Ethik in den Heilberufen - Evangelische Akademie Tutzing

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Ethik in den Heilberufen
Beiträge von Marianne Rabe
Anfangsstatement: Einige Thesen
Vermittlung von Ethik in der Pflegeausbildung

Die Ethik-Lehre in der Pflege und die in der Medizin haben gemeinsam, dass sie sich noch im
Erprobungsstadium befinden. Es gibt eine Nebeneinander verschiedener Ideen und Modelle, die
erprobt werden.

Die verstärkte Beschäftigung mit Ethik gehört zum Professionalisierungsprozess. Im
Ethikunterricht gewinnt ein professionelleres, d.h. wissenschaftlich ausgerichtetes
Ethikverständnis Raum, man geht von einem klareren Ethik-Begriff aus, so dass nicht mehr wie
früher alles, was irgendwie problematisch erscheint, unter Ethik subsumiert wird.

Eine „eigene“ Ethik für die Pflege wird von manchen gefordert. Die Pflege hat entsprechend ihrem
Tätigkeitsfeld einen eigenen Blick auf moralische Probleme und es stellen sich in der Pflege auch
andere Probleme als in der Medizin: da die Pflegearbeit vom engem und körpernahen Kontakt zu
den Patienten geprägt ist, stellen sich hier vor allem Fragen der Haltung, des Verhaltens und der
Gestaltung der Beziehung zu den Patienten. Die wissenschaftliche Ethik aber, auf die beide,
Medizin und Pflege, zurückgreifen, ist dieselbe. Natürlich ist es fraglich, ob alle ethischen Ansätze
sich mit dem Berufsethos der Pflege vertragen, dies sehe ich etwa bei utilitaristischen Ansätzen
als schwierig an, da die Pflege von ihrem Berufsethos her Partei für die Schwachen ergreift, ohne
nach deren Nützlichkeit zu fragen. Andererseits ist es klar, dass die Pflege sich auch den
Verteilungsfragen stellen muss, die sich auf Grund der Finanzierungsprobleme im
Gesundheitswesen ergeben.

Die neuen Gesetze in der Kranken- und Altenpflege legen Curricula mit fächerübergreifender
Modularisierung nahe, darin liegt die Chance, die ethischen Fragestellungen als „roten Faden“
durch die Ausbildung hindurch immer wieder aufzuwerfen.
Wieviel Theorie braucht man für die Vermittlung von Ethik?

Um dies zu beantworten, muss man sich zunächst fragen, welches Ziel man mit dem
Ethikunterricht verfolgt. Als Bildungsziel sehe ich die ethische Kompetenz an, die ich wie folgt
definiere:
Ethische Kompetenz beinhaltet die Fähigkeit zur Reflexion, Formulierung und Begründung der
eigenen moralischen Orientierungen, weiter die Fähigkeit zum Erkennen moralischer Probleme in
der eigenen Praxis, Urteilsfähigkeit, Diskursfähigkeit und schließlich Wachheit und Mut, auch
tatsächlich moralisch zu handeln.
Ein solches Ziel kann man natürlich nicht im Unterricht erzeugen, aber man kann vorhandene
Potentiale stärken.

Das Zuordnen von Argumentationen und Begründungen zu bestimmten Schulen prägt
die Ethik-Diskussion z.T. bis zum Überdruss; als Beispiele seien hier deontologische und
teleologische Begründungsmuster genannt, deren praktische Relevanz mir noch nie
einsichtig wurde, obwohl sie in fast allen Ethik-Lehrbüchern für die Pflege genannt (und
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zum Teil haarsträubend ausgelegt1) werden. Insgesamt besteht die Gefahr einer sehr
schematischen und verkürzten Vermittlung von theoretischen Ideen.
Ebenso wenig hilfreich für den Unterricht erscheint die Unterscheidung in normative und
deskriptive Ethik, die sogar schon Eingang in eine Examensfrage gefunden hat (Land
Berlin). Diese Begriffe haben ohne weitere Bezüge eher den abschreckenden Effekt,
dass Ethik als Expertensache angesehen wird.

Dass Ethik als Sache für Spezialisten angesehen wird, bei der „normale“ Pflegende nicht
mitreden können, birgt die Gefahr, dass Pflegende sich für Ethik nicht „zuständig“ fühlen
und damit auch die Klärung und Entlastung nicht erleben, die ethische Reflexion bei
praktischen Problemen bringen kann.

Andererseits: ohne Theorie gibt es keinen klaren Begriff von Ethik und Moral; ohne
Distanzierung ist keine Reflexion möglich. Bildendes Lernen bewegt sich zwischen
Erfahrung und Erkenntnis, zwischen Fallbezug und theoretischer Argumentation hin und
her.
Vorstellung des Reflexionsmodells
Die meisten existierenden Entscheidungsmodelle sind handlungs- und lösungsorientiert.
Natürlich kann es auch mit einem solchen Modell eine gelungene ethische Reflexion geben.
Das hängt zu einem entscheidenden Teil auch davon ab, wie es eingesetzt wird und wie die
Moderatorin ihre Aufgabe wahrnimmt. Ich halte ein Modell grundsätzlich deshalb für sinnvoll,
weil es die wichtigsten Punkte, die zu einer reflexionsorientierten Falldiskussion nötig sind, in
einer sinnvollen Reihenfolge benennt. Im folgenden stelle ich ein einfaches Modell vor, mit
dem ich einerseits alle wesentlichen Aspekte zu fassen versuche, das aber keine
Fragenlisten vorsieht, sondern in seinen einzelnen Schritten für die jeweilige Frage und ihren
konkreten Situationskontext offen ist. Ein entscheidender Faktor für die Einübung von
Argumentationsfähigkeit ist es, die Teilnehmer/innen zum eigenständigen Formulieren und
Begründen anzuregen..
Beispiel: Verena Tschudin schreibt in ihrem Buch „Ethik in der Krankenpflege“(1988) zur Erläuterung der
Teleologie: „Übertragen wir diese Theorie auf die Krankenpflege, sehen wir, dass eine streng ausgelegte
Pflegemethode ihre Berechtigung hat. Z.B. “Wenn alle ihre Arbeit gut (oder vorschriftsgemäss= machen, dann
sind Patienten und Krankenschwestern glücklich.““ (S. 39)
1
2
Modell für die ethische Reflexion
1. Situationsanalyse
Persönliche Reaktionen
Die Sicht der anderen: Perspektive aller am
Fall beteiligten Personen
Alternative Handlungsmöglichkeiten und ihre
Folgen für die Betroffenen
2. Ethische Reflexion
Benennung des ethischen Problems
Formulierung der normativen Orientierungen
und übergeordneten Prinzipien2, die für diese
Situation von Bedeutung sind
Verantwortungsebenen:
persönlich
institutionell
gesellschaftspolitisch
3. Ergebnisse
Ethisch begründete Beurteilung
Konsens/Dissens
Nötige praktische Konsequenzen
und ihre Durchsetzung
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Zu den normativen Orientierungen gehören all die moralische Normen, Grundsätze und Werthaltungen, die den
Diskutanten zu dem Fall einfallen; zu den übergeordneten Prinzipien die höchsten Gesichtspunkte der
Beurteilung der herrschenden Moral, wie etwa Autonomie, Fürsorge, Menschenwürde etc.
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Erläuterungen zum Modell
Die drei Hauptschritte: Situationsanalyse – ethische Reflexion – Ergebnisse stellen die
Grundform einer praxisorientierten ethischen Reflexion dar: ausgehend von der konkreten
Situation erfolgt mit der ethischen Reflexion zugleich eine Abstraktion, nämlich die
Besinnung auf das Allgemeine, Grundlegende und im letzten Schritt zum einen ein Rückblick
auf den Diskussionsprozess selbst und zum anderen ein Rückbezug auf die
Ausgangssituation.
1. Situationsanalyse
Gefühle wie Unbehagen oder Ärger machen uns darauf aufmerksam, dass bei einer
erlebten Situation noch etwas klärungsbedürftig ist. Gefühle und spontane Einfälle stehen
auch am Anfang einer jeden Auseinandersetzung mit einer Fallgeschichte, die man nicht
selbst erlebt hat. Ich gebe ihnen deshalb am Anfang Raum, weil sie einen eigenen Bezug
der Teilnehmer/innen zu dem Fall herstellen helfen und weil sie zum Störfaktor werden
können, wenn sie keinen Platz bekommen. Mit der Betrachtung der Handlungen und
möglichen Motive der beteiligten Personen wird die Situationsanalyse fortgesetzt. Es soll
dabei versucht werden, die Situation aus der Perspektive der jeweiligen Person zu
betrachten. Dabei handelt es sich um eine Grundforderung der Moral überhaupt und
damit um eine ethisch bedeutsame Fähigkeit auch für die Pflege. Hier sollen auch die
Beziehungen der Beteiligten zueinander thematisiert werden. Da viele Fallgeschichten
Fragen offen lassen, ist es durchaus sinnvoll, auch Vermutungen zu äußern und zu
begründen.
Die anschließende Sammlung verschiedener Handlungsalternativen hat vor allem den
Sinn, sich klar zu machen, dass es immer mehrere Möglichkeiten gibt, mit einer
gegebenen Situation umzugehen. Oft stehen Pflegende sehr unter dem Eindruck von
Sachzwängen oder institutionellen Gewohnheiten. Deren kreative Überschreitung kann
manchmal auch ganz neue Möglichkeiten eröffnen. Die Bewältigung moralischer
Probleme erfordert auch moralische Phantasie.
2. Ethische Reflexion
Nachdem im ersten Schritt die Situation in verschiedenen Facetten entfaltet wurde, bringt
die Frage nach dem ethischen Problem die Diskussion auf den Punkt – oder aber sie
zeigt, dass es keine Einigkeit über die Definition des Problems gibt. Anschließend sollen
diejenigen Grundsätze, Prinzipien oder Werthaltungen benannt und diskutiert werden, die
in dieser Situation verletzt werden oder bei ihrer Beurteilung zur Orientierung dienen
können. Der Unterschied und ggf. die Spannung zwischen den faktisch geltenden
Normen und den übergeordneten Prinzipien kann in diesem Zusammenhang
exemplarisch zum Thema werden und zu einer Kritik der herrschenden Moral führen.
Die Frage nach der Verantwortung für die Situation und nach den Ebenen, auf der diese
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angesiedelt ist, vervollständigt die ethische Reflexion und bildet eine Grundlage für die
abschließende Beurteilung.
3. Ergebnisse
Die „ethisch begründete Beurteilung“ fasst die wichtigsten Erkenntnisse aus dem ersten
und zweiten Schritt zusammen. Hierbei werden nicht selten Dissense deutlich, die
ebenso zum Ergebnis einer ethischen Diskussion gehören wie die Formulierung dessen,
was als Konsens gefunden wurde. Auch wenn die Reflexion selbst vielleicht keine
eindeutige Lösung für eine Frage gefunden hat, so können in der Diskussion doch
Faktoren deutlich werden, die zu dem Problem beitragen, wie etwa schlechte
Kommunikation zwischen Pflegenden und Ärzten , Mängel in der Organisation oder
Schulungsbedarf. Daraus können konkrete Vorschläge erwachsen, die auch im Hinblick
auf das Vorgehen zu ihrer Durchsetzung diskutiert werden sollten.
Moderation mit einem Modell – Grundsätze und Grenzen
Eine Gefahr beim Einsatz von Modellen kann darin bestehen, dass „man ethische
Begründungen auf eine Form der Anwendung von prozessmäßigen Entscheidungsbäumen
reduziert“3. Ein Modell könne eine ethische Reflexion niemals ganz umfassen, diese müsse
vielmehr konkrete Kriterien für jeden Fall selbst hervorbringen. Gerade letzteres deckt sich
mit meinen eigenen Moderationserfahrungen und ist der Grund für die offene Gestaltung des
Modells.
Ein „Fallstrick“ aller ethischen Falldiskussionen ist es, dass die Teilnehmer bei der
Situationsanalyse sehr lebhaft sind, die ethische Reflexion aber mühsamer ist und manchmal
nur schwer in Gang kommt. Wenn man als Moderatorin bloß nichts „abwürgen“ will, nimmt
die Situationsanalyse den größten Teil der Zeit ein und die ethische Reflexion kommt zu
kurz. Die Moderatorin muss sich bewusst sein, dass der Übergang vom ersten zum zweiten
Schritt nicht einfach ist, weil hier eine Abstraktion von dem Erlebten gefordert wird. Hier
geschieht der Übergang vom besonderen Fall zu allgemeinen Regeln und Prinzipien. Wichtig
ist dabei, dass die Grundsätze nicht nur benannt, sondern in ihrer Bedeutung für die
konkrete Situation erläutert und begründet werden.
Die abschließend zu formulierenden Ergebnisse sollen unter Einbeziehung der
übergeordneten Grundsätze und der Verantwortlichkeiten begründet werden.
Für die Einübung der Diskursfähigkeit ist es nötig, mit unterschiedlichen Meinungen
konstruktiv umgehen zu können. Deshalb werden Dissense ausdrücklich benannt und ihre
Verdeutlichung wird als positives Diskussionsergebnis betrachtet.
Das Modell soll den Diskussionsprozess strukturieren und unterstützen, nicht regieren. Es
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darf nicht starr „angewendet“ werden, sondern die Moderatorin muss für Unerwartetes offen
sein. Was an einem Fall wichtig ist, definieren die Teilnehmer/innen manchmal anders als
die Moderatorin.
Die Rolle der Moderatorin bei ethischen Falldiskussionen
Die Moderatorin begleitet die Diskussionsteilnehmer bei einem Lernprozess. Nicht ihr
Wissen und ihre Einsichten sind gefragt, sondern Respekt vor den Fragen und Denkwegen
der Teilnehmerinnen, Wachheit und Intuition.
Wenn es sich nicht um eine Einzelveranstaltung handelt, kann es sinnvoll sein, sich zunächst
auf Diskussionsregeln zu einigen wie

Inhaltlich beim Fall bleiben (also keine zusätzlichen Geschichten erzählen)

Meinungen und Stellungnahmen immer begründen

Zuhören und sich auf das von anderen Gesagte beziehen

Äußerungen von anderen nicht entwerten

Konkrete Aussagen, keine Pauschalurteile
Die Moderatorin nimmt folgende Aufgaben wahr:
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Atmosphäre der Akzeptanz und Offenheit fördern

Impulsfragen stellen

Redeliste führen und dafür sorgen, dass alle zu Wort kommen

ggf. Zusammenfassung zwischendurch

Zeitmanagement

bei Störungen eingreifen (Monologe, Polemik)

gutes Ende der Diskussion ermöglichen (z.B. mit einem „Blitzlicht“und/oder einer
Zusammenfassung durch die Moderatorin)
Eine ausführlichere Fassung dieses Beitrages erscheint im nächsten Jahr in dem Buch der
Arbeitsgruppe „Pflege und Ethik“ der Akademie für Ethik in der Medizin unter dem Titel: „Für
alle Fälle...Arbeit mit Fallgeschichten im Ethikunterricht“ in der Schlüterschen
Verlagsbuchhandlung. Eine kommentierte und didaktisch aufbereitete Fallsammlung wird in
diesem Buch durch zahlreiche Theoriebeiträge aus verschiedenen Perspektiven ergänzt.
3
v.d.Arend/ Gastmans (1996), S. 124. Eine ähnliche Einschränkung benennt auch Fry(1994): ein Modell sei
keine „universell anwendbare Faustregel für richtiges Entscheiden“, S. 62
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