Der spezielle Nutzen des Qigong für den Westen

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Rolf Hegelin - Henschel
Der spezielle Nutzen des Qigong für die
Gesundheitsförderung
(ein Text aus dem Jahr 1998)
 Die Entdeckung der Langsamkeit
Geschwindigkeit und Beschleunigung sind in den westlichen Ländern zu
einem Wert an sich geworden, ohne dass im Ernst noch nach dem Sinn
des Immer-Schneller gefragt wird. Während zunehmend beschleunigte
Produktionszyklen mit dem rasanten Veralten des eben noch Neuen
wenigstens noch aus den Konkurrenz- und Marktgesetzen erklärbar sind,
wird die Eile, vielfach unsinnig, als sinnentleerte Hektik zum Kult erhoben.
PC’s müssen auch in der sogenannten Freizeit immer schneller sein und
Autos sowieso. Bildschnitte und Handlungssequenzen in Spielfilmen und
Videoclips wechseln in immer kürzeren Abständen.
Das Trommelfeuer
auf die Sinne ersetzt den Sinn.
Zur Hektik gehört der Aktionismus, das schnelle Handeln ohne Raum für
genügendes Vor- und Nachdenken. Rezeptive Fähigkeiten, die
Wahrnehmung von Wirkungen und ihre Verarbeitung zur Erfahrung,
verkümmern dabei zusehends.
Die Klage Vieler, nicht mehr „abschalten“ zu können, ist nicht
verwunderlich. Ohne äußere Not sind sie gehetzt, oft ohne es selbst zu
bemerken, weil das innere Angetriebensein zur Selbstverständlichkeit
geworden ist. Das hier nur angedeutete soziale Problem wird an unseren
Kindern besonders deutlich sichtbar und als ADHS-Diagnose medikalisiert.
Die charakteristische Langsamkeit des Qigong ist unter diesen
Bedingungen Zumutung und Chance zugleich. Solange das innere Tempo
mit dem äußeren Handeln kongruent ist, kann das eigene „AufgedrehtSein“ dem Selbst noch verborgen bleiben. Im ruhigen Stehen aber und in
der langsamen Bewegung wird angesichts der äußeren Ruhe die
kontrastierende hohe Geschwindigkeit des inneren Schwungrades auf
einmal erfahrbar. Manche spüren direkte Unlust und den Drang zur
schnelleren Bewegung; die Ruhe ist ihnen zwar Bedürfnis, zunächst
jedoch eher Qual. Im weiteren Übungsprozess wächst dann aber Schritt
für Schritt die Einsicht in den Wert der Langsamkeit. Sie ist die
Voraussetzung für die Entwicklung des genauen Spürens, für die
Präzisierung der inneren Aufmerksamkeit. So kann die neue Erfahrung
Raum greifen, dass gelebte Fülle nichts mit temporeich gedrängter
äußerer action zu tun hat, sondern sich über die gesteigerte Intensität des
Erlebens herstellt. Auf den Alltag übertragen, begünstigt die QigongErfahrung die Verwandlung des „Weniger ist mehr“ von der Phrase zur
gelebten Realität.
 Die Überwindung von Trennungen
„Wie sollen wir uns konzentrieren können, nachdem für uns Gehen eine
Sache allein der Beine, Aufmerksamkeit allein des Kopfes, Schlagen allein
des Armes, Schreiben allein der Hand geworden ist und unser gesamter
Alltag nach Uhr und Taktvorgaben und Schulstunden und Fahrplänen usw.
zerstückelt ist? Eigentlich müsste das Bedürfnis danach, etwas in
kon-zentrierter Einheit aller unserer Glieder und Vermögen zu tun, desto
stärker sein, je mehr uns das übrige Leben von uns selbst (...)abtrennt.“
(R. z. Lippe, Am eigenen Leibe, FfM 1978, S.94)
Das System der Abspaltungen und Trennungen, für das der
industrialisierte
Produktionsprozess
das
Urbild
liefert,
ist
zum
durchgängigen Prinzip der arbeitsteiligen Gesellschaft geworden.
Wenngleich die Fähigkeit, alles analytisch zu zerlegen und nach Maßgabe
rationaler Überlegungen neu zusammen zu setzen, eine wesentliche
Wurzel des materiellen Erfolgs in den westlichen Ländern darstellt, so
ahnen wir doch, dass wir andererseits auf
oft fragwürdige Weise
auseinander reißen, was zusammen gehört. Das gilt besonders dort, wo
die Trennungen bis ins Subjekt hinein sich durchgesetzt haben.
- Psyche und Soma
Wir haben uns längst daran gewöhnt, dass Körper und Psyche meist als
getrennte Einheiten erscheinen. Wir haben Ärzte, die nichts von der
Psyche und Psychotherapeuten, die nichts vom Körper verstehen1. Nur zu
oft wird dieser Trennungszustand, der im Kern nur ein Ergebnis
wissenschaftlicher Arbeitsteilung ist, mit der menschlichen Realität
verwechselt – auch und gerade von den Experten.
Ähnliches gilt für das Verhältnis von Energie und Materie2.
Qigong zu üben bedeutet, den Zusammenklang von Bewegung, Atmung
und Aufmerksamkeitsführung und dabei in zunehmenden Maße das
Zusammenspiel von Körper, Geist und Emotion zu erleben, was weit
beeindruckender ist als jede theoretische Spekulation über die psychosomatische Einheit. Damit bietet Qigong die Chance der Wiederaneignung
des Körpers, der ja in unserer Kultur oft nur das mobile Untergestell des
Kopfes darstellt3 und der meist erst dann in den Vordergrund des
Bewusstseins rückt, wenn er „Beschwerden macht“ (oder eben sich ob
seiner Vernachlässigung „beschwert“).
-Anspannung und Entspannung
Zum System der Trennungen gehört die von Arbeit und Freizeit, damit
einhergehend von Anspannung und Entspannung. In der neoliberalen
Die in der Reich’schen Tradition arbeitenden Therapeuten seien hier mal ausgenommen.
Das gilt jedenfalls außerhalb bestimmter physikalischer Spezialdisziplinen.
3
Die Konsequenzen für die Gesundheitsförderung sollen weiter unten dargestellt werden.
1
2
Markt- und Dienstleistungsgesellschaft spitzen sich diese Gegensätze zu.
Als Dienstleister tragen wir nicht mehr nur unsere Arbeitskraft, sondern
auch all unsere persönlichen Ressourcen zu Markte, die wir rationalselbstbeherrscht für „König Kunde“ und den Geschäftserfolg einsetzen.
Zum
Ausgleich
empfangen
uns
in
der
Freizeit
die
Schlaraffenlandversprechen der anderen Dienstleister und Produzenten.
Hier wird alles für uns getan, man ist immer für uns da, wir brauchen uns
nur noch zurückzulehnen und runterzuschlucken. Sozialpsychologen
konstatieren nicht zufällig eine zunehmende Infantilisierung der
Gesellschaft bei gleichzeitiger Härte des materiellen Catch-as-catch-can.
Weil uns während der Arbeit alles abverlangt wird, bedient der
„Entspannungsmarkt“ vor allem die Wünsche nach regressivem
Abschlaffen. Hinlegen und weg sein. Sogenannte „Meditations“-CDs liefern
die Gebrauchsanweisung dazu und beglücken uns mit zartrosa
Synthesizertönen. Schon meinen Viele, dass Meditation eine Frage der
richtigen Musik und nicht eine Haltung und Bewegung des Bewusstseins
sei. Auch das Autogene Training ist nicht frei davon, nur als
unreflektierter, absoluter Gegenpol zur Anstrengung missverstanden zu
werden.
Behindert wird der an sich verständliche Wunsch nach Regression nur all
zu oft durch die Unfähigkeit dazu. Wenn auch im Äußeren der Wechsel von
Arbeit und Freizeit abrupt erfolgen mag, so gelingt er im Bewusstsein noch
längst nicht. Mit der Erwartung einer totalen Entspannung gerät der
Entspannungsversuch
für so Manche zum Erlebnis des persönlichen
Scheiterns: „Ich kann nicht abschalten.“
Am Beispiel des „Stehens“ soll gezeigt werden, dass im Qigong statt eines
polarisierten Verständnisses von Anspannung und Entspannung die
Modulation von beidem anvisiert wird.
„Das Wichtigste (..) für die Entspannung ist die Anziehungskraft der Erde.
Wir sind derart gewohnt, die Zähne aufeinanderzubeißen, alles
runterzuschlucken, die Backen zusammenzukneifen, für alles Mögliche
geradezustehen und unser Bündel zu tragen, daß wir verlernt haben,
unser eigenes Gewicht einfach von der Erde, auf der wir stehen oder
sitzen, tragen zu lassen. Militärische Haltung und feinere Gangart bringen
uns bei, uns wenn nicht am eigenen Zopf aus dem Sumpf zu ziehen, so
wenigstens an den eigenen Schultern aufrechtzuhalten. So ist
Entspannung eine Übung, derart an sich unsinnige Anstrengungen
„einfach“ zu unterlassen.“ (R.z.Lippe, a.a.O., S. 99)
Entspannung heißt im Qigong nicht "Abschlaffen", sondern das Loslassen
von überflüssiger, den Lebensfluss behindernder Anspannung. Das SichFesthalten, körperlicher Ausdruck einer inneren Befindlichkeit, wird den
Übenden schon beim Stehen erfahrbar, wenn der Körper aufrecht in die
richtige Haltung gebracht wird, um seine Last auf den Füßen einfach
aufruhen zu lassen. Die Vorstellung von oberer Leichtigkeit bei unterer
Festigkeit hilft Verspannungen, z.B. in den Schultern oder im unteren
Lendenwirbelbereich, zu lösen. Die so frei werdende Kraft dient dazu, die
Haltung vom Becken und unteren Rückgrat her neu aufzubauen, so dass
Wirbelsäule und Oberkörper mit Leichtigkeit, wie von allein, Halt finden.
Es kommt also daran, „mit beiden Beinen auf der Erde zu stehen“, die
übliche energetische Dominanz des oberen (besonders des Kopf-)
Bereiches frei zu geben. Die Vorstellung von oberer Leichtigkeit bei
unterer Festigkeit wird ebenfalls bei den Übungen in Bewegung
beibehalten.
Entspannung meint hier also nicht das Auflösen aller Spannungen,
sondern die Ablösung einengender und schmerzender Verspannungen
durch eine neue, von unten her entwickelte Festigkeit, die gleichzeitig
mehr Beweglichkeit ermöglicht und die als „Wohlspannung“ erlebt wird.
Bei beharrlichem Üben, das im Grunde ein Forschungsprozess am eigenen
Leibes ist, lernen wir nach und nach immer genauer zu erspüren, welche
Spannungen Blockaden und Verkrampfung bedeuten und welche anderen
Festigkeit und Freiheit entwickeln.
In der Generalisierung erkennen wir Qigong als ein praktisches Modell für
die zu entwickelnde Alltags-Fähigkeit, Spannungslösung nicht nur
ausschließlich jenseits der Aktivitäten, sondern ebenso in ihnen
zuzulassen. Denn das Übermaß an Anstrengung, dass uns so erschöpft,
entsteht nicht nur aus einem Zuviel an Pflichten und Aufgaben, sondern
auch, weil wir uns oft einerseits verausgaben und andererseits uns
unbemerkt dabei festhalten, gewissermaßen Gas und Bremse gleichzeitig
drücken.
Diese Überlegungen führen uns zu einem wichtigen Schlüsselpunkt der
Qigong-Praxis:
 Das „richtige Maß“
Qigong-Anfänger schießen oft erst mal über das Ziel hinaus, tun mehr als
nötig. Am Beispiel der Übung „Das Boot sanft aufs Wasser schieben“ soll
das Gemeinte verdeutlicht werden:
Die Übung wird wie auf dem linken Bild vorgeführt. Die Bewegung wird in
aufrechter Haltung vollzogen, die Verlagerung des Gewichts auf den
vorderen Fuß geschieht vom und mit dem Becken.
Das rechte Bild zeigt die Variante, wie sie Anfänger sehr oft ausführen.
Statt im Dantian, im Zentrum, zu ruhen, wird der Schwerpunkt zum
Oberkörper hinaufgezogen, Arme und Hände streben weit nach vorn, der
Kopf ebenso. Die Schultern sind gespannt, Arme gestreckt, der ganze
Mensch nimmt gleichsam eine „Stromlinienform“ an. Dabei haben die
Beine Mühe, den Körper zu halten, die Haltung kostet viel Kraft ohne
stabil zu sein – ein leichter Stoß von hinten, und der Übende würde sofort
vornüber fallen.
Wenn man den Kursteilnehmern diese Haltung demonstriert und sie mit
der Frage konfrontiert, welches Lebensgefühl sich in ihr ausdrückt, sind
die Assoziationen eindeutig:
Dies ist die Haltung bzw. Bewegung eines Menschen, der zu Zielen strebt,
besser: getrieben wird. Ziele bedeuten die Orientierung in die Zukunft,
und zwar eine Zukunft, die anscheinend nicht abgewartet werden kann.
Man eilt ihr entgegen, indes die Verbindung zur Mitte, zur Gegenwart
aufgekündigt wird. Die Kursteilnehmer bestätigen bei diesem Thema auch,
dass sie oft schon an das nächste denken, während sie noch mit einer
Sache beschäftigt sind. Diese Kolonialisierung der Gegenwart durch die
Zukunft bildet sich in der Form der Bewegung ab. Dabei wird direkt
körperlich erfahrbar, wie viel Anstrengung und Unbehagen das Leben auf
diese Weise bereitet.
Qigong als Metapher für Lebenshaltungen fordert die Übenden heraus, das
ihnen angemessene, richtige Maß von Anspannung und Entspannung,
Wollen und Geschehenlassen zu erkunden. Dabei schlägt jede(r) Übende
seinen eigenen Weg ein. Der Schlüsselpunkt „Natürlichkeit“ hängt mit der
Erkundung des individuellen „richtigen Maßes“ zusammen. Das heißt, es
kommt nicht darauf an, die von der Lehrperson gezeigten Formen 1:1 zu
kopieren, sondern sich selbst in der Auseinadersetzung mit den
Bewegungsformen zu erkunden: Die Übung macht nicht nur den Meister;
die Übung ist der Meister.
Die von geduldiger Achtsamkeit gestiftete allmähliche Erfahrung der
„Wohlspannung“ weist den Weg und bietet die Chance, die Erkenntnisse
aus den Übungen auch auf den Alltag zu übertragen. Damit entsteht eine
wichtige Bewältigungsressource, die eine nicht zu unterschätzende
Bedeutung für das Gesundheitsverhalten darstellt. Dieser Aspekt soll im
letzten Abschnitt betrachtet werden.
 Gegenerfahrung statt Überredung: Qigong - ein Weg aus dem
pädagogischen Dilemma der Prävention?
„Eine Gesundheit an sich gibt es nicht, und alle Versuche, ein Ding derart
zu definieren, sind kläglich missraten. Es kommt auf dein Ziel, deinen
Horizont, deine Kräfte, deine Antriebe, deine Irrtümer und namentlich auf
die Ideale und Phantasmen deiner Seele an, um zu bestimmen, was selbst
für deinen Leib Gesundheit zu bedeuten habe. Somit gibt es unzählige
Gesundheiten des Leibes“(Friedrich Nietzsche)
Beim Qigong orientieren wir uns im Lernprozess immer mehr am inneren
Erleben als am äußeren Vorbild. Auf der Grundlage von Eigeninitiative und
Verantwortung entwickelt sich ein differenzierteres, ichnäheres Körperbild,
zugleich damit eine zentrale gesundheitsförderliche Ressource.
Mit dem ernsthaften Üben von Qigong wird die Befähigung entwickelt,
selbstwirksam die eigene Gesundheit zu beeinflussen. Damit entspricht die
Qigong-Praxis meiner Auffassung nach einer zentralen Forderung der
WHO.
Der Begriff „Gesundheitsförderung“, wie ihn die WHO 1986 in der
„Ottawa-Charta“ entwickelte, war mit seiner Betonung auf „Befähigung“
und
„Ressourcenorientierung“
als
kritischer
Gegenentwurf
zur
expertendominierten „Risikofaktoren-Prävention“ gemeint.
Kritiker werfen der Prävention vor, dass sie sich nicht auf den Menschen
als Subjekt, sondern nur auf das Vorhandensein bzw. (Noch)NichtVorhandensein von Krankheit richtet. Verhaltensmodifizierende Ansätze
werden aus der Erforschung von Krankheit, nicht von Gesundheit
entwickelt. Aufgrund dieser Ableitung aus der Medizin werden dementsprechend, zumindest tendenziell, auch die problematischen Aspekte der
medizinischen Krankenbehandlung auf die präventiven Perspektiven
übertragen . Der Psychoanalytiker Klaus Horn wies einmal darauf hin, dass
die im Medizinsystem Tätigen den Patienten als unmündiges Kind
wahrnehmen, dem man genau sagen müsse, was es zu tun habe. Den
Risikofaktorenprävention-Ansatz, bezeichnete Horn als das Resultat einer
„ganz normalen autoritären Einstellung“ zum Patienten, „übertragen ins
Prophylaktische“1.
Gesundheit hat aus dieser Sicht nichts mit erfülltem Leben und
tendenzieller Aufhebung von Selbstentfremdung zu tun, sondern mit
Symptomfreiheit und dem Erreichen immer wieder einmal veränderter
medizinischer Parameter. Medizinische Experten definieren den gesunden
Blutdruck, Cholesterinspiegel, die richtigen Harnsäure- und Leberwerte,
indes psychologische Experten die entsprechenden Verhaltensziele
formulieren und Überredungstechniken entwickeln, die die Patienten zum
Einschlagen des richtigen Weges motivieren sollen.
So, wie im Medizinsystem nur allzu oft die Krankheit vom kranken
Menschen getrennt wird, besteht in den verhaltenstherapeutisch
orientierten Ansätzen die Gefahr, Verhalten vom Psychischen abzuspalten
bzw. Bewusstsein als Steuerungsinstanz des Verhaltens kognitivistisch zu
verkürzen. Das Verhalten soll dann nach einem relativ simplen
methodischen Schema von Beobachtung, Veränderung und Stabilisierung
1
Klaus Horn, Gesundheitserziehung, in Angela Venth (Hrsg.), Gesundheit und Krankheit als
Bildungsproblem,Bad Heilbrunn/Obb 1987, S. 168
moduliert und dem Ideal angenähert werden. Das Problem (und der
Segen) dabei ist, dass die Menschen selten so rational sind , wie die
Wissenschaftler es sich ausdenken.
Solche streng auf Einsicht und Disziplin beruhenden Konzepte existieren
auch heute noch, obwohl wir seit den 60er Jahren wissen, dass sie kaum
funktionieren. Das dürfte im Wesentlichen dem schwer auflösbaren
Widerspruch zwischen Ziel und Weg geschuldet sein, nämlich zwischen
dem
Ziel Gesundheit und Wohlbefinden und einer anstrengenden
rationalen, kontrollierenden Verhaltensdisziplin auf dem Weg dorthin, zu
der die Menschen anscheinend immer weniger bereit sind.
Heute (2014) sieht es zunächst so aus, als habe sich das Bild gewandelt:
Immer mehr Menschen sind bereit, im Namen der gesundheitlichen
Selbstoptimierung
ihr
"Wellness-Programm"
von
digitalen
Messinstrumenten regulieren zu lassen, die ihnen ständig Daten zu
vermeintlich wichtigen Körperfunktionen zurückmelden. Die autoritären
Gesundheitslehrer haben ihre "Pädagogik" an die Apparatur delegiert.
Korrumpiert vom Spieltrieb, dem die piepsenden Maschinchen zuarbeiten,
integrieren die modernen Gesundheitsbewussten die datengesteuerten
Handlungsimperative freiwillig in ihren Alltag - Unmündigkeit als "freie"
Entscheidung. Der anarchische "innere Schweinehund" bleibt ihnen als
einziger treuer Freund hoffentlich erhalten. Allerdings will ich nicht
ausschließen, dass auch ein im wohlverstandenen Sinne rationaler, d.h.
"aufgeklärter" Umgang mit diesen neuen digitalen Überwachern möglich
ist. Schließlich ist es nur eine Technologie.
Trotz der gesundheitspädagogischen Falltüren, die unter dem Boden der
medizinisch orientierten Prävention versenkt sind, teile ich nicht die
Auffassung mancher Kritiker, dass sie am besten ganz eingestellt werden
sollte. Denn dann würde das Kind mit dem Bade ausgeschüttet werden,
und die ja auch zu Recht bestehenden medizinischen Argumente könnten
nicht mehr berücksichtigt werden.
Krankheit und sogenanntes Risikoverhalten können uns zwar ein Anlass
sein, unseren Versicherten auch Qigong anzubieten. Dann aber haben wir
nicht ein Symptom auf zwei Beinen vor uns, sondern einen ganzen
Menschen mit komplexen Gefühlen, mit widersprüchlichen Wünschen und
Motiven, Vorlieben und Idiosynkrasien. Dieser Mensch lebt nicht einfach
ein „Fehlverhalten“ aus, sondern er hat auch gute Gründe dafür und
andererseits Kompetenzen, die es zu entdecken und zu stärken gilt.
Wir versuchen also u.a. auch mit Qigong, einen gleichsam „weichen Weg“
zwischen
ganzheitlicher
Gesundheitsförderung
und
Abbau
von
gesundheitlichem Risikoverhalten zu finden. Dabei ist auf die
Selbstregulationsfähigkeit der Menschen in ihrem aktuellen Lebensprozess
zu setzen und auf die Förderung von Bewusstheit und Sensibilisierung, die
einer verordneten Verhaltensdisziplin meines Erachtens allemal überlegen
ist.
Meiner Erfahrung nach erfüllen die Qigong-Übungen diese Forderung auf
hervorragende Weise. Denn Qigong läßt sich nicht nur sekundär- und
tertiärpräventiven Ansätzen problemlos integrieren;
die Übungen
enthalten auch einen enormes Plus gerade durch ihre „unspezifische“, die
menschliche Homöostasis betreffende Wirkung.
Qigong spricht direkt die Selbstregulationskräfte im Menschen an. Es sind
Körper und Geist integrierende Übungsformen, die der allgemeinen
Vitalisierung dienen, die die Atmung intensivieren und als Meditiation in
Bewegung eine entspannende, stresslösende Wirkung haben. Damit
kommen die Übungen den oben schon erwähnten Regressionsbedürfnissen
entgegen, ohne aber ein dumpfes
„Abschlaffen“ zu bewirken. Im
Gegenteil - wir erfahren eine für uns westliche Menschen so wichtige
Verfeinerung
unser
Körperselbstwahrnehmung
und
erleben
den
psychosomatischen Zusammenhang von Bewegung und Bewegtsein, von
Motion und E-Motion: Zu einer runden Bewegung gehört ein rundes
Gefühl.
Obwohl auch diese Übungen eine gewisse Selbstdisziplin erfordern, kommt
es doch weniger auf die äußere Leistung an, als auf innere
Aufmerksamkeit. Qigong-Übende ernten auf motivierende Weise die
Früchte ihrer Mühe schon sehr bald, erfahren eine körperliche und
psychische Stabilisierung.
Qigong ist meines Erachtens damit ein gutes Modell für einen neuen Weg
in der Gesundheitsförderung. Wenn nämlich, unterstützt durch eine
intensive Begleitung, mit Hilfe von Qigong
mehr Bewusstheit und
verfeinerte Körperwahrnehmung erlangt werden kann, dann entwickelt
sich auch die Empfindung, im Körper „zu Hause“ zu sein und ihn nicht bloß
als ein Instrument zu besitzen. Mit der allmählichen Verringerung der
leiblichen Selbstentfremdung wächst die Chance, sensibler für die
bisherigen Selbstschädigungen zu werden, für das, was man sich in
seinem Alltag so alles antut. Somit kann auch dieser Weg zu
Verhaltensänderungen führen, aber nicht aufgrund äußerer Argumente,
und Verhaltensregeln, sondern gleichsam „von innen heraus“, als Resultat
von Gegenerfahrungen und neuer Empfindungsfähigkeit.
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