HISTORISCHER HINTERGRUND: "DIE WEISSE ROSE"

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HISTORISCHER HINTERGRUND: "DIE WEISSE ROSE"
"Die Hinrichtungen"
22. Februar 1943 :
Sophie Scholl
Hans Scholl
Christoph Probst
13. Juli 1943:
Alexander Schmorell
Kurt Huber
12. Oktober 1943:
Willi Graf
"1 Jahr Gefängnis"
Gisela Schertling
Traute Lafrenz
Freigesprochen
Dr. Falk Harnack
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Am 30. Januar 1933 kam Adolf Hitler an die Macht
Ulm: Hans Scholl ist 14 Jahre alt und seine Schwester, Sophie,
ist 10 Jahre alt. "In den nächsten Wochen hörten sie viel von
Vaterland, Kamaradschaft und Heimatliebe reden. [. . .] Auch
waren Hans und Sophie begeistert von den marschierenden Kolonnen
der Jugend. Sobald sie Gelegenheit hatten, traten sie in die
Hitlerjugend ein. Da sie mit Leib und Seele dabei waren, konnten
sie nicht verstehen, daß ihr Vater gar nicht glücklich war. Er
war nicht stolz auf die uniformierte Tochter und den
uniformierten Sohn. Es war ihnen unklar, wieso er Hitler mit dem
Rattenfänger von Hameln vergleichen konnte. Es war ihnen unklar,
was er meinte, als er von Naziverbrechern sprach. Die Worte des
Vaters waren in den Wind gesprochen.
In den nächsten Jahren fühlten sich die Kinder als Teile
einer großen Bewegung. Dann und wann kamen allerdings Fragen auf.
Eines Abends erklärten mehrere der Gruppe, es wäre ja alles sehr
schön, nur die Sache mit den Juden wäre ihnen unverständlich.
Ein Älterer antwortete: "Hitler weiß schon, was er tut. Um der
großen Sache willen muß man manches Schwere und Unverständliche
akzeptieren. Obgleich viele mit der Antwort nicht zufrieden
waren, hatten die meisten die Sache am nächsten Tage wieder
vergessen. Hans Scholl aber dachte weiter darüber nach. Auch kam
dazu, daß er eine Erfahrung machte, die ihn sehr persönlich traf.
Schon lange hatte er Volkslieder gesammelt, dänische und
norwegische, englische und französische, die seine Freunde gern
hörten, wenn er sie zur Gitarre sang. Als ein Hitlerjugendführer
das Singen hörte, erklärte er: "Solche Lieder sind verboten. Es
gibt genug deutsche Lieder." Hans Scholl legte die Gitarre weg,
ging nach Hause, legte sich aufs Bett und konnte stundenlang
nicht einschlafen.
Im Jahre 1936 wurde Hans Scholl auserwählt, das Banner
seiner Gruppe beim Parteitag in Nürnberg zu tragen. Seine Freunde
und Bekannte gratulierten. Mit großer Begeisterung fuhr er nach Nürnberg. Die
Geschwister warteten gespannt auf den Bericht über
die großen Ereignisse. Als er zurückkam, war zunächst wenig aus
ihm herauszubringen. Erst mit der Zeit erfuhr man, daß die
Wirklichkeit ganz anders aussah als das Ideal. In Nürnberg hatten
die Führer tagaus tagein von Treue geredet, aber zu sehen war
nichts als Drill und Uniform.
Einige Wochen später kam er mit einem neuen Verbot nach
Hause. Ein höherer Nazi hatte ihm ein Buch von Stefan Zweig aus
der Hand genommen mit der Erklärung, daß es verboten sei. Warum?
Stefan Zweig war Jude. In derselben Zeit hörte er die Geschichte
von einem jungen Lehrer, der plötzlich in ein Konzentrationslager
verschwunden war. [. . .]
Hans Scholl war schon jahrelang Mitglied einer Organisation
für Vierzehn- bis Achtzehnjährige, die sich "Jungenschaft"
nannte. Die "Jungenschaft" war unter Hitler halb verboten, aber
es gab sie noch in manchen Städten Deutschlands. Die Jungen
machten Wanderungen zusammen, übernachteten im Freien, saßen vor
dem Feuer und sangen. Sie malten und photographierten, lasen und
schrieben. Von Zeit zu Zeit erschienen ihre Fahrtenbücher und
Zeitschriften. Plötzlich erklärten die Nazis im Jahre 1938, diese
Jungen mit ihren Liedern und Büchern wären eine Gefahr fürs
Vaterland.
Alle Jugendlichen, die bemüht waren, die alten Jugendgruppen
aufrecht zu erhalten, wurden gemaßregelt. Hiervon wurden 1937 Hans
Scholl, seine Schwester Inge und sein Bruder Werner sowie andere
Freunde betroffen, als sie wegen "bündischer Umtriebe" für kurze
Zeit inhaftiert wurden. Ihr "Verbrechen" bestand darin, daß ein
Teil ihrer ehemaligen Gruppe weiter wie früher Sonntag für
Sonntag zelten gefahren war oder ausgedehnte Wanderungen
unternommen hatte. Hierin sah das faschistische Terrorregime
bereits eine staatsgefährdende Handlung."
Alexander Schmorell war unter dem Druck der faschistischen
Zwangsmaßnahmen ebenfalls Mitglied der HJ geworden. Er stand aber
von Anfang an der "neuen Ordnung" skeptisch gegenüber. Wie große
Teile der männlichen Jugend gingen sie nach dem Abitur "freiwillig" zum
Reichsarbeitsdienst und anschließend zur
faschistischen Wehrmacht."
Im Jahre 1938 fährt Hans Scholl nach München, um Medizin zu
studieren. Vier Jahre später an ihrem Geburtstag (9. Mai) fährt
Sophie Scholl auch nach München, um an der Uni zu studieren.
Heinrich Himmler, Reichsführer der SS und Chef der Gestapo:
"Wenn jemand dem Führer oder dem Reich nicht treu ist, und sei es
nur in Gedanken, so habt ihr dafür zu sorgen, daß dieser Mensch
unsere Reihen verläßt. Wir werden dafür sorgen, daß er diese Welt
verläßt."
Juli-November, 1942: Die Freunde -- Hans Scholl, Alex Schmorell
und Willi Graf -- verbringen fünf Monate an der Front in Rußland.
Ende Dezember 1942: Die Studenten erzählen Professor Huber, daß
sie die Flugblätter herstellen und verbreiten.
Januar 1943: Die Studenten erhalten die Adresse von Dr. Falk
Harnack.
Am 3., 8. und 15. Februar findet man antifaschistische Sprüche
an den Mauern der Uni.
Am 18. Februar werden Hans und Sophie Scholl an der Uni
verhaftet und zum Wittelsbacher Palais, dem Gestapo-Gefängnis,
gebracht. Zwischen dem 18. und 22. Februar gibt es fast ständig
Verhöre, die die Geschwister erdulden müssen. Am 19. Februar
erfahren die Eltern, was ihren Kindern passiert ist. Sie reisen
am 22. Februar nach München und erreichen den Gerichtsaal, als
das Todesurteil ausgesprochen wird.
Einen Augenblick vor der Hinrichtung führen einige
Gefangenenwärter die drei noch einmal zusammen, obgleich es
verboten ist. "Wir wollten", so schrieb einer der Wärter später, "daß sie noch eine
Zigarette miteinander rauchten. Es waren nur
ein paar Minuten, aber ich glaube, es hat viel für sie
bedeutet."
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Aus den Prozeßunterlagen wissen wir, daß das letzte Flugblatt
nicht so erschienen ist, wie es von Professor Huber ausgearbeitet
worden war, sondern daß Hans Scholl einen wesentlichen Abschnitt
gestrichen hatte, der sowohl Ausdruck antikommunistischer
Auffassungen Hubers war, als auch gleichzeitig seines
Unvermögens, die Funktion der faschistischen Wehrmacht als eines
eminenten Bestandteils des nationalsozialistischen Regimes zu
verstehen. Dieser Abschnitt lautete:
"Studenten, Studentinnen. Ihr habt Euch der deutschen Wehrmacht
an der Front und in der Etappe, vor dem Feind, in der
Verwundetenhilfe, aber auch im Laboratorium und am Arbeitsplatz
restlos zur Verfügung gestellt. Es kann für uns alle kein anderes
Ziel geben, als die Vernichtung der russischen Bolschewismus in
jeder Form. Stellt Euch weiterhin geschlossen in die Reihen
unserer herrlichen Wehrmacht."
"Gedanken aus Briefen von Sophie Scholl"
5. September 1939: Ich kann es nicht begreifen, daß nun dauernd
Menschen in Lebensgefahr gebracht werden von anderen Menschen.
Ich kann es nie begreifen und ich finde es entsetzlich. Sag
nicht, es ist für's Vaterland.
19. September 1939: Der Hoffnung, daß der Krieg bald beendet sein
könnte, geben wir uns nicht hin, obwohl man hier der kindlichen
Meinung ist, Deutschland würde England durch Blockade zum Ende
zwingen. Wir werden ja alles noch sehen.
9. April 1940: Manchmanl graut mir vor dem Krieg, und alle
Hoffnung auf eine bessere Zukunft will mir vergehen. Ich mag gar
nicht dran denken, aber es gibt ja bald nichts anderes mehr als
Politik, und solange sie so verworren ist und böse, ist es feige,
sich von ihr abzuwenden.
Ich glaube, ich wäre sehr viel froher, wenn ich nicht immer
unter dem Druck stünde, ich könnte mit viel besserem Gewissen
anderem nachgehen. So aber kommt alles andere erst in zweiter
Linie. [. . .}
16. Mai 1940: An Pfingsten jedoch war es ganz herrlich, und es
ist wunderbar, daß nichts die Natur aus ihrem Gange bringt. Wie
wir so im Grase lagen, über uns die so lichtgrünen Buchenzweige
vor dem mit weißen Spinnweben überzogenen Himmel, da konnte Krieg
und Sorge kaum mehr Platz finden neben dieser Schönheit. Am Bach
war die Wiese ganz rot durchdrungen von Lichtnelken, und es gab
herrlich große und saftige Dotterblumen. Aber auch sonst noch
hunderterlei Blüten und Kräuter wuchsen in Wiese und Wald.
. . . Hast Du in Holland schon schöne Blumen gesehen, denn
es ist doch das Gartenland. Hoffentlich sind die Unschuldigen
nicht alle zerstört worden.
. . . Ich wünsche Dir sehr, daß Du diesen Krieg und diese
Zeit überstehst, ohne ihr Geschöpf zu werden. Wir haben alle
unsere Maßstäbe in uns selbst, nur werden sie zu wenig gesucht.
Vielleicht auch, weil es die härtesten Maßstäbe sind.
Brief an Fritz Hartnagel: (22.Juni 1940)
Ich glaube es zu gerne, daß Du mir, wenn wir auf
weltanschauliche, und davon schlecht zu trennen, politische
Gespräche kommen, nur aus Opposition widersprichst. Ich kenne
dies, man tut es sehr gerne. Aber ich habe nie aus Opposition
gesprochen, wie Du vielleicht auch heimlich glaubst, im
Gegenteil, ich nahm unbewußt immer noch etwas Rücksicht auf
Deinen Beruf, in dem Du gebunden bist, der es vielleicht auch
letzten Endes ausmacht, daß Du diese Dinge vorsichtiger wägst,
vielleicht auch Zugeständnisse machst, hierhin und dorthin.
Ich kann es mir nicht vorstellen, daß man etwa zusammen leben
kann, wenn man in solchen Fragen verschiedener Ansicht oder doch
zumindest verschiedenen Wirkens ist.
Der Mensch soll ja nicht, weil alle Dinge zwiespältig sind,
deshalb auch zwiespältig sein. Diese Meinung trifft man aber
immer und überall. Weil wir hineingestellt sind in diese
zwiespältige Welt, deshalb müssen wir ihr gehorchen. Und
seltsamerweise findet man diese ganz und gar unchristliche
Anschauung gerade bei den sogenannten Christen.
Wie könnte man da von einem Schicksal erwarten, daß es einer
gerechten Sache den Sieg gebe, da sich kaum einer findet, der
sich ungeteilt einer gerechten Sache opfert.
Ich muß hier an eine Geschichte des Alten Testamentes
denken, wo Mose Tag und Nacht, zu jeder Stunde, seine Arme zum
Gebet erhob, um von Gott den Sieg zu erbitten. Und sobald er
einmal seine Arme senkte, wandte sich die Gunst von seinem
kämpfenden Volke ab. Ob es wohl auch heute noch Menschen gibt, die nicht müde
werden, ihr ganzes Denken und Wollen auf eines
ungeteilt zu richten? Ich möchte mich damit jedoch nicht auf die
Seite stellen, die einfältigen Sinnes ist in der wahren Bedeutung
des Wortes. Ich kenne kaum eine Stunde, in der nicht einer meiner
Gedanken abschweift. Und nur in einem winzigen Bruchteil meiner
Handlung tue ich, was ich für richtig halte. Oft graut mir vor
diesen Handlungen, die über mir zusammenwachsen wie dunkle Berge,
so daß ich mir nichts anderes wünsche als Nicht-Sein, oder als
nur eine Ackerkrume zu sein, oder ein Stückchen einer Baumrinde.
Aber schon dieser oft überwältigende Wunsch ist wieder schlecht,
denn er entspringt ja nur der Müdigkeit.
Die Müdigkeit, sie ist das größte, was ich besitze.
Ihretwegen schweige ich, da ich reden sollte, da ich Dir bekennen
sollte, was uns beide angeht. Ich verschiebe es auf später. Ach,
ich wünschte, eine Zeitlang auf einer Insel zu leben, wo ich tun
und sagen darf, was ich möchte und nicht immer Geduld haben muß,
unabsehbar lange.
28. Juni 1940: Die Einstellung der meisten Leute hier ist so: Wie
der Krieg ausgeht, ist egal, wenn nur mein Sohn oder Mann bald
wieder gesund heimkommt.
Es hat den Anschein, als ob es den Franzosen auch nur um
ihre gut bürgerliche Ruhe gegangen wäre. Es hätte mir mehr
imponiert, sie hätten Paris verteidigt bis zum letzten Schuß,
ohne Rücksicht auf die vielen wertvollen Kunstschäze, die es
birgt, selbst wenn es -- wie sicher war -- keinen Nutzen gehabt
hätte, wenigstens keinen unmittelbaren. Aber Nutzen ist heute
alles, Sinn gibt es nicht mehr. Ehre gibt es wohl auch nicht
mehr. Die Hauptsache, daß man mit dem Leben davonkommt.
Wenn ich nicht wüßte, daß ich wahrscheinlich viele ältere
Leute überlebe, dann könnte mir manchmal grauen vor dem Geist,
der heute die Geschichte bestimmt. Nun, wo der große Löwe
geschlagen ist, wagen sich die Schakale und Hyänen hervor, um auf
ihre Rechnung zu kommen.
Du findest es sicher unweiblich, wie ich Dir schreibe. Es
wirkt lächerlich an einem Mädchen, wenn es sich um Politik kümmert. Sie soll ihre
weiblichen Gefühle bestimmen lassen über
ihr Denken, vor allem das Mitleid. Ich aber finde, daß zuerst das
Denken kommt, und daß Gefühle oft irreleiten, weil man über dem
Kleinen, das einen vielleicht unmittelbar betrifft, vielleicht am
eigenen Leib, das Große kaum mehr sieht. Man kann auch einem Kind
nicht sogleich alles zur Linderung bringen, wenn es weint. Denn
oft ist es besser für das Werden des Kindes, wenn man nicht
seinem ersten Gefühl nachgibt.
. . . Ich arbeite eher zu wenig als zu viel. Noch lange
leiste ich nicht das, was ich könnte. Und eines habe ich mir
abgewöhnt: das Träumen von Dingen, die mir angenehm sind. Das
lähmt.
Brief an Fritz (23.September 1940)
Die Stellung eines Soldaten dem Volk gegenüber ist für mich
ungefähr die eines Sohnes, der seinem Vater und seiner Familie
schwört, in jeder Situation zu ihm oder zu ihr zu halten. Kommt es vor, daß der Vater
einer anderen Familie Unrecht tut und
dadurch Unannehmlichkeiten bekommt, dann muß der Sohn trotz allem
zum Vater halten. So viel Verständnis für Sippe bringe ich nicht
auf. Ich finde, daß immer Gerechtigkeit höher steht als jede
andere, oft sentimentale Anhänglichkeit.
Und es wäre doch schöner, die Menschen könnten sich bei
einem Kampfe auf die Seite stellen, die sie für die
gerechtfertigte halten.
Ich hielt es immer für falsch, wenn ein Vater ganz auf
seiten seines Kindes stand, etwa wenn der Lehrer das Kind
gestraft hatte, selbst wenn er es noch so liebte, oder gerade
deshalb. Ebenso unrichtig finde ich es, wenn ein Deutscher oder
Franzose sein Volk stur verteidigt, nur weil es sein Volk ist.
Gefühle leiten oft irre. Wenn ich auf der Straße Soldaten sehe,
womöglich noch mit Musik, dann bin ich auch gerührt, früher mußte
ich mich bei Märschen gegen Tränen wehren. Aber das sind
Sentimente für alte Weiber. Es ist lächerlich, wenn man sich von
ihnen beherrschen läßt.
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In der Schule wurde uns gesagt, die Einstellung eines
Deutschen sei eine bewußt subjektive. Solange sie dabei nicht
auch noch objektiv ist, kann ich dies nicht anerkennen. Aber
diese subjektive Haltung hat vielen Leuten eingeleuchtet, und
manche, die nach einer Form für ihre sich widerstreitenden
Gefühle suchten, haben sich aufatmend zu ihr bekannt.
•Gespräch mit Fritz Hartnagel (Richter in Stuttgart) 1980
Was die Politik anging, so war von uns beiden Sophie die
Tonangebende. Wir haben oft diskutiert und waren zunächst
keineswegs in allen Fragen einer Meinung. Nur zögernd und
widerwillig fand ich mich bereit, ihren Gedanken zu folgen. Es
bedeutete einen gewaltigen Sprung für mich, mitten im Krieg zu
sagen: "Ich bin gegen diesen Krieg." Oder: "Deutschland muß
diesen Krieg verlieren." Aber nicht nur Sophie, auch ich hatte im
Laufe der Jahre eine Menge gesehen, was mich nachdenklich
stimmte: Nach 1933 die Schutzhaft für die Gegner des NS-Regimes,
später die Judenverfolgung, die man im Haus Scholl unmittelbar
miterlebte. Robert Scholl hatte als Steuerberater häufig Kontakt
mit Juden, von denen einige ihr Geschäft aufgeben mußten oder die
eines Tages ganz verschwanden.
Zur Familie Scholl kam oft die Witwe eines jüdischen Arztes
zu Besuch. Ihr Mann hatte als Offizier im Ersten Weltkrieg hohe
Auszeichnungen bekommen. Zum Geburtstag erhielt er regelmäßig
handschriftliche Briefe des Ulmer Bürgermeisters. Die Familie
gehörte also zur Prominenz der Stadt. Die Frau hat überhaupt
nicht begriffen, daß sie unter den neuen Machthabern nichts mehr
war, daß sie auf die Verdienste von gestern nicht mehr bauen
konnte. Eines Tages gab sie bei den Scholls das Familienalbum mit
den Bildern ihres verstorbenen Mannes ab. Mir überreichte sie
eine Pistole mit der Bemerkung, ich als Offizier könne sie noch
am ehesten aufbewahren. Einige Tage später wurde sie abgeführt
und in ein Konzentrationslager gebracht.
Die Judenverfolgung, die in der Reichskristallnacht am
9. November 1938 zu einer Explosion von Gewalt mit organisierten
Übergriffen auf Juden und jüdische Geschäfte und Synagogen
eskalierte, hat mich besonders erschüttert. Während der
Militärzeit habe ich zwar unmittelbar keine Mordkommandos erlebt,
aber ich wurde während einer Zugfahrt in Rußland Zeuge einer
Unterhaltung von Offizieren. Sie sprachen über
Massenerschießungen und taten dies so, als sei es das
Selbstverständlichste auf der Welt, Juden zu erschießen. Ich war
zutiefst erschrocken, als ich plötzlich auf diese Weise Augenzeuge der Wirklichkeit
wurde. Vorher hatte ich zwar
gelegentlich im sogenannten Feindsender von Greueltaten und
Massenerschießungen gehört, aber ich war skeptisch geblieben und
wußte nicht, ob es sich um Propaganda oder um die Wirklichkeit
handelte. Insofern wurde mir allmählich klar, daß das ein
Verbrecherregime war, dem ich als Soldat diente. Aber der
Schritt, als Offizier innerlich auf die andere Seite
überzuwechseln, forderte seine Zeit. Der ließ sich nicht von
heute auf morgen vollziehen.
Für Sophie, die kein kalt berechnender Mensch war, sondern
sehr gefühlvoll sein konnte, war bezeichnend, mit welch scharfem
Verstand und mit welch logischer Konsequenz sie die Dinge zu Ende dachte. Dafür ein
Beispiel: Im Winter 1941/42 wurde die
Bevölkerung in Deutschland in einer großangelegten Propagandaaktion aufgefordert,
Wollsachen und warme Kleidungsstücke für die
Wehrmacht zu spenden. Die deutschen Soldaten standen vor
Leningrad und Moskau und befanden sich in einem Winterkrieg, auf
den sie nicht vorbereitet waren. Mäntel, Decken und Skier sollten
abgeliefert werden. Sophie vertrat jedoch den Standpunkt: "Wir
geben nichts." Ich kam damals direkt von der Front aus Rußland.
Ich sollte in Weimar eine neue Kompanie aufstellen. Als ich von
Sophies harter Reaktion erfuhr, habe ich ihr vor Augen geführt,
was eine solche Haltung für die Soldaten draußen bedeutete, die
keine Handschuhe, keine Pullover und keine warmen Socken besaßen.
Sie blieb jedoch bei ihrer unnachgiebigen Haltung und begründete
sie mit den Worten: "Ob jetzt deutsche Soldaten erfrieren oder
russische, das bleibt sich gleich und ist gleichermaßen schlimm.
Aber wir müssen den Krieg verlieren. Wenn wir jetzt Wollsachen
spenden, tragen wir dazu bei, den Krieg zu verlängern."
Auf mich wirkte dieser Standpunkt schockierend. Wir
diskutierten heftig. Mehr und mehr mußte ich jedoch einsehen, daß
ihre Haltung nur konsequent war. Man konnte nur entweder für Hitler oder gegen ihn
sein. War man gegen Hitler, dann durfte er
diesen Krieg nicht gewinnen, denn nur eine militärische
Niederlage konnte ihn beseitigen. Das hieß weiter: Alles, was dem
sogenannten Feind nützte und uns Deutschen schadete, das allein
konnte uns die Freiheit wiederbringen.
”Tagebuchnotizen von Hans Scholl•
31. Juli 1942: Über der Ebene hängen graue Wolken. Der Horizont
ist wie ein silbergraues Band, das Himmel und Erde trennt. Auf
der Erde aber leuchten die Farben durch den leichten Regen nicht
minder in allen Tönen des Braun, Gelb und Grün. Wenn weit in der
Ferne ein Lichtstrahl durch die Wolkendecke fällt, erstrahlt eine Fläche Landes gleich
einem Spiegel, dann lacht die Erde wie ein
Kind, aus dessen Augen durch Tränen hindurch ein Lächeln bricht.
Und welche Pracht der Blumen blüht an diesem Bahndamm: Als
ob sie sich hier alle zusammengefunden hätten, auf daß keine
Farben fehlen, so blühen sie hier mit sanfter Gewalt•überall,
neben verfallenen Häusern, ausgebrannten Güterwagen, verstörten
Menschengesichtern. Blumen blühen und Kinder spielen ahnungslos
zwischen den Trümmern. O Gott der Liebe, hilf mir über meine
Zweifel hinweg. Ja, ich sehe die Schöpfung, die Dein Werk ist,
die gut ist. Aber ich sehe auch das Werk der Menschen, das
grausam ist und Zerstörung und Verzweiflung heißt und das die
Unschuldigen immer heimsucht. Erbarme Dich dieser Kinder! Ist das
Maß der Leiden noch nicht bald voll? Wann fegt ein Sturm endlich
all diese Gottlosen hinweg, die Dein Ebenbild beflecken, die
einem Dämon das Blut von Tausenden von Unschuldigen zum Opfer
darbringen?
18. August 1942: Gestern hat mir Mutter geschrieben, Vater ist
verhaftet worden wegen jener berühmten Worte, Hitler sei eine
Gottesgeißel für Europa. 4 Monate muß er nun im Gefängnis
verbringen. Mutter hat dem Brief die Abschrift eines
Gnadengesuches beigelegt. Sie bittet mich und Werner, ebenfalls
ein Gnadengesuch zu schreiben. Sie erwartet von diesem an der
Front geschriebenen eine größere Wirkung als von dem ihrigen. Ich
werde dies unter keinen Umständen tun. Ich werde nicht um Gnade
bitten. Ich kenne den falschen, aber auch den wahren Stolz.
Heute noch will ich mit Werner darüber reden.
22. Februar 1942: . . . Ein Volk, das Friedrich II. einen Großen
nennt, wie klein muß es sein? Dieses Volk hat gegen Napoleon um
seine Freiheit gekämpft und hat dafür die preußische Sklaverei
gewählt. Ich weiß, wie beschränkt die menschliche Freiheit ist.
Aber der Mensch ist im wesentlichen frei und seine Freiheit macht
ihn zum Menschen.
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