), „Verein“ und „Anstalt“
(§ 15), „Verwaltungsordnung“ und „Regulierungsordnung“ (§ 14) zu und ist
besonders deutlich in dem Paragraphen über die „Zurechnung des Handelns.
Vertretungsbeziehungen“ (§ 11). „Recht“ als eigenständiger Begriff wird der
Kategorie „legitimer Ordnung“ subsumiert, an der das Handeln der Akteure
218
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 198.
82
ausgerichtet ist (§ 5). Ihre Legitimität kann „innerlich“, nämlich rein
„affektuell“, „wertrational“ oder „religiös“ garantiert sein oder aber: „äußerlich“
(§ 6). Hiernach ergibt sich die Bestimmung von „Recht“ als einer äußerlich
garantierten Ordnung. So heißt es: „Eine Ordnung soll heißen: […] Recht, wenn
sie äußerlich garantiert ist durch die Chance [des] (physischen oder
psychischen) Zwanges durch ein auf Erzwingung der Innehaltung oder
Ahndung der Verletzung gerichtetes Handeln eines eigens darauf eingestellten
Stabes von Menschen.“219 Die Qualität von Befolgungs- und
Durchsetzungsmotiven ist hiernach unbeachtlich.
Damit ist die im Stammler-Aufsatz vorgezeichnete Abkoppelung des
Rechtsbegriffs von dem der „Regeln“ oder „Regelmäßigkeiten“ endgültig
vollzogen. „Brauch“ und „Sitte“ werden nämlich in § 4 als Typen des Handelns,
im Sinne der „Regelmäßigkeit der Einstellung sozialen Handelns“220, von den
Typen legitimer Ordnung – also auch Recht – abgegrenzt, die nicht durch die
bloße Faktizität der Übung („Brauch“), oder die Eingelebtheit („Sitte“)
definierbar sind. Konstitutive Merkmale des Rechtsbegriffs sind nach § 6 der
Kategorienlehre also einmal die äußerliche Garantie, sowie das Vorliegen eines
Stabes zur Ausübung von Zwang.
Max Weber nennt damit im Rechtsbegriff genau die Merkmale, die Emile
Durkheim zur Kennzeichnung der faits sociaux verwendet hatte: nämlich
Exteriorität und Zwang.221 Eine „Konvergenz“ von Weber und Durkheim
zeichnet sich also nicht auf der Handlungsebene ab222, sondern: die von Weber
verwendeten Definitionsmerkmale von „Recht“ als legitimer Ordnung
entsprechen genau Durkheims Versuch, den Gegenstand der Soziologie zu
umreißen. Damit wird bestätigt, dass Durkheim in den „Regeln“ noch einem
juridisch geprägten Weltbild verhaftet bleibt, das Recht als elementare „Form
des sozialen Lebens“ zu begreifen. Andererseits wird die gegenüber Weber
219
220
221
222
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 17.
Weber verweist sowohl auf Rudolf von Iherings Der Zweck im Recht (Leipzig 1898) wie
die Studie von Paul Oertmann, Rechtsordnung und Verkehrssitte, insbesondere nach
bürgerlichem Recht, Leipzig 1914, sowie Ernst Weigelin, Sitte, Recht und Moral.
Untersuchungen über das Wesen der Sitte, 1919.
Vgl. Werner Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht, a. a. O., Dritter Teil, Kap. 2, S.
321-418.
So die Parsons’sche These von: The Structure of Social Action. A Study in Social Theory
with Special Reference to a Group of Recent European Writers. New York 1968
(1937/1949).
83
aufgerissene Diskrepanz umso größer: Während Durkheims Reich des
Normativen ohne Grenzen ist223 – ohne eine eigene Herrschaftslehre zu
entfalten – zieht Weber den Umkreis von Recht als einer äußerlich garantierten
legitimen Ordnung enger, was zugleich der Eigengesetzlichkeit von Herrschaft
Raum gibt.224
6. Recht als legitime Ordnung
Aber wo bleibt die „Legitimität“ von Recht als normativer Ordnung, wenn ihre
„Geltung“ auf der bloßen äußerlichen Garantie durch einen Zwangsapparat
beruht? Im Anschluss an die Differenzierung einer „inneren“
Legitimitätsgarantie, nämlich „rein affektuell“, „wertrational“ oder „religiös“
und der äußeren Legitimitätsgarantie als „Recht“ und „Konvention“, deren
Sanktionsmittel auf schierer „Mißbilligung“ beruhen, führt Weber
unterschiedliche Gründe der Legitimitätszuschreibung ein.
So heißt es in § 7 der Kategorienlehre, dass legitime Geltung einer Ordnung von
den Handelnden zugeschrieben werden kann: a) kraft Tradition, b) kraft
affektuellen, c) kraft wertrationalen Glaubens und schließlich d) kraft positiver
Satzung, an deren Legalität geglaubt wird.225
Damit hat Weber die „Legitimitätsform des Legalitätsglaubens“ nicht nur in der
Herrschaftssoziologie verwendet, sondern gerade auch für die
„Rechtssoziologie“ ins Spiel gebracht, auch wenn Weber den Verweis in die
„Herrschafts- und Rechtssoziologie“226 zumindest im überlieferten Manuskript
zur Rechtssoziologie nicht mehr exekutiert hat. Auch wenn der Inhalt des
„Legalitätsglaubens“ umstritten bleibt, hat Weber in der „Rechtssoziologie“
z.B. Gründe dargetan, warum die Krise des Naturrechts eine Art des
Legitimitätsglaubens
223
224
225
226
fördern
konnte,
der
–
aus
dem
Geist
des
Zum Reich des Normativen vgl. auch Werner Gephart: The realm of normativity.
Durkheim and Foucault, in: Cladis, Mark S., Durkheim and Foucault. Perspectives on
Education and Punishment, Oxford 1999.
Der kontrastive Vergleich schärft somit noch einmal die Wahrnehmung für das WeberSpezifische!
Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 19.
So heißt es: „Alles Nähere gehört (vorbehaltlich einiger noch weiter zu definierender
Begriffe) in die Herrschafts- und Rechtssoziologie.“ (Max Weber, Wirtschaft und
Gesellschaft, a. a. O., S. 19).
84
Rechtspositivismus heraus – den naturalistischen Fehlschluss von der formalen
Rationalität prozedural korrekter Rechtsgewinnung auf die materiale
Rationalität der Rechtsinhalte hervorbringen konnte.227
227
Vgl. Max Weber „Rechtssoziologie“, in: Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 502; zur
Argumentation siehe unten.
85
Fragen zur Wiederholung der dritten Vorlesungseinheit
1. Hat Weber einen eindeutigen Begriff des „Rechts“ definiert?
2. Wenn Webers Bestimmung des Gegenstandsbereichs von
„Soziologie“ auf die Deutung und Erklärung sozialen Handelns
abstellt: was bedeutet dann die Bestimmung von Recht als
„Handeln“?
3. Erläutern sie die Dimensionen des Rechts als
- Recht als Wissen,
- Recht als normative Ordnung,
- Recht als Sanktionsapparat,
- Recht als Interessenssphäre,
- Recht als äußerer Zwang,
- Recht als legitimer, innerer Zwang.
4. Gibt es einen die verschiedenen Aspekte des Rechtskonzeptes
umfassenden Grundgedanken?
86
Vierte Vorlesung
Dimensionen des „rationalen“ Rechts
Im Rechtsbegriff Max Webers sind also unterschiedliche Momente akzentuiert:
Im Kategorienaufsatz steht der Aspekt des Handelns im Vordergrund. Recht
kann danach funktional228 gedeutet werden als ein Mechanismus zur
Stabilisierung von Erwartungserwartungen, wenn sich die Akteure an der
Vorstellung von der „Geltung“ der Ordnung zu denen auch „Recht“ gehört,
orientieren. In der Stammler-Kritik hingegen war gerade der „Ordnungsbegriff“
problematisiert, von der Weber in „Wirtschaft und Gesellschaft“ schließlich
einschränkend meint, dass sie im „Verdruß über die angerichtete Verwirrung in
der Form leider etwas scharf“ geraten war.229 So stand die Unterscheidung von
naturalistischer Regelmäßigkeit und normativer Regelordnung im Vordergrund,
die in der soziologischen Kategorienlehre wieder aufgegriffen wird. In Webers
Fragment über die „Wirtschaft und die Ordnungen“ wird dann der
Zwangsapparat, bzw. der später so bezeichnete „Erzwingungsstab“
konstitutiv.230 Damit wird auf der grundbegrifflichen Ebene die Verschlingung
von Rechts- und Herrschaftssoziologie eingeleitet, soweit nämlich Recht durch
legitimen „Zwang“ und „Herrschaft“ durch die Legitimität einer Rechtlichkeit
228
Eine „funktionale Betrachtung“ wird von Weber ja auch keineswegs abgelehnt, freilich auf
heuristische Zwecke eingegrenzt: „Für eine deutende Soziologie kann eine solche Ausdrucksweise (funktionalistische, W.G.): 1. praktischen Veranschaulichungs- und provisorischen Orientierungszwecken dienen (und in dieser Funktion höchst nützlich und nötig –
aber
freilich
auch,
bei
Ueberschätzung
ihres
Erkenntniswerts
und
falschem
Begriffsrealismus: höchst nachteilig – sein). Und 2.: Sie allein kann uns unter Umständen
dasjenige soziale Handeln herausfinden helfen, dessen deutendes Verstehen für die
Erklärung eines Zusammenhangs w i c h t i g ist.“ (Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S.
7).
229
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 17.
230
So heißt es: „Uns soll für den Begriff ‚Recht’ (der für andere Zwecke ganz anders abgegrenzt werden
mag) die Existenz eines Erzwingungs-Stabes entscheidend sein.“ (Wirt-
schaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 18).
87
bestimmt wird. Talcott Parsons liegt also insofern mit seiner Deutung richtig,
Webers Rechtsverständnis im Funktionsfeld von „polity“ zu verorten. Wie
freilich die Wechselwirkungen von „Recht und Herrschaft“ zu präzisieren sind,
bleibt offen. Im Verhältnis zur „Wirtschaft“ hatte Weber ein differenziertes Modell komplexer Wechselwirkungen entworfen, dessen Grundidee auch auf die
vielfältigen und z.T. diffusen Beziehungen von „Recht“ und „Herrschaft“
anzuwenden ist.
Auf der Grundlage dieser vielschichtigen Bedeutungen von Webers Rechtsbegriff wollen wir der Frage nachgehen, wodurch sich nun die „Rationalität“ des
Rechts auszeichnet.
1. Begriff und Problem des
okzidentalen Rationalismus
Am Ende des Kategorienaufsatzes fragt Weber, nachdem die Zunahme der
normativen Ordnungen als Indikator für den „Fortschritt der gesellschaftlichen
Differenzierung und Rationalisierung“231 hervorgehoben wird: „Was bedeutet
nun aber die Rationalisierung der Ordnungen einer Gemeinschaft praktisch?“232
Es ist ein Gemeinplatz der Weber-Deutung, dass der Begriff der „Rationalisierung“ vielschichtig sei. Weber gesteht dies am Ende der
Protestantismusstudie233 ja freimütig zu: der „asketische Rationalismus“ müsse
mit dem „humanistischen Rationalismus“, dem „philosophischen und
wissenschaftlichen Empirismus“ in Verbindung gebracht werden. In der
„Vorbemerkung“ zu den Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie wird
ebenso konstatiert: „Nun kann unter diesem Wort höchst Verschiedenes
231
So die explizite Formulierung Max Webers, Über einige Kategorie der verstehenden
Soziologie, a.a.O., S. 473.
232
233
Vgl. einmal die Veröffentlichung im Jafféschen „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ 20, 1904, S. 1-54 sowie 21, 1905, S. 1-109; siehe zum anderen: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus in der von Weber überarbeiteten Fassung der
Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 1920, S. 17-206 (insbes.
S. 204 ff.)
88
verstanden werden ...“234, was sich in Webers Schriften auch dadurch bestätigt,
dass er den im Okzident üblichen Sprachgebrauch einer auf die ratio gestützten
philosophischen Schule, wie sie z.B. im cartesianischen „Rationalismus“
firmiert, gerade n i c h t meint.
Die enormen Rezeptionsschwellen, die in Frankreich Weber gegenüber bestehen,235 haben neben der nur schwer übersetzbaren Handlungsproblematik236
nicht zuletzt mit Webers These der okzidentalen Rationalisierung zu tun, die im
Umfeld eines eindeutigen philosophiegeschichtlichen Sprachgebrauchs auf
schieres Unverständnis stoßen muss. Nun sind auch Webers eigene
Ausführungen bei allem Ringen um begriffliche Schärfe vielleicht auch deshalb
nur wenig konsistent, weil Weber mit dem „Rationalitätskonzept“ die
Möglichkeiten fachhistorischer Zurechnung überschritten hat. Es gibt sicher
gerade in der nationalökonomischen Tradition ein klassisches Problem des
rationalen Handelns; insofern wird dieser disziplinäre Hintergrund im Begriff
der „Rationalität“, insbes. der „Zweck-Mittel-Rationalität“ mitgeführt. In der
Historie, auch der „Volkswirtschaft“237, wird eher an eine Epoche des
Rationalismus, etwa die Renaissance,238 gedacht. Und in der Jurisprudenz, bei
der sich Weber gedanklich und begrifflich so ausgiebig bedient, ist nicht
ersichtlich, inwiefern „Rationalität“ selbst eine juristisch-begriffliche Tradition
haben sollte.
Es handelt sich daher wohl um eine eigenständige Ausdeutung eines
vielschichtigen Begriffs, der vielleicht deshalb zum tabuartigen Angelpunkt
einer das gesamte Werk umfassenden Deutung erkoren wurde. Bei aller
vernunftintendierten Klarheit bleibt die Idee des „Rationalismus“ eigentümlich
234
235
Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, a.a.O., S. 11.
Vgl. hierzu Werner Gephart, Die wechselseitige Rezeptionsverspätung von Max Weber in
Frankreich und Emile Durkheim in Deutschland (Vortrag in der Werner Reimers Stiftung
1982); erscheint demn. in: Werner Gephart Soziologie im Aufbruch. Studien zur
Wechselwirkung
von
deutscher
und
französischer
Sozialwissenschaft
um
die
Jahrhundertwende.
236
Vgl. Max Weber, Economie et société, insbes. Les catégories de la sociologie, S. 1-59.
237
Vgl. die Kritik Lujo Brentanos an der Protestantismusthese.
238
Siehe die bei Weber zitierte Arbeit von Boronski, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, S. 205, Fn. 1.
89
opak.239 Sie wird restlos dunkel, wo sich Weber, der aller Geschichtsphilosophie
abhold schien, zu einer Weltdeutung seherischen Gepräges aufschwingt, in der
die Rationalität, alle Sphären des Handelns überstrahlend, zugleich ihr Geschick
eines tragischen Widerspruchs von formaler und materialer Rationalität
hervorbringt.
Diese Philosophie einer rationalistischen Tragödie der Moderne, wie sie in der
„Vorbemerkung“ der „Zwischenbetrachtung“ sowie dem Abschnitt über „Ethik
und Welt“ in Webers systematischer Religionssoziologie mit unterschiedlichen
Akzenten variiert wird, steht den materialen Studien Webers gegenüber, in
denen die mitunter unscharfe Idee der „Rationalität“ deutlichere Konturen
erhält. Die sog. „Rechtssoziologie“ Max Webers gehört zu den Arbeiten, in
denen die Forschungsidee der „Rationalisierung“ präzise Gestalt annimmt. Wir
stellen daher vorerst die weitergehende Frage Max Webers zurück, wonach sich
der Unterschied der Kulturkreise danach ergäbe: „... welche Sphären und in
welcher Richtung sie rationalisiert wurden.“240
Was heißt also zunächst „Rationalisierung“ des Rechts?
2. Zur Rationalität der juristischen Sphäre
In der „Vorbemerkung“ zu den gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie
wird die „rationale Struktur des Rechts“241 zu den Voraussetzungen der
„Sozialordnung“242 gerechnet, unter denen der „moderne“ okzidentale
Kapitalismus entstehen konnte. So ist zu lesen: "Denn der moderne rationale
Betriebskapitalismus bedarf, wie der berechenbaren technischen Arbeitsmittel,
239
Masahiro Noguchi hat jüngst in seiner unveröffentlichten Dissertation Kampf und Kultur.
Max Webers Theorie der Politik aus der Sicht seiner Kultursoziologie (Bonn 2003) dieses
als „Multiperspektivität“ zu retten versucht
240
.
Max Weber, Vorbemerkung, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie Bd. 1,
a.a.O., S. 12.
241
Max Weber, Vorbemerkung der Gesammelten Aufsätze der Religionssoziologie, a.a.O., S.
11.
242
Max Weber, Vorbemerkung, a.a.O., S. 10.
90
so auch des berechenbaren Rechts und der Verwaltung nach formalen Regeln,
ohne welche zwar Abenteurer- und spekulativer Händlerkapitalismus und alle
möglichen Arten von politisch bedingtem Kapitalismus, aber kein rationaler
privatwirtschaflticher Betrieb mit stehendem Kapital und sicherer Kalkulation
möglich ist.“243 Weber behauptet also eine spezifische Funktionalität des
„rationalen Rechts“ für die Entwicklung des okzidentalen Kapitalismus – und
dieses entgegen der oben zitierten These einer relativen Unabhängigkeit von
Rechtsform und Wirtschaftsform, wie sie in dem Fragment über „Wirtschaft
und Recht“ entwickelt wurde. In der „Vorbemerkung“ heißt es insoweit
unmissverständlich weiter: „Ein solches Recht und eine solche Verwaltung nun
stellte der Wirtschaftsführung in dieser rechtstechnischen und formalistischen
Vollendung nur der Okzident zur Verfügung.“244 Die Rechtsentwicklung erhält
damit einen strategischen Stellenwert in der Erklärungsstruktur des
„okzidentalen Rationalismus“. Zwei Fragen schließen sich an: 1. Worin besteht
die Eigenart der „rechtstechnischen und formalistischen Vollendung“ des
Rechts und die Eignung der hieraus entwickelten Rechtsinstitute und 2. woher
kommt es, dass dieses Recht nur im Okzident entwickelt wurde?
Eine Antwort auf diese Fragen findet sich in den vergleichenden
religionssoziologischen Studien nur in Ansätzen, zumal die Rechtsentwicklung
„quer“ zu Webers Protestantismusthese steht. Wir werden zwar sehen, wie
Weber – im Anschluss an Georg Jellinek – die Bedeutung protestantischer
Strömungen für die Deklaration der Menschenrechte durchaus herausstellt; die
Eigenarten des „rationalen Rechts“ aber haben ihre Wurzeln vor allem im
römischen Recht und den verschiedenen Rezeptionsschüben, so dass das
Grundschema der „Protestantischen Ethik“ auf den „Geist des rationalen
Rechts“ gerade n i c h t zu passen scheint. Daher ist das Modell der Erklärung
des okzidentalen Rationalismus auch von der Protestantismusthese
abzukoppeln.245 In der Konzentration auf die Bedeutung des Rechts für das
komplexe Syndrom des okzidentalen Rationalismus müssten also auch die
Grenzen dieser universalen Geschichtsdeutung des Okzidents sichtbar werden.
243
Max Weber, Vorbemerkung, a.a.O., S. 11.
244
Max Weber, Vorbemerkung, a.a.O., S. 11.
245
So in aller Klarheit Masahiro Noguchi, Kampf und Kultur, a.a.O.
91
Eine Antwort auf die Frage nach Eigenart und Herkunft des „rationalen Rechts“
im Okzident erhofft man sich daher aus Webers „Rechtssoziologie“. Dieser von
Marianne Weber und Melchior Palyi erstmals und dann von Johannes
Winckelmann mehrfach edierte Text aus dem Nachlass Max Webers kann
hierauf jedoch nur eingeschränkt Auskunft geben. Dies ergibt sich aus der
Eigenart von Webers Schriften, die nur als ein mit anderen Beiträgen abgestimmter Teil des von Weber koordinierten „Grundrisses der Sozialökonomie“
zu verstehen ist. Dieser Tatbestand ist leider in der Edition von „Wirtschaft und
Gesellschaft“ immer wieder verdeckt worden, obwohl die Einbindung in das
Gesamtwerk – wie wir sehen werden – von allergrößter Bedeutung gerade für
die Beantwortung unserer Frage ist.
Aus den Briefen Webers an den Verleger Siebeck geht nämlich hervor, dass
nicht nur der Artikel über die „Logik der Sozialwissenschaften“ aus dem
Handbuch auszulagern ist,246 sondern auch eine Liste der Mitarbeiter am
Handbuch endlich fertiggestellt ist, in der auch ein Professor G.A. Leist aus
Gießen aufgeführt ist, der „Die Rechtsordnung der capitalistischen Wirtschaft“
übernommen habe.247
Allein dieser Sachverhalt würde erklären, aus welchem Grunde in der
„Rechtssoziologie“ vergeblich nach den spezifischen Rechtsinstituten des
okzidentalen Kapitalismus gesucht wird. Und Weber schreibt dies auch
ausdrücklich in der „Rechtssoziologie“ in einem Satz, der in der bisherigen
Überlieferung zu völlig falschen Schlussfolgerungen anleitet. So ist in der von
Johannes Winckelmann besorgten Ausgabe zu lesen: „Wie die heutigen, für den
modernen Kapitalisten unentbehrlichen Rechtsinstitutionen sich entwickelt
haben, wird an anderer Stelle erörtert.“248 Ein unbefangener Leser muss
entweder annehmen, dass Weber darin auf einen anderen Paragraphen innerhalb
der „Rechtssoziologie“, oder auf eine andere Passage seines Grundrissbeitrages
verweist. In dem Karl Loewenstein vermachten und nunmehr in der Bayrischen
246
Brief vom 1. Mai 1910; hieraus wurde dann der Kategorien-Aufsatz „Über einige
Kategorien der verstehenden Soziologie“, dessen zweiter Teil eben auf diesem älteren
Manuskript beruht.
247
Brief vom 27. Februar 1910.
248
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, hrsg. von Johannes Winckelmann, 5.Aufl.
Tübingen 1972, S. 408.
92
Staatsbibliothek im Max-Weber-Depot aufbewahrten Manuskript heißt die
Stelle freilich folgendermaßen: „Wie die heutigen, für den heutigen Kapitalisten
unentbehrlichen Rechtsinstitutionen sich entwickelt haben, wird an anderer
Stelle erörtert (G. Leist im Buch II dieses Werkes).“249 Der in Winckelmanns
Edition unkenntliche Verweis macht nunmehr verständlich, warum Weber diese
Thematik in seiner „Rechtssoziologie“ ausgeklammert hat, um nämlich die
vereinbarte Arbeitsaufteilung nicht zu verletzen. Und so ist es schließlich auch
in der IV. Abteilung des „Grundrisses der Sozialökonomik“ zum Abdruck des
Beitrages von Leist unter dem nunmehrigen Titel: „Die moderne
Privatrechtsordnung und der Kapitalismus“250 gekommen. Eine direkte Antwort
auf die in der Vorbemerkung formulierte Frage nach der Herkunft der „für den
heutigen Kapitalisten unentbehrlichen Rechtsinstitutionen“ ist nach Webers
eigenem Bekunden in der „Rechtssoziologie“ also gerade n i c h t zu finden.
Gleichwohl ist die sog. „Rechtssoziologie“ – ein entsprechender Titel lässt sich
weder im Stoffverteilungsplan noch in den Briefen mit dem Verleger
nachweisen – von der Rhetorik des Rationalismus durchdrungen – in der
spätesten Fassung jedenfalls, nicht in der ursprünglichen.251 Am Ende des § 1,
der als „Differenzierung der sachlichen Rechtsgebiete“ überschrieben ist,
entfaltet Weber ein Tableau unterschiedlicher Formen der Rationalität des
Rechts, was für den Zivilrechtler Weber heißt: „vor allem natürlich: des
ökonomisch relevanten Rechts (des heutigen ‚Privatrechts’)“.252
„Rationales Recht“ ist ein mehrdimensionaler Begriff, „je nachdem, welche
Richtungen der Rationalisierung die Entfaltung des Rechtsdenkens
einschlägt.“253 Webers Intention geht dahin, seinen komparativen Absichten
249
So auf der im Typoskript mit 11 paginierten Seite zu § 2 der „Rechtssoziologie“.
250
Vgl. Grundriß der Sozialökonomik, IV. Abteilung, Spezifische Elemente der modernen
kapitlistischen Wirtschaft, 1. Teil Tübingen 1925, S. 27-48 (bearbeitet von Hans Nipperdey).
251
Vgl. hierzu ausführlich bei Werner Gephart. Das Collagenwerk. Zur so genannten
„Rechtssoziologie“
Max
Webers,
in:
Zeitschrift
des
Pax-Plank-Instituts
für
Rechtsgeschichte („Rg“) 3, 2003 (September 2003), Vgl. auch weiter unten.
252
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 395.
253
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 395.
93
entsprechend den Spielraum rationalen Rechts logisch so weit als möglich zu
fassen.
Hierbei unterscheidet Weber zwei Grundoperationen von Rechtsschöpfung und
Rechtsfindung: Einmal die Denkmanipulation von Generalisierung vs.
Konkretisierung254, sowie die Operation von Systematisierung vs. Analytik.255
„Generalisierung“ bedeutet, von der konkreten Entscheidung her gedacht, die
Ausweitung der im Einzelfall maßgeblichen Gründe auf andere
Fallgestaltungen und dies kann logisch nur dadurch geschehen, dass die
entscheidungsrelevanten Aspekte herauspräpariert werden und insofern die
Komplexität der juristischen Argumente reduziert wird. Generalisieren heißt
also: „ ... Reduktion der für die Entscheidung des Einzelfalls maßgebenden
Gründe auf ein oder mehrere ‚Prinzipien’: diese sind die ‚Rechtssätze’“.256
Diese Operation setzt nun voraus, dass aus der unendlichen Fülle der
Wirklichkeit der rechtlich relevante Tatbestand durch Analyse herauspräpariert
wird, was wiederum durch Vergleich mit anderen und im Hinblick auf andere
Fälle geschieht. Generalisierung und Konkretisierung werden also als
gegenläufige Prozesse verstanden, die sich im Medium der Kasuistik entfalten.
Insofern ist also jedes Recht – und das ist gegenüber einer Weber-Kritik zu
betonen, die ein vermeintlich naives rechtstheoretisches Verständnis moniert –
Fall r e c h t. Freilich sind die rechtstechnischen Mittel der Kasuistik verschieden: Reduktion auf Prinzipien und schließlich logisch kompatible
Rechtssätze stehen dem „bloßen parataktischen und anschaulichen Assoziieren“
gegenüber. Insofern wird also schon auf der Ebene fallbezogener Operationen
die Weiche für die Bildung juristischer Konstruktionen gestellt, die zur mehr
oder minder dichten „Synthese“ von Rechtsverhältnissen führen kann, ohne
dass diese, für die Praxis befriedigende Zusammenfassung rechtlich relevanter
Merkmale in einem Rechtsinstitut, auch dem höchsten Grad möglicher
Begriffsanalyse entsprechen würde. Es ist umgekehrt denkbar, dass von der
juristischen Begriffsbildung her plausible Konstruktionen gerade ihres
254
Weber spricht von „Kasuistik“. Vgl. im Übrigen auch die aufschlussreiche Rekonstruktion
bei Richard Münch, Die Struktur der Moderne, a.a.O., S. 380 ff.
255
256
Weber knüpft an Iherings Unterscheidungen der „Fundamental-Operationen der
juristischen Technik“ an in: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen
Stufen seiner Entwicklung, II, 2, S. 334-388.
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 395.
94
konstruktiven Charakters halber, in der Praxis fruchtlos bleiben. Zerlegung der
Wirklichkeit nach analytischen Merkmalen geht einher mit Einordnung dieser
Kategorien in ein umfassendes System. Systematisierung bedeutet:
„ ... die Inbeziehungsetzung aller durch Analyse gewonnenen Rechtssätze derart, dass sie untereinander ein logisch klares, in sich logisch widerspruchsloses
und, vor allem, prinzipiell lückenloses System von Regeln bilden, welches also
beansprucht: dass alle denkbaren Tatbestände unter eine seiner Normen müssen
logisch subsumiert werden können, widrigenfalls ihre Ordnung der rechtlichen
Garantie entbehre.“257
Der von Weber skizzierte Möglichkeitsraum rationalen Rechts ist also in sich
durch Gegensätze und Widersprüche gekennzeichnet, die – wie wir meinen –
nur in Webers Ideal eines rationalen Rechts miteinander vermittelt sind.258 Denn
ebenso wie rationale Wissenschaft des Okzidents durch die Synthese von
Theoriebildung und rationalem Experiment gekennzeichnet ist,259 ließe sich das
rationale Recht des Okzidents als eine Vermittlung der gegenläufigen Pole von
Generalisierung und Konkretisierung, Systematisierung und Analytik
konstituieren. Dies lässt sich in der folgenden Weise veranschaulichen:
Schaubild 1: Der Möglichkeitsraum des rationalen Rechts
Systematisierung
Systembildung
257
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 396.
258
Insofern geht die schematische Separierung von „Prinzip“, „reflexivem Prinzip“ bei
Schluchter m.E. gerade an dem Sinn der widersprüchlichen Anforderungen der Rechtsfindung vorbei. Vgl. Wolfgang Schluchter, Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus,
Tübingen 1979, insbes. Kap. 5, Typen des Rechts und Typen der Herrschaft, S. 122 ff.
259
Diese mehrfach in Webers Analyse des okzidentalen Rationalismus auftauchende
Denkfigur hat vor allem Richard Münch dazu angeregt, auch in Webers Sicht der okzidentalen Rationalisierung vor allem Prozesse der: Interpenetration zu entdecken.
95
Analytik
Konkretisierung
Generalisierung
Kasuistik
Obwohl in dieser idealtypischen Vereinfachung, d.h. „analytischen“
Begriffszerlegung, das kontinentale Recht eher auf der Achse von
„Systembildung“ und das „englische“ Recht eher auf der Achse der Kasuistik
repräsentiert ist, lässt sich unserer Deutung nach aber auch ein Fallrecht ohne
Elemente der Systembildung und ein Kodifikationsrecht ohne fallrechtliche
Elemente gar nicht denken. Webers Sicht liegt also keineswegs eine naive
rechtstheoretische Vorstellung zugrunde, sondern ein Bild des rationalen
Rechts, das in sich durch Widersprüche und: Gegensätze gekennzeichnet ist.
Wie verhält sich nun dieses Bild des „rationalen Rechts“ zu der
Gegenüberstellung formaler und materialer Rationalität/Irrationalität des
Rechts? So schreibt Weber: „Mit all diesen Gegensätzen teils
zusammenhängend, teils sie kreuzend aber gehen die Verschiedenheiten der
rechtstechnischen Mittel [einher], mit welchen die Rechtspraxis im gegebenen
Fall zu arbeiten hat.“260 Hierbei ergäben sich folgende „einfachste“ Fälle:
Vom formal-rationalen Recht ausgehend ist das formal irrationale Recht durch
die Verwendung irrationaler Beweismittel und irrationaler Techniken der
Rechtsschöpfung gebildet, während das material rationale Recht durch den
Anspruch einer höheren Legitimität der Rechtssätze gekennzeichnet ist, das
material irrationale Recht an konkreten Wertungen des Einzelfalls, nicht aber
generellen Normen orientiert ist. Es ergibt sich also aus der Kombination der
Dimensionen rational-irrational und formal-material die folgende
Kreuztabellierung, in die gleichzeitig die zuvor entwickelten Merkmale des
rationalen Rechts eingeschrieben sind:
260
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 396.
96
Schaubild 2: Formale und materiale Rationalität/Irrationalität des Rechts
irrational
rational
Systematisierung Generalisierung
formal
Konkretisierung
I
IV
II
III
Analytik
material
Das formal/irrationale Recht ist durch kulturelle, insbes. religiöse Mittel der
Rechtsfindung, wie Orakel, prophetische Rechtsschöpfung und deren Surrogate
gekennzeichnet. Das formal rationale Recht hingegen ist durch die eigenen Gesetzmäßigkeiten von „Recht“ geprägt, d.h. die Anknüpfung an generelle Tatbestandsmerkmale, die eher die Richtung der Systematisierung oder der
fallbezogenen Konkretisierung einnehmen und hierbei entweder an
anschauliche äußere oder im Wege der Analytik gewonnene abstrakte
Merkmale anknüpfen. Dieser, jeweils unterschiedlich akzentuierten, gleichwohl
funktional äquivalenten Logik der Rechtsfindung steht jede an ethischen
Imperativen oder politischen Maximen ausgerichtete überpositive
97
Rechtsauffassung fundamental entgegen; so insbesondere im Naturrecht.261
Auch wenn das Naturrecht somit aus dem formal-rationalen Rechtsraum
ausgeschlossen ist, lässt sich sehr wohl argumentieren, dass erst die Spannung
von Naturrecht und positivem Recht die Eigendynamik der okzidentalen
Rechtskultur freisetzt, während dieses Spannungselement gerade den
außerokzidentalen Rechtskulturen abgeht. Im Ergebnis wäre also ein
außerrationales Element für die formale Rationalisierung verantwortlich, wie
wir noch näher sehen werden.262
Wir erhalten damit ein Universalbild des Rechts, das sich unter Verwendung
der Parsons’schen Funktionslogik, bei strenger Beachtung der von Weber verwendeten Kategorien, in der folgenden Weise lesen lässt:263
Schaubild 3: Das universale Bild des Rechts
261
Vgl. insgesamt zu dieser Deutung: Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S.
396, 397.
262
Dieses Argument wird bei Nasahiro Noguchi, Kampf und Kultur, a.a.O., deutlich gemacht.
263
Der Deutung von Wolfgang Schluchter, der eine Klassifikation in „offenbartes“, „gesatztes“, „traditionales“ und „erschlossenes“ Recht vornimmt (vgl. Wolfgang Schluchter,
Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus, a.a.O., S. 131), können wir uns wegen
der allzu großen Simplifikation nicht anschließen.
98
L
I
irrational
formal
Orakelhafte und religiöse
prophetische Rechtsfindung
material
Einzelfall-orientierte Wertung
A
rational
Überpositive Dignität
politisch-ethischer Maxime
G
Das Schema zeigt einmal, mit welchen „Sphären“ des Handelns der jeweilige
Typ des Rechts vornehmlich verknüpft ist: Das formal-irrationale entspricht
einer Präponderanz des religiös-kulturellen Systems, das material-rationale
Recht ist – wie das „revolutionäre Naturrecht“ veranschaulicht – vor allem der
Logik von Politik verhaftet, und das von Weber so bezeichnete material
irrationale Recht repräsentiert die fallweise „Anpassung“ des Rechts an die
jeweiligen Gegebenheiten, sei es im Interesse konkreter kapitalistischer
Interessen oder hiergegen gerichteter Wertungsinteressen des „Sozialismus“,
den Weber typologisch insoweit mit der „Kadijustiz“ auf eine Stufe stellt.
Aber lässt sich diese Typologie auch evolutionstheoretisch lesen? Und wie
verhält sich hierzu die Idee einer Entwicklung des Rechts als Prozess der
„Rationalisierung“? Lässt sich die Rechtsgeschichte in eine Folge von
Rechtskulturen übersetzen? Aber muss man hierfür nicht Recht überhaupt als
einen kulturellen Tatbestand deuten können?
99
Fragen zur vierten Vorlesungseinheit
1.
Kennzeichnen Sie einige Aspekte dessen, was Max Weber „okzidentalen
Rationalismus“ nennt.
2.
Inwiefern diagnostiziert Weber eine Tragödie des okzidentalen
Rationalismus, wenn die verschiedenen Sphären miteinander in
Widerspruch geraten (persönliche, unpersönliche Ordnungen usf.)
3.
In der Gesellschaftstheorie hat es Versuche gegeben, den okzidentalen
„Rationalismus“ mithilfe der Differenzierungslehre zu deuten.
a. Was besagt die soziologische Differenzierungstheorie?
b. Gibt es Verwandtschaften zur Gewaltenteilungslehre und ggfs. welche?
4.
Wie bestimmt Weber die Kriterien bzw. die Dimensionen der rechtlichen
Sphäre?
5.
Legen Sie die Konsequenzen der Weberschen Auffassung dar, dass Recht
sowohl in formaler wie materialer Hinsicht „rational“, bzw. „irrational“
sein kann und erläutern Sie die sich hieraus ergebende Typologie der
Rechtskulturen.
100
Fünfte Vorlesung
Recht und Kultur
Kulturelle Aspekte des Rechts
in der deutschen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts
Ebenso wie der Nationalökonom Weber mit der historischen Schule in
Verbindung stand, so sind auch Webers juristische Wurzeln in der historischen
Rechtsschule zu suchen. Es lohnt sich daher, sie zunächst am Beispiel der
beherrschenden Figur v. Savignys klar zu machen, wie der kulturelle Faktor in
der Analyse des Rechts Beachtung findet.
1. Volksgeist, Rechtskultur und Juristenrecht:
Friedrich Karl von Savigny (1779-1861)
Es ist ein verbreitetes Missverständnis, v. Savigny einen holistischen
Volksbegriff anzulasten, der auch noch biologisch konnotiert sei. Recht
erscheint v. Savigny zwar als Teil der Gesamtkultur und darin ist er Schüler
Herders. Aber „Kultur“ ist für von Savigny geistiges Erbe und Tradition, die auf
literarische
Überlieferung
(„Litterärgeschichte“)
eingeengt
wird.
Rechtsgeschichte heißt für ihn: Aktualisierung dieser kulturellen Tradition.
Diese findet sich gerade nicht im Leben des Volkes, sondern in der Geschichte
der juristischen Bildung und des juristischen Unterrichts.
Wenn v. Savigny dem Kodifikationsplan Thibauts, das organische Wachsen aus
dem „Volksgeist“ entgegenstellt, so meint er damit als soziales Substrat die
Träger einer juristischen Kultur, die im römischen Recht wurzelt und in einer
künstlichen Wiederschöpfung durch Rechtswissenschaft und Praxis aktualisiert
werden soll: „Bey steigender Cultur nämlich sondern sich alle Thätigkeiten des
Volkes immer mehr, und was sonst gemeinschaftlich betrieben wurde, fällt jetzt
einzelnen Ständen anheim. Als ein solcher abgesonderter Stand erscheinen
101
nunmehr auch die Juristen.“264 Diese „Sonderung“ ist nichts anderes als
funktionale Differenzierung und Auflösung eines Gemeinschaftssubjektes, so
dass Franz Wieacker m. E. zu Recht hervorgehoben hat, dass der Volksbegriff
somit zu einem idealen Kulturbegriff erhoben wird, der erst durch eine geistige
und kulturelle Elite repräsentiert wird.265 Der Juristenstand ist privilegierter
Hüter der Rechtskultur, auch wenn es eine untergründige Verbindung zur
allgemeinen Kultur gibt. Nicht anders als die später so genannte juristische
„Profession“, die bei Weber als Träger rechtlicher Rationalisierung gefeiert
wird.
Die Orientierung von Savignys am römischen Recht garantiert zugleich einen
universalistischen Zug, der über eine national-partikulare Rechtskultur
hinausweist: Gerade durch die, wie v. Savigny formuliert: „organische
Aufnahme des römischen Rechts ist der gesunde Parallelgang von Cultur und
Recht erhalten geblieben; denn die ganze Cultur der modernen Völker ist
international geblieben.“266
Savigny geht insofern von einer gemeinsamen europäischen Rechtskultur aus.
Auch Weber spürt in seiner Analyse der rationalen Rechtskulturen einer
gemeinsamen okzidentalen Wurzel nach, der gegenüber die rein nationalen
Differenzen zurücktreten. Während sich bei Savigny die Rezeptionsgeschichte
des römischen Rechts in einem juristischen Auslegungsakt verdichtet267 bleibt
für Weber die Rezeption der römischen Rechtskultur jedoch das Ergebnis von
Ideen, Interessen und deren je spezifischen Trägern.
264
Friedrich Karl von Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und
Rechtswissenschaft,
Hildesheim 1967 [Reprografischer Nachdruck der Ausgabe
Heidelberg 1840], S. 12.
265
Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. Unter besonderer Berücksichtigung
der deutschen Entwicklung, Göttingen 21967.
266
Friedrich Karl von Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und
Rechtswissenschaft, a. a. O.
267
Dieser wird über „organische Rechtsverhältnisse“ mit dem Hinweis auf „Institutionen“
nicht näher an die Wirklichkeit herangeführt, sondern es werden, von der Wirklichkeit
abgezogene, Abstraktionen als solche legitimiert.
102
2. Vom idealisierten Volksgeist zum Juristenmonopol der
Begriffsjurisprudenz: Georg Friedrich Puchta (1798-1846)
Welche Autorität Puchta für Weber darstellt, wird aus einem Brief des
Rechtsstudenten an die Mutter ersichtlich, in dem Weber das Kolleg des Ernst
Immanuel Bekker (1817-1916) über römische Rechtsgeschichte kritisiert, weil
ihm (Weber) „Puchta noch im Kopf sitzt“268 und daher eine ungeschichtliche
Darstellung des römischen Rechts missfalle.
Dabei ist es gerade Puchta, der – seinerseits Savigny beeinflussend – den
Begriffsformalismus in pyramidischen Ableitungen zur Hochblüte gebracht hat.
Die Kulturgeschichte des Rechts lässt einer „Unschuldsperiode“ eine Periode
der „Mannigfaltigkeit“ nachfolgen, die schließlich in einer höheren Einheit der
Periode der „Wissenschaftlichkeit“ zusammenfließt. Damit wird wiederum der
Rechtswissenschaft das Monopol in der Auslegung des Volkslebens
zugesprochen.
Dieses
wird
aber
nicht
in
irgend
einem
wirklichkeitswissenschaftlichen Sinne untersucht, sondern: allein durch die
Deduktion von Rechtssätzen aus allgemeinen Begriffen soll der verborgene
Gehalt der nationalen Rechtskultur extrapoliert werden, der weder im realen
„Volksgeist“ noch in den Gesetzen manifestiert worden ist.269 Damit wird die
Rechtswissenschaft als „Product der wissenschaftlichen Deduction“ zur
privilegierten Rechtsquelle der Pandektistik.
Unter rechtshistorischem Vorzeichen, von dem sich auch der junge Weber
täuschen lässt, wird die kulturelle Autonomie des Rechts postuliert, dessen
Begriff, Konstruktionen und Sätze der Alltagskultur vollständig entrückt
werden, um ihnen eine Eigengesetzlichkeit zuzuschreiben, von der auch Webers
These der formalen Rationalisierung des Rechts gezeichnet bleibt.270
268
Brief an die Mutter vom 2. Mai 1882, abgedr. in: Max Weber, Jugendbriefe, Tübingen o.
J. (1936)
269
Georg Friedrich Puchta, Cursus der Institutionen, Bd. I, Leipzig 1841, S. 460-463 (§ 101).
270
Wie lebendig die Diskussion um die Volksgeistlehre gerade zur Zeit der Abfassung der
Weberschen „Rechtssoziologie“ war, geht auch aus dem Diskussionsbeitrag von Hermann
103
3. Von der Poesie im Recht. Ein kulturwissenschaftliches Vermächtnis
der Analyse des Rechts? Jacob Grimm (1785-1863)
Während von Savigny ausgehend über Puchta der Bezug zur Kultur eines
Volkes zunehmend verdünnt wird und es akrobatischer Hilfskonstruktionen
bedarf, um diese Konstruktionsjurisprudenz an das Kulturleben
zurückzubinden, geht es dem Adlatus und späteren Freund Savignys, Jacob
Grimm271, weniger um die Erkenntnis des richtigen Rechts als um den Ort des
Rechts in der Gesamtkultur.
So ist die sinnliche, anschauliche Seite des Rechts für Grimm von besonderem
Reiz. Ihn interessiert dabei nicht primär der formale Aspekt der
Rechtsbekräftigung, sondern die zugrundeliegende geschichtliche Bedeutung,
die in die kulturellen Traditionen einer Rechtsgemeinschaft zurückweist.272 So
ist in dem Bändchen „Von der Poesie im Recht“ die Rechtsform als Quelle
einer bedeutungsbezogenen Kulturanalyse aufgetan.
So heißt es im dortigen §10 – soweit bleibt der aus juristischem Hause
stammende Germanist und Märchensammler durchaus in der Form juristisch –:
„Es ist eine unbefriedigende ansicht, welche in solchen symbolen blosze leere
erfindung zum behuf der gerichtlichen form und feierlichkeit erblickt. im
gegentheil hat jedes derselben gewisz seine dunkle, heilige und historische
bedeutung; mangelte diese, so würde der allgemeine glaube daran und seine
herkömmliche verständlichkeit fehlen.“273
U. Kantorowicz hervor, der auf die Arbeiten von Meinecke, v. Moeller, Dittmanns und
Loenings verweist. (Vgl. Volksgeist und historische Rechtsschule, S. 295-325).
271
Über die Beziehung von Savigny und Grimm vgl. den auch wissenschaftsgeschichtlich
unvermuteten Artikel von Erich Rothacker, Savigny, Grimm, Ranke. Ein Beitrag zur Frage
nach dem Zusammenhang der Historischen Schule, in: Historische Zeitschrift 128, 1923,
S. 415-445 (insbes. S. 429 ff.).
272
Zu einer Würdigung von „Jacob Grimm als Jurist“ vgl. den gleichnamigen Artikel von
Gerhard Dilcher, in: JUS 1985, S. 931-936.
273
Jakob Grimm, Von der Poesie im Recht, in: Zeitschrift für geschichtliche
Rechtswissenschaft 2, 1816, S. 25-99; wieder abgedr. Darmstadt 1963, S. 48.
104
Max Weber hingegen ist für diese Art einer Bedeutungsanalyse der juristischen
Kulturinhalte und ihrer Formen als in der Pandektenwissenschaft geschulter
Jurist nicht weiter interessiert. In der dem Verleger Siebeck in einem
Postskriptum angekündigten „Soziologie der Culturinhalte“ firmieren Kunst,
Literatur, Weltanschauung, aber nicht das Recht. Und so konstatiert Weber in
der Rechtssoziologie zwar einen Prozess der Desymbolisierung des modernen
Rechts, ohne sich hierbei aber auf seine jeweiligen Symbolgehalte als
„Kulturinhalt“
einzulassen.
Inwieweit
Weber
gleichwohl
eine
kultursoziologische Perspektive zum Recht, und zwar gerade eine der
vergleichenden Kultursoziologie pflegt, werden wir im Weiteren freilich sehen.
Wenn Weber nicht nur in der Religionssoziologie, sondern auch in der
kultursoziologischen Betrachtung des Rechts das Zusammenspiel von „Ideen“
und „Interessen“ thematisiert, muss eine weitere zentrale Figur der juristischen
Welt des 19. Jahrhunderts, nämlich Rudolf von Ihering, eine besondere
Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
4. Kultur und Interesse. Von der Konstruktions- zur
Interessenjurisprudenz: Rudolf von Ihering (1818-1892)274
Nicht nur aus ironischer Distanz – wie sie in „Scherz und Ernst in der
Jurisprudenz“ zutage tritt – hat Ihering das paradoxe Verhältnis beschrieben, in
dem sich „Naturrecht“ und „rechtshistorische Schule“ zur kulturellen
Wirklichkeit befand. So war das historischer Kontingenz enthobene
„Naturrecht“ nur eine Idealisierung der vorhandenen Zustände, während die
historische Schule in Gestalt des römischen Rechts eine Universalität entdeckte,
die – wie Ihering im „Geist des römischen Rechts“ ausführt – etwas
„Berauschendes für die Juristen“275 hatte.
274
Als zeitgenössische Würdigung nach wie vor lesenswert der Nachruf von Adolf Merkl in:
Jherings Jahrbücher 32, 1893, S. 6-40, der ihn vor allem als „Gestalt des realistischen
Denkers“ zeichnet.
275
Rudolf von Ihering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner
Entwicklung, Erster Theil, Leipzig 18733, S. 10.
105
Den
Weg
zu
einer
eigentlichen
Rechtsgeschichte,
bzw.
„Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts“ wird erst in seiner posthum
herausgegebenen Schrift – jenseits von konsekutiver Dogmengeschichte und
idealistischer Nachkonstruktion der Idee des römischen Rechts276 – in seiner
methodologischen Schwierigkeit sichtbar.
Ihering meint hierzu, die Prämissen der rechtshistorischen Schule hinter sich
lassen zu müssen, nämlich das „dumpfe Werden“ der Volksgeistlehre v.
Savignys. In der für Ihering typischen Prägnanz ist zu lesen: „Das Recht ist kein
Ausfluß des naiv im dunklen Drang schaffenden Rechtsgefühls, jenes
mystischen Vorgangs, welcher dem Rechtshistoriker jede weitere Untersuchung
abschneiden und ersparen würde, sondern es ist das Werk menschlicher Absicht
und Berechnung, die auf jeder Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung das
Angemessene zu treffen bestrebt war.“277
Weder Volksgeist noch „Kultur“ ist das Movens der Geschichte, nach der
berühmten „Kehre“ Rudolf von Iherings. In der Schrift „Geist des römischen
Rechts“ geht die Untersuchung noch von der (Kultur-) „Bedeutung des
römischen Rechts für die moderne Welt“ aus, und bleibt auf die Frage gerichtet,
wie das römische Recht ein „Culturelement der modernen Welt“ sei. Und
„Römischer Geist“ sei es, der dort zur spezifischen „Cultur des Rechts“ der
römischen Welt prädestiniere und der auf vielfache Weist auch mit der Religion
verschlungen sei. Im ersten Brief der anonym verfassten „Vertraulichen Briefe
über die heutige Jurisprudenz“ – später in der Spottschrift „Scherz und Ernst in
der Jurisprudenz“ aufgenommen – werden die Studien über den „Geist“ der
276
Zum systematischen Anliegen Jherings vgl. Helmut Coing, Der juristische Systembegriff
bei Rudolf von Ihering, in: Jürgen Blühdorn und Joachim Ritter (Hrsg.), Philosophie und
Rechtswissenschaft. Zum Problem ihrer Beziehung im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main
1969, S. 149-171.
277
Rudolf von Ihering, Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts. Aus dem Nachlaß
herausgegeben von Victor Ehrenberg, Leipzig 1894, S. 28. Diese rationale Interpretation
der Rechtsentwicklung kommt auch in Durkheims Lektüre von Iherings deutlich zum
Ausdruck (vgl. Emile Durkheim, La science positive de la morale en Allemagne (zuerst
1887), in: Textes. Bd. 1. Eléments d’une théorie sociale, Paris 1975, S. 267-343, S. 286
ff.; vgl. hierzu auch Werner Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht. Das Recht im
soziologischen Diskurs der Moderne, a. a. O., S. 326 ff.).
106
Rechte, einschließlich des selbst verfassten „Geist des römischen Rechts“ wie
ein spiritualistischer Unfug karikiert, als deren Ursprung Ihering
interessanterweise Montesquieus „sur l’esprit des lois“ ansieht.278
So geht Iherings Wandlung von der Konstruktions- zu der nach ihm benannten
Interessenjurisprudenz mit dem Wechsel von einer kulturbezogenen Analyse
des Rechts zu einer nur aus dem Interesse hervorspringenden, soziologistischen
Reduktion des Rechts einher.
Iherings Blick auf das Recht bewegt sich also zwischen den Polen einer
kulturbezogenen und einer zweck- und interessenorientierten Rechtsanalyse,
ohne dass in seinem System eine Vermittlung stattgefunden hätte. Bei Weber
werden wir sehen, wie Iherings Kulturbegriff des römischen Rechts in der
Dimension der Analytik wiederkehrt und wie Zweck und Interesse bei Webers
Frage nach den Trägern rechtlicher Rationalisierung aufgenommen wird.
5. Kulturbedürfnis und Rechtsideal. Vom Recht der Wilden zum
modernen Recht in der Schule Josef Kohlers (1849-1919)
Während Weber der ethnologischen Jurisprudenz wie auch ethnologischer
Religionswissenschaft eher skeptisch gegenüberstand – was übrigens ein
weiteres Mosaiksteinchen in dem Weber-Durkheim Puzzle ausmacht – hat
Josef Kohler ein juristisches Universalbild der Welt erarbeiten wollen, das vom
ägyptischen Patentrecht über Shakespeares Rechtsbild, das Recht der
Bantuneger bis zum islamischen Recht reichen sollte.279
Seine Studien erfolgen nicht im Namen der Soziologie und auch nicht als
Rechtsgeschichte, sondern sie werden in zahllosen Artikeln der Zeitschrift für
vergleichende Rechtswissenschaft zu Gehör gebracht. Universalhistorisch und
278
Rudolf von Ihering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz, Eine Weihnachtsgabe für das
juristische Publikum, Leipzig 190910, S. 3; dort heißt es allerdings fälschlich: „Sur l’esprit
des lois“.
279
Vgl. als Sicht auf diesen umfassenden Anspruch Kohlers den Beitrag von Wolfgang Gast,
Historischer Optimismus. Die juristische Weltsicht Josef Kohlers, in: Zeitschrift für
vergleichende Rechtswissenschaft 85, 1986, S. 1-10.
107
interkulturell ist der ungeheure Anspruch der Kohlerschen Unternehmung, die
ihn insoweit mit Weber verbindet.
In der Encyclopädie der Rechtswissenschaften hat Kohler in einem Artikel über
„Rechtsphilosophie
und
Universalrechtsgeschichte“
„Recht
als
Kulturerscheinung“ in sehr allgemeiner Weise gewürdigt. Nach der Zerstörung
des Naturrechts durch Savigny sieht Kohler es als die tiefe Erkenntnis der
vergleichenden Rechtswissenschaft an, den jeweiligen kulturellen Wert auch
der entlegensten Rechte anerkannt zu haben, ebenso wie die vergleichende
Religionswissenschaft sich weigerte, die religiösen Verrichtungen der
„Primitiven“ nunmehr als bloße Verirrungen abzutun.
Das Recht wird damit aber nicht einfach kontigent: „Wenn auch das Recht ein
ständig Wechselndes und sich Entwickelndes ist, so ist es doch nichts
Äußerliches und Zufälliges.“280 Es ruht „mit seinem innigsten Gefaser in den
Wurzeln der Volksseele und entspricht dem kulturentwickelnden Drange, der
das Volk durchzieht, das Volk, seien es alle Mitglieder, seien es einige
hervorragende, weitschauenden Geister.“281 Darin soll nunmehr also die
Rationalität der Rechtskultur bestehen, dass sie sich in Entsprechung zur
Entwicklung der Gesellschaft entfaltet. Von dort her ergebe sich auch der
Wertmaßstab, mit dem das Recht zu messen sei. So heißt es: „... es (das Recht,
W. G.) ist zu schätzen nach der Art und Weise, wie es der Kultur und dem
Kulturbedürfnis des Volkes nachkommt; aus Kultur und Kulturbedürfnis
entnehmen wir das Ideal, dem das Recht einer bestimmten Zeit möglichst
genügen soll.“282
Die Kulturbedeutung des Rechts ist also mit Wertansprüchen durchsetzt, die
nicht nur die Selektion und Kombination des Forschungsgegenstandes
begründen, sondern die so konzipierte vergleichende Rechtswissenschaft bleibt
der Suche nach dem richtigen Recht verpflichtet, das sich aus der Adäquanz
von Kulturentwicklung und Rechtsinhalt ergeben soll. Dieses kulturrelativ
„richtige“ Recht ruht auf den Grundlagen einer Kultur und ist damit zugleich
280
Josef Kohler, Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte, in: Encyklopädie der
Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung, hrsg. von Josef Kohler, Band. 1,
Leipzig; Berlin 61904, S. 1-69, hier S. 6.
281
Ebd.
282
Ebd.
108
nach Kohler ein Element, das die alte Kultur zerstört und eine künftige
mithervorbringt.
Weder soziologische Reduktion noch kulturalistische Verengung auf die
Binnenkultur des Rechts, sondern die Erfassung des Rechts im Kosmos der
übrigen Kulturformen scheint das Unterfangen Josef Kohlers aufs Engste an
eine kultursoziologische Analyse des Rechts heranzuführen.
Gleichwohl bleibt das Ergebnis enttäuschend: trotz einer immensen Fülle an
aufbereitetem rechtsethnologischen Material gelangt Kohler über die
Differenzierung von Natur-, Kultur- und Halbkulturvölkern nicht hinaus. In
einer Rezension von Kohlers „Studien aus dem Strafrecht“ aus der Feder Emile
Durkheims, werden die Grenzen seiner rechtsethnologischen Versuche sichtbar,
auch wenn Durkheim dessen Wertlehre eher verwandt war283.
So kritisiert Durkheim den Mangel an soziologischer Erklärungskraft, wenn
Kohler die zunehmende Strafverschärfung der italienischen Statuten auf den
zunehmenden Einfluss der römischen Rechtskultur zurückführt, während
tatsächlich die Verfassung der Gesellschaft und das heißt: ihre staatliche
Organisation für die Strafverschärfung verantwortlich sei: „Pour que le droit
pénal soit rigoureux, il faut, semble-t-il, que la société ait atteint un certain
degré de concentration et d’organisation, que l’organe gouvernemental soit
constitué.“284 Morphologische Strukturanalyse des sozialen Lebens gegen die
Annahme der Eigengesetzlichkeiten von Kultur, dies markiert die Differenz von
Durkheim zu Kohler.
Aber geht Webers „Rechtssoziologie“ in dem universalgeschichtlich
konzipierten Unternehmen einer komparativen Analyse der Rechtskulturen im
Sinne der ethnologisch inspirierten Rechtsvergleichung tatsächlich auf?
Wenn wir von den Befangenheiten des von Kohler für die Deutsche
Kolonialverwaltung entwickelten und mehrfach eingesetzten Fragebogens285 zur
283
Siehe hierzu unten.
284
Emile Durkheim, Rez. zu Josef Kohler, Studien aus dem Strafrecht. Das Strafrecht der
italienischen Statuten vom 12.-16. Jahrhundert, Mannheim 1895-1897, in: L'Année
sociologique 1, 1898, S. 351-353, hier S. 352-353.
285
Vgl. die Nachweise in der Josef Kohler-Biographie, bearbeitet von Arthur Kohler, Berlin
1931, S. 14, Fn. 4.
109
Analyse primitiver Rechtskulturen286 einmal absehen, so leidet die Kohlersche
Betrachtung von Recht als Kulturerscheinung vor allem daran, dass Methodik,
Sachgehalt und theoretische Konzeptualisierung einer Kulturanalyse des Rechts
völlig im Dunkeln verbleiben.287
6. Ethnos und Recht. Zur ethnologischen Jurisprudenz von Albert
Hermann Post
Während Kohlers neuhegelianischer Idealismus sich einer rechtskulturellen
Fortschrittsidee verpflichtet sieht, der z. B. in der juristischen Auslegungspraxis
des von ihm systematisch entwickelten Immaterialgüterrechts nachzuspüren ist
und ausschließlich die objektive Auslegungsmethode für statthaft hält, zeugt
dies nach Post von der Unreife rechtsvergleichender Ethnologie. Die Aufgabe
der Rechtsethnologen sei ganz nüchtern zu definieren: hier ginge es nicht um
„Kultur“ und ihre Ideale288, sondern wer sich z. B. sittlich über primitive
Rechtsformen entrüstet, „verwirrt“ – wie Post in seiner „Einleitung in die
ethnologische Jurisprudenz“ schreibt – „nur den Kausalzusammenhang der
286
Vgl.
den
von
Josef
Rechtsverhältnisse
der
Kohler
entwickelten
„Fragebogen
sogenannten Naturvölker,
zur
Erforschung
der
namentlich in den deutschen
Kolonialländern“ in: Zeitschrift für die vergleichende Rechtswissenschaft 12, 1897, S. 426
ff. Die Frage nach der Haftung für den Sklaven (Frage Nr. 28) ist offenkundig dem
Römischen
Recht
unmittelbar
oder
aber
der
germanischen Rechtsentwicklung
nachgeformt: „Wird die Blutrache durch Komposition (Wergeld) abgelöst?“ (Nr. 60).
287
Auch wenn Kohler in der Kulturwissenschaft bis ins Goethe-Jahrbuch vorgedrungen war
mit seiner Analyse von „Fausts Pakt mit Mephistopheles in juristischer Betrachtung“, in:
Goethe-Jahrbuch 24, 1903, S. 119-131.
288
Gleichwohl lobt Kohler in seinem Nachruf auf Albert Hermann Post „die Verbindung des
Rechts mit dem gesamten Kulturstande einer Nation, die wichtigen Parallelen, welche die
gleichartigen Kulturentwicklungen zweier Völker mit sich bringt, die Relativität der
Rechtsanschauungen, die sociale Natur des Ethos, die unbewusste Gestaltung des Rechts
in den socialen Menschheitskreisen – alles dies waren Probleme, die Post in
hervorragendem Masse beschäftigten“ (Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft
17, 1897, S. 455).
110
ethnischen Erscheinungen, dem der Ethnologe mit dem kalten Auge der
Anatomen nachzuspüren berufen ist.“289
Dieser positivistische Blick ist nun auf die elementaren Formen des
Rechtslebens gerichtet, auf solche, welche „nicht eine Spezialität bestimmter
Völker oder Volksgruppen ist“290, sondern als ein „Gemeingut der Menschheit“
angesehen werden kann. Dies ist zugleich die Prämisse seiner komparativen
Methode, dass die verschiedenen Rechtskulturen nicht „Solitärprodukte
bestimmter Volksgruppen“291sind, da die – neukantianisch gesprochen –
„historischen Individuen“ einer Kausalanalyse unzugänglich seien. Eine
individualistische Methode wird von Post im Übrigen radikal zurückgewiesen.
Falls das „Rechtsbewusstsein“ aus den individuellen Strebungen und
Bewusstseinsformen hervorginge – argumentiert Post – dann müsste doch das
„Rechtsbewußtsein der auf gleicher Bildungsstufe stehenden Franzosen,
Deutschen, Russen, Chinesen identisch sein.“292
Dies ist nach Post nur soweit der Fall, als die Rechtsform sich mit der ihr
zugrundeliegenden sozialen Organisation deckt. Damit ist die Forschungsidee
eines individuelle Kulturen prägenden, idealistisch konzipierten „Volksgeistes“
bei Post aufgegeben. Stattdessen ist die soziale Organisation wie ein
unergründlicher Ozean, aus dessen Tiefen – wie Post in metaphorischer Rede
anmerkt – „allerhand Bilder hervorsteigen“, die immer bewusstes Leben nur
selten erreichen und zugleich die objektiven Formen des sozialen Lebens
prägen. Diese aber lägen im positiven Recht zutage293, so dass die
wissenschaftliche, ethnologische Jurisprudenz sich ohne Umschweife an die
komparative Analyse der positiven Tatsachen des Rechts begeben könne, um
diese dann mit ihrer sozialen Organisation zu verknüpfen.
289
Albert Hermann Post, Einleitung in das Studium der ethnologischen Jurisprudenz,
Oldenburg 1886, S. 53.
290
Ebd., S. 27.
291
Ebd., S. 26.
292
Ebd., S. 20.
293
Ebd., S. 22.
111
Die komparative Methode dient damit der kausalen Zurechnung überall da, wo
die Abfolge im Nacheinander, wie in den vermeintlich vorhistorischen
Gesellschaften, undurchführbar sei.294
Die universelle Verbreitung der Leviratsehe liefert Post das Beispiel für den
Zusammenhang von sozialer Organisation und Rechtsform, die nach Post in
Grundformen der Gesellschaftsverfassung zu finden sei.
Der bei Kohler theoretisch völlig unzureichend reflektierte Zusammenhang von
„allgemeiner Kultur“ und „Rechtsleben“ löst sich nun – bei Albert Hermann
Post – in eine kausal interpretierte Beziehung von überkultureller Sozialstruktur
und Rechtsform auf. Die vergleichende Methode dient nicht dazu, die
rechtskulturelle Vielfalt herauszupräparieren, sondern ihre Verfasstheit in der
gemeinsamen condition humaine zu erweisen.
Wenn Albert Hermann Post heute, trotz einer eindrucksvollen
Wirkungsgeschichte zu Ende des 19. Jahrhundert hierzulande nahezu vergessen
ist, so sind die Gründe hierfür offenkundig. Emergenzargumentation, Kritik der
deduktiven Methode auf komparativ-kollektivistischer Basis, all dies erinnert
mehr an Durkheim und die Equipe der Année sociologique als an die Tradition
der historischen Schule in Deutschland. Und in der Tat beschließt Emile
Durkheim seinen intellektuellen Reisebericht aus Deutschland, der ihm
bekanntlich den Lehrstuhl nach Bordeaux eingetragen hat, mit einer
ausführlichen Darstellung des Werks von Albert Hermann Post.295 Dass es sich
hierbei um eine „gefährliche Wahlverwandtschaft“ handelt, wird in Durkheims
Kritik an Post deutlich. Er klagt methodisch die kausale Analyse gegenüber
bloßer Deskription ein und postuliert die Analyse der longue durée gegenüber
der kurzatmigen Deutung von bloßen Intervallen.296 Aber all dies ist ja –
unserer Auffassung nach – bei Post durchaus bemerkt, wie aus unserer obigen
Rekonstruktion hervorgeht. Im Übrigen unterliegt Durkheim dem gleichen
Zirkel einer Verschlingung von Recht und Sozialstruktur, indem das soziale
Leben vermittels seiner geronnenen Formen erfasst werden, sie zur
294
Ebd., S. 25.
295
Emile Durkheim, La science positive de la morale en Allemagne, in: Revue philosophique
24, 1887, S. 33-58, 113-142, 275-284; abgedr. in: Emile Durkheim, Textes. Bd. 1.
Eléments d’une théorie sociale, a. a. O., S. 267-343 (S. 331 ff).
296
Ebd., S. 340 f.
112
Sozialstruktur verdichtet mit ihrem juristischen Ausdruck zusammenfallen soll.
Wenn Durkheim allerdings belehrend moniert: „Car pour établir avec quelque
rigueur un rapport de causalité, il faut pouvoir observer dans des circonstances
différentes les phénomènes entre lesquels il est présumé; il faut pouvoir établir
des comparaisons méthodiques.“297 In dem Anspruch methodisch kontrollierter
Vergleichung ist Post freilich in der Aufnahme relevanter Daten einen ganzen
Schritt weitergegangen als Durkheim, in dem er einen systematischen
Fragebogen über die Rechtsgewohnheiten der afrikanischen Naturvölker
entwarf.
Dass Durkheim freilich die Nähe zu Post durchaus bewusst war, lässt sich daran
ersehen, dass das einzige Exemplar der „Division du travail social“, das einem
deutschen Sozialwissenschaftler unseres Wissens dediziert wurde, dem bei uns
vergessenen Albert Hermann Post persönlich gewidmet ist: „avec les
compliments de l’auteur ...“
Kann man dafür Webers Rechtssoziologie als eine komparative Analyse von
Recht verstehen, die der Mischung aus Hegelianismus und purer
Sammelleidenschaft für die Vielfalt der Rechtsphänomene eines Josef Kohler,
der Gleichsetzung von Kultur und Volksgeist der juristischen Romatik entgeht,
den soziologischen Reduktionismus eines Albert Herrmann Post bzw.
Durkheim unterläuft und gleichwohl ohne Verzicht auf die Vielfalt der
ideographisch zu ermittelnden empirischen Rechtserscheinungen an
systematischer Erkenntnis über das Recht interessiert bleibt?
Wir haben hier nicht den Raum, näher zu entwickeln, was Weber mit der
Betrachtung des Rechts als „Kultur“ im Sinne seiner „Kulturwissenschaft“
meint.298 Nur so viel: „Kultur“ ist ein „Wertbegriff“ – wie Weber vermerkt299 –
der aus der empirischen Wirklichkeit die wertrelevanten Phänomene
297
Ebd.
298
Vgl. hierzu näher demnächst: Werner Gephart, Recht als Kultur. Sphären der Moderne
Bd. 2; vgl. auch: Handeln und Kultur, a.a.O. Einleitung und Schluss
299
Vgl. Max Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer
Erkenntnis, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, a. a. O., S. 175.
113
herausfiltert und damit als Forschungsgegenstand konstituiert.300 In welchem
Wertverhältnis zu „Kulturen“ verdichtete Wertbündel dann stehen, liegt aber
außerhalb der kulturwissenschaftlichen Forschung. Dies ist ja gerade die
„Kultur“ der kulturwissenschaftlichen Forschungskultur, diese Frage nicht
erörtern zu wollen. So heißt es in der Vorbemerkung zu den Gesammelten
Aufsätzen zur Religionssoziologie: „Welches Wertverhältnis zwischen den hier
vergleichend behandelten Kulturen besteht, wird hier mit keinem Wort
erörtert.“301
Aber trifft dieses Pathos der Wertungsaskese auch auf die Beobachtung der
Rechtskulturen zu? Insbesondere wenn es im Hinblick auf seine rationalen
Dimensionen hin, wie oben ausgeführt, nun näher analysiert wird.
300
Zum Konzept des methodologischen Rationalismus vgl. jetzt auch Chih Cheng Jeng, Die
Grundlegung des methodologischen Rationalismus im Werk Max Webers, Dissertation
Bonn 2003.
301
Max Weber, „Vorbemerkung“ zu: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. 1, a.
a. O., S. 14.
114
Fragen zur fünften Vorlesung
In welcher Weise greifen die Rechtswissenschaften im 19. Jahrhundert die
kulturelle Dimension des Rechts auf:
1. Der privilegierte Hüter der Rechtskultur (v. Savigny)?
2. Das Deutungsmonopol der Begriffsjurisprudenz (Puchta)?
3. Symbol und Rechtsglaube in der juristischen Romantik (Jacob Grimm)?
4. Interesse statt Kultur (von Ihering)?
5. Kultur und Kulturbedürfnis des Volkes (Kohler)?
6. Morphologie statt „Kultur“ (A. Post)?
115
Sechste Vorlesung
Die Rationalisierung des Rechts als Entfaltung der
Eigengesetzlichkeiten des Rechts
In § 8 der „Rechtssoziologie“ scheint Weber eine Antwort auf die Frage nach
der Entwicklung des Rechts zu geben, die eine evolutionstheoretische Lektüre
der Typologie des Rechts erlaubt. So heißt es: „Die allgemeine Entwicklung des
Rechts und des Rechtsgangs führt, in ‚theoretische Entwicklungsstufen‘
gegliedert,
von
der
charismatischen
Rechtsoffenbarung
durch
‚Rechtspropheten‘ zur empirischen Rechtsschöpfung durch Rechtshonoratioren
(Kautelar- und Präjudizienrechtsschöpfung), weiter zur Rechtsoktroyierung
durch weltliches imperium und theokratische Gewalten und endlich zur
systematischen Rechtssatzung und zur fachmäßigen, auf Grund literarischer und
formal logischer Schulung sich vollziehenden ‚Rechtspflege‘ durch
Rechtsgebildete (Fachjuristen).“302
Diese Passage gibt genau die vier Typen des Rechts wieder, die wir zuvor
kennen gelernt haben :
302
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 504.
116
Schaubild (1): Die Stufen der Rechtsentwicklung
L
I
irrational
rational
Orakelhafte und religiös
prophetische
Rechtsfindung
formal
material
A
Einzelfall-orientierte
überpositive
Diginität
Wertung
politisch-ethischer
Maxime
G
Was soll nun heißen, dass es sich hierbei um „theoretische Entwicklungsstufen“
handeln solle? Im evolutionistischen Sinne würde dies zweierlei bedeuten:
einmal ist eine „höhere“ Stufe der Entwicklung nur nach dem Durchlaufen der
entwicklungslogisch „vorhergehenden“ erreichbar. Zum anderen wäre eine
Umkehr der Entwicklung im Sinne einer „Regression“ ausgeschlossen.
Nach all dem Pathos, mit dem Weber die „Irrationalität“ der Geschichte beschwört, wäre es in der Tat völlig unverständlich, wenn Webers These des langfristigen und regional privilegierten Prozesses der okzidentalen
„Rationalisierung“ nunmehr doch nach „logischen Gesetzmäßigkeiten“ in der
Art der unilinearen Evolutionstheorie verlaufen würde. So kann Webers
nachfolgende Einschränkung auch nicht überraschen, aus der sich implizit – ex
negativo – ergibt, was nach Webers Auffassung eine vollständige
Evolutionstheorie zu beinhalten hätte. Webers Formulierung lautet: „Daß die
hier theoretisch konstruierten Rationalitätsstufen in der historischen Realität
weder überall gerade in der Reihenfolge des Rationalitätsgrades aufeinander
gefolgt, noch auch nur überall selbst im Okzident, alle vorhanden gewesen sind
oder auch nur heute sind, daß ferner die Gründe für die Art und den Grad der
Rationalisierung des Rechts historisch – wie schon unsere kurze Skizze zeigte –
völlig verschieden geartet waren, dies alles soll hier ad hoc ignoriert werden,
117
wo es nur auf die Feststellung der allgemeinsten Entwicklungszüge ankommen
kann.“303
Nun ist in der Tat schwer einsehbar, wozu allgemeine „Entwicklungszüge“
taugen sollen, wenn sie historisch „falsch“ sind, wieso also der Denkökonomie
zuliebe ein „Opfer des Intellekts“304 erbracht werden sollte. Nehmen wir nur die
eklatantesten „Unstimmigkeiten“: Weder das englische Recht noch das –
insofern – vergleichbare altrömische Zivilrecht haben in Webers Sicht jemals
die „zweite Stufe“ rechtlicher Rationalisierung überschritten; weder dem
englischen noch dem älteren römischen Recht wurde die evolutionäre Wohltat
der politisch oder theokratisch bedingten systematischen Kodifikation zuteil;
während allerdings das römische Recht durchaus eine wissenschaftliche
Durchbildung erfuhr (Stufe 4), blieb ja gerade das englische Recht den
Sportelinteressen eines zünftig geschlossenen Honoratiorenbetriebs der
Rechtspflege verhaftet, der eine wissenschaftliche Durchdringung des
Rechtsstoffes verhinderte. In umgekehrter Richtung ist auch ein Rechtssystem
der Stufe vier kaum denkbar, ohne Züge der Rechtsprophetie zu reservieren, sei
es in dem Glauben an die prophetische Vernunft des rational planenden Gesetzgebers, der die Zukunft zu steuern vermag oder etwa die charismatischen
Gnaden des „Richters“, der trotz aller vermeintlichen Geschlossenheit des
Systems die Lücken nicht nur durch Tradition, sondern auch schöpferisch
gestaltend zu schließen hat.
Webers eigene historische Darstellung der Rechtsentwicklung ist also die
schlagkräftigste Widerlegung eines unilinearen und unumkehrbaren Stufenmodells.
Welchen Weg hat Weber also in seiner Deutung der Rechtsentwicklung
eingeschlagen?
Hierbei lassen sich unterschiedliche Erklärungsstrategien unterscheiden:
303
Ebd., S. 505.
304
Hier ist ein „evolutionstheoretisches Opfer“ gemeint, während Weber diese Metapher für
den Intellektuellen reserviert, der trotz aller Anstrengungen der religiösen „Entzauberung“
in die Arme der „Kirche“ zurückkehrt.
118
1. Duale Entwicklungschemata
Weber versucht einmal, langfristige Prozesse in einem dualen Entwicklungsschema zu beschreiben.
a. Vom Symbol zur Abstraktion
Hierzu gehört die Annahme einer Entwicklung vom konkret anschaulichen zum
abstrakten Rechtsdenken als eines Prozesses der De-Symbolisierung. So heißt
es: „Das Haften an diesen äußerlichen Merkmalen: z.B. dass ein bestimmtes
Wort gesprochen, eine Unterschrift gegeben, eine bestimmte, ein-für allemal in
ihrer Bedeutung feststehende symbolische Handlung vorgenommen ist,
bedeutet die strengste Art des Rechtsformalismus.“305 Im Zuge der
„Rationalisierung“ wird dieser „irrationale“ Formalismus abgelöst. Eine
Richtung, in der dieser Symbolismus abgestreift wird, ist die von Weber
sogenannte „gesinnungsethische Rationalisierung“306. Dieser Begriff ist trotz der
ethischen Anklänge in einem ethisch neutralen Sinne derart gemeint, dass
rechtlich relevantes Handeln, angesichts der Vielfalt von Zwecken und
Erwartungen auch an Erwartungssicherheit, über äußere Merkmale nicht mehr
steuerbar ist, sondern gerade an „innere“ Motivlagen anknüpfen muss. Die
Berücksichtigung subjektiver Tatbestands- und Rechtfertigungsmomente, sowie
die Subjektivierung von „Schuld“ auch im Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte,
bestätigt diese Tendenz, während die zunehmende Bedeutung der
Gefährdungsdelikte – auch im Umweltstrafrecht – eine gegenläufige Tendenz
bezeichnet, die man unter Verwendung der ihrerseits juristisch geprägten Unterscheidung von „Gesinnungs-“ und „Verantwortungsethik“307 in Gesinnungsund Verantwortungsdelikte differenzieren könnte.
305
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 396.
306
Ebd., S. 506.
307
Vgl. hierzu allgemein Wolfgang Schluchter, Wertfreiheit und Verantwortungsethik. Zum
Verhältnis von Wissenschaft und Politik bei Max Weber, Tübingen 1971.
119
b. Von Status zu Kontrakt
oder vom „Statuskontrakt“ zum „Zweckkontrakt“
Eine weitere Tendenz ist die von Weber so bezeichnete Entwicklung vom „Statuskontrakt“ zum „Zweckkontrakt“. Die berühmte duale Entwicklungsformel
von Sir Henry Sumner Maine „From Status to Contract“308 wird auf raffinierte
Weise unterlaufen, indem der vertragliche Charakter statusbegründender bzw.
statusverändernder Akte, vornehmlich im Familienrecht, auch für das
traditionale, vorrationale Recht betont wird.309 Die Vorherrschaft des
„Zweckkontraktes“ setzt eine weitere Entwicklung voraus, nämlich die
Ablösung der formgebundenen Kontraktformeln und Schemata in der
„Vertragsfreiheit“, die sowohl die in den Grenzen des dispositiven Rechts
verlaufende inhaltliche Gestaltungsfreiheit, wie die „freie“ Wahl des
Vertragpartners meint.310 Dass Weber hierbei die non-kontraktuellen Momente
des Vertrages hervorhebt, wie sie in Durkheims Studie zur Arbeitsteilung
dargelegt311 und von Parsons als Grundstein der Konvergenzhypothese rezipiert
wurden,312 dies belegt nochmals die Herkunft aus den Selbstverständlichkeiten
des juristischen Denkens. So heißt es zur Begründung typenmäßiger Vertragsformen und der Geltung des dispositiven Rechts: „ ... die Parteien denken in
aller Regel nicht daran, alle möglicherweise relevanten Punkte wirklich
ausdrücklich zu regeln, und es entspricht auch reiner Bequemlichkeit, sich an
erprobte und vor allem bekannte Typen halten zu können. Ohne solche wäre ein
moderner Rechtsverkehr kaum möglich.“313 Kauf, Miete, Pacht, Dienst- und
Werkvertrag sind solche „Typen“ schuldrechtlicher Verträge, die in der
308
Henri Sumner Maine, Ancient Law 1861.
309
„Dieser tiefgreifenden Wandlung des allgemeinen Charakters der freien Vereinbarung
entsprechend wollen wir jene urwüchsigen Kontrakttypen als ‚Status‘-Kontrakte, dagegen
die dem Güterverkehr, also der Marktgemeinschaft, spezifischen als ‚Zweck‘-Kontrakte
bezeichnen.“ (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 401).
310
Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 398 ff.
311
Vgl. hierzu Dritter Teil, Kap. 2.
312
Vgl. oben Zweiter Teil, Kap. 3.
313
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 409 (eigene Hervorh.).
120
Rechtswirklichkeit aufgrund der zur inhaltlichen Gestaltung legitimierenden
„Ermächtigungsnorm“ der Vertragsfreiheit modifiziert werden.314
c. Die Unterscheidung von Öffentlichem Recht und Privatrecht
oder: Die Differenzierung der sachlichen Rechtsgebiete
Eher bleibt Weber in den juristischen Kategorien der Unterscheidung von öffentlichem und privatem Recht befangen, die Durkheim ja gerade soziologisch
„überwinden“ wollte. Allein auch diese klassische „Differenzierung der
sachlichen Rechtsgebiete“ – so ist der erste Paragraph der „Rechtssoziologie“
überschrieben315 wird von Weber mitnichten etwa evolutionär gedeutet.
Vielmehr wird ihre Verschlingung mit der Unterscheidung von objektivem und
subjektivem Recht entfaltet. Die Entdeckung der subjektiv-öffentlichen Rechte
– wie sie Weber aus den mehrfach zitierten Arbeiten Georg Jellineks vertraut
war – schließt die Gleichsetzung von öffentlichem mit dem objektiven und dem
Privatrecht mit den subjektiven Rechten aus.316
Soziologisch ist an Webers implizit geführter Diskussion der juristischen
„Theorien“ zur Abgrenzung von öffentlichem Recht und Privatrecht der Bezug
auf das Phänomen des Staates entscheidend. Während die Unterscheidung ja
weniger für Theoriespiele als vielmehr für die Zuständigkeit der Gerichtsbarkeit
von juristisch praktischer Bedeutung für die Wahl des Rechtsweges ist, mag der
soziologische Sinn ja ein durchaus anderer sein. In diesem Falle aber ist es
gerade umgekehrt. Denn trotz aller Beteuerungen der Unabhängigkeit des
juristisch-normativen vom empirisch-faktischen Denken, gibt Weber hier
314
Zur rechtstheoretischen Unterscheidung „gebietender“, „verbietender“ und „erlaubender“
Rechtssätze s. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 398.
315
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 387.
316
Heute geht der Begriff des subjektiven-öffentlichen Rechts weiter, als er von Weber bezeichnet wurde. So heißt es noch: „Denn die subjektiven öffentlichen Recht des Einzelnen
gelten dem juristischen Sinne nach in Wahrheit als subjektive Zuständigkeiten des Einzelnen für bestimmt begrenzte Zwecke als Organe der Staatsanstalt zu handeln.“ (Max
Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 387).
121
durchaus zu, dass die juristische Unterscheidung eine soziologische
Differenzierung aufgreifen würde: „Das öffentliche Recht einfach, der
soziologischen Scheidung entsprechend, als den Inbegriff der Normen für das,
seinem von der Rechtsordnung zu unterstellenden Sinne nach,
staatsanstaltsbezogene, d.h.: dem Bestande, der Ausdehnung und der dirketen
Durchführung der jeweiligen, kraft Satzung oder einverständismäßig geltenden,
Zweck der Staatsanstalt als solcher dienenden Handeln zu definieren, das
Privatrecht aber als den Inbegriff der Normen für das, seinem von der
Rechtsordnung unterstellten Sinne nach, nicht anstaltsbezogene, sondern nur
von der Staatsanstalt durch Normen geregelte Handeln anzusehen, scheint durch
den unformalen Charakter dieser Scheidung technisch erschwert.“317
Gleichwohl hält das Kriterium Webers kritischer Prüfung stand, weil einmal
auch das öffentliche Recht subjektive Rechte kennt und andererseits die Theorie
der Über- bzw. Gleichordnung deshalb nicht greift, weil nicht nur Private
einander im rechtlichen Sinne gleich geordnet sind, sondern dies auch für
Verfassungsorgane, Kommunen usf. gelten kann, obwohl der Charakter ihrer
Rechtsbeziehungen öffentlich-rechtlicher Natur ist. So bleibt nur der sinnhafte
Bezug auf das „staatsanstaltsbezogene“ Handeln als Kriterium der
Differenzierung übrig.
Weber vermeidet es also, die dualen Unterscheidungen von Status und Kontrakt, objektivem und subjektivem Recht, Privatrecht und öffentlichem Recht in
eine entwicklungslogische Folge zu bringen. Allerdings sieht Weber die Entwicklung des Differenzierungsvermögens als einen wichtigen evolutionären
Schritt an: Dies läßt sich im Umkehrschluss aus einer Formulierung über das
„Weistum“ entnehmen, das die zuvor genannten Unterscheidungen eben
n i c h t kennt: „Auch das Weistum scheidet zunächst weder objektives von
subjektivem Recht, noch Rechtssatzung von Urteil, noch öffentliches von
privatem Recht, noch sogar Verwaltungsanordnungen von normativer Regel.“318
In der Sprache der Differenzierungstheorie lässt sich also aus Webers
Tendenzanalyse kein duales Entwicklungsschema ablesen, sondern eine
Entwicklung zu einer internen komplexen Binnendifferenzierung.
317
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 387.
318
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 450.
122
Das gleiche gilt für die vermeintliche Tendenz einer Wandlung der
Rechtsformen vom Partikularismus zum Universalismus. Talcott Parsons hatte
unter Bezug auf Weber in der Ausbildung eines universalistischen
Rechtssystems die entscheidende evolutionäre Universalie, sowie das Zentrum
der Entwicklung von „Gemeinschaft“ im System moderner Gesellschaften
gesehen.319 Webers Sicht hingegen ist differenzierter. Zwar versteht Weber den
Prozess der „Rationalisierung“ des Rechts auch als eine Entwicklung zum
„Universalismus“, wie sich leicht aus der Favorisierung genereller
Tatbestandsmerkmale
im
Typus
des
formal-rationalen
Rechts
ergibt.
„Ständische“ und „lokale“ Rechtspartikularitäten, wie Weber mit Blick auf das
islamische Recht sagt,320 stehen der Universalisierung zum „modernen“ Recht
entgegen. Dieses wird freilich, trotz universalistischer Tendenzen, von
„gesinnungsethischen“ und „berufstypischen“ Partikularitäten unterlaufen.321
Dies liegt einmal in der Zunahme beruflicher Differenzierung begründet, die ja
auch Durkheim zur Postulierung einer professionellen Sondermoral animierte,322
sowie an den Erwartungen der Rechtsinteressenten an einer antiformalen, dem
partikularen Einzelfall angepassten Rechtsfindung, dessen rechtstheoretsiche
Reflexion zu den von Weber konstatierten Bewegungen einer: Selbstauflösung
des rechtlichen Rationalismus gehört.323 Wir werden hierauf zurückkommen.
d. Vom Partikularismus zum Universalismus ?
Es gilt also auch für die vielfach evolutionär gedeutete, in den pattern variables
zur „Alternative“ stilisierte, Gegenüberstellung von Partikularismus und
319
Vgl. oben Zweiter Teil, Kap. 3.
320
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 476; vgl. auch: Patricia Crone, Max
Weber, das islamische Recht und die Entstehung des Kapitalismus, in: Wolfgang
Schluchter (Hrsg.), Max Webers Sicht des Islams, Frankfurt a.M., 1987, S. 294 ff.
321
Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 504 ff.
322
Vgl. Emile Durkheim, Leçons de sociologie, physique des moeurs et du droit, a.a.O.,
insbes. S. 45; siehe auch oben Teil C, Kap. 2.
323
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 512.
123
Universalismus, dass sie nicht als schlichte Abfolge von einem historischen
„Zustand“ in einen anderen zu betrachten sind, sondern als Dimensionen zur
Charakterisierung von „Recht“, auch des: modernen.
Diese lassen sich, in Verknüpfung mit Webers Unterscheidung formaler und
materialer Aspekte der rechtlichen Rationalisierung, in der folgenden Weise
aufschlüsseln:
Schaubild (2): Partikularismus und Universalismus als Dimensionen des
modernen Rechts324
L
I
Rechtspropheten
Rechtsgebildete Fachjuristen
I IV
Rechtshonoratioren
Politische
und
Rechtsherrscher
theokratische
II III
A
G
Wir können hiernach als ein erstes Fazit festhalten: Die dualen
Differenzierungen von öffentlichem und privatem, objektivem und subjektivem
Recht,
partikularem
und
universalistischem
Recht
sind
nicht
entwicklungslogisch deutbar. Ihre heuristische Fruchtbarkeit beginnt dort, wo
subjektive Rechte im öffentlichen Recht gesucht und öffentlich-rechtliche
Elemente im Privatrecht, partikulare Tendenzen im universalistischen Recht
aufgedeckt werden.
Liegt darin der Verzicht auf jede Art gerichteter Entwicklung?
324
Vgl. hierzu auch den Beitrag von Werner Gephart auf dem Züricher Soziologentag mit
dem Thema: „Die Geburt des juridischen Universalismus aus partikularen Rechtskulturen
in Durkheims und Webers Theorien des modernen Rechts“.
124
2. „Rationalisierung“ als Konstellationsanalyse
Der antimetaphysische Grundton von Webers methodologischen Schriften hat
die Weber-Deutung davon abgehalten, die Rationalisierungsthese als das zu
sehen, was sie ist: eine riskante Hypothese empirisch historischer Entwicklung,
die nicht frei von metaphysischen Beimischungen ist.
Wenn die Gestalt des „okzidentalen Rationalismus“ nach einer Schlüsselstelle
der „Vorbemerkung“ dadurch bestimmt sein soll, „welche Sphären und in
welche Richtung sie rationalisiert wurden“,325 dann liegt dieser Aussage die
Prämisse
zugrunde,
dass
die
jeweiligen
„Sphären“
durch
„Eigengesetzlichkeiten“ bestimmt sind. Der Prozess der Rationalisierung lässt
sich als Entfaltung der unterschiedlichen Eigengesetzlichkeiten differenter
Sphären deuten. Die „Rechtssoziologie“ ist von dieser Sichtweise nicht
ausgenommen. So heißt es im Schlusskapitel der „Rechtssoziologie“ auf die
Bemerkung hin, dass einem Laien niemals verständlich sein könne, warum es
keinen „Diebstahl“ elektrischen Stroms nach den allgemeinen
Eigentumsdelikten geben könne: „Es ist also keineswegs eine spezifische
Torheit der modernen Jurisprudenz, welche zu diesen Konflikten führt, sondern
in weitem Umfang die ganz unvermeidliche Folge der Disparatheit logischer
Eigengesetzlichkeiten jedes formalen Rechtsdenkens überhaupt ...“326
Weber konstruiert also unterschiedliche Sphären, wie Recht, Wirtschaft, Staat,
Ästhetik, Liebe usf., denen er eine jeweils typische „Eigengesetzlichkeit“ unterstellt, die dann mit anderen „Fremdgesetzlichkeiten“ untereinander in Konflikt
geraten. In den Kommentierungen zu den Gesammelten Aufsätzen zur
Religionssoziologie ist die Welt durch Spannungen zwischen den
verschiedenen „Sphären“ gekennzeichnet: Jede in der „rationalisierten
Gesellschaft“ vorkommende Sondersphäre tritt umso mehr in Widerspruch zu
der von Weber sogenannten Brüderlichkeitsethik, je „rationaler“ die Sphäre
ausgestaltet ist. Politik, Ökonomie und Wissenschaft sind mit einer personal
325
Max Weber, „Vorbemerkung“ zu den Gesammelten Aufsätzen der Wissenschaftslehre,
Bd. 1, a.a.O., S. 12.
326
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 506 (letzte Hervorh. W.G.).
125
orientierten Ethik unvereinbar, wenn der entscheidende Rationalitätszug dieser
Sphären gerade darin liegt, durch unpersönliche Merkmale bestimmt zu sein:
nämlich durch die entpersönlichten Beziehungen bürokratischer Herrschaft in
der Politik, durch Geld und Markt als die „unpersönlichste praktische
Lebensbeziehung, in welche Menschen miteinander treten können“327 in der
Sphäre der Wirtschaft, sowie objektiver Wahrheit in der wissenschaftlichen
Sphäre. Die Lösung von personalen Rücksichtnahmen erscheint gleichzeitig als
die Voraussetzung, unter der die jeweilige „Eigengesetzlichkeit“ in die
Richtung der Rationalisierung freigesetzt wird. So ermöglicht die Verwendung
von „Geld“ die Abstimmung ökonomischer Interessen, unabhängig von
komplementären Tauschleistungen; der Einsatz von Macht oder die Androhung
mit Gewalt als dem letzten Durchsetzungsmittel von „Macht“ ist nur dann
steigerungsfähig, wenn die Personalität des Machtunterworfenen negiert wird;
ebenso nimmt eine Wissenschaft, die an reiner Wahrheitssuche orientiert ist,
keine Rücksichten auf die Folgen, die diese Erkenntnisse für personale Werte
zeitigen können.
Eine De-Personalisierung der sozialen Beziehungen wird damit zum
Wendepunkt des Rationalismus. „Handeln“ und nicht der „Mensch“ ist die
subtile Antwort der Humanwissenschaften, insbesondere der Jurisprudenz
gewesen. Aber es ist wohl an dieser Schaltstelle vor allem, dass wir die
Bedeutung des Rechts für die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus
ansetzen müssen. So ist „Recht“ nur soweit „rationalisiert“, als es unpersönlich
ist, und nur in dieser Funktion auch für die „Fremdgesetzlichkeiten“ anderer
Sphären „rational“.
Der in das Recht „eingebaute“ Widerspruch von formaler und materialer
Rationalität, den wir bei der Entfaltung des Möglichkeitsraumes rationalen
Rechts kennengelernt haben, würde somit genau diese ambivalente Rolle des
modernen Rechts – nämlich Rechtsformen der Unpersönlichkeit bereitzustellen
– wiederspiegeln, seine technische Leistungsfähigkeit zwangsläufig nur auf
Kosten materialer Wertwidersprüche realisieren zu können.
327
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 382.
126
Und dieser Widerspruch wird dadurch radikalisiert, dass sich Weber dann auch
noch das Ideal der gemeinrechtlichen Jurisprudenz zum Fluchtpunkt der
„Entfaltung der Eigengesetzlichkeit des Rechts“ auswählt, dem nunmehr
unschwer die „materialen“ Rationalitätsansprüche des sozialistischen Rechts
und anderer gesinnungsethischer, d.h. personaler Sublimierungen des Rechts
entgegengestellt werden.
Die unverhohlene Kritik eines sozialistischen, nach materialen
Wertgesichtspunkten naturrechtlicher Art ausgerichteten „Rechts“ oder gar die
Annahme
der
Auflösung
des
Rechts
bzw.
seiner
Ersetzung durch
kommunikatives Handeln, scheint somit auf einem ganz spezifischen Weltbild
zu beruhen, in dem das Prädikat der Rationalität nicht nur den
außerokzidentalen Kulturen, sondern auch allen Weber gegenüber heterodoxen
Strömungen des abendländischen Denkens abgesprochen wird.
Nun ist zu prüfen, ob es nicht eine Deutungsmöglichkeit gibt, die den Prozessen
interner Rationalisierung, externen Entwicklungsbedingungen und dem
kulturvergleichenden Anspruch Webers gleichermaßen Rechnung trägt, ohne
hierbei in den orientierungslosen Historismus oder die geschichtsmetaphysische
Überfrachtung eines Grundzugs der Moderne zu verfallen.
3. Die Bedeutung der „innerjuristischen Verhältnisse“
für die Richtungen der rechtlichen Rationalisierung
Am Ende von § 3 der „Rechtssoziologie“ führt Weber seine analytische Prozedur einer universalen Rationalitätsgeschichte des Rechts so ein: „Wir werden
sehen, daß ein Recht in verschiedener Art, und keineswegs notwendig in der
Richtung seiner juristischen Qualitäten rationalisiert werden kann. Die
Richtung, in welcher diese formalen Qualitäten sich entwickeln, ist aber bedingt
direkt durch sozusagen ‚innerjuristische‘ Verhältnisse: die Eigenart der
Personenkreise, welche auf die Art der Rechtsgestaltung berufsmäßig Einfluß
127
zu nehmen in der Lage sind, und erst indirekt durch die allgemeinen
ökonomischen und sozialen Bedingungen.“328
Weber unterscheidet also „direkte“ und „indirekte“ Einflussfaktoren der
Rationalisierung des Rechts, wobei die unmittelbaren aus den
Eigentümlichkeiten der Rechtssphäre, also den „Eigengesetzlichkeiten“ des
Rechts fließen, die durch mittelbare „ökonomische“ und „soziale“
Bedingungen, also „Fremdgesetzlichkeiten“ gebrochen werden. Die allererste
Voraussetzung auf dem Wege zur Rationalisierung des Rechts ist hierbei die
„Abstreifung“ der Magie, von wo aus sich unterschiedliche Pfade der
Rationalisierung verzweigen. Ebenso wie die Rationalisierung der religiösen
Sphäre die Befreiung vom magischen Denken voraussetzt,329 ist die Überwindung eines vergleichbaren irrationalen Formalismus im Recht notwendige
Bedingung der rechtlichen Rationalisierung. Sie ist nämlich insoweit noch nicht
durch „innerjuristische“ Qualitäten bestimmt, sondern durch religiöse
Faktoren, die ihrerseits noch im Vorfeld des Prozesses der religiösen
Rationalisierung liegen. So schreibt Weber mit Blick auf die rechtliche
Entwicklung: „Erst mit dem Zurücktreten der Bedeutung der Magie gewinnt die
Tradition den Charakter, welchen sie z.B. im Mittelalter vielfach an sich trug:
das Bestehen einer als Recht geltenden Übung kann Gegenstand eines
‚Beweises‘ durch die Parteien werden, ganz wie ‚Tatsachen‘.“
Gibt es also „sachlogische Gründe“ für die Rationalisierung des Rechts, die
nicht von der Art der Rechtsinhalte abhängt, sondern aus eigenen,
soziologischen Konstellationen der Struktur des Rechtssystems fließt?
a. Rationalisierung durch Diskurs?
328
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 455 f.
329
Im „Resultat“ zur Konfuzianismusstudie heißt es: „Für die Stufe der Rationalisierung,
welche eine Religion repräsentiert, gibt es vor allem zwei, übrigens miteinander in vielfacher innerer Beziehung stehende Maßstäbe. Einmal der Grad, in welchem sie die Magie
abgestreift hat ...“ (Max Weber, Konfuzianismus und Taoismus, abgedr. in: Gesammelte
Aufsätze zur
Religionssoziologie, a.a.O., S. 512).
128
So geht es Weber um den Nachweis, dass auch das traditionale Recht, dessen
Geltung Weber in den „Soziologischen Grundbegriffen“ an den Glauben in die
Legitimität des immer schon Gewesenen geknüpft hatte,330 durchaus „rationale“
Züge aufweist. Weber entlarvt nämlich einerseits das sog. „Gewohnheitsrecht“,
das die romantische Rechtsschule vor allem der Kodifikationsidee
entgegensetzte, als einen „sehr modernen Begriff“, der in seinen
Voraussetzungen faktischer gemeinsamer Übung (1.), gemeinsamen
Legitimitätsglaubens (2.) und Rationalität (3.) erst das Resultat juristischer
Konstruktionsarbeit ist.331 Sobald das Recht aus den Händen magischer und
anderer „irrationaler“ Gewalten in den Umkreis irgendwie gearteter
rudimentärer „Rechtspflege“ gerät, setzt andererseits eine eigenlogische
„Rationalisierung“ der Tradition ein: „Ein gewisses Maß von Stabilität und
Stereotypisierung zu Normen tritt immerhin ganz unvermeidlich ein, sobald die
Entscheidung Gegenstand irgendeiner Diskussion wird oder rationale Gründe
dafür gesucht oder vorausgesetzt werden, also mit jeder Abschwächung des
ursprünglichen rein irrationalen Orakelcharakters.“332 Es ist also Max Weber,
der hier eine spezifische Form der Rationalisierung durch „Diskurs“333, d.h.
330
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 19.
331
Wenn Weber meint, dass „der heftige Kampf der Rechtssoziologen (Lambert, Ehrlich)
gegen ihn (den Begriff des ‚Gewohnheitsrechts‘, W.G.) m.E. durchaus unbegründet“ sei,
so liegt dem gerade die Absicht zugrunde, eine „Vermischung juristischer und
soziologischer Betrachtungsweise“ (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S.
441) zu vermeiden! Hieraus ein Zurückbleiben hinter dem zeitgenössischen Stand der
„Rechtssoziologie“ herzuleiten, wie es Rehbinder tut, praktiziert die von Weber
perhorreszierte Konfusion des faktisch und normativ Geltenden. Denn die Faktizität der
„Gewohnheit“ wird nur dadurch „Recht“, dass ihr diese Qualität juristisch zugeschrieben
wird. Interessant ist die parallele Deutung Lamberts durch Emile Durkheim, woraus
ersichtlich ist, dass Durkheim auch dem Zivilrecht nicht ganz so fern stand. Vgl. Emile
Durkheim, Rez. zu Edouard Lambert, La fonction du droit civil comparé, Paris 1903, in:
L'Année sociologique 7, 1904, S. 374-379.
332
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 445 f. (eigene Hervorh.).
333
Die Theorie des kommunikativen Handelns fände in dieser versteckten Passage Webers
also eine Stütze.
129
nämlich Diskussion mit rationalen Gründen, behauptet, die aus der
Eigengesetzlichkeit des Vortragens, Antwortens und der Kritik mit „Gründen“
hervorgeht.
b. Rationalisierung durch Tradition?
Hieraus entsteht zugleich eine scheinbar paradoxe Form der Rationalisierung
durch Tradition, wenn der Diskurs seine eigentümliche Bindungskraft entfaltet:
„Denn offenbar ist es für einen Richter, dem eine bestimmte Maxime einmal
bewußt und erkennbar als Entscheidungsnorm gedient hat, sehr erschwert, oft
fast unmöglich, in anderen gleichartigen Fällen die in jenem Fall gewählte
Zwangsgarantie zu versagen, ohne sich dem Verdacht der Befangenheit
auszusetzen.“334 So stellt allein der subjektive „Glaube“, bereits geltende
Normen „anzuwenden“, einen Schritt in die Richtung einer „für jede dem
prophetischen Zeitalter entwachsene Rechtsfindung“335 dar. Diese „Tradition“
ist also „modern“, oder die „Moderne“ enthält durchaus „Traditionales“.336
c. Rationalisierung und die Vielfalt der Gefühlskulturen
Ein scharfer Gegensatz wird hingegen zwischen den gefühlsmäßigen Qualitäten
vorrationalen „Rechts“ und den „rationalen“ Qualitäten des modernen Rechts
auf-gerichtet. Impliziter Diskussionsgegner ist für Weber wiederum die
romantische Rechtsschule, zu der Weber – wie wir sehen werden – auch den
französischen Zeitgenossen Durkheim hätte zählen müssen. So führt Weber
über die Bedeutung des Rechtsgefühls aus, das im Zentrum von Durkheims
emotiver Straftheorie steht: „Aber die Beobachtung lehrt, wie außerordentlich
labil ‚das Rechtsgefühl‘ funktioniert, soweit ihm nicht das feste Pragma einer
äußeren oder inneren Interessenlage die Bahn weist.“337 Das Rechtsgefühl lässt
334
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 445.
335
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 445.
336
Dies gilt es zu betonen, wenn allzu große Gräben zwischen „Tradition“ und „Moderne“
aufgerissen werden.
337
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 445.
130
sich aber noch weniger im Sinne einer die Kollektivität markierenden Identität
ausdeuten; Weber erteilt vielmehr eine glatte Absage an die Vertreter jeder
Volks- und Rechtsgeistlehren: „ ... Gerade die Besonderheiten ‚nationaler‘
Rechtsentwicklungen dagegen lassen sich aus einer Verschiedenheit des
Funktionierens ‚gefühlsmäßiger‘ Quellen, soviel bisher bekannt, nirgends
ableiten. Stark emotional, ist gerade das ‚Gefühl‘ sehr wenig geeignet, stabil
sich behauptende Normen zu stützen, sondern vielmehr eine der Quellen
irrationaler Rechtsfindung.“338 Webers Stoßrichtung ist also eine doppelte und
für das Verständnis der „Rechtssoziologie“ Webers zentral. Die Differenzen
„nationaler Rechtskulturen“339 sind nicht aus diffusen emotiven und traditional
sedimentierten Faktoren einer Gefühlskultur herleitbar, sondern aus anderen
Konstellationen. Zum anderen müssen wir festhalten, dass, obgleich – wie
Weber behauptet – beliebige Aspekte der Welt „rationalisierbar“ sind, die
„Gefühle“ hiervon ausgenommen sind. „Rationalisierung“ des Rechts heißt
somit immer auch, gefühlsmäßgige Bande zu „überwinden“.
c. Juridische Innovation durch Charisma
Dies gilt allerdings nicht für die Neuschöpfung von Normen, solange das
Prinzip der „Positivität“, d.h. der beliebigen Satzbarkeit des Rechts als
Legitimitätsgrund noch keine Geltung besitzt. Die universalistische
Rechtsschöpfung ist nämlich durch spezifische emotive Qualitäten, den Glauben
an die außeralltäglichen Fähigkeiten des Rechtsschöpfers geprägt, die in den
Epochen des traditionalen Rechts allein für Rechtsänderungen maßgeblich ist:
„Dies aber kann nur geschehen auf dem hierfür ausschließlich möglichen Wege
einer neuen charismatischen Offenbarung.“340 Der aus Webers
Herrschaftssoziologie prominente Begriff des Charisma findet sich nun auch in
Webers Rechtssoziologie. Einen religionsgeschichtlichen Tatbestand
bezeichnend, scheint der Begriff auch aus dem theologischen Vokabular
entnommen. Wie jedoch die von Weber in Bezug genommene Quelle, das
338
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 445.
339
Dieser Begriff ist im Zuge der Wiederentdeckung von „Kultur“ in der allgemeinen Soziologie auch bei „Rechtssoziologen“ en vogue.
340
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 446.
131
Kirchenrecht von Sohm341 belegt, stammt der Begriff aus dem juristischen,
nämlich kirchenrechtlichen Kontext, auf den die Idee charismatischer
Rechtsschöpfung nunmehr zurückgewendet ist.
Der „Tradition“ gegenüber ist das „Charisma“ revolutionären Charakters. So
heißt es: „Die Rechtsoffenbarung in diesen Formen ist das urwüchsige
revolutionierende Element gegenüber der Stabilität der Tradition und die Mutter
aller ‚Satzung‘ von Recht.“342 Das Recht offenbart sich also durch tatsächliche
oder vermeintliche Ein-gebung, wenn die traditionalen Normen für die Ordnung
neuer
Problemlagen nicht mehr hinreichen. „Normaler Träger dieser
primitiven Form einer Anpassung von Ordnungen an neu entstandene
Situationen ist der Zauberer oder der Priester eines Orakelgottes oder ein
Prophet.“343
Das Problem der entsprechenden Herrschaftsform, nämlich die
„Veralltäglichung des Charisma“,344 stellt sich hier nicht, weil die
Rechtsprophetie funktional auf „Normwandel“ programmiert erscheint. Wir
sollten an dieser Stelle die naheliegende Parallele zu Durkheim nicht übersehen.
„Rationalen“ Normwandel gibt es im Modell der „groupments professionals“
durch die Selektion und Implementation situations- und berufsadäquater
Normen,345 während andererseits gerade aus der Abweichung von Normen,
nämlich dem „Verbrechen“, die Vorboten einer neuen revolutionären Moral
hervorgehen.346
341
Vgl. Rudolph Sohm, Kirchenrecht, Bd. 1, Leipzig 1892.
342
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 446.
343
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 446 (eigene Hervorh.).
344
Vgl. insbesondere Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 142-148.
345
Vgl. hierzu oben unsere Auseinandersetzung mit Durkheims Idee der Normgenerierung,
Dritter Teil, Kap. 2.
346
Der methodologische Sinn der Normalitätsthese ist bei Werner Gephart, Strafe und
Verbrechen. Die Theorie Emile Durkheims, a.a.O., Kap. 1 entwickelt.
132
In gleicher Weise wie sich die Normdevianz der Planbarkeit des Normgebers
entzieht, zeitigt die charismatische Rechtsschöpfung im Sinne Webers letztlich:
irrationale Konsequenzen. Denn nur die Formen, in denen neues Recht bei den
charismatischen und magischen Gewalten gesucht wird, ist „rational“, dem
steht der „irrationale Charakter der Entscheidungsmittel gegenüber“,347 und
dieser antirationale Effekt reicht bis in die Moderne hinein, jedenfalls in
Webers Sicht des englischen Rechts. Denn: „Lediglich durch das Fehlen
rationaler Begründung unterschied sich das echte Orakel vom englischen
Präjudiz.“348 Trotz gegenteiliger Behauptungen Webers bleibt dies die
Einschätzung des englischen Rechts; der Streit der Interpreten über Webers
Sicht des englischen Rechts hat also in Webers ambivalenter Haltung seinen
Grund.
Entscheidend für den Weg ins „rationale“ Recht ist also die Abstreifung von
Magie, eine elementare Rationalisierung durch Diskurs und die charismatische
Öffnung des Charisma bis zur Verwandlung des Rechtspropheten und
Rechtspriesters in einen auf das Recht spezialisierten Fachkundigen. So ist
Webers resümierende Feststellung eindeutig: „Ein formell irgendwie
entwickeltes ‚Recht‘ dagegen, als Komplex bewußter Entscheidungsmaximen,
hat es ohne die maßgebliche Mitwirkung geschulter Rechtskundiger nie und
nirgends gegeben.“349
Die Bahnen, in denen sich die Rationalisierung des Rechts fortbewegt, hängt
Webers bereits zitierter Hypothese nach aber von der inneren Ordnung der
juristischen Verhältnisse ab, und das heißt: von den jeweiligen Trägern der
rechtlichen Rationalisierung.
4. Träger der rechtlichen Rationalisierung
347
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 447.
348
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 450.
349
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 455 (eigene Hervorh.).
133
Anwaltsschulung und Universitätsbildung sind unterschiedliche Träger der
Rechtsentwicklung, aus deren Einfluss sich unterschiedliche Tendenzen
rechtlicher Rationalisierung ableiten lassen.
a. Die Rationalisierungschancen der handwerksmäßigen Spezialisierung
der Anwälte
Die Eigentümlichkeiten des englischen Rechts lassen sich aus der Eigenart des
Standes erklären, der die Rechtspflege verwaltet. Es ist schon die „handwerksmäßige Spezialisierung“ der Anwälte, die den „systematischen Überblick über
die Gesamtheit des Rechtsstoffes“350 hindert. Erst recht mit der
Monopolisierung des Rechtsunterrichts in den „Inns of court“351 unter
Ausschaltung der universitären Lehre wird ein zünftiger, durch ein „Noviziat“
initiierter „esprit de corps“ herangezüchtet, der vor allem die eigenen Interessen
im Auge hat und rein „empirisch praktisch“ ausgerichtet ist. Diese Praxis ist
aber an handfesten, greifbaren, an typisch wiederkehrenden Einzelbedürfnissen
und nicht an systematischer Rechtsbildung ausgerichtet. Das Rechtsdenken
schließt – so Weber – vom Einzelnen auf das Einzelne und nicht auf das
Allgemeine. Und so ist Webers Fazit zum englischen Recht im Sinne seiner
Idee des formal rationalen Rechts vernichtend: „Aus den ihr immanenten
Entwicklungsmotiven geht ein rational systematisiertes Recht, [oder] auch nur
in begrenztem Sinn eine Rationalisierung des Rechts überhaupt, nicht
hervor.“352
350
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 457.
351
Die Common Law-Lehrer schlossen sich im 14. Jahrhundert zu den bekannten Londoner
Advokateninnungen („Inns of Court“): Inner Temple, Middle Temple, Lincoln’s Inn und
Gray’s Inn zusammen. Gemeinsam mit den „inns of chancery“ suchten sie gegen die
Universitäten einen eigenen juristischen Ausbildungsgang zu etablieren, der allerdings
nach Erreichen des
Monopols wieder verfiel. Die Inns waren seither Zünfte der
ausschließlich vor Gericht verhandelnden „Barristers“ (at law), während die den Verkehr
mit den Parteien und die Prozessvorbereitungen besorgenden „Solicitors“ ihre eigene
Ausbildung und Organisation hatten.
352
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 457.
134
Die in Webers Augen bestehenden Defizite des anschaulichen, nicht an generellen Tatbestandsmerkmalen, sondern wie die Kautelarjurisprudenz der römischen „actiones“353 an feste Klageschemata, die „writs“, anknüpfenden
juristischen Orientierungen waren zudem über Sportelinteressen der
Anwaltschaft an zünftiger „Schließung“ der Rechtskenntnisse bedingt. Und
weil sich der Richterstand aus den Reihen der plädierenden Anwälte354, der
barristers, rekrutiert, wurde diese Orientierung durch keine Gegenkraft
konterkariert. Überdies verschafft die „Unabhängigkeit“ nicht nur des Richters,
sondern auch des Barrister von der Klientel, die nur über den dazwischen
geschalteten Sollicitor überhaupt mit dem Publikum verkehrt, eine weitere
strukturelle Barriere für den Zugang zum Recht.355
Der Traditionalismus des Betriebspraktikers wie die Eigeninteressen der
Anwaltschaft standen also einer systematischen Rationalisierung des Rechts
entgegen. Nun hätte diese Eigengesetzlichkeit sozialer Interessen sich ja auch
auf dem Kontinent entfalten können. Eine zünftige Rechtsentwicklung war hier
jedoch einfach deshalb ausgeschlossen, weil aufgrund der Dezentralisation der
Rechtspflege eine machtvolle Zunft erst gar nicht entstehen konnte.
b. Die Universitätsausbildung als Ort des „rationalen“ Rechts
Die „moderne rationale juristische Universitätsbildung“ stellt den Gegentyp dar.
Ihr ist die Tendenz zur Abstraktion, Systematisierung und logischen
Sinndeutung eigen, die freilich eine andere Art der „Irrationalität“ in sich birgt:
353
Im römischen Recht sowohl die prozessualrechtliche Klagemöglichkeit wie – ausdrücklich
seit Celsus, D. 44, 7, 51 – der materiell-rechtliche Klageanspruch.
354
Der Advokaten, also einer Anwaltschaft, die in England bereits am Ende des 13.
Jahrhunderts zunftmäßig organisiert ist. Zur Zeit Eduard I. (1272-1307) erschienen
nebeneinander der Stand der attornati (attorneys) als gewerbsmäßiger Konsulenten (die
heutigen solicitors) und der Stand der advocati (pleaders) als der die Partei vor Gericht
vertretenden Rechtskundigen (die heutigen barristers).
355
Dieses Argument ist Weber gegenüber zu ergänzen.
135
„Ihr rational-systematischer Charakter kann das Rechtsdenken zu einer
weitgehenden
Emanzipation
von
den
Alltagsbedürfnissen
der
Rechtsinteressenten
führen
und
ebenso
ihr
geringer
Anschaulichkeitscharakter.“356 Dieser negative Effekt wird jedoch ausgeglichen,
wenn die Schulung des Rechtsdenkens „mit der empirischen Rechtslehre
kombiniert“357 wird, was die Deutung nochmals bestätigt, dass Webers Idealbild
des rationalen Rechts nicht durch die einseitige Steigerung von Systematik oder
Analytik, Konkretion oder Generalisierung, sondern eben durch die „Kombination“ der verschiedenen Aspekte rationalen Rechts bestimmt wird!358 Wenn die
Kontrolle durch die Interessenten entfällt – oder um einen neueren Ausdruck zu
verwenden – die „Responsivität der Dogmatik“ verloren geht, setzt sich das von
Weber eindeutig perhorrreszierte359 Potenzial der falsch verstandenen
Rationalisierung frei: „Die Gewalt der entfesselten rein logischen Bedürfnisse
der Rechtslehre und der durch sie beherrschten Rechtspraxis kann die
Konsequenz haben, dass Interessentenbedürfnisse als treibende Kraft für die
Gestaltung des Rechts weitgehend geradezu ausgeschaltet werden.“360 Weber
spielt als Beispiel auf die Vorschrift des § 571 BGB an, die programmatisch
überschrieben ist, „Kauf bricht nicht Miete“, um den Bruch mit der Tradition
kundzutun, die dem Mieter im Falle des Eigentümerwechsels schutzlos ließ.
c. Priesterschulen
Neben der zünftigen, durch Anwälte monopolisierten empirischen Rechtslehre
und der universitären Rechtslehre analysiert Weber die Priesterschulen als
356
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 459.
357
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 459 (eigene Hervorh.).
358
Hierauf hat Richard Münch zu Recht insistiert; siehe auch oben Zweiter Teil, Kap. 3,
Abschn. 4.
359
Dies muss gegenüber Ansichten betont werden, die Weber jede Art von soziologisch
orientierter Jurisprudenz bestreiten wollen, so z.B. Manfred Rehbinder, Max Weber und
die Rechtswissenschaft, in: ders.(Hrsg.), Max Weber als Rechtssoziologe, Berlin 1987,
S. 127-149.
360
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 459.
136
Träger der rechtlichen Rationalisierung. Dies kann durchaus zu einem gelehrten
Umgang mit Rechtsproblemen führen, der freilich eher in einer
„Gelehrtenkasuistik“ als einer systematischen Durchdringung des Rechtsstoffes
mündet.
Und dieser Effekt gilt ganz unabhängig vom Inhalt der jeweiligen religiösen
Ethik.361 Das islamische Recht, das auf die Veden gestützte hinduistische Recht
und die talmudische Jurisprudenz sind insoweit vergleichbar. Je stärker aber der
Lehr- und Schulcharakter ausgeprägt ist, umso lebensferner sind die Ansätze
ihrer Systematik: „Die hinduistische Rechtsgelehrsamkeit war daher sehr stark
rein schulmäßig-theoretisch und systematisierend, in den Händen von
Philosophen und Theoretikern liegend und trug die typischen Züge eines sakral
gebundenen theoretischen und systematischen, aber sehr wenig an der Hand der
Praxis sich entwickelnden Rechtsdenkens in besonders hohem Maße an sich
...“362 Diese Art der priesterlichen Systematisierung konnte durchaus weiter
gehen als dies in Rechtsbüchern, etwa dem „Sachsenspiegel“, aufgezeichnete
Recht. Ihre Grenzen ergeben sich aus der Bindung an die Anforderungen der
jeweiligen religiösen Sphäre: „Aber die Systematik ist keine juristische,
sondern eine solche nach Ständen oder nach praktischen Lebensproblemen.
Denn diese Rechtsbücher sind, da ihnen das Recht im Dienst heiliger Zwecke
steht, Kompendien nicht nur des Rechts, sondern zugleich auch des Rituals, der
Ethik und unter Umständen der gesellschaftlichen Konvention und
Höflichkeitslehre.“363
Wir können insoweit resümieren: Während die zünftig regulierte empirische
Rechtslehre ihren partikularen Eigeninteressen zu Lasten systematischer
Rechtsbildung verhaftet bleibt, die Universitätslehre durchaus systematischen
Bedürfnissen der Intellektuellen Rechnung trägt, was auf Kosten der Praxisnähe
geht, wird in den Priesterschulen sowohl Systematik wie Kasuistik gepflegt, nur
361
Weber leitet also keineswegs die Entwicklung des rationalen Rechts schlichtweg aus dem
Charakter der religiösen Ethik ab. Gleichwohl kommt der „Eigengesetzlichkeit“ der
religiösen Entwicklung eine eigene Rolle im Prozess der rechtlichen Rationalisierung zu.
362
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 461.
363
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 461.
137
an einem für die Rationalisierung des Rechts sozusagen falschen Objekt,
nämlich dem Priesterbetrieb. Insofern ist eben die Ausdifferenzierung von Recht
aus religiösen Zusammenhängen die Voraussetzung der Entfaltung rechtlicher
Eigengesetzlichkeiten, wie wir später noch sehen werden.
d. Honoratiorenjustiz
Die Trägerschichten der Honoratioren ist dort wirksam, wo der priesterlichsakrale Einfluss zurückgeht und die Rechtspraxis noch nicht das Ausmaß
erreicht hat, wie es städtischen Verkehrsbedürfnissen entspricht.364 Unterliegen
auch die Rechtshonoratioren, wenn sie Träger der Rechtsentwicklung sind,
ebensolchen Rationalitätsschranken, wie die zünftig anwaltliche Rechtspraxis,
das Recht der gebildeten Universitätslehre oder das Kompendienrecht der
Priesterschulen.
Weber schreibt ein Gutteil der Rezeption des römischen Rechts den italienischen Notaren zu, die „schnell ein rationales Recht“ für wachsende Verkehrsbedürfnisse zur Hand haben wollten, ohne in Widerspruch zur Universitätslehre
zu geraten, aber auch ohne eigene Motive für die Entwicklung eines zünftig
vermittelten nationalen Rechts zu entwickeln, weil dies aus politischen Gründen
noch gar nicht in Sicht war. So wurde von den Rechtshonoratioren ein
entscheidender Beitrag zur Rezeption eines „Weltrechts“ geschaffen, das seine
Fernwirkung entfaltete als das „Weltreich“ längst untergegangen war.
Wo die Grenzen der Rationalisierungsfähigkeit dieser Trägerschicht liegen,
lässt sich am mittelalterlichen Rechtsbücherrecht zeigen. Hier sind es nicht –
oder weniger – städtische Verkehrsbedürfnisse, als: ländlich grundherrliche
Rechtsbeziehungen, die den Charakter des von Schöffen oder Beamten365
geprägten Rechts bestimmten. Die in „Rechtsbüchern“ aufgeführten
„Traditionen“ konnten sich allerdings gegenüber der Universitätslehre nicht
behaupten. So waren diese Aufzeichnungen einer Honoratiorenjustiz zwar
364
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 461 ff.
365
Gemeint sind die „Ministerialen“.
138
durchaus entwickelt, aber ohne spezifische juristische ratio: „Formal war das
empirische Rechtsbücherrecht des Mittelalters ziemlich entwickelt,
systematisch und kasuistisch aber von geringer Rationalität, wenig an abstrakter
Sinndeutung und Rechtslogik und statt dessen stark an anschaulichen
Unterscheidungsmitteln orientiert.“366
Wiederum anders war die Bedeutung der Rechtshonoratioren im antiken römischen Recht. Wir erinnern uns, dass Durkheim auf die Frage, wie denn der
Rechtsunterricht soziologisch zu befruchten sei, lakonisch geantwortet hatte,
man möge römische Rechtsgeschichte betreiben. Wir wissen, dass Weber dies
nicht erst in seiner Habilitationsarbeit über die römische Agrargeschichte getan
hat, sondern seit den Vorlesungen bei Professor Bekker sich intensiv damit
befasst hat.367 Aber führt dies bei Weber zu einer besonderen soziologisch
inspirierten Sicht des römischen Rechts? Gelingt es vor allem, einen
Zusammenhang zwischen Trägerschicht und der Eigenart des römischen
Rechts plausibel zu machen?
Im Unterschied zu der von Weber so qualifizierten „Kadijustiz“ der attischen
Volksgerichte brachte die amtliche Prozessleitung ein hohes Maß
eigengesetzlicher Rationalität ins Spiel. Trotz zahlreicher Parallelen zum
englischen Recht aber fehlte der zünftig geschlossene Anwaltsstand, so dass das
Schema der Prozessinstruktionen die Entwicklung von Rechtsbegriffen förderte,
unter die eine Partei ihre Klagebegehren zu fassen hatte. Insoweit lag die
Rechtsentwicklung also in den Händen der „Kautelarjurisprudenz“, „d.h. also
der Tätigkeit von Rechtskonsulenten, welche die Vertragsschemata für die
Parteien entwarfen, ebenso aber die Magistrate im „consilium“, dessen
Zuziehung für jeden römischen Beamten typisch war, als Sachverständige bei
der Herstellung ihrer Edikte und Klageschemata ...“368
366
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 462.
367
Siehe oben.
368
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 465.
139
Hieraus resultiert der spezifische bei von Ihering bereits charakterisierte „Geist
des römischen Rechts“, nämlich sein „analytischer“369 Charakter, d.h.: „ ... die
Zersetzung der plastischen Tatbestandkomplexe des Alltagslebens in lauter juristisch eindeutig qualifizierte Elementarakte ...“370 Gegenüber der
Begriffsbildung im englischen Recht dominiert die Suche nach juristisch
adäquaten Lösungen,371 die abstrakte Rechtsbegriffe hervorbringt, auch wenn
etwa der vermeintlich römisch-rechtliche Eigentumsbegriff ins Reich der
Legende verwiesen wird.
So ist Webers Einschätzung ohnehin dadurch geprägt, den Mythos des vollkommenen römischen Rechts zu begrenzen, ebenso wie sich Weber vor Einführung
des Bürgerlichen Gesetzbuches gegen den Mythos eines „deutschen“ Rechts
verwahrt hatte.372 Gerade die Merkmale, die Weber einem vollständig
rationalisierten Recht zuschreibt, Abstraktion und insbesondere Systematik,
sind dem frühen römischen Recht abzusprechen. Vor allem fehlte es am
Einfluss der durch Priesterschulen bewirkten Systematisierung, weil die
Priesterschaft trotz ihrer formal bedeutenden Stellung politisch machtlos war.
Trotz sakralrechtlicher Grundlage, die wir bei Durkheim im Anschluss an
Fustel de Coulange kennen gelernt hatten, ist nach Weber die Beziehung
zwischen Recht und Religion in Rom eher so gestaltet, dass die religiösen
Dinge juristischer Behandlung unterliegen und nicht umgekehrt. Impulse einer
Systematisierung gingen vielmehr von den politischen Gewalten aus, in der
Kaiserzeit und unter dem Einfluss der byzantinischen Bürokratie. Freilich ging
dies wiederum auf Kosten der formalen Strenge, während die
369
Vgl. Rudolph von Ihering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen
seiner Entwicklung, Dritter Theil, 3. Aufl. Göttingen 1877, §§ 48-55, insbes. S. 176 ff.
370
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 466.
371
So heißt es: „ ... bei den Römern werden ökonomisch (äußerlich) verschiedene und neue
Tatbestände einem ihnen adaequaten Rechtsbegriff unterstellt.“ (Max Weber, Wirtschaft
und Gesellschaft, a.a.O., S. 467). Dies stimmt mit Luhmanns Formel „richtiger“ Dogmatik
überein.
372
Vgl. hierzu den aufschlussreichen Artikel. Max Weber, „Römisches“ und „deutsches“
Recht, in: Die Christliche Welt. Evangelisch-Lutherisches Gemeindeblatt für Gebildete aller Stände 9, 1895, S. 521-525.
140
Rechtskonsulentenliteratur nicht aus Konkurrenz gegenüber einem systematischen Universitätsrecht entstand, sondern in Verbindung mit einem gelehrten
Recht der Praxis stand.
Von dort her sind wiederum die Abstraktionsleistungen durch die Bedürfnisse
der Praxis bestimmt. Die rechtstheoretisch hoch abstrakten Begriffe, wie das
„Rechtsgeschäft“, der „Anspruch“, die „Verfügung“ fehlen daher dem antiken
römischen Recht durchaus, weil diese eher den Denkbedürfnissen der
Universitätslehre entsprechen. Die Systematisierungsleistungen des römischen
Rechts, insbesondere der Pandekten373schreibt Weber der Eigenart der
Staatsentwicklung zu: „Der rein weltliche und zunehmend bürokratische
spätrömische Staat war es, welcher aus dem immerhin höchst präzisen
römischen Rechtsdenken der Respondenten und ihrer Schüler jene in der Welt
einzigartige Sammlung der ‚Pandekten‘ auslas und systematisch durch eigene
Rechtsschöpfungen ergänzte, die dann noch nach Jahrhunderten das Material
für das Rechtsdenken der mittelalterlichen Universitätsbildung darbot.“374
Das systematische juristische Studium, wie es durch die kaiserliche Verwaltung
als Folge ihrer „Rationalisierung und Bürokratisierung“ bedingt war, ging also
über die Theoriebedürfnisse der republikanischen Rechtshonoratiorenschicht
hinaus.
Weber unterscheidet somit i n n e r h a l b der römischen Rechtsentwicklung
verschiedene Rationalitätsstufen, die ökonomisch nicht erklärbar sind – obwohl
der städtische Charakter des Rechtsstoffes vor allem privatrechtliche
Entwicklungen begünstigte –; sondern es sind die Eigentümlichkeiten rationalen
Rechts, die aus der Trägerschicht der Rechtshonoratioren – dank den
Anforderungen der Prozessin-struktionen – in die Richtung analytischer
373
Pandekten sind Umfangreiche Auszüge aus den klassischen römischen Juristenschriften,
welche Justinian im Rahmen seines Gesetzgebungswerkes sammeln und aufzeichnen ließ
(530-533n.Chr.). Sie bilden - neben Institutionen, Konstitutionen (Codex) und Novellen den wichtigsten Bestandteil der später als Corpus iuris civilis bezeichneten justinianischen
Kodifikation.
374
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 466.
141
Begriffsbildung lenkt und unter dem Einfluss bürokratischer Rationalisierung
einen zunehmend systematischen Charakter annimmt.
Am Beispiel des römischen Rechts375 lässt sich somit demonstrieren, dass die
jeweiligen Interessen einer Trägerschicht zwar für die Ausbildung bestimmter
Dimensionen rationalen Rechts förderlich oder hinderlich sind, dass die
Auswirkungen auf die Eigenarten des Rechtssystems aber nicht nur von diesen
„innerjuristischen Verhältnissen“ abhängen, sondern dem Zusammenspiel mit
den Eigengesetzlichkeiten anderer Sphären unterliegen.
Fragen zur sechsten Vorlesung
1.
Es lassen sich unterschiedliche Erklärungsstrategien für den
Wandel zum modernen, rationalen Recht bei Weber unterscheiden.
375
Ein Lob auf Webers Sicht des Römischen Rechts wird zuletzt angestimmt bei: Franz
Wieacker, Römische Rechtsgeschichte. Quellenkunde, Rechtsbildung, Jurisprudenz und
Rechtsliteratur. Erster Abschnitt, München 1988; vgl. hierzu die Besprechung von Dieter
Simon, 100 Jahre römische Rechtsgeschichte, in: Rechtshistorisches Journal 8, 1989,
S. 94-100.
142
a. Benennen sie die dualen Entwicklungsschemata
(Status/Kontrakt etc.) und erläutern Sie den jeweiligen
Grundgedanken.
b. Schildern sie den Grundgedanken der Deutung der
rechtlichen Rationalisierung als „Entfaltung der
Eigengesetzlichkeit“!
2. Wenn hierbei die „innerjuristischen Verhältnisse“
ausschlaggebend sind, wie entsteht denn aus der inneren Logik
der rechtlichen Sphäre das „Neue“ (Rationalisierung durch
„Diskurs“, durch „Tradition“, durch Gefühlskulturen (?), durch
Charisma)?
3. Inwiefern sind die Träger der Rechtsentwicklung für die
„Richtung“ der Rechtsentwicklung entscheidend? Worin
bestehen die spezifischen Rationalisierungschancen bzw.
Hemmnisse
a. der anwaltsmäßigen, handwerklichen Schulung?
b. der Universitätsausbildung?
c. der Priesterschulen?
d. der Honoratiorenjustiz?
143
Siebte Vorlesung
Recht und Religion
in der Entwicklung des Rechts
In Webers Bild der okzidentalen Moderne spielt die religiöse Ethik bekanntlich
eine herausragende Rolle. Gilt dies auch für die Entwicklung des okzidentalen
Rechts, dessen einzigartigen Charakter Weber ständig herauskehrt?376 Ist sie
unter den „außerjuristischen Verhältnissen“ das entscheidende Moment?
Wir haben gesehen, wie die inneren Eigengesetzlichkeiten des Rechts durch
„innerjuristische“ Strukturen befördert werden, die Weber als Trägerschichten
bezeichnet. Webers umfassendste Formel zu den Ursprüngen des okzidentalen
Rationalismus hatten wir in der Antwort auf die Frage identifiziert: „Welche
Sphären und in welche Richtung sie rationalisiert wurden.“377 Für die Analyse
des Rechts ist hierbei noch offen, inwieweit religiöse Faktoren die Weichen in
Richtung der „Rationalität“ mitgestellt haben.
1. Sakrales und Profanes im Römischen Recht
In der sog. „systematischen Religionssoziologie“378 führt Weber – mit Blick auf
die „Rechtssoziologie“ – als einen der maßgeblichen Gründe für den
376
Die Arbeit von Hubert Treiber bleibt u.E. zu sehr auf strukturelle Parallelen zwischen
Rechts- und Religionssoziologie fixiert (vgl. Hubert Treiber, „Wahlverwandtschaften zwischen Webers Religions- und Rechtssoziologie“, in: Stefan Breuer und Hubert Treiber
(Hrsg.), Zur Rechtssoziologie Max Webers, a.a.O., S. 6-68).
377
Max Weber, „Vorbemerkung“ zu den Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie,
Bd. 1, a.a.O., S. 12.
378
Sie wurde als Kap. V des zweiten Teils im ersten Halbband von Webers posthum
veröffentlichten Grundrissbeitrag noch vor der „Rechtssoziologie“ plaziert (vgl.
Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 245-381). Die Überschrift „Religionssoziologie
144
fundamentalen Unterschied asiatischer und okzidentaler Erlösungsreligiosität
gerade die Eigenart des römischen Rechts auf: „Von praktischen Momenten
kommt in Betracht“ – so Weber –, „dasß, aus noch zu erörternden Gründen, der
römische Okzident allein auf der gesamten Erde ein rationales Recht entwickelt
hatte und behielt.“379 Aber was hat die Ausbildung eines rationalen Rechts mit
der Beziehung von religiöser Ethik und Welt, Gotteskonzeption und Lösung der
Theodizeefrage zu tun, die über die Richtung der religiösen Rationalisierung
entscheidet? Webers Antwort unterstellt, dass unter der Herrschaft des
„rationalen Rechts“ auch die Beziehung von profaner und heiliger Welt als ein
Rechtsverhältnis begriffen wird. So fährt Weber fort: „Die Beziehung zu Gott
wurde in spezifischem Maß eine Art von rechtlich definierbarem
Untertanenverhältnis, die Frage der Erlösung entschied sich in einer Art von
Rechtsverfahren, wie dies ja noch bei Anselm von Lauterburg charakteristisch
entwickelt ist.“380 Wenn aber die Beziehung des Menschen zu Gott als ein
„Rechtsverhältnis“ begriffen wird, bedarf dann die Sündenhaftigkeit und
Verderbtheit der menschlichen Handlungen nicht einer entsprechenden
„Rechtfertigung“? Bevor wir auf diesen Zusammenhang von protestantischer
Ethik und juristischem Hintergrund der theologisch zentralen Frage der
„Rechtfertigung“ insistieren, bleibt das Problem der Beziehung von sakralem
und profanem Recht in Rom bestehen. Wir hatten bei der Analyse
unterschiedlicher Träger der Rationalisierung gesehen, dass nicht die
Priesterschulen, sondern die weltliche Honoratiorenschicht das rationale Recht
als ein säkularisiertes „jus“ beförderten, obwohl die rituellen Pflichten einen ungeheuren Raum im römischen Leben einnahmen. In der „Rechtssoziologie“, in
der Weber ja sogar eine juristische Überformung des religiösen Alltags im
Sinne einer „rein formalistischen und juristischen Behandlung religiöser
(Typen religiöser Vergemeinschaftung)“ ist eher „untypisch“ für Weber, der gewiss keine
Regionalsoziologien propagieren wollte. Vgl. jetzt: Wirtschaft und Gesellschaft. Die
Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlass. Teilband 2:
Religiöse Gemeinschaften. Herausgegeben von Hans G. Kippenberg in Zusammenarbeit
mit Petra Schilm und unter Mitwirkung von Jutta Niemeier. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul
Siebeck) 2001.
379
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 335 (eigene Hervorh.).
380
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 335.
145
Dinge“381 annimmt, ist dies das Ergebnis der „Unterwerfung der priesterlichen
unter die profane Gewalt“382. Der Konflikt von „Recht“ und „Religion“ ist hier
also politisch, nach dem Machtverhältnis theokratischer und profaner Herrschaft entschieden.
2. Rechtspartikularismus in Indien
In Indien ist das Verhältnis gerade umgekehrt: die herrschende Priesterschaft,
die Brahmanen, reglementieren das gesamte Leben ritualistisch, während die
profane Rechtsbildung auf die Entwicklung von Partikularrechten der
einzelnen Berufsstände begrenzt ist. Weil diese Rechtsgebiete aber nicht einer
Priesterlehre oder irgendeiner, in Indien so hoch entwickelten intellektuellen
Durchdringung unterlagen, fehlten jegliche Ansätze einer rechtlichen
Rationalisierung.383 Diese Konsequenz ergibt sich allein aus der
„Eigengesetzlichkeit“ der Trägerschichten, die wir oben entwickelt haben.
In der systematischen Indienstudie384 hingegen kommen weitere, innerreligiöse
Erklärungsmomente hinzu, die den entstehenden Polymorphismus der diversen
Ethiken und das Fehlen eines jeden universalistischen Rechts verständlich
machen. Die intellektuell geniale Lösung des Theodizeeproblems in der
Karmalehre, eine höchst „rationale“ Lösung der spezifischen Problemstellung
der religiösen Sphäre, hat nämlich höchst irrationale Konsequenzen für die
übrigen Lebensbereiche: „Denn da nicht nur die Kastengliederung der Welt,
381
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 464.
382
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 472, wobei wiederum auf die
„Religionssoziologie“ verwiesen wird, in der die „Eigentümlichkeiten der römischen
Götterwelt“ behandelt sind, wo sich andererseits der Verweis auf die „Rechtssoziologie“
findet. Also auch bei Weber eine Verschlingung von „Recht“ und „Religion“?
383
Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 473.
384
Max Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hindusimus und Buddhismus, zuerst als Artikelfolge im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, abgedr. in: Gesammlte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 2, a.a.O.
146
sondern ebenso die Abstufung göttlicher, menschlicher, tierischer Wesen aller
Rangstufen von der Karmalehre aus dem Prinzip der Vergeltung vorgetaner
Werke abgeleitet wurde, so war für sie das Nebeneinanderbestehen von
ständischen Ethiken, die untereinander nicht nur verschieden, sondern geradezu
einander schroff widerstreitend waren, gar kein Problem. Es konnte – im
Prinzip – ein Berufs-Dharma für Prostituierte, Räuber und Diebe ganz ebenso
geben wie für Brahmanen und Könige.“385 Im Unterschied zum klassischen
Konfuzianismus waren die Menschen eben nicht gleich, sondern sie hatten
allenfalls gleiche Chancen, im Rad der Wiedergeburt einen besseren oder auch:
schlechteren Platz zu erlangen. Absolute „Sünden“ oder Normverstöße kann es
gar nicht geben, sondern nur die Verletzung partikularer Ritualpflichten. Für die
Entwicklung irgendeiner Art von übergeordneter normativer Ordnung – wie sie
im Okzident vom Naturrecht entwickelt wurde – ist hier kein Raum.386 Weder
„Rechte“ noch „Pflichten“, „Staat“, „Untertan“ oder „Staatsbürger“ sind in
dieser religiösen Ethik denkbar, nur das ständische „Dharma“ reguliert das –
wie Weber es nennt: „hinduistische soziale System“.387 Hieraus aber resultiert
nach Weber, „daß der Stellung des Fürsten und der Politik in eigentümlich
penetranter Art ihre Eigengesetzlichkeit gewahrt bleibt.“388 Dies aber führt nicht
zur Entfaltung „rationaler“ Politik, sondern zum „nackten Macchiavellismus“.389
Am Beispiel Indiens wird somit sichtbar, wie weit die Folgen einer religiösen
Ethik reichen, der jede universalistische Tendenz fehlt. Es sind keine Impulse
für die Ausbildung abstrakter ethischer und das heißt eben auch: juristischer
Kategorien vorhanden. Die Politik ist in keinster Weise ethisch-rechtlich
temperiert und die Ökonomie leidet gewiss nicht an mangelndem
Gewinnstreben, aber – im Vergleich mit der okzidentalen Entwicklung – fehlt
es am methodisch-rationalen Erwerbsstreben. Ohne einen rechtlich
konstruierten und ethisch reglementierten „Staat“ ist aber auch die für das
385
Max Weber, Hinduismus und Buddhismus, a.a.O., S. 142.
386
Max Weber, Hinduismus und Buddhismus, a.a.O., S. 145.
387
So die Überschrift des ersten Kapitels der Indienstudie. Der Begriff des „sozialen Systems“ ist also durchaus bei Max Weber zu finden.
388
Max Weber, Hinduismus und Buddhismus, a.a.O., S. 144.
389
Vgl. hierzu jetzt auch die Ausführungen von Mashiro Noguchi, Kampf und Kultur, a.a.O.
147
Wirtschaftsleben erforderliche Rechtsgarantie nur unvollkommen.390 Die in der
Karmalehre religiös legitimierte und sozial-strukturell durch die Kastenordnung
bedingte „Dharma-Lehre“ hat also keinerlei Ansätze für eine rechtliche
Rationalisierung des indischen Lebens geboten.
3. Die mangelnde Spannung
von positivem Recht und Naturrecht in China
In China hingegen scheint die alleinherrschende Schicht der Literatenbürokratie
einer rechtlichen Rationalisierung eher günstig zu sein. Denn die Impulse zu
einer Systematisierung des Rechtsstoffes gehen ja gerade von einer
bürokratischen Trägerschicht aus. Gleichwohl hat es – wie Weber in der
„Rechtssoziologie“ bemerkt391–eine rationalistische Tendenz im chinesischen
„Recht“ nicht gegeben. Eine Antwort findet sich – wie zum „indischen“ Recht –
in den „Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie“, der Studie über
„Konfuzianismus und Taoismus“. Die Fragestellung ist dort unzweideutig auch
auf die Eigenart des Rechts bezogen: „Aber warum blieb diese Verwaltung
und Justiz so ... irrational? – dies ist die entscheidende Frage.“392 Dabei
bestreitet Weber keineswegs, dass es einen eigenen, konfuzianischen
„Rationalismus“ gegeben habe. Nur habe dieser n i c h t zu einer
Rationalisierung der Ordnungen dieser Welt durch aktive Gestaltung geführt,
sondern zu einer Anpassung an die ewigen, übergöttlichen Ordnungen, das Tao,
und an die sozialen Erfordernisse, die sich aus der kosmischen Harmonie
ergeben. Eine „Rationalisierung“ fand auch in dem Sinne statt, als die
Gefühlskultur von allen orgiastischen und asketischen Zügen befreit wurde, die
der
Ausbildung
des
Gentleman-Ideals
wohltemperierter
Selbst-
390
Die Indienstudie ist u.E., ex negativo, der stärkste Beleg für die Interpenetrationsthese von
Richard Münch!
391
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 475 f.
392
Max Weber, Konfuzianismus und Taoismus, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, a.a.O., S. 394.
148
vervollkommnung entgegengestanden hätten.393 Ein rationales „Recht“ hat
dieser konfuzianische Rationalismus der Weltanpassung nicht hervorgebracht.
Einmal waren die Grundzüge der Sozialstruktur einer solchen Entwicklung
nicht günstig. Die Macht der Sippen war ungebrochen und fand ihren
politischen Ausdruck in der Selbstverwaltung der Dörfer, während die Stadt394 –
in Ermangelung eines rechtlichen Korporationsbegriffs395– nicht zum Träger
einer autonomen Rechtsentwicklung werden konnte, wie dies für die
okzidentale Stadt galt. So fehlten trotz verschiedener Ansätze zu einer
gesinnungsethischen Sublimierung des Strafrechts,396 Vorstellungen über
„Freiheitsrechte“ im politischen Sinn oder in der Richtung einer naturrechtlich
individualistischen Erwerbsethik.397 Die an klassischen Texten geschulte
Bildung der Literati, deren Qualifikation getestet wurde,398 verirrte sich aber
nicht in die Verschriftlichung der rechtlichen Belange des Alltags. Überdies
wäre aufgrund der Eigentümlichkeiten der chinesischen Schrift399 der Alltag für
die Massen kein Stück weit „lesbarer“ geworden. An den Eigentümlichkeiten
der monopolisierten Bildung der Literati mag es auch liegen, dass – wie Weber
erwähnt –sich ein eigener Anwaltsstand n i c h t herausbildete.400 Vielmehr galt
eine vollständige Mischung von Verwaltung und Rechtsfindung, so dass es an
393
Vgl. Max Weber, Konfuzianismus und Taoismus, a.a.O., S. 530 unter Hinweis auf Ludwig
Klages zur Charakterisierung des Gegenbildes der Selbstkontrolle im Puritanismus.
394
Vgl. hierzu Sybille van der Sprenkel, Die politische Ordnung Chinas auf lokaler Ebene:
Dörfer und Städte, in: Wolfgang Schluchter (Hrsg.), Max Webers Studie über
Konfuzianismus und Taoismus, Frankfurt am Main 1983, S. 91-113.
395
Max Weber, Konfuzianismus und Taoismus, a.a.O., S. 381.
396
Hier nennt Weber die Studien von Josef Kohler, die Emile Durkheim in der Année sociologique so eifrig rezensiert hat.
397
Max Weber, Konfuzianismus und Taoismus, a.a.O., S. 436.
398
Vgl. zum Stand der Literati: Peter Weber-Schäfer, Die konfuzianischen Literaten und die
Grundwerte des Konfuzianismus, in: Wolfgang Schluchter (Hrsg.), Max Webers Studie
über Konfuzianismus und Taoismus, a.a.O., S. 202-228.
399
Max Weber, Konfuzianismus und Taoismus, a.a.O., S. 412 f.
400
Max Weber, Konfuzianismus und Taoismus, a.a.O., S. 393.
149
einem die Rationalisierung des Rechts im Sinne der Entwicklung „innerjuristischer Qualitäten“ fördernden Juristenstandes vollständig fehlte.401
Dies aber führte zu einer für die patrimoniale Staatsstruktur402 typischen
Differen-zierung der Herrschaft der Tradition einerseits und ungehemmter
Willkür andererseits, was vor allem dem gewerblichen Kapitalismus403
hinderlich ist. Dass es ein kalkulierbares Recht gibt, auch ohne
Systematisierung, zeigt das englische Beispiel. Nur dass es dort eine spezifische
Trägerschicht der Rechtspflege gab, die kapitalistischen Interessen
entgegenkam. Nur wenn diese mit einem „Beamtenrationalismus“
zusammentreffen, entsteht ein vollständig formal rationalisiertes Recht, sagt
Weber in der Chinastudie.404 Aus dem Fehlen beider Momente ergibt sich
bereits die Unwahrscheinlichkeit der Entwicklung rationaler Rechtsformen. Die
praktische Sozialethik aber blieb, der herrschenden Sozialstruktur entsprechend,
dem Muster organischer Pietätsbeziehungen verhaftet, wie sie in den fünf
natürlichen Pflichtenkreisen des Konfuzianismus festgelegt waren. Aus diesen
organischen Sozialbeziehungen aber konnte eine unpersönliche Geschäfts- und
Rechtsethik nicht hervorgehen, wie überhaupt jede „Verpflichtung gegenüber
‚sachlichen‘ Gemeinschaften“405 undenkbar ist.
Der Unterschied zur okzidentalen Entwicklung besteht in der Hemmung des rationalen Betriebskapitalismus, wofür Weber zunächst „das Fehlen des formal
garantierten Rechts und einer rationalen Verwaltung und Rechtspflege“406
verantwortlich macht, die ihrerseits aber mächtige kapitalistische Erwerbs- und
nicht Beuteinteressen voraussetzt.
401
Max Weber, Konfuzianismus und Taoismus, a.a.O., S. 392.
402
Vgl. hierzu jetzt Siegfried Hermes, Soziales Handeln und Struktur der Herrschaft. Max
Webers verstehende historische Soziologie am Beispiel des Patrimonialismus, a.a.O.
403
Max Weber, Konfuzianismus und Taoismus, a.a.O., S. 391.
404
Max Weber, Konfuzianismus und Taoismus, a.a.O., S. 438.
405
Max Weber, Konfuzianismus und Taoismus, a.a.O., S. 494.
406
Max Weber, Konfuzianismus und Taoismus, a.a.O., S. 494.
150
Entscheidend aber für die Rationalisierung von Recht und Wirtschaft ist die
Überwindung personalistischer Beziehungen, für die es in China nach Webers
Analysen keinerlei religiöse Impulse gab. Die Rationalisierung der
Wissenschaften verlief in die Richtung des magischen, durch Chronomanten
und Geomanten geprägten Weltbildes, in dem für eine philosophische,
theologische oder auch: juristische Logik kein Raum war.407 Und dies bestätigt
die von Weber behauptete Paradoxie der konfuzianischen Ethik auch fürs
Recht: Gerade das Pragma der Weltanpassung führt nicht zu einer Anpassung
der Welt an ihre „Eigengesetzlichkeiten“, sondern der unistische Einklang mit
der Welt setzt das dynamische Element einer Spannung zwischen „heiligem
und profanem Recht“ sowie einer Spannung von Naturrecht und materialer
Gerechtigkeit außer Kraft, die Weber in der okzidentalen Entwicklung für
ausschlaggebend hält.408
4. „Rationale“ und „irrationale“
Momente des islamischen Rechts
Im Unterschied zur konfuzianischen Ethik wird die Haltung des Islams als eine
Verbindung von Weltanpassung und Welteroberung charakterisiert.409 Ergeben
sich hieraus Konsequenzen für die Einschätzung seines Rechts?
Webers Theorie von der prägenden Kraft der Träger rechtlicher Rationalisierung macht die Tatsache zu schaffen, dass das „islamische heilige Recht“
durchweg Juristenrecht ist.410 Trotz zahlreicher Parallelen mit der Stellung des
Juristen im antiken Rom ist ihm aber – im Unterschied zur legitimen
407
Max Weber, Konfuzianismus und Taoismus, a.a.O., S. 481.
408
Zum chinesischen Recht mit Blick auf Webers China-Studie vgl. Karl Bünger, Das chinesische Rechtssystem und das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, in: Wolfgang Schluchter
(Hrsg.), Max Webers Studie über Konfuzianismus und Taoismus, a.a.O., S. 134-173.
409
Vgl. Wolfgang Schluchters „Einleitung“ zu Max Webers Sicht des Islam, Frankfurt am
Main 1987, S. 11-124.
410
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 475.
151
„interpretatio“ – die selbständige Interpretation der heiligen Schriften und der
Interpretation untersagt. Hierin sieht Weber nun das stärkste Hindernis für die
Entwicklung rationalen Rechts, nämlich die „Unmöglichkeit einer
systematischen Rechtsschöpfung zum Zweck der inneren und äußeren
Vereinheitlichung des Rechts.“411 Darüber hinaus steht die Begrenzung der
personalen Geltung auf die Rechtsgenossen des Islam einer Universalisierung
entgegen: „Die Folge war der Fortbestand der Rechtspartikularität in allen ihren
Formen: sowohl als ständische für die verschiedenen geduldeten und teils
positiv, teils negativ privilegierten Konfessionen, wie als Orts- oder
Berufsgebrauch nach dem Satz: Willkür bricht Landrecht ...“412 Weber vermisst
also neben der „Veränderbarkeit“ im Sinne der „Positivität“ des Rechts ihre
personale Einschränkung und schließlich die „logische Systematisierung des
Rechts in formalen juristischen Begriffen“.413
Patricia Crone hat in ihrer Kritik Webers ein ganz anderes Bild des islamischen
Rechts gezeichnet:414 So seien alle Personen als „gleich juristische Einheiten“
aufgefasst,415 obwohl im gleichen Atemzug erwähnt wird, dass hiervon Sklaven,
Frauen und (nicht-muslimische) Araber ausgenommen sind. Auch alle
Gegenstände würden in ähnlicher Weise als gleiche juristische „Einheiten“
aufgefasst, was unserem Begriff der „Sache“ entsprechen würde. Die
Unterscheidung zwischen Eigentum und Besitz sei voll entwickelt und der
dominante Vertragstyp seien die Zweck- und nicht die Statuskontrakte. Allein
die Eventual- und Versprechungsverträge seien aus Gründen des Schutzes der
Rechtsinteressenten vor riskanten Unternehmungen ausgeschlossen.416 Und im
411
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 475.
412
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 476 (eigene Hervorh.).
413
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 476.
414
Vgl. Patricia Crone, Max Weber, Das islamische Recht und die Entstehung des Kapitalismus,
in: Wolfgang Schluchter (Hrsg.), Max Webers Sicht des Islams, a.a.O., S. 294-
333.
415
Patricia Crone, Max Weber, Das islamische Recht und die Entstehung des Kapitalismus,
a.a.O., S. 305.
416
Patricia Crone, Max Weber, Das islamische Recht und die Entstehung des Kapitalismus,
a.a.O., S. 305.
152
Übrigen fehlten eine Reihe von Einrichtungen halt deshalb, weil niemand daran
gedacht habe, sie zu entwickeln. Auf diese Weise wird „erklärt“, dass es kein
Schadensersatzrecht, keine „Körperschaften“ und „juristische Personen“ gibt.417
Die Schlussfolgerung von Crone lautet überraschenderweise: „Im Weberschen
Sinne ist das islamische Recht also rational ...“418 Freilich könnte die Distanz zu
dem von Weber als „formal-rational“ definierten Recht kaum schärfer ausfallen.
Denn es fehlen ja auch die Rechtsvorstellungen, die nicht nur für den
kapitalistischen Erwerb und Verkehr nötig sind, sondern auch die juristisch
begrifflichen Voraussetzungen des säkularisierten Staates als einer vom
religiösen Leben abgetrennten „Anstalt“. Hierfür sind dann u.E. aber die
innerreligiösen Motive verantwortlich, die den Islam als eine auf Eroberung der
Welt zielende Religion der Weltanpassung kennzeichnet, die den
„Eigengesetzlichkeiten“ dieser Welt keinerlei legitime Geltung zuschreiben
kann. Und insofern bleibt das „Recht“ eben religiös-traditional überformt, was
eine „Systematisierung“ keineswegs ausschließt, vielleicht aber der
„analytischen“ Dimension und der Idee der „Konkretisierung“ einer den sachlichen Regelungsproblemen adäquaten Rechtsdogmatik zuwiderläuft.419 So bleibt
es bei Webers Verdikt: „Der Islam kennt der Theorie nach so gut wie kein
Gebiet des Rechtslebens, auf welchem nicht Ansprüche heiliger Normen der
Entwicklung profanen Rechts den Weg versperrten.“420
417
Patricia Crone, Max Weber, Das islamische Recht und die Entstehung des Kapitalismus,
a.a.O., S. 306.
418
Patricia Crone, Max Weber, Das islamische Recht und die Entstehung des Kapitalismus,
a.a.O., S. 306.
419
Der Grund für Crones Abwertung der Weberschen Analyse liegt einfach darin, dass sie
den idealtypischen Charakter des formal-rationalen Rechts nicht akzeptiert und im
Übrigen
Webers
Vorstellung
einer
Kombination
der
verschiedenen
Rationalitätsdimensionen verkennt. Für die tendenziöse Rezeption ist die folgende Stelle
ein eindeutiger Beleg. Sie behauptet: „Darüber hinaus ist die Idee eines lückenlosen
Systems soziologisch sinnlos“ (Patricia Crone, Max Weber, Das islamische Recht und die
Entstehung des Kapitalismus, a.a.O., S. 302). Weber hingegen hatte nur von dem Postulat
der Lückenlosigkeit gesprochen, was gerade den soziologisch relevanten Unterschied
ausmacht.
420
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 474.
153
5. Gesetzesreligion und
Religionsgesetz im Judentum
Webers Charakterisierung des jüdischen Rechts verdient in diesem Zusammenhang eine besondere Aufmerksamkeit. Einmal steht die latente Kritik an
Webers Protestantismusthese im Raum, nach der die Rolle des Judentums für
die Entstehung des Kapitalismus unterschätzt sei; sodann ist in der jüdischen
wie in keiner anderen Religion eine Prämie auf die Gesetzmäßigkeit des
Handelns gelegt, so dass der Typus eines religiös legitimierten Rechts und –
wie wir sehen werden – eines rechtlich geprägten Religionsverständnisses in
einmaliger Weise zusammenfallen.421
In der „Rechtssoziologie“ betont Weber die Schranken, die der talmudischen
Ju-risprudenz in die Richtung der Rationalisierung gesetzt sind: „Formell zeigte
die eigentliche talmudische Jurisprudenz jene typischen Eigenschaften heiliger
Rechte, deren merkliches Hervortreten hier aus der starken Schulmäßigkeit und
der – gerade in der Zeit der Entstehung der Mischna-Kommentare – relativ, im
Gegensatz zu früheren sowohl wie späteren Epochen, gelockerten Beziehung
zur Gerichtspraxis folgen mußte: ein erhebliches Überwiegen rein theoretisch
konstruierter, praktisch unlebendiger Kasuistik, welche bei den engen
Schranken rein rationaler Konstruktion doch nicht zu einer eigentlichen
Systematik sich fortbilden konnte.“422 Sind es also Defizite in der Dimension
der systematischen und im Übrigen analytischen Rationalisierung des Rechts,
so ist der mangelnde Bezug zu den Rechtsinstituten des Kapitalismus nicht
mehr verwunderlich: „Das genuin jüdische Recht als solches, gerade auch das
Obligationenrecht, ist schon seinem formalen Charakter nach, trotz einer
freieren Entwicklung der rechtsgeschäftlichen Typen, doch keineswegs ein
421
Vgl. aus der Sicht des prospektiven Herausgebers der Judentumsstudie Eckart Otto, Max
Webers Studien des antiken Judentums, Tübingen 2002; zu den Thesen in
„Gesellschaftstheorie und Recht“ in den Grundzügen zustimmend: Otto, ebd. S. 131 ff.
422
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 478 f.
154
besonders geeigneter Nährboden für solche Institute gewesen, wie sie der
moderne Kapitalismus braucht.“423
Diese negative Einschätzung steht freilich in einem gewissen Gegensatz zu der
von Weber im ersten Weltkrieg verfassten Artikelfolge über das antike
Judentum,424 die um einen posthumen Nachsatz über die „Pharisäer“425 zu
ergänzen ist. Weber zeichnet hier nämlich das faszinierende Bild einer Kultur,
in der sich Recht und Religion gegenseitig durchdringen, ohne zwangsläufig in
Konfusion und rationalitätshemmender Entdifferenzierung zu enden. Am
Anfang war nämlich kein Unrecht, sondern die Verbindung Jahwes zu dem von
ihm „voluntaristisch“ erwählten Volke beruhte auf einem gegenseitigen Bunde,
durch den die Juden als: politisch und religiöser Verband konstituiert wurden.
Da der Inhalt dieses Vertrages, des „berith“, die Einhaltung bestimmter
Pflichten vorsah, ergibt sich die außergewöhnliche Doppelgarantie der
Normen: „Alle Verletzungen der heiligen Satzungen waren also nicht nur
Verstöße gegen Ordnungen, die er garantiert, wie dies andere Götter auch tun,
sondern Verletzungen der feierlichsten Vertragsverpflichtungen gegen ihn
selbst.“426
Der Gott der Juden war also weder ein Lokal- noch ein Funktionsgott, sondern
ein durch Vertrag gebundener Gott eines Personenverbandes, des Bundesheeres.
Auch wenn dieser, in den verschiedenen Varianten des Dekalogs formulierte Inhalt später sakrosankt wurde, bestand die ursprüngliche Vorstellung in einer
geradezu modern anmutenden Idee der „Positivitä“ des Rechts. So heißt es in
der Studie zum antiken Judentum: „Nein, durch positive berith mit ihm war dies
positive Recht für Israel geschaffen; es war nicht immer dagewesen und es
423
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 479.
424
Als Aufsatzfolge im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 1917 und 1918 erschienen; im Folgenden zitiert nach: Max Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen.
Das antike Judentum, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 3, Tübingen
8. Aufl. 1988 (1921).
425
Abgedr. in: Max Weber, Das antike Judentum, a.a.O., S. 401-442.
426
Max Weber, Das antike Judentum, a.a.O., S. 140.
155
konnte sein, dass es durch neue Offenbarung und neue berith mit dem Gott
wieder geändert wurde.“427 Insofern barg also gerade das altjüdische Recht ein
Modell der Veränderbarkeit, und zwar gerade des „heiligen“ Rechts. Der berithGedanke wurde noch dadurch verschärft, dass er – in negativer Weise – in den
sog. kulturellen Dialog, als Verbot mit anderen einen „Bund“ zu schließen (Ex.
34,15), aufgenommen wurde.428 Jahwe ist also nicht nur ein Verbandsgott,
sondern universeller Rechtsschöpfer. Dies stand im größten Gegensatz zu
anderen, religiös geprägten Rechtsordnungen: „Das Recht war nicht ein ewiges
Tao oder Dharma, sondern eine positive göttliche Satzung, über deren
Innehaltung Jahwe eiferte.“429 Rechtssatzung und Rechtskontrolle fallen also
zusammen. Hieraus erklärt sich auch, warum das Auslegungsmonopol nicht
delegiert wird. So wird in Deut 4,2 ein radikales Auslegungsverbot formuliert,
das sich bis in den Talmud fortsetzt.430 Dieser rechtliche Bindungscharakter hat
weitreichende Folgen für die Beziehung des Volkes Israel zu Jahwe. Er
befördert nämlich die religiöse Rationalisierung in einer ganz bestimmten
Richtung. In den Resultaten zur Hinduismusstudie hatte Weber zwei Kriterien
der religiösen Rationalisierung angegeben: den Grad der Systematisierung und
die Abstufung der Magie. Wenn Jahwe die Einhaltung der Gebote fordert, dann
sind Opfer und andere Mittel des Gotteszwanges vollständig entwertet. Was
Jahwe also erwartet, ist Gehorsam wie einem Kriegsführer431 gegenüber, der
zugleich der oberste Gerichtsherr ist. Wenn Wohl und Wehe des Volkes also
von diesem Gehorsam abhängig sind, dann müssen den im Bund begründeten
Pflichten, denen Gehorsamsansprüche Jahwes korrespondieren, auch
427
Max Weber, Das antike Judentum, a.a.O., S. 141 f. (eigene Hervorh.).
428
So heißt es ebd.: „Hüte dich, einen Bund mit den Bewohnern des Landes zu schließen.“
429
Max Weber, Das antike Judentum, a.a.O., S. 142.
430
So wird in Schabbat 63 a die Rückkehr zum „Wortsinn“ postuliert, als Grenze der „Auslegung“ eine juristisch bekannte Figur, die hier freilich in einen narrativen Kontext eingebettet ist. Das gleiche gilt für die weitreichende Auslegungsmaxime der Interpretation aus
dem Gesamtzusammenhang, die wiederum kasuistisch expliziert wird (vgl. Sanhedrin 86
a).
431
Max Weber, Das antike Judentum, a.a.O., S. 146.
156
verständliche und befolgbare Befehle entsprechen.432 Allein hieraus erklärt sich
daher die ungeheure Bedeutung, die der Feststellung der rechtlichen Gebote im
Judentum beikommt. Wer diese für das religiöse Heil zentrale Rechtsfunktion
wahrnahm, hat von den Jahwepriestern433 über die Leviten zu den Propheten,
Pharisäern und Rabbinern geschwankt. Ihre Folge war zunächst ein
antimagischer Zug der Religion: „So drängte der in den genuin jahwistischen
Kreise lebendige Gedanke der ‚berith‘ alle Erforschung göttlichen Willens in
die Bahn einer mindestens relativ rationalen Fragestellung und rationalen
Mittel ihrer Beantwortung.“434
Das Prinzip der solidarischen Haftung des Volkes für die Verfehlungen des
Einzelnen steigerte diesen rationalen Zug nur weiter, obwohl die Konsequenzen
in höchster Weise irrationaler Art waren. Rechts- und Ritualkenntnis wurden
somit zum religiös bedingten Gebot des Verhaltens eines jeden Einzelnen.
Hieraus meinte Parsons – wie wir oben sahen435– die unvollständige Ausbildung
eines eigenen Juristenstandes herleiten zu können. Wenn andererseits die
Sanktionen Jahwes, der nicht nur ein eifersüchtiger, sondern rächender und
zürnender Gott ist, das gesamte Volk treffen, auch wenn nur Einzelne gefehlt
haben, verschärft sich die Theodizeeproblematik, die ja für Weber der
Bezugspunkt einer intellektuellen Rationalisierung ist.436 So war die Frage
unausweichlich, was denn dem Einzelnen die Erfüllung der Gebote Jahwes
nützte, wenn das Tun anderer ihn dennoch schuldlos in Unheil verstrickte. Die
Antwort war nicht eindeutig. Noch in der priesterlichen Redaktion steht die
Versicherung von Gottes Gnade und Barmherzigkeit neben der Vorstellung
einer bis ins dritte und vierte Glied durchschlagenden Rache. Die juristische
432
So
wird
Jahwe
ausdrücklich
von
Weber
als
„Herrscher“
(im
Sinne
der
„Herrschaftssoziologie“) bezeichnet; Max Weber, Das antike Judentum, a.a.O., S. 328.
433
So heißt es: „Damit aber steigerte sich die Notwendigkeit, Ritual und rechtskundige
Jahwepriester zur Erforschung des Willens des Gottes und der zu sühnenden Verfehlungen
angehen zu können.“ (Max Weber, Das antike Judentum, a.a.O., S. 177).
434
Max Weber, Das antike Judentum, a.a.O., S. 179.
435
Vgl. oben Zweiter Teil, Kap. 3.
436
Vgl. etwa die Passage in der „Systematischen Religionssoziologie“, in: Wirtschaft und
Gesellschaft, a.a.O., S. 314 ff.
157
Umformulierung der Verheißungen Jahwes für eine bessere politische Zukunft
in „bedingte Zusagen für den Fall des Wohlverhaltens“ entsprachen sicher mehr
den Interessen einer allumfassenden priesterlichen Seelsorge, während die
Gnadenhoffnungen eher dem politischen Feld entstammten. Auch von dieser
„Zwiespältigkeit“ wurde der Glaube an einen Gott der „gerechten Vergeltung“
nicht erschüttert.
Eine weitere Steigerung der religiös bedingten Ritual- und Gesetzesethik tritt
paradoxerweise durch den Typus eines religiösen Mittlers auf, der im höchsten
Maße irrational erscheint: den Propheten. Er liefert nämlich der
„Theologisierung des Rechts“ und der hiermit einhergehenden
„Rationalisierung der religiösen Ethik“ das gesinnungsethische Fundament.
Denn erst in der von Weber ausdrücklich als rational ausgezeichneten
expressiven Prophetie, die der asketischen Prophetie in den asiatischen
Religionen entgegengestellt wird,437 gelingt nach Weber der systematische
Bezug auf die Regulierung des Verhaltens, die über die äußerliche Erfüllung der
Gebote Jahwes und der interpretierenden Thoralehrer hinausgeht. So sind die
Worte der Propheten des Unheils eine einzige Folge von Fluchreden gegen die
Gesetzlosigkeit,438 die sich von den priesterlichen Hütern der Gesetzestreue
dadurch unterscheidet, dass sie im Unterschied zu den Thoralehrern kein Amtscharisma beanspruchen, sondern über ein persönliches Charisma verfügen.
Gegen
„Ritualismus“
setzen
die
Propheten
„massive
ethische
439
Werkgerechtigkeit“.
Die Prophetie ist dadurch eben nicht als Weltflucht gekennzeichnet, sondern sie
hat eindeutig innerweltliche Züge, die sogar in die Richtung der individuellen
Verantwortung gehen, wenn nach Hesekiel (Hes. 18,4) nur derjenige sterben
437
Vgl. Max Weber, Das antike Judentum, a.a.O., S. 298 ff.
438
Vgl. z.B. Habakuk 1,4: „Darum ist das Gesetz ohne Kraft und das Recht setzt sich gar
nicht mehr durch. Die Bösen umstellen den Gerechten und so wird das Recht verdreht.“
(vgl. auch Micha 3,1-4; 6,9 ff.).
439
Max Weber, Das antike Judentum, a.a.O., S. 298.
158
soll, der sündigt.440 Eine außerordentliche Prämie, im Solidarhaftgedanken
wegen der Unberechenbarkeit der Folgen noch erschwert, lag also auf dem
rechten innerweltlichen Verhalten: „Auf das sittlich richtige Handeln, und zwar
das Handeln gemäß der Alltagssittlichkeit, kam für das besondere, Israel in
Aussicht gestellte Heil alles an.“441
Insofern betont also gerade Weber – entgegen der Kritik Günter Stembergers442–
die Elemente innerwelticher Selbstkontrolle, die gerade von den Propheten auf
einen systematischen Punkt bezogen werden, die Verletzung der
Gerechtigkeit.443 Dieser Bezug ist so eng, dass im Zuge der antimagischen
Tendenz nicht Wunder und Zauberwirkung den wahren vom falschen Propheten
scheidet, sondern die Anerkennung der Allmacht des Gesetzes. Warum diese
methodisch-rationale Selbstkontrolle gerade des religiös „tief“ empfindenden
Juden letztlich doch nicht mit der innerweltlichen Askese des Protestanten
konkurrieren konnte, ergibt sich nach Weber aus dem partikularistischen
Geltungsanspruch dieser religiös bedingten Alltagsethik, d.h.: der Trennung
von Binnen- und Außenmoral.
Im Innenverhältnis aber galt, dass die Propheten des innerweltlichen Unheils
sich jedweder mystischen Innewerdung mit dem Göttlichen entzogen und daher
mit der Autorität des Propheten auf der Achtung der Pflichten und Gebote
Jahwes insistierten. Dieser „rationale“ Charakter der Prophetie tritt daher als ein
„Verstärker“ der vorhandenen Tendenzen auf, die durch „die Geistesarbeit der
440
Dies bedeutet eine Einschränkung der Solidarhaft und ist um ein ethisches
„Aufrechnungsverbot“ ergänzt.
441
Max Weber, Das antike Judentum, a.a.O., S. 311.
442
Vgl. Günter Stemberger, Das rabbinische Judentum in der Darstellung Max Webers, in:
Max Webers Studie über das antike Judentum. Interpretation und Kritik, hrsg. von Wolfgang Schluchter, Frankfurt am Main 1981, S. 185-200 (S. 198).
443
So heißt es bei Weber: „Es (Israel, W.G.) zieht sich seinen Grimm zu vor allem durch
Verletzung der ‚Gerechtigkeit‘, das hieß aber: der ihm eigentümlichen sozialen
Institutionen.“ (Max Weber, Das antike Judentum, a.a.O., S. 316).
159
israelitischen Rechtsprechung und Weisheitslehre“444 vorgezeichnet ist. Es sind
also Propheten der bestehenden normativen Ordnung, nicht die Rufer nach der
neuen Ordnung: „Vollends anomistische Konsequenzen des ekstatischen
Gottesbesitzes wurden scharf abgelehnt. Ein Lügenprophet ist nach Jeremia
jeder, der das Gesetz Jahwes mißachtet und das Volk nicht zu ihm hinzuführen
trachtet.“445 In diesem sehr konkreten Sinne könnte man auch Durkheim einen
soziologischen Propheten des Gesetzes nennen,446 dem gerade „anomistische
Konsequenzen“ ein Greuel sind. Nur hat Durkheim der im antiken Judentum
unlösbaren Theodizeefrage mit der paradoxen Folge, dass schließlich der
Eintritt des prophezeiten Unheils als Indikator des Erwähltseins galt, in der
„Normalitätsthese“447 eine ganz andere Wendung gegeben. Der Normbruch ist
eine individuelle Verfehlung, aber gleichzeitig eine funktionale Notwendigkeit
des sozialen Lebens.
Aber kehren wir zu der von Weber betonten Aufteilung der normativen Sphäre
in eine Binnen- und Außenwelt zurück! Weber geht es hierbei nicht um die für
traditionale Ordnungen banale Feststellung, dass zwischen den Normen, die den
Sippengenossen binden, und den ethischen Außenbeziehungen überhaupt
geschieden wird. Dies war ja nicht zuletzt im Recht der Römer auch der Fall.
Und es geht Weber auch nicht um die Richtung der gesonderten Außenmoral,
die im Zinsverbot nach innen und der Erlaubnis des Zinsnehmens nach außen,
ja gerade für die Entwicklung des rationalen Kapitalismus hätte förderlich sein
können. Gegen diese Argumentation spricht einmal die Tatsache, dass auch im
Binnenverhältnis der gläubigen Juden untereinander das Zinsverbot praktisch
umgangen wird, nämlich durch die juristische Konstruktion eines solidarischen
444
Max Weber, Das antike Judentum, a.a.O., S. 318.
445
Max Weber, Das antike Judentum, a.a.O., S. 330 (eigene Hervorh.); der Unterschied zur
levitischen Thora-Lehre liegt in der Entwicklung eines glaubensmäßigen unbedingten
Vertrauens, das gegenüber der „legalistischen“ Innehaltung einzelner Vorschriften
Vorrang besitzt (vgl. Max Weber, Das antike Judentum, a.a.O., S. 333 ff.).
446
Dies sagen wir – im Unterschied zum eher metaphorischen Gebrauch bei Terry N.,
Prophets and Patrons, 1973.
447
Vgl. Emile Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, a.a.O., S. 141 ff.; siehe
auch: Werner Gephart, Strafe und Verbrechen. Die Theorie Emile Durkheims, a.a.O., S. 4
ff.
160
Partnerschaftsvertrages zwischen Bank und Sparer, der die „Zinsen“ formell als
„Gewinnbeteiligung“ deklariert.448 Außerdem ist das Bild zu einfach wenn nicht
tendenziös, wonach die Trennung von Binnen- und Außenmoral sozusagen
einen ethischen Freiraum nach außen schaffen würde. Für Webers Argument
der Entstehung des rationalen Kapitalismus aus einer Wirtschaftsethik war ja
auch nicht die Entfesselung hemmungsloser Erwerbstriebe entscheidend,
sondern im Gegenteil die Verheißung einer religiösen Prämie auf eine
„ethische“ Gestaltung der ökonomischen Außenbeziehungen. Hieran aber fehlte
es nach Weber449 trotz aller Ansätze, das wirtschaftliche Wohlergehen auch als
Anzeichen religiöser Bewährung zu betrachten.450
Dies musste erst recht geschehen, nachdem die „urwüchsige“ Differenzierung
von Binnen- und Außenmoral mit der Situation des Pariavolkes in der Diaspora
auf Dauer zusammenfiel. Die Erschwerung der Kommensalität durch
Speiseverbote und Schlachtrituale und der Ausschluss des Konnubium führten
zwar zu einer Festigung nicht nur der Binnenmoral, sondern auch der
Binnensolidarität – wie gerade Durkheim am Beispiel der geringen
Selbstmordrate von Juden zeigte – aber das Geflecht aus religiösen Geboten,
Ritualvorschriften und Rechtsregeln blieb dem Einfluss ihrer religiösautoritativen Interpreten,451 den Rabbinern, unterworfen. Diese aber ließen –
auch auf Grund des Verbots, gegen Entgelt zu lehren – keine Ansätze für eine
systematische Rechtsbildung oder eine fortdauernde Anpassung an die
448
Diese „Umgehung“ des Zinsverbots ist bei Günter Stemberger, Das rabbinische Judentum
in der Darstellung Max Webers, a.a.O., S. 194 ff., wiedergegeben.
449
Siehe Max Weber, Das antike Judentum, a.a.O., S. 359.
450
Dies betont vor allem Stemberger, Das rabbinische Judentum in der Darstellung Max
Webers, a.a.O.; doch gehen die Widerlegungsversuche insgesamt an Weber vorbei. Auch
wenn im Talmud strikte Rechtlichkeit gegenüber dem Nichtjuden gefordert wird, erwächst
hieraus noch nicht die umgekehrte Folge ethischer Sonderpflichten bis zur utilitaristischen
Umdeutung als: „honesty is the best policy“.
451
So charakterisiert sie Weber im Nachtrag „Die Pharisäer“, in: Gesammelte Aufsätze zur
Religionssoziologie, Bd. 3, a.a.O., S. 431.
161
Ordnungen452 dieser Welt erkennen. Hierfür freilich macht Weber nicht nur das
innerreligiös bedingte Auslegungsverbot verantwortlich, was ja eine intensive
Bindung an das Gesetz zur Folge hat, sondern die technische Eigenart der
Gesetzesinterpretation der Rabbiner wird aus ihrer kleinbürgerlich stadtsässigen
Lage erklärt,453 der ein ethisch-praktischer Rationalismus näher liegt als ein
theoretischer, die „ratio“ mehr gilt als die Bildung systematisch tauglicher
Begriffbildung.
Webers Studie zum antiken Judentum ist also nicht nur der religionsgeschichtlichen Frage gewidmet, warum aus der jüdischen Religion der entscheidende
Impuls zur Entstehung des rationalen Kapitalismus nicht hervorging, sondern
sie ist ebenso als rechtshistorische Studie zu lesen, warum die Antriebe zu einer
rationalen Entwicklung des Rechts so schwach blieben, obwohl der einzigartige
Charakter der jüdischen Religion gerade darin besteht, dass die Beachtung des
Gesetzes nicht nur oberstes Rechtsgebot, sondern allererste religiöse Pflicht ist.
6. Kanonisches Recht als Ausgangspunkt
der okzidentalen Rationalisierung des Rechts
Der Beitrag des Christentums zur Rationalisierung des Rechts wird hingegen
außerordentlich hoch veranschlagt. In den Traditionen der antiken Philosophen
und des römischen Rechts entstand ein eigenes, rational geschaffenes Kirchenrecht: „In ungleich stärkerem Maße als irgendeine andere religiöse
Gemeinschaft hat ... die okzidentale Kirche den Weg der Rechtschöpfung durch
rationale Satzung beschritten.“454
Hierfür war einmal der Anstaltscharakter der Kirche selbst verantwortlich und
ihre bürokratische Struktur, die eine besondere Nähe zum rationalen Recht auf452
Weil der berith-Gedanke sich von der „historisch bedingten Form des politischen Verbandes“ in ein „theologisches Konstruktionsmittel“ (Max Weber, ... a.a.O., S. 356 f.) verwandelte, müsste u.E. das ursprüngliche Moment der positiven Satzung verloren gehen.
453
Max Weber, Die Pharisäer, a.a.O., S. 432.
454
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 480.
162
weist, wie noch genauer zu erläutern ist. Es kamen aber Gründe der christlichen
Ethik hinzu, die den zu wahrenden Bestand an ethischen Normen auf ein Minimum begrenzte, was Weber auf die im Unterschied zum Judentum bestehende
„eschatologische
Weltabgewandtheit“
zurückführt.
Die
normative
Unterbestimmtheit der Alltagsethik schafft somit, in der christlichen Ethik, auch
Entwicklungsräume für die Entfaltung neuer Normen.
Aus diesen Sonderumständen wird Weber das kanonische Recht zum Führer zur
Rationalität des profanen Rechts. Die „Kirchen“ sind die ersten „Anstalten“ im
Rechtssinn. Im Prozessrecht schließlich wird die Verhandlungsmaxime vor dem
Hintergrund der religiösen Vorstellung objektiver Wahrheit ersetzt.455 Nicht
zuletzt stammt der für Webers eigene Theorie der Herrschaft so zentrale Begriff
des „Charisma“ nicht aus dem religiösen Sprachgebrauch, sondern der
juristischen Terminologie des Kirchenrechts.456 Wie jedoch die von Weber in
Bezug genommene Quelle, das Kirchenrecht von Sohm457 belegt, stammt der
Begriff aus dem juristischen, nämlich kirchenrechtlichen Kontext, auf den die
Idee charismatischer Rechtsschöpfung nunmehr zurückgewendet ist. Der
„Tradition“ gegenüber ist das „Charisma“ revolutionären Charakters. So heißt
es: „Die Rechtsoffenbarung in diesen Formen ist das urwüchsige
revolutionierende Element gegenüber der Stabilität der Tradition und die Mutter
aller ‚Satzung‘ von Recht.“458
7. Die unbedeutende Rolle der protestantischen Ethik
für die Genese des okzidentalen Rechts
Webers Auskunft über die Bedeutung der protestantischen Ethik für die Entwicklung rationalen Rechts bleibt in der „Rechtssoziologie“ eigentümlich blass.
455
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 481.
456
Zur Rechtsvorstellung im Christentum vgl. im Übrigen J. Duncan, M. Derrett, Recht und
Religion im neuen Testament, in: Max Webers Sicht des antiken Christentums, hrsg. von
Wolfgang Schluchter, Frankfurt am Main 1985, S. 317-362.
457
Vgl. Rudolph Sohm, Kirchenrecht, Bd. 1, Leipzig 1892.
458
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 446.
163
Es ist nur der fiktive Endpunkt einer Entwicklung des Rechts, der selbst nicht
mehr ausgezeichnet wird. Nur die Trägerschicht ist klar umrissen: „ ... so
pflegen die bürgerlichen Schichten im allgemeinen am stärksten an rationaler
Rechtspraxis, und dadurch auch an einem systematisierten, eindeutigen,
zweckrational geschaffenen formalen Recht interessiert zu sein, welches
Traditionsgebundenheit und Willkür gleichermaßen ausschließt und also
subjektives Recht nur aus objektiven Normen hervorgehen läßt.“459 Wo aber
finden sich die Beispiele für dieses im spezifischen Sinne „bürgerliche“ Recht:
„Die englischen Puritaner haben ein solches systematisch kodifiziertes Recht
ebenso wie die römischen Plebejer und das deutsche Bürgertum des 19.
Jahrhunderts verlangt.“460
Dass Weber diesen Gedanken über den möglichen Zusammenhang von
puritanischer Ethik und Rechtsentwicklung nicht weiter ausführt, ist angesichts
der offenkundig schwierigen Beweisführung nicht weiter verwunderlich. Denn
gerade im Einflussbereich der protestantischen Ethik ist ein systematisch und
analytisch, konkretes wie abstraktes rationales Recht n i c h t ausgebildet
worden. Man könnte diesen Tatbestand mit weitreichenden Folgen gegen die
Gültigkeit der Protestantismusthese selbst anführen, obwohl Weber selbst die
Reduzierung des sozialen Lebens auf „eine Formel“ lieber den Dilettanten
überlassen möchte. So schreibt Weber zum Ende der Protestantismusthese: „Es
wäre ein Leichtes gewesen, darüber hinaus zu einer förmlichen ‚Konstruktion‘,
die alles an der modernen Kultur ‚Charakteristische‘ aus dem protestantischen
Rationalismus logisch deduzierte, fortzuschreiten.“461 Ohne jeden Verdacht des
Dilettantismus, im Geiste fachwissenschaftlicher Arbeit verfasst, war Weber
freilich eine Studie über den Zusammenhang von protestantischer Ethik und
Recht durchaus bekannt, die Webers genereller Protestantismusthese zumindest
459
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 472.
460
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 472.
461
Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, a.a.O., S. 206, Fn.
3 von S. 205.
164
zeitlich voranging: Die Schrift von Georg Jellinek über die Erklärung der
Menschen- und Bürgerrechte.462
Gegen die erbitterte Kritik der französischen Rechtslehrer, die zum weiteren
juristischen Umfeld der Durkheim-Schule gehören, z.B. Duguit und HauRiou,463
hält Jellinek an der eindeutigen These fest, dass der rechtsgeschichtliche
Ursprung der „Déclaration des droits de l'homme“ nicht dem Einfluss
Rousseaus und überhaupt romanischem Rechtsdenken entspreche, sondern von
einem germanischen Ursprung,464 in der Magna Charta über die Strömungen der
Reformation, in den Verfassungsbestrebungen des independistischen und
puritanischen Neuen England realisiert worden sei.465 Trotz aller
Verwandtschaft mit Webers Argumentationsweise466 muss freilich beachtet
werden, dass Jellinek in die innerreligiöse Thematik n i c h t eindringt.467 Denn
die These von der fundamentalen Bedeutung der Religionsfreiheit, die sich im
Übrigen in der Virginia Bill of Rights erst ganz am Ende findet, ließe sich
umstandslos aus den „Interessen“ der Kolonisten herleiten, ihr Motiv der
Auswanderung nunmehr auch rechtlich abzusichern. Auch der
religionsgeschichtliche
Zusammenhang
von
„Individualismus“
und
Menschenrechten468 bleibt unbefriedigend ebenso wie die Vorstellung einer
462
Die erste Auflage datiert aus dem Jahre 1895, die zweite (1903) bezieht die vehemente
Kritik, namentlich aus Frankreich mit ein, während in der von Walther Jellinek posthum
herausgebrachten Ausgabe die von Georg Jellinek für eine weitere Auflage vorbereiteten
Änderungen eingearbeitet wurden, vgl. Georg Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und
Bürgerrechte. 3. Aufl., München und Leipzig 1919.
463
Es ist nicht auszuschließen, dass durch diese Kontroverse die Rezeption der weitergreifenden Protestantismusthese Webers in Frankreich bereits negativ vorbelastet war.
464
Georg Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, a.a.O., S. 72 ff.
465
Georg Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, a.a.O., S. 64 ff.
466
So ist allein die Art, aus religiösen Ursprüngen außerreligiöse Konsequenzen abzuleiten,
für Webers vergleichende religionssoziologische Studien maßgeblich.
467
So werden von Jellinek die verschiedenen, bei Weber sorgfältig geschiedenen, protestantischen Strömungen nicht weiter differenziert.
468
Vgl. Georg Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, a.a.O., S. 43.
165
religiös bedingten Temperierung der Staatsmacht. Allerdings wird bei Jellinek
der religiöse Ursprung des Vereinigungscharakters und seiner rechtlichen
Garantien ganz ebenso wie die voluntaristische Note der Soziallehre deutlich.
Dabei hätte Jellinek eine noch engere Verbindung zwischen der
Religionsfreiheit der Virginia Bill of Rights vom 12. Juni 1776 und dem Inhalt
der protestantischen Religionen ziehen können. So heißt es ja in Section 16:
„That religion, or the duty which we owe to our Creator, and the manner of
discharging it, can be directed only by reason and conviction, not by force or
violence ...“ Die von Parsons so bezeichneten „volontarian associations“ haben
also in den religiös bedingten Motiven der Sektenbildung – auch diesen
Zusammenhang erwähnt Jellinek469– ihren Grund. Ebenso eindeutig ist das
Resultat der Studie Jellineks: „Die Idee, unveräußerliche, angeborene,
geheiligte Rechte des Individuums gesetzlich festzustellen, ist nicht politischen,
sondern religiösen Ursprungs.“470 In gleicher Weise behauptet Weber, dass der
Geist des Kapitalismus nicht ökonomischen Ursprungs, sondern auch auf
religiösen Gründen beruhe!
Freilich ist die bei Weber formulierte Argumentation eine völlig andere,471 nämlich die Ausbildung einer methodisch-rationalen Lebensführung, die als Folge
der religiösen Prämierung innerweltlichen H a n d e l n s auftritt.472 Allerdings
469
So heißt es: „Die Vereinsfreiheit tritt zuerst in der Form der Sektenbildung auf.“ (Georg
Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, a.a.O., S. 61).
470
Georg Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, a.a.O., S. 57 (eigene
Hervorh. ).
471
Auf eine Analyse der Beziehungen Webers und Jellineks an dieser Stelle muss verzichtet
werden. Die auf Jellinek gehaltene Totenrede, die Verwandtschaften von Real- und
Idealtypus, der Staatsbegriff der Drei-Elementenlehre, die Übernahme der Idee subjektivöffentlicher Rechte wären vor dem Hintergrund des vorhandenen Briefmaterials zu deuten.
Der verdienstvolle Sammelband über „Max Weber und die Zeitgenossen“, hrsg. von
Wolfgang J. Schluchter und Wolfgang Schwentker, a.a.O., hat die Beziehungen Webers zu
zeitgenössischen Juristen nicht berücksichtigt.
472
Dass Jellinek andererseits der asketische Zug dieser protestantischen Bewegung nicht
entgangen ist, zeigt sich an der folgenden Passage: „Was man bisher für eine Frucht der
Revolution gehalten hat, ist in Wahrheit eine Frucht der Reformation und ihrer Kämpfe.
166
liegt u.E. gerade im Handlungsbezug die tiefere Beziehung von protestantischer
Ethik und dem Geist der Menschenrechte: Sie sind nämlich einmal – wie
Jellinek betont – negative Freiheitsrechte gegenüber dem Staat, eine allgemeine
Handlungsfreiheit voraussetzend, zum anderen aber auch die Rechte zur
aktiven Beherrschung des ökonomischen, sozialen und politischen Lebens.
Dieser unterschiedliche Akzent ist bis in die Formulierungen der „Déclaration
des droits de l'homme“ und der „Virginia Bill of Rights“ zu verspüren, selbst
dort, wo Jellimek noch die vermeintliche Identität der Bestimmungen sieht: So
wird in dem berühmten 17. Artikel im säkularisierten Pathos der kultischen
Revolutionssprache das Eigentum als „heilige“ Institution473 deklariert – auch
dies lässt sich bei Durkheim finden – während in der „Virginia Bill of Rights“
ausdrücklich der Vorgang des Erwerbens und Verfügens über Eigentum
(„aquiring and possessing of property“) als ein unverzichtbares Handlungsrecht
postuliert wird.
8. Die ambivalente Rationalität
des englischen Rechts
Aber lässt sich darüber hinaus aus der inneren Logik der protestantischen Ethik
irgend eine Tendenz zur systematischen Durchdringung des Rechtsstoffes über
den von uns skizzierten Konnex zum Handlungsthema hinaus feststellen? In
England jedenfalls ist ein solcher Effekt, wie Weber in seiner ambivalenten
Charakterisierung des englischen Rechts474 als einerseits relativ rationales und
Ihr erster Apostel ist nicht Lafayette, sondern jener Roger Williams, der, von gewaltigem,
tief religiösem Enthusiasmus getrieben, in die Einöde auszieht, um ein Reich der
Glaubensfreiheit zu gründen ...“ (Georg Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und
Bürgerrechte, a.a.O., S. 57). Erstaunlich bleibt, dass Jellinek, trotz der engen
Bekanntschaft mit Weber, in den der Protestantismusstudie Webers nachfolgenden
Auflagen diesen Zusammenhang gar nicht erwähnt!
473
So heißt es: „La propriété étant un droit inviolable et sacré, nul ne peut en être privé ... “
(eigene Hervorh.).
474
Vgl. im Übrigen über den Zusammenhang von protestantischer Ethik und Recht in
England die Studie von David Little, Religion, Order and Law. A Study in
Prerevolutionary England, Oxford 1969.
167
andererseits rationalisierungsunfähiges „case law“ immer wieder betont, gerade
n i c h t eingetreten. Dieser Tatbestand ließe sich als ein von Weber gar nicht
bemerkter Widerspruch monieren, mit Konsequenzen für den Geltungsanspruch
der Protestantismusthese. Es zeigt aber andererseits die Grenzen der
Verschlingung von Recht und Religion.
Unsere Rekonstruktion der Wechselwirkung von rechtlicher und religiöser
Rationalisierung konnte soweit unseren Interpretationsansatz weiter verstärken:
Selbst in den scheinbar weltabgewandten Studien zur „Wirtschaftsethik der
Weltreligionen“ nimmt die Betrachtung des Rechts einen ganz zentralen Raum
ein. Dies gilt für die Indien- und Chinastudie und in besonderem Maße für
Webers
Arbeit
zum
antiken
Judentum,
die
sowohl
unter
religionsgeschichtlichem wie aber ebenso unter rechtsgeschichtlichem
Blickwinkel zu lesen ist.
Aus den „innerjuristischen Verhältnissen“, nach denen sich die Richtung der
recht-lichen Rationalisierung ergibt, ist schon durch die jeweiligen
Trägerfiguren der juristischen „Offenbarung“ und ihrer „Propheten“ auf eine
außerrechtliche Sphäre, die Religion verwiesen. Es gibt aber eine ebenso enge
Verbindung zur Sphäre der Politik, ohne deren Einfluss die Rationalisierungen
des Rechts im Sinne dogmatischer Verfeinerungen gar nicht wirksam würden,
das heißt die politischen Mächte, von denen nach Weber die Systematisierung
des Rechts als Durchsetzung einer verbindlichen Rechtsordnung ausgeht.475
475
Vgl. insbes. § 6 der sog. „Rechtssoziologie“, Wirtschaft und Gesellschaft a.a.O., S. 482 ff.
; vgl. auch Werner Gephart, Juridische Grundlagen der Herrschaftslehre Max Webers, in:
Edith Hanke und Wolfgang J. Mommsen (HG.) Max Webers Herrschaftslehre, Tübingen
2001, S. 73-98.
168
Fragen zur siebten Vorlesung
1. Unter den außerjuristischen Verhältnissen kommt der Religion als
Bestimmungsgrund des Rechts eine besondere Bedeutung zu:
a. Stellen Sie das Grundargument der Protestantismusthese Webers dar!
b. Lässt sich aus diesem Deutungsansatz die Rolle des römischen
Rechts für den Prozess der okzidentalen Rationalisierung erklären?
2. Wenn Weber einen fundamentalen Zusammenhang zwischen den
Weltreligionen, dem von ihnen jeweils geprägten „Weltverhältnis“
behauptet, dann müssten die jeweiligen Weltreligionen auch auf das im
Recht verdichtete Weltverhältnis/verständnis haben.
a. Schildern Sie die Konsequenzen einer „weltflüchtigen“ Askese, wie
sie in der indischen Religiosität dominiert, in Verbindung mit der
partikularistischen Idee der „dharmas“ für die Chancen einer
rechtlichen „Rationalisierung“.
b. Aus welchen Gründen ist trotz einer erheblichen „Rationalität“ und
Zentralisation der Herrschaft in China eine Rationalisierung des
Rechts ausgeblieben? – Berücksichtigen Sie hierbei sowohl das
Qualifikationssystem der „Literati“, und das unistische Modell von
Welt und Ordnung.
c. Wie kommt es nach Weber, dass trotz eines die Rationalisierung des
islamischen Rechts begünstigenden Faktors, nämlich der
Entwicklung eines eigenen Juristenstandes der vier Rechtsschulen,
eine „Rationalisierung“ des Rechts gleichwohl nicht eingetreten ist?
d. Wie ist es zu erklären, dass im jüdischen Recht trotz einer
gegenseitigen Durchdringung von Recht und Religion, in dem das
Verhältnis zu Gott in der „Berith-Vorstellung“ juristischer Natur ist
und das Verhältnis zum „Gesetz“ religiös bestimmt ist, gleichwohl –
so Weber – der Rationalisierungseffekt ausgeblieben ist?
e.
Auch wenn der „protestantischen Ethik“ nicht die zentrale Rolle
zufällt, wie für die Entstehung der „kapitalistischen Kultur“, was sind
gleichwohl benennbare Effekt für die Rechtsentwicklung?
169
Schluss
Die Gefährdungen der rationalen Rechtskultur
Materiale Gerechtigkeit statt formaler Rationalität?
Manfred Rehbinder hat den Kreis der Weber-Exegeten dadurch irritiert, dass
seiner „Rechtssoziologie“ ein hoffnungsloses Zurückbleiben hinter der
zeitgenössischen Rechtstheorie und Rechtssoziologie vorgehalten wurde.
Nimmt man den Gewährsmann dieser Einschätzung Rehbinders zu Hilfe,
nämlich den auch von Weber als „Rechtssoziologen“ erwähnten Eugen Ehrlich,
dann wird das Missverstehen nachvollziehbar. So resümiert Ehrlich seine
Grundlegung der Soziologie des Rechts dahin,
„ der Schwerpunkt der
Rechtsentwicklung liege auch in unserer Zeit, wie zu allen Zeiten, weder in der
Gesetzgebung, noch in der Jurisprudenz oder in der Rechtsprechung, sondern in
der Gesellschaft selbst.“476 Von einem solchen rechtssoziologischen
Reduktionismus freilich, setzt sich Weber in doppelter Hinsicht ab: Einmal
werden sowohl „Gesetzgebung“, „Jurisprudenz“ und „Rechtsprechung“ eine
eigene Bedeutung für die Entwicklung einer Rechtskultur zugestanden, während
andererseits Gesellschaft weder auf Klassen- und Interessen reduziert wird,
sondern gerade die eigene Macht religiöser Kulturinhalte in Konkurrenz zu den
rechtlichen tritt und auch als Motor der juristischen Kulturinhalte betrachtet
werden kann.
Noch provozierender musste einer sich rechtssoziologisch aufgeklärt
wähnenden Jurisprudenz Webers Festhalten am Ideal einer Begriffs- und
Konstruktionsjurisprudenz477erscheinen, das auch noch sozialistische
Aufweichungen einer Wertungsjurisprudenz schärfstens abwies. Freilich hat
476
Eugen Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, unverä. Neudruck d. ersten Aufl.
1913, München,Leipzig 1929, Vorrede.
477
Vgl. auch den von unserer Interpretation abweichenden Deutungsversuch von Bernhard K.
Quensel und Hubert Treiber, Das „Ideal“ konstruktiver Jurisprudenz als Methode. Zur
logischen Struktur von Max Webers Idealtypik, in: Rechtstheorie 33 (2002), S. 91-124.
170
sich nicht nur nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus, sondern auch
nach dem Scheitern des sozialistischen Weltexperiments, der Sinn für das
Formale im Recht und auch die Idee des ethischen und rechtlichen
Universalismus in spürbarer Weise wiederbelebt. Damit gewinnt der
abschließende Paragraph von Webers Analyse der „Entwicklungsbedingungen
des Rechts“ – nach der Formel des Werkplans von 1914 – als vergleichender
Kultursoziologie des Rechts eine neue Aufmerksamkeit.
1. Zunächst ist der Irrtum auszuräumen, Weber sähe das moderne Recht – wie
dies Parsons vor allem meint – durch eindeutig universalistische Tendenzen
gekennzeichnet. Zwar liegt das Defizit außerokzidentaler Rechtsordnungen in
partikularistischen Hemmnissen der Rechtsentwicklung begründet; aber auch
innerhalb der okzidentalen Rechtskultur sind partikularistische Strömungen zu
verzeichnen. Webers sehr viel komplexere Auffassung lässt sich am ehesten
dadurch charakterisieren, dass in Parallele zur Unterscheidung formaler und
materialer Rationalität bzw. Irrationalität Weber zwischen formalem und
materialem Universalismus bzw. formalem und materialem Partikularismus
unterscheidet.
Hiernach weisen etwa die Menschenrechte einen materialen Anspruch
universaler Geltung aus, während das Vertragsrecht – wie Weber immer wieder
betont – eben den nur formell universal „freien“ Kontrakt garantiert.
Andererseits gibt es im modernen Recht Tendenzen der personalen
Geltungsbeschränkung in dem nur für Kaufleute geltenden Handelsrecht, das
sich als insoweit nur formal partikularistisch charakterisieren lässt.
Materiale Beschränkungen universaler Rechtsgeltung im Professionsrecht oder
lokalen Partikularitäten sind im modernen Staat zurückgetreten ebenso wie die
Anknüpfung an den sozialen Stand im Sinne eines ständisch gebundenen
Partikularismus. Was Weber aber im modernen Recht vor allem irritiert, ist die
antiformale Ausrichtung an klassenorientierter, vermeintlicher „materialer
171
Gerechtigkeit“ statt „formaler Rationalität“, wie es im sozialistischen
Rechtsverständnis gefordert wird.478
2. Den Kern moderner Rechtskultur sieht Weber von mehreren Seiten her
bedroht: Die an Berechenbarkeit des Rechts ausgerichteten Interessen, nämlich
die Gütermarktinteressenten, tragen eine eigentümliche gesinnungsethische
Komponente in das formal-rationale Recht hinein, nämlich sog.
Vertrauenstatbestände zu juridifizieren, die ihrer persönlichen Natur nach
weniger formal tatbestandlich zu fassen sind. Die Zunahme der bona fides
Regeln – man denke auch nur an §157 und §242 BGB – stellt nach Weber eine
Aufweichung der formalen Qualitäten rationalen Rechts dar.
Noch prinzipieller aber sind innerjuristische Rationalität und die Erwartungen
der Rechtsinteressen letztlich unvereinbar. Die vielbeklagte Lebensfremdheit
der Begriffs- und Konstruktionsjurisprudenz ist Weber zufolge nicht zufällig,
„sondern in weitem Umfang die unvermeidliche Folge der Disparatheit
logischer Eigengesetzlichkeiten jedes formalen Rechtsdenkens überhaupt
gegenüber den auf ökonomischen Effekt abzweckenden und auf ökonomisch
qualifizierte Erwartungen abgestellte Vereinbarungen und rechtlich relevante
Handlungen der Interessenten.“479
Dies klingt nach uneingeschränktem Lob der Dogmatik, benennt aber am Ende
nur den tragischen Konflikt zwischen Juristenrecht und populärem
Rechtsempfinden. Weber nimmt dabei ja durchaus zur Kenntnis, dass etwa das
Postulat der Lückenhaftigkeit des Rechts als bloßes Ideal entlarvt wird. Es
gehört vielmehr zur „Entzauberung“ des Rechts in der Folge des allgemeineren
Prozesses
der
„sich
selbst
überschlagenden
wissenschaftlichen
Rationalisierung“480, dass auch das Postulat, der bloß rechtsatzanwendenden
478
Vgl. die ausführliche Diskussion bei Werner Gephart, From Particularism to Universalism.
Particularistic Features in the Normative Orders of Modern Societies (Vortrag Krakau
1992).
479
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 506.
480
Ebd., S. 509.
172
Tätigkeit des Juristen durchschaut wird. Nur hängt es wieder von der
spezifischen innerjuristischen Interessenlage einer sich rein rechtstheoretisch
gerierenden Kritik ab, in wessen Namen Lücken gefüllt oder wem die
Legitimation der Rechtsschöpfung zugeschrieben wird.
Je „freier“ die Rechtsschöpfung wird, umso größer wird der Bedarf nach neuer
Bindung, sei es in einem Rückfall in ein überpositives Recht oder in der Illusion
eines quasi „natürlichen“ Rechts des Interessensausgleichs. „Rechtsprophetie“
und „Rechtserkenntnis“ überpositiver Normen aber würde die
Rechtsentwicklung
auf
vormoderne
Rechtsstufen
zurückwerfen.
So
verschlingen sich die Idee juristischen Fachmenschentums mit der These der
unauflösbaren Eigengesetzlichkeit rationalen Rechts. Weber formuliert:
„Jedenfalls aber wird die juristische Präzision der Arbeit, wie sie sich in den
Urteilsgründen ausspricht, ziemlich stark herabgesetzt werden, wenn
soziologische und ökonomische oder ethische Räsonnements an die Stelle
juristischer Begriffe treten.“481
Analytik und Systembildung, fallbezogene Konkretisierung und juristisch
konstruktive Begriffsbildung bleiben also die Fluchtpunkte rechtlicher
Rationalisierung. Sie liefern von jeher das Profil der Rechtskritik.482 Weber sieht
dabei den Konflikt zwischen formaler Legalität und materialer Gerechtigkeit als
unvermeidlich an, wenn er von den „Konsequenzen des unaustragbaren
Gegensatzes zwischen formalem und materialem Prinzip der Rechtspflege“483
spricht. Eigentümlicherweise versteht es Weber nicht, den Eigenwert formaler
Rechtsstaatlichkeit auf einen normativen Begriff zu bringen. Und das Unrecht,
das im Namen materialer „Gerechtigkeit“ gesprochen wird, sei es in der
nationalsozialistischer Missachtung des Rechts als Limitierung charismatischer
– prinzipiell rechtsfeindlicher – Herrschaft oder aber der „sozialistischen
Gerechtigkeit“ wird nur dem Risiko formaler „Irrationalität“ ausgesetzt, die
aber zugleich eine „materiale“ darstellt.
481
Ebd., S. 512.
482
Zu einem interessanten Versuch, den Begriff des Rechts von der Stoßrichtung der
Rechtskritik herzuleiten vgl. Kurt Seelmann, Rechtsphilosophie, München 2001.
483
Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O, S. 511.
173
Ein solcher Kern okzidentaler Rechtskultur in dem gekennzeichneten Sinne
formaler Rechtsrationalität steht im Hintergrund von Webers vergleichender
Kultursoziologie des Rechts. Diese Errungenschaft heißt es gegen eine
„soziologische Rechtswissenschaft“484 im Sinne Eugen Ehrlichs und seiner
Nachfolger zu verteidigen, die das Problem juristischer Wertbegründung
verkennen, und gegen eine rechtstheoretische Desillusionierung des
Automatenmodells, die anstelle der Idee der Rechtsanwendung die Illusion von
schöpferisch freier Rechtsfindung485 setzt oder zu traditionaler Rechtsprophetie
– aus durchsichtigen Standesinteressen heraus – zurückkehrt. Weber ist
seinerseits prophetisch in der Voraussage, dass die zunehmende
„Verrechtlichung“ – Weber spricht anschaulich von dem „an technischem
Gehalt ständig anschwellenden“ Recht – nicht nur eine zunehmende Unkenntnis
für Laien produziere, sondern gleichzeitig die zunehmende Wertung der
formalen Qualitäten des modernen Rechts „als eines rationalen, daher jederzeit
zweckrational umzuschaffenden, jeder inhaltlichen Heiligkeit entbehrenden,
technischen Apparats“ als sein „unvermeidliches Schicksal“486 erzeuge.
Diese Prognose lässt sich, wie wir sehen werden, auf Habermas’ Theorie des
Rechts anwenden, die von einer Kolonisierungsthese in ein Lob der formalen
Prinzipien des Rechtsstaates im Gewande einer prozeduralen Theorie der
Gerechtigkeit umgeschlagen ist. Aber wie lässt sich das unstillbare Bedürfnis
des Laien nach Verstehen des Rechts befriedigen, das durch die von Weber eher
karikatural als „Volksjustiz“ bezeichnete Rechtspflege der Geschworenen nur
unzureichend zu befriedigen ist? Sollten wir den ungeheuren Aufschwung von
TV-Gerichtsserien nur als Ausdruck von Medienkonkurrenz erklären und als
484
Die Rechtswissenschaft werde ihrer Aufgabe nur dann ganz gerecht, „wenn sie eine
Morphologie der menschlichen Gesellschaft gibt, und die Kräfte, die in der Gesellschaft
wirken auf ihr Wesen und ihr Maß untersucht. So wird die Jurisprudenz zur
Rechtswissenschaft, zur Lehre vom Recht als gesellschaftlicher Erscheinung...“ (Eugen
Ehrlich, Soziologie und Jurisprudenz, Czernowitz 1906, S. 19).
485
Zu Webers Auseinandersetzung mit der Freirechtsschule vgl. im Detail den Band „Recht“
(MWG I/22-3).
486
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 513.
174
ohnehin gescheiterten Versuch juristischer Volksaufklärung belächeln oder
verbirgt sich hinter dieser „anschwellenden“ Bilderflut zum Recht etwas viel
Ernsteres: die Spannung von formaler und materialer Rationalisierung als
Medienillusion zu überwinden?
Lässt sich Webers Rechtssoziologie am Ende in wenigen Sätzen resümieren?
Wie hat man die Spannung zwischen einem dualistischen Entwicklungsschema,
da einer früheren Werkidee verpflichtet war mit dem komplexen Modell des
Rationalisierungsmodells zusammenzusehen und wo liegen hierbei die von
Weber so scharf betonten Wertakzente, also die „Kulturbedeutung des
modernen Rechts“?487 Die „Einheit“ der Rechtssoziologie lässt sich m.E. als
eine historisch-vergleichende Kultursoziologie des Rechts in
universalhistorischer Perspektive bestimmen, die es gestattet zu begreifen,
welche Wertigkeit die normative Ordnung des Rechts, jenseits der bloßen
Garantie sozialer Ordnung, besitzt. Und dies gerade auch im Blick auf eine
normative Idee des formal-rationalen Rechts, für die Weber in großer Klarheit
und Entschiedenheit einsteht.488
487
Vgl. hierzu Werner Gephart, Das Collagenwerk. Zur sogenannten „Rechtssoziologie“ Max
Webers, in: RG 3/2003 (Septemberheft der Zeitschrift des Max-Planck-Instituts für
Rechtsgeschichte).
488
Hierhin gehört auch die biographische Frage von Webers persönlichem Verhältnis zum
Recht, unabhängig von seiner juristischen Sozialisation und einer temperamentsmäßig
bedingten Streitlust. Ich meine Webers Empörung bei Rechtsverletzungen, wie sie gerade
im Familienrecht des Wilhelminischen Reiches auftraten.
175
BIBLIOGRAPHIE ZUR MAX WEBER-VORLESUNG
(EINE AUSWAHL)
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Marianne Weber. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 81988. (UTB;
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Gesammelte Politische Schriften. Herausgegeben von Johannes Winckelmann.
Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 51988. (UTB; 1491)
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von Marianne Weber. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 21988.
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Schöllgen, Gregor: Max Weber. München: C. H. Beck 1998. (BsR 544)
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5. Politik
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Schluchter, Wolfgang: Rationalismus der Weltbeherrschung. Studien zu Max
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