internes dokument f_ces6392-2006_doc-int_de

Werbung
EVELYNE PICHENOT: KOMMENTARE
Evelyne Pichenot
KOMMENTARE
Meine Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen vom Ausschuss,
verehrte Freunde von der ILO,
ich möchte diesen Teil der Veranstaltung zum Anlass nehmen, um zunächst, wie es der Titel
nahelegt, einige Worte zu dem Zusammenhang zwischen Identität und Sozialmodell zu sagen.
Auch wenn nicht zu leugnen ist, dass die Europäische Union derzeit in einer Krise steckt, bleibt
doch unbestreitbar, dass sie weltweit als Vorbild gilt, und dies vor allem aufgrund des
europäischen Gesellschaftsmodells, das die Schaffung von Wohlstand mit seiner Umverteilung
verbindet.
Wir stehen am Anfang des 21. Jahrhunderts, und unsere europäische Identität, die aus einer
bewegten, von Tragödien, Leid und Erneuerung geprägten Geschichte sowie aus einer durch
viele unterschiedliche Einflüsse geformten Kultur hervorgegangen ist, hat ihren Niederschlag in
der Grundrechtecharta gefunden, die 2000 in Nizza angenommen wurde.
Die Tatsache, dass bürgerliche und politische, wirtschaftliche und soziale Rechte in einem
einzigen Text zusammengefasst wurden, stellt nicht nur für Europa, sondern für die gesamte
Menschheit ein Ereignis von großer historischer Tragweite dar. Die Verankerung unserer
Identität in einem rechtlichen Rahmen ist ein gewaltiger qualitativer Schritt nach vorn, dessen
Bedeutung wir noch nicht ganz ermessen können: Es ist ein kulturelles Ereignis.
Die fünf wesentlichen Grundsätze der Charta – Würde, Gleichheit, Solidarität, Bürgerrechte und
justizielle Rechte – bekräftigen erneut die grundlegenden Werte des Gesamtprojekts und geben
den verschiedenen einzelstaatlichen Sozialsystemen eine Richtung vor.
Vergegenwärtigt man sich diese Grundwerte, so wird erneut deutlich, dass die Union und die
ILO ein gemeinsames Erbe teilen, das uns heute mit dem Ziel zusammenführt, das Sozialmodell
in Europa zu stärken und es mit dem enormen Bedürfnis nach sozialem Zusammenhalt in aller
Welt in Einklang zu bringen. Diese Verbindung zwischen Europa und der Welt ist ein Aspekt,
der sich aus dem ILO-Bericht über die soziale Dimension der Globalisierung ableiten lässt. Es
gehörte durchaus zu den Aufgaben der ILO, diese Botschaft in die internationalen
Organisationen und Einrichtungen zu tragen.
Ich werde es voll und ganz der Verantwortung der Sozialpartner überlassen, sich nach Maßgabe
ihrer vertragsmäßigen Zuständigkeiten mit der Weiterentwicklung dieses Modells zu befassen.
1
EVELYNE PICHENOT: KOMMENTARE
In dieser Einführung werde ich mich darauf beschränken, drei Grundpfeiler dieses mit dem
europäischen Projekt verknüpften Modells aufzuzeigen:

erstens beruht dieses System vielmehr auf Regeln und Normen als auf einer erzwungenen
Durchsetzung;

zweitens ist es ein Gebilde, das sich auf der Grundlage des Dialogs weiterentwickelt (hier
kommt z.B. der EWSA ins Spiel …), und

schließlich wird mit dem europäischen Einigungswerk die Verwirklichung einer
solidarischen Entwicklung angestrebt.
Regeln und Normen, Dialog, Solidarität – das sind die Eckpfeiler unserer gemeinsamen
Identität, die im Sozialmodell zum Ausdruck kommt.
Wie kann die Kommunikation über das europäische Sozialmodell verbessert werden?
Wie können die Bürgerinnen und Bürger mehr an der Weiterentwicklung dieses Modells
teilhaben?
Es ist festzustellen, dass die nicht in den autonomen sozialen Dialog, der überall in der
Europäischen Union auf dem Vormarsch ist, und den von der ILO geförderten Dreiparteiendialog
einbezogenen Kräfte der Zivilgesellschaft, die in Gruppe III dieses Ausschusses vertreten sind,
die Erwartung hegen, dass ein echter ziviler Dialog in Gang kommt, der über eine einfache
Anhörung hinaus geht und die Entwicklung einer partizipativen Demokratie zum Ziel hat. Die
Akteure der Zivilgesellschaft haben tatsächlich an Einfluss gewonnen.
Befinden wir uns noch im Stadium der grauen Theorie und der leeren Worte? Meiner Ansicht
nach nicht. Es wird bereits am Aufbau dieser partizipativen Demokratie gearbeitet.
Anhand von Beispielen können die erzielten Fortschritte verdeutlicht werden. Lassen Sie mich
einige Schlüsselmomente des zivilen Dialogs bzw. der offenen Partizipation in Erinnerung rufen:

das Experiment des ersten Konvents, mit dem die Charta entwickelt und das Ende der
Geheimdiplomatie eingeläutet wurde;

ferner das Experiment des zweiten Konvents, bei dem neben den gewählten Vertretern auch
Beobachter aus den Reihen der Zivilgesellschaft, darunter der Ausschuss und die
Sozialpartner, hinzugezogen wurden;

nicht zu vergessen ist außerdem das europäische Stakeholder-Forum, an dem eine Vielzahl
von Akteuren – sowohl Vertreter der Sozialpartner als auch sonstiger interessierter Kreise –
teilnahm und das sich fast zwei Jahre lang mit dem Thema der sozialen Verantwortung von
Unternehmen beschäftigte;
2
EVELYNE PICHENOT: KOMMENTARE

auch spreche ich von der hier geschaffenen Kontaktgruppe zwischen den wichtigsten NGOPlattformen, deren Einrichtung vom Ausschuss unterstützt wurde;

nicht unerwähnt lassen möchte ich schließlich im Bereich Außenbeziehungen die Gemischten
Beratenden Ausschüsse sowie die in allen Regionen der Welt veranstalteten Konferenzen der
Zivilgesellschaft zur Förderung des sozialen Zusammenhalts;

als aktuelles Beispiel kann zudem die erste Bürgerkonferenz angeführt werden, die
vergangene Woche zum Thema Nanowissenschaften veranstaltet wurde und in Frankreich
auf positive Resonanz stieß.
All dies sind nur erste Schritte, doch die Grundlagen für eine Bürgerbeteiligung sind gelegt.
Unser Ausschuss wird sich weiter mit diesem Thema sowie mit der Repräsentativität der
Organisationen der Zivilgesellschaft und den Verfahren zur demokratischen Partizipation
befassen.
An dieser Stelle möchte ich die in diesem Bereich geleistete Arbeit unserer hier anwesenden
Kollegen Anne-Marie Sigmund und Jan Olsson würdigen, die der europäischen Kultur den Weg
zur partizipativen Demokratie gebahnt haben.
Kommen wir nun zu den weiteren Fragen, die die sonstigen in Gruppe III vertretenen Akteure
betreffen; zusätzlich zu der Frage der noch nicht voll entwickelten Bürgerbeteiligung möchte ich
auf zwei weitere Debatten eingehen, die für die Interessengruppen des Ausschusses im
Zusammenhang mit dem europäischen Sozialmodell von zentraler Bedeutung sind.
Der Platz der Sozialwirtschaft im europäischen Entwicklungsmodell
Neben der unternehmerischen Initiative, die die öffentlich-privaten Partnerschaften darstellen,
gibt es weitere Formen der Unternehmertätigkeit, die unter dem Begriff Sozialwirtschaft
zusammengefasst werden. Dieses Schlagwort beinhaltet ein buntes Spektrum an
Landwirtschafts- und Handwerksbetrieben, Krankenkassen auf Gegenseitigkeit,
Hauspflegediensten, NGO, internationalen Solidaritätsorganisationen usw., die alle zusammen
das Wesen des europäischen Sozialmodells ausmachen und an seiner Ausgestaltung beteiligt
sind.
Die soziale Dimension der Globalisierung müsste sich auf den Geist der genossenschaftlichen
Zusammenarbeit, den daraus erwachsenden Innovationssinn und die damit verbundene
Erfahrung wirtschaftlicher und sozialer Effizienz stützen.
Zur Förderung des sozialen Zusammenhalts in der Welt, in den von Ungleichheit oder absoluter
Unsicherheit geprägten Regionen, muss die Europäische Union erneut auf diesen dritten Sektor
bauen.
Will man in den Entwicklungsländern die Ziele des sozialen Zusammenhalts erreichen, so
kommt es darauf an, die unbedingt erforderliche Soforthilfe mit dem Aufbau autonomer und
dauerhaft tragfähiger Sozialdienste in Einklang zu bringen.
3
EVELYNE PICHENOT: KOMMENTARE
Mit Unterstützung der lokalen Gebietskörperschaften dürfen wir uns nicht damit zufrieden
geben, lediglich Unterstützung zu leisten, sondern müssen gemeinsam mit den Krankenkassen,
anderen Einrichtungen auf Gegenseitigkeit und den im Sozialbereich tätigen NGO an der
Einführung sozialer Dienste arbeiten, die nach dem Gegenseitigkeitsprinzip funktionieren.
Ferner sollte in der Debatte über innovative Finanzierungsmöglichkeiten die gemeinsame
Entwicklung von Gesundheitsdiensten nach dem Muster der Einrichtungen auf Gegenseitigkeit
eine zentrale Rolle spielen.
Über die partizipative Demokratie und den Geist der genossenschaftlichen Zusammenarbeit
hinaus besteht ein dritter Beitrag unseres Sektors darin, dass er ein ethisches Verständnis der
nachhaltigen Entwicklung in den Vordergrund stellt.
Dieses Axiom kommt zuerst einmal in der Forderung nach einem Gleichgewicht zwischen den
drei Säulen der Lissabon-Strategie zum Ausdruck. Gleichgewicht zwischen
Wettbewerbsfähigkeit und sozialem Zusammenhalt, Gleichgewicht zwischen den heutigen
Bedürfnissen und den legitimen Ansprüchen der künftigen Generationen.
Diesem Ansatz nach ist die europäische Integration von wesentlicher Bedeutung in einer
Situation der Globalisierung, die die Errungenschaften des Sozialmodells über den Haufen wirft
und Ängste und Hoffnungen weckt, den Menschen jedoch auch das Gefühl vermittelt, Teil einer
eng verwobenen Weltgemeinschaft zu sein.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die soziale Frage, die nun eine globale Tragweite erlangt hat,
auf neue Art und Weise. Der ILO kommt bei der Suche nach einem neuen Gleichgewicht eine
zentrale Rolle zu. Doch stehen in diesem Zusammenhang alle Akteure in der Verantwortung.
Nach und nach gewinnt die Notwendigkeit eines ethischen Ansatzes im Bereich der sozialen und
ökologischen Rechte die Unterstützung der Verbraucher und Sparer. Und dies hört nicht beim
fairen Handel auf.
Immer mehr internationale Unternehmen machen die soziale Verantwortung zu einem festen
Bestandteil ihrer Tätigkeit.
Es sollte erneut darauf hingewiesen werden, dass die ILO mit ihrer Erklärung aus dem Jahr
1977 zum Thema multinationale Unternehmen hier eine entscheidende Rolle gespielt hat. Diese
Initiative sollte sie aufrechterhalten.
Aus Sicht der außerhalb des Unternehmens stehenden Interessengruppen besteht ein hoher
Bedarf an Dialog, Transparenz und Verantwortungsübernahme.
In ihrer jüngsten Mitteilung über die soziale Verantwortung der Unternehmen (Corporate Social
Responsibility – CSR) im Jahr 2006 erklärt die Kommission die Unterstützung für CSR zu einem
Bestandteil des europäischen Sozialmodells.
4
EVELYNE PICHENOT: KOMMENTARE
Bei der handelspolitischen Verhandlungsrunde in Doha wurde mit der Entscheidung für
Entwicklung eine echte Wende herbeigeführt. Es wird schwieriger, die Weiterentwicklung
unseres Sozialmodells von der Zukunft der Menschheit zu trennen.
Gleichwohl wäre es vollkommen illusorisch, unser Sozialmodell exportieren zu wollen, da es allzu
sehr von einem Wirtschaftssystem abhängt, das nicht überall funktionieren kann. Dies ist ein
Problem, das die nachhaltige Entwicklung möglicherweise gefährdet.
Die optimistische Antwort auf dieses Problem orientiert sich an den Inhalten, an den
Millenniumszielen.
In der Festlegung dieser Ziele und dem Versuch, sie zu erreichen, spiegelt sich das Bestreben
wider, die Werte unseres Sozialmodells zu verbreiten und in die restliche Welt zu tragen. Als
einen Schritt zur Verwirklichung dieses Ziels möchte ich an dieser Stelle die Arbeit des
Ausschusses zum 'sozialen Zusammenhalt' würdigen, mit deren Hilfe dieses Engagement
tatsächlich in der Außenpolitik der Union zum Ausdruck gebracht werden kann.
Abschließend lassen sich folgende Schlussfolgerungen ziehen:
Der von der ILO angestoßene Bericht über die soziale Dimension trägt dazu bei, die
internationale Gemeinschaft auf dem Weg zur Erreichung der bis 2015 gesetzten Ziele einen
großen Schritt weiter zu bringen.
Der Bericht strahlt die Überzeugung aus, dass die Entwicklung der Menschheit und der
Menschen im Mittelpunkt der Globalisierung stehen muss.
Diese ethische Dimension, die auf der Verantwortung aller Akteure auf allen Ebenen beruht, ist
in zahlreichen Empfehlungen der Stellungnahmen zur Außenpolitik der Union wieder zu finden.
Der EWSA bekräftigt das von ihm vertretene Konzept einer nachhaltigen und solidarischen
Entwicklung.
Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen.
► Evelyne Pichenot is a member of the European Economic and Social Committee
5
Herunterladen