Einzelinterpretationen Branca 1992 - 1994 "Bei uns sind viele Ausländer in der Clique, also nicht gerade Kurden oder so was. Also ganz normale Spanier, Italiener, Türken gibt's auch, aber das ist ja egal. Aber auf jeden Fall keine Asylanten und so." (1992: 15;38-16;3) "...die, was früher gekommen sind, sollen irgendwie ... bevorzugt werden, wie die Deutschen, weil ich meine, ... die können ja nicht immer gegen Ausländer sein. Ich glaube, kein Deutscher würde da die Müllcontainer auskippen ... meistens sind das die Ausländer. Die sollten irgendwie alle gleich bevorzugt werden. Aber mit den Asylanten, manche sind wirklich unverschämt und klauen und haben viel falsche Namen da, und bekommen das Geld, und ich meine, solche sollten wieder zurückgeschafft werden. Aber es gibt ja wirklich, also die was gar nichts dafür können. Oder viele sagen, die sind in Kriegsgebiete, dabei sind sie das gar nicht, dabei können sie da genauso gut leben." (1993: 27;37-28;13). "... weil als erstes kommen die Asylbewerber her, weil sie nichts haben und dann wollen sie, dass es denen noch besser geht als jetzt Leuten, die wo weiß Gott wie lange hier wohnen. Weil die Asylbewerber sind irgendwie zu doof in der Hinsicht und dann sind sie irgendwie selber schuld, wenn sie so blöd angemacht werden. Vielleicht nicht die einzelnen, aber das können sie denen verdanken, die so getan haben, dass sie voll klug wären und die Deutschen verarschen könnten ... oder die haben sich bei zehn Heimen angemeldet und von überall Kohle kassiert und dann sind das mal vier-, fünftausend Mark und dann geht es denen praktisch besser als den anderen, die hier arbeiten und halt gesetzlich." (1994: 65;6-24). 1. Objektive Daten zum Lebenskontext im Überblick Branca, geb. 1978, Kroatin, lebt mit ihrer Mutter in einer 3-Zimmer-Mietwohnung in einem Stadtteil einer mittelgroßen Stadt mit ca. 95.000 Einwohner, die im Einzugsbereich einer Großstadt liegt. Der Stadtteil ist durch seine frühere selbständige, eher ländliche Struktur und große Industrieansiedlungen geprägt. Branca hat ein eigenes Zimmer. Seit 1982 lebt der Freund der Mutter in der Familie. Das Mädchen bezeichnet ihn als Stiefvater. 1993 kommt es zwischen den Erwachsenen zu Auseinandersetzungen, worauf der Lebensgefährte auszieht. Die Beziehung wird wieder aufgenommen, erscheint 1994 allerdings loser. Der Freund hat eine eigene Wohnung, ist aber dennoch häufig in der Familie anwesend. Branca besucht zu Beginn der Befragung die 8. Realschulklasse, 1993 muss sie die 9. Klasse wiederholen. Sowohl die Mutter als auch ihr Lebensgefährte sind Industriearbeiter ohne Schulabschluss und stammen aus dem ehemaligen Jugoslawien. Die Familie verfügt über die üblichen Haushaltsgeräte und ein Auto. Branca selbst besitzt 1994 eine Stereoanlage, einen CD-Player, einen Farb-TV, einen Walkman und ein Keyboard (vgl. Fb.). Sie bekommt zunächst monatlich ca. 80 DM Taschengeld, das sie sich durch Gelegenheitsarbeiten aufbessert. 1994 verfügt sie über 100.- bis 120.- DM regelmäßiges Taschengeld; durch einen Job als Putzfrau verdient sie sich monatlich zwischen 300.- und 400.- DM selbst dazu (vgl. Fb.). Bis 1993 ist Branca Mitglied in einem Kegelverein. I Bei den Interviews trägt sie moderne, teure, legere, sportliche Markenkleidung. "Ich habe halt das Hobby, dass ich mich ziemlich gut anziehe" (1994: 11;29-30). 2. Politische Orientierung 2.1 Allgemeine politische Orientierung Brancas einziges Interesse an Politik bezieht sich auf die Kriegsereignisse im ehemaligen Jugoslawien. Dementsprechend nimmt sie auch nur zu diesem Thema politisch Stellung, bzw. argumentiert aus ihren Erkenntnissen über die dortige Politik in ihren Stellungnahmen zur Politik in Deutschland. Ein Wahlrecht für Ausländer in Deutschland findet sie "nicht okay, die sollen in ihrem Land wählen" (1994: 68;16-17). Begründet wird diese Aussage durch ein unterstelltes Desinteresse aller Ausländer am politischen Geschehen in Deutschland. Hier schließt sie womöglich von den aktuellen, kriegsbedingten Gewichtungen des politischen Interesses ihrer in Deutschland lebenden jugoslawischen Landsleute auf das von anderen Ausländern. Ihre Kenntnisse über politische Zusammenhänge in Deutschland sind entsprechend gering. 2.2 Ungleichheitsvorstellungen/Gleichheitsvorstellungen im Kontext von Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus Im Grunde stimmt Branca Gleichheitsvorstellungen ("alle Menschen sind gleich") zu und sieht darin die Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben unterschiedlicher Nationen gegeben (vgl. 1993: 25;5-9). Eine Gleichbehandlung oder eine Gleichberechtigung aller in Deutschland lebenden Menschen lehnt sie allerdings ab. Branca unterteilt nämlich die Gesamtheit der Ausländer in Deutschland in unterschiedliche Gruppierungen, die sie nach der Länge ihres Aufenthalts, nach Sprachkenntnissen und nach dem Grad der Modernisierung hierarchisch ordnet (vgl. 1992: 16;11-21). Ausländer, die schon länger hier sind, sollten "gleich bevorzugt werden wie die Deutschen" (1993: 27;3940). Unter diese Gruppierung von Ausländern, die klassischen Gastarbeiter, zu denen sie sich und ihre eigene Familie zählt, stellt sie die ihrer Einschätzung nach neu hinzugekommenen "Asylanten, Kurden und Albaner", deren deutsche Sprachkenntnisse sie als mangelhaft und deren Gebaren und Kleidung sie als "altmodisch" qualifiziert ("Klamotten aus den 50er Jahren", 1992: 16;20). Diese Hierarchisierung begründet sie mit einer spezifischen, von ihr wahrgenommenen Einstellung der deutschen Bevölkerungsmehrheit: Unter der deutschen Bevölkerung sei eine gewisse Ausländerfeindlichkeit feststellbar, von der sie sich selbst aber nicht betroffen sieht (vgl. 1993: 24;39). In ihren Augen ist eine Zuspitzung erst mit dem Hinzukommen von Asylbewerbern entstanden. Deutsche erleben danach zwar Ausländer im allgemeinen als Konkurrenz, z.B. auf dem Wohnungs- oder Arbeitsmarkt, akzeptieren allerdings die schon lange hier lebenden Ausländer, weil sie ihnen von Nutzen sind und teilweise Freundschaften bestehen (vgl. 1994: 44;13-24). Außerdem ist Branca davon überzeugt, dass die Deutschen wüssten, dass es zu einem Krieg kommen würde, wenn Deutschland alle Ausländer ausnahmslos in ihre Heimatländer zurückschicken würde (vgl. 1993: 36;1229). Ab 1993 wähnt Branca Asylbewerber durch staatliche Unterstützungen im Vorteil gegenüber den schon länger hier lebenden Ausländern. Sie vertritt die Ansicht, dass viele Asylbewerber unberechtigterweise in Deutschland leben und Geld erhalten (vgl. 1994: 65;1-15). Sie reflektiert zwar, dass ihre Meinung zu Asylbewerbern sich hauptsächlich auf Vorurteile stützt "... Das sind eigentlich auch irgendwie Menschen, Ich weiß es auch nicht so, ich habe ja keine Asylanten als Freunde und dann kann ich die auch nicht so einschätzen. Ich kann da jetzt nicht viel herumreden über die Nation, obwohl ich die nicht kenne und mit denen noch nie gesprochen habe." (1994: 64;28-37) II und sie nicht für alle Schwierigkeiten in Deutschland verantwortlich gemacht werden können, nimmt aber trotzdem Abwertungen vor und spricht sich für eine Bevorzugung der Ausländer aus, die sich schon länger hier aufhalten. Darüber hinaus beklagt sie belästigende Annäherungsversuche durch männliche Asylbewerber (s.u.). Zudem hält sie sie aufgrund eigener Beobachtungen im nahegelegenen Asylbewerberheim für kleinkriminell ("Da habe ich schon oft gesehen, dass die ... da gibt es doch manchmal Altkleidersammlungen und so, dann haben sie immer voll Säcke am Rücken, dann sehe ich auch mal, dass sie Orangen klauen oder so... ", 1993: 32;33-37). Deshalb stimmt sie dem Slogan "Asylbetrüger raus" zu, obwohl sie weiß, dass er "von den Republikanern" (1994: 65;5) stammt. Einem Verbleib in Deutschland stimmt Branca nur bei den von Krieg betroffenen Menschen zu. Im Prinzip ist eine Kontinuität in der Ablehnung von "Asylanten, Kurden und Albanern" über alle 3 Befragungen feststellbar. Allerdings differenziert die Jugendliche in der 3. Erhebung die Gruppierung der Asylbewerber und erwähnt erst in diesem Jahr bosnische Flüchtlinge, deren Bedrohung im Herkunftsland für sie nachvollziehbar ist und deren Verbleib in Deutschland sie dadurch gerechtfertigt sieht (vgl. 1994: 65; 26ff.). Lösungen ausländerfeindlicher Konflikte sieht Branca in einer gerechteren Verteilung der Asylbewerber auf alle europäischen Staaten (vgl. 1993: 29;14-25). Außerdem sieht sie in der Bewusstmachung, dass jeder im Ausland ein Ausländer ist, eine Möglichkeit, ausländerfeindlichem Denken entgegenzuwirken (vgl. 1994: 67;33-34). 2.3 Gewaltakzeptanz Als Lösung von Konflikten lehnt Branca Gewalt grundsätzlich ab ("miteinander reden und nicht gleich schlägern", 1992: 24;30), trotzdem akzeptiert sie diese Art der Problemlösung in der Klasse und in der Clique, zu der sie sich 1992 zählt und in der Schlägereien hin und wieder unter den Jungen vorzukommen scheinen. Verständnis für eine gewalttätige Konfliktaustragung zeigt Branca dann, wenn es um die Familienehre geht ("wenn man Mutter und Vater ins Spiel bringt mit Schimpfwörtern", 1992: 23;20-23). Branca ist im Kontext von Schule öfter mit Gewalt konfrontiert, die sie als für jüngere Jugendliche typisch darstellt und z.T. verharmlost, "mehr so Scherze" (1993: 20;13). Selbst das Mitbringen von Waffen bagatellisiert sie. Gewalttätige Handlungen unter Schülern sieht sie vor allem unter dem Aspekt des Angebens (vgl. 1993: 17;15-17) und des Demonstrierens von Kraft (vgl. 1994: 38;37-40). Sie selbst hält sich nach ihrem Bekunden aus gewalttätigen Auseinandersetzungen heraus. Wenn sie eine Schlägerei unter Jüngeren beobachtet, greift sie ein und versucht, eine friedliche Lösung zu finden. Im allgemeinen ist Branca allerdings davon überzeugt, dass man gegen die Tendenz zur Gewalt nichts machen kann: "die Menschen kann man nicht ändern" (1994: 25;24-31). Die Brandanschläge von Solingen lehnt Branca ab, befürwortet aber die Gegenwehr der Türken, denn jeder "soll für seine Sache kämpfen" (1993: 35;14-15). Branca sieht sich selbst als potentielles Gewaltkriminalitätsopfer. Einerseits nimmt sie deshalb an einem Selbstverteidigungskurs (vgl. Fb. 1992) teil, andererseits meidet sie Orte, an denen es für sie gefährlich sein könnte. Sie versteht auch, dass ihre Mutter darauf besteht, dass sie nachts nach Hause gebracht wird. 3. Zusammenhang von politischer Orientierung und Gewaltakzeptanz mit sozialen Erfahrungen und Erfahrungsstrukturierung 3.1 Erfahrungen und Bearbeitungsressourcen 3.1.1 Problembelastungen und zentrale Interessenlagen In der 1. Erhebungsphase bemüht sich Branca, Ausländer verschiedener Klassen zu differenzieren und in eine Hierarchie zu bringen, in der sie selbst als "normale Ausländerin" ganz oben steht. Die Clique, zu der Branca sich 1992 zählt, setzt sich III demzufolge nur aus "normalen Ausländern, also nicht Asylanten oder Kurden" zusammen (1992: 15;39-16;3). Im Verlauf der weiteren Erhebungen überträgt sie diese Klassifikation, die sich 1992 nur auf den Cliquenzusammenhang bezogen hat, auch auf andere Lebensbereiche. Zentrales Bedürfnis ist es, ihre Position als lange hier lebende Ausländerin zu sichern. Als Rechtfertigung dieser Unterscheidung führt sie neben Asylbetrug auch Anmache von Seiten der Asylbewerber an. "... und so manchmal gehen sie mir schon auf den Keks, wenn sie da hinter mir so ... blöd rummachen, hallo Mädchen und so, dann kotzt mich das schon an, weil die denken, die wären es halt dann voll hier und so, dabei sind sie, wer weiß, ob da überhaupt Krieg ist, ich meine, die können ja auch lügen und so. Da darf man nicht immer so bemitleidend sein ..." (1994: 4;34-5;6). 1993 erwähnt sie im Zusammenhang mit Anmache auch Türken, die sie nach ihrer Aussage von Asylbewerbern und Kurden "gar nicht mehr unterscheiden" kann, denn die sind "bräunlich im Gesicht, für mich alle so gleich aussehend" (1993: 29;14-25). Sie bringt also die Hautfarbe als konkret wahrnehmbares Unterscheidungskriterium ins Spiel, wobei zu berücksichtigen ist, dass Branca selbst vom Aussehen her auch als Deutsche durchgehen könnte. Auch ein angeblicher Missbrauch von sozialen Leistungen ("die haben sich bei 10 Heimen angemeldet und dann von überall Kohle kassiert"; 1994: 65;20-25), dient Branca als Argument für die von ihr getroffene Unterscheidung. Wohl auch um die Abgrenzung gegenüber den in ihren Augen minderwertigen Ausländern mit mangelnden Sprachkenntnissen und unterbezahlter Arbeit manifestieren zu können, bemüht Branca sich um einen guten Bildungsabschluss und eine sichere Berufsausbildung. Im Verlauf der 3 Erhebungsjahre spielen außerdem Geldverdienen und Kaufen teurer Markenkleidung immer wichtigere Rollen in Brancas Leben. Verschiedene Gelegenheitsarbeiten und der Putzjob verschaffen ihr die dafür erforderlichen finanziellen Mittel. Somit wird es ihr möglich, den Anschluss an den in Deutschland praktizierten Wohlstandskonsum zu bewerkstelligen. Um so schwerer wiegt, dass sie 1994 - im Gegensatz zu den belastungsfreien Jahren davor - vor dem Hintergrund fehlgeschlagener Bewerbungsbemühungen Schwierigkeiten der Berufsfindung (vorzugsweise im kaufmännischen Bereich, "auf jeden Fall was mit Computern", 1993: 37;36) als zentrale Problembelastung angibt. Branca betont in allen 3 Erhebungen ihre kroatische Nationalität. Sie hat das Bedürfnis, in Deutschland als Ausländerin anerkannt zu werden und ihre Nationalität nicht verstecken zu müssen. Sie ist überzeugt davon, dass eine auf dem Papier gegebenenfalls bestätigte deutsche Staatsangehörigkeit an der Einstellung der Menschen zu ihrer "eigentlichen" Nationalität ("aber das Innere, das ist anders", 1994: 58;28-29) nichts ändern würde. Deshalb spricht sie sich gegen eine doppelte Staatsbürgerschaft aus (vgl. 1994: 58;21-34), auch wenn sie darin manche Vorteile erkennen kann. Zum Zeitpunkt der 3. Befragung würde sie sich im Zweifelsfall für die kroatische Staatsangehörigkeit entscheiden. Eine von der Mutter angestrebte Rückkehr nach Kroatien zieht Branca für sich selbst in Erwägung, wie aber auch 1993 eine Auswanderung in ein anderes Land; evtl. in das ihres Freundes oder eines zukünftigen Mannes. 3.1.2 Erfahrungen im sozialen Nahraum und seine sozio-emotionalen Ressourcen Branca erlebt in ihrer Familie wenig Stabilität und Rückhalt. Zur Mutter kann sie kein vertrauensvolles Verhältnis aufbauen, weil sie ihr übernervös, ängstlich und wenig belastungsfähig erscheint - ein Eindruck der durch ein Experteninterview mit einer ehemaligen Horterzieherin Brancas zum Familienhintergrund bestätigt wird. Deshalb steht sie als Ansprechpartnerin bei Problemen nicht zur Verfügung. Für jugendspezifische Aktivitäten zeigt die Mutter wenig Verständnis. Trotzdem betont Branca in allen 3 Erhebungen, wie wichtig der Zusammenhalt in einer Familie ist. Das Mädchen scheint in der eigenen Familie die Geborgenheit zu vermissen, die sie braucht. 1993 und 1994 wird IV ihr Wunsch nach einer kompletten Familie mit dem "richtigen Vater" und mit Geschwistern (vgl. 1993: 13;25-32) deutlich. Die Beziehung zum Stiefvater, der Branca in Auseinandersetzungen mit der Mutter häufig unterstützt hat, verändert sich 1993 durch den Auszug aus der gemeinsamen Wohnung. Branca sucht sich die Unterstützung und Geborgenheit im Freundeskreis, vor allem bei einer 2 Jahre älteren Freundin, die Italienerin ist. Mit dieser bleibt sie über die Zeit der Studie hinweg befreundet. Seit diese 1994 weniger Zeit für Branca hat, freundet sich das Mädchen zusätzlich mit zwei Bosnierinnen an, die ebenfalls älter sind (21 und 24 Jahre). Diese 3 Freundinnen ersetzen die Familie in sozio-emotionaler Hinsicht, bieten Geborgenheit und stehen bei Problemen zur Verfügung. Branca sucht den Kontakt zu älteren, weil sie sich von ihnen mehr Rat und Hilfe erwartet als von gleichaltrigen Freunden, da diese auf einen größeren Erfahrungsschatz zurückgreifen können (vgl. 1994: 52;8-26). Je älter sie wird, desto weniger kann sie mit Gleichaltrigen anfangen. Die jugendkulturell unspezifische, an ein Jugendhaus "als einzige Gemeinschaftsmöglichkeit, wo sich Jugendliche treffen können" (1992: 29;10-11) angebundene Clique, zu der sich Branca 1992 noch zählt, verliert mit zunehmendem Alter an Bedeutung. Zur Freizeitgestaltung (Disco, Schlittschuhlaufen, ab 1994 auch Cafébesuche) findet Branca in anderen Stadtteilen Bekannte, die aber nie die Bedeutung der Freundinnen einnehmen, anders als der 1993 18jährige spanische, eine Lehre als Restaurantfachmann absolvierende Freund, mit dem sie 1993 viel unternimmt, den sie 1994 aber aufgegeben hat. Im letzten Befragungsjahr ist Branca mit einem in Kroatien lebenden Jungen befreundet, der ihr die sozio-emotionale Unterstützung gibt (vgl. Fb.), die sie von den Eltern nicht erhalten kann. Obwohl sie ihn nur in den Ferien sieht, misst sie ihm eine große Bedeutung zu. Sie beschreibt ihn als familiären, verständnisvollen, handwerklich geschickten und klugen Menschen, als ihre große Liebe und würde ihn gerne nach Deutschland holen (vgl. 1994: 45;20-46;40). Mit den Mitschülerinnen und Mitschülern, nach ihren Angaben übrigens zu 2/3 AusländerInnen, hat sie Probleme, weil sie manche als noch "kindisch" einstuft. Ausländerfeindlichen Haltungen begegnet sie in der Schule insgesamt nicht. 3.1.3 Medienrezeption und sonstige Ressourcen politisch relevanter Informationen In Brancas Familie werden hauptsächlich die Nachrichten über das Kriegsgeschehen im ehemaligen Jugoslawien mit Interesse verfolgt und kommentiert. Das Mädchen mischt sich in der Regel in diese Gespräche nicht ein, sondern beschränkt sich aufs Zuhören. Mit zunehmendem Alter wächst ihr diesbezügliches Interesse, was möglicherweise auf die eigene Betroffenheit durch regelmäßige Besuche bei den aus Serbien nach Kroatien zwangsumgesiedelten Großeltern und anderen Verwandten und durch die Freundschaft zu dem kroatischen Jungen ab 1994 zurückzuführen ist. Informationen zu deutscher Politik erhält sie größtenteils aus dem schulischen Unterricht. Kenntnisse darüber hält sie zwar für wichtig, unterstellt aber, dass sich Ausländer sowieso nicht für die Politik in Deutschland, sondern nur für die in ihrem Herkunftsland interessieren (vgl. 1993: 31;10-13). Im Zusammenhang mit der Behandlung des Nationalsozialismus im Geschichtsunterricht hat Branca 1994 den Film "Schindlers Liste" gesehen und sich dadurch ein Bild über die Zeit des "Dritten Reichs" gemacht. Ihr Interesse geht aber nicht über das für die Schulnote notwendige Wissen hinaus. 3.1.4 Erfahrungen mit und Ressourcen von gesellschaftlicher und politischer Teilhabe Branca ist, wie erwähnt, an einem Wahlrecht für Ausländer nichts gelegen, weil sie davon ausgeht, dass diese sich nur für die Politik in ihren Heimatländern interessieren. V Die Jugendliche betrachtet die Benachteiligung von Ausländern auf dem Wohn- oder Arbeitsmarkt zwar als ärgerlich, glaubt aber, dass daran nichts zu ändern sei. Sie spricht sich für die Behandlung der lange hier lebenden Ausländer "wie Deutsche" aus. Branca lehnt ab 1993 Cliquenzusammenhänge ab, weil sie davon ausgeht, dass dort, anders als in 2er- oder 3er-Konstellationen, die Wünsche einzelner zwangsläufig unterdrückt werden (vgl. 1994: 50;1). Es kann vermutet werden, dass diese Aussage im Zusammenhang mit ihrem Rückzug aus der Clique steht, in der sie "eigentlich nicht so richtig drin war" (1993: 23;17-24). In der Schule erlebt sie die geringe Möglichkeit der Einflussnahme auf den Unterrichtsinhalt als Defizit. Sie hebt die sinnvolle Funktion des Schulsprechers hervor, der die Meinung der Schüler vertreten kann, lehnt es aber ab, selbst für das Amt der Klassensprecherin zu kandidieren (vgl. 1994: 41;9-13). 3.2 Kategorien, Kompetenzen und Mechanismen der Erfahrungsstrukturierung 3.2.1 Zentrale Bezugspunkte sozialer Identität Branca identifiziert sich mit der Gruppierung der schon lange in Deutschland lebenden Ausländer, die sie als "normale Ausländer" bezeichnet. In dieser Hinsicht ist die jeweilige Nationalität von eher untergeordneter Bedeutung. Andererseits spielt im Verlauf der Studie für Branca selbst die kroatische Nationalität eine immer größere Rolle, was möglicherweise auf das wachsende Interesse für Politik, aber auch auf die Zuspitzung des Krieges auf dem Balkan zurückgeführt werden kann. Wegen ihrer kroatischen Nationalität ist sie noch nie in Schwierigkeiten gekommen und bezüglich der Politik im ehemaligen Jugoslawien herrscht zwischen Mutter und Tochter Übereinstimmung. In allem, was die kroatische Nationalität betrifft, scheint die Mutter die Orientierung zu geben und Branca, die in Deutschland geboren ist, als Vorbild zu dienen. Wie die Mutter nur kroatische, so hat auch Branca hauptsächlich ausländische Freunde, genießt die regelmäßigen Ferien in Kroatien und denkt über eine mögliche Rückkehr nach. Auch ein gewisses Leiden an der sozialen Kälte und mangelnden "Hilfsbereitschaft" in Deutschland wird stärker spürbar. 1994 identifiziert sie sich nämlich ganz mit der von ihr beschriebenen kroatischen Mentalität und sieht in Kroatien ihre Heimat. "... weil die Leute sind dort irgendwie fröhlicher und hilfsbereiter, ... und ich bin auch so ein Typ. Hier findet man ganz selten irgendwie welche Typen, die wo einem gerne helfen und so, die schauen sich alle nur immer selber an, hoffentlich geht es mir gut und so. Zum Beispiel wenn in Kroatien jemand ein Haus baut ..., dann tun sie sich gegenseitig helfen ..." (1994: 63;13-21) Möglicherweise wirkt sich hier ein durch das Sitzenbleiben bewirkter Knick in der auf Anpassung gerichteten, in Deutschland gültigen und nach ihrer Wahrnehmung das gesellschaftliche Leben durchziehenden Leistungs- und Integrationsorientierung aus. Dennoch bleibt diese Orientierung vorherrschend. Dies ist im wesentlichen sichtbar daran, dass sie einen Realschulabschluss und eine gute Berufsausbildung anstrebt, - "entweder du lernst zu Hause oder du hast mal später keinen gescheiten Beruf, weil dich keiner nimmt" (1993: 14;17-18) - eigenes Geld verdient und dieses in Markenkleidung investiert. Durch dieses Verhalten kann sie den Status der integrierten Ausländerin, die unter Deutschen nicht weiter auffällt, halten. So lässt sich ihre Klassifizierung der Ausländer nach den Merkmalen Sprachkenntnisse, Modernisierungsgrad und Länge des Aufenthalts und damit ein wesentlicher Kern der Vorwurfshaltung gegenüber Asylbewerbern ("und dann sind das auch mal vier-, fünftausend Mark, und dann geht es denen praktisch besser als den anderen, die hier arbeiten und halt gesetzlich." 1994: 65; 22-24) aufrechterhalten. Den Wohlstand der deutschen Bevölkerung führt Branca auf eine spezielle "Klugheit" zurück (vgl. 1994: 60;22-40); dadurch sieht sie sogar die Deutschen anderen Völkern überlegen. Möglicherweise liegt auch darin der Grund, dass sie sich zum Zweck höchstmöglicher Anpassung um einen guten Bildungsabschluss bemüht. Wohlstand und VI Geld sind für Branca von großer Bedeutung ("Ohne Geld kann man ja nichts anfangen"; 1993: 11;19-20). Im Zusammenhang mit der Hilfe für Kriegsflüchtlinge bewertet Branca die moralische Verpflichtung und Verantwortung der Deutschen zur finanziellen Unterstützung allerdings höher als die Bedeutung von Geld: "... sagen wir mal, dass alle Asylanten hier unten, also bei denen Krieg ist, dann würde doch die Hälfte dort unten auch sterben. Und warum? Weil die Deutschen dann schuld sind, warum sie die dann nicht finanzieren können, obwohl sie genug Geld haben. Dann wäre das halt schon irgendwie blöd." (1994: 66;5-13) Über die Clique, zu der Branca sich 1992 zählt und die keiner speziellen Jugendkultur zugeordnet werden kann, wird keine soziale Identität aufgebaut. Die Jugendliche urteilt nach ihrem Ausstieg aus der Clique 1993, wie erwähnt, sogar, dass sie nie richtig "in der Clique war" (1993: 23;12-16). Im bezug auf das Geschlechterverhältnis orientiert sich Branca an traditionellen Vorstellungen. Entscheidungen überlässt sie eher dem Mann. Ihre Lebensplanung macht sie abhängig von den Wünschen ihres zukünftigen Mannes. Auch ein Teil ihrer Ablehnung von Asylbewerbern ist zurückzuführen auf ihre besondere Betroffenheit als Mädchen von den ihnen unterstellten bzw. erfahrenen verbalen sexuellen Belästigungen. 3.2.2 Individuelle Kompetenzen bzw. Mechanismen zum Aufbau personaler Identität Branca fühlt sich von ihrer Umgebung akzeptiert und vertritt die Ansicht, dass jeder so angenommen werden sollte, wie er ist. Von sich behauptet sie, dass sie mit allen Menschen gut zurecht kommt und man sie sympathisch findet (vgl. 1993: 13;7-33). Branca konstruiert ihr Selbstwertgefühl aber daneben vor allem auf der Basis der sich zugeschriebenen Kompetenz, sich jederzeit überall durchsetzen zu können. "... ich würde, glaube ich, das kleinste Loch in der Wand finden, dass ich durch die Welt komme. ... Ich bin einfach so ein Typ, ich würde nie arm bleiben . ... Da wird meine Mutter sagen, sie könnte mich jetzt alleine lassen, ich würde voll super durchs Leben kommen." (1994: 12;29-39). Durch die Berufstätigkeit der Mutter und durch die Tatsache, dass sie stark mit eigenen Problemen beschäftigt ist, ist Branca von klein auf daran gewöhnt, für sich selbst Verantwortung zu tragen. Dadurch entwickelt sie sich zu einem sehr selbständigen Mädchen ("ich bin halt auch nicht so voll das Mamakindle", 1994: 10;32-33), trifft notgedrungen - ihre eigenen Entscheidungen, verdient ihr eigenes Geld und lebt so eher neben der Mutter her als mit ihr (vgl. 1994: 17;34-36). Sie ist der Meinung, dass sie sich überall durchschlagen kann, im Gegensatz zu ihrer Mutter widerstandsfähiger ("ich sag immer das, was mir passt", 1994: 27;17) und zuversichtlicher ist. Ihr Verständnis für die Probleme der Mutter reicht so weit, dass sie bereit ist, Verantwortung für diese zu übernehmen und sie durch ihre Mithilfe zu entlasten (1993: 37;4-14). Empathie für die Situation der Mutter zeigt das Mädchen auch dadurch, dass sie erkennt, wie wichtig ein Lebenspartner als Bezugsperson für die Mutter ist bzw. wäre (vgl. 1994: 22;2-9). Branca ist fähig, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Dies geht soweit, dass sie Verständnis für die ausländerausgrenzende Haltung vieler Deutschen hat, die Ausländer als Konkurrenten in zahlreichen Lebensbereichen erleben. Sie glaubt, sie würde sich im umgekehrten Fall in Kroatien genauso verhalten, auch wenn sie darin eine Ungerechtigkeit erkennt und reproduziert damit die weit verbreitete Auffassung einer Legitimität der Verteilung sozialer und politischer Rechte entlang der Grenzen nationaler Zugehörigkeit. Trotz ihrer Selbständigkeit ist es für Branca wichtig, sich ältere Freunde und Erwachsene als Gesprächspartner und Ratgeber zu suchen. Sie begründet dies damit, dass sie mit Gleichaltrigen nichts anzufangen weiß und bestrebt ist, von Älteren und deren Erfahrungen zu lernen (vgl. 1994: 6;17-35). Die Brandanschläge in Solingen wurden in ihren Augen nur deshalb verübt, weil die ihrer Ansicht nach noch kindlichen Täter - "und die sind manchmal VII sogar 14" (1993: 34;31) - nicht auf ihre Eltern gehört haben oder schlecht erzogen sind ("die Eltern sind eigentlich daran schuld", 1993: 34;39-40). Mit zunehmendem Alter steigt Brancas Reflexionsfähigkeit. Sie selbst verweist darauf, dass sie im Verhältnis zu den Jahren davor erwachsener ist und mehr dazugelernt hat (vgl. 1994; 13;7-15). Sie ist bestrebt, erwachsen und vernünftig zu wirken. In diesem Zusammenhang sind ältere Freunde für sie sehr wichtig. Ihre Reflexionsfähigkeit reicht allerdings nicht soweit, dass sie in ihrer Meinung, die Deutschen seien so vernünftig, dass sie die Republikaner nicht mehr unterstützen und dadurch das Wiederaufleben nationalsozialistischer Verhaltensweisen verhindern, einen Widerspruch zu ihrer eigenen Position der Bevorzugung lange hier lebender Ausländer erkennt. Obwohl sie ständig bemüht ist, einsichtig und erwachsen zu wirken, schließt sie sich hier nicht der als vernünftig erkannten Einstellung (vgl. 1994: 43; 35-44;24) sondern im öffentlichen Diskurs über das "Asylbewerber-Problem" weit verbreiteten Schlagworten und Vorstellungsbildern an, die sie durch vereinzelte eigene Erfahrungen meint bestätigt sehen zu können. Branca vertritt grundsätzlich die Ansicht, dass Konflikte verbal gelöst werden sollten. Dazu ist sie in vielen Fällen allerdings nicht fähig. Mit der Mutter gelingt ihr eine solche Konfliktlösung nicht, was dazu führt, dass Branca sich nicht an alle Verbote seitens der Mutter hält, bzw. ihr nicht alles anvertraut. Vor Konflikten mit der besten Freundin scheut sie sich, weil sie dadurch die Beziehung gefährdet sieht, die ihr Geborgenheit und Problemansprache garantiert. 4. Zusammenfassung Branca, die selbst Ausländerin ist, stimmt dann einer Ungleichbehandlung von Ausländern (hier: Asylbewerbern) zu, wenn es ihre eigene Position stärkt. Was sich 1992 womöglich aufgrund einer noch kaum erfolgten Ausbildung des politischen Interesses nur auf den Cliquenzusammenhang bezogen hat, dehnt sich im Verlauf der weiteren Erhebung auf alle Lebensbereiche aus: Branca grenzt "normale Ausländer", zu denen sie in erster Linie die klassischen Gastarbeiter und ihre Familienangehörigen zählt, ab von Asylbewerbern und spricht sich für eine Bevorzugung dieser Gruppierung gegenüber den Asylbewerbern aus. Sie leitet sie aus der Länge des Aufenthalts in Deutschland ab. Ab 1993 erscheint sie politisch zumindest an dieser Frage interessiert. Seitdem stimmt sie rechten politischen Positionen insofern zu, als sie Asylbewerber abwertet und ihnen zunächst pauschal Betrug im Sinne des sogenannten "Asylmissbrauchs" und des ungerechtfertigten Bezugs finanzieller Unterstützungsleistungen sowie (Klein-)Kriminalität und Anmachverhalten unterstellt. Gewaltakzeptanz ist über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg nur soweit feststellbar, dass sie Gewalthändel unter männlichen Jugendlichen als alterstypische Erscheinung toleriert und verharmlosend billigt. Sie verbindet sie nicht mit den von ihr vertretenen Ungleichheitsvorstellungen. Allerdings klingen Befürwortungen struktureller Gewaltmaßnahmen - freilich recht allgemein, unspezifisch und nicht weiter ausgeführt - in der Zustimmung zur nach ihren Kenntnissen immerhin rechtslastigen Parole "Asylbetrüger raus" zu. Über diese Abgrenzung will sie ihre Stellung als "normale" Ausländerin sichern. Branca lebt in dem Bewusstsein, zwar Ausländerin in Deutschland, aber quasi "Eingeborene" mit bestimmten Rechten zu sein. Durch die Mutter, von der sie als Kind sehr stark abhängig war - eine konstante Vaterfigur fehlt im Prozess ihres Aufwachsens -, ist sie eingebunden in kroatische Beziehungszusammenhänge und dementsprechend sozialisiert. In bestimmten Verhaltensweisen wie Leistungsorientierung und Konsum ist das Mädchen allerdings germanisiert. Das zeigt sich darin, dass sie die Vorteile eines Lebens in Deutschland würdigt, genießt und sichert, ihre kroatische Identität aber nicht aufgeben will. Eine Diskontinuität in ihrer Einstellung zum Leben in Deutschland kann darin erkannt werden, dass sie im Laufe der Studie auch Nachteile entdeckt. VIII Durch ihre Bekanntschaft mit bosnischen Kriegsflüchtlingen 1994 sieht sie sich gezwungen, von der Position einer generellen Ablehnung von Asylbewerbern und der Befürwortung ihrer sofortigen Abschiebung abzurücken und die Gruppierung der Asylbewerber genauer zu differenzieren. Dabei sieht sie diese gestiegene Differenzierungsfähigkeit auch mit eigenen Reifungsprozessen verbunden. Während sie von Deutschen erwartet, dass sie durch Einsicht und Vernunft ("das könnte eigentlich schon wieder kommen jetzt gerade mit den Asylanten und so, aber ich denke mal, dass es dann genug gescheite Leute gibt, dass sie da jetzt nicht so wie früher sind ...", 1994: 43;3639) eine Ausweitung ausländerfeindlicher Verhaltensweisen gegenüber Asylbewerbern in Richtung auf NS-ähnliche Zustände verhindern, bleibt ihre eigene AsylbewerberAbwertung und die damit verbundene Forderung nach Bevorzugung von ausländischen Arbeitnehmerfamilien trotz dieser Einschränkung dennoch insgesamt erhalten. Vermutlich zeitigt hier die öffentliche Debatte über das sogenannte "Asylanten-Problem" und die gleichsam nachträgliche Bestätigung der von ihr vorgebrachten Argumente gegenüber Asylbewerbern durch die Reform des Asylrechts problematische Auswirkungen. Ilona 1992 - 1994 "... die rechten Jugendlichen sollen denken, wie sie wollen. Ich bin nicht rechts und nicht links. Ich bin hier in Deutschland, ich verstehe das auch, ich kann jetzt nicht über Deutsche fluchen oder so, das ist klar, ich lebe hier. - Aber die haben ein Recht dazu, wenn es denen Spaß macht und wenn sie meinen ..." (1992: 10;3-10) "Irgendwie haben die Deutschen schon recht, die wollen auch ihr Land für sich haben, aber ich finde, die Ausländer, die wo sich auch wie Deutsche benehmen, die können eigentlich nichts dafür, dass die halt die Ausländer hassen. Da finde ich auch keinen Grund, dass die Deutschen die Ausländer hassen, die wo sich so benehmen halt, aber manche ..." (1993: 32;15-21) "Ich habe gesagt, ich halte mich da heraus, weil irgendwie gehöre ich zu beiden, ich bin selbst Ausländerin, aber habe auch deutsche Freunde, da kann ich mich nicht irgendwie auf die Seite stellen, und dann sehe ich da welche, wo ich kenne, und: oh Scheiße, was mach ich jetzt?" (1994: 66;38-67;6) 1. Objektive Daten zum Lebenskontext im Überblick Ilona, geb. 1978, ist Kroatin. Ihre Mutter und ihr leiblicher, von der Mutter geschiedener Vater stammen aus dem ehemaligen Jugoslawien. Sie lebt mit Mutter, Stiefvater, der Deutscher ist und seit 1976 in der Familie lebt, 3 Jahre älterer Schwester und 2 Jahre jüngerem Bruder in einer 5-Zimmer-Wohnung in einem Stadtteil der mittelgroßen Stadt W., die im Einzugsbereich einer Großstadt liegt. Der Stadtteil ist von Mehrfamilien- und Hochhäusern geprägt. Ilona teilt ein Zimmer mit ihrem Bruder. Sie besucht zu Beginn der Studie die 7. Klasse der Realschule, 1993 wechselt sie zum Halbjahr der achten Klasse auf die Hauptschule. Ilonas Stiefvater hat einen Realschulabschluss und ist heute Schreiner mit eigener Firma. Die Mutter arbeitete früher als Schneiderin und ist jetzt Angestellte bei der Post. Ihr Bildungsabschluss ist Ilona nicht bekannt. Die Familie verfügt über die üblichen Haushaltsgeräte und 3 Autos. Ilona selbst besitzt eine Stereoanlage, einen Heimcomputer, einen TV mit Videorecorder, ein Montainbike und einen Walkman und verfügt zuletzt über einen Betrag aus Taschengeld und gelegentlichen Geldgeschenken von monatlich bis zu 180 DM (vgl. Fb.). IX Im Verlauf der 3 Befragungsjahre verändert sie sich von einem äußerlich eher unscheinbaren Mädchen zu einem modebewussten, geradezu wie ein Model hergerichteten Mädchen. 2. Politische Orientierung 2.1 Allgemeine politische Orientierung Ilona hat insgesamt nur wenig Interesse für und sehr vage Vorstellungen von Politik. Entsprechend bezieht sie kaum politisch Stellung. Selbst Kroatin, ist ihr an einem Wahlrecht für Ausländer nichts gelegen und kann ihm auch nicht ohne Vorbehalt zustimmen. Dahinter scheint die Angst zu stehen, Deutschen ein Exklusivrecht streitig zu machen (vgl. 1994: 28;23-28). 2.2 Ungleichheitsvorstellungen/Gleichheitsvorstellungen im Kontext von Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus Ilona ist der Meinung, dass Ausländer für viele Probleme in Deutschland, z.B. Arbeitslosigkeit, verantwortlich gemacht werden, obwohl sie auch andere Faktoren für ihre Entstehung sieht. In ihren Augen ist diese Argumentation nicht gerechtfertigt, da Ausländer - wie sie 1994 ( 54;27) meint - meist einen Gewinn für Deutsche darstellen, weil sie "die Drecksarbeit machen". Selbst wenn Ilona auch darüber hinaus im Kern Gleichheitsvorstellungen vertritt und diese auch gerade auf interethnische Verhältnisse und ihre Bewertung bezieht ("Menschen sind Menschen"), ergibt sich für sie daraus längst noch keine tatsächlich umsetzbare Gleichberechtigung. Sie leitet nämlich von der nationalen Zugehörigkeit ein Recht der Deutschen ab, sich über die Anwesenheit von Ausländern im eigenen Land mit Unbehagen zu äußern und u.U. auch ausländerfeindlich zu denken. Diesem Recht müssen sich ihrer Auffassung nach die Nichtdeutschen unterordnen. 1992 steht sie in Kontakt mit "rechten" Mitschülerinnen, die sie als Freundinnen bezeichnet, und mit deren politischer Meinung sie sich arrangiert. Dies gelingt ihr einerseits dadurch, dass sie deren Meinung verharmlost bzw. politisch brisante Themen nicht zur Sprache bringt, oder andererseits dadurch, dass sie ihre Beziehung zu ihnen als eine Normalität konstruiert, innerhalb derer nationale Zugehörigkeit keine besondere Bedeutung hat. Kontakt zu ihr persönlich nicht bekannten "rechten" Jugendlichen vermeidet sie ganz. Die Aussage ihrer "rechten" Mitschüler, sie würden nur unbekannte Ausländer hassen, verringert ihr Gefühl des Bedrohtseins (vgl. 1992: 10,39-11;19). In der 2. Erhebung nimmt die Tendenz, nicht als Ausländerin aufzufallen und sich "normal", d.h. "wie eine Deutsche" zu benehmen, noch zu. Sie bemüht sich, sich dem von ihr unterstellten Ideal Durchschnittsdeutscher anzupassen. Während sie 1992 noch passiv erduldet hat, was Deutsche tun und über Ausländer sagen, tendiert sie nun dazu, sich aktiv anzupassen. Darin sieht sie die Möglichkeit, Deutschen keinen Anlass zu geben, Ausländer zu hassen. Am liebsten würde sie ihren Status als Ausländerin gänzlich verstecken. In der 3. Erhebung verfolgt Ilona ihre Vorstellung noch massiver. Sie schreibt Ausländern eine Mitschuld an Zuspitzungen von Ausländerfeindlichkeit zu, weil diese sich nicht richtig anpassen können. Schwierigkeiten gibt es ihrer Meinung nach nur, wenn man sich als Ausländer nicht richtig verhält. Sich herauszuhalten und sich wie Deutsche zu benehmen, ist ihre Antwort auf Schwierigkeiten, die es zwischen Deutschen und Ausländern geben könnte. Ilona unterscheidet verschiedene Gruppierungen von Ausländern nach dem Grad ihrer Anpassung an "deutsche Normalität". Diese zeichnet sich für sie aus durch die Länge der Aufenthaltsdauer in Deutschland, eine geregelte Arbeit und das "Verhalten wie Deutsche". Diesem Ideal versucht sie selbst nahezukommen. Bedroht fühlt sie sich durch "Ausländer, die sich nicht benehmen können" und sich negativ über Deutsche äußern. In diesem Erklärungszusammenhang zieht sie zum Zeitpunkt der 2. Erhebung den Schluss, dass X Ausländer, die das Verhältnis zu Deutschen durch Nicht-Anpassung belasten, nicht in Deutschland leben sollten (vgl. 1993: 32;21-25). Einen für sie verstehbaren Anlass dafür, von Deutschen gehasst zu werden, sieht Ilona beispielsweise darin, dass "manche Türken randalieren", oder dass Asylbewerber kommen, damit "sie hier Geld haben". "...dass Türken zum größten Teil auch schlecht sind. So Schlägereien und so, sind schon ziemlich viele Türken damit verbunden, und Albaner finde ich voll schlimm." (1994: 62;29-34) Solange Ausländer sich im Benehmen anpassen, gibt es nach ihrer Ansicht keinen Grund für Ungleichbehandlung und Hass (vgl. 1993: 32;15-21). Diese Meinung wird auch in der 3. Erhebung vertreten. 2.3 Gewaltakzeptanz 1992, bei der innerfamiliären Kommentierung von Nachrichten über die Krawalle in Rostock, spricht sich Ilona gegen Gewalt aus und bezeichnet die Täter als "nicht normal". Sie stellen eine Bedrohung für sie dar, weil ihr Konstrukt der Normalität von Beziehungen zwischen Ausländern und Deutschen durch derartige Übergriffe in Frage gestellt wird. Aus demselben Grund vermeidet sie es, die Krawalle ihren Mitschülern gegenüber zum Thema zu machen. Aus Angst zieht sie sich sogar von Aufenthaltsplätzen und gewohnten Laufwegen zurück, die sie von "rechten Jugendlichen" besetzt sieht und akzeptiert sie als deren Terrain. Die Aussagen von Freundinnen, nur unbekannte Ausländer zu hassen, nimmt Ilona hin, weil sie selbst sich dadurch in Sicherheit wiegt: Ihr kann keine Gewalt von Seiten der "rechten" Mitschülerinnen zustoßen. Diese Verhaltensweise zieht sich durch alle 3 Erhebungen. 1993 vertritt Ilona die Meinung, dass es "ohne Anlass" nicht zu Gewalt kommen darf. Daher lehnt sie die Brandanschläge von Solingen ab. Einen solchen Anlass sähe sie am ehesten in Notwehrsituationen. Über die Notwehr-Gewalt hinaus kann Ilona sich vorstellen, sich geplant für eine Gewalttat, wie einen möglichen Angriff auf ihre Freundin, violent zu rächen (vgl. 1993: 38;11-17). 3. Zusammenhang von politischer Orientierung und Gewaltakzeptanz mit sozialen Erfahrungen und Erfahrungsstrukturierung 3.1 Erfahrungen und Bearbeitungsressourcen 3.1.1 Problembelastungen und zentrale Interessenlagen Ilona ist schon ab 1992 in der Schule mit "rechten" Mitschülern konfrontiert; auch die beste Freundin bewegt sich in "rechten" Kreisen. Es kommt deswegen zu Auseinandersetzungen und Ilona ist gespalten zwischen Verteidigung der Freundin und Enttäuschung über ihre "rechte" Orientierung (vgl. 1992: 10;30-38). Im Freizeitbereich sieht Ilona sich gezwungen, Orte zu meiden, an denen "rechte Jugendliche" anzutreffen sind. Sie sieht in ihnen zwar keine unmittelbare konkrete Bedrohung für sie persönlich, kann ihnen aber auch nicht angstfrei begegnen. Zentrales Bedürfnis für Ilona ist in dieser Zeit, zur Clique der "rechten" Freundinnen zu gehören. Die Jugendliche fühlt sich gedrängt, sich den geltenden Normen zu unterwerfen, um den Kontakt nicht zu verlieren. Beziehungen bleiben daher an der Oberfläche, Ansichten werden nicht hinterfragt. 1993 hat sich Ilona zwar von den "rechten" Mitschülerinnen distanziert - nicht zuletzt aufgrund eines Schulwechsels - fühlt sich aber nach wie vor durch ausländerfeindliche Einstellungen bei Deutschen belastet. Als Problem stellt sich für sie die Existenz von Gruppierungen von Ausländern dar, die gegen die Deutschen "aufmucken", sich "nicht wie Deutsche benehmen" und dadurch den Hass von Deutschen und Ausländerfeindlichkeit provozieren würden. Eine Lösung sieht sie in einer aktiven Anpassung aller Ausländer an die Verhaltensweisen und Normen der Deutschen. Die, die sich nicht anpassen können und XI sich sogar beleidigend über Deutsche auslassen, sollen Ilona zufolge auch kein Recht auf Verbleib in Deutschland haben. "Da finde ich auch keinen Grund, dass die Deutschen die Ausländer hassen, die wo sich benehmen halt, aber manche, wo so herumschreien, Scheiß Deutsche .... das finde ich auch nicht okay, dann sollen die halt in ihr Land gehen, denn dort können sie das schreien."(1993: 32;19-25) In der 3. Erhebung äußert sich Ilona in ähnlicher Weise. Ausländer, die sich nicht anpassen können und sich gegen Deutsche aussprechen, zerstören ihr Bild von einem möglichst "normalen" Verhältnis zwischen Deutschen und Ausländern, wie sie selbst es zu pflegen und zu praktizieren behauptet. 3.1.2 Erfahrungen im sozialen Nahraum und seine sozio-emotionalen Ressourcen Ilonas Mutter lebt gegenwärtig, wie erwähnt, mit einem Deutschen zusammen. Die Familie ist also binational und praktiziert das Zusammenleben unterschiedlicher Nationalitäten somit alltäglich. Für Ilona bleibt die Mutter durch alle drei Erhebungsphasen Ansprechpartnerin bei Problemen. Von ihr erhält sie Hilfe in Situationen, in denen sie alleine nicht weiterkommt. Noch 1994 ist die Mutter als Orientierung wichtig, wenn beide in ihrer Meinung auch nicht immer übereinstimmen und Freundinnen für Ilona immer wichtiger werden. Das Gefühl der Geborgenheit und der Akzeptanz in der Familie bleibt über die Zeit der Befragung bestehen. Die Einstellung der Mutter ist stark auf Anpassung an deutsche Verhältnisse und Gewohnheiten gerichtet. Sie würde sich für das Mädchen einen deutschen Freund wünschen, weil "...die haben mehr Anstand als die Ausländer" (1994: 53;13-17). Ilona teilt ihre Meinung. In Verlauf der 3 Erhebungsjahre gewinnt die Schwester als Ansprechpartnerin bei Problemen und als Begleiterin in der Freizeit an Bedeutung. Zum leiblichen Vater hat Ilona nur oberflächlichen Kontakt. Der Stiefvater nimmt für sie zu Beginn der Befragung dessen Platz in der Familie ein. Sie fühlt sich von ihm akzeptiert und hat das Gefühl, sich auf ihn verlassen zu können. 1992 betont Ilona die deutsche Nationalität des Stiefvaters, quasi als Schutz vor möglichen ausländerfeindlichen Übergriffen (vgl. 1992: 8;25-28). Im Verlauf der Studie nimmt seine Bedeutung als Ansprechpartner und das Gefühl von Akzeptanz und Geborgenheit seitens Ilona jedoch ab. In der Einstellung gegenüber Rechten gibt anscheinend ebenfalls die Mutter die hauptsächliche Orientierung. Sie verurteilt deren Ausschreitungen, befürwortet aber, dass man mit ihnen spricht. In der Schule macht das Mädchen die Erfahrung, dass sie von "Rechten", obwohl sie Ausländerin ist, "normal" behandelt wird. Im Kreis der "rechten" Freundinnen fühlt sich Ilona zum Zeitpunkt der 1. Erhebung angenommen und akzeptiert. Trotzdem zieht sie sich bis zur Erhebung 1993 von dieser Clique zurück und findet eine neue Freundin als zuverlässige Ansprechpartnerin. Die Clique bleibt weiterhin für oberflächliche Kontakte zum Zweck der Freizeitgestaltung wichtig. 1994 findet sie dann einen Freundeskreis, der nicht entsprechend politisch belastet ist. 3.1.3 Medienrezeption und sonstige Ressourcen politisch relevanter Informationen Ilona liest typische Mädchenzeitschriften wie "Bravo", "Girl" und "Mädchen", in denen politische Themen nicht vorkommen und die eher Modetrends und Stilrichtungen zum Inhalt haben. Es kann vermutet werden, dass sie nicht zuletzt aus dieser Lektüre Informationen bezieht, die es ihr erlauben, sich zumindest äußerlich über konsumkulturelle Signets anzupassen. Im Zusammenhang mit dem Kriegsgeschehen im ehemaligen Jugoslawien verfolgt die Familie die Tagesnachrichten und kommentiert betreffende Ausschnitte. Mit zunehmendem Alter und mit der Ablösung von der Familie hat Ilona immer weniger Zugang zu XII Informationen politischer Art, zumal diese im Freundeskreis keine Rolle zu spielen scheinen. 1993 führt Ilona die Veränderung ihrer ehemals "rechten" Freundinnen hin zu "normalen" Jugendlichen darauf zurück, dass sie aus Fernsehinformationen zu der Einsicht gekommen seien, ihr Handeln sei falsch. 3.1.4 Erfahrung mit und Ressourcen von gesellschaftlicher und politischer Teilhabe Ilona wird, wenn sie 18 Jahre alt ist, als Kroatin in Deutschland nicht wählen dürfen. 1994 behauptet sie, dass ihr das nichts ausmache. Dies hängt offenbar mit ihrem politischen Desinteresse zusammen. Über Wahlen wird weder in der Familie noch im Freundeskreis gesprochen. In verschiedenen Alltagsbereichen erlebt Ilona es allerdings als Defizit, dass sie nicht mehr mitbestimmen kann: 1993 äußert sie, dass die Öffnungszeiten des Jugendhauses den Wünschen der Jugendlichen nicht entgegenkommen; außerdem bewirkte eine eingeführte Altersbegrenzung, dass viele ihrer Freunde nicht mehr hinein durften. 1994 beklagt sie, dass in der Schule "alles nach Lehrplan geht" und die Schüler nicht über die Inhalte mitbestimmen können. 3.2 Kategorien, Kompetenzen und Mechanismen der Erfahrungsstrukturierung 3.2.1 Zentrale Bezugspunkte sozialer Identität Ilona baut sich eine quasi-deutsche nationale Identität auf, indem sie sich aktiv an das anpasst, was sie für deutsche Normalität hält. Obwohl Ilona sich in vielen Bereichen nichts gefallen lässt, sehr selbstbewusst auftritt und sich durchsetzen kann, beispielsweise in der Schule oder gegenüber der Mutter, scheint sie sich bezüglich ihrer Nationalität gegenüber den deutschen Freunden minderwertig zu fühlen. 1992 ordnet sie sich in die von ihr erlebte Normalität im eher "rechts"orientierten Freundeskreis ein, duldet diese Einstellung, hauptsächlich aus Angst, den Anschluss an diese Gruppe zu verlieren und sich gegen diese zu stellen (vgl. 1992: 10;3-10) und bleibt bis zum Ende der Studie darauf bedacht, nicht als Ausländerin identifiziert zu werden, sondern angepasst und "wie eine Deutsche" zu sein. Offensichtlich orientiert sie sich dabei an Vorgaben, zumindest aber Vorbildern aus ihrem sozialen Nahraum. Denn vor allem die Mutter scheint Ilona deutlich entsprechend zu beeinflussen. Während für den Aufbau ihrer Identität für Ilona noch 1992 und 1993 ein Cliquenzusammenhang wichtig war, sind es 1994 Bekannte aus der jugendkulturellen Szene der Rapper in verschiedenen Städten, die ihr das Gefühl des Angenommenseins geben, wobei die Beziehungen aber nie in die Tiefe gehen. Je älter Ilona wird, desto wichtiger scheint auch die Zugehörigkeit zu den Stilrichtungen "Rap" und "Techno" für sie wichtig zu werden. In den Gruppen, in denen sie sich bewegt, wird nur diese Art von Musik gehört und die entsprechende Kleidung getragen. Das schafft ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das stilistisch in Abgrenzung von "rechts" gestimmten Jugendkulturen - möglicherweise auch als Bezugspunkt gegen sie - aufgebaut wird. Schon 1992 baut Ilona Identität über ihr äußeres Erscheinungsbild auf. Dabei scheint es ihr neben ästhetischen Aspekten auch um die Demonstration eines Sozialstatus zu gehen, der Einpassung in die Wohlstandsgesellschaft und eine gewisse Saturiertheit offenbart. Wichtig waren ihr Markenkleidung und -schuhe. Ihr Outfit hat sich in den 3 Erhebungsphasen immer modischer entwickelt, bis hin zu teurem, modischen Rap-Stil: Rap eher als konsumkulturell geglättete Symbolik denn als Ausdrucksform der Benachteiligten und Gettoisierten in der multikulturellen Gesellschaft. 3.2.2 Individuelle Kompetenzen bzw. Mechanismen zum Aufbau personaler Identität Ilona ist in der Lage, sich in die Situation anderer Menschen empathisch hineinzuversetzen. Besonders betroffen ist sie von der Kriegssituation im ehemaligen XIII Jugoslawien. Aus diesem Grund spricht sie sich 1993 auch für die Gewährung von Asyl für Kriegsflüchtlinge aus (vgl. 1993: 37;1-5). Viel Mitgefühl zeigt Ilona für Menschen, die unverschuldet in die Situation ausländerfeindlicher Übergriffe geraten, beispielsweise für Kinder (vgl. 1993: 34;20-27). Dagegen kann sie die Haltung verschiedener Gruppierungen von Ausländern, die sich gegen Deutsche aussprechen oder sich gegen eine ungerechte Behandlung zur Wehr setzen, nicht verstehen. Durch dieses Verhalten sieht sie ihr unbelastetes Zusammenleben mit Deutschen gefährdet (vgl. 1994: 50;32-51;1). Ihre Fähigkeit zum Verständnis und zur Empathie mit Deutschen treibt letztendlich aber auch soweit seltsame Blüten, dass sie sich an deutsche Lebensverhältnisse ganz anpasst. Ilona reflektiert ihre Stellung als Ausländerin in Deutschland und kommt zu dem Schluss, dass es ihr nicht zukommt, "über Deutsche zu fluchen" (1992: 10;3-10), auch wenn diese sich ablehnend gegenüber Ausländern verhalten. 1994 folgt aus diesen Überlegungen die Konsequenz, dass Ablehnung und Ausländerfeindlichkeit nur dann entstehen, wenn sich Ausländer nicht anpassen. Folglich macht sie unangepasste Ausländer für ausländerfeindliche Bemerkungen oder Verhaltensweisen Deutscher verantwortlich (vgl. 1994: 50;32-38). Ihre eigenen Anpassungsbemühungen und deren Reichweite an die von ihr erlebte deutsche Normalität werden nicht reflektiert. Ilona ist fähig, Konflikte, v.a. in der Schule, anzusprechen und auszutragen, soweit nicht wichtige Beziehungen dadurch in Gefahr sind. Dann allerdings hält sie es für angebrachter, sich herauszuhalten und keine Meinung zu vertreten. (vgl. 1994: 66;38-67;6) Wenn es um das Verhältnis zwischen Deutschen und Ausländern geht, erkennt sie zwar den Konflikt, in dem sie selbst steht, bezieht aber keine Stellung, weil sie dadurch ihr Konstrukt von "normalem" Zusammenleben in Gefahr geraten sieht. Ihre Toleranz findet allerdings gegenüber Ausländern eine Grenze, die sich nicht nach ihren Vorstellungen benehmen und ihrer Ansicht nach durch ihr Verhalten das Ansehen der Ausländer in Deutschland gefährden und somit zu Ausländerfeindlichkeit beitragen. Solches Verhalten schreibt sie hauptsächlich Asylbewerbern, Albanern und Türken zu, die in ihren Augen durch Schlägereien oder sexuelle Anmache auffallen (vgl. 1994: 62;29-40). Obwohl Ilona v.a. in der 3. Erhebung behauptet, sie könne Verantwortung für sich selbst übernehmen, ihre eigenen Entscheidungen treffen und sich damit ein Selbstwertgefühl auf der Basis erreichter Eigenständigkeit attestiert, orientiert sie sich doch stark daran, was andere in ihrem Umfeld denken und tun. 1993 fällt oft auf, dass sie Ansichten vertritt, die sie selbst für die Meinung der Mehrheit hält. 1994 mündet dieses Verhalten in die Einstellung "Hauptsache die anderen sind mit mir zufrieden" (1994: 46;15). Darin zeigt sich, dass Ilona sich unter dem Druck fühlt, sich anzupassen, um von anderen akzeptiert zu werden. Ilonas Verantwortungsgefühl gegenüber ihrer Familie nimmt in Verlauf der Erhebungen eher ab; dafür strebt sie immer mehr danach, die Verantwortung für ihr eigenes Handeln zu tragen. Eigenverantwortlichkeit wird ihr von Seiten der Mutter auch auferlegt, z.B. beim Wechseln der Schule. Ilona erhält insgesamt mit zunehmendem Alter mehr Freiheiten und wird von der Mutter nicht mehr so stark kontrolliert. Eine allgemeine Verantwortlichkeit der Gesellschaft erkennt Ilona für Situationen, in denen Menschen unverschuldet in Not geraten sind. Dabei denkt sie v.a. an Menschen, die von Kriegen betroffen sind. 4. Zusammenfassung Ilona hält sich 1992 vor allem wegen ihres Wunsches, in der Klasse und im Kreis der Freundinnen anerkannt zu werden, in einer Clique "rechts"orientierteter Jugendlicher auf. Deren "rechte" Orientierung zeigt sich hauptsächlich in äußeren Merkmalen. Ob das "Rechtssein" nur symbolischen, provozierenden Charakter hat oder auch eine politische Stellungnahme darstellt, kann nicht eindeutig geklärt werden. Ilona wird, wie sie selbst meint, trotz ihrer kroatischen Nationalität von diese Clique akzeptiert, solange sie keine politische Stellungnahme bezieht und sich anpasst. XIV Sie löst sich mit zunehmendem Alter mehr und mehr von dieser Clique. Möglich wird dies zum einen durch ihre wachsende Mobilität. Sie ist auf den Cliquenzusammenhang immer weniger angewiesen und weitet ihre Bekanntschaften auch auf andere Städte im Umkreis von 50 km aus. Kontakte zu anderen Jugendlichen kann sie in Discos knüpfen, die sie um so häufiger besucht, je älter sie wird. Dort stößt sie auf andere Jugendkulturen und kann sich 1994 schließlich ganz aus der ehemaligen Clique lösen und eine Zugehörigkeit zur Rapper-Szene aufbauen. Für die Problemlosigkeit der Loslösung ist ausschlaggebend, dass Ilona Geborgenheit und Vertrauen nie im Cliquenzusammenhang gesucht hat, sondern Mutter und Freundinnen zur Problemansprache zur Verfügung standen. Die Funktion der Gruppe beschränkte sich auf die Gestaltung der Freizeit. Der Wechsel Ilonas von der Realschule, an der die rechte Szene relativ groß zu sein scheint, auf die Hauptschule kann zum anderen als Wendepunkt angesehen werden. Dass Ilona den Wechsel aus diesem Grund herbeigeführt hat, erscheint unwahrscheinlich, zumal sie den Schritt inzwischen bedauert und sich in die Realschule zurückwünscht. Durch diesen Einschnitt kommt es allerdings zu einem Abbruch der Beziehungen zu den meisten "rechten" Jugendlichen in ihrem Umkreis. Ilona musste sich in eine neue Klasse integrieren und neue Freunde finden. Ihre starke Anpassungstendenz ist allerdings erhalten geblieben. Äußerlich bemüht sie sich um ein modisches Erscheinungsbild, das gleichzeitig die Zugehörigkeit zu einer Jugendkultur signalisiert. Obwohl sie selbstbewusst auftritt und sich auch äußerlich so darstellt, vertritt sie nahezu nie eine persönlich gefärbte Meinung, sondern passt sich mehr oder minder klar an die vermutete Einstellung der Mehrheit an. Durch diese opportunistische Haltung verschafft sie sich in ihrem Bewegungsraum keine Feinde und fühlt sich als Ausländerin sicher in Deutschland. Demgemäß erlebt sie nichtanpassungswillige oder auf völlige Gleichberechtigung pochende Ausländer als Bedrohung für die labile Balance, die sie in ihrem eigenen Umfeld - wohl auch orientiert am diesbezüglichen Vorbild der Mutter - aufzubauen und zu erhalten bestrebt ist. Iris 1992 - 1994 "Sie haben uns beschimpft `Scheiß Skinheads` und so..." (1992: 17;12) "Also das würde ich irgendwie am liebsten vergessen, weil gerade auch die ganze Szene da, wo ich drin war, also wenn ich jetzt daran denke, das würde ich am liebsten zurückdrehen und alles von vorne." (1993: 2;32-35) "Also am Anfang war jeder voll dabei, und dann hat sich nach, vielleicht nachdem das alles auch mal im Fernsehen war, also im Fernsehen kam, vielleicht sich jeder mal hingesetzt und darüber nachgedacht..." (1994:19;10ff) 1. Objektive Daten zum Lebenskontext im Überblick Iris, anfangs 13 Jahre alt, evangelisch, lebt über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg in einem Ortsteil des Dorfes N. nahe einer Großstadt mit ca. 120.000 Einwohnern zusammen mit ihrem Vater, ihrer Stiefmutter und dem 11 Jahre jüngeren Stiefbruder in einer 4-Zimmer-Wohnung mit Balkon. Sie hat selbst ein eigenes Zimmer. In der Wohngegend befinden sich sowohl kleinere Einfamilien- und Mehrfamilienhäuser als auch Hochhäuser. Der Vater hat Hauptschulabschluss und arbeitet nach ihren Angaben als "Ersatzteilverkäufer" im Schichtdienst. Iris kennt nicht den Schulabschluss der Stiefmutter, die vormittags bei der Post arbeitet. XV Das Mädchen besucht die Realschule, wobei sie 1993 die 8. Klasse wiederholen muss. Der Familie stehen an langlebigen Gebrauchsgütern 1 Farb-TV, eine Stereoanlage, 1 CDPlayer, 1Videorecorder und ein Auto, ab 1993 auch ein Zweitwagen zur Verfügung. Iris selbst besitzt eine Stereoanlage, ein Skateboard und zwei Haustiere, einen Hasen und einen Hamster, für die sie selbst zuständig ist; seit 1993 zusätzlich einen CD-Player und einen Walkman. Als Taschengeld stehen ihr zunächst ca. 50.- DM, beim zweiten Erhebungsschnitt bis zu 100,- DM, die sie im Folgejahr durch Jobben auf 300,- DM aufzustocken vermag, zur Verfügung. 2. Politische Orientierungen 2.1 Allgemeine politische Orientierungen Insgesamt vermittelt I. durchgängig den Eindruck, sich überhaupt (noch) nicht für institutionsgebundene Politik zu interessieren. Rechnet sie sich 1992 nicht nur zu den Hooligans, sondern auch zu den Skinheads, eine Selbstzuordnung die eine gewisse Rechtslastigkeit deutlich werden lässt, und zählt Punks zu ihren Gegnern, so ordnet sie sich ein Jahr später keiner subkulturellen Gruppierung mehr zu und hat ihre rechten Orientierungen nach eigenen Aussagen mittlerweile abgelegt: "Also so gegen Ausländer und das habe ich eigentlich nichts mehr. Es gibt trotzdem Leute, die man nicht leiden kann, aber ich beschäftige mich jetzt eigentlich auch nicht mehr mit dem." (1993: 34; 28-3 1) „... also ich kümmere mich da nicht mehr darum. Also vielleicht sind - es kann sein, dass schon ein paar zuviel hier sind (gemeint sind Ausländer; Anm. d. V.), aber wenn sie mich in Ruhe lassen..." (1993: 34; 32-40) 1994 hat sich daran nichts geändert. 2.2 Ungleichheitsvorstellungen/Gleichheitsvorstellungen im Kontext von Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus 1992 vertritt I. gegenüber ‘Ausländern’ Ungleichheitsvorstellungen. Im Unterschied zu Arbeitsmigranten - "die wo hier geboren sind, die wo eine feste Arbeit haben, wo ihr Geld verdienen und die sich auch Wohnungen kaufen müssen und so, die leben ja normal" (20; 26ff.) - lehnt I. Asylbewerber eindeutig ab. Sie unterstellt ihnen die Erschleichung des Asylrechts, damit Betrug und die Ausnutzung ungerechtfertigt gewährter geldwerter Vorteile: „Aber grad die Scheinasylanten, wo rüberkommen, von der Regierung und vom Staat alles kriegen und wo Deutsche keine Wohnungen mehr finden, also nein." (19;22-26) I. fühlt sich als Deutsche gegenüber Asylbewerbern seitens der Regierung benachteiligt. Trotz Ressourcenknappheit würden diese Menschen „alles geschenkt“ bekommen, während Deutsche dafür arbeiten und Steuern zahlen müssten und auf dem Wohnungsmarkt keine Wohnungen mehr fänden (vgl. 19;31-37). I.s Argumentationsweisen legen Muster der Dramatisierung frei, die mit schroffen ethnischnationalen Gegenüberstellungen („die“ - “wir“) und scharfen Zuspitzungen (z.B. „alles“ „nichts“) operieren. Ihre Funktionalität kann sich auf zumindest 3 Säulen stützen: Erstens: Mit den von I. verwendeten ‘Wir’- und ‘Die’-Kategorien erfolgt eine ethnisch-nationale Grenzziehung auf der Basis rechtlich legitimierter Ein- und Ausgrenzung. Diese rechtliche Basis fundiert somit Begründungen von Ungleichheitsvorstellungen. Zweiten: Die Wortwahl erhält hier die Funktion der ‘Selbstabschottung’. Ihre Absolutheit lässt keine Nuancierungen mehr zu und zeigt sich entsprechend wenig kompromissbereit gegenüber Gegenargumenten. Drittens: I. beruft sich auf die grundsätzliche Gültigkeit des Leistungsprinzips bei der Verteilung gesellschaftlicher (hier: finanzieller) Ressourcen im Sinne eines Äquivalenzprinzips, das den Erhalt von staatlichen Transferleistungen an Erwerbsarbeit knüpft. Ein - zudem aus ihrer Sicht noch überzogen angewandtes Bedürftigkeitsprinzip bei der Aufnahme von Asylbewerbern kommt ihr wie eine XVI Aushöhlung dieses Prinzips vor, das sie - fälschlicherweise (z.B. in Hinsicht auf den Bezug von Sozialhilfe) - ausschließlich auf Deutsche angewendet sieht und durch das sie deshalb Deutsche als benachteiligt wahrnimmt. Womöglich zeugen Muster der Dramatisierung mit ihren Schwarzmalereien der eigenen Situation und den Schönfärbereien der Situation der anderen aber auch von einem Leidensdruck, dessen Stärke differenzierte Sichtweisen nicht mehr erlaubt. Je größer er ist, um so stärker dürfte er Reflexivität zurückdrängen. Somit empfindet sich I., obwohl sie mit ihren 13 Jahren noch nicht in den Arbeitsprozess eingebunden ist und auch nicht zu den SteuerzahlerInnen gehört, gegenüber Asylbewerbern als Financier wider Willen. Zusätzlich unterstellt sie ‘Ausländern’ 1992 noch ein erhebliches Maß an krimineller Energie in Kombination mit mangelnder Arbeitsmöglichkeit oder gar -moral: "... einbrechen oder klauen und so, weil sie nicht arbeiten gehen." (20;21-22) Von ausländischen Hauptschülern geht ihres Erachtens eine Bedrohung aus. Obwohl sie den eigenen zeitweiligen Besuch der Hauptschule nicht als persönliche Schädigung hat erleben müssen - "Ja, ich war früher ein Jahr auf der Schule, da war´s eigentlich ganz gut...“ (27;24-26) - übernimmt sie offenbar das Feindbild anderer, wenn sie die Hölle auf Erden für Deutsche an der Hauptschule als Bild heraufbeschwört: "Wenn man da als Deutscher hinkommt, da kann man eigentlich gleich wieder ‘runtergehen, da wird man fertiggemacht und so." (1992: 27;12-14) 1994 hat I. weitergehende Gleichbehandlungsvorstellungen hinsichtlich Asylbewerbern und Migranten entwickelt, wenngleich sie nach wie vor den Missbrauch des Asylrechts befürchtet und diesbezüglich einen gewissen Sozialneid empfindet. Denjenigen, „wo man auch weiß, dass es stimmt“ (24;24-25) und denen sie vermehrte Anstrengungen zuspricht, ihre neuen Chancen zur Selbständigkeit in der BRD zu nutzen (28;11-17), billigt sie ein Recht auf Asyl zu (24;25-26). Ihnen sollte geholfen werden, „auf eigenen Füßen“ zu stehen (25;1-4). Die Grundlage dafür aber müsste eine scharfe Überprüfung der Asylberechtigung sein (24;5.7). Trotzdem sind inzwischen Veränderungen in Richtung weitergehender Gleichwertigkeitspositionen zu beobachten. So spricht sie sich erstmals aus ihrem historischen Bewusstsein heraus und aufgrund eines Perspektivenwechsels grundsätzlich für das Asylrecht aus: „Bei uns kann das Gleiche irgendwann mal passieren, und wir wären dann auch froh.“ (27;24) Auch Asylbewerbern, nicht nur allgemein den ‘Ausländern’, spricht sie inzwischen das gleiche Recht auf Arbeit wie den Deutschen zu (vgl. 25;7-10) Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot sind für I. inzwischen gesellschaftliche Probleme, für die es keine zu personalisierenden Ursachen gibt. Dies ist ein großer Unterschied zum Vorjahr, der zeigt, dass ihre Gleichbehandlungsorientierungen tatsächlich an Fundament gewonnen haben. Möglichkeiten zur Verminderung der Arbeitslosigkeit sieht sie nun in strukturellen Maßnahmen wie im Job-Sharing (36;1-3) und in Arbeitszeitverkürzung (36;712). Jugendlichen aller Nationalitäten räumt I. ebenso das Recht an, kulturelle Freizeitangebote zu nutzen (31;21-26). Für I. stellen ‘Ausländer’ inzwischen sogar eine kulturelle Bereicherung dar: „Ja, man lernt halt auch viel von denen, deren ihre Kultur und wie die so leben und so.“ (23;3-4) Als ‘typisch deutsch’ bezeichnet I. dagegen, Vorurteile gegenüber anderen zu haben: „Also ich finde, Deutsche, die haben voll viele Vorurteile.“ (32;37-38) Die deutsche Nationalität würde I. im Unterschied zum Vorjahr inzwischen auch jenen zusprechen, die keine deutschen Vorfahren haben und nicht in Deutschland geboren wurden: „man kann sich ja nicht heraussuchen, wo man geboren wird.“ (29;27-28). XVII I. kann sich nun selbst vorstellen, „irgendwann ‘mal“ beispielsweise nach Neuseeland oder nach Australien auszuwandern (29;34-30;1). Aus diesen Auswanderungswünschen heraus versetzt sie sich selbst verstärkt in diejenigen, die in die BRD kommen: „Ich konnte mir auch nicht heraussuchen, dass ich jetzt hier auf die Welt kommen will. Ich wäre auch lieber woanders auf die Welt gekommen, wo es schön warm ist oder so.“ (29;3538) 2.3 Gewaltakzeptanz Schon 1992 zeigt I. sich distanziert gegenüber eigener physischer Gewaltausübung mit privater, d.h. unpolitischer Motivation, spricht sich aber im Hinblick auf Asylbewerber für institutionelle Ausgrenzungsmaßnahmen aus („Die, wo jetzt alles geschenkt kriegen und so und wo dann auch noch frech werden, nein, also die sollen schon ‘raus."; 20;26-31) und befürwortet gegenüber ihr missliebigen Ausländern auch eigene Einschüchterungsversuche im Cliquenrahmen. Physischer Gewalt, wie sie in Rostock angewandt wurde, steht sie aber distanziert gegenüber. I. verurteilt sie jedoch nicht generell, sondern stellt - funktional argumentierend - ihren Nutzen infrage und gelangt so zu einer ambivalenten Haltung: "Ja also ich mein, irgendwie hat´s nichts gebracht, wenn sie das jetzt gemacht haben, weil da müsst man bei der Regierung anfangen und andererseits war´s auch irgendwie, dass die jetzt wieder raus mussten, weil ihre Heime abgebrannt sind. Also das ist irgendwie gemischt."(18;25-30) I. erwartet weniger von mehr oder weniger gewalthaltigen politischen Bekundungen des Volkswillens auf der Straße als vielmehr von der Regierung, mit entsprechenden Gesetzen gegen Asylbewerber vorzugehen: "Also ich mein, die Regierung ist ja schuld, dass zu viele rüberkommen, und die sollen mal was dagegen machen." (18;38-40) Sie selbst sieht 1992 ihre Clique und andere rechtsorientierte Jugendgruppen als Opfer öffentlicher Verunglimpfungen, obwohl diese Jugendlichen - ihre eigene Clique eingeschlossen - lediglich ihr Recht zum Handeln aus der Untätigkeit der Regierung ableiten: "... wenn jetzt grad so Gruppen was dagegen machen wollen, dann heißt´s immer, ja ausländerfeindlich, Nazis und so. Dann sollen sie halt mal was machen.“ (19;3-6) Darüber hinaus stilisiert sie sie zu wahren Vaterlandsverteidigern, wodurch sie sich die Feindschaft der ‘Ausländer’ zuziehen: „...die haben halt was gegen uns, nur weil wir unser Land verteidigen wollen."(20;4-6) Im Rahmen dieser sich selbst zugeschriebenen heroischen Aufgabe, setzt die eigene Clique und auch I. eher auf Einschüchterungsmaßnahmen als auf direkte körperliche Gewalttätigkeit: "Na ja, wenn jemand ist, wo man nicht leiden kann und grad vorbeiläuft oder so, dann schüchtern wir den ein bissle ein oder - wir laufen zu dem hin und so, und dann wird er schon eingeschüchtert." (15;30-38) Das bloße Erscheinungsbild der Clique trägt zur Einschüchterung anderer, offenbar besonders türkischer Mitbürger ein. Diese verlassen z.B. „freiwillig“ einen öffentlichen Spielplatz, wenn die Clique auftritt: "Manchmal, also wenn wir dort sind, dann kommt gar niemand anderes. Manchmal sind so Türken-Familien da, und wenn wir dann kommen, die gehen dann freiwillig."(16;26-28) Die überwiegende Auseinandersetzungsweise besteht jedoch aus Beschimpfungen und Vorhaltungen, die politisch relevante Bezüge aufweisen und mit denen sich die Jugendlichen gegenseitig abwerten: "Also, sie haben uns beschimpft, ‘Scheiß Skinheads und so’, und wir haben halt gesagt, ja sie sind bloß Ausländer, und sie haben nichts zu sagen und so." (17;12-15) XVIII Diese Darstellung macht deutlich, dass I. bei diesen Auseinandersetzungen die Provokationen von der anderen Seite ausgehen sieht. Dabei legt sie freilich auch ihr Vertrauen in die Legitimität eines Territorialprinzips der Machtverteilung offen: Die Hiergeborenen haben zu bestimmen, Zugewanderte („bloß Ausländer“) „haben nichts zu sagen“. I. ist in ihrem Wohnumfeld kurz vor der 92er Befragung Opfer einer Vergewaltigung (vgl. 3.1.1) geworden. Diese Erniedrigungserfahrung verarbeitet sie nicht etwa, indem sie umgekehrt selbstausgeübte personale Gewaltausübung nun stärker befürwortet. Auch personale Gewaltausübung seitens ihres Freundes, der am liebsten den Täter verprügelt hätte, lehnt sie ab, um ihren Freund nicht weiteren Gefahren ausgesetzt zu sehen (26;2833). I. möchte außerdem nicht, dass sich die Clique ihretwegen mit der Hooligan-Gruppe, aus der der Täter kommt, gewalttätig auseinandersetzt - vermutlich auch, damit für sie die Clique ein Ort der Sicherheit bleibt: "Also ich will nicht, also wenn wir uns unterwegs begegnen, ich bin mit welchen zusammen, dass da eine Schlägerei ist oder so, das will ich nicht." (1992: 26;18-20) I. lehnt einen so verstandenen Schutz seitens ihrer Clique ab, obwohl sie von Freunden des Täters jetzt bedroht wird. Vielleicht zeigt dies, dass I. zwar Zugehörigkeit zu einer Clique sucht, in der sie als Mädchen auch ihre Widerständigkeit beweisen kann, dass für sie aber personale Gewalttätigkeit kein Mittel darstellt, um Stärke zu demonstrieren, ein jugendkulturell orientiertes Gemeinschaftsgefühl zu erfahren oder Rachegelüste auszuleben. 1993 akzeptiert I. grundsätzlich weder selbst- noch fremdausgeübte personale Gewalt als Mittel zur Durchsetzung eigener Interessen oder als Problemlösungsmittel. Vielmehr geht sie davon aus, mit Gesprächen Probleme aus der Welt schaffen zu können (vgl. 42; 4-9). Sie spricht sich damit auch gegen fremdenfeindlich motivierte Gewalt aus, weil diese nur eine Spirale von Gewalt bewirken würde: "Da entsteht dann nur noch mehr Hass, und dann geht es immer so weiter." (42; 17-20) Vornehmlich Leuten mit rechtsextremer Orientierung schreibt sie Gewaltbefürwortung zu: "Ich schätze mal, gerade so die Rechten und so." (42; 24) I. verurteilt jetzt nicht nur fremdenfeindlich motivierte Exzesse personaler Gewalt, sondern auch entsprechende Einschüchterungs- und Diskriminierungsversuche. Für sie ist das ein entscheidender Grund dafür, sich von einer Freundin zu trennen (vgl. 38; l-10). 1994 spricht I. sich wie im Vorjahr entschieden gegen Formen selbst- und fremdausgeübter Gewalt aus und ist misstrauischer gegenüber staatlichen Ordnungskräften geworden, denen sie u.U. jetzt sogar Kollaboration mit rechten Gewalttätern zutraut. Sie begrüßt es, dass an ihrer Schule der Schulleiter, der Vertrauenslehrer und weitere Lehrer auf die Vermeidung körperlicher Gewalt achten (vgl. 13;38-40). Als Auslöser für Gewalttätigkeiten an der eigenen Schule werden fremde Hauptschüler angesehen, die sich jetzt auf dem Realschulgelände nicht mehr aufhalten dürfen. Jeder Lehrer und auch Schüler (14;39-40) fühlt sich nach ihrer Einschätzung für eine Gewaltreduzierung verantwortlich (14;7-15). Die Ursachen für diese vormaligen gewalttätigen Auseinandersetzungen sieht I. in Sozialstatus-Problemen. Durch die Ausgrenzung von Hauptschülern und durch eine offenbar gute Schulatmosphäre konnte diese Schwierigkeit wohl beseitigt werden. Bewaffnungen kommen in der Schule „gar nicht“ vor (15;7). I. lehnt auch politisch motivierte Gewalt entschieden ab. Alkohol und Drogen lässt sie als Entschuldigung entsprechender Gewalttaten nicht gelten (vgl. 39;26-31). Möglichkeiten zur Vermeidung jugendlicher fremdenfeindlich motivierter Gewalttaten sieht I. z.B. in einem „Schüleraustausch“ (40;1-6), bei dem Deutsche andere Kulturen kennen lernen können. Sie selbst kann sich vorstellen, eines Tages auszuwandern. Ein Auslandaufenthalt würde ihrer Meinung nach „vielleicht nicht jedem, aber vielen schon“ helfen, Fremde zu verstehen (vgl. 40;10-15), XIX Für I. wäre eine solche Auslanderfahrung ein ‘Bollwerk’ gegen die Verführung seitens rechter Cliquen, weil man durch sie zu Perspektivenwechsel, mehr Reflexivität und Empathie angeregt wird, „...weil dann hat man immer vor Augen, ‘Ich, ich war auch schon mal als Schülerin im Austausch, und ich bin gut aufgenommen worden. Und jetzt kommen welche ‘rüber, die nehme ich auch gut auf’ und so. Da hat man dann, da hat man die eigene Erfahrung. Wenn man so was noch nie gemacht hat, dann hat man die eigene Erfahrung nicht, und dann lässt man sich in irgendwas reinziehen und schließt sich irgendwo ab.“ (40;23-30) I. verurteilt es ebenso, wenn Polizisten ihre rechten politischen Ansichten in ihren Beruf mit hineintragen, was nach ihrem Ermessen bei den Vorfällen in Magdeburg (38;4-25) geschehen ist. Derartige Vorfälle erwecken in I. den Eindruck, die Polizei arbeite mit Rechtsextremisten zusammen. Dies weist auf einen erheblichen Vertrauensverlust gegenüber staatlichen Ordnungskräften hin: „Da sind sie wahrscheinlich irgendwie angestachelt worden von irgend jemand. Und vielleicht haben die Polizisten ja auch irgendwie was dann vielleicht damit zu tun gehabt, dass die gewusst haben, ‘Ja, wir können machen, was wir wollen, die machen nichts gegen uns’ oder so. Und man weiß ja nicht, was, welche Verbindungen die miteinander haben, oder so.“ (39;7-12) Gegen eine solche ‘Verstrickung’ der Polizei sollte „etwas“ getan werden (41;12-14). Ebenso misstrauisch ist I. gegenüber Politikern. Sie ist skeptisch, inwieweit diese sich bemühen, rechtsextremistisch motivierte Gewalt zu unterbinden (vgl. 41;1-5). 3. Zusammenhang von politischer Orientierung und Gewaltakzeptanz mit sozialen Erfahrungen und Erfahrungsstrukturierung 3.1 Erfahrungen und Bearbeitungsressourcen 3.1.1 Problembelastungen und zentrale Interessenlagen 1992 hat I. vor allem Probleme damit, eine nur kurze Zeit zurückliegende Vergewaltigung zu verkraften. Außerdem benennt sie noch schulische Schwierigkeiten. Die Vergewaltigung erfolgte durch einen Jugendlichen aus einer Hooligan-Gruppe, die in losem Kontakt zu I.s Clique steht (23;32-24;3). Dieser Täter hat einen italienischen Vater und eine deutsche Mutter und pflegt offenbar sein italienisches Image (Memo). Von ihr wird er insofern als ‘Ausländer’ wahrgenommen (23;40). Ihr kam bei der Vergewaltigung niemand zu Hilfe, wohingegen der Täter zwei Freunde an seiner Seite hatte (24;14-20). Nach der Vergewaltigung fand I. sofort Unterstützung bei ihrem Freund und dem Jugendhausleiter P., der ihr zur Anzeige riet (vgl. 24;27-34). Vor einer Anzeige scheute sie aber zunächst aus Angst vor der Reaktion der Eltern zurück (vgl. 24;23-27). Infolge der Anzeige kam der Täter zunächst für zwei Monate in Untersuchungshaft (24;2-3). Von den Mitgliedern der Hooligan-Gruppe wird I. nun unter Androhung von Gewalt („die wollen mich jetzt alle verschlagen";23;35-37) unter Druck gesetzt, die Anzeige zurückzuziehen (vgl. auch 24;4-8; 24;39-35;4). Glücklicherweise findet I. sowohl bei ihren Eltern (25;2224) als auch bei ihrem Freund, ihren Freundinnen, ihrer Clique und dem Jugendhausleiter Unterstützung bei ihrer Absicht, die Anzeige nicht zurückzuziehen (25;12-15). I. ist sich aufgrund des sozialen Rückhalts sicher, dass sie dieses Erlebnis verkraftet (vgl. 25;33-36). Möglicherweise spielt die Vergewaltigung für ihre politischen Orientierungen durchaus eine Rolle. So ist es ein von ihr als ‘Ausländer’ wahrgenommener Deutsch-Italiener, der sie vergewaltigt hat. Und obwohl dieser in der direkten Nachbarschaft wohnt, überträgt sie ihre Furcht auf die türkische Wohngegend, durch die sie „spät nachts“ nicht mehr gehen würde (1992: 28;1-4). Diese Uhrzeit weist auf ihre Angst auch gerade vor sexueller Gewalt hin. Außer mit der Vergewaltigung hat I. auch noch Probleme in der Schule. Sie ergeben sich aus ihrer Widerständigkeit gegen ungeliebte Lehrpersonen, deren Unterricht sie gemeinsam mit anderen teils massiv stört. „Manchmal“ werden Lehrer auch ‘fertiggemacht’ (11;36-40). XX Auf ein solches Verhalten folgen Strafen (" fliegen ‘raus“ ...Eintrag...Strafarbeit, und wenn´s ganz schlimm kommt, nachsitzen.";12;5-7). Allerdings hat I. nicht nur Ärger mit den Lehrern. Diejenigen, die in ihren Augen einen guten Unterricht machen, d.h. den Lehrstoff lustig und interessant vermitteln können, werden von ihr respektiert. Findet sie den Unterricht jedoch langweilig, so verweigert sie sich ihm (16;20-21). Möglicherweise begründet dies auch ihre schlechten Schulleistungen. 1993 haben I.s Problembelastungen erkennbar nachgelassen. Die Erfahrung der Vergewaltigung liegt inzwischen etwa ein Jahr zurück. Die Androhungen von Gewalt, um sie zur Rücknahme der Anzeige zu bewegen, sind mit der Zeit unterblieben (9;27).Hilfe fand sie vor allem in Gesprächen mit ihren Eltern (10; 10). Zudem hilft ihr jetzt ihre Freundin. Die Unterstützung bei der Problembewältigung von Seiten ihres Vaters und ihrer Stiefmutter weist auf eine Fortsetzung in der Bewältigung der Familienkrise hin. Im Vorjahr hatte die Familie sich gerade mit der schwierigen Situation der Zurücksetzung der älteren Tochter im Zuge der Geburt eines elf Jahre jüngeren Sohnes auseinandergesetzt. Ein gemeinsam verlebter Familienurlaub in den letzten Sommerferien konnte den Krisenbewältigungsprozess positiv enorm verstärken: " seitdem haben wir irgendwie voll das gute Verhältnis." (1;7f) I. erfährt jetzt in verschiedenen Situationen, wie sehr sie sich auf die Unterstützung durch ihre Eltern verlassen kann (siehe Abschnitt `Familie`). In der Schule wiederholt I. nun die 8 Klasse. Sie reagiert auf diese von ihr nicht negativ bewertete Wiederholungssituation mit erhöhter Leistungsbereitschaft (22;1-6) und verstärkter Eigeninitiative (20;3 1-21 ;8). Der momentan verbesserte Notenstand spornt sie zu weiteren Anstrengungen an (vgl. 16;10-12). Zudem macht sie ganz neue Erfolgserfahrungen durch ihre neuerliche Mitgliedschaft in einem schulischen "Popchor": "...und das macht irgendwie voll Spaß." (11 ;14). Insgesamt hat I. auch einen wesentlich besseren Kontakt zu ihren LehrerInnen und kommt zudem mit ihren neuen Mitschülern in der Klasse gut aus. Im schulischen Bereich sind demnach Probleme, die sie durch ihre eigene Widerständigkeit gegen angeblich unfaire Lehrer und langweilige Stoffvermittlung erwirkte, in diesem Jahr völlig weggefallen. I. tut es offenbar wirklich gut, die Klasse zu wiederholen. Sie schämt sich nicht wegen dieses Bruches in ihrer Schullaufbahn. Demgegenüber schämt sie sich wegen ihrer `Vergangenheit`. Die ehemalige Mitgliedschaft in einer politisch rechtsorientierten Clique ist für sie ein Fehler, den sie am liebsten ungeschehen machen würde: "Also, das würde ich irgendwie am liebsten vergessen, weil gerade auch die ganze Szene da, wo ich drin war, also wenn ich jetzt daran denke, das wurde ich am liebsten zurückdrehen und alles von vorne" (2;32-35); "Am liebsten würde ich eigentlich echt die Zeit zurückdrehen. Das war irgendwie alles schwachsinnig." (4;13-15) Wenn I. selbst ihre Problembelastungen benennt, so weist sie lediglich auf die Unsicherheit ihrer zukünftigen Lebensplanung hin (Fb 3). Dies steht vielleicht in einem Zusammenhang mit ihrer nicht problemlos gewesenen Schulbiographie. Es könnte erklären, warum ihre emotionale Haltung gegenüber Asylbewerbern so stabil ist. 1994 gibt I. als ihre zur Zeit größten Probleme schulische Schwierigkeiten, die Unsicherheit der beruflichen Zukunftsperspektiven und Zeitnot an (Fb. 10). Zu ihren schulischen Problemen zählen ihre vor Jahren schon aufgetretenen Verständnisschwierigkeiten im Fach Mathematik. Hier nimmt sie Nachhilfe und bemüht sich folglich um die Verbesserung der Noten (13;10-12). Das Erreichen der Mittleren Reife ist aber bislang offenbar nicht gefährdet (13;15). Mit ihren Eltern besprach I. inzwischen auch ihren Berufswunsch. Sie würde am liebsten die dreijährige Ausbildung zur Pferdewirtin machen und danach Jockey werden (10;10-11). Inzwischen hat sie sich über die Phasen einer derartigen Ausbildung informiert und ist sich auch sicher, über genügend Vorkenntnisse für diesen Beruf zu verfügen (10;22-34). Mit diesem Beruf verbindet sie unverändert vor allem sachlich-inhaltliche XXI Arbeitsorientierungen. Es ist ihr Traumberuf, „schon als kleines Kind“ wollte sie „das schon immer werden“ (11;8). Die Eltern ermutigen sie, diesen Weg zu gehen (11;7-11), und versichern ihr, als selbstverständlicher Rückhalt weiterhin zur Verfügung zu stehen (vgl. 1994: 11;12-13). Sollte sie keinen Ausbildungsplatz bekommen, so will sie Reitlehrerin werden (vgl. 11;28-29). Doch erscheinen I. diese Zukunftsperspektiven durchaus als unsicher. Für die Zukunft will sie. sich deshalb noch mehr um bessere Schulnoten bemühen, um einen guten Schulabschluss zu erreichen. Doch weiß sie, dass ihr das eigene Lustprinzip in ihrer Alltagsgestaltung dafür etwas im Wege steht: „...und dann irgendwie, dann habe ich doch keine Lust.“ (43;17-24). Vermutlich erklärt sich durch diese Diskrepanz zwischen Lustprinzip und Pflichtaufgaben in ihrer Freizeitgestaltung das Problem der ‘Zeitnot’. I. gibt die Bewältigung der Vergewaltigung nicht als ein Problem an. Allerdings ist im vergangenen Jahr die Gerichtsverhandlung aufgrund der Konfrontation mit dem Täter sehr unangenehm gewesen. Der Täter ist in der Verhandlung aus Mangel an Beweisen freigesprochen worden (8;16-17). I. ist erleichtert, ihm wenigstens im Alltag nicht mehr zu begegnen (vgl. 8;20-26). Für I. ist die Vergewaltigung zwar eigentlich ein abgeschlossenes Thema, doch die Erinnerung an sie „kommt“ gelegentlich auch noch nach Jahren „wieder hoch“. In solchen Momenten kann sie sich auf ihre Freundinnen und ihre Eltern verlassen (vgl. 9;26-31). 3.1.2 Erfahrungen im sozialen Nahraum und seine sozio-emotionalen Ressourcen Familie I. sieht sich 1992 von ihren Eltern zwar nicht so akzeptiert, wie sie ist, aber fühlt sich dennoch bei ihnen grundsätzlich geborgen. Sie kann sich ihrer Einschätzung nach auf ihre Eltern verlassen und bei ihnen mit tatkräftiger Hilfe rechnen (Fb. 3). Mit ihrer Stiefmutter kann sie auch über persönliche Probleme reden. I. wohnt mit den beiden seit etwa 6-7 Jahren zusammen. Zuvor lebte sie bis zu ihrem 5. Lebensjahr bei ihrer leiblichen Mutter. Zu einem Bruch in der Beziehung zu ihr kam es offenbar aufgrund ihrer Alkoholsucht (vgl. 5;25-30). Übergangsweise wohnte I. dann bei ihrer Oma, mit der sie sich ausgezeichnet versteht und mit der sie über alles reden kann (7;11-13). Mit ihr hat sie nach wie vor regelmäßigen, wenn auch in letzter Zeit nicht mehr so häufigen Kontakt. Von ihr hat sie in der Vergangenheit auch am stärksten das Gefühl von Geborgenheit vermittelt bekommen (6;39-40). Diese Entwicklungsgeschichte zeigt, dass I. im Verlauf ihrer Kindheit zahlreiche Trennungen innerhalb der Familienbeziehungen zu verkraften hatte. Von stabiler Kontinuität der Bezugspersonen kann nicht die Rede sein. Zu einer neuerlichen Familienkrise kam es dann, als ihre Stiefmutter vor etwa zwei Jahren von ihrem Vater ein eigenes Kind bekam. Erneut musste I. damals mit Verlustängsten fertig werden: "Ja, wir hatten da mal so eine Krise ab da, wo mein Bruder auf die Welt gekommen ist. Jetzt grad in den ersten zwei Jahren, da war sie nur für ihn da, da hab´ich mich oft vernachlässigt gefühlt. Da haben wir oft gestritten und so. Das ist jetzt aber geregelt, und jetzt hat sie auch zugegeben, dass sie sich viel zu viel um ihn gekümmert hat, weil das halt ihr eigenes Kind ist. Aber jetzt geht´s eigentlich" (5;15-22) I. beschreibt wie eifersüchtig sie in den letzten Jahren auf ihren Bruder gewesen ist. So verweigerte sich I. u.a. den von den Eltern auferlegten Pflichten gegenüber dem Bruder, was möglicherweise ihre Antwort auf die zuvor erfahrenen Benachteiligungen war. Im nachhinein verurteilt I. ihr eigenes Verhalten (7;34-39). Offenbar aufgrund der Zuspitzung des Ärgers innerhalb der Familie ist es dann in der Vergangenheit zu einem Klärungsgespräch gekommen, bei dem I. die eigenen Ängste klar wurden, bei dem aber auch die Eltern ihre Fehler einsahen: "Ich hab mich mit meinem Bruder auch nicht verstanden, weil er hat alles gekriegt und stand auf einmal im Mittelpunkt und so und. Aber da hat mal die ganze Familie dann drüber XXII geredet, und dann hab ich irgendwie auch eingesehen, dass ich nur eifersüchtig war, dass das gar nicht so war, weil die gucken jetzt danach, also die haben jetzt auch gemerkt, dass sie Fehler gemacht haben." (5;38-6;6) Statt durch Widerständigkeit versucht I. inzwischen durch die Übernahme von traditionellen Hausfrauentätigkeiten Anerkennung zu bekommen. Sie übernimmt Aufgaben wie Aufräumen, Einkaufen und Putzen, wenn sie den Eindruck hat, ihre Stiefmutter sei überlastet (vgl. 2;9-10). Wenn es Familienärger gibt, verhalten sich die Eltern konsequent. Angedrohte Strafen wie Ausgehverbot und Reitverbot werden eingehalten (8;13-15). Dabei übernimmt I. durchaus im nachhinein deren Perspektive und erachtet die Strafen als Maßnahmen, wieder zur Ruhe zu kommen (8;2-5). 1993 sind die Familienbeziehungen - wie oben angedeutet - erheblich besser geworden. I. schwärmt noch immer von dem gemeinsam verlebten Sommerurlaub, bei dem sie ihre Eltern und auch ihre Verwandtschaft so unerwartet anders erleben konnte (vgl. 13;34-14;3). Dieser gemeinsame Familienurlaub führte I. Erlebnismöglichkeiten vor Augen, die sie innerhalb ihrer Clique nicht hatte: "... in der rechten Szene ...da hat sich niemand für irgendwas richtig interessiert..." (25,6-8) Auch entdeckte sie, dass innerhalb ihrer Clique ein Konformitätsdruck bestand, mit dem sie nicht mehr zurechtkam, dem sie sich nicht mehr unterwerfen wollte: "Also, da wo ich - ich war ja im Urlaub - und da wo ich wieder zurückgekommen bin, habe ich eigentlich mit den ganzen, wo ich früher zusammen war, alle Streit bekommen. Gerade im Urlaub, ich habe mich irgendwie schon verändert, wie ich herumgelaufen bin, und das haben die halt am Anfang gar nicht verstanden. Und dann haben wir aber dermaßen Streit, und sie haben uns irgendwie alle gar nicht mehr. Außer der S., aber sonst haben sich eigentlich alle verändert." (3 ;40-4 ;4) Somit trug das erheblich verbesserte Verhältnis zur gesamten Familie dazu bei, die Qualität der Beziehungen innerhalb der Clique mit neuen Augen zu betrachten und nun kritisch zu hinterfragen. Besonders positiv hat sich das Verhältnis zu ihrer Stiefmutter entwickelt. I. erachtet sie inzwischen als ihre wahre "Mutter", ihre leibliche Mutter ist für sie dagegen wie eine "Freundin" (1;37-40). Die Kontakte zur leiblichen Mutter beschränken sich auf Kurzbesuche an deren Arbeitsstelle oder zufällige Begegnungen (1;28-30). Auch mit ihrem Vater versteht sie sich "ganz gut", obwohl sie ihn durch seinen Schichtdienst selten sieht (2;2-4). Positiv verändert hat sich zudem das Verhältnis zum Bruder, an dessen Entwicklung I. inzwischen mehr Interesse aufbringt (1993: 5;4-6). Die Eltern vermitteln I. das Gefühl von Geborgenheit. Sie zeigen ihr, dass sie jederzeit mit ihrer Hilfe rechnen kann. So stellten sie dies unter Beweis, als sie sie während der vorübergehenden Trennung von ihrem Freund emotional unterstützten (6;28-29), was allerdings zur Folge hat, dass sie von der erneuten Aufnahme der Beziehung nun nicht angetan sind (6;32-38). Die Eltern unterstützen I. auch in der Vorbereitung auf die bevorstehende Gerichtsverhandlung (9;7-8). Über Themen wie Sexualität redet I. mit den Eltern nicht; diese sind aber über deren Einnahme von Verhütungsmitteln (Pille) informiert und damit einverstanden (28;7-l1). Für die Zukunft wünscht sich I., dass besonders die Atmosphäre in der Familie so bleibt, wie sie ist. Das Verhältnis zwischen den Familienmitgliedern ist auch 1994 konstant gut geblieben. I. verbindet mit ihren Eltern ein stabiles Vertrauensverhältnis: „wir können auch über alles miteinander reden ...“ (7;19). Auch das Verhältnis zu ihrem elf Jahre jüngeren Bruder scheint mit zunehmenden Alter besser zu werden (vgl. 7;37-38). Besonders schätzt I. an ihren Eltern deren Bereitschaft, sich für sie Zeit zu nehmen und mit ihr zu reden, wann immer sie dies will (vgl. 8;6-10). Nach eigener Einschätzung hat sich das Verhältnis mit ihrer Stiefmutter noch weiter verbessert, weil sie bei ihr konstant tatkräftige Unterstützung bei der Bewältigung des Traumas ‘Vergewaltigung’ erhielt (9;35- XXIII 36). Auch hilft sie nun I., die Trennung von ihrem Freund durchzuhalten (7;20-24). I. sieht gelegentlich ihre leibliche Mutter, möchte diesen Kontakt aber nicht intensivieren, weil ihre Stiefmutter an deren Stelle getreten ist (Memo). Bei ihrem Vater und ihrer Stiefmutter fühlt I. sich geborgen und auch so akzeptiert, wie sie ist (Fb 9). I. unternimmt inzwischen mehr getrennt von ihrer Familie, doch fährt sie nach wie vor gelegentlich gerne mit zu Verwandtschaftsbesuchen und unternimmt auch gerne etwas mit ihren Eltern und ihrem Bruder zusammen (9;40-10;4). Schule Trotz belastender Schulprobleme aufgrund ihrer Notenprobleme und ihres widerständigen Verhaltens gegenüber ungeliebten Lehrern (siehe Abschnitt 3.1.1), geht I. schon 1992 nicht ungern zur Schule. Das Wichtigste ist für sie das Zusammensein mit ihren MitschülerInnen (9;25-27). I. hat mehrere Freundinnen; ihre beste Freundin geht in die Parallelklasse, ihr Freund ist eine Klasse über ihr. In ihrer Klasse fühlt sie sich einer „Gemeinschaft“ zugehörig (11;27-28). Zu dieser gehören allerdings nicht jene, die „anständig, ruhig“ sind, „sich keine Ausrutscher“ leisten, die „sich immer als die Klassenbesten vorkommen“ und sich „bei jedem Lehrer einschmeicheln“ (11;32-12;5). Diese anderen SchülerInnen werden „manchmal fertiggemacht und so“ (11;8-10). Mit ihnen will das Gros der Klasse nach ihrer Wahrnehmung nichts zu tun haben, wie es auch umgekehrt der Fall zu sein scheint (vgl.11;26-30). Mit „einigen“ ihrer Lehrer kommt I. gut zurecht (9;29-30). Besonders gut verstehen sie und ihre Klasse sich mit dem Deutschlehrer, der den Unterrichtsstoff lebendig und interessant zu vermitteln versteht (9;40-10;4). Offenbar strahlt dieser Lehrer Freude an der Zusammenarbeit mit den SchülerInnen aus, die von anderen Lehrpersonen als so problematisch wahrgenommen werden (vgl.10;40). 1993 erachtet I. die Wiederholung der achten Klasse als ein Angebot neuer Chancen. Vor allem die neu erlebte Position, nicht mehr zu den Schlechtesten zu gehören, gibt ihr Auftrieb (vgl. 7;28-29). I. lebte sich in die neue Klasse problemlos ein (8;l) und fand schnell Kontakte (16;36). Die Klasse achtet sie und sucht bei schwierigen Lehrstoffen ihre Unterstützung (16;30-34). I. erlebt das Zusammensein mit ihren MitschülerInnen als positiv, auch wenn sie keine privaten Kontakte zu ihnen hat (17;8-1 1). Für sie ist die Klasse eine Gemeinschaft (19;5), in der unterschiedliche Gruppen existieren, die zwar getrennt etwas unternehmen, aber trotzdem zueinander in Beziehung stehen (19;8-l 1). Insgesamt hat I. den Eindruck, das Verhältnis an der Schule zwischen Lehrern und Schülern sei entspannter geworden, was sie mit der zahlenmäßigen Zunahme junger LehrerInnen an der Schule erklärt (vgl.15;14-17). Aufgrund ihrer jetzigen Vorkenntnisse hat zum Teil ihr Interesse am Unterricht bei bekannten LehrerInnen zugenommen (15;1 1-14). Zudem hat sie eine neue Lehrerin, bei der sie ihre Leistungen deutlich verbessern konnte. Diese realen Erfolgserfahrungen spornen sie zu weiteren Anstrengungen an, um ein gutes Abschlusszeugnis zu bekommen (16;10-14). Damit zeigt sie Engagement, ihr Problem `Zukunftsperspektiven` zu bewältigen. Zudem genießt sie die neu eingeführten selbstbestimmten Arbeitsformen. In verschiedenen Unterrichtsfächern werden die Schüler jetzt an der Themenauswahl beteiligt (20;20-27). Zudem können SchülerInnen teils selbst den Unterricht eigenverantwortlich gestalten - eine Chance, die I. mit Engagement ergreift (vgl. 20;25-27). Diese Aufgabe stellte hohe Anforderungen an I. hinsichtlich der Vorbereitung und der Durchführung (20;40-21 ;7). Sie ist stolz auf die aufmerksame Beteiligung ihrer Mitschüler, die sie erwirken konnte (21;1318) und auf die eigenen Lernerfolge (21;22-28). Die Unterrichtsinhalte haben für I. somit teils an Sinnbezug gewonnen. Schule ist auch zu einem Ort positiver Erfahrungen durch ihre freiwillige Beteiligung an einem "Popchor" (11;11) geworden. Hierzu entschied sie sich nach den letzten Sommerferien (11;22). 1. freut sich auf ihr Vorsingen vor Publikum: "... das macht irgendwie voll Spaß."(1993: 1l;9-14) XXIV Außerdem genießt sie den eigenen Bedeutungsgewinn durch das Umgehen mit Mikrophonen (11;32-34). Insofern kann sie in diesem Chor neue Interessen verwirklichen und neue Talente in sich entdecken. Innerhalb der Schule hat I. 1994 wieder etwas stärker Leistungsprobleme. Sie besucht jetzt das 9. Schuljahr. Formen der Selbstbestätigung sind durch das Nachlassen der Noten eingeschränkter geworden, doch sind ihr die Erfolge durch ihre Mitwirkung in einer schulischen Musikgruppe geblieben. Mittlerweile ist sie Mitglied einer kleinen Musikband, die von dem Musiklehrer „so nebenher“ geleitet wird (12;37). I. gehört mit ihrem Gesang zu denjenigen, die bei Aufführungen vor der Schule besonders im Vordergrund stehen (12;30-34). Sie hat hieran viel Spaß und genießt den jeweiligen Erfolg (12;7-15). Auch Lehrer bekunden ihre Anerkennung für diese Gesangsleistung (16;4-7). I. kommt insgesamt mit ihren L. immer besser zurecht (vgl. 16;8-9). Auch mit den (ja jüngeren) SchülerInnen aus ihrer Klasse kommt I. nach wie vor gut aus (vgl. 15;21-22). Freundes- und Bekanntenkreis Den größten Teil ihrer Freizeit verbringt Iris 1992 mit einer Clique: „wir sind halt immer zusammen“ (12;34-35). Dies ist eine gemischtgeschlechtliche Clique von ca. 15 Jugendlichen (vgl. 13;36) mit einer breiten Altersspanne von 11-24 Jahren (18;4-13). Zu dieser großen Altersspanne kommt es dadurch, dass viele ihre Geschwister mit in die Gruppe gebracht haben (8;16-19). Alterspanne und Geschwistertum weisen darauf hin, dass es diese Clique in dieser Zusammensetzung noch nicht lange geben kann, sonst hätten aufgrund unterschiedlicher, entwicklungsspezifischer Interessen schon Separationsprozesse stattgefunden. Es sind mehr Jungen als Mädchen in der Gruppe (18;8). Manchmal ist ihr Treffpunkt das Jugendhaus im Stadtzentrum, „meistens“ ist es in Ermangelung anderer Treffpunkte - "Einen anderen Raum für uns haben wir eigentlich nicht" (14;10-12) - der öffentliche Spielplatz. Die gemeinsamen Unternehmungen sind auf Action und Spaßerleben ausgerichtet, vor allem "Parties und Diskos" (vgl. 13; 10-14). Die Clique definiert sich über ihre rechten politischen Orientierungen, die ihre Mitglieder durch das Hören von Oi-Musik, Kleidung("wir haben fast alle Bomberjacken"; vgl. 13;20f)) und Frisuren symbolisch zum Ausdruck bringen. Kleidung ist für sie ein wesentliches jugendkulturelles Zuordnungsmoment (vgl. 31;4-7). Das Tragen einer gemeinsamen Frisur „ist eigentlich freiwillig“ (13;26), aber doch schon uniformiert. Auch I. trägt diese Haarfrisur: "Bei den Mädchen auch, die rasieren sich dann hinten die Haare weg und machen sich dann meistens einen Pferdeschwanz.“ (17;22-28) Der rasierte Nacken ist durch das Tragen des Pferdeschwanzes auf den ersten Blick nicht mehr erkennbar. Der Pferdeschwanz, durchaus ein Symbol der Mädchenhaftigkeit, Keckheit und zugleich Bravheit, verdeckt in der Öffentlichkeit dieses Symbol der politischen Zuordnung. Damit erfolgt eine Anpassung sowohl an cliquenbezogene als auch an gesellschaftliche Konformitätserwartungen. Diese Anpassung, die auf Vermeidung harter Konfrontationen hinausläuft, spiegelt sich in ihrem ‘Lebensspruch’ wider, den sie als Motto ihres Lebens aufstellt: „Immer locker und cool sein, aber wenn’s hart wird, sich anpassen können“ (1992: Fb 11). Ein fundiertes Weltbild liegt ihrer Cliquenmitgliedschaft und der damit dokumentierten politischen Haltung nicht zugrunde. Vielmehr scheint sie Positionen anderer zu übernehmen, also in der Clique quasi ‘mitzulaufen’. Ihr geringes Alter spricht in dieser höchst altersheterogenen Gruppe dafür. Wahrscheinlich sucht sie dort das Gefühl von selbstverständlicher Zugehörigkeit, das sie innerhalb der Familie offenbar häufiger leidvoll vermissen musste, und findet es in Kategorien wie ‘nationale Zugehörigkeit’ und ‘Kameradschaft unter Deutschen’, das als Image innerhalb der Clique aufgebaut wird: "...da fühlt man sich meistens wohl, da wird eigentlich niemand ausgestoßen so. Da ist jeder mal Mittelpunkt, jeder ist dabei." (14;31-33) XXV Dennoch weist nicht nur die große Altersspanne der Mitglieder, sondern auch I.’s Wortwahl darauf hin, wie wenig stabil und eingeschworen die Clique noch ist. So beschreibt I. in fast jedem Satz die Clique unter Zuhilfenahme des relativierenden Wortes „eigentlich“ entweder „eigentlich nicht“, „eigentlich meistens“, „eigentlich selten“ oder „eigentlich alle“. Diese Häufung der „eigentlich“-Formulierung, läßt die Clique „eigentlich“ als instabil erscheinen, wenngleich I. sich in ihr geborgen und als Mensch respektiert fühlt. Außerdem ist sie sich sicher, sich auf deren Unterstützung und tatkräftige Hilfe verlassen zu können (Fb 3). Möglicherweise tragen auch ihre beste Freundin und ihr Freund, die ebenfalls Mitglieder sind, zu dieser Einschätzung bei (15;10-13). Ganz wichtig ist für I. die beste Freundin. Sie gibt an, ein starkes Vertrauensverhältnis zu ihr zu haben und mit ihr deshalb „über alles reden“ (20; 38-40) zu können. Offenbar erzählen sich beide Mädchen gegenseitig von ihren Problemen. Mit der Freundin verbindet sie eine innige, fast geschwisterliche (vgl. 20;40) Beziehung. I. baut damit außerhalb der Familie eine ‘familienähnliche’ Beziehung auf, in der sie sich aufgehoben fühlt. Die Eltern sind damit einverstanden, dass die Mädchen gelegentlich beieinander übernachten (21;2-6). Zusammen mit ihrer Freundin fühlt I. sich gegenüber anderen Cliquen sicherer (21;18-22). Auch bringen gemeinsame Unternehmungen mit ihr mehr Spaß (21;13-15). Im Vordergrund der gleichwertigen Mädchenfreundschaft, in der keine über die andere dominiert (21;3538), steht das gegenseitige Verständnis, das „Füreinander-da-Sein“ (vgl. 21;29-31). 1993 ist I. nach den Sommerferien aus der politisch rechtsorientierten Clique ausgetreten und ist jetzt mit "alten Freundinnen zusammen", mit denen sie "irgendwie das Leben wieder ganz anders" sehen kann (3; 18-21). Ihr Freund verließ nach ihr während der Zeit ihrer Trennung diese Clique. Beide veränderten ihre Frisuren, ihre Kleidungen, die MusikRichtung, um über den damit vollzogenen jugendkulturellen Stilwechsel sich auch politisch abzusetzen (vgl. 3;11-15). Zu den ehemaligen Cliquenmitgliedern hat sie keinen Kontakt mehr (22;39-23;2). Auch zu ihrer ehemals engen Freundin S. ist I. inzwischen in Distanz getreten, weil diese sich nicht von der rechten Szene distanzieren will (vgl. 8;12-l6). I. stört sich an deren fremdenfeindlichen Verhalten (38;1-10) ebenso wie an deren `unweiblichem` Auftreten. Letzteres sieht sie in Verbindung mit dem symbolischen Maskulinismus in der rechten Szene stehen: "Ja. Also gerade jeder, wo sie sieht, die läuft irgendwie gar nicht herum wie ein Mädchen, weil ihre abrasierten Haare, dann hat sie ihre Docs an und Bomberjacke und ihre Käppi immer auf. Also wenn man es nicht weiß, dass es ein Mädchen ist, dann würde man denken, sie wäre ein Junge." (8;6-12). I. fühlt sich jetzt einer "kleinen Clique" (6;7) zugehörig, mit der sie das Leben wieder richtig genießen will (vgl. 6;l-5). Vermutlich ergibt sich hierbei eine Verzahnung der nun positiven Familienbeziehungen, die ihr wieder mehr Vertrauen in sich und andere Menschen ermöglichen, und der positiven Freundschaftsbeziehungen (vgl. 6;9-12). Innerhalb der jetzt eher altershomogenen Clique gehen die Jugendlichen gleichgelagerten Interessen nach, die eher an dem örtlichen kommerziellen Angebot orientiert sind(„Dart“, „Billard“, „Kino“; vgl.(25;3-l1). Im Nachhinein hat sie das Empfinden, diese Interessen wären in der politisch rechtsorientierten Clique nicht zu verwirklichen gewesen (vgl. 25;8). Aus der Distanz heraus gibt 1. auch an, damals wenig Einflussmöglichkeiten innerhalb der Clique gehabt zu haben (25;1). Bei gemeinsamen Unternehmungen kann ihres Erachtens jetzt - im Unterschied zu vorher - jeder seine Wünsche und Vorstellungen einbringen (24; 1012). Auch sie selbst fühlt sich hinsichtlich ihrer Wünsche berücksichtigt (24,15-17). Interessant ist hier, dass sie die gleiche Sichtweise von Gleichberechtigung anführt, die sie letztes Jahr bezogen auf ihre alte Cliquenzugehörigkeit genannt und im Nachhinein relativiert hat. Möglich erscheint hier, dass erst bei Distanzierung tatsächlich die Bedingungen relativiert XXVI werden können, die vorher aufgrund des Wunsches nach Zugehörigkeit nicht realistisch eingeschätzt werden können. In I.s Freundschaftsbeziehungen hat es 1994 durch die endgültige Trennung von ihrem Freund einige Veränderungen gegeben. Die Ursache für die Trennung sieht I. in der einengenden und Lebensqualität beschneidenden Eifersucht ihres damaligen Freundes. Nach häufigen Auseinandersetzungen beendete I. die Beziehung, worüber sie im nachhinein „eigentlich froh“ ist (1;34). Inzwischen ist sie erleichtert, Distanz von ihm zu gewinnen. Sie genießt ihre wiedergewonnenen Freiheiten wie eigene Kleidungswahl und unbekümmerte Freizeitgestaltung zusammen mit ihren Freundinnen. Die beste Freundin besucht die Parallelklasse, eine andere Freundin geht in die 10. Klasse der Realschule, eine weitere ist 20 Jahre alt, und die vierte war ebenfalls einst auf der Realschule. Mit diesen vier, teils älteren und vermutlich selbständigeren Freundinnen besucht sie regelmäßig eine Kneipe oder das Billard-Cafe im nahegelegenen Ort (3;37-43). Dabei lernt I. auch neue Jugendliche kennen. Gesprächsthemen bei ihren Treffen sind Probleme, Träume oder Jungenfreundschaften (4;9-19). Wie in den Vorjahren zeigt sich hier das typische Muster von Mädchenfreundschaften, bei denen nicht gemeinsam erlebte Action ein Qualitätsmerkmal darstellt, sondern das gegenseitige Vertrauen, gegenseitige Gesprächsund auch Hilfsbereitschaft. I. ist sich sicher, dass sie ohne die Unterstützung ihrer Freundinnen diese Trennung von ihrem Partner nicht verkraftet hätte und zu ihm zurückgekehrt wäre (4;29-37). Freizeit 1992 verbringt I. einen Großteil ihrer Freizeit mit ihren FreundInnen im Kontext von Cliquenaktivitäten (vgl. 12; 34f). „Total lautes“ (FB 3) Musikhören ist eines der wesentlichen Bestandteile dieser Treffen (14;14 und 15;23-25), aber auch der Besuch von Festen (16;7-10) und von Veranstaltungen im nahen Umfeld (14;10-12). Jenseits der Cliquenaktivitäten besucht I. einen privaten Reiterhof (FB 14). Im direkten Wohnumfeld gibt es ansonsten keine formellen Freizeitangebote. 1993 verbringt I. den Großteil ihrer Freizeit mit ihrem Freund (12;34-13 ;3). Meist sind beide bei ihm zu Hause (30;11-15). Manchmal gehen sie in der Stadt spazieren (30;34-36) oder treffen sich mit Freunden zu gemeinsamen Unterhaltungen oder Musikhören (30;3931;2). Es werden verschiedene, eher konsumorientierte Unternehmungen zusammen mit der neuen "Clique" gemacht (s.o.). Zu dem Spielplatz, dem Treffpunkt der ehemaligen Clique, geht sie gar nicht mehr (13;6). Auch das letztjährig öfters besuchte Jugendhaus in L. interessiert 1. nicht mehr (13;8-I0). In ihrer Freizeit hört I. inzwischen andere Musik als noch im Vorjahr, in dem sie Oi-Musik als eine bevorzugte Musikrichtung angegeben hatte. Inzwischen bevorzugt sie die Musik aus den Hit-Charts (31; 17-19). Nur noch die "Onkelz" sind aus der Zeit ihrer ehemaligen Mitgliedschaft zur politisch rechten Szene für sie übriggeblieben, die sie selbst aber nicht "rechts" einordnet, sondern deren Realitätsbezug in den Texten sie als Auswahlgrund angibt: "... da sind halt Sachen drin, wie gerade, ich meine, also die wo halt irgendeinen irgendwie selbst betreffen. Und also, ich finde, das sind gar keine rechten Lieder." (31 ;38-32;4 vgl. auch 32;37- 33;2). 1994 trifft sich I. am Mittwochabend und am Wochenende mit ihren vier Freundinnen und besucht mit ihnen kommerzielle Treffpunkte wie Kneipe und Billard-Cafe. Teils schließen sich ihnen weitere Freunde an. Jeden Montagnachmittag hat sie ca. eine Stunde lang Probe mit ihrer schulischen Musikband (12;36-13;3), zweimal pro Woche arbeitet I. in einem Laden, in dem Gemüse und Obst verkauft wird. Dadurch bessert sie ihr auf. I. genießt die Ungebundenheit und Spontaneität in ihrer Freizeitgestaltung, die sie durch die Trennung von ihrem Freund wiedererlangt hat (43;5-9). Insgesamt ist I. sozial stabil eingebunden und XXVII erlangt langsam einen wachsenden Grad an Selbständigkeit durch das eigene Geldverdienen. Nachbarschaft und Wohnumfeld Obwohl die Vergewaltigung in ihrem direkten Umfeld passiert ist und der Täter kein Unbekannter war, fühlt I. sich in den beiden ersten Erhebungsjahren dennoch dort „eigentlich“ sicher: "weil ich kenn fast jeden" (1992: 26;38 vgl. auch 1993: 10; 16f). Das Umfeld erscheint ihr aufgrund fehlender interessanter Anlaufpunkte aber „ein bißle langweilig“ (1992: 27;3). Bis 1993 hat sie keine weiteren bedrohlichen Situationen in ihrem Umfeld mehr erlebt (15;2). Gegenden, in denen sie mit dem Zusammentreffen des sozialen Umfelds des damaligen Vergewaltigers rechnen muss - das "Jugendhaus" und den "Bahnhof' -, meidet sie. I. überträgt ihr Unsicherheitsgefühl nicht mehr wie im Vorjahr auf die türkische Wohngegend, sondern ordnet es realistisch zu (14;17-20). Das Ausmaß der Gewalterfahrungen im öffentlichen Raum verbindet sie hauptsächlich mit einer spezifischen Erfahrungswelt, die sich durch die Mitgliedschaft in gewaltbereiten Cliquen ergibt. Ihre Wahrnehmung von Gewalt auf den Straßen scheint sich durch ihre Distanz zur politisch rechtsorientierten Clique deutlich vermindert zu haben.: "Aber, also gerade, wenn man draußen ist, also so viel bekommt man da eigentlich gar nicht mehr mit, wenn man sich ganz abseilt."(1993: 14;28-38) 1994 war I. zunächst nach dem Freispruch des Täters verunsichert gewesen hinsichtlich der Sicherheit in ihrem Wohnumfeld. Inzwischen ist sie erleichtert, dass dieser offenbar nicht mehr in dem Ort wohnt. Wie schon im Vorjahr überträgt sie ihr Unsicherheitsgefühl keinesfalls mehr auf die türkische Wohngegend am Ort, sondern ordnet es realistisch zu. Gemeinsam mit ihren älteren Freundinnen ist sie durch deren Verfügung über ein Auto in ihrer Freizeitgestaltung recht mobil. Dadurch sind sie nicht auf örtliche Angebote angewiesen. 3.1.3 Medienrezeption und sonstige Ressourcen politisch relevanter Information 1992 liest I. „manchmal“ die Jugendzeitschriften ‘Bravo’, ‘Girl’ und ‘Wendy’ und sieht “manchmal“ Nachrichtensendungen im Fernsehen (Fb). Mit ihren Eltern redet sie zu dieser Zeit nicht über politische Geschehnisse wie etwa über die Vorfälle in Rostock. Über derartige politische Geschehnisse spricht sie aber mit ihren „Freundinnen“ (9;1-2). Entsprechend bezieht sie ihre politischen Informationen und Vorstellungen wahrscheinlich sehr stark von Seiten der Clique. So würde auch besser erklärlich, dass sie Sozialneid gegenüber Asylbewerbern empfindet, obwohl sie selbst im Gegensatz zu älteren Cliquenmitgliedern noch gar nicht in dem Alter ist, sich mit der Gefahr der Arbeitslosigkeit und der Wohnungsnot auseinanderzusetzen. Ihre 1992 vorgenommene Wortwahl „Scheinasylanten“ und die Kriminalitätsvorwürfe an Ausländer lassen vermuten, dass manche Mediendarstellungen durchaus großen Einfluss auf sie und die Clique haben. Diese Schlagwörter und Diskurse sind teilweise durch die Medien verbreitet bzw. geführt worden. Auch das Motto der ‘Vaterlandsverteidigung’ wurde im Zusammenhang mit gewalttätigen rechtsextremistischen Auseinandersetzungen öffentlich thematisiert. 1993 sieht I. manchmal Horrorfilme, die ihres Erachtens die Gewaltbereitschaft bei Kindern durchaus fördern könnten (33;34-39), ihr selbst aber "eigentlich nichts" ausmachten (34;7). Im Durchschnitt sieht sie etwa 2 Stunden fern pro Tag, am liebsten dabei "schöne" Filme wie Zeichentrickfilme oder Serien. Manchmal konsumiert sie auch Liebes-, Witz- oder Karatefilme (33;11-34,13). Nachrichtensendungen sieht sie so gut wie überhaupt nicht (41; 18-19). Auch Printmedien zieht I. nicht heran, um politische Informationen zu erlangen, sondern um sich mit Themen auseinander zu setzen, die für sie privat interessant erscheinen. So liest sie "manchmal" "Mädchen", "Girl" und "Bravo" (Fb 3). Dennoch kennt I. das `Asylbewerber-Thema` vor allem aus den Mediendarstellungen: XXVIII "Ja, also gerade, wenn mal was im Fernsehen kommt, wenn sie sie in Turnhallen oder so untergebracht haben." (39;l5-18) I. sieht sich hinsichtlich ihres Mißtrauens gegenüber Asylbewerbern in Übereinstimmung mit der Meinung ihrer Eltern. Offenbar kennen jene die Empfindung von Sozialneid (vgl. 40;15-23). Grundsätzlich aber lehnen I.s Eltern andere Menschen nicht nur deshalb ab, weil sie Ausländer sind. Dies entspricht der veränderten politischen Haltung von I. Auch verurteilen die Eltern nach I.s Mutmaßung Gewalt als Mittel zur Durchsetzung eigener Interessen (vgl. 44;25-28). Somit fühlt sich I. möglicherweise durch die politischen Orientierungen der Eltern in ihrer eigenen Fortorientierung von der rechten Szene bestärkt. Inwieweit I. mit ihnen über Politik diskutiert, ist fraglich. 1. nimmt außerdem an, dass sich ihre 1993 weiterbestehenden Vorbehalte gegenüber Asylbewerbern ebenso mit der Mehrheitsmeinung der Deutschen decken wie ihre Haltung zur Gewalt (vgl. 38;26-39; 42;27-29). I. zieht somit Mehrheitsargumente heran, um die Positionen zu bestärken, zu denen sie selbst wohl nicht durch intensive Reflexion auf der Basis von Informationsbeschaffung gekommen ist. Hierbei stützt sie sich vermutlich auf eine öffentliche Meinung, die zum einen erstmalig nach der Gewalttat in Mölln eine Solidarisierung mit den Gewaltopfern auf breiter Basis bewirkte und diese den Medien wirksam in Szene setzte, die zum anderen aber auch im Zuge der Debatte um die Änderung des Asylrechts eben dieses gänzlich oder teilweise infragestellte. Die Schule spielt als Träger politischer Informationsvermittlung lediglich insofern eine Rolle, als der Kontakt zu `ausländischen` Mitschülern überwiegend als unproblematisch erlebt werden kann (36; 13-15). Eine diesbezügliche Bedeutung des Lehrstoffes ist nicht erkennbar. I. liest 1994 inzwischen „manchmal“ die Tageszeitung, zudem „manchmal“ die „Bravo“ und „häufiger“ Werbezeitschriften, was vermutlich mit ihrem ausgeprägteren Konsumverhalten zu erklären ist (FB 6). Ca. zwei Stunden am Tag sieht sie fern. Manchmal sieht sie sich inzwischen Nachrichtensendungen an, selten auch Jugendmagazine. Oft schaut sie phantastische Filme (FB 8). Zwar verfügt I. damit noch nicht über kontinuierliche Bezugsquellen politischer Informationen, zeigt aber doch im Unterschied zum Vorjahr ein größeres Interesse an ihnen. Zur wichtigen Informationsquelle ist offenbar der Schulunterricht geworden. Am Beispiel der geplanten Klassenfahrt nach England konnte sie zum ersten Mal erfahren, dass solche Möglichkeiten „manchen Ausländern“ in ihrer Klasse wegen Visumschwierigkeiten nicht zur Verfügung stehen (22;10). Der Klassenlehrer regte offenbar diesbezüglich eine thematische Auseinandersetzung an (vgl. 22;22-36).Dieser Klassenlehrer thematisierte im Deutschunterricht augenscheinlich auch Fragen der Toleranz gegenüber ‘Ausländern’ (32;38-33;6). Im Fach Geschichte wurde gerade das Thema Nationalsozialismus durchgenommen (20;10). Vermutlich trug dies bei I. zur Entwicklung eines historischen Bewußtseins bei. Fragen hinsichtlich einer historischen Verantwortung der Deutschen wurden besprochen (20;20-40). Innerhalb der Schulklasse gab es diesbezüglich offenbar keine Kontroversen: „Aber bei uns so in der Klasse war eigentlich niemand, wo so auf der rechten Seite war.“ (20;12-13) Außer dem Deutsch- und dem Geschichtslehrer engagieren sich offenbar in der Schule auch andere Lehrer, für gesellschaftliche Mißstände zu sensibilisieren. Sie arbeiten dabei mit Schülern zusammen, die auch selbst entsprechende Themen (z.B. Tierschutz) aufwerfen können (26;28-39). 3.1.4 Erfahrungen mit und Ressourcen von gesellschaftlicher und politischer Teilhabe Institutionelle Formen gesellschaftlicher und politischer Partizipation sind für Iris durchgängig nicht präsent. Innerhalb der Schule versucht sie 1992 durch ihre Widerständigkeit, Teilhabe am Ablauf der Geschehnisse zu gewinnen. Auch die XXIX Demonstrativität, mit der ihre Clique in der Öffentlichkeit ‘Raum’ beansprucht, scheint ein Versuch zu sein, innerhalb der Gesellschaft Teilhabemöglichkeiten zu gewinnen. Beides sind jedoch untaugliche Versuche dahingehend, Vertrauen in Gestaltungsmöglichkeiten von Zukunft zu gewinnen. 1993 ist I. erheblich verunsichert hinsichtlich ihrer biographischen Berufsperspektive. Sie wünscht sich die ,typisch weibliche' Normalbiographie einer ,modernen Frau', die Beruf und Familie miteinander in Einklang bringt, wobei es ihr - entweder aufgrund eigener schmerzlicher Erfahrungen oder im Zuge einer traditionellen Frauensozialisation - wichtig ist, die Familie nicht zurückzustellen: "Also, dass man halt für beides genug Zeit hat irgendwie und also nicht, dass da der Beruf halt die ganze Zeit wegnimmt, dass man keine Zeit mehr für die Familie hat. Gerade, dass beides irgendwie gleich ist, also die Familie zwar noch immer noch im Vordergrund, aber ..." (29;27-31) Schule ist für sie inzwischen zu einem Erfahrungsraum geworden, in dem sie Gestaltungsmöglichkeiten sowohl von Lehr- und Lernformen als auch von kulturellen Ereignissen gewonnen hat. I zeigt jetzt Engagementbereitschaft. Die Gründe liegen in erweiterten Spielräumen, die nach ihrer Einschätzung nun durch Lehrpersonen gegeben werden, damit SchülerInnen einen Erfahrungsbezug vom Unterrichtsstoff zur eigenen Lebenswelt herstellen können, sowie in neuen Selbstentfaltungsmöglichkeiten in einer schulischen Musikgruppe. I. zeigt insgesamt für ihre Perspektiven gesellschaftlicher Teilhabe individualistisch ausgerichtete Konstruktionen. Abstraktere, z.B. politische Formen gesellschaftlicher Teilhabe interessieren sie weiterhin offenbar überhaupt nicht. 1994 ist I. hinsichtlich ihrer biographischen Zukunftsperspektiven unverändert stark verunsichert. Sie befürchtet stark, dass die Verwirklichung ihres Traumberufes „wegen irgendwas nicht klappen könnte“ (42;33-34). In ihrer Perspektive orientiert sie sich nicht mehr wie im Vorjahr so eng an normativen Bildern vom Leben einer ‘modernen Frau’, die Beruf und Familie miteinander verbindet. Offenkundig hat die erlebte Erfahrung, in einer Beziehung eingeengt und auf eine bestimmte weibliche Rolle festgelegt zu werden, dazu beigetragen, jetzt erst einmal Eigenständigkeit und Freiheit als Ziel anzuvisieren. Neben dieser individualistisch ausgerichteten Perspektive gesellschaftlicher Teilhabe hat Politik keinen Bestand. Politisch schätzt I. sich ja „als gar nichts eigentlich“ ein (36;32). Somit ordnet sich I. „eigentlich überhaupt nicht“ (36;40-37;1) einer politischen Richtung zu. Umwelt- und Tierschutz sind für sie Bereiche des privaten Engagements, die „auch gar nichts“ mit Politik zu tun haben (37;19): „Da kann jeder was dafür tun, da kann man kann morgens aufstehen und sagen, ‘Heute mache ich das’. Und dann hat man das selber gemacht, und dann war nichts, hat nichts der Staat dazu gemacht oder so.“ (37;17-23) Politik ist nach diesem Verständnis etwas, was „mehr so von oben“ kommt (1994: 37;3839). 3.2 Kategorien, Kompetenzen und Mechanismen der Erfahrungsstrukturierung 3.2.1 Zentrale Bezugspunkte sozialer Identität Soweit für ihre politischen Orientierungen relevant, bezieht I. 1992 Aspekte ihrer sozialen Identität hauptsächlich aus ihrer Nationalität und ihrer Zugehörigkeit zu einer jugendkulturellen rechtsorientierten Szene; andere Bezugspunkte sind von untergeordneter Relevanz. Das Kriterium ‘Nationalität’ bietet ihr vermutlich ein Gefühl sozialer Zugehörigkeit, von dem sie annimmt, dass es ihr nicht so schnell genommen werden kann. Dabei kann sie sich auf die juristische Legitimität von nationaler Zugehörigkeit als Zu- und Ausgrenzungskriterium in bezug auf Ressourcennutzung und andere Rechte berufen. Innerhalb der Clique findet sie diesbezüglich Bestätigung. XXX Ihr bietet die jugendkulturelle Szene durch deren Propagierung von ‘Kameradschaft’ ein nun noch verstärktes Gefühl von Zugehörigkeit. Angehörige dieser Clique sind auch ihr Freund und ihre beste Freundin. Zu beiden hat sie Vertrauen, bei beiden findet sie die Bereitschaft zum Gespräch und zur gegenseitigen Hilfe. Insbesondere zu ihrer besten Freundin hat sie eine intensive, familienähnliche Beziehung aufgebaut. Dadurch dass diese FreundInnen von ihr ebenfalls in der Clique sind, wird vermutlich ihr Gefühl von Aufgehobensein und Geborgenheit im Cliquenkontext verstärkt. Somit geht ihre Suche nach Zugehörigkeit, die sie im Laufe ihrer Familienbiographie oftmals vermissen musste, einher mit der Übernahme politischer Haltungen, mit denen sie sich aufgrund von Desinteresse an Politik nicht eigenständig auseinander zu setzen vermag. Mit ihrem Verhalten im Kontext von Cliquenaktivitäten lehnt sich I. vermutlich versteckt gegen ein passives, und dies heißt dann auch nicht-aggressives Mädchenbild auf. So steht sie zwar offener personaler Gewaltsamkeit distanziert gegenüber und akzeptiert diese offenbar nicht als ein Mittel zur Stabilisierung von Cliquengemeinschaft und zur Demonstration von Stärke, doch nimmt sie an Einschüchterungsmaßnahmen aktiv teil. Auch trägt sie eine Frisur zur Symbolisierung ihrer Zugehörigkeit zu einer politisch rechten Clique und deren Gewaltbereitschaft. Allerdings versteckt sie die abrasierten Haare durch einen Pferdeschwanz, einem Symbol angepasster Mädchenhaftigkeit. Wahrscheinlich will sie mit diesem Verhalten ihre in herkömmlichen Bahnen weiblicher Sozialisation verlaufende Anpassung im Elternhaus kompensieren. Zu Hause orientiert sie sich an tradierten geschlechtsspezifischen Verhaltensweisen, um Anerkennung und positiv besetzte Aufmerksamkeit zu erreichen; innerhalb der Clique verstößt sie dagegen, um möglicherweise jene Selbstbehauptung und -durchsetzung demonstrieren zu können, die als Anerkennungsnachweis unter (von männlicher Dominanz geprägten) Gruppierungen Jugendlicher gilt. Darüber strebt sie an, ihre psychischen Verletzungen, die von ihrer permanenten Zurücksetzung im Laufe ihrer Familienbiographie herrühren, verarbeiten zu können. Da aber die Jungen in der Clique zahlenmäßig überlegen sind und I. zu den jüngeren Mitgliedern zählt, ist von einer erneuten Anpassung, diesmal an männliche Verhaltenspräferenzen oder -vorgaben auszugehen. I. selbst sieht jedoch die Mädchen innerhalb der Clique als gleichberechtigt an; jede/r hat die Möglichkeit, eigene Unternehmensvorschläge einzubringen (13;4-6), was tatsächlich aber eher unwahrscheinlich ist (vgl. 14;4-7). Ihr Sozialstatus spielt für die Entwicklung ihrer sozialen Identität lediglich insofern eine Rolle, als I. sich diesbezüglich von den ‘Ausländern’ abgrenzt. Diese sind für sie „Hauptschüler“, während sie selbst von der Hauptschule zur Realschule ‘aufgestiegen’ ist und sich insofern als überlegen wahrnehmen kann. Weitere identitätsrelevante Bezugspunkte sind für die Entwicklung ihrer politischen Orientierungen ohne erkennbare Bedeutung. I. zieht 1993 Facetten ihrer sozialen Identität nach wie vor aus ihrer nationalen Zugehörigkeit. Insbesondere gegenüber Asylbewerbern benennt sie Nationalität als Abgrenzungskriterium (vgl. 40; 18-21). Nationale Zugehörigkeit leitet sie vermutlich deshalb auch aus der Existenz deutscher Vorfahren ab. Der lokale Sozialraum spielt hingegen wie schon im Vorjahr für sie keine Rolle. Auch ein zu erreichender Sozialstatus ist als Bereich ihrer sozialen Identität ohne nennenswerte Relevanz. Dies wird insbesondere hinsichtlich ihrer Berufsorientierungen deutlich. So möchte sie zukünftig ihren Traumberuf verwirklichen, d.h. sie nennt hiermit ausprägte sachlich-inhaltliche Arbeitsorientierungen. Was sie in diesem Beruf an Gehalt erlangen würde, interessiert I. offenbar überhaupt nicht. Möglicherweise ist dies ein Element traditionell typisch weiblicher Sozialisation, nach der die Männer das (meiste) Geld nach Hause bringen und die Frauen nicht oder weniger verdienen. Dies würde zumindest übereinstimmen mit der Bedeutung, die das Geschlecht für I.s soziale XXXI Identität hat. I. orientiert sich nicht allein beruflich, sondern generell an gesellschaftlich vorherrschenden Bildern von Weiblichkeit. Im Vorjahr wurde dies schon in ihrem Bemühen um familiäre Integration durch die Erledigung von Haushaltsaufgaben wie Putzen und Aufräumen erkennbar. Inzwischen hat I. ihr Augenmerk stärker auf ihr weibliches Aussehen gerichtet: "Dass man sich wenigstens anständig irgendwie anzieht. Und dass man sich nicht irgendwie verkommen läßt, sondern auch herrichtet irgendwie." (55;31-34) Über dies hinausgehend macht I. sich Gedanken über die ,innere Ausstrahlung' einer Frau, d.h. um Freundlichkeit und Fröhlichkeit des weiblichen Geschlechts: "Ja, irgendwie ein bißchen, irgendwie innerliche Ausstrahlung, irgendwie ein bißchen. Ja, das kommt halt auch auf das Gesicht an, wenn eine die ganze Zeit nur ernst schaut oder so, so irgendwie keine Ausstrahlung, lachen, irgendwie fröhlich sein oder so." (55;37-40-56;2) I. stört sich deshalb auch am Auftreten der Mädchen aus der politisch rechten Szene, die sich an einen dort gelebten Maskulinismus anpassen: "Also, ich kenne viele, also die, wo echt auch denken, dass die S. ein Junge wäre." (55;17l8) Die Entwicklung einer eigenen, an einem gesellschaftlich vorherrschenden Bild von Weiblichkeit orientierten sozialen Identität trägt somit bei I. dazu bei, sich von ihrer politisch rechtsorientierten Clique zu distanzieren. Offenbar zählt diese `Weiblichkeit` mit zu den Bereichen, die sie innerhalb ihrer Clique nicht ausleben konnte. Inzwischen hat I. den `Blick des Mannes`, die kritische Bewertung einer Frau nach ihrem Äußerem, internalisiert (54;3-6/55;9-12)). So beschäftigt sie sich mit ihrer Figur, mit der sie nicht zufrieden ist, obwohl ihre Freundinnen sie augenscheinlich um diese beneiden (54;2226), sie macht zu Hause entsprechende Gymnastik-Übungen, kümmert sich um Kosmetik, Körperpflege und Kleidung (53;36-55;34). Insgesamt zeigt I. eine deutliche Orientierung an normativen Weiblichkeitsvorstellungen, die sich zum einen an Aussehen festmachen, zum anderen an der (neo)klassisch weiblichen Doppelorientierung von Familie und Beruf, bei der Familie vorrangig gewertet wird. Diese Orientierung läßt sie in Distanz treten zur politisch rechten Szene, in der Mädchen diese Orientierungen so nach ihrer Erfahrung nicht ausleben können. Die Zugehörigkeit zu einer spezifischen Jugendkultur spielt für ihre Identitätsentwicklung lediglich in der Abgrenzung von der ehemaligen Szenenmitgliedschaft eine Rolle. Auch noch 1994 bezieht wie in den Vorjahren Facetten ihrer sozialen Identität aus ihrer nationalen Zugehörigkeit. Sie wird jedoch nicht als Kriterium von Ein- und Ausgrenzung bemüht, sondern soll ihre eigene kulturelle Verankerung, die sogar als Verengung gedeutet werden kann, verdeutlichen: „Aber ich finde, jeder Mensch ist irgendwie an sein Land irgendwie mehr gebunden, weil ich weiß auch nicht, das ist wahrscheinlich schon so. So bekommt man das mit, und man kommt dann im dem Land zur Welt und denkt, ‘Ja, das ist halt jetzt mein Land’, man kennt vielleicht auch noch nichts anderes.“ (32;12-17) Die Ersetzung der auf Abstammung bezogenen Definition des Deutschseins durch kulturelle Bezüge erklärt auch ihre im Unterschied zum Vorjahr vertretene Ansicht, ein Mensch müsse keine deutschen Vorfahren haben, um der deutschen Kultur anzugehören (vgl. 32;2934). Inzwischen ist I. auch in kritische Distanz zur eigenen Nation getreten. Sie hält die Deutschen für zu wenig offen gegenüber anderen Kulturen (33;11). Positive Eigenschaften kann sie den Deutschen nicht zuordnen (33;14). Für sie stellt Nationalität nichts dar, auf das ein einzelner Mensch stolz sein könnte. ‘Leistung’ ist demgegenüber etwas, auf das sie selbst stolz sein würde: „Aber jeder ist bestimmt auf ‘was anderes stolz oder so.“ (33;3031). Ganz deutlich gestiegen ist I.s Interesse an anderen Kulturen, die sie einmal kennen lernen möchte. Ihr regionaler und lokaler Sozialraum spielt demgegenüber für sie keine erkennbare und angesichts gewachsener Mobilität ohnehin eher nachlassende identitätsrelevante Rolle. XXXII I. orientiert sich an keiner jugendkulturellen Szene. In ihrem sozialem Umfeld ist inzwischen Techno ‘in’, was sie mit einer allgemeinen Begeisterung für das entsprechende Outfit erklärt (19;23-24). Sie selbst hört „manchmal ... gerne“ die entsprechende Musik, ordnet sich aber nicht dieser Szene zu (19;34-35). Möglicherweise ist dies bei I. ein Hinweis darauf, inzwischen klarer zu wissen, was sie selbst mag und will. I. fühlt sich keiner jugendkulturellen Szene, sondern ihrem sozialen Nahraum aus Freundinnen und Familie zugehörig. Daran wünscht sie auch für die Zukunft keine Veränderung. Wieder einmal wird die stabile Qualität dieser Beziehungen sichtbar: „...dass wir alle so zusammenhalten wie bisher und dass sich da nichts verändert. Und dass wir immer füreinander da sind.“ (42;13-22) Sie geht davon aus, in den vergangenen Jahren an sozialer Eingebundenheit gewonnen zu haben (42;23-26). I.s Geschlechtersozialisation orientiert sich im Unterschied zum Vorjahr nicht mehr so stark an traditionell weiblichen Rollenvorgaben, sondern sucht jetzt das Gefühl der Freiheit. Die Trennung von ihrem Freund hat offensichtlich zu diesem Wunsch beigetragen; die Freundinnen haben sie in ihrer Abkehr von der vormals bestimmenden normativen Orientierung an überkommenen Weiblichkeitsmustern unterstützt. Gleichwohl definiert sie sich unverändert über ihr ‘weibliches’ Aussehen, wenn sie pro Monat etwa 250 DM für Kleidung ausgibt. Inwieweit der Sozialstatus eine Rolle für sie spielt, ist fraglich. Sie befindet sich nach eigenen Angaben seit ein paar Monaten in einem Konsumrausch, möchte diesen aber wieder einschränken. Sie stellt keinerlei Überlegungen hinsichtlich ihres späteren beruflichen Einkommens an. Auch die Schule ist für sie eher ein Ort sozialer Geborgenheit als ein Statuskriterium (43;10-16). Ob der Sozialstatus irgendeine Rolle in ihrer Identitätsentwicklung spielt, ist hieraus nicht zu erkennen. 3.2.2 Individuelle Kompetenzen bzw. Mechanismen zum Aufbau personaler Identität Schon 1992 verfügt I. über ein erhebliches Maß an Empathievermögen und Reflexivität in persönlichen Fragestellungen. So versetzt sie sich nach Auseinandersetzungen mit ihren Eltern durchaus in deren Position, was ihr hilft, sie zu verstehen. Dabei entwickelt sie teils Selbstkritik, was zur Akzeptanz etwaiger Strafmaßnahmen beiträgt. I. hat offenbar durch ihre Verlusterfahrungen innerhalb der Familie bzw. ihre Bearbeitungen gelernt, sich in andere hineinzufühlen, um erneute Negativerfahrungen vermeiden zu können. Dies erklärt auch ihre Übernahme unausgesprochener Erwartungen an ihre Rolle als Mädchen. Reflexiv ist I. jedoch noch (?) nicht im Rahmen politischer Fragestellungen. Hier übernimmt sie augenscheinlich fraglos Positionen älterer Jugendlicher aus ihrer Clique. Auch bemüht sie sich nicht um politische Informationen, anhand derer sie ihre Haltungen gegenüber ‘Ausländern’ hinterfragen könnte. Die Ursachen dafür liegen vielleicht darin, selbst unter einem so großen privaten Druck zu stehen, dass kein Raum bleibt für über das Private hinausgehende Reflexionsebenen und dass die subjektive Notwendigkeit, sich einer Zugehörigkeitsgefühl vermittelnden und Stärke demonstrierenden Clique anzuschließen, deren politischen Gehalte in den Hintergrund treten lassen. So vermischen sich ihre Unterscheidungen zwischen Arbeitsmigranten und Asylbewerbern, ohne dass ihr dies bewußt wäre. Damit übernimmt sie auch die fehlende Toleranz der Cliquenmitglieder gegenüber ‘Ausländern’. Sie stimmt zu, wenn türkische MitbürgerInnen den „Raum“ der Clique, den öffentlichen Spielplatz, mehr oder (doch vielmehr) weniger „freiwillig“ verlassen, sie fordert die Ausweisung aller Asylbewerber und die Aufhebung des Asylrechts. Diese Intoleranz bzw. Restriktivität wird untermauert durch ihre gegenwartsund zukunftsbezogene Verunsicherung. Offenbar werden im Verbund ihrer Cliquenmitgliedschaft Asylbewerber und - abgeschwächt - auch andere Ausländer dafür verantwortlich gemacht, dass sie selbst infolge wahrgenommener Auflösungsprozesse normativer und sozialer Bindungen an Orientierungssicherheit verloren hat. XXXIII Zur Zeit (1992) sieht I. vermutlich wenig Anhaltspunkte für eine positive Selbstwertkonstruktion. Leistungserfolge innerhalb der Schule können ihr Selbstwertgefühl nicht stärken, weil sie aufgrund von Schulproblemen ausbleiben. Auch muss sie eine Vergewaltigung verkraften. Eine solche traumatische Erfahrung untergräbt das eigene Selbstwertgefühl, auch wenn I. bei ihren Freunden und den Eltern Hilfe findet. Vermutlich ist ihr Selbstwertgefühl auch nicht von der Erfahrung unbeeinflusst geblieben, in der Familie immer wieder in den Hintergrund gedrängt worden zu sein. So stellt es schon einen Stabilisierungsversuch des eigenen Selbstwertgefühls dar, wenn sie sich und ihre Clique als ‘Vaterlandsverteidiger’ definiert (20;5-6). Inwieweit I. zur konstruktiven Konfliktbewältigung momentan in der Lage ist, ist ungewiß. Innerhalb der eigenen Familie reagierte sie bis vor kurzem oftmals mit augenscheinlich destruktivem Verhalten. Allerdings scheint hier ein Problembewältigungsprozess in Gang gesetzt worden zu sein. Immerhin findet I. Gesprächsbereitschaft in ihrem sozialen Umfeld. Ihr Empathievermögen ist ihre Stärke in Freundschaftsbeziehungen. So hat sie stabile Freundschaften und damit jederzeit Gesprächspartner, um Schwierigkeiten konstruktiver zu bewältigen. Wie schon 1992 so verfügt I. auch 1993 über ein erhebliches Maß an Reflexivität und Empathievermögen. Dies wird deutlich, wenn sie Erklärungen dafür sucht, warum z.B. Menschen gewalttätig werden. Ihre eigenen Lebenserfahrungen bezieht sie in diese Überlegungen mit ein. Seit ihrem Ausstieg aus ihrer Clique gibt sich I. auch toleranter gegenüber `Ausländern`. Da sie es aber vermeidet, über ihre `Vergangenheit` nachzudenken, werden inzwischen tolerante Positionen noch begleitet und quasi unterspült von emotional begründeten Abwertungen von Asylbewerbern. Ihr momentan geäußertes Lebensmotto "lmmer locker und gelassen sein" (Fb) und ihr Unwille, sich mit politischen Fragen auseinander zu setzen, führen offensichtlich zu dieser Parallelität unterschiedlicher politischer Haltungen. Die grundsätzliche Toleranz gegenüber `Ausländern` ist hinsichtlich der Asylbewerber nicht erkennbar. 1. zeigt sich in ihrer eigenen Identitätsentwicklung, in der das Kriterium `Geschlecht` eine herausragende Bedeutung hat, auch wenig tolerant gegenüber anderen Mädchen, die nicht ihren Vorstellungen von `Weiblichkeit` entsprechen wollen. Diese fehlende Toleranz gegenüber weiblichen Verhaltensweisen, die nicht der Norm entsprechen, untermauern ihre Distanz zur politisch rechten Szene. D.h. die von ihr hier vorgenommene distanzierte Haltung zur politisch rechten Szene basiert nicht auf einer inhaltlichen Auseinandersetzung - vielmehr geschieht ein Wechsel quasi auf der Oberfläche. Die normative Orientierung am vorherrschenden Weiblichkeitsklischee führt nicht zu begründeten Gleichheitsvorstellungen, sondern zu einer im Grunde genommen genauso unreflektierten Intoleranz gegenüber Menschen, die nicht ihren Normvorstellungen entsprechen. Mit einem neuen Freund etwa aus der rechten Szene könnte I. aus dieser Oberflächlichkeit heraus erneut Ungleichheitspositionen gegenüber Fremden entwickeln. I. zeigt in ihren sozialen Beziehungen Konfliktfähigkeit. Die Familienkrise konnte weitergehend bewältigt werden und auch mit ihrem Freund klärte sie die Basis ihrer Beziehung. Es ist davon auszugehen, dass sowohl I.s verbesserte Eingebundenheit in ihre Familie als auch ihre veränderte, aber dennoch stabile Eingebundenheit in qualitative Freundschaften zu dieser Konfliktfähigkeit beitragen. In ihren sozialen Beziehungen findet sie Gesprächsbereitschaft ebenso vor wie die Bereitschaft, bei jeweils anfallenden Schwierigkeiten zu helfen. I. ist zudem im Verlaufe des letzten Jahres zu einer deutlich positiveren Selbstwertkonstruktion gelangt. Ausschlaggebend für diese Entwicklung war der als besonders positiv erlebte Familienurlaub. Sie hat an Vertrauen zu den ihr nahestehenden Menschen gewonnen und fühlt sich diesbezüglich offenbar sicherer. Zudem erlebt sie Erfolge in der Schule durch gute Noten, durch die Leitung von Unterrichtsstunden und durch ihre Mitwirkung in einem neugegründeten Chor. XXXIV 1994 ist I. nach eigener Einschätzung in den letzten Jahren erheblich ‘erwachsener’ geworden. Sie sieht sich selbst als weitgehend selbständig an: „Ja, ich habe halt irgendwie echt in den drei Jahren so viel dazugelernt. Und jetzt irgendwie, jetzt habe ich endlich geschafft, jetzt stehe ich endlich auf, so gut wie möglich, auf eigenen Füßen, kann machen, was ich will. Und ich habe echt aus den drei Jahren gelernt. Ich glaube, so viel werde ich in meinem ganzen Leben nicht mehr dazulernen, wie in den Jahren.“ (41;20-26) Dieses Gefühl des Erwachsen-Werdens ist wesentlicher Teil der eigenen Selbstwertkonstruktion. Sie begründet es damit, sich ihrer selbst sicherer geworden zu sein (vgl. 1994: 41;29-35). Zu der gewonnenen Selbständigkeit gehört auch, selbst Geld zu verdienen, mit dem sie machen kann, was sie will (41;37-39). In privater Hinsicht zeigt I. ein deutliches Maß an Konfliktfähigkeit. Schwierigkeiten werden jeweils mit sozialen Bezugspersonen besprochen. Zum Teil braucht sie deren Hilfe, um eigene Bedürfnisse in Beziehungen klarer zu nennen. Sie setzt sich selbst für eine Beseitigung ihrer Schwierigkeiten ein. Während des Interviews wirkte I. selbstsicherer als im vergangenen Jahr (Memo). Im Unterschied zum Vorjahr zeigt sie nicht mehr nur Reflexivität und Empathievermögen in sozialer Hinsicht, sondern inzwischen auch im Umgang mit politischen Fragen. Bei diesen bemüht sie sich, eigene Positionen klar zu begründen, indem sie sich u.a. in andere Menschen hineinversetzt. I. zeigt ebenso Reflexivität und Empathievermögen im Umgang mit Menschen. Sie versucht, andere zu verstehen. So hat I. insgesamt Gleichwertigkeitsorientierungen entwickelt, die sie auch in politischer Hinsicht zur Toleranz gegenüber Menschen aller Nationalitäten bewegen. Demgegenüber nennt sie erstmals als deutsches Nationalcharakteristikum, gegenüber anderen leicht Vorurteile zu haben, wovon sie sich selber distanziert. Keine Toleranz bringt sie jedoch gegenüber denjenigen auf, von denen sie vermutet, entweder den deutschen Staat ausnutzen zu wollen oder Gewalt zur Durchsetzung eigener Interessen anzuwenden. 4. Zusammenfassung Iris erscheint über den Untersuchungszeitraum hinweg als ein Mädchen, das nach anfänglicher Zugehörigkeit zu einer politisch rechtsorientierten und gleichzeitig bedrohlich auftretenden Clique, die sich jugendkulturell im Umfeld der Skin-Szene verortet sieht, seit der ersten Wiederholungsbefragung zunehmend Gleichbehandlungsorientierungen im Hinblick auf das Zusammenleben zwischen Menschen deutscher und nichtdeutscher Herkunft entwickelt und Gewaltausübung generell und zur Durchsetzung politischer Interessen im besonderen verurteilt. Im einzelnen zeigt sich 1992, dass I. in sozialer Hinsicht über ein erhebliches Maß an Reflexivitäts- und Empathievermögen verfügt. In politischer Hinsicht kommen diese Ressourcen der Erfahrungsstrukturierung zunächst nicht zum Tragen, da I. vermutlich auf der Suche nach Unterstützungssicherheit, die sie in der Familie als nicht gewährt wahrnimmt, und nach Möglichkeiten des Selbstbeweises, die ihr im zentralen Leistungsbereich der Schule verwehrt bleiben, Zugang zu einer relativ neu gegründeten, politisch rechtsorientierten und gewaltförmig auftretenden Clique gefunden hat. Die Clique bietet ihr das Gefühl nationalitätsbezogener, nicht wegnehmbarer Zugehörigkeit. Zudem bewegen sich ihre engsten Freundinnen ebenfalls in dieser Clique, wodurch ihr der Eindruck von Unterstützungssicherheit gegeben erscheint. Durch diese Zugehörigkeit und möglicherweise unter Bezug auf den Erwachsenen-Diskurs übernimmt I. in diesem Zeitraum Sozialneidempfindungen und Kriminalitäts-Vorwürfe gegenüber Asylbewerbern, die sie emotional überdramatisierend für ihre gegenwarts- und zukunftsbezogene Orientierungsunsicherheit verantwortlich macht. Sie geht soweit, die Ausweisung der Asylbewerber aus der BRD zu fordern. Z.T. erstrecken sich ihre Distanzierungen und Vorbehalte gegenüber den `Fremden` auch auf grundsätzlich von ihr XXXV akzeptierte Arbeitsmigranten bzw. inländische Jugendliche mit fremdem Pass. Zudem projiziert sie die Angst vor sexuellen Gewalttätern einseitig auf Ausländer, vermutlich um sich weiterhin unter Deutschen und in ihrem Wohnumfeld sicher fühlen zu können. Ihre Gewaltakzeptanz reicht in dieser Zeit bis hin zur Beteiligung an Bedrohungshandeln und Einschüchterungsversuchen gegenüber ausländischen Mitbürgern. Auf die Cliquenzugehörigkeit kann I. schon 1993 verzichten, da ihre Familie ihr mehr und mehr das Gefühl von Geborgenheit vermittelt. Die Ursachen hierfür liegen in einer gelungenen Klärung schwieriger Familienkonstellationen, durch die I. sich zurückgesetzt gefühlt hatte, in der tatkräftigen Unterstützung bei der Bewältigung einer Vergewaltigungserfahrung und einer positiven Intensivierung der Beziehungen zu weiteren Verwandten. Neben ihrer Familie vermitteln ihr zusätzlich neue engste Freundinnen das Gefühl von Unterstützungssicherheit. Diese Unterstützungssicherheit läßt eine normative Orientierung an nationaler Zugehörigkeit überflüssig erscheinen. Dadurch entstehen offenbar Gedankenfreiräume für weitergehende, auch politische Belange erfassende Reflexivität. So zeigt I. sich im Kontext schulischer Sozialisation (1994) z.B. dazu in der Lage, historisches Bewußtsein zu entwickeln, das ihr hilft, gegenwartspolitische Fragen vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen zu bearbeiten bzw. zu beantworten. Wichtig für I.`s politische Sozialisation und für ihre Abwendung von Gewalt scheint auch ihre Suche nach Selbstbestätigung und eigenen Freiräumen zu sein. 1992 findet sie diese vor allem in der politisch rechtsorientierten Clique, während diesbezüglich ihr Selbstwertgefühl durch die schwierige Familienkonstellation, durch die Vergewaltigungserfahrung und durch die schulischen Leistungsprobleme untergraben wird. Im Rahmen ihrer Clique findet sie Möglichkeiten vordergründiger Selbstwertkonstruktionen durch nationale Überhöhungen und durch Selbstdemonstrationen der `Stärke` gegenüber ausländischen MitbürgerInnen (Beschimpfungen, Einschüchterungsversuche). Auch diese Konstruktionen werden überflüssig, sobald sie im Zuge des Ausbaus ihrer Reflexionsfähigkeit die Wiederholung der achten Klasse (1993) als eine Chance begreifen lernt und somit nunmehr Stolz auf ihre Leistungserfolge in der Schule entwickelt und Engagementbereitschaft zeigt. Diese Bereitschaft kann sie in die Übernahme von Unterrichtssequenzen 1993 ebenso einbringen wie in einen neuen schulischen Chor, in dem sie schnell eine exponierte Position als Leistungsträgerin einnimmt. Öffentliche Auftritte (1993-94) tragen zur Selbstbestätigung bei. Freiräume und Selbstbestätigungsmöglichkeiten außerhalb der Clique bringen I. 1993 in Widerspruch zum Konformitätsdruck innerhalb der Clique. Im Kontext steigender Unterstützungssicherheit führt dies dazu, dass I. sich 1993 von ihrer Clique abrupt löst und jetzt Scham hinsichtlich ihrer ehemaligen Mitgliedschaft empfindet. Zunächst will sie sich trotz Reflexionsfähigkeit in sozialen Beziehungen mit den Ursachen dieser politischen Mitgliedschaft nicht auseinandersetzen. Steigendes Selbstwertgefühl und zunehmende Selbstsicherheit ermöglichen ihr allerdings zunehmend kritische Distanz zu sich und Toleranz gegenüber anderen, die neben dem von ihr entwickelten historischen Bewußtsein zu einem Bestandteil politischer Reflexivität wird. Halten sich 1993 noch alte Sozialneidgefühle gegenüber Asylbewerbern und neu erworbene Gleichbehandlungsoptionen die Waage, so überwiegen 1994 die Gleichbehandlungsorientierungen. Zudem entwickelt sich im Zuge der Entfaltung ihrer politischen Reflexivität eine durchaus kritische Haltung gegenüber Trägern institutioneller Gewalt wie der deutschen Polizei. Auch ihre Empathiefähigkeit zeigt zunehmend Spuren in politischen Fragestellungen. So versetzt sie sich ausgelöst durch eigene Ausreisevorstellungen öfters in die Situation Fremder in der Bundesrepublik. Zwar ist das Empfinden von Sozialneid noch vorhanden, wobei sie dahingehend möglicherweise durch den Erwachsenen-Diskurs zu diesem Thema beeinflusst wird. XXXVI Unverändert ist sie auch hinsichtlich der Verwirklichung ihrer eigenen beruflichen Träume verunsichert. Und noch immer plädiert I. für die Ausweisung derjenigen Flüchtlinge, die wie sie unterstellt - die BRD nur `ausnutzen` wollten. Doch ihre Mechanismen der Erfahrungsstrukturierung - Reflexivität, Empathie, Toleranz und Selbstwertgefühl - sind inzwischen in politischer Hinsicht von einer derartigen Stabilität, dass die Befürwortung gewalthaltiger und politisch rechter Orientierungen im Jugendalter von ihr sowohl unter Bezugnahme auf Bekannte als auch auf den eigenen Fall nicht (mehr) ideologisch rechtfertigt, sondern als Suche nach Sicherheit und Zugehörigkeit, als Mitläufertum und als Orientierung an männlichen Normenvorgaben und Inszenierungen im Rahmen entsprechend ausgerichteten Cliquengebarens interpretiert wird. Jennifer 1992 - 1994 " ... Ausländerhaß, über solche Sachen reden wir zu Hause nicht, weil ich schaue mir das auch gar nicht an, weil mir das auch sehr weh tut, selbst auch." (1992: 11;34 ff) "Da (in Solingen; d.V.) sind eine türkische Frau und ihre Kinder gestorben, verbrannt. Das fand ich eine Schweinerei. Also man kann es auch übertreiben mit der Ausländerfeindlichkeit. Also das war total Mist, was die da gemacht haben." (1993: 46;29 ff) "Also schlechte Erfahrungen mit deutschen Jugendlichen hatte ich noch keine, also wenn ich halt gemerkt habe, die sind, die fangen jetzt auch schon an, so ‘Ausländer wäh’ und so, dann habe ich mich ganz einfach von denen abgewandt ...". (1994: 45;5 ff) 1. Objektive Daten zum Lebenskontext im Überblick Jennifer, 1978 geboren, evangelisch, ist amerikanischer Nationalität und hat eine dunkle Hautfarbe. Sie bewohnt seit vier Jahren mit ihrer (weißen) deutschen Mutter und ihrem ebenfalls farbigen zwei Jahre älteren Bruder im Stadtzentrum einer mittelgroßen Stadt (ca. 100.000 Einwohner) eine 3 - Zimmer - Sozialwohnung in einem Wohnblock, in der sie sich mit ihrem Bruder ein Zimmer teilen muss. Davor lebte die Familie im Ausland. Ihr amerikanischer Vater lebt von der Familie getrennt. Die Mutter hat seit ca. zehn Jahren einen amerikanischen Soldaten zum Freund, der sich teilweise in Amerika und teilweise in Deutschland aufhält. Wenn er in Deutschland ist, lebt er während der Woche in einer Kaserne in einer benachbarten Stadt, am Wochenende wohnt er mit in der Wohnung der Familie. Jennifers Mutter hat einen Hauptschulabschluss und arbeitet als Putzfrau. Die Familie ist durchschnittlich materiell ausgestattet; Jennifer stehen zunächst 10 DM im Monat in Form von gelegentlichen Geldgeschenken zur Verfügung. Sie verdient sich als Babysitterin durchgängig etwas Geld hinzu. In den Folgejahren steht ihr ein regelmäßiges Taschengeld zur Verfügung, über dessen Höhe sie keine Angaben macht. 1992 besucht Jennifer eine Hauptschule. Zum Schuljahr 1993/94 wechselt sie auf eine Berufsfachschule, wo sie den Hauptschulabschluss absolviert. Danach besucht sie eine Haus- und Landwirtschaftsschule. 2. Politische Orientierung 2.1 Allgemeine Orientierung Jennifer zeigt durchgängig wenig Interesse an politischen Themen. Entsprechend dieser Tatsache und einem anscheinend vorhandenen Mißtrauen gegenüber Politikern würde sie 1994 auch nicht wählen gehen, wenn sie dürfte: XXXVII "Nein. (...) Erstens, weil ich mich da in Politik und so gar nicht auskenne (LACHEN), und zweitens, ich weiß nicht, die Leute, also die Politiker, die sagen ‘so und so’, dann ist es ja doch nicht so, also ich enthalte mich da lieber." (1994: 41;27 ff) Während des gesamten Erhebungszeitraums fühlt sie sich der Gruppe der ‘Raper’ zugehörig; "Gegner" stellen für sie durchgängig ‘Skinheads’, ‘Hooligans’ (1992 und 1994), national eingestellte Gruppen (1992), rechte Jugendliche (1993 und 1994) und ‘Grufties’ (1994) dar (vgl. Fb. 1992 - 1994). 2.2 Ungleichheitsvorstellungen/ Gleichheitsvorstellungen im Kontext von Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus Jennifer zeichnet sich während des gesamten Erhebungszeitraums durch das Vorhandensein von Gleichheitsvorstellungen in bezug auf Ausländer und Asylbewerber aus. 1992 äußert sie konkret weder Gleichheits- noch Ungleichheitsvorstellungen, jedoch klingt an einigen Stellen an, dass sie selber als (durch ihre Hautfarbe erkennbare) Ausländerin unter Vorurteilen von seiten der weißen Bevölkerung zu leiden hat (vgl. auch Kap. 2.3 und 1994: 44;27 ff): "Also ein Deutscher (ist) dabei (in der Clique, d.V.), der sagt schon mal ‘Scheiß-Ausländer’" (1992: 26;9 f) und "Also ich bin wirklich stolz auf meine Hautfarbe, und meine Freundinnen haben mich noch nie beleidigt wegen meiner Hautfarbe oder so, (...) die schämen sich auch nicht, irgendwo mit mir hinzugehen" (ebd. 12;37 ff). 1993 verurteilt sie implizit vor dem Hintergrund ihrer Befürwortung des Gleichheitspostulats (I: "Was würdest du zu dem Satz sagen ‘Alle Menschen sind gleich’?" J: "Das stimmt total"; 1993: 42;7 ff) die Ungleichbehandlung von Ausländern gegenüber Einheimischen in Deutschland anhand eines selbst erlebten Beispiels: "Beim Einkaufen, also mir selber ist das noch nicht passiert, aber ich habe schon so viel gesehen (...), z.B. jetzt eine Deutsche, oder sie sah zumindest wie deutsch aus und stand da vor der Kasse und hat bezahlt und hat noch irgendwas gefragt, ganz höflich war dann (die) Kassiererin und so, und dann kam eine türkische Frau, und die hat dann auch noch was gefragt, und die haben sie dann gleich angeschrien, und ‘können Sie nicht selber schauen gehen’, und das merkt man dann schon ..." (ebd. 42;18 ff). Jennifer empfindet Ausländer nicht als Konkurrenten der Deutschen im Kampf um wirtschaftliche Ressourcen. So antwortet sie nach ihrer Meinung zu der Parole "Ausländer nehmen hier die Wohnungen und die Arbeitsplätze weg" befragt: "Den finde ich idiotisch, den Satz" (ebd. 43;32 ff). Sie befürwortet, dass materiell schlecht gestellten Ausländern staatliche Unterstützung gewährt wird, wobei hier allerdings im Sinne der ‘Fairneß’ leichte Vorbehalte in bezug auf (Asyl-?)Betrug anklingen: "Die meisten Ausländer, die herkommen, haben nichts und so, dann finde ich das o.k., wenn die dann auch irgendwie sozial unterstützt werden (...). Es ist natürlich auch unfair, (...) wenn jetzt eine Familie herkommt, und die hat schon hier voll die Kohle und so und verlangt also aber immer noch Sozialhilfe ..." (ebd. 43;37 ff) Angst vor Überfremdung Deutschlands zeigt Jennifer nicht (vgl. ebd. 44;14 ff), im Gegenteil: Der unter Menschen verschiedener Nationalitäten und unterschiedlicher kulturell bedingter Mentalitäten mögliche Kulturaustausch wird von ihr als positiv empfunden: "Das (unterschiedliche Kulturen, d.V.) finde ich gut. Man lernt halt immer andere Religionen kennen, und man lernt ihre Gebräuche und alles (...). Ich finde es voll interessant eigentlich" (ebd. 44;10 ff). Grundsätzlich befürwortet sie, dass Ausländer die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten, wenn es für sie wichtig ist: "Wenn sie z.B. für irgendeinen Beruf deutsch sein müssen" (ebd. 43;18 f). Des weiteren hält sie das Wahlrecht für Ausländer im Hinblick auf deren Wohlbefinden in Deutschland für richtig: "Das würde schon eine ganze Menge ändern. Die würden sich auch viel wohler fühlen dann" (ebd. 45;5 ff; vgl. 1994: 41;36 ff). Sie billigt XXXVIII das Asylrecht - "Das ist doch o.k. Die Leute brauchen ja auch nur Schutz" (ebd. 45;32 f) und gibt sogar wirtschaftliche Motive als akzeptable Gründe für eine Asylgewährung an: "Wenn (sie) sich in ihrer eigenen Heimat nichts aufbauen können, oder wenn sie einfach nicht mehr dort wohnen (wollen), wenn sie sich nicht mehr dort wohl fühlen, oder in Not sind sie alle" (ebd. 45;36 ff). !994 betont Jennifer nach wie vor die Wichtigkeit der Gleichbehandlung aller Menschen unabhängig von ihrer Nationalität für das Zusammenleben: "Dass alle gleich behandelt werden, also wenn wir jetzt, unsere Clique zusammen sind, und da ist ein Deutscher dabei, dann ist das einfach ganz normal, der gleiche Kumpel wie jetzt der andere, also da werden keine Unterschiede gemacht" (1994: 34;35 ff) Obwohl Jennifer sich nach eigenen Angaben mit Deutschen gleichberechtigt fühlt (vgl. ebd. 33;24 ff), könnte die Wichtigkeit, die sie der Gleichstellung von Ausländern mit Deutschen beimißt, doch darauf hindeuten, dass sie sich selber als zumindest potentielles Opfer von Ausgrenzungsmechanismen oder rassistisch bedingten Vorurteilen fühlt. Auf die Problematik der Ausländerkriminalität angesprochen, wird deutlich, dass sie keine Kriminalitätszuweisungen in Richtung Ausländer vornimmt und dass sie ihnen auch kein erhöhtes Aggressionspotential unterstellt: "Es heißt immer bloß, ausländische (UNVERSTÄNDLICH), und so ist es ja gar nicht. Also die, (...) ich weiß nicht, die Deutschen, also die schlagen sich doch genauso mit Ausländern oder gegeneinander, also jeder schlägt jeden, aber das stimmt irgendwie gar nicht (dass das immer auf eine Gruppe bezogen werden kann, d.V.)" (ebd. 42;38 ff) Erstmals erwähnt sie explizit, dass es in ihrem (ehemaligen) Bekanntenkreis einen rechtsorientierten Jugendlichen gibt, von dem sie und ihr Bruder sich aufgrund seiner politischen Ansichten distanziert haben: "Der (ein Freund des Bruders, d.V.) hat, da hat das gerade so angefangen, (...) also mit Nazis und Skins und so, und der hat dann natürlich auch angefangen, und seitdem ist also der Kontakt abgebrochen" (ebd. 36;27 ff) Auch Jugendliche, die sich früher im örtlichen Jugendhaus aufgehalten haben und seit einiger Zeit rechtsorientiert sind, meidet Jennifer - vermutlich auch aus Angst - ebenfalls: "Ich sehe die ganz selten, und wenn ich sie sehe, dann geradeaus schauen und weiterlaufen, gar nicht hinschauen und ‘hallo’ sagen" (ebd. 37;3 ff) Über eine Tante, die aufgrund einer mit ihrer Schwangerschaft einhergehenden Wohnungsnot für eine gewisse Zeit in einem Asylbewerberheim gewohnt hat, lernte sie persönlich Asylbewerber kennen. Dies scheint ihre ohnehin vorhandenen Gleichheitsvorstellungen gegenüber dieser Gruppierung (s.o.) untermauert zu haben: "Die sind genau wie alle anderen" (ebd. 47;31) und "Die Leute waren alle ganz nett" (ebd. 48;21 f). Zudem kommt sie im Hinblick auf den Selbstmord eines Asylbewerbers aus Angst vor Ausweisung zu dem Schluss, dass die bestehenden Regelungen zur Abschiebepraxis zu "hart" sind (vgl. ebd. 48;23 ff). 2.3 Gewaltakzeptanz Jennifer zeigt durchgängig weder auf politischer noch auf personaler privater Ebene Gewaltakzeptanz, es sei denn, eigene verbale oder - selten - körperliche (Gegen)Gewalt dient in Notsituationen als Schutz vor sexuellen oder rassistischen Übergriffen auf sich oder Bekannte. Obwohl sie sich durchgängig zu wehren scheint, wenn sie aufgrund ihrer Hautfarbe angegriffen wird - "wenn dann wirklich jemand kommt, wie ich gerade gesagt habe (‘Nigger’ sagen, d.V.), dann werde ich schon sauer, das kann schon sein, dass ich dann schreie oder mit dem richtig Streit beginne" (1992: 13; 29 ff) -, zeigt sie doch meistens Vermeidungs- oder Fluchtverhalten, wenn sie sich bedroht fühlt und Angst hat: "Als ich auf einem Fest war (...), dort bin ich mit meiner Freundin nach Hause gelaufen (...), da waren solch ein paar Jungen, so völlige Spinner, die waren total betrunken, und die XXXIX haben dann gemeint, sie sind jetzt cool und müssen jetzt rufen ‘Ausländer raus’. (...) Also ich habe dann Angst bekommen, weil die betrunken waren und es ja so viele waren (...), also ich kann es ja nicht verstecken, dass ich Ausländerin bin, auch wegen meiner Hautfarbe, und dann wußte ich nicht, was ich tun sollte, und dann habe ich mich an meine Freundin geklammert und gesagt, ‘komm, wir gehen schneller’, und ich habe dann nach hinten geschaut, und dann ist einer von denen losgerannt, und ich habe wirklich gedacht, der rennt jetzt auf mich los, und dann ist der aber Gott sei Dank ausgerutscht ..." (1992: 12;6 ff) In Jennifers Clique (vgl. Abschnitt ‘Freundeskreis’) kommt es unter den Jungen zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Jennifer nimmt jedoch nicht daran teil und distanziert sich implizit davon, indem sie das Gewaltpotential vornehmlich den Jungen zuschreibt: "Das sind dann meistens die Jungen, die sich streiten (...). Es gibt auch manchmal Schlägereien und so, wenn sie so richtig sauer aufeinander sind, aber da bin ich dann meistens nie dabei, das höre ich dann erst hinterher" (ebd. 24;29 ff) Auch in der Schule wird sie Zeugin von gewalttätigen Auseinandersetzungen, wobei es sich in diesem Umfeld anscheinend noch um ritualisierte Gewaltformen mit aus ‘Fairneßgründen’ einhergehendem Verzicht auf Waffen handelt: "Also wenn es da Schlägereien gibt, dann nur mit Händen und Füßen, aber mit Waffen nicht (...). Also die wollen das auch selber nicht, weil das ist zu gefährlich und so, entweder mit deinen Händen oder sonst gar nicht, dann läßt du es bleiben, also die passen dann auf." (ebd. 31;13 ff) Aufgrund ihrer niedrigen Gewaltakzeptanz und eines anscheinend ausgeprägten Gerechtigkeitsgefühls verurteilt sie insbesondere die Mißhandlungen, die einem Jungen in ihrer Klasse widerfahren: "Also in meiner Klasse fühle ich mich überhaupt nicht wohl, weil da ist keine Klassengemeinschaft da, da wird immer nur gepetzt und geschlagen und oh Gott, da ist ein Junge, den begrüßen sie mit Fußtritten und Backpfeifen und Haareziehen, das ist die Begrüßung für ihn, weil er sich alles gefallen läßt, weil er sich selbst nicht wehrt, und das finde ich total ungerecht, weil der hat echt blaue Flecken im Gesicht und überall, und die Lehrerinnen, die interessiert das gar nicht." (ebd. 29;4 ff) Jennifer zeigt Mitgefühl und Zivilcourage, indem sie versucht, ihrem Mitschüler zu helfen: "Das tut mir weh, wenn ich das sehe, ich schreie dann die Leute immer an, ich habe keine Angst vor denen, weil ich weiß, sie sind ein bißchen dumm im Hirn. (...) Ich wehre mich dann dagegen und sage, ‘laßt doch den mal in Ruhe’ (...), ich habe es auch schon einer Lehrerin gesagt, ‘schauen sie mal, die schlagen den richtig und so" (ebd. 30;3 ff) Ebenso versuchte sie bei einer anderen Gelegenheit, ihre angetrunkene Freundin vor sexueller Ausnutzung durch einen Jungen zu schützen, wobei sie auch vor dem Einsatz körperlicher Gewalt nicht zurückschreckte: "An dem Tag habe ich mich auch mit dem Jungen dann gestritten, also wir sind auch gewalttätig geworden (...), wir haben uns dann geschlagen, also ich wollte das einfach nicht, dass er das ausnutzt oder so, und ich habe die zwei dann erwischt, und ich habe gewußt, sie ist betrunken, und er, er wußte noch, was er tat, und dann bin ich eben stinksauer geworden" (ebd. 22;25 ff) Wahrscheinlich aufgrund empfundener Bedrohtheitsgefühle im Hinblick auf ausländerfeindliche Übergriffe gegen ihre Person im besonderen und des alltäglichen Erlebens von Gewaltsituationen im allgemeinen wünscht Jennifer sich in Deutschland eine "straffere" Gangart (vgl. Fb. 1992). Dies impliziert möglicherweise, dass sie staatsautoritäre Gewalt propagiert und billigt, wenn sie zur Vermeidung von Verbrechen dient. Auch 1993 wird sie Zeugin von Gewalt im Freundeskreis, wobei sich die Gewaltqualität im Vergleich zum Vorjahr gesteigert zu haben scheint. Infolgedessen distanziert Jennifer sich nunmehr noch entschiedener von diesem Verhalten: XL "Freunde hier so, wegen jedem bißchen gibt es gleich Schlägereien und so. (...) Ich habe schon viel Unfaires gesehen, das sie zu zehnt auf einen losgegangen sind (...), das ist schon unfair und so. Ich meine, ich finde es halt doof" (1993: 9;4 ff) Obwohl sie den nunmehr wohl üblichen Gebrauch von Waffen für gefährlich hält, versucht sie doch, Freunden, die in Bedrängnis geraten, zu helfen: "Mit dem Messer und Gaspistolen und alles mögliche, und das ist mir dann zu gefährlich. Ich meine, also wenn es so unter Freunden ist, dann gehe ich dann schon dazwischen, aber wenn (...) es dann so Fremde sind, dann nicht" (ebd. 9;39 ff). Dennoch hält sie nicht viel von einem Polizeieinsatz in solchen Situationen, weil sie ihre Freunde grundsätzlich mag und versucht, sich in ihre Situation zu versetzen. Zudem bedenkt sie mögliche negative Sanktionen von seiten der Eltern: "Nein, eigentlich nicht so (Polizeieinsatz; d.V.). (...) Weil halt alle, die Väter und so, die sind so streng, und die sind, wenn man so mit denen zusammen ist, sind die einfach voll lieb, da, wenn sie dann anfangen zu schlagen und so, da kennt man sie fast gar nicht mehr. (...) Ich meine, ich würde wegen sowas die Polizei nicht rufen. Irgendwann einmal bekommen sie auch eine drauf, und dann werden sie das auch sehen" (ebd. 11;11 ff) Hier scheint auch noch die Auffassung mitzuschwingen, dass sich Gewalt über Gegengewalt als erfahrene Strafe selbst reguliert. Sie selbst lehnt es für sich eindeutig ab, Waffen zu benutzen: "Ich habe schon alle möglichen Angebote von Freunden bekommen, ‘hier, ich gebe dir da so einen Schlagring oder so Ätzgas’ oder so, aber ich könnte mit sowas nicht rumlaufen. Ich bin mal eine Zeit lang mit so Ätzgas herumgelaufen, aber das war nichts für mich." (ebd. 20;21 ff) Um sich vor Übergriffen zu schützen, ergreift sie andere (Vorsichts-) Maßnahmen: "Ich gehe nie alleine nach Hause oder so oder irgendwo alleine hin, wenn es dunkel ist, und wenn, dann ist es vielleicht nur mit dem Hund runter, und der, mein Hund, der paßt auf" (ebd. 31 ff). Auch in der Schule erlebt sie nach wie vor gewaltträchtige Situationen, wobei sie hier wiederum den Jungen im Gegensatz zu den Mädchen ein erhöhtes Aggressionspotential zuschreibt: "Die Jungen, die streiten sich immer eigentlich gleich wegen jedem bißchen, also wenn der eine zum anderen ‘Arschloch’ sagt, dann wird gleich geprügelt und so, und wir Mädchen, wir schreien dann halt zurück oder sagen, ‘paß auf, jetzt höre auf’ und so, die Jungen gehen gleich aufeinander los, also die sind voll aggressiv." (ebd. 17;8 ff) Gegen sexuelle Anmache wehrt sie sich - wenn nötig - mit Gewalt: "Die pfeifen (hinter) einem her oder fassen einen an den Arsch oder so, das kann ich natürlich nicht ausstehen, also da verteile ich dann Ohrfeigen" (ebd. 40;34 ff). Das ausländerfeindliche Attentat in Solingen verurteilt sie: "Da sind eine türkische Frau und ihre Kinder gestorben, verbrannt. Das fand ich eine Schweinerei. Also man kann es auch übertreiben mit der Ausländerfeindlichkeit. Also das war total Mist, was die da gemacht haben" (ebd. 46;29 ff). Als Grund für einen erst 16jährigen Täter erkennt sie Mitläufertum, wobei sie bei der Begründung ihrer Meinung Reflexivität und Empathiefähigkeit beweist (vgl. ebd. 46;37 ff und Kap. 3.2.2). Auch 1994 bleibt Jennifers Gewaltakzeptanz weiterhin sehr niedrig. Sie spricht sich nach wie vor konsequent gegen Gewalt aus und steht zu ihrer Meinung: "Blödsinnig, total also, die Leute wissen das auch, wie ich darüber denke" (1994: 14;28 f). 3. 3.1 3.1.1 Zusammenhang von politischer Orientierung und Gewaltakzeptanz mit sozialen Erfahrungen und Erfahrungsstrukturierung Erfahrungen und Bearbeitungsressourcen Problembelastungen und zentrale Interessenlagen XLI Jennifer gibt 1992 an, "zur Zeit keine Probleme" zu haben (vgl. Fb. 1992). Dennoch scheint sie sich von ihrer Mutter im Hinblick auf Ausgehzeiten im Vergleich zu ihrem zwei Jahre älteren Bruder etwas zurückgesetzt zu fühlen. Sie paßt sich den aufgestellten Regeln in der Erwartung später zu erwartender Freiheiten jedoch an (vgl. 1992: 9; 20 ff). Außerdem scheint sie sich von ausländerfeindlichen Übergriffen bedroht oder aufgrund von Vorurteilen benachteiligt zu fühlen, was sie anhand eines konkreten Beispiels beschreibt (s.o.) und was in einigen Äußerungen zumindest latent anklingt (s.o.). Insgesamt scheint sie ziemlich unter der gewaltträchtigen Atmosphäre, die sie in Freizeit und Schule erlebt, zu leiden (s.o.). Dieses scheint sich 1993 weiter fortzusetzen, denn sie gibt in diesem Jahr als ihr Problem "Ärger mit anderen Jugendlichen" an (vgl. Fb. 1993). Möglicherweise liegen in dieser Zeit aber auch Konflikte mit den Jugendlichen im Jugendhaus, die sie 1994 im nachhinein beschreibt, als sie bereits wieder behoben sind. Es wurden wohl aufgrund von Eifersüchteleien und Neid Unwahrheiten in bezug auf ihr Sexualleben ("es wird halt erzählt, dass ich mit dem und dem im Bett war"; 1994: 10;15) über sie erzählt, unter denen sie - nicht zuletzt, weil sie das Jugendhaus sehr gerne besucht - litt (vgl. 1994: 10;5 ff). 1994 stellt der "Ärger mit anderen Jugendlichen" weiterhin eine Problembelastung für sie dar, hinzu kommt "zu wenig Geld" zu haben (vgl. Fb. 1994). Letzteres scheint zum einen durch eine durch das Auto einer Freundin ermöglichte, gewachsene Mobilität und dem damit einhergehenden häufigeren Besuch von Discos und anderen kommerziellen Freizeiteinrichtungen (vgl. 1994: 2;30 ff), zum anderen durch höhere Ansprüche in bezug auf Kleidung (vgl. 1993: 9;4 ff) begründet zu sein. 3.1.2 Erfahrungen im sozialen Nahraum und seine sozio-emotionalen Ressourcen Die Familie - respektive die Mutter - scheint Jennifer trotz einiger Unstimmigkeiten mit ihr einen genügenden emotionalen und materiellen Rückhalt zu bieten. Obwohl Jennifer häufiger sich selbst überlassen ist und die Mutter ihr altersangemessene Grenzen zu setzen versucht, spricht Jennifer von einem Vertrauensverhältnis zwischen sich und ihrer Mutter (vgl. 1992: 3;20 ff). Entsprechend fühlt sie sich von ihr akzeptiert, meint, Geborgenheit und tatkräftige Unterstützung zu bekommen und sich auf ihre Mutter verlassen zu können (vgl. Fb. 1992). 1993 gewährt die Mutter ihr aufgrund ihres zunehmenden Alters mehr Freiheiten, und Jennifer empfindet dies als positive Veränderung (vgl. 1993: 3;12 ff). Dennoch fühlt sie sich in diesem Zeitraum von der Mutter nicht mehr so akzeptiert, wie sie ist (vgl. Fb. 1993). 1994 wohnt der Freund der Mutter am Wochenende bei der Familie. Jennifer bezeichnet ihn als "streng" (1994: 4;16) und glaubt, dass sich seine Anwesenheit negativ auf ihr Verhältnis zur Mutter auswirkt (vgl. ebd.). Obwohl sie sich nach eigenen Angaben noch immer gut mit der Mutter versteht, fühlt sie sich doch mit ihren Plänen und Sorgen von ihr nicht ernstgenommen (vgl. ebd. 6;10 ff). Korrespondierend mit dieser Einschätzung glaubt Jennifer auch nicht mehr, tatkräftige Unterstützung (aber noch Geborgenheit) von der Mutter zu bekommen (vgl. Fb. 1994). Zumindest 1994 findet Jennifer die Schule "langweilig" (1994: 17;23) und möchte sie am liebsten verlassen. Insgesamt scheint sie den schulischen Anforderungen aber durchgängig gewachsen zu sein. In ihren verschiedenen Klassengemeinschaften fühlt sie sich nicht wohl. Ein Grund mit dafür scheint 1992 und ‘93 die anscheinend hauptsächlich bei den Jungen vorhandene Gewaltbereitschaft zu sein (s.o.), während sie ihre Klassenkameradinnen 1994 als "kindisch" bezeichnet (1994: 18;9). 1992 gibt Jennifer an, dass ihre drei bis vier deutschen Klassenkameraden nicht ausländerfeindlich, wohl aber gegen Asylbewerber eingestellt seien. Hier scheint sie allerdings eine anscheinend zumindest latent vorhandene, evtl. aus Angst vor Sanktionen zurückgehaltene Ausländerfeindlichkeit nicht bewußt wahrzunehmen bzw. unterzubewerten: XLII "Die Deutschen, die haben nichts gegen Ausländer. Das kommt schon mal vor, dass sie sagen, ‘scheiß Asylanten’ oder so oder solche Sachen eben ‘die nerven mich, weil die jetzt alles wegnehmen, Wohnungen’ und so etwas, aber selbst so eigentlich weniger, also die schreien nicht in der Klasse herum ‘scheiß Ausländer’ oder so, weil sie bekommen dann auch Ärger , (...) da kann man einen Schulverweis bekommen" (1992: 30;31 ff) Jennifers Freundeskreis besteht aus zwei kontinuierlichen Freundinnen, wobei sie zumindest mit einer von den beiden auch private Probleme bespricht (vgl. Fb. 1992-1994). 1994 hat sie einen (platonischen) Freund, mit dem sie ebenfalls vertrauliche Gespräche führt (vgl. 1994:8;4 ff). Zusätzlich bewegt sie sich im Laufe der Jahre in verschiedenen Cliquen, die sich hauptsächlich aus ausländischen Jugendlichen zusammensetzen (vgl. 1992: 26;5 ff). Durchgängig kritisiert sie die bei den Jungen vorherrschende cliquen-interne und -externe Gewaltbereitschaft (s.o.) und 1992 auch die Aufenthaltsorte (Busbahnhof, Kneipe, Spielhalle) der z.Zt. aktuellen Clique (Freunde des momentanen Freundes) (vgl. 1992:15;27 ff). Zumindest die 1993 aktuelle Clique ist tendentiell ‘links’ gegen "Nazis" aber auch gegen Deutsche eingestellt. Jennifer teilt die Ansichten der Freunde aber nicht uneingeschränkt: "Die denken irgendwie alle das gleiche (...). Die Nazis sind Scheiße, und Deutsche sind Scheiße, und so was denken sie immer. Alles mögliche, eigentlich denke ich auch ganz anders wie die" (1993: 27;1 ff) In ihrer Freizeit nutzt Jennifer häufig und gerne das örtliche Jugendhaus, in dem Jugendliche verschiedener Nationalitäten verkehren. 1994 besucht sie aufgrund der durch das Auto einer Freundin ermöglichten Mobilität zunehmend auch kommerzielle Freizeiteinrichtungen wie Disco und Cafés (vgl. 1994: 2;36 ff). In ihrem Wohnumfeld scheint Jennifer sich nicht immer sicher zu fühlen und zeigt aus Angst vor Übergriffen Vermeidungsverhalten, z.B. sich nicht im dunkeln alleine im Freien aufzuhalten (s.o.). Auf seiten einiger deutscher Nachbarn scheinen zudem Vorurteile gegenüber Ausländern zu bestehen: "Die meisten sind alles ausländische Familien, und es gibt auch zwei, drei deutsche Familien, und da gibt es eine Familie, die ist total blöd, also ‘Ausländer bescheuert’ und so, und so werden sie auch behandelt bei uns im Haus." (1994:46;15 ff) Letztere Andeutung läßt vermuten, dass es aufgrund dieser Ausländerfeindlichkeiten auch zu offenen Konflikten zwischen den einzelnen Wohnparteien kommt. 3.1.3 Medienrezeption und sonstige Ressourcen politisch relevanter Informationen Jennifers Auswahl der von ihr rezipierten Medien richtet sich vornehmlich nach deren Unterhaltungswert (vgl. Fb. 1992-1994). Da in der Familie nicht über aktuelle Themen gesprochen wird, kennt sie die politischen Ansichten der einzelnen Familienmitglieder nicht: "Das (Politik; d.V.) ist gar kein Thema, dann kann man auch nicht sagen, ob man gleicher Meinung ist oder unterschiedlicher Meinung." (1993: 7;31 ff) Diese fehlende Austauschmöglichkeit mag eine Ursache für ihr politisches Desinteresse sein. Obwohl sie "geschockt" war, als sie im NS-Unterricht der Schule von den Verbrechen der Nationalsozialisten gehört hat (1994: 37;33), bleibt sie in ihrer generell negativen Beurteilung der Geschehnisse im ‘Dritten Reich’ doch undifferenziert und z.T. indifferent: "Also wenn er (jemand, d.V.) meint, er müsste stolz darauf sein, dass Hitler damals so einen Mist gebaut hat, dann soll er das halt sein, aber ich finde es halt blöd, ich meine, er war ja nicht besonderes" (ebd. 37;17 ff). Zudem scheint sie den Tatbestand zumindest latent zu bagatellisieren ("nichts besonderes", "bißchen"): "Also ich denke einfach, der Mann (Hitler, d.V.) war ein bißchen verrückt" (ebd. 33 f). Von den Großeltern hat sie Näheres über diese Zeit erfahren, wobei der Großvater anscheinend auch unter den Nazis zu leiden hatte: "Das war schlimm für ihn und so, und als er sich dann gegen Hitler XLIII gerichtet hat, wurde er auch eingesperrt" (ebd. 38;35 ff). Sie glaubt, dass die heutigen Generationen Verantwortung für die damaligen Verbrechen tragen in dem Sinne, als dass sie "anderen Jugendlichen irgendwie das erzählen (sollten) und sagen, ‘das war doch gar nicht so gut’ und ‘da ist doch nichts besonderes gewesen’, (...) damit die mal ein anderes Bild bekommen davon" (ebd. 11 ff). 3.1.4 Erfahrungen mit und Ressourcen von gesellschaftlicher und politischer Teilhabe Jennifer engagiert sich nicht in Initiativen, Gremien oder schulischen Mitverwaltungsausschüssen, was zumindest z.T. ihrem politischen Desinteresse geschuldet zu sein scheint. Regelmäßig besucht sie das örtliche Jugendhaus. 1993 absolviert sie im ‘Holyday Inn’ ein Praktikum als Restaurantfachfrau (vgl. 1993: 13;29 ff). 1994 gibt sie als Berufswunsch "Kinderpflegerin" an (vgl. 1994: 11;17). Da sie im Vorjahr nach dem Hauptschulabschluss die Bewerbungsfristen versäumt hat, besucht sie zur Überbrückung der Wartezeit für ein Jahr eine Haus- und Landwirtschafts-Schule. Diese möchte sie jedoch gerne verlassen, um für die verbleibenden Monate nach Amerika zu gehen und dort zu arbeiten oder eine Schule zu besuchen (vgl. 1994:18;31 ff). Dies erlaubt allerdings ihre Mutter nicht. 3.2 Kategorien, Kompetenzen und Mechanismen der Erfahrungsstrukturierung 3.2.1 Zentrale Bezugspunkte sozialer Identität Jennifer scheint sich mit ihrer amerikanischen Nationalität zu identifizieren (vgl. 1993: 43;8 ff) und "stolz" auf ihre schwarze Hautfarbe zu sein (vgl. 1992: 12;37 ff). Da sie selbst Ausländerinnenstatus hat, kann sie vermutlich Verständnis für die Belange anderer Ausländer aufbringen und sie nach Individuen differenzieren, ohne in gruppenbezogene Vorurteile zu verfallen. Heimat ist für sie "der Ort, wo ich mich wohl fühle, wo ich bleiben möchte, egal, ob ich jetzt dort geboren bin oder nicht" (1994: 40;20 ff). Dabei scheinen nicht vorhandene bzw. nicht wahrgenommene Vorurteile gegen Minderheiten (hier Schwarze) eine Bedingung für ihr persönliches Wohlbefinden zu sein: "Weil da (in Amerika, d.V.) fühle ich mich dann manchmal auch in der Familie viel wohler wie hier, weil, wenn man das so sagt, sind hier die Weißen, also von der Hautfarbe her, und in Amerika sind halt die ganzen Schwarzen (...) Da wird kein Unterschied gemacht." (1993: 23;26 ff) Da sie den Begriff ‘Heimat’ mit keinerlei Territorialansprüchen oder kultureller Verwurzelung verbindet, erscheint es logisch, dass sie auch keine Überflutungs- oder Überfremdungsängste im Hinblick auf die Einwanderung Angehöriger verschiedener Nationalitäten nach Deutschland empfindet. Jennifers regionaler und lokaler Sozialraum trägt aufgrund seiner Bevölkerungsstruktur mit dazu bei, dass sie in ihrer Freizeit hauptsächlich mit ausländischen Jugendlichen zusammentrifft. Dies und ihre eigene Nationalität scheinen es für sie selbstverständlich und wünschenswert zu machen, auf friedliche Art und Weise mit Ausländern verschiedenster Nationalität umzugehen. Ihr Sozialstatus als amerikanisches, dunkelhäutiges Kind einer deutschen Mutter und die damit verbundenen Erlebnisse (s.o.) scheinen wesentlich zu den bei ihr vorhandenen Gleichheitsvorstellungen in bezug auf Ausländer beizutragen. Ihre Gleichheitsvorstellungen im Hinblick auf Asylbewerber sind vermutlich wesentlich auf das über die Tante erfolgte persönliche Kennenlernen von Vertretern dieser Gruppierung (s.o.) in einem Asylbewerberheim zurückzuführen: "Beispiel Asylantenheim, (...) meine Tante hat auch dort gewohnt, und dann habe ich dann auch schon wieder ein anderes Bild gehabt" (1994: 34;17 ff). Grundsätzlich ist Jennifer der Meinung, dass gegenseitiges Kennenlernen Vorurteile abbaut: XLIV "Die (ausländerfeindliche Mitbürger, d.V.) müssten die Leute vielleicht erstmal kennenlernen, wissen, wie die sind, bevor sie irgendwelche Vorurteile, ja, aufhören zu lästern und solche Sachen. Erstmal sich selber anschauen." (1994: 47;15 ff). Jennifers niedrige Gewaltakzeptanz scheint u.a. einem geschlechtsspezifischen Rollenverständnis geschuldet zu sein. Indirekt bringt sie über das Jungen zugeschriebene erhöhte Aggressionspotential (s.o.) zum Ausdruck, dass Gewalttätigkeit für sie nicht zum ‘normalen’ Verhaltensrepertoire eines Mädchens zählt. Darüber hinaus zeigt sie z.B. in der Familie Anpassungstendenzen, wenn sie sich z.B. an die als ungerecht empfundenen Ausgehzeiten hält oder ihrer Mutter nicht unbedingt alles über sich erzählt: "Die (Mutter, d.V.) denkt, (...) ich bin (...) so ein ganz braves Mädchen halt. (...) Die denkt halt immer, ich gehe immer pünktlich zur Schule, solche Sachen, (...) dass ich also mit Jungs nicht so besonders viel habe." (1994: 32;3 ff). Weiterhin scheint sie ein größeres Harmoniebedürfnis zu haben, was sich u.a. in ihrem Wunsch, ein Internat auf dem Land zu besuchen (vgl. 1992: 31;30 ff) und in ihrem Verhalten, Menschen zu meiden, die sie aufgrund ihrer Hautfarbe oder Nationalität angreifen könnten, äußert: "Also schlechte Erfahrungen mit deutschen Jugendlichen hatte ich noch keine, also wenn ich halt gemerkt habe, die fangen jetzt auch schon an, so ‘Ausländer wäh’ und so, dann habe ich mich ganz einfach von denen abgewandt." (1994: 45;5 ff) Vor diesem Hintergrund scheint ihre Äußerung "ich kann es ja nicht verstecken, dass ich Ausländerin bin, auch wegen meiner Hautfarbe" (1992: 12;16 ff) darauf hinzudeuten, dass sie sich zumindest manchmal doch wünscht, nicht als Ausländerin zu erkennen zu sein, um nicht mit ausländerfeindlichen Übergriffen konfrontiert zu werden. Jennifer zeigt ein ausgeprägtes weibliches Selbstbewußtsein. So weiß sie ihre Interessen in Beziehungen mit Jungen zu vertreten: "Ich kann es halt nicht leiden, wenn es heißt ‘du darfst das nicht und das nicht’, ich bin nicht verlobt mit dem und nicht verheiratet und nichts, ich meine, er hat mir nicht viel zu sagen" (1993: 38;16 ff). Auch in puncto Sexualität zeigt sie Selbstbewußtsein und Integrität: "Ich sage dann schon, ‘ich möchte nicht’ und so, ‘ich fühle mich jetzt nicht so gut’, ‘ich habe keine Lust’ oder ‘ich fühle mich halt jetzt nicht danach’. Und dann muss er das verstehen, und wenn er das nicht versteht, dann ist auch nichts zu machen. Dann ist es mir eigentlich auch egal, wenn er sauer ist, weil er versteht mich ja nicht" (1994: 38;38 ff). Jennifers durchgehende jugendkulturelle Orientierung an der ‘Raper-Szene’ prägt möglicherweise ihre Toleranz mit, die sie Menschen anderer Nationalität entgegenbringt, weil sich gerade in dieser Szene viele ausländische Jugendliche bewegen. Ihre Beziehungen im sozialen Nahraum scheinen ihre Ansichten wesentlich mitzubeeinflussen: Der Umstand, dass ihr Vater ein Schwarzer ist, spricht dafür, dass die Mutter keine Vorurteile gegenüber Ausländern hat. Der tägliche Umgang mit ausländischen Jugendlichen in Schule und Freizeit scheint ebenfalls dazu beizutragen, dass sie Ausländer nach ihren individuellen Qualitäten und nicht nach ihrer Nationalität beurteilt. 3.2.2 Individuelle Kompetenzen bzw. Mechanismen zum Aufbau personaler Identität Jennifer zeigt ein hohes Maß an Toleranz gegenüber Anderen im allgemeinen und Ausländern im speziellen. Dies wird besonders an ihrem Verhalten gegenüber einer Mitschülerin, die wegen eines auffälligen Hautflecks im Gesicht von ihren Mitschülern ausgegrenzt wird, deutlich: "Ich habe auch nichts dagegen, wenn sie mit mir zusammen ist (...). Das macht also nichts aus, ich meine wegen dem Fleck, ist sie deswegen trotzdem ein Mensch" (1993: 18;22 f). Ihre Fähigkeiten zu Reflexivität und Empathie sind ebenfalls vergleichsweise stark ausgeprägt. Sie ist in der Lage, Situationen und Verhaltensweisen anderer Menschen zu analysieren und sich dabei in die Beweggründe der Betroffenen oder die Wirkungsweise bestimmter Gruppenmechanismen hineinzudenken. So erklärt sie sich das Motiv des 16jährigen Attentäters von Solingen folgendermaßen: XLV "Das ist so ein Mitläufer gewesen (...). Der hat halt nur Freunde gekannt, die so denken und war halt immer mit denen zusammen, und das ist klar, dann denken die auch so, der ist auch ein Nazi, weil er immer mit denen zusammen ist und so, aber der hat vielleicht auch gar keine anderen Freunde, ich schätze mal, dass das voll der Mitläufer ist und das gemacht hat, um irgend jemanden was zu beweisen." (1993: 46;37 ff) Ähnliche Ursachen vermutet sie für das gewalttätige Verhalten der männlichen Cliquenmitglieder: "Immer große Klappe, und wenn sie dann alleine sind, haben sie nichts dahinter, also stehen nicht dazu, was sie mal gesagt haben. Also die sind alle feige für mich, das nervt mich total, weil sie dann noch so angeben und so, und ‘hier und ich und da und hier’, und dabei ist da gar nichts. Also sie können es nur in der Gruppe." (1994: 15;29 ff) Jennifer zeigt Fähigkeiten zu Einsicht und Selbstkritik. So erkennt sie z.B. die Regeln, die ihre Mutter für sie aufstellt als sinnvoll an und versteht, dass die Mutter aus Sorge um sie so handelt (vgl. 1993: 5;24 ff). Rückblickend erkennt sie Fehler, die sie gemacht hat und ist in der Lage, aus ihnen zu lernen: "Ich habe schon viele Fehler gemacht, die Schule z.B. oder ja, zu Hause, mit meiner Mutter (...) Da hatte ich so einen richtigen Durchhänger und habe dann die Schule geschwänzt für lange und bin auch nicht nach Hause gegangen über eine Nacht oder so, bin wiedergekommen und wieder gegangen, und wie ich wollte halt. Ich habe dann auch ziemlich viel Ärger mit meiner Mutter bekommen, und meine Mutter, die hat dann halt, die hat immer Kopfschmerzen davon bekommen und so, und das hat mir dann schon leid getan, das hätte ich vielleicht nicht tun sollen (LACHEN). (...) ich habe halt, so auch mit Jungs auch so viel Mist gebaut, also habe vielen Jungs weh getan, und die tun mir dann schon jetzt leid, und manchmal wünsche ich es mir, ich könnte es wieder rückgängig machen." (1994: 30;8 ff) Obwohl Jennifer rechtsorientierte Menschen meidet, um Konflikten aus dem Weg zu gehen, ist sie durchaus in der Lage, Konflikte verbal auszutragen und ihre Meinung zu vertreten: "Wenn es darauf ankommt, mache ich den Mund schon auf" (1994: 21;25 f). An ihrer Fähigkeit, aus Fehlern zu lernen und ihr Verhalten entsprechend zu modifizieren sowie ihrem Eingreifen in Situationen, in denen FreundInnen gefährdet sind (z.B. sexuelle Ausnutzung der Freundin, mißhandelter Klassenkamerad, s.o.), wird deutlich, dass Jennifer bereit ist, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Sie zeigt bereits am Anfang der Untersuchung ein stark ausgeprägtes Selbstbewußtsein, das auf dem Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und der Kompetenz, Sachverhalte reflektiert beurteilen und sich aufgrunddessen eine eigene Meinung bilden und diese auch vertreten zu können, basiert. Zusätzlich scheint ihr attraktives Äußeres ihr Selbstbestätigung von ihren männlichen Bekannten einzubringen (vgl. 1994: 30;31 ff). Ihre ausgeprägten individuellen Kompetenzen ermöglichen es ihr, sich in puncto Integrität ihrem am Vorbild eines männlichen weißen Schauspielers entlehnten Ideal (Coolness) anzunähern: "Der (Kevin Kostner, d.V.) ist halt lässig, der nimmt es so, wie es ist und läßt sich halt nichts gefallen (...). Wenn man halt einfach, ja, wenn man so ist, wie man ist, also sich nicht irgendwie anders gibt, das ist für mich jemand, der cool ist, also der sich nicht schämt für das, was er ist oder wie er ist" (1994: 26;27 ff). 4. Zusammenfassung Jennifer präsentiert sich als eine Persönlichkeit, die sich - vermutlich wesentlich durch ihren Status als dunkelhäutige Amerikanerin in Deutschland, ihre ausgeprägten individuellen Kompetenzen wie Toleranz, Reflexivität, Empathie und den Einfluss ihrer Beziehungen im sozialen Nahraum beeinflusst - durch das Vorhandensein umfassender Gleichheitsvorstellungen und eine - wahrscheinlich zusätzlich auf ihrem Rollenverständnis als Mädchen/ Frau basierende - niedrige Gewaltakzeptanz sowohl auf politischer als auch auf personaler Ebene auszeichnet. XLVI Jennifers politische Ansichten stellen eine Weiterentwicklung des von ihr propagierten Gleichheitspostulats ‘Alle Menschen sind gleich’ (s.o.) dar: So spricht sie sich für die Gleichbehandlung aller Menschen aus, befürwortet das Wahlrecht für Ausländer und die Vergabe der deutschen Staatsbürgerschaft in bestimmten Fällen sowie die Gewährung sozialer Unterstützung bei Bedarf. Des weiteren bewertet sie die Möglichkeit des Kulturaustausches zwischen den Angehörigen verschiedener Nationalitäten als positiv. Sie billigt das Asylrecht und hält es in bestimmten Fällen sogar für zu hart (s.o.). Jennifer zeigt keine Überflutungs- oder Überfremdungsängste im Hinblick auf die Einwanderer und nimmt keine Kriminalitätszuweisungen in Richtung Ausländer vor. Jennifers politische Ansichten scheinen wesentlich von ihrer Situation und ihren Erlebnissen als dunkelhäutige Amerikanerin in Deutschland und ihrer Fähigkeit, Sachverhalte reflektiert beurteilen sowie sich in die Verhaltensweisen ihrer Mitmenschen und die Wirkungsweise bestimmter (Gruppen-)Mechanismen hineindenken zu können, beeinflusst zu werden. Obwohl sie von sich behauptet, in der Regel kein Opfer von Ausländerfeindlichkeit zu sein, klingt in ihren Äußerungen doch zumindest latent häufiger an, dass auch sie aufgrund ihrer Hautfarbe Vorurteilen und Diskriminierungen ausgesetzt ist (s.o.). Resultierend aus dieser Tatsache scheint sie sich entsprechend in die Situation anderer Ausländer in Deutschland hineinversetzen zu können und Verständnis für deren Bedürfnisse aufzubringen. Mit ihren o.a. Ansichten scheint sie sich mit diesen Gruppierungen zu solidarisieren und ihnen die Rechte zuzuerkennen, die sie auch für sich selbst in Anspruch nimmt bzw. nehmen möchte. Unterstützend kommt vermutlich hinzu, dass sie aufgrund der Bevölkerungsstruktur ihres Wohnumfeldes in Schule und Freizeit mit sehr vielen (jugendlichen) Ausländern zusammentrifft und diese aufgrund ihrer persönlichen Qualitäten zu beurteilen gelernt hat. Im Hinblick auf Asylbewerber ist ihr die Möglichkeit zu persönlichen Kontakten durch eine kurzfristig in einem Asylbewerberheim lebende Tante zuteil geworden (s.o.). Ihre niedrige Gewaltakzeptanz scheint neben o.a. Gründen vornehmlich ihrem geschlechtsspezifischen Rollenverständnis geschuldet zu sein. Zum einen scheint Aggressivität für sie nicht zum typischen Verhaltensspektrum eines Mädchens zu gehören (s.o.), zum anderen zeigt sie aufgrund ihrer individuellen Kompetenzen und evtl. geschlechtsspezifisch bedingter Anpassungstendenzen - trotz eines gewissen Fatalismus’ Einsicht in die Nutzlosigkeit herrschender Gewaltmechanismen und versucht eigene Aggressivität zu bekämpfen, wobei sie damit selbstkritisch implizit an die Eigenverantwortung des Individuums appelliert: "Ich denke, an Gewalt kann man eigentlich gar nichts ändern. Das kommt manchmal über einen selbst, ich merke es manchmal, ich bin manchmal so aggressiv (...). Ich meine, ich gehe dann nicht hin und schlage irgend jemand, weil der mir nicht gefällt, ich lasse es dann eher an mir selber aus und sitze dann da und bin schlecht drauf." (1993: 21;37 ff) Jutta 1992 - 1994 „Bei mir sitzt die Faust ziemlich locker. Stimmt genau.“ (Fb 1992) „Die Asylbewerber, die sind alle falsch, von vorne bis hinten ... die reden doch nur Scheiß heraus, die lügen doch von vorne bis hinten und gehen auch noch bei uns in die Schule.“ (1993:53;27-32) „Dass das in den Gefängnissen so hart zugeht ... klar, das tut mir auch irgendwie schon leid, aber die sind doch selber Schuld wenn die wieder abgeschoben werden, so wie die sich hier aufführen. Die sind als Gäste zu uns gekommen und nicht als weiß Gott was, hey, XLVII ihr dürft kommen und dürft den King spielen und so, wir schieben euch auch das Geld in den Arsch ‘rein.“ (1994:34;4-10) 1. Objektive Daten zum Lebenskontext im Überblick Jutta, evangelisch, ist 1992 13 Jahre alt. Sie stammt aus den neuen Bundesländern (Brandenburg) und ist 1990 nach T. gezogen, eine mittelgroßen Stadt in Süddeutschland, in der sie die Hauptschule besucht. Sie lebt zunächst mit ihrer Mutter und ihren beiden Schwestern (12 und 16 Jahre alt) in einer Drei-Zimmer-Mietwohnung im Stadtkern, wobei die ältere Schwester mehr bei ihrem Freund wohnt als zu Hause und zum Zeitpunkt des Interviews 1993 gänzlich mit ihm zusammengezogen ist. Nach dem Tod des Vaters, der von Beruf LKW-Fahrer war, im Jahre 1992 zieht Jutta mit ihrer Mutter und ihrer jüngeren Schwester 1993 in eine andere 3-Zimmer-Wohnung in einem Stadtteil von T. um. Hier hat Jutta anfangs ein Zimmer für sich alleine, welches sie aber 1994 erneut mit der jüngeren Schwester teilen muss, da ihre ältere Schwester, die inzwischen ein Kind bekommen hat, gemeinsam mit diesem wieder zu Hause einzieht. Juttas Mutter arbeitet 1992 als Kassiererin. Diesen Beruf muss sie 1993 aus gesundheitlichen Gründen aufgeben muss. Seitdem ist sie arbeitslos. Dies wirkt sich negativ auf die finanzielle Versorgung der Familie aus: Jutta erhält kein Taschengeld. Von 1992 bis 1993 arbeitet sie deshalb gelegentlich in einer Essigabfüllerei. Später trägt sie an Wochenenden Zeitungen aus und jobbt regelmäßig in den Ferien. 2. Politische Orientierung 2.1. Allgemeine Orientierung 1992 und 1993 stellt sich Jutta als eine Jugendliche dar, deren allgemeine politische Orientierung fremdenfeindlich motiviert ist. Diese Fremdenfeindlichkeit ist bis 1994 allerdings kaum vor einem explizit politischen Hintergrund zu interpretieren, da Juttas Interesse an gesellschaftlichen Zusammenhängen im allgemeinen sehr gering ist und sie in Folge dessen zum Beispiel auch nicht über die Umstände der Ereignisse von Solingen oder Hoyerswerda informiert ist (vgl.1993:59;24ff) und ebenfalls trotz entsprechender Gelegenheit kaum Interesse an Informationen über die Motive von Asylnachfrage in Deutschland zeigt (siehe 2.2). 1994 gibt Jutta an, politisch interessiert zu sein (1994:41;2324) und berichtet von ihrem Besuch einer Versammlung der Republikaner: „Mich hat es bloß interessiert, weil es Politik ist, wollte ich bloß mal rein, die sind ja rechts drauf ...“ (1994:35;15ff). Bei einer Wahl würde sie sich entweder für die SPD oder für die Republikaner entscheiden (vgl. 1994:35;38-40). Politik ist aber im Gespräch mit ihren Freunden kein Thema, denn „ dann reden wir nicht über Politik oder so einen Scheiß, dann reden wir über was ganz anderes.“ (1994:41:21-22). Wird Jutta in den Interviews gezielt nach ihrer Meinung zu bestimmten politischen Ereignisse gefragt, verweigert sie sich auffällig durch stereotype Äußerungen wie: „Kein Plan. Schweig.“ (1994:43;37). Juttas jugendkulturelle Orientierung ist unauffällig: Sie zählt sich durchgängig zu Discofans bzw. Technos, 1994 außerdem zu Umweltschützern und „Ökos“. 1992 fühlte sie sich kurzzeitig zu den Rapern hingezogen, die für sie in den folgenden Jahren unbedeutend werden. Jutta sind linke Jugendliche, Skater und Punker egal, während sie rechte Jugendliche, Skinheads, Hooligans, Bundeswehrfans, Rocker und Autonome ablehnt oder als Gegner erklärt (vgl. Fb 1-3). 2.2. Ungleichheitsvorstellungen/Gleichheitsvorstellungen im Kontext von Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus Jutta zeigt durchweg zahlreiche Ungleichwertigkeitsvorstellungen, die sich im Laufe der Zeit in Ungleichbehandlungsforderungen ausformen. XLVIII Zunächst richtet sich ihre Abneigung gegen „Neger“ (1992:30;7-14) und Kriegsflüchtlinge aus Jugoslawien: „Ich habe nichts gegen Ausländer, aber ich finde die Ausländer blöd, die in den Kasernen sind.“ (1992:30;33-35). Nachdem Jutta von einem Asylbewerber in der Nähe deren Unterkunft (sexuell) belästigt wurde, hat sie Angst vor weiteren Übergriffen. An Fragen nach Asyl-Anlässen zeigt sich Jutta schon 1992 und 1993 desinteressiert: „Ja, sie wurden da aus ihrem Land, wie soll ich - rausgejagt, warum weiß ich auch nicht, interessiert mich auch nicht.“ (1992:30;27-29); „Die Tussi, also das eine Mädchen wollte mir das mal erklären, aber die konnte kein richtiges deutsch und da habe ich gesagt, komm, laß es sein, interessiert mich auch nicht.“ (1993:53;1-4). 1993 nimmt der Umfang von Juttas Vorwürfen gegenüber Asylbewerbern deutlich zu: „Klar, ich meine, die brauchen vielleicht Hilfe, aber die kommen hierher und machen sich den Arsch breit, die klauen ja wie die Rohrspätze, also die, die wir kennen.“ (1993:55;1114). Dieser Vorwurf resultiert sowohl aus ihrer konkreten Beschuldigung rumänischer und jugoslawischer Mitschüler, sie bestohlen zu haben (vgl.1993:55;22-25), als auch aus ihrem Neid auf die (vermeintlich) teure Kleidung ihrer rumänischen Mitschülerinnen, die „erst mit so Klamotten, die Röcke da“ (1993:52;26) in Deutschland angekommen sind „und jetzt ist eine Woche ‘rum, dann haben sie schon ‘Levis’- Klamotten an.“ (1993:52;29-30). Da sie sich selbst keine Markenkleidung leisten kann, fühlt Jutta sich ungerecht behandelt: „Ich weiß nicht wo ich mir das her holen soll, und die ziehen jeden Tag neue Klamotten an.“ (1993:52;2-3). Weil sich das eigene Leben für sie mühsam und unbequem darstellt, wehrt sie sich dagegen, dass es andere (in ihren Augen) einfacher haben. Dieses Gefühl der Ungleichbehandlung hinsichtlich finanzieller Ressourcen wird auch in ihrer oberflächlichambivalenten Zustimmung zum Statement ‘Alle Menschen sind gleich’ deutlich, in dessen Auslegung sie indirekt zunächst einmal die Nivellierung ihrer eigenen (finanziellen) Verhältnisse fordert: „Ja, alle Menschen sind doch gleich. Ich meine, ich habe ja nichts gegen Ausländer oder so, aber ich meine, ich verstehe die Leute nicht, die jetzt rein kommen, die Asylanten. Die verstehe ich nicht, die sind irgendwie Gottes drauf, jeden Tag neue Klamotten und Levis oder so was.“ (1993:51;33-38). In diesem Zusammenhang beschuldigt sie jugendliche Asylbewerber schließlich des Leistungsbetruges und der Kriminalität, indem sie vermutet, deren Geldquelle sei „das Sozialamt wahrscheinlich, oder irgend was, was weiß ich. Klauen. ... oder Auto verkaufen, so klauen.“ (1993:52;6-10). Dies seien keine Einzelfälle, sondern „sehr viele“ (1993:52;15). Außerdem bezichtigt Jutta die ihr aus der Schule bekannten Asylbewerber pauschal des Lügens: „Ich meine, die, die ich kenne, die Asylbewerber, die sind alle falsch, von vorne bis hinten ... überhaupt das Reden, die reden doch nur Scheiß heraus, die lügen doch von vorne bis hinten und gehen auch noch bei uns in die Schule.“ (1993:53;26ff). Wohl wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer multinationalen Clique, mit der Jutta 1993 ihre Freizeit verbringt, und deren Mitglieder alle in Deutschland geboren wurden (vgl.1993:54;28-29), differenziert sie ihre Ungleichheitsvorstellungen in bezug auf ‘Ausländer’ und ‘Asylbewerber’. Jutta akzeptiert ‘deutsche’ Ausländer, die sich der deutschen Lebensmentalität angepaßt verhalten und die deutsche Sprache beherrschen, was sich auch darin ausdrückt, dass sie erst einen Freund türkischer und später einen Freund italienischer Herkunft hat. Sie versucht, ihre ausländischen Freunde von denen abzuheben, die Opfer von Brandanschlägen auf Asylbewerberheime sind: „Ich verstehe nicht, dass die gleich die Häuser anbrennen, die haben zwar was gegen die Ausländer, aber es sind doch nicht alle so wie die. Es gibt Ausländer, die voll okay sind, aber die, die jetzt neu rein kommen, ich weiß nicht, denen ihr Verhalten.“ (1993:60;30-32). 1994 überführt Jutta ihre Ungleichheitsvorstellungen gegenüber Asylbewerbern in Ungleichbehandlungsforderungen: „Also was würde ich noch ändern? Ich will nicht Asylantenabschiebung sagen, aber ich will die Asylanten erst in ein anderes Land reinschieben.“ (1994:33;21-23). Auch Asylbewerber, die in Deutschland Schlägereien anfangen, sollten nach Juttas Meinung abgeschoben werden: „Ich meine, dann sind sie XLIX selber Schuld, dass es Rechtsradikale gibt.“ (1994:37;12-13). Jutta sieht im ‘Rechtsradikalismus’ somit eine legitime Abwehrreaktion Deutscher, die sich in der Bewegungsfreiheit innerhalb ihres Territoriums zurecht bedroht fühlen. Zumal sie in der Vergangenheit persönlich tatkräftig an territorialen Kämpfen in der Schule beteiligt war, fühlt sie sich von Asylbewerbern in ihrem mühsam eroberten Rang bedroht. Hinzu kommt, dass sie neben diesem eher über männliche Verhaltensmuster erworbenen ‘Rang’ auch augenscheinlich um ihre Stellung als attraktivitätsorientiertes Mädchen kämpft. So fühlt sie sich auch von Asylbewerberinnen latent bedroht, weil die „meinen, sie wären hübsch, so mit erhobener Nase laufen sie an mir vorbei.“ (1994:30;23-25). Aus Juttas Warte lassen sich soziale Positionen aus finanziellen Ressourcen gewinnen und somit Zugänge zu oberen Rangplätzen in einer Gruppe von Gleichaltrigen sichern. Es ist anzunehmen, dass Jutta sich nach dem Umzug von Brandenburg nach T. zunächst einen (Hierarchie)Platz erobern musste, den es für sie weiterhin zu sichern gilt. Jutta benutzt häufig mit stark pauschalisierendem Tenor das Argument, die Asylbewerber seien an der Problematik selbst Schuld, sowohl aufgrund ihres Charakters, als auch wegen ihres Verhaltens : „Also die Asylanten, die sind alle gleich ... die sind total anders, einen schlechten Charakter haben sie auch und so ja.“ (1994:30;9-16). Sie versächlicht ihre Gegner in Form von Asylbewerbern als „Dinger“ (1994:29:15) und wiederholt die Forderung, Asylbewerber sollten sich in Deutschland wie Gäste benehmen und einer Arbeit nachgehen. Das Wahlrecht würde sie den Ausländern zubilligen, die in Deutschland wohnen und arbeiten (1994:42;36-40), mit Ausnahme der Asylbewerber: „Also die Asylanten würde ich nicht wählen lassen, da bin ich ganz ehrlich. Ich würde die auch erst mal ein paar Jahre zappeln lassen, also arbeiten lassen und dann dürften sie vielleicht wählen.“ (1994:43;4-8). Ein weiterer Auslöser für Juttas Antipathien gegenüber Asylbewerbern und Kriegsflüchtlingen ist ihre persönliche finanzielle Misere: „Ich meine, ich will nicht sagen, dass ich arm, ich bin aber arm, aber ich kann mir sowas nicht leisten, wie die sich das leisten können. Oh je, die Klamotten und Fahrräder und so.“ (1994:32;7-10). Der zentrale Wert, den ‘Arbeit’ und damit ‘eigenes Geld verdienen’ in Juttas Leben einnimmt, läßt sie aber auch deutsche ‘Leistungsbetrüger’ verurteilen: „Manche Deutsche, die sitzen auf ihrem Arsch und bekommen ihr Geld, das sind nicht nur Asylanten, es gibt auch Deutsche.“ (1994:45;22-24). Diese Aussage bezieht sie 1994 auch auf ihre Mutter, die aus Krankheitsgründen ihren Beruf zeitweise nicht ausüben kann und der sie vorwirft, ein Rückenleiden nur vorzuschieben, um „den ganzen lieben langen Tag zu Hause zu sitzen. Die sitzt sich ihren Arsch richtig fett, die könnte doch auch was tun.“ (1994:45;27-30). Einerseits betont Jutta: „Andere Leute arbeiten dafür, dass die ihr Geld bekommen, das ist Tatsache, deswegen sind die Steuern hier auch so hoch, damit die Asylanten und die Deutschen und alle überhaupt ihr Geld bekommen.“ (1994:46;17-20), andererseits will sie einen geplanten Jamaikaurlaub auf die von ihr zuvor verurteilte Weise des Leistungsmißbrauchs finanzieren: „Dann lassen wir uns erst mal unseren Arsch hier festsitzen und lassen uns das Geld in den Arsch schieben, dann fliegen wir. So wie andere das machen.“ (1994:52;25-27). Trotz ihrer durchgängig fremdenfeindlichen Einstellungen lehnt Jutta rechtsextrem orientierte Jugendliche ab (vgl.1994:48;24-32). Auch die Beziehung zu ihrem Ex-Freund hat sie beendet, als sie merkte, dass er zum Rechtsextremismus tendiert (vgl.1994:49;5-10). 2.3. Gewaltakzeptanz Bei Jutta läßt sich ein hohes physisches und psychisches Gewaltpotential feststellen, das sich schon 1992 sowohl in in Gedanken ausgetragenen Tätlichkeiten gegenüber ihrer jüngeren Schwester - „Manchmal könnt’ ich meiner kleinen Schwester so eine runterkleben, dass sie sonst wohin fliegt, aber ehrlich“ (1992:6;10-12) -, als auch in tatsächlichen Schlägereien mit Mitschülern äußert: „Ich hab’ ihm eine runtergescheuert, L haja, was soll man denn da machen?“ (1992:13;5-6). Aus dem Zusammenhang persönlicher Gewalterfahrung (einer Beinahe-Vergewaltigung im Park, gegen die sich Jutta erfolgreich körperlich zur Wehr setzen konnte) scheinen Juttas Bestrebungen, Selbstverteidigungstechniken zu erlernen, zu resultieren. Sie lernt zunächst Judo, um sich zur Wehr setzen zu können (vgl.1992:24;34) und in einer Notsituation nicht der Hilfe der Polizei zu bedürfen. Das Argument der Selbstverteidigung zieht sich durchgängig durch Juttas Rechtfertigungen von Gewaltanwendung. 1994 berichtet sie von zwei persönlichen Erfahrungen sexueller Belästigung beim Trampen, die für sie aber glimpflich ausgegangen sind (vgl.1994:61;7-39). Juttas Gewaltbilligung läßt sich an ihrer Forderung nach der Todesstrafe (vgl.1992:26;5-10) (hier für Sexualverbrecher) festmachen: „Am liebsten wollt’ ich, dass man die aufhängt oder dass alle lebenslänglich in den Knast kommen.“ (1992:25;38-39). Außerdem äußert sie in Bezug auf Sexualtäter unverhohlen eigene Rachegelüste: „Ja, so was überhaupt, da möcht’ ich lieber selber jeden erschlagen.“ (1992:26;10-11). Juttas Strategie, Konflikte mit Gewalt lösen zu wollen, verstärkt sich 1993. Hier erzählt Jutta (lachend), dass sie mit ihrer Clique ein Mitglied „krankenhausreif“ geschlagen hat, weil dieses den Drogenkonsum in der Clique nach außen getragen hat (vgl.1993:16;30-36). Sie gibt an, auf dem Schulhof würde geschlagen „bis fertig ist. Bis die eine sagt, sie kann nicht mehr, oder so. Dass sie sich nicht mehr wehrt.“ (1993:31;26-27). Jutta erzählt auch von einer Schlägerei, in die sie selbst verwickelt war und in bei der sie zum Schluss gewonnen hat (vgl.1993:32;17). 1994 erklärt sie rückblickend: „Ich hatte voll viele Schlägereien auch.“ (1994:28;17). Jutta betreibt ab 1993 die Kampfsportart ‘Teak Wan Do’, die sie in einem Verein dreimal wöchentlich trainiert (vgl.1993:40;20) und möchte gerne ‘Kickboxen’ lernen. Sie benutzt die Kampfsportart im Rahmen von Schulhofkämpfen und zur Abschreckung potentieller Angreifer: „ Jetzt schlägt mich keiner mehr, jetzt. Überhaupt, seit ich dem einen die Fresse voll geschlagen habe“ (1993:33;12-14). Auch im Zusammenhang mit Auseinandersetzungen mit Lehrern macht Jutta vor der Anwendung körperlicher Gewalt nicht halt (vgl.1993:21;35-40). Zusammen mit ihrer Freundin sieht sie sich Horrorfilme („So richtig harte.“ 1993:44;7) und Karatefilme an: „Wie sie kämpfen und überhaupt, das gefällt mir Gottes arg.“ (1993:34;1-7). Die insgesamt zum Ausdruck gelangende Gewaltfaszination Juttas steht in gewissem Widerspruch dazu, dass sie generell Gewalt nur als Verteidigungsmittel in Notsituationen für legitim hält. l994 tut sie die Schlägereien an der Schule als „Kindereien“ (1994:28;2-3) ab und scheint in ihrer Gewaltbereitschaft zunächst gemäßigt: „Ich schlage mich eigentlich nur, wenn mich einer provoziert, sonst gehe ich jeder Schlägerei aus dem Weg.“ (1994:28;22-24). Als Jutta sich 1994 im Bahnhof von einem Asylbewerber mit einem Messer bedroht sieht, benutzt sie allerdings nicht nur ihre Kampfsporttechnik, um dem vermeintlichen Angreifer das Messer aus der Hand zu schlagen, sondern scheint, wie die Folgen ihres Einsatzes zeigen, durchaus noch mehr zu tun als zu bloßer Selbstverteidigung notwendig gewesen wäre: „Ich habe ihn halt an der Nase getroffen, statt am Arm, dann hatte er einen Nasenbeinbruch und zwei Rippen gebrochen. Ja, ich habe zugeschlagen, also da kann ich hart sein, radikal.“ (vgl.1994:28;36ff). In diesem Zusammenhang ist ihre Einordnung der Auseinandersetzungen auf dem Schulhof als ‘Kindereien’ womöglich so zu interpretieren, dass ihre Gewalterfahrungen nun eine andere, härtere Qualität erlangt haben. 3. Zusammenhang von politischer Orientierung und Gewaltakzeptanz mit sozialen Erfahrungen und Erfahrungsstrukturierung 3.1. Erfahrungen und Bearbeitungsressourcen 3.1.1 Problembelastungen und zentrale Interessenlagen Jutta gibt 1992 an, Probleme mit der (beengten) Wohnsituation zu haben, zu denen 1993 gravierende Probleme im Verhältnis zur Mutter und 1994 finanzielle und schulische LI Sorgen hinzukommen. Eine sicherlich große Belastung ist der Tod ihres Vaters (1992) und der zum Zeitpunkt des Verlustes dieser für sie starken Bezugsperson erst zwei Jahre zurückliegende Umzug von Brandenburg nach T.. Juttas Interessenlagen konzentrieren sich auf die Bereiche der finanziellen Versorgung und eines konstanten emotionalen Verhältnis zur Mutter, das zum Zeitpunkt der Interviews von gegenseitiger Ablehnung und Distanzierung gekennzeichnet ist. 3.1.2. Erfahrungen im sozialen Nahraum und seine sozio-emotionalen Ressourcen Jutta hat im Bereich ihrer Familie große Probleme. Das Verhältnis zu ihrer Mutter ist ausgesprochen gespannt und ändert sich erst 1994 geringfügig, z.B. dahingehend, dass ihre Mutter das Mittagessen für sie zubereitet, während Jutta in dieser Beziehung vorher für ihre jüngere Schwester und sich sorgen musste. Jutta kann sich der Mutter nicht mitteilen („Also richtig sprechen tu’ ich ja mit ihr nicht“ 1992:3;26-27) und fühlt sich von ihr emotional abgelehnt: „Manchmal glaube ich, meine Mutter ist gar nicht meine richtige Mutter, glaube ich echt manchmal, nicht nur manchmal, immer, fast immer.“ (1992:19;2830). Sie hat den Eindruck, von ihrer Mutter ausgebeutet zu werden, weil sie immer „schuften und schuften“ (1992:6;6) muss, während ihre Mutter „heimkommt, macht sich’s bequem, ißt halt und dann schläft sie, weil sie so müde ist“ (1992:5;24-25). Jutta entzieht sich in Folge dessen dem Zuhause, in dem sie sich nicht wohl fühlt (vgl.1992:3;34). Auch die Beziehung zu ihrer jüngeren Schwester, mit der sie früher eine gemeinsame Klasse besucht hat, ist mehr als problematisch. Die Streitigkeiten zwischen den beiden Mädchen gehen über den Rahmen ‘normaler’ Geschwisterkämpfe hinaus und erlangen beinahe die Qualität eines ‘Schwesternhasses’ der sich in Juttas unverhohlenem Triumph äußert, als ihre Schwester durch Juttas Zutun eine Klasse wiederholen muss (vgl.1992:34-36). Die einzige familiäre Bezugsperson, mit der sie sich sehr gut versteht, ist ihre ältere Schwester, die allerdings schon 1992 mehr oder weniger von zu Hause ausgezogen ist.. In der Familie ihrer besten Freundin findet Jutta eine ‘Ersatzfamilie’, in der sie ihre Probleme besprechen kann und Geborgenheit bekommt (vgl. 1992:37-39). Diese Familie nimmt sie auch mit in Urlaub. Da ihr Vater eine starke Bezugsperson für Jutta war, leidet sie sehr unter seinem Tod (1994:24;21-22) und vermißt ihn: „Ich glaub’ meine Mutti, die akzeptiert mich gar nicht. Wie mein Vater noch da war, ich glaub’, da war alles besser, aber seitdem an akzeptiert sie nur noch meine jüngere Schwester.“ (1992:2;21-24). Sie zeigt Tendenzen, sich mit ihrem idealisierten Vater und dessen Verhalten zu identifizieren, der sich häufig mit der Mutter stritt und sich dann von zu Hause entfernte. Jutta zeigt Tendenzen ihn zu imitieren (vgl.1992;25-37). In der Beziehung zu ihrer Freundin versucht sie, den Verlust des Vaters zu kompensieren: „Ich kann mit ihr über alles reden, wie es bei meinem Vater gewesen war.“(1992:18;1-2). Als ihre ältere Schwester 1993 ganz zu ihrem Freund zieht, verschlechtert sich die Beziehung zwischen Jutta und ihrer mittlerweile arbeitslos gewordenen Mutter mehr und mehr. Jutta fühlt sich gegenüber der jüngeren Schwester (finanziell) benachteiligt und ausgeschlossen: „jetzt bin ich hier zu Hause die Blöde“ (1993:1;8). Zwischen den Schwestern ist ein Konkurrenzverhältnis um die mütterliche Fürsorge entstanden (vgl.1992:4;1-3). Die durch Juttas Familie nicht erbrachten Unterstützungsleistungen werden durch fehlende Außenkontakte der Familie in den neuen sozialen Zusammenhängen (vgl.1992:4;28-30) nach dem Zuzug der Familie aus den neuen Bundesländern zunächst noch verschärft. Als die Situation 1993 zu eskalieren droht, überlegt Jutta, in eine vom Jugendamt betreute Wohngruppe zu ziehen, zumal auch ihre Mutter mit einer ‘Heimeinweisung’ droht (vgl.1993:2;38-40). Jutta gibt an, von der Mutter geohrfeigt zu werden (vgl. 1993:4;4-6 und 16-20). Sie bespricht ihre Probleme nach wie vor mit der Mutter ihrer Freundin (vgl. 1993:7;21-23) und gibt als zentrales Bedürfnis an, dass sie sich wünschte, ihre eigene Mutter zeigte mehr Verständnis für sie (vgl. 1993:9;10). Diese hat 1993 einen Partner, der zwar die Familie, nicht jedoch Jutta finanziell unterstützt. LII Sie beschreibt ihr Verhältnis zu ihm mit den Worten: „Der stößt mich ab.“ (1993:62;40) und würde es nicht akzeptieren, mit dem neuen Partner der Mutter zusammenzuwohnen. 1994 gibt Jutta an, dass ihre Beziehung zur Mutter besser geworden sei. Dies kommt wohl teilweise daher, dass Jutta nur noch selten zu Hause ist. Trotzdem möchte Jutta im Falle des geplanten Umzugs der Mutter zu deren Freund in den Schwarzwald nicht mitgehen, sondern am Heimatort bleiben und die Schule dort beenden, da sie denkt, ihre Mutter sei nach wie vor der Meinung „mit mir, da gibt es sowieso Probleme“ (1994:12;4-5). Mittlerweile ist ihre ältere Schwester samt Baby wieder zu Hause eingezogen, so dass sich Jutta das Zimmer mit der jüngeren Schwester teilen muss, was zu Konflikten führt (vgl. 1994:4;35 und 1994:5;1-8). Trotzdem freut sie sich über die Anwesenheit der älteren Schwester, weil sie sich von dieser unterstützt und akzeptiert fühlt. Jutta hat über die gesamte Zeit hinweg (wechselnde) Freunde als Partner in Zweierbeziehungen, die unterschiedlicher nationaler Herkunft (Türkei, Italien) sind. Bei ihnen übernachtet sie auch. In der Schule hat sie durchgängig große Probleme. Wegen des Umzugs aus den neuen Bundesländern nach T. und damit verbunden Fremdsprachenwechsels von Russisch zu Englisch hat sie gleich zu Anfang eine Klasse wiederholt und leidet unter ihren schlechten Noten (vgl.1992:8;34-39). Trotz des guten Klassenverbands geht sie nur ungern zur Schule, lernt wenig und sehnt sich zurück in die Schulform der ehemaligen DDR (vgl.1992:9;6-9). 1993 fühlt sie sich von den Lehrern ‘auf den Kieker genommen’ (vgl.1993:21;25-27) und leidet unter Prüfungsangst (vgl.1993:36;31-40). Jutta absolviert ihr Berufspraktikum bei einem Maler, bei dem sie auch eine Lehrstelle antreten möchte. 1994 schwänzt sie bis zu einem Monat den Unterricht (vgl.1994:9;33-37) und droht sitzenzubleiben (vgl.1994:20;22-23). Als Gründe für ihre schwachen Leistungen gibt sie an, keine Zeit zu haben, da sie einerseits auf den Neffen aufpaßt (1994:14;32ff) und andererseits nun ausgiebig Techno-Parties besucht. Ihre Freizeit verbringt Jutta 1992 häufig mit ihrer Freundin, mit der sie vor allem in Diskotheken geht. 1993 wird sie Mitglied in einer Clique von 25 Jugendlichen im Alter von 14 bis 23 Jahren, in der Gymnasiasten ausdrücklich nicht erwünscht sind (vgl.1993:18;22-25). Diese Gruppe trifft sich regelmäßig mehrmals in der Woche an einem Kiosk oder in einer ‘Hütte’ eines Mitglieds, um dort (Techno-)Musik zu hören, zu rauchen, Alkohol zu trinken und anscheinend auch Drogen zu konsumieren. Durch die Anwesenheit der älteren Jugendlichen besteht die Möglichkeit, an Alkohol zu gelangen (vgl.1993:14;1419). Jutta beschreibt die Clique als eingeschworene Gemeinschaft, in der (wegen der Drogen) „alle dicht halten“ (1993:16;9-11). Sie beschreibt sehr eindringlich, was passiert, wenn ein Gruppenmitglied den Drogenkonsum publik macht: „Also wir hatten halt bestimmtes Zeug bekommen, und da hat einer geplappert gehabt, in der Schule, und ja, darauf hin bin ich, na ja, sind wir hin und haben ihn geschlagen, krankenhausreif war er sogar.“ (1993:16;30-33). Wie schon zuvor, ‘erschlägt’ sich Jutta auch hier ihre Position in der Clique. In Folge ihres gesicherten Platzes fühlt sie sich „wie in einer Familie“ (1993:20;23-25), findet Geborgenheit und Akzeptanz und kann ihre Probleme besprechen (vgl.Fb 2). In der Gruppe wird alles gemeinsam entschieden. 1994 paßt Jutta tagsüber häufig auf ihren kleinen Neffen auf oder verbringt ihre Zeit mit einer Freundin und geht tanzen. Von der Clique hat sie sich getrennt. Probleme bespricht sie jetzt entweder mit einer neuen Freundin (vgl.1994:57;32-39)) oder macht diese mit sich selbst aus, weil sie andere damit nicht belästigen will (vgl.1994:58;14-20). Da in Juttas Nachbarschaft und Wohnumfeld einige Asylbewerber, mit denen sie schon negative Erlebnisse hatte (s.o.), in ehemaligen Kasernen untergebracht sind, fühlt sie sich 1992 in ihrem direkten Umfeld belästigt und wünscht, dass die Flüchtlinge in anderen Städten untergebracht würden: „...aber nach V., warum können sie nicht nach W. oder so in der restlichen Gegend, ich weiß nicht. Ich glaube in E. hat’s nicht so viele Ausländer oder in - wie heißt das - Stuttgart, aber da hat’s viele Ausländer.“ (1992:31;18-23). LIII 3.1.3. Medienrezeption und sonstige Ressourcen politisch relevanter Information Jutta sieht regelmäßig die Nachrichten und liest 1994 täglich die ‘Bildzeitung’. Außerdem kauft sie sich hin und wieder die ‘Bravo’. Sie sieht nicht viel fern, mit Ausnahme der Musikkanäle ‘MTV’ und ‘VIVA’. 3.1.4. Erfahrungen mit und Ressourcen von gesellschaftlicher und politischer Teilhabe Jutta berichtet mit Ausnahme des Besuches einer Versammlung der ‘Republikaner’ und eines Ausflugs der Schulklasse in den Landtag von keinerlei Interesse an, Erfahrungen mit oder Ressourcen von gesellschaftlicher oder politischer Teilhabe. 3.2. Kategorien, Kompetenzen und Mechanismen der Erfahrungsstrukturierung 3.2.1. Zentrale Bezugspunkte sozialer Identität Jutta hat kein ausgeprägtes Nationalitätsbewußtsein; im Gegenteil: „Was weiß ich, stolz darauf sein, auf Deutschland, gar nichts eigentlich, finde ich.“ (1994:50;13-15). Sie ist der Meinung, dass Deutschland sich für die Folgen des Holocaust schämen muss (vgl.1994:48;17-18) und denkt, dass Deutschland (zurecht) einen schlechten Ruf wegen der milden Rechtsprechung und der Häufigkeit von Sexualdelikten hat (vgl.1994:47;3-18). Sicherlich spielt hier Juttas Herkunft aus der ehemaligen DDR eine große Rolle, der sie aufgrund mancher im vereinigten Deutschland herrschenden Mißstände wie Arbeitslosigkeit oder Armut hinterherzutrauern scheint. Dies weist darauf hin, dass sie sich in ihrem regionalen und lokalen Sozialraum nicht vollständig integriert fühlt. Jutta ist sehr unzufrieden mit ihrer finanziellen Situation. Da sie kein Taschengeld erhält und wegen schulischer Probleme ab 1993 nur noch unregelmäßig jobben kann, leidet sie unter ihrem niedrigen sozialen Status. Die nach dem Tod des Vaters und der Arbeitslosigkeit der Mutter sehr beengten Wohnverhältnisse belasten Jutta, zumal sie kein eigenes Zimmer und somit keinen Platz für sich alleine hat. Ein weiteres Problem stellt für sie der unerfüllte Wunsch nach Markenkleidung dar. Wenn Jutta Geld hätte, würde sie gerne damit angeben (vgl.1992:21;34-40). Außerdem hat sie den Traum zu verreisen, wofür aber das Geld fehlt. Jutta offenbart deutliche Schwierigkeiten im Aufbau einer Geschlechtsidentität. 1992 äußert sie: „Ich wäre’ auch lieber ein Junge, gefällt mir auch besser - da hat man auch mehr Möglichkeiten als wie ein Mädchen.“ (1992:27;30-35). Andererseits möchte sie aber „nie einen Jungen anmachen, also das ist irgendwie blöd, da will ich doch lieber ein Mädchen sein“ (1992:28;4-8). Dies hat zur Folge, dass sie sowohl den Rollenerwartungen, die an Jungen gestellt werden, als auch Rollenerwartungen an Mädchen genügen will und dabei ihre soziale Plazierung über einen Spagat zwischen männlich konnotierten Verhaltensmustern (z.B. körperliche und sprachliche Aggressivität, Widerständigkeit, Revierverhalten) und Segmenten weiblicher Rollenstereotype (z.B. Sich-schön-machen) zu bewerkstelligen sucht. Die Gründe ihrer zwiespältigen geschlechtsspezifischen Identitätskonstruktion sind abgesehen von ihrer ausgesprochenen Idealisierung der Männerrolle aufgrund ihrer engen Vaterbeziehung auch in den unerfüllten Wünschen der Mutter nach einem Sohn zu suchen. Juttas Unerwünschtheit als Tochter wurde ihr von ihrer Mutter häufig vorgehalten (vgl.1994:2;35ff). Einerseits orientiert sie sich also (besonders 1992) sehr an Jungen und deren Aktivitäten: „Ich spiele auch Fußball und seitdem bin ich schnell, ich weiß nicht, ich hätte mal ein Junge werden sollen und das, ich weiß nicht, nachher hat man das dann richtig gesehen, da hab ich nur mit Jungs rumgemacht, nur mit denen zusammengewesen, nur mit Jungs.“ (1992:26;26-31). In diesen Zusammenhang paßt auch Juttas ursprünglicher Wunsch, Kfz-Mechanikerin zu werden (vgl. 1992:9;25-29). Ihre Schmerzverdrängung im Zusammenhang mit dem Tod des Vaters ist ebenfalls eher jungentypisch geprägt: „Ich brauch’ da doch nicht gleich Tränen vergießen.“ (1992:14;35). LIV Es scheint, als wollte Jutta ein Junge sein, um den Machtkampf gegen ihre Mutter im Stil des Vaters gewinnen zu können, indem sie sowohl auf generell männliche Eigenschaften der Konfliktaustragung, wie z.B. Einsatz körperlicher Kräfte, als auch auf die Rückzugstaktiken die sie bei ihrem Vater gesehen hat, zurückgreift. Andererseits schminkt Jutta sich sehr stark, „um bei den Jungs besser anzukommen“ (1992:32;36-38). Insofern verspürt sie Konkurrenz mit den von ihr ungelittenen Fremden und AsylbewerberInnen auf zwei Ebenen: auf der Ebene traditionell männlicher Konkurrenz um Territorien und (körperliche) Überlegenheit, sowie der Ebene ‘typisch weiblicher’ Selbstinszenierungen. Dabei trägt sie diese Konkurrenz vorwiegend auf Feldern maskuliner Auseinandersetzungsformen aus. Ihre jugendkulturelle Orientierung scheint hinsichtlich ihres Musikgeschmacks ‘Techno’ alters- und (konsumkulturell) trendgemäß zu sein. Bedenklich ist der dieser Szene zugeschriebene Konsum von Designerdrogen, von denen Jutta zwar Andeutungen, jedoch keine eindeutigen Aussagen macht. Es fällt auf, dass Jutta keine langfristigen Beziehungen im sozialen Nahraum hat. Sowohl ihre Freundin von 1992, als auch die Clique und ihre Freunde sind nur einander abwechselnde Bezugspunkte in ihrem Leben. Vermutlich auch aufgrund dieser Unverbindlichkeiten in ihren sozialen Beziehungen zeigt sich bei Jutta ein deutlicher Wunsch nach Orientierung und sei es durch Autorität, so dass sie sich sogar die von ihr in den Schulen der ehemaligen DDR erlebte Prügelstrafe wieder zurücksehnt (1994:21;3040), aber auch der Wunsch, dass sich jemand um sie kümmert und sich (auf welche Art auch immer) mit ihr auseinandersetzt. 3.2.2. Individuelle Kompetenzen bzw. Mechanismen zum Aufbau personaler Identität Juttas Toleranzschwelle gegenüber Asylbewerbern ist niedrig. Sie erwartet von ihnen, dass sie sich in Deutschland „wie Gäste“ benehmen, sich (sprachlich korrekt) verständigen können und sich in Juttas ‘Revier’ zurückhalten sollen. Gegenüber Deutschen oder in Deutschland geborenen Ausländern betont sie die Relevanz von Akzeptanz der gesamten Persönlichkeit und möchte selbst so akzeptiert werden, wie sie ist. Sie zeigt erstmals 1994 die Tendenz, ihre Aussagen oder Handlungen reflexiv zu betrachten, allerdings mit der Betonung auf ihre familiäre Situation (und nicht unter dem Blickwinkel ihrer Ungleichheitsvorstellungen gegenüber Nichtdeutschen): „Ich muss ziemlich viel denken (...) Über alles, was ich falsch gemacht habe, ob ich überhaupt etwas falsch gemacht habe (...) Über alles so, meine Familie, alles.“ (1994:56;3-13). Andererseits scheint Jutta durchaus in der Lage zu sein, Lösungen für die Probleme Anderer zu finden, so dass ihr durchaus empathische Fähigkeiten zuzuschreiben sind (vgl.1992:37;14-17). Außerdem ist sie in der Lage, Verantwortung zu übernehmen. Dies zeigt sich in der selbständigen Haushaltsführung, die sie während der arbeitsbedingten Abwesenheit der Mutter 1992 durchgeführt hat. Auch bei der Inobhutnahme des Neffen scheint sie der Situation gewachsen zu sein. Diese Anforderungen und erworbenen Fähigkeiten vermitteln Jutta das Gefühl, dass sie viele Dinge ohne fremde Hilfe schafft und tragen somit zu ihrem Selbstwertgefühl bei, das im übrigen von ihren Machtgefühlen durch die Kompetenz zu körperlicher Gewaltausübung stabilisiert wird. 4. Zusammenfassung Während Jutta sich 1992 noch nur von den Asylbewerbern in ihrem direkten Wohnumfeld belästigt fühlt, entwickelt sie ab 1993 eine Antipathie gegenüber Asylbewerbern im allgemeinen, die sich bis 1994 manifestiert. Auch ihre Gewaltakzeptanz und -ausübung verschärft sich ab 1993, indem sie anfängt, diverse Kampfsportarten zu trainieren und diese nicht nur zur Selbstverteidigung auszuüben. Jutta zeigt also von Anfang an das Bild einer gegenüber Asylbewerbern feindlich eingestellten Jugendlichen, in deren Sprache, Denken LV und Handeln sich über den gesamten Zeitraum hinweg Gewaltbilligung und -ausübung manifestieren. Nach dem Tod des Vaters können ihre Bedürfnisse nach Geborgenheit, Zuwendung, Akzeptanz und Anerkennung in der katastrophalen Mutter-Tochter-Beziehung nicht mehr, oder allenfalls rudimentär Befriedigung finden. Da Jutta auch durch den erst unlängst zurückliegenden Umzug aus den neuen Bundesländern bedingt in ihrem sozialen Nahraum kontinuierliche und verlässliche Ansprechpartner fehlen, versucht sie den Verlust der für sie wichtigsten Bezugsperson durch intensive, aber häufig wechselnde Freundschaften (entweder mit verschiedenen ‘besten Freundinnen’ oder im Rahmen ihrer Clique) zu kompensieren. Auf dem Hintergrund dieser Lebenssituation und des gleichzeitigen Durchlebens der Pubertät als persönlichkeitsprägenden Entwicklungszeitraum, zeigt sie sich in ihrer geschlechtlichen Selbstdeutung irritiert. Sie beginnt, ihre seit der Zeit der Kindheit von der Umwelt bestärkten und tolerierten ‘jungentypischen’ Seiten in Verbindung mit hoher Aggressions- und Gewaltbereitschaft auszuleben. Jutta sieht sich in diesen sozialen Plazierungsversuchen von männlichen Asylbewerbern bei ihren territorialen Grenzziehungen bedroht und versucht, sich mit den erlernten, immer härter werdenden Kampftechniken im Kampf um ihren Rangplatz, aber auch in Notwehrsituationen (sexueller) Belästigung, denen sie sich als Mädchen gerade von Fremden ausgesetzt fühlt, zur Wehr zu setzen. Zusätzlich reagiert sie auf die an sie gestellten Rollenerwartungen als Mädchen mit Konkurrenzkämpfen um als weiblich stereotypisierte Ressourcen von sozialem Prestige (gut aussehen, chic sein), in denen sie sich durch die mit dem Tod des Familienernährers gefährdete finanzielle Versorgung geschwächt fühlt, und auf die sie mit ausgeprägtem Sozialneid reagiert. Ihre allgemeine politische Desorientierung gibt für solche Ausgrenzungsorientierungen insofern den Rahmen ab, als ihre Uninformiertheit über und ihr Desinteresse an Fluchtursachen von Asylsuchenden die von ihr vorgenommenen Vorwurfshaltungen mit ihren klaren Pauschalisierungstendenzen nicht reflexiv zu korrigieren bzw. modifizieren gestatten. Ihre schlechten schulischen Leistungen drohen ihr außerdem eine berufliche Perspektive zu nehmen. Juttas Fremdenfeindlichkeit und Gewaltbereitschaft sind also Phänomene, deren Bedingungen vor allem in ihrer desolaten familiären Situation zu suchen sind. Sollte Jutta auch zukünftig keine kontinuierlichen Unterstützungsressourcen erhalten, sei es zu Hause, in der Schule oder im Freundeskreis, besteht die Gefahr, dass sie ihre Unzufriedenheit gänzlich auf das Feindbild ‘Asylbewerber’ überträgt und ihre Ungleichbehandlungsforderungen mittels ‘Faustrecht’ durchzusetzen versucht. Johannes 1992 - 1994 „Die meisten (Asylbewerber, d.V.) kommen glaube ich aus - das sind Kurden und so und kommen aus Indien, kommen her und sagen ‘ich Asyl kriegen, Wohnung kriegen, Geld’ und hier die meisten Leute arbeiten das Leben lang und sparen wenigstens ein Jahr lang für’s Auto, die kommen her und sagen ‘ich brauchen Auto’, zack, schon haben sie einen schönen BMW oder Daimler.“ (1992: 24;18 ff) „Die meisten Ausländer, die leben schon wer weiß, wie lange hier, 10, 20 Jahre und so. Ich meine, die haben damals schon geholfen wieder aufbauen, arbeiten hier, zahlen ihre Steuern. Also, das mit der Arbeit wegnehmen, das sind nicht die Ausländer, sondern meistens die Asylanten.“ (1993: 38;4 ff) LVI „Ja, darüber (Arbeitssuche, d.V.) bin ich schon irgendwie benachteiligt, weil dadurch, dass die (Asylbewerber und Aussiedler, d.V.) billiger sind und alles, die wollen halt nicht soviel haben. Die meisten Deutschen oder sonstige Ausländer, was halt schon lange hier leben, die sind halt anspruchsvoller, weil die kennen sich besser aus, die wissen, wie sie hier zu leben haben, weil sie mit dem Geld auskommen müssen und alles. Und die, die neu dazukommen, die wissen ja nicht, was Sachen kosten und so. Die können sich noch kein richtiges Bild machen.“ (1994: 47;9 ff) 1. Objektive Daten zum Lebenskontext im Überblick Johannes, geb. 1979, evangelisch, lebt mit seinem Vater und seinen beiden älteren Brüdern (1992 17 und 20 Jahre alt) in der mittelgroßen Stadt V. (ca. 50.000 Einwohner) im Ballungsgebiet Mittlerer Neckar. Die Familie bewohnt eine 3-Zimmer-Mietwohnung in einem Brennpunktgebiet, das bereits im Industriebereich der Stadt liegt und aus drei großen Wohnblöcken mit jeweils 20 Wohnungen besteht. Johannes besitzt ein eigenes Zimmer. Die Eltern wurden kurz vor dem erstens Interviewtermin geschieden und lebten davor schon seit ca. einem Jahr getrennt. Der Vater hat Hauptschulabschluss und ist als städtischer Arbeiter auf einem Friedhof tätig; die Mutter arbeitet zunächst als Verkäuferin in einer Bäckerei, später als Bedienung in einer Gastwirtschaft. Der mittlere Bruder beginnt nach dem Hauptschulabschluss eine Lehre im Straßenbau, der älteste Bruder absolviert nach einer Ausbildung zum Bäcker die Bundeswehr und arbeitet dann ebenfalls im Straßenbau. Die Familie ist durchschnittlich materiell ausgestattet. Johannes stehen durchgängig 50 DM Taschengeld im Monat zur Verfügung. Während des gesamten Erhebungszeitraums besucht er die Hauptschule des Ortes. Mit seinem Vater ist er Mitglied im Wanderverein. 2. Politische Orientierung 2.1 Allgemeine Orientierung Johannes zeigt sich an aktuellen und politischen Themen im allgemeinen interessiert. 1994 würde er „gehen zur Wahl und würde auch besonders die SPD wählen“ (1994: 54;6 f), weil Scharping in seinen Augen im Gegensatz zu Kohl „sehr viel tun (wird) für Deutschland allgemein“ (ebd. 10). Damit weiß er sich in Übereinstimmung mit seiner Familie (vgl. ebd. 55; 6 ff). 1992 fühlt er sich den Fußballfans, Heavies, Skatern, Bundeswehrfans und Fans von Musikgruppen zugehörig. Hooligans und national eingestellte Gruppen findet er „ganz gut“, während er Raper und Skinheads als „Gegner“ bezeichnet (vgl. Fb. 1992). Interessanterweise bezeichnet er sich 1993 als den vormals als „Gegner“ bezeichneten Rapern zugehörig (und den Fußballfans, Bikern und Streetfightern) und gibt nunmehr neben rechten Jugendlichen und Skinheads auch Heavies als „Gegner“ an. Bundeswehrfans und Wehrsportgruppen findet er „ganz gut“ (vgl. Fb. 1993). 1994 fühlt er sich den Skatern und Technos zugehörig; Umweltschützer, Wehrsportgruppen und Raper findet er „ganz gut“. Als „Gegner“ bezeichnet er nach wie vor Skinheads und rechte Jugendliche und neu Hooligans (vgl. Fb. 1994). 2.2 Ungleichheitsvorstellungen/Gleichheitsvorstellungen im Kontext von Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus Johannes’ politische Ansichten sind 1992 durchsetzt von Ungleichheitsvorstellungen in bezug auf Ausländer im allgemeinen und Asylbewerber im besonderen. Obwohl er mit vielen ausländischen Jugendlichen ( u.a. jugoslawisch, türkisch, spanisch, iranisch, vgl. 1992: 31; 1 ff) befreundet ist und ein Gleichheitspostulat erhebt - „jeder Mensch ist ein Ausländer“ (vgl. ebd. 23;34 ff) -, solidarisiert er sich doch in gewissem Maß mit Gruppierungen, die fordern, alle Ausländer in ihre Heimatländer zurückzuschicken: „Ganz LVII ok find ich’s nicht so arg, aber es ist schon richtig, was sie meinen“ (ebd. 37;17 ff). Er kritisiert eine angebliche Bevorzugung von Einwanderern in der Konkurrenz mit Deutschen in bezug auf wirtschaftliche Ressourcen: „wir suchen vielleicht schon zwei, drei Jahre lang eine Arbeit, eine Wohnung und so, die kommen her, kriegen gleich eine Wohnung, Arbeit, nur weil’s Ausländer sind“ (ebd. 37;20 ff) Weiterhin fühlt er sich durch kulturelle Unterschiede gerade von türkischen Nachbarn belästigt - „grad’ die Türken mit Knoblauch und so, das stinkt dann immer durch’s ganze Haus“ (ebd. 28;33 ff) - und sieht in der Kulturdifferenz einen Grund für mögliche Reibungspunkte und von (türkischen) Migranten ausgehende Gewalteskalationen: „mehr brutal, wenn du jetzt z.B. eine Türkin anmachst, dann musst du sie heiraten, wenn nicht, dann wirst du abgestochen, das stimmt“ (ebd.38;1 ff). Zudem zeigt sich bei der Beschreibung von spaßig gemeinten Wortgefechten, die er sich mit einem türkischen Mitschüler liefert, dass er zumindest latent Türken bestimmte Attribuierungen zuschreibt: „dann sag’ ich, du bist ein grüner Türke, das ist so eine Droge (...). es gibt doch den grünen und den schwarzen Türken oder irgendwie so, das sind ja Drogen, alle Türken sind drogensüchtig“ (ebd. 31;34 ff). Gegenüber Asylbewerbern vertritt er eine nationalistisch anmutende Gesinnung: „weil ich Deutscher bin, weil ich finde, dass die meisten Asylanten wieder raus sollten“ (ebd. 31;19 ff) Dabei greift er bei seiner Begründung einerseits auf Überflutungsargumentationen - „das meiste kommt bloß hierher“ (ebd. 24;14) - zurück, wobei Deutschland im Vergleich mit anderen Nationen in der Rolle des ‘Lückenbüßers’ gesehen wird: „ich hab’ noch nie im Fernsehen gehört, dass sie jetzt nach Frankreich reinkommen, nach Polen, nach Rußland oder woanders“ (ebd.). Andererseits wirft er den Flüchtlingen eine überhöhte Anspruchshaltung vor, die über ein Ausnutzen des Sozialstaates und damit in seinen Augen mit dem Verstoß gegen das Leistungsprinzip zum Erfolg führt: „die kommen her und sagen ‘ich Asyl kriegen, Wohnung kriegen, Geld’, und hier die meisten Leute arbeiten das Leben lang und sparen wenigstens ein Jahr lang für’s Auto, zack, schon haben sie einen schönen BMW oder Daimler“ (ebd. 24;20 ff) In Johannes’ Zitation des ‘gebrochenen Deutsch’ scheint unterschwellig eine grundsätzliche rassistische Unwertigkeitseinschätzung dieser Gruppierung durchzuschimmern. Aus selbst gemachten Erfahrungen und dem Wissen „die kriegen überhaupt keine Arbeitsplätze“ (ebd. 24;35) kombiniert er einen zwar nicht direkt geäußerten, aber zwangsläufig aus seinen Äußerungen folgenden Kriminalitätsvorwurf: „Kurden, die fahren auch immer mit Mountainbikes rum (...), IBM-Computer und alles mögliche, ich möcht nicht gern wissen, woher das ist“ (ebd. 24;39 ff) Anhand zweier Vorfälle, in denen Asylbewerber als Provokateure und Gewalttäter erscheinen, wird ein Gefühl von Unsicherheit und Bedrohung abgeleitet: „einmal hab’ ich bloß mit so einem geredet, dann sind gleich seine drei Brüder gekommen und wollten mich verschlägern (...) Silvester wurde meinem Bruder eine Leuchtkugel-Pistole ins Gesicht gefeuert“ (ebd. 25;29 ff). Den Vorwurf, Störfaktor und Unruheherd zu sein, überträgt Johannes aus seinem eigenen Lebensfeld auch auf den gesellschaftlichen Bereich, wobei die Asylbewerber dann der ‘Tropfen’ sind, der das ‘Faß zum Überlaufen’ bringt: „das ist sowieso der Fehler, das sieht man ja, was in Rostock los ist, dann haben sie eh Not und alles, dann bringen sie da auch noch die Asylanten rein“ (ebd. 23;10 ff). Nicht zuletzt glaubt er seine Ablehnung der Asylbewerber auch durch eine ihnen unterstellte ablehnende Haltung ihm gegenüber auf ‘Gegenseitigkeit’ legitimieren zu können (vgl. ebd. 31;17 ff). 1993 schätzt Johannes sich selbst als „neutral“ (1993: 54;3) ein. Dennoch scheinen sich seine Ungleichheitsvorstellungen in bezug auf Asylbewerber und Aussiedler (die er z.T. nicht als Gruppierungen differenziert, vgl. 1993: 43;11 ff). noch zu verschärfen. Neben den bereits erwähnten Meinungen ist er der Ansicht, dass „denen doch alles in den Arsch LVIII geschoben“ wird (1993: 39;4 f) und fordert stärkere Kontrollen dieser Gruppierungen hinsichtlich möglicher Leistungserschleichung durch staatliche Organe, z.B. Wohnungskontrollen ( vgl. ebd. 15 ff). Er propagiert, dass die Grenzen „mehr dicht“ gemacht werden sollen (ebd.) und einen sukzessiven Abbau der Aufnahmequote: „die sollten die Sache so langsam immer weiter runtersteigern und irgendwann gar nichts mehr“ (ebd. 35 ff). Zudem unterstellt er, dass die meisten „Nazis“, „Polacken“ und „Russen“ seien (ebd. 54;11). Nach seiner eigenen Einschätzung hat sich seine Einstellung gegenüber Ausländern aufgrund der fremdenfeindlichen Anschläge in Rostock, Mölln und Solingen allerdings - wohl nicht ganz ohne Angst vor Gegenwehr - grundlegend geändert: „“Das (Mölln, d.V.) hat mir gar nicht gefallen. Weil ich denke, das könnte jedem passieren. Da könnten jetzt beispielsweise mal Türken kommen und würden bei Deutschen einen Anschlag machen“ (ebd. 42; 34 ff). Johannes zeigt explizit keine nationalistischen Ressentiments mehr gegenüber Ausländern: Weder zeigt er Ängste im Hinblick auf ein mögliches ‘Aussterben’ der Deutschen - „jeder Deutsche wird irgendwann mal heiraten, wird mal ein paar Kinder bekommen, dann sind schon wieder ein paar Deutsche da“ (ebd. 45;35 ff) - noch vor einer Vermischung der verschiedenen Völker: „Z.B. vom Deutschen und Türken, da gibt es halt gemischt, das macht gar nichts aus“ (ebd. 46;2 f). Er betont nunmehr die Wichtigkeit der ausländischen Arbeitskräfte (speziell der Türken) für den Wiederaufbau Deutschlands und die gegenwärtige Wirtschaft, wobei jedoch Ungleichheitsvorstellungen im Hinblick darauf anklingen, dass Deutschland die Ausländer vornehmlich zur Verrichtung niederer Arbeiten benötigt: „Ohne Ausländer könnten wir Deutschland auf gut Deutsch vergessen. (...) 90 % der Türken haben geholfen, Deutschland überhaupt wieder richtig nach dem Krieg aufzubauen. Die helfen wenigstens, die Ausländer. Weil ich glaube nämlich nicht, dass ein deutscher die Courage hätte, bei der Müllabfuhr zu arbeiten. Der wäre sich viel zu fein dafür.“ (ebd. 37;17 ff) Vor dem Hintergrund der Delegation minderwertigerer Arbeiten an Gastarbeiter läßt sich wohl auch seine Befürchtung verstehen, dass Deutschland zur Hälfte „leer stehen“ (ebd. 33 ff) würde, wenn man die Ausländer in ihre Heimat zurückschickte. Hinsichtlich wirtschaftlicher Ressourcen sieht Johannes nach wie vor die Deutschen sowohl gegenüber Asylbewerbern als aber auch anderen Ausländern als benachteiligt an. Seiner Meinung nach kommen bei der Stellenvergabe „zuerst die Asylanten, dann die normalen Ausländer und dann erst wir Deutschen“ an die Reihe (ebd. 38; 28 ff). Darauf angesprochen, dass Asylbewerber doch zunächst gar nicht arbeiten dürfen, erhebt er den Vorwurf: „da wird viel Schwarzarbeit gemacht“ (ebd. 36). In seinem Bemühen, Arbeitsmigranten und Asylbewerber in eine zu akzeptierende und eine nicht zu akzeptierende Gruppierung zu differenzieren, solidarisiert er sich mit den Gastarbeitern, indem er sie ebenfalls als Opfer der angenommenen Alimentierung und Anspruchshaltung der Asylsuchenden beschreibt: „ Die meisten Ausländer, da kenne ich auch ein paar Leute, (...) da arbeitet die ganze Familie (...), und die zahlen auch Steuern, für was? Wir zahlen die Steuern, und die (Asylbewerber, d.V.) bekommen das. Auf gut Deutsch gesagt, wir arbeiten für die. Sozusagen sind wir die Sklaven“ (ebd. 40; 14 ff) Johannes befürwortet das Wahlrecht für (gastarbeitende) Ausländer, jedoch würde er ihnen nicht unbedingt die deutsche Staatsbürgerschaft zuerkennen (vgl. ebd. 45;26 ff). Trotzalledem schwingen in vielen seiner Äußerungen noch immer Ressentiments gegenüber Ausländern in bezug auf Kulturdifferenz - er will z.B. keine türkische oder italienische Freundin (vgl. ebd. 46;10 ff) - oder sexuelle Konkurrenz mit - er ist z.B. der Meinung, dass viele Ausländer eine deutsche Frau haben (vgl. ebd. 40;11). 1994 bezeichnet Johannes seine politische Einstellung als ‘links’: „Ich bin mehr für die Ausländer als für die Rechtsradikalen. (...) Die Linken sind für Ausländer und gegen Nazis“ (1994: 56;11 ff) LIX Für dieses Anliegen ist er auch bereit, aktiv zu werden: „meine ganzen Kumpels, wir wollen uns jetzt alle T-Shirts bestellen, wo drauf steht ‘Mein Freund ist Ausländer’ oder (...) ‘Gebt Nazis keine Chance’“ (ebd. 56;17 ff). Außerdem hat er an einer Demonstration gegen die Republikaner teilgenommen (vgl. ebd. 55;23 f). Im Hinblick auf ein von ihm angenommenes vermehrtes Aufkommen von Rechtsradikalismus vertritt er eine Art ‘OstImport-Theorie’: „weil gerade von der ehemaligen DDR drüben, sind viele Rechtsradikale aus Berlin“ (ebd. 50;2 ff). Obwohl er einerseits Asylbewerber und Aussiedler nicht mehr als Konkurrenten um einen Arbeitsplatz ansieht, weil er glaubt, dass bei der Einstellung die individuelle Qualifikation des Bewerbers entscheidend ist (vgl. ebd. 44;35 ff), fühlt er sich doch benachteiligt, weil er keinen Ferienjob bei der Stadtgärtnerei bekommen hat. Seiner Ansicht nach stellt die Stadt aus Kostenspargründen lieber Aussiedler ein (vgl. ebd. 44;16 ff). Anders als in den Vorjahren wirft er Asylbewerbern und Aussiedlern aber nicht mehr die bewußte Ausnutzung unseres Sozialstaates vor, sondern glaubt, dass diese Gruppierungen wegen ihrer eigenen Unwissen- bzw. Unerfahrenheit selber zu Ausgenutzten des Staates werden: „Aussiedler oder Asylanten oder Asylbewerber, weil die es nicht so wissen, wieviel man normalerweise verdient in dem Beruf oder so, nehmen die, die arbeiten nämlich viel, weil sie denken, um so (mehr) sie arbeiten, um so mehr bekommen sie, und die sind halt billiger“ (ebd. 46;34 ff) Zudem nimmt er neben dem latenten Verweis auf den Fleiß der genannten Gruppierungen („die arbeiten nämlich viel“) an anderer Stelle implizit auch den vormals gemachten Vorwurf einer zu hohen Anspruchshaltung - hier zumindest in Hinsicht auf Verdienst- und Konsumerwartungen - zurück, indem er behauptet: „Deutsche oder sonstige Ausländer, was halt schon lange hier leben, die sind halt anspruchsvoller“ (ebd. 47;12 f). 2.3 Gewaltakzeptanz 1992 zeigt Johannes Gewaltakzeptanz hauptsächlich im privaten, personalen Bereich. Zudem billigt und propagiert er staatliche (Polizei-)Gewalt zur Vermeidung von Verbrechen. Er sieht sich selbst als Typ, bei dem „die Faust ziemlich locker sitzt“ bzw. der immer „ausrasten“ könnte, „wenn mich einer schief anschaut“ (vgl. Fb. 1992). Dabei spielt wohl teilweise ein Wunschdenken in Richtung idealisierter und harter Männlichkeit mit, zumal er sich von massiveren Formen der körperlichen Auseinandersetzung distanziert: „das finde ich auch scheiße, schon vom Fußball her, wenn sie sich nur wegen dem Fußball umbringen und Schlägereien (...), also ich mag Gewalt nicht haben“ (1992: 38;17 ff). Der scheinbareWiderspruch zwischen seiner Einschätzung der Hooligans als „ganz gut“ (Fb. 1992) einerseits und als „die schwierigsten Gegner“ andererseits wird anscheinend durch die Aufspaltung in die Ablehnung von Brutalität - was wahrscheinlich auch für die Ablehnung der Skins (Fb.) auschlaggebend ist - und die Billigung der Gesinnung aufgelöst: „Die (Hools, d.V.) sind auch wie Nazis, sind stolz auf’s Vaterland, wollen’s Vaterland reinhalten“ (1992: 37;3 ff). Die Ablehnung massiver Gewalt ist allerdings auch den wahrscheinlich zum Teil auf seiner eher zierlichen Körperstatur (s.u.) basierenden - eigenen Bedürfnissen nach Unversehrtheit und Schutz geschuldet: „Da bin ich abgehauen, das war mir zu gefährlich“ (ebd. 38;28 ff). Gemäßigteren Gewaltformen scheint er nicht abgeneigt zu sein: „ich rauf’ mehr“ (ebd. 38;31). Dies bezieht er auf z.T. gezielt aufgesuchte und inszenierte Cliquenauseinandersetzungen (s.u.), in denen Gewalt zum Faktor einer attraktiven und erlebnisbetonten Freizeitunternehmung wird: „grad’ in der Disco, da gab’s auch schon oft Schlägereien, da gehen wir hin, ja, da machen wir ein bißchen Krawalle, Schlägerei, nur damit wir auch mal einen kleinen Spaß haben“ (ebd. 38;34 ff) LX Solche Konfrontationen im Freizeitbereich verharmlost er und bezeichnet sie als „Rauferei“ (ebd. 40;18). Dies scheint auch aus dem Wissen zu resultieren, dass ein entsprechendes Verhalten in anderen Lebensbereichen negative Konsequenzen nach sich ziehen könnte: „in der Arbeit und von Berufs wegen, in der Schule, da find’ ich’s schlecht, weil wenn man jetzt in der Arbeit nur Probleme hat und das mit der Faust regelt, das kann sein, dass er da entlassen wird, in der Freizeit, da macht’s ja nichts aus, das ist ja Kinderstreit“ (ebd. 40;31 ff) Im schulischen Umfeld gehört Gewalt für ihn ebenfalls durchaus zum Alltag (vgl. ebd. 41;12 ff). Da dort wohl des öfteren jüngere Schüler von älteren bedroht werden, hält er es für legitim, ein Messer zur Verteidigung bei sich zu tragen: „Wenn man so Waffen hat zur eigenen Verteidigung, das ist schon in Ordnung, weil wenn jetzt so ein Großer kommt (...) mit dem Messer oder irgendwas (...), also ich selber hab’ nur manchmal ein Messer bei mir“ (ebd. 34;26 ff) Ähnlich stellt er auch seine in früheren Zeiten in einem Boxverein angeeigneten Fähigkeiten in ihren defensiven Aspekten heraus: „Verteidigung, wie man sich hinstellen muss, die Abdeckung, Schläge antäuschen“ (ebd. 42;13 ff). Gewalt hat bei Johannes also einen wichtigen Stellenwert als Mittel, sich zur Wehr zu setzen und als Signal an andere, sich aus Konfrontationen herauszuhalten, aber auch, um Provokationen und ‘ungerechtfertigte’ Kritik zu bekämpfen: „wir sind ja dann mehr als genug, und dann würde ein Erwachsener auch nicht viel Chancen haben (...), wenn wir zusammen sind, dann lassen wir uns von Erwachsenen, wenn wir uns schlägern und so, wenn uns die (andere Jugendliche, d.V.) provoziert haben, dann lassen wir uns von denen nichts in die Schuhe schieben“ (ebd. 39;5 ff). Das dabei anklingende Stärkeprinzip als selbstverständliche Begründung von Gewalt kommt auch bei der schon geschilderten Bedrohungssituation durch einen jugendlichen Asylbewerber und seine Brüder zum Tragen, in der Johannes ebenfalls seine Brüder zur Hilfe geholt hat: „Dann sind die auch gekommen, haben extra noch einen mitgebracht, und dann haben sie alle vier Schläge bekommen“ (ebd. 25;36). Zudem rechtfertigt er Gewalt als Erziehungsmittel, z.B. zur ‘Umerziehung’ der Hooligans: „irgendwas hinkriegen, damit sie nicht mehr so brutal sind, ihnen irgendwie mal eine richtige Lektion erteilen, z.B. mal einen richtigen Stromschlag verpassen, Gehirnwäsche“ (ebd. 36;33 ff). Im Hinblick auf fremdenfeindliche Übergriffe schwingt bei Johannes trotz seiner o.a. Ablehnung massiver Gewaltformen doch zumindest latent eine Billigung oder Verharmlosung („halt“) der Gewalttaten mit, indem er die Motive der Täter nicht explizit verurteilt und ihnen an anderer Stelle (s.o.) sogar teilweise Recht gibt: „Das sind ja gerad’ die Nazis, die Skinheads (in Rostock, d.V.), die wollen das halt nicht so, dass hier die ganzen Ausländer reinkommen“ (ebd. 23;26 ff). Am Beispiel eines durch Hooligans ausgelösten Konfliktes zeigt sich, dass er neben der geschilderten Verharmlosung („bißle“) die eingesetzte Gewalt wohl durchaus als begründet und erfolgreich ansieht: „da haben sie jetzt auch in der Nähe vom Neckar-Stadion viele Asylantenheime hin, und da haben auch Hooligans (...), haben sie den Bau gestoppt, haben sie da ein bißle randaliert“ (ebd. 25;16 ff). Johannes akzeptiert zudem direkte Gewalt staatlicher Organe zur Verbrechensbekämpfung (vgl. ebd. 27;28 ff). Er ist der Ansicht, dass es in Deutschland ein bißchen „straffer“ zugehen sollte (vgl. Fb. 1992) und befürwortet eine stärkere Präsenz und ein härteres Durchgreifen der Polizei (vgl. ebd. 27;16 ff). Da er die Polizei aber aufgrund einer in seinen Augen ungerechtfertigten Behandlung seines Bruders im Rahmen einer Bußgeldangelegenheit auch als „Halsabschneider“ (ebd. 32;11 f) begreift, würde er persönlich auf sie nur im äußersten Notfall zurückgreifen: „höchstens, wenn’s mit Waffengewalt geht, dann würde die Polizei höchstens noch einsetzen, aber sonst würde ich meinem Bruder sagen, dass der das macht“ (ebd. 33;3 ff). 1993 scheint Johannes’ Gewaltakzeptanz im privaten personalen Bereich abzunehmen. Nach eigenen Angaben versucht er, Situationen, in denen es zu (gewaltförmigen) LXI Normüberschreitungen kommen könnte, zu vermeiden, was ihm unter dem Einfluss seiner Freundin, mit der er seit vier Monaten befreundet ist, auch weitgehend zu gelingen scheint: „Ich bin halt jetzt nicht mehr so arg mit Freunden zusammen, was zu viel Scheiße bauen. Das liegt auch daran, dass ich jetzt eine Freundin habe“ (1993: 29;15 ff) Zwar hat er sich zu Silvester eine (Leucht- ?)Pistole gekauft, aber er hat sie aus eigenem Antrieb seinem Vater zur Aufbewahrung anvertraut (vgl. ebd. 25 ff). Ein Messer führt er ebenfalls nicht mehr mit sich. Dies mag dem Umstand geschuldet sein, dass er zwei Jahre lang die Selbstverteidigungssportart ‘Wing Tsung’ trainiert hat und sich aufgrunddessen in der Lage sieht, sich auch ohne Waffengewalt bei Angriffen verteidigen zu können (vgl. ebd. 30;11 ff). Um - nicht zuletzt aus kalkulatorischen Gründen - Konfrontationen zu vermeiden, erzählt er den anderen Jugendlichen nichts von seinen speziellen Fähigkeiten: „Da provozieren sie dich noch mehr, dass du denen was machst, und dann denken sie, ‘ach Scheiße gut, wenn der mir jetzt eine reinhaut, zeige ich ihn an, dann bekomme ich noch Schmerzensgeld’“ (ebd. 32;18 ff). Trotzdem kommt es auch mit seinen jetzigen Freunden zu von ihnen aktiv provozierten gewalttätigen Auseinandersetzungen mit anderen Jugendlichen: „Einfach geht man auf einen zu, rempelt ihn an, wenn er irgendwas sagt, dann hauen wir ihm eine auf die Fresse und fertig“ (ebd. 36;6 ff) Die ausländerfeindlichen Anschläge in Mölln, Solingen und Rostock haben ihn - wie schon erwähnt - sehr betroffen gemacht und er distanziert sich mit dem Verweis auf die Wichtigkeit eines Menschenlebens davon (vgl. ebd. 42;17 ff). Desgleichen bewertet er die Gegenreaktion der jugendlichen Türken auf den Anschlag in Solingen als „übertrieben“ und „überflüssig“ (vgl. ebd. 44;28 ff). Zur Vermeidung von Ausländerfeindlichkeit hält er den Einsatz von türkischen Polizisten für hilfreich (vgl. ebd. 45;1 ff). Johannes Gewaltakzeptanz - respektive Reaktanz - scheint 1994 weiter abzunehmen. Er selbst gibt an, dass er - auch aufgrund altersbedingter Reifungsprozesse - „lockerer“ (1994: 14;38) geworden sei und bei potentiellen Konflikten toleranter reagiere: „wenn mich dann einer nur dumm angeredet hat, dann haben wir uns vielleicht eins auf die Fresse gehauen und jetzt nicht mehr so, jetzt frage ich einfach, was das soll und rede mit ihm. Wenn er dann Streß anfängt, dann wehre ich mich halt und fertig aus“ (ebd. 15;1 ff) Konfliktauslöser sind für ihn aber immer noch verbale Angriffe gegen seine Familie (z.B. „meine Mutter wäre eine Schlampe“; 1994:15;33 f) und zusätzlich ‘Anmache’ seiner Freundin (vgl. ebd. 17;18 ff), auf die er - vermutlich resultierend aus seiner noch immer vorhandenen Orientierung an traditionellen Männlichkeitsidealen - gewalttätig reagiert. Neben privaten Verwicklungen in gewalttätige Auseinandersetzungen (vgl. ebd.) scheint es auch im Cliquenzusammenhang noch zu Normüberschreitungen zu kommen (vgl. ebd. 52;6 ff). Sein erhöhter Anpassungswillen ist vermutlich im wesentlichen auch dem Umstand geschuldet, dass er nach eigenen Angaben des öfteren mit der Polzei zu tun hatte, wo er sich wegen (angeblich begangener ?) Normüberschreitungen, z.B. Körperverletzung (vgl. ebd. 17;18 ff), verantworten musste. Bei dem zuständigen Jugendsachbearbeiter war er „sozusagen schon ein Stammkunde“ (ebd. 20;29). Neben seinem Kosten-Nutzen-Denken im Hinblick auf negative Konsquenzen für seine Zukunft trugen auch die Verärgerung seines Vaters und dessen Androhung von Sanktionen (vgl. ebd. 21;5 ff) und die ablehnende Haltung seiner Freundin hinsichtlich seines Verhaltens dazu bei, dass Johannes ernsthaft versucht, sich anzupassen: „Meiner Freundin hat es auch nicht gefallen, wie ich gewesen bin, und dann ändert man sich schon, und den Eltern gefällt es schließlich auch nicht, wenn man da irgendwie so drauf ist, mit Knarre herumrennt“ (ebd. 16;13 ff) Seine Veränderung beschreibt er mit einem gewissen Stolz: „Damals hatte ich einen Scheiß-Charakter, weil ich mit Leuten, was mich aufgeregt haben, geredet, ‘ach, halt doch die Fresse’ und lauter so, ‘verpiß dich doch’. So bin ich halt heute nicht mehr (...), das sagt auch gerade die S. ( ehemalige Freundin, d.V.), (...) sie kann jetzt LXII sogar besser mit mir reden als damals (...). Auch Leute, mit denen ich über ein halbes Jahr, ein Jahr keinen Kontakt mehr hatte, sogar die haben es gesagt, ich habe mich ganz schön verändert“ (ebd. 27;24 ff) Noch immer billigt und propagiert er staatliche (Polizei-) Gewalt und fordert unter Hinweis auf vermehrte Drogenkriminaltät stärkere Kontrollen und höhere Strafen (vgl. ebd. 52;36 ff), was unter anderem seiner Angst vor ‘amerikanischen Verhältnissen’ und der damit einhergehenden Bedrohung des Einzelnen geschuldet zu sein scheint (vgl. ebd. 16;19 ff). 3. Zusammenhang der politischen Orientierung mit sozialen Erfahrungen und Erfahrungsstrukturierung 3.1 Erfahrungen und Bearbeitungsressourcen 3.1.1 Problembelastungen und zentrale Interessenlagen 1992 gibt Johannes als zentrales Problem „Ärger mit älteren Jugendlichen“ an (vgl. Fb. 1992). Dabei hat er vermutlich einerseits die erwähnten Cliquen-Auseinandersetzungen im Blick, andererseits könnte diese Aussage das Bewußtsein seiner eigenen körperlichen Unterlegenheit und einer damit einhergehenden eher ohnmächtigen Position in Konfliktsituationen wiederspiegeln: „Wenn ich so bin wie ich, dann kann’s leicht passieren, dass ich mal eine drauf kriege“ (1992: 12;36 ff) 1993 stellt seine „weitere Lebensplanung“ eine Belastung für ihn dar (vgl. Fb. 1993). Dies scheint aus einer gewissen Unsicherheit, sich für einen Beruf zu entscheiden, zu resultieren. Seine weitere Lebensplanung belastet ihn auch noch 1994 (vgl. Fb.). Die ihm im Vorjahr angebotene Möglichkeit, eine KFZ-Mechanikerlehre zu absolvieren (vgl. 1993: 25;23 ff) besteht von seiten des betreffenden Betriebes nicht mehr. Zudem nimmt Johannes an, dass sein Hauptschulabschluss nicht besonders gut ausfallen wird, so dass er sich für ein Berufvorbereitungsjahr angemeldet hat, um seinen Notendurchschnitt möglichst noch zu verbessern und somit bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben. Desweiteren gibt er „Streß in der Nachbarschaft“ an, was vermutlich den vormals begangenen Normüberschreitungen im Cliquenzusammenhang und seinem ‘einschlägigen’ Ruf (s.o.) geschuldet zu sein scheint. Die mit der Trennung der Eltern verbundene Problembelastung scheint Johannes überwunden zu haben, zumindest äußert er diesbezüglich keinen Leidensdruck. Allerdings zeichnet sich vermutlich als Folge der früheren elterlichen Streitereien ein Bedürfnis nach Harmonie und Konfliktvermeidung ab (vgl. 1992: 17;32 ff und s.u.). 3.1.2 Erfahrungen im sozialen Nahraum und seine sozio-emotionalen Ressourcen Trotz der Trennung der Eltern bietet die Familie Johannes - wenngleich er auch für lange Phasen (hauptsächlich nachmittags) auf sich allein gestellt ist - einen soliden emotionalen und materiellen Rückhalt. Dabei erfüllen sowohl der Vater als auch die Brüder Vorbildfunktionen (vgl. 1992: 10;27 ff und 19;29 ff) bzw. bieten sich als Gesprächs- und Unternehmungspartner an. Auch zu der Mutter, die ihn und den Rest der Familie regelmäßig besucht, hat er ein gutes Verhältnis (ebd. 9;20 ff). So fühlt er sich durchgängig von beiden Elternteilen und den Brüdern akzeptiert und meint, mit ihnen über persönliche Probleme reden zu können (außer 1993), fühlt sich bei allen Familienmitgliedern geborgen und bekommt tatkräftige Unterstützung in Notfällen (vgl. Fb.). Insgesamt wird durch Johannes’ Familiensituation die für Jungen eher typische Situation des Versorgtwerdens bei gleichzeitigem Einräumen größerer Freiräume ergänzt in Richtung realer Mitverantwortung und tätiger Mithilfe im Haushalt, so dass er bereits 1992 ein großes Maß an Selbständigkeit besitzt und dementsprechend Anerkennung durch die Familie erfährt. Mit den schulischen Anforderungen kommt Johannes durchgängig im großen und ganzen zurecht, nicht zuletzt, weil er die generelle Funktion der Schule als Bildungvermittlerin und damit als Berufsvorbereitung bejaht (vgl. 1992: 43;38 ff). 1993 verschlechtern sich seine LXIII Noten zunächst, doch verwendet er 1994 im Hinblick auf seinen Abschluss wieder mehr Zeit zum Lernen, so dass sich sein Notendurchschnitt zwischen befriedigend und ausreichend einpendelt. Obwohl er zumindest 1992 der einzige Deutsche in der Klasse ist, scheint er sich in seiner Klassengemeinschaft wohlzufühlen (vgl. 1992: 13;11 ff). !992 ist Johannes’ Freundeskreis analog seiner Schulsituation und seiner Wohnlage (s.u.) hauptsächlich von ausländischen Jugendlichen geprägt. Die häufigste Gesellungsform ist für ihn die Clique, in der auch sein bester Freund (vgl. 1992: 33;29 ff) Mitglied ist. Die subkulturelle Ausrichtung der jungen-dominierten Clique ist homogen: „Wir sind alles bloß Heavies“ (ebd. 35;13). Als gemeinsames Emblem haben viele Mitglieder eine Schlange (anscheinend der Heavy-Metall-Band ‘Metallica’ entlehnt) oder auch ein Kreuz eintätowiert (vgl. Memo). Verbindendes Muster innerhalb der Gruppe sind spannende und riskante Aktivitäten, die sich oftmals im Bereich von Normübertretungen bzw. körperlichen Auseinandersetzungen mit anderen Jugendlichen bewegen (s.o.). Neue Mitglieder werden Mutproben unterzogen (vgl. 1992: 48;40 ff). Insgesamt dient die eigene Clique als Rückhalt und Unterstützungspotential in z.T. zu Wettkampfsituationen stilisierten Konfrontationen (s.o.). Obwohl der Cliquen-Treffpunkt auch den „Nazis“ (ebd. 22;20) als beliebter Aufenthaltsort dient, verneint Johannes Konflikte mit dieser Gruppe: „Wir kommen miteinander aus - wir hören ja auch z.T. die gleiche Musik“ (Memo). 1993 hat Johannes sich von der erwähnten Clique, die sich jetzt ‘Getto-Comben’ nennt und die er als ‘Gang’ bezeichnet, weitgehend distanziert, weil dies seiner Meinung nach zu brutal geworden sind: „die rennen alle mit Pistolen rum“ (1993: 33;3 f). Er trifft sie noch in der Schule. Er selbst ist jetzt Mitglied der ‘Getto-Gang’, die aus fünf bis sechs Jugendlichen seines Alters besteht und seiner Meinung nach nicht „so viel Scheiße“ macht wie die ‘Getto-Comben’ (ebd. 34;7 ff). Als gemeinsames Emblem ist ein Fadenkreuz geplant (ebd.). Johannes bezeichnet sich und seine Freunde nunmehr als „Raper“, zu dem er ganz „spontan“ geworden ist, weil ihm diese Stilrichtung besser gefiel (1993: 36;22 ff). Noch immer kommt es im Cliquenzusammenhang zu Normübertretungen (vgl. ebd. 36;6 ff). Seit vier Monaten hat er eine mazedonische Freundin, mit der er sich gut versteht. Er meint von ihr Akzeptanz, Geborgenheit sowie tatkräftige Unterstützung zu bekommen und kann mit ihr über persönliche Probleme sprechen (vgl. Fb. 1993). 1994 ist Johannes mit zehn bis fünfzehn „Kumpels“ ganz „normal“ zusammen: „Wir sind nicht irgendwie so eine Gang“ (1994: 28; 1 ff). Insgesamt scheint er nicht mehr häufig in (gewalttätige) Normüberschreitungen verwickelt zu sein (s.o.). Die Beziehung zu seiner letztjährigen Freundin besteht nicht mehr, er hat jetzt eine neue gleichaltrige deutsche Freundin, die die benachbarte Realschule besucht. Auch von ihr bezieht er Akzeptanz, Geborgenheit sowie tatkräftige Unterstützung und kann mit ihr über persönliche Probleme sprechen (vgl. Fb. 1994). In seiner Freizeit nutzt Johannes sowohl jugendspezifische Räume (z.B. das örtliche Jugendhaus), die von Erwachsenen betreut werden, als auch kommerzielle Freizeiteinrichtungen. Daneben treibt er durchgängig hobbymäßig Sport. 1994 werden die regelmäßigen Aktivitäten mit den jeweiligen Cliquen durch den Umgang mit neuen Freunden abgelöst, wobei in der Freizeit nunmehr eine Tendenz zu Unternehmungen im privaten Bereich abzulesen ist (z.B. Privatparties, gemeinsames Sport-Sehen im Fernsehen; vgl. 1994: 1;29 und 8;9 ff). Johannes Nachbarschaft und Wohnumfeld ist vom Stadtzentrum, der Schule und dem Jugendhaus ca. einen Kilometer entfernt und liegt mitten in einem Industriegebiet. In den drei Blöcken der Wohnanlage leben insgesamt ca. 360 Menschen, davon sind nach Johannes Angaben nur drei Familien deutsch (1992: 28;21 ff). In direkter Nachbarschaft existiert ein Asylbewerberheim. Einziger ‘Lichtblick’ der Anlage ist ein kleiner Kinderspielplatz mit integriertem Bolzplatz und Tischtennisplatten. Trotz des schlechten Rufes des Wohnviertels (vgl. 1994: 24;7 ff), fühlt Johannes sich dort durchgängig wohl und meint, „dass man da gut leben kann“ (ebd. 28). 1992 führt er als Positivum an, dass er LXIV „fast alle Kinder“ dort kennt (ebd. 31;12 f). Dennoch meidet er aus Angst vor Übergriffen bestimmte Plätze des Wohnumfeldes (vgl. 1992: 21;18 ff und 22;5 ff). Sein Sicherheitsbedürfnis zeigt sich auch daran, dass er die Kasernen in seinem direkten Wohnumfeld als Schutz begreift und begrüßt: „das find’ ich extra sicherer, wenn die Armee da ist (...) wenn ein Luftangriff kommt“ (1992: 29;25 ff). Als Verbesserung wünscht er sich eine Fahrradrennstrecke (ebd. 30;22 ff). Infolge der größeren Entfernungen entwickelt Johannes schon 1992 eine große Mobilität ( vgl.ebd. 21;21 ff). 3.1.3 Medienrezeption und sonstige Ressourcen politisch relevanter Information Während Johannes 1992 noch angibt, „regelmäßig“ die Tagesschau zu sehen (vgl. Fb. 1992), richtet sich die Auswahl der von ihm rezipierten Medien in den Folgejahren hauptsächlich nach deren Unterhaltungswert. In der Familie wird über aktuelle Themen gesprochen (vgl. 1992: 15;2 ff), wobei er sich aktiv an den Gesprächen beteiligt. Dabei vertritt er seine Meinung auch dann, wenn er sich nicht mit den Erwachsenen in Übereinstimmung befindet (vgl. 1994: 27;12 ff). Der NS-Unterricht in der Schule interessiert ihn weniger, weil er sich aus eigenem Antrieb mit Hilfe von Schallplatten und Büchern über das ‘Dritte Reich’, die seinem Vater gehören, schon mit dieser Geschichtsperiode beschäftigt hat und auch mit seinem Großvater darüber spricht, der diese Zeit miterlebt hat (vgl. 1993: 49;33 ff). Johannes akzeptiert den von den Nationalsozialisten begangenen Völkermord als Tatsache, jedoch gibt er die Schuld an diesem Verbrechen nicht Hitler, sondern Göbbels (vgl. 1992: 23;4 ff). Dies korrespondiert mit seiner eigenen - zumindest 1992 - nationalistischen Einstellung und seiner gleichzeitigen Ablehnung massiver Gewalt. Wenn er Hitler von den Gewaltverbrechen freispricht, kann er sich mit dessen politischen Zielen zumindest ein Stück weit identifizieren. 3.1.4 Erfahrungen mit und Ressourcen von gesellschaftlicher und politischer Teilhabe Johannes besucht durchgängig das Jugendhaus des Ortes, wo er ein gerngesehener Gast ist, weil er häufig aktiv bei anfallenden Arbeiten hilft (lt. Angabe des dortigen Jugendarbeiters). 1993 wird er konfirmiert. Dieses Fest bedeutet ihm aus religiösen Gründen nichts, jedoch begrüßt er es als willkommenen Anlass, die ganze Verwandtschaft auf einmal wiedersehen zu können (vgl. 1993: 8;33 ff). 1994 nimmt er an einer Demonstration gegen die Republikaner teil. Im Hinblick auf seine berufliche Zukunft möchte Johannes einen möglichst guten Hauptschulabschluss machen, um die für ihn bestmöglichen Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben. 1994 meldet er sich für ein Berufsvorbereitungsjahr an, um dadurch seine zu erwartenden (unter-)durchschnittlichen Noten im Abschlusszeugnis noch zu verbessern. Wenn er keine andere Lehrstelle bekommt, möchte er das Angebot des Chefs seines Bruders annehmen, eine Ausbildung als Baugeräteführer bei ihm zu absolvieren (vgl. 1994: 45;11). Des weiteren will er sich für vier Jahre bei der Bundeswehr als Pilot verpflichten, u.a. weil ihn „Fliegen und Schießen, einfach das ganze technische Gerät“ (1994: 11;6 ff) interessieren. 3.2 Kategorien, Kompetenzen und Mechanismen der Erfahrungsstrukturierung 3.2.1 Zentrale Bezugspunkte sozialer Identität Obwohl Johannes 1992 angibt, „nicht stolz“ (1992: 33;22) auf seine deutsche Nationalität zu sein, wird anhand seiner o.a. Ungleichheitsvorstellungen und Ausgrenzungsversuche in bezug auf Ausländer und besonders Asylbewerber sowie Aussiedler doch deutlich, dass er Deutschland zumindest latent als kulturelle und enthnische Heimat begreift. Zudem identifiziert er sich anscheinend mit Deutschland als Wohlstandsstaat, der durch die seiner Meinung nach ungerechtfertigte Alimentierung und Anspruchshaltung der Asylbewerber und Aussiedler gefährdet wird. Im Laufe des Untersuchungszeitraumes verlieren sich LXV zunächst seine nationalistischen Ausgrenzungsversuche im Hinblick auf Arbeitsemigranten, allerdings nicht ohne den Hinweis auf die Bereitschaft dieser Gruppierung, auch minderwertige Arbeiten zu verrichten (s.o.). 1994 lassen auch die Schuldzuweisungen in Richtung Asylbewerber und Aussiedler nach. Obwohl Johannes sich in der Konkurrenz um wirtschaftliche Ressourcen gegenüber dieser Gruppierungen noch immer im Nachteil sieht, gibt er als Ursache für deren vermeintliche Bevorzugung deren Unwissenheit und Anspruchslosigkeit und den Sparwillen der Stadt/des Staates an (s.o.). Sein regionaler und lokaler Sozialraum bedingt durch die in ihm vorherrschende Bevölkerungsstruktur (s.o.), dass Johannes in seiner Freizeit, in der Schule und Nachbarschaft hauptsächlich mit (jugendlichen) Ausländern zusammentrifft. Dies zieht einerseits die Notwendigkeit nach sich, sich mit diesen Menschen zu arrangieren, will er in Schule und Freizeit einen freundschaftlichen oder zumindest friedlichen Umgang mit ihnen haben. Durch das enge Zusammenleben wird aber vermutlich andererseits auch kulturellen Vorurteilen und Bedrohtheitsgefühlen sowie evtl. Ver- bzw. Bedrängungs- und Überflutungsängsten Vorschub geleistet. Die (berechtigte) Angst vor Übergriffen scheint mit ein Grund für seine hohe Akzeptanz staatlich ausgeübter (Polizei-)Gewalt zu sein. Johannes Sozialstatus scheint insoweit Einfluss auf seine politischen Ansichten zu haben, als er sich in seiner Sorge um einen späteren Arbeitsplatz und der empfundenen Konkurrenz mit o.a. Gruppierungen niederschlägt, weil er aufgrund seines Schulabschlusses später in ähnlichen Berufsfeldern tätig sein wird wie diese. Sein geschlechtsspezifisches Verhalten scheint über die Orientierung an traditionellen Männlichkeitsidealen wie Wehrhaftigkeit, Dominanz(streben) und Kumpelhaftigkeit unter Männern prägend auf seine hohe Gewaltakzeptanz im privaten personalen Bereich zu wirken. Die jungen-dominierte Clique wird dabei zum schützenden Rahmen, in dem aktiv aufgesuchte, bewußt inszenierte (kollektive) gewalttätige Konfrontationen ausgelebt werden können, deren emotionalen Höhepunkten Aspekte des Erlebens von Risiko, Abenteuer und Faszination innewohnen. Zudem kann Johannes über die Demonstration eines entsprechenden Verhaltens Anerkennung und Akzeptanz von seiten der Clique erhalten und bewahren. Seine zunächst eher ‘schwächliche’ Körperstatur führt offensichtlich häufig dazu, dass er versucht, Gewalt zu vermeiden, wenn eine potentielle Gefahr für seine körperliche Unversehrtheit besteht. Im Laufe seiner körperlichen und biographischen Entwicklung gewinnt die partnerschaftliche Beziehung zu Mädchen für ihn an Bedeutung. Nach seinen eigenen Aussagen scheint es u.a. dem Einfluss seiner beiden Freundinnen geschuldet zu sein, dass seine personale Gewaltakzeptanz bis 1994 abnimmt. Zudem bewirkt seine durch motorisierte Freunde und Brüder gewonnene Mobilität (vgl. 1993: 27;1 ff) vermutlich, dass evtl. vorhandene Bedrohtheits- und Bedrängtheitsgefühle durch die Erweiterung seines Wirkungsradius’ und die damit verbundene häufigere Abwesenheit vom direkten Wohnumfeld und somit auch diesbezügliche Vorurteile über Ausländer abnehmen. Johannes’ während des Erhebungszeitraumes wechselnde jugendkulturelle Orientierungen (1992: Heavy, Skater; 1993: Raper; 1994: Techno, Skater) scheinen zumindest 1992 und 1993 weniger seine politische Ausrichtung denn seine Gewaltakzeptanz zu beeinflussen. Die oben genannten faszinierenden Aspekte von Gewalt werden in diesem Zeitraum in den einzelnen Gruppen inszeniert und - hauptsächlich als harmloser sportlicher Wettkampf (s.o.) empfunden - ausgelebt. Das Zugehörigkeitsgefühl zu ‘Rapern’ und ‘Technos’, das sich bei Johannes vornehmlich im Hören der spezifischen Musikrichtung auswirkt, zieht möglicherweise eine zunehmende Toleranz gegenüber anderen (ausländischen) jugendkulturellen Ausrichtungen nach sich. So gestaltet sich der gemeinsame Aufenthalt Jugendlicher verschiedener Nationalitäten und Orientierungen im Jugendhaus ausnehmend friedlich, u.a. weil jede Gruppe wechselweise die Musik bestimmen kann, die gespielt wird (vgl. 1994: 33;9 ff). Seine Beziehungen im sozialen Nahraum beeinflussen seine politischen Ansichten vermutlich in unterschiedlicher Weise. Während seine ausländischen Freunde wahrscheinlich dazu beitragen, dass er Ausländer ab LXVI 1993 vornehmlich als Stützen der deutschen Wirtschaft begreift, scheinen familiäre Einflüsse von Vater und Großvater (s.o. und u.) in seiner Beurteilung des ‘Dritten Reiches’ und zusätzlich von den jeweiligen Freundinnen (s.o.) in der Forderung nach mehr Anpassung an Normalitätsstandards zu greifen. Zudem beeinflusst ihn sein Vater anscheinend zumindest latent in seinen Ansichten über Asylbewerber: „Gegen Ausländer ist mein Vater nicht so arg, mehr gegen Scheinasylanten“ (1993: 43;11 f) 3.2.2 Individuelle Kompetenzen bzw. Mechanismen zum Aufbau personaler Identität Johannes’ Toleranz gegenüber Ausländern allgemein und Aussiedlern und Asylbewerbern im besonderen nimmt bis 1994 allmählich zu. Bereits 1993 fordert er keine generelle Ausweisung von Ausländern aus nationalistischen Gründen mehr, sondern begreift Arbeitsemigranten viel mehr als unerläßliche Stütze der deutschen Wirtschaft (s.o.). Auch im Hinblick auf Asylbewerber und Aussiedler zeigt er 1994 Toleranz, gepaart mit Emphatie. Noch immer empfindet er diese Gruppierungen als Konkurrenz um wirtschaftliche Ressourcen, jedoch erhebt er keine direkten Schuldzuweisungen mehr in ihre Richtung, sondern sieht die Gründe für die von ihm subjektiv wahrgenommene Bevorzugung dieser Gruppierungen eher in ihrer Unwissenheit und Anspruchslosigkeit (s.o.). Auch im familiären Bereich erweist er sich als einfühlsam. So zeigt er sich eher stolz auf seine Selbständigkeit im Haushalt, deren Notwendigkeit er auch in einer Entlastung des berufstätigen Vaters sieht (vgl. 1992: 6;24 ff). Johannes’ Reflexionsvermögen in der Beurteilung gesellschaftlicher und politischer Phänomene sowie eigener vormaliger Verhaltensweisen scheint bis 1994 zuzunehmen (s.o). Besonders aktuelle (außen)politische Geschehnisse reflektiert er anscheinend unter dem Einfluss des Großvaters, der angesichts der zunehmenden Verschärfung kriegerischer Auseinandersetzungen im Ausland im Gegensatz zu früher nicht mehr gerne über die NS-Zeit spricht, wobei ihm die wahrgenommene Parallelität zur Gegenwart Angst vor der Zukunft zu machen scheint: „Jetzt, da, wo er (der Großvater, d.V.) sowieso gerade sieht, ja, ist hier überall Krieg und so, das macht ihn eher ein bißchen nachdenklich, (...) das hat angefangen mit dem Golfkrieg, jetzt geht es los unten in Ex-Jugoslawien (...), jetzt fängt es an in Rußland. Jetzt muss man sich sowieso erstmal Gedanken machen, was passiert jetzt in den nächsten Jahren, vielleicht passiert hier das Gleiche, vielleicht bricht hier auch noch ein Krieg aus, man sieht ja gerade hier, jetzt fängt es wieder an damit, Asylbewerberheime angezündet (...), so viele Rechtsradikale“ (1994: 43;13 ff) Ein Anzeichen dafür, dass diese Ängste für ihn sehr real sind, ist seine positive Bewertung der Kasernen in seiner Nachbarschaft, die ihn vor evtl. „Luftangriffen“ schützen können (vgl. 1992: 29;25 ff). Nicht eindeutig ersichtlich wird, inwieweit z.B. die zunehmende Abkehr von Gewalttätigkeit aus einer aus Erfahrung gewonnenen Einsicht oder aus reinem Kosten-Nutzen-Kalkül hinsichtlich der Vermeidung negativer Konsequenzen von seiten seines Vaters, der jeweiligen Freundinnen, der Polizei und im Hinblick auf seine schulische und berufliche Zukunft erwächst. So besteht bei ihm auch 1994 eine relativ unreflektierte Orientierung an traditionellen Männlichkeitsidealen, die ihn z.B. auf verbale Angriffe in bezug auf seine Familie und seine Freundin gewalttätig reagieren lassen, wahrscheinlich weil er sich in seiner ‘Ehre’ verletzt fühlt (vgl. 1994: 15;19 ff). Seine Fähigkeit, Konflikte verbal auszutragen, scheint stark von dem Miterleben der Streitigkeiten der Eltern vor deren Trennung beeinflusst zu sein. Johannes versucht zumindest im fämiliären Rahmen, einem Streit (mit Ausnahme der im Cliquenzusammenhang inszenierten kollektiven gewalttätigen ‘Wettkämpfe’ und Reaktionen bei vermeintlichen Übergriffen auf seine Person bzw. seine ‘Ehre’) eher aus dem Weg zu gehen und ihn womöglich durch die Anwendung bestimmter Strategien zu beenden: “Die (Eltern, d.V.) haben sich gestritten, dann bin ich weggeblieben, hab’ mich ins Zimmer gesetzt und hab’ irgendwas gemacht, gespielt, gemalt oder hab’ Musik gehört und hab’ sie LXVII richtig laut gemacht, damit die reinkommen und mich anschreien müssen, damit sie dann aufhören, so mach’ ich’s heute ab und zu, weil wenn sie dann mit meinem Bruder streiten ein bißchen, mal einen kurzen Krach haben, und dann kommt mein Vater meistens rein und sagt, ‘mach’ die Musik leiser’, und in der Zeit kann sich mein Bruder gut verkrümeln“ (1992; 8;35 ff) Johannes ist bereit, Verantwortung für sich (z.B. Schule) und andere zu übernehmen. Schon 1992 übernimmt er bereitwillig anliegende Pflichten im Haushalt, und 1994 nimmt er u.a. an einer Demonstration gegen die Republikaner teil, um seinen politischen Ansichten Nachdruck zu verleihen. Auch hier stellt als Begründung seiner Ablehnung dieser Partei einen historischen Bezug her: „wenn die jetzt z.B. an die Macht kommen würden, dann fängt es genauso wieder an wie früher, (...) die sind ja gegen Ausländer und alles. Das sind ja sozusagen Rechtsradikale in meinen Augen, genauso wie damals die rechtsradikalen Gruppen, wie sie alle heißen, NSDAP, (...) das sind genau die gleichen, dann fängt es wieder so an wie früher“ (1994: 55;32 ff) Obwohl zumindest 1992 und 1993 seine ‘zarte’ Körperstatur und geringe Größe in keiner Weise seinen Idealvorstellungen entspricht und er gewalthaltige Situationen aus Angst vor Verletzungen eher meiden muss, zeigt Johannes schon zu Beginn der Befragung ein starkes Selbstbewußtsein. Dies basiert zum einen zunehmend auf dem Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, sein Leben selbst aktiv gestalten und zu bestimmten Einsichten stehen zu können (er spricht sich z.B. gegen Alkohol- und Drogenmißbrauch aus), zum anderen auf der Anerkennung und zunehmenden Akzeptanz als ‘Fast-Erwachsener’, die ihm von seiten der Eltern u.a. aufgrund seiner großen Selbständigkeit in der Erledigung häuslicher Pflichten zuteil wird. Darüber hinaus gewinnt er zunächst über die Demonstration ‘männlicher’ Verhaltensweisen wie Wehrhaftigkeit und Dominanz(streben) Anerkennung durch die Mitglieder seiner jeweiligen Cliquen und durch die sukzessive Zugehörigkeit zu verschiedenen jugendkulturellen Gruppierungen ein gewisses Maß an Identität. Ab 1994 scheint er eher durch die Abkehr von eben diesem Verhalten Akzeptanz von seiner Freundin, seinem Vater und ehemaligen Freunden, die sich von ihm ferngehalten hatten, zu gewinnen. 4. Zusammenfassung Johannes zeigt sich als ein Junge, dessen - vermutlich durch das, aufgrund der spezifischen Bevölkerungsstruktur seines Wohnumfeldes verursachte, fast ausschließliche Zusammentreffen mit (jugendlichen) Ausländern in Freizeit, Nachbarschaft und Schule bedingte - zahlreiche Ungleichheitsvorstellungen in bezug auf Ausländer im allgemeinen sowie Asylbewerber und Aussiedler im besonderen von 1992 bis 1994 allmählich abnehmen bzw. differenzierter werden, was u.a. dem Einfluss seiner ausländischen Freunde und einer steigenden Mobilität geschuldet zu sein scheint, die ihm erlaubt, zunehmend über sein engeres Wohnumfeld hinaus zu agieren und somit nicht mehr so häufig wie vormals in alltäglichen Situationen mit Ausländern zusammenzutreffen. Auch seine anfänglich hohe personale Gewaltakzeptanz im privaten Bereich, die anscheinend hauptsächlich aus einer Orientierung an traditionellen, ‘harten’ Männlichkeitsidealen resultiert, läßt bis 1994 zumindest leicht nach, wahrscheinlich hauptsächlich aus kalkulatorischen Beweggründen im Hinblick auf seine schulische und berufliche Zukunft und seine Reputation bei seinen Eltern, seiner Freundin und seinen aktuellen Freunden, die seinen zunehmenden Anpassungswillen positiv verstärken. Johannes’ großes Sicherheitsbedürfnis, das anfänglich aufgrund seiner eher ‘schmächtigen’ Körperstatur aus Angst vor körperlichen Übergriffen und ernsthaften Verletzungen, später aus der Angst vor Kriminalität respektive „amerikanischen Verhältnissen“ (vgl. 1994: 16;19 ff) - zu resultieren scheint, begünstigt eine relativ gleichbleibende Billigung und Propagierung staatlicher (Polizei)Gewalt. Dieses Sicherheitsbedürfnis ist wohl auch mit ursächlich dafür, dass Johannes LXVIII zwar (zumindest anfänglich) die im Cliquenzusammenhang aktiv aufgesuchten, bewußt inszenierten Gewaltsituationen, in denen er über die Demonstration männlichen Machtverhaltens Anerkennung von seiten der Freunde erlangen und Momente von Risiko, Abenteuer und Spannung erleben kann, normalisiert und als harmlosen, fairen Wettkampf unter Gleichgesinnten gutheißt, sich jedoch von kollektiven Gewaltdemonstrationen (z.B. fremdenfeindlichen Anschlägen, Hooligans) im allgemeinen distanziert. Ein KostenNutzen-Kalkül zeigt sich in seiner Differenzierung zwischen privatem Gewaltverhalten, das er verharmlosend als „Kinderstreit“ (1992: 40;31) bezeichnet, und Gewalttätigkeit im schulischen und beruflichen Umfeld, von der er sich distanziert, weil sie negative Konsequenzen für den Betroffenen nach sich ziehen könnte. Johannes’ Zukunftsorientierung und dem damit verbundenen Wille, einen möglichst akzeptablen Schulabschluss zu machen und eine gute Lehrstelle zu bekommen, der Angst vor Sanktionen seines Vaters sowie der Zurückweisung durch seine Freundin und nicht zuletzt seiner nach eigener Einschätzung persönlichen Entwicklung (vgl. 1994: 14;38) scheint es geschuldet zu sein, dass er sich 1994 aktiv um Anpassung bemüht. Johannes’ 1992 eher nationalistische Einstellung gegenüber Ausländern (die vermutlich von seiner intensiven Beschäftigung mit der NS-Politik mitbeeinflusst ist) und seine Vorurteile im Hinblick auf Kulturdifferenz sind vermutlich hauptsächlich auf den Umstand zurückzuführen, dass er in seinem direkten Wohnumfeld und seiner alltäglichen Lebenswelt fast ausschließlich mit (jugendlichen) Ausländern zusammentrifft. Möglicherweise entwickelt er aufgrunddessen Ängste im Hinblick auf Be- bzw. Verdrängung und Überflutung des eigenen Sozialraumes bzw. Heimatlandes. Andererseits scheinen aber die freundschaftlichen Kontakte mit Ausländern sowie eine wachsende Mobilität (s.o.) - und womöglich auch die Anerkennung der Leistungen von ausländischen Arbeitnehmern bei der Schaffung des deutschen ‘Wirtschaftswunders’ - in der Folgezeit zu einem Abbau seiner diesbezüglichen Ungleichheitsvorstellungen zu führen. Die Betonung der Wichtigkeit der Ausländer für die Wirtschaft Deutschlands ist aber durchzogen von seinem eigenen Wohlstandsanspruch, der gefährdet werden könnte, wenn die Möglichkeit einer Delegation minderwertigerer Arbeiten an Ausländer nicht mehr gegeben wäre. Ebenso basieren seine Vorwürfe in Richtung Asylbewerber und Aussiedler anscheinend auf diesem Wohlstandsanspruch einhergehend mit Neid auf die angebliche (womöglich mit illegalen Mitteln erreichte) Wohlstandssituation dieser Gruppierungen und dem Empfinden, in der Konkurrenz um wirtschaftliche Ressourcen ihnen gegenüber benachteiligt zu sein. Möglicherweise ist zumindest 1992 der Kontakt zu der Gruppe von ‘Nazis’, die ebenfalls den Treffpunkt der Clique aufsucht, auch enger als Johannes angibt, so dass von dieser Seite eine Beeinflussung seiner Ansichten über Asylbewerber denkbar wäre. Die zunehmende Relativierung seiner Vorurteile in bezug auf Asylbewerber und Aussiedler scheint in einer Zunahme seines Reflexionsvermögens - das zumindest auch aus seinen Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Angehörigen dieser Gruppierungen während eines Praktikums in der Stadtgärtnerei und diesbezüglichem Erfahrungsaustausch mit seinem Vater und näheren Bekannten, die ebenfalls dort tätig sind, (vgl. 1994: 44;1 ff) resultiert begründet zu sein, mit dessen Hilfe er die tatsächliche Situation dieser Gruppierungen in Deutschland besser durchschauen und verstehen kann. Larissa 1992 -1994 "Einfach nicht mehr so viele Asylanten reinlassen, weil die haben sich das alles selber eingebrockt. Wenn sie dann Asyl wollen bei uns, dann sollen sie halt nicht so viel Scheiße bauen in dem Land." (1992: 33;6-10) LXIX "Jetzt habe ich nichts mehr gegen Ausländer, weil ich akzeptiere jetzt die Menschen, so wie sie sind" (1993: 35;5-6); "Was würden wir ohne Ausländer machen? Die Dreckarbeit würde bestimmt kein Deutscher machen." (1993: 38;31-33) "Wir sind nun mal alle auf einer Welt und müssen versuchen, mit den Leuten einfach klar zu kommen. Das geht nicht mit Gewalt, das kann man mit Reden versuchen." (1994: 2; 810) 1. Objektive Daten zum Lebenskontext im Überblick Larissa, geb. 1979, evangelisch, lebt mit ihren Eltern in einer mittelgroßen Stadt in Süddeutschland. Die Familie bewohnt ein Reihenhaus in einem ruhigen Randgebiet der Stadt. Larissa hat ein eigenes Zimmer; ihre Schwester, die 1992 20 Jahre alt ist, ist 1990 ausgezogen, wohnt aber in der Nähe. Die Eltern Larissas haben beide Hauptschulabschluss. Der Vater ist Koch; die Mutter, eine ausgebildete Friseurin, arbeitet nachmittags als Verkäuferin. Die Familie lebt in materiell gesicherten Verhältnissen. Larissa besitzt ein eigenes FarbTV, einen Videorecorder und eine Stereoanlage. Als Haustier gehört ihr ein Hamster, um dessen Versorgung sie sich allein kümmert. 1992 stehen ihr 35 DM Taschengeld zur Verfügung; in den folgenden 2 Jahren erhöht sich der Betrag erst auf 45 DM und schließlich auf 60 DM monatlich. Wenn diese finanzielle Zuwendung nicht ausreicht, bekommt Larissa von ihren Eltern, meist von der Mutter, einen Nachschlag. Über den gesamten Erhebungszeitraum hinweg besucht sie eine Realschule im Wohnort. 2. Politische Orientierung 2.1. Allgemeine Orientierung Larissa zeigt sich an aktuellen und politischen Themen im allgemeinen wenig interessiert. Lediglich zu Asylfragen nimmt sie 1992 Stellung (vgl.2.2). 1994 könnte sie sich vorstellen, bei einer Tierschutzorganisation mitzuarbeiten (1994: 11;32) und stuft "Umweltthemen" als prinzipiell für Jugendliche interessantes politisches Betätigungsfeld ein (1994: 11;19). Wenn sie wählen dürfte, würde sie nun die SPD wählen (vgl. 1994: 11;35-38). 1992 fühlt sie sich den Skinheads zugehörig, Heavy-Fans und Hooligans findet sie "ganz gut", während sie Punker, Rocker und Grufties nicht "so gut leiden" kann (vgl. Fb. 1992). Interessanterweise rechnet sie Skinheads 1993 zu den Gruppierungen, die sie nicht akzeptiert. Dazu gehören auch neben Heavys Skater, Raper, Biker, Bundeswehrfans und Rockern, rechte Jugendliche, Hooligans, Grufties, Streetfighter, Wehrsportgruppen und deutschnationale Gruppen. Sie rechnet sich nun keiner Gruppe mehr zu, findet aber Fußballfans "ganz gut" (vgl. Fb. 1993). 1994 gibt sie an, nach wie vor Skinheads, rechte Jugendliche und Hooligans nicht "so gut leiden" zu können. Alle anderen Gruppierungen sind ihr "ziemlich egal" (vgl. Fb. 1994). Sich selbst bezeichnet sie als "neutral, weder rechts noch links" (1994: 19;15ff) 2.2. Ungleichheitsvorstellungen/Gleichheitsvorstellungen im Kontext von Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus Larissa weist über den gesamten Erhebungszeitraum Ungleichheitsvorstellungen Asylbewerbern gegenüber auf, die sie im Verlauf der Erhebung jedoch abschwächt. In Zusammenhang damit steht sicherlich, dass sie sich nach der ersten Erhebung von der rechtsextremen Clique, in der sie mit ihren Freundinnen zusammen - sie bezeichnen sich als Reenee (vgl. 1992: 29;19) - quasi eine Untergruppe innerhalb der Clique bildet, ablöst und ihre Ansichten mit zunehmendem Alter und zunehmender Reflexivität revidiert (vgl.3.2.2). LXX 1992 äußert sie Ungleichheitsvorstellungen gegenüber sogenannten Gastarbeitern, die sie immer von der Gruppe der Asylbewerber absetzt, relativ unverbrämt. Sie argumentiert mit kultureller Unverträglichkeit, mangelnder Anpassung, sexuellen Übergriffen durch ‘Ausländer’ und dem übersteigertem Geltungsdrang nichtdeutscher Mitbürger, um ihre xenophobe Haltung zu legitimieren. In den folgenden Erhebungszeiträumen postuliert sie vordergründig die Gleichheit aller Menschen, Kulturen, Nationalitäten und Ethnien. Es finden sich aber noch Reste ihrer früheren Ungleichheitsvorstellungen, vor allem in ihrer Darlegung des ‘Nützlichkeitsaspektes’ nichtdeutscher Bevölkerungsgruppen innerhalb deutscher Berufs- und Arbeitsstrukturen. Larissa weist 1992 Ungleichheitsvorstellungen vor allem in Bezug auf Asylbewerber auf: "also ich hab persönlich eigentlich nur was gegen die Asylanten, weil, also ich find `s nicht gut, dass die dann alle zu uns kommen." (1992: 28;12-15) Mit Asylbewerbern verbindet sie vor allem Themen wie Kriminalität und sexuelle Übergriffe auf Frauen: "dass halt dann mal eingebrochen wird und so, das ist dann schon vorprogrammiert, das kann man schon sagen. Und dass man dann halt auch nicht mehr sicher ist auf der Straß` als Mädle." (1992: 28;27-30) Sie berichtet allerdings im Zusammenhang mit sexuellen Übergriffen nicht von persönlichen Erfahrungen. Den in Deutschland lebenden Asylbewerbern wirft sie zudem Überheblichkeit und mangelnden Anpassungswillen vor: "Ich weiß nicht, aber die bilden sich manchmal ein, sie seien die Größten in unserem Land und was weiß ich was, und das find` ich echt zum Kotzen, weil die sind ja eigentlich nur Gast." (1992: 32;37-39) "Wenn sie dann Asyl wollen bei uns, dann sollen sie halt nicht so viel Scheiße bauen in dem Land (Deutschland d.V.)." (1992: 33;8-9) Sie führt hier auch die quasi moralische Verfehlung der Asylbewerber an, die ihrer Ansicht nach das gewährte Gastrecht missachten und ihre Abschiebung selbst provozieren: "Weil die sind ja eigentlich nur Gast und dann tun sie sich manchmal solche Sachen erlauben, zum Beispiel aus dem Kaufhaus irgendwas rausklauen oder so, also dann wundern sie sich noch, wenn sie abgeschoben werden." (1992: 32;40 ähnlich: 33;1-3) Larissa fordert einen Zuzugsstopp für Asylbewerber und legitimiert diese Forderung mit dem Hinweis auf die ihrer Meinung nach selbstverschuldeten politischen und wirtschaftlichen Konflikten und Problemen in den Herkunftsländern der Asylbewerber: "Einfach nicht mehr so viele Asylanten reinlassen, weil die haben sich das alles selber eingebrockt." (1992: 33;6-8) Von verschärften Gesetzen zur Eindämmung des Asylbewerberzuzugs und von größerer Polizeipräsenz verspricht sie sich jedoch nur eingeschränkte Problemlösungsmöglichkeiten, da ihr die ‘Überflutung’ Deutschlands mit "Asylanten" ziemlich unaufhaltsam erscheint. Auf denkbare gesetzliche Wege angesprochen bemerkt sie: "Ein Weg eigentlich nicht, weil sie setzen sich halt immer durch, aber das ist wenigstens mal ein Anfang." (1992: 33;22-24) In Bezug auf andere Nichtdeutsche äußert Larissa ebenfalls Ungleichheitsvorstellungen, wenn sie auch zuerst bestimmte Nationalitäten davon ausnimmt: "aber sonst, gegen die Türken und die Italiener und so, hab ich eigentlich gar nichts so besonderes, nur grad gegen die Polen und Russen und so." (1992: 28;15-18) Sie könnte sich aber aufgrund kultureller Unterschiede nicht vorstellen, einen ‘ausländischen’ Freund zu haben: "Eigentlich nicht, weil die haben ja auch andere Sitten und Gebräuche und was weiß ich was. Ich kann` s mir auch nicht vorstellen, mit einem Türken zu gehen, weil der tät` ja den ganzen Tag immer nach Knoblauch und so stinken." (1992: 36;18-22) Durch dieses kulturelle Differenzverhalten, das sie den Nichtdeutschen unterstellt aber selbst noch nicht erfahren hat, fühlt sich Larissa auch als Frau gekränkt - "die fummeln LXXI einem am Arsch rum und sonst noch was, so eine richtig blöde Anmache halt" (1992: 39;78) - und lehnt das ‘Machogehabe’ ab: "Grad` die Italiener und so, die wollen eigentlich nur ein Mädle für` s Bett." (1992: 34;40 u. ähnlich 35;1) Sie fordert von Nichtdeutschen generell Anpassung an ihr Gastland und das Bewusstsein für territorial bedingte Rangunterschiede: "Also wenn ich kein Deutscher wäre und trotzdem in Deutschland leben würde, dann würde ich mich zurückhalten und nicht so, irgendwie so großkotzig wär. Weil wenn man in seinem eigenen Land geboren ist und wenn ich also deutsche Staatsangehörigkeit hab`, dann kann man sich halt schon mehr rausnehmen als die anderen." (1992: 35;40; vgl. auch: 36;1-7) 1993 propagiert Larissa einerseits die Gleichwertigkeit aller Nationalitäten und Ethnien: "Jeder Mensch ist irgendwie gleich, ganz egal welche Hautfarbe man hat. Jeder Mensch hat irgendwie seinen eigenen Stil. Man soll niemandem einreden, nur weil du schwarz bist, bist du ein Dreck." (1993: 35;19-23), Die vorher behauptete Verantwortlichkeit der nichtdeutschen Mitbürger für die hohe Kriminalitätsrate verneint sie nun, da ihrer Meinung nach Deutsche und Nichtdeutsche gleich delinquent sind (vgl.1993: 52;25-33). Bezüglich der sexuellen Belästigung durch Ausländer revidiert sie ihre Meinung dahingehend, dass sie angibt, durch deutsche Männer in gleichem Maß wie durch Nichtdeutsche "blöde Anmache" zu erleben: "Die blöde Anmache meistens, gerade wenn man über den Bahnhof läuft, oder so und abends alleine, dann kommen sie meistens, ‘oh, süße Dame’ und so, aber das ist bei den Deutschen genau das gleiche." (1993: 38;22-25). Sie befürwortet jetzt die doppelte Staatsbürgerschaft für Nichtdeutsche, von der sie "zwar noch nichts gehört (hat), aber ich finde das okay." (1993: 36;39-40) Andererseits stellt sie sich eine Freundschaft mit einem ‘Ausländer’ weiterhin aufgrund der kulturellen Differenzen als "schwierig" (1993: 38;5) vor: "Gerade so türkisch, ich weiß nicht, gerade wenn ich dann verheiratet wäre und ich müsste ein Kopftuch tragen oder so etwas, das wäre nichts für mich." (1993: 38;15-18) Konkret auf positive Aspekte der multikulturellen Gesellschaft angesprochen, betont sie die Bedeutung nichtdeutscher Arbeitskräfte für bestimmte Arbeitsbereiche in der "Industrie" (1993: 38;31), wobei jedoch Ungleichheitsvorstellungen im Hinblick darauf anklingen, dass Nichtdeutsche vornehmlich in minderen Tätigkeitsbereichen eingesetzt werden: "Was würden wir ohne Ausländer machen? Die Dreckarbeit, die würde bestimmt kein Deutscher machen." (1993: 38;31-33) Im Zusammenhang mit Asylbewerbern, vertritt sie die Meinung, dass asylberechtigt ist, wer "wirklich staatlich verfolgt ist, oder auch wenn irgend so ein Krieg ist" (1993: 39;8-9). Sogenannten ‘Wirtschaftsflüchtlingen’ sollte laut Larissa Deutschland im Hinblick auf die erhöhte Konkurrenz am Arbeitsmarkt keine Unterstützung gewähren, um eine Benachteiligung deutscher Arbeitskräfte zu vermeiden: "Weil wir haben nämlich selber genug Arbeitslose, so denke ich mir das mal." (1992: 39;14-15) Ihre Ungleichheitsvorstellungen in Bezug auf Asylbewerber zeigen sich auch in ihrer Vorstellung von zu leistender Integration dieser Gruppierung: "Da ist so eine Kaserne und da sind Asylbewerber drin. Ich persönlich habe da nichts dagegen, so lange sie da unten bleiben." (1993: 39;3-5) 1994 hat sich Larissas Einstellung Nichtdeutschen gegenüber nicht geändert. Sie kann sich nach wie vor ein relativ unproblematisches Miteinander unterschiedlich kulturell geprägter Menschen vorstellen und sieht darin kein Problem (vgl. 1994: 12;11-12): "Ich denk jeder Mensch hat seine eigene Kultur, wenn es niemand stört, denk ich, kann doch jeder seine eigene Kultur verbreiten." (1994: 12;9-10) LXXII Sie selbst hat außerhalb der Schule keine Kontakte zu nichtdeutschen Jugendlichen (vgl. 1994: 12;17-18) Als relevant für das gemeinsame Zusammenleben betrachtet sie nach wie vor, dass Nichtdeutsche bereit sind, sich den Modalitäten ihres Gastlandes anzupassen, wobei sie in Betracht zieht, dass trotzdem die eigene Identität gewahrt bleiben sollte: "Man muss sich halt auch an die Menschen anpassen. Also an die Kultur. Wenn ich da einfach hin geh` und sag, Leute, ich bin die und die und ich will von euch respektiert werden, aber ich habe meinen eigenen Lebensstil. Ich muss halt versuchen, so gut wie es geht, meine eigene Persönlichkeit beizubehalten, aber auch ein bißle von der Kultur von dem Land mitzukriegen." (1994: 14;3-7) In Bezug auf Asylbewerber weist Larissa auch 1994 noch Ungleichheitsvorstellungen auf, die jedoch weniger pauschal erscheinen. Sie anerkennt die Asylbedürftigkeit der "wirklich" Verfolgten, lehnt "Scheinheilige" jedoch nach wie vor ab: "Ich denk mal, die die wirklich verfolgt werden, denen sollte man Asyl geben, aber denjenigen die so scheinheilig tun, wo so tun als werden sie verfolgt, wo es aber gar nicht stimmt. Wo also bloß aus dem Land raus wollen, weil es in Deutschland scheinbar so viele Arbeitsplätze gibt." (1994: 16;28-32) Dazu gehören für sie auch sogenannte ‘Wirtschaftsflüchtlinge’, die in ihrer Heimat massiver Verelendung ausgesetzt sind. Zuständig für deren Problematik ist laut Larissa die "Entwicklungshilfe" (1994: 16;38). Ihr scheint es also wichtig zu sein, dass Zuwanderungstendenzen ‘vor Ort’ unterbunden werden, da sie Asylbewerber nach wie vor als Konkurrenten am Arbeitsmarkt wahrnimmt. 2.3. Gewaltakzeptanz 1992 berichtet Larissa kurz von einer "Schlägerei" zwischen Mitgliedern ihrer Clique und "ein paar Türken", an der sie allerdings selbst nicht beteiligt war: "Also bei mir ist das (Schlägerei d.V.) noch nicht vorgekommen, also bei mir und bei der J.(Freundin), aber bei der S. ist das schon mal vorgekommen, dass sie dann mit ein paar Türken eine Schlägerei angefangen hat." (1992: 30;23-26) Weitere Angaben zum Hergang der gewalthaltigen Auseinandersetzung macht sie nicht. Sie erwähnt in diesem Zusammenhang allerdings, dass sie aufgrund der zu befürchtenden Sanktionen, von solchen ‘Aktionen’ Abstand nimmt: "Nein, ich halt mich dann halt immer zurück, weil ich möchte nicht unbedingt eine Anzeige wegen was weiß ich was kriegen." (1992: 30;38-40) Sie wendet selbst keine Gewalt an, wenn man von ‘Keilereien’ mit ihrer älteren Schwester absieht (vgl. 1992: 12;17-20), scheint aber die Faszination von Gewaltakten und gewalthaltigen Auseinandersetzungen nachvollziehen zu können: F: "Könnten die Jungs aus der Clique sich dann vorstellen, dass sie da jetzt auch hinfahren (gemeint sind die Ausschreitungen in Rostock d.V.), wenn sie jetzt grad schulfrei hätten?" L: "Ich glaub schon, dass es die fuchst irgendwie." F: "Was denkst du, was das ist, das sie fuchst?" L: "Wahrscheinlich die Randale und auch dabei sein, sich groß fühlen, was weiß ich was." (1992: 32;25-31) Ihre Gewaltakzeptanz zeigt sich in ihrer gänzlich fehlenden Empathie mit den Opfern dieser Ausschreitungen und ihrer Legitimation von Gewaltanwendung gegenüber Asylbewerbern: F: "Ja wenn du so überlegst, kriegst du da nicht manchmal Mitleid mit den Leuten, die da vielleicht drunter leiden müssen?" L: "Nein." F: "Wieso nicht?" L: "Ich weiß nicht, aber die bilden sich manchmal ein, sie seien die größten in unserem Land und das find ich echt zum Kotzen." (1992: 32; 32-39) Indem sie das schuldhafte Verhalten allein bei den Opfern konstatiert, stellt sie die ausgeübte Gewalt als gerechtfertigte und logische Folge solchen Verhaltens dar und entlastet damit die Täter, mit denen sie sich wohl aufgrund der politischen Ausrichtung LXXIII verbunden zu fühlen scheint. Diese Haltung gegenüber Gewaltanwendung gegen Asylbewerber wird auch innerhalb Larissas Familie thematisiert. Zumindest mit ihrer Mutter scheint sie die Vorkommnisse in Rostock kontrovers zu diskutieren, wobei sie die Verbrechen gegen Asylbewerber verharmlost: "Meine Mutter sagt zum Beispiel, ja die spinnen doch alle, ......wo so die Asylantenheime so ein bißle durcheinander machen und so." (1992: 32;7-14) Larissa äußert sich jedoch dahingehend, dass Gewalt gegen Asylbewerber, die sie jedoch selbst legitimiert (s.o.) und wohl auch ansatzweise in der Diskussion mit ihrer Mutter als anwendbare Strategie in Erwägung zieht - "aber wenn sie es danach begreifen, dass sie wegbleiben sollen..." (ebd. 32; 14-16) - nicht zur Lösung der Situation beiträgt, sondern "da wird` s nur noch schlechter." (1992: 33;27). Interessanterweise setzt sie die Ausschreitungen in Rostock mit den Verbrechen des NS-Regimes gegen die jüdische Bevölkerung gleich und grenzt sich auch hier von dieser Handlungsweise ab, wenngleich Billigung oder Verharmlosung immer noch mitschwingen: "Was da halt grad so zur Zeit (passiert), also die Asylantenheime und so dann, also vergasen und so, persönlich find` ich es eigentlich nicht so gut, weil man könnte auch noch mit den Leuten reden, dass sie raus sollen oder was weiß ich was." (1992: 29;25-30) Sie scheint bei dieser Thematik im Interview 1992 keine eindeutige Position beziehen zu können. Larissa wurde selbst nicht Opfer von Gewalt, weder im familiären noch im schulischen Kontext (vgl. dort) oder im Zusammenhang mit ihrer Clique. 1993 bezieht sie eindeutig Stellung und spricht sich gegen Gewaltanwendung, vor allem im Zusammenhang mit Asylbewerbern aus: F: "Denkst du denn, dass man gegen andere Menschen mit Gewalt vorgehen darf?" L: "Nein." F: "Und gerade auch, wenn das Leute sind, die man nicht so hier haben will?" L: "Nein." Die Brandanschläge von Solingen verurteilt sie und spricht Personen aus ihrem sozialen Umfeld, die diese Ausschreitungen begrüßen, Reflexivität und Empathie ab: "Weil sie sich groß vorkommen wollen, einfach. Weil sie nichts im Kopf haben. Die denken einfach nicht, was sie sagen. Was würden die sagen, wenn zum Beispiel jetzt ein Ausländer bei denen das machen würde." (1993: 40;20-24) Sie scheint hier ihre eigenen Erfahrungshintergründe aus der Zeit ihrer Zugehörigkeit zu einer rechtsextremen Clique mit einzubeziehen und "Gruppenzwang, weil man halt dazugehören will" (1993: 41;6-7) als Erklärung für solches Verhalten heranziehen. Protestaktionen der Nichtdeutschen gegen die ausländerfeindlichen Anschläge in Mölln, Solingen und Rostock befürwortet sie, weil "die Deutschen auch mal merken sollen, dass sie das nicht mit den Leuten machen können, was sie wollen." (1993: 41;29-31). Eigene Gewaltausübung billigt Larissa lediglich zur Selbstverteidigung, musste bislang jedoch noch keinerlei Gewalt zur Gegenwehr anwenden (vgl. 1993: 42;5-10). Auch 1994 lehnt es Larissa ab, "gegen die ganzen Ausländer halt mit Gewalt vorzugehen" (2;8). Sie plädiert im Gegenteil dafür, verbale Konfliktbewältigung als Strategie einzusetzen: "Wir sind auf einer Welt und müssen alle versuchen, miteinander zu leben und mit dem Anzünden von Häusern, das bringt einfach nichts. Wir müssen versuchen, mit den Leuten einfach klarzukommen. Das geht nicht mit Gewalt, das kann man mit Reden versuchen." (2;4ff) Sie gibt an, keinerlei Gewalterfahrungen mehr gemacht zu haben und glaubt generell keine Zunahme von Gewalt in unserer Gesellschaft ausmachen zu können. Gleichwohl meidet sie jedoch aus Angst vor potentiellen Gefährdungen bestimmte Bereiche ihres Wohnumfeldes, so zu Beispiel den Bahnhof, den sie als Schauplatz gewalthaltiger Auseinandersetzungen rivalisierender Gruppierungen wahrnimmt: LXXIV "Zum Beispiel wenn es Abend ist, auf den Bahnhof, da würde ich nicht hingehen. Da kommen dann halt die Skinheads auf die Ausländer zu und dann gibt es dann halt öfters Schlägereien." (9;14ff) Larissas Gewaltakzeptanz hat sich im Verlauf der Erhebung gewandelt. Die Gründe dafür können in dem von ihr angeführten Gruppenzwang liegen, der die Mitglieder der Clique um der Zugehörigkeit willen dazu bringt, ihre "persönliche" (1992: 29;26) Meinung hinter cliquenkonformen Äußerungen und Verhaltensweisen zu verbergen (s.o.) und von dem sie sich schon 1993 befreien konnte. Die Möglichkeit der Beeinflussung durch die anderen Cliquenmitglieder scheint realistisch, wenn man den großen Altersabstand in Betracht zieht: "Die (Anderen) waren manchmal 23, 25, so um den Dreh." (1993: 22;29) 3. Zusammenhang von politischer Orientierung und Gewaltakzeptanz mit sozialen Erfahrungen und Erfahrungsstrukturierung 3.1. Erfahrungen und Bearbeitungsressourcen 3.1.1. Problembelastungen und zentrale Interessenlagen 1992 gibt Larissa an, keine Probleme zu haben (vgl. Fb.1992). 1993 nennt sie als ihre größten Probleme das Verhältnis zu ihrem Vater und ihre schulischen Leistungen (vgl.Fb.1993). Sie fühlt sich von ihrem Vater "unterdrückt" und in der Gestaltung ihrer Freizeit beeinträchtigt. Dies scheint aber die Gefühle von Geborgenheit, die sie in der Familie erlebt, nicht maßgeblich zu stören (vgl. Fb. 1993). Dass ihre mangelnden schulischen Leistungen sie hindern könnten, ihren Berufswunsch sie möchte eine Ausbildung zur Sozialversicherungsfachangestellten machen - zu verwirklichen, wird ihr durch den dafür erforderlichen Notenschnitt (2,5 - 2,8) bewusst (vgl.1993: 12;37). Sie versucht ihre Leistungen durch Nachhilfeunterricht zu steigern (vgl. 1993: 18;31-34). Obwohl es ihr bis 1994 gelingt, ihre Noten zu verbessern, erreicht sie den geforderten Notenschnitt nicht. Sie entschließt sich, sich zur Friseurin ausbilden zu lassen und möchte später den Friseursalon ihrer Eltern, den diese zur Zeit verpachtet haben, übernehmen (vgl. 1994: 4;39-41). Sie scheint mit dieser Lösung zufrieden, da ihre Mutter und ihr Großvater im selben Beruf tätig waren und sie damit quasi die Familientradition fortsetzt (vgl. ebd.). Larissas größte Problembelastung scheint 1994 die von ihr ausgegangene Trennung von ihrem Freund zu sein. Die Beziehung zum Vater hat sich wieder entspannt (vgl.1994: 8;89). 3.1.2. Erfahrungen im sozialen Nahraum und seine sozio-emotionalen Ressourcen Die Familie bietet Larissa über den gesamten Erhebungszeitraum hinweg einen soliden materiellen und emotionalen Rückhalt, obwohl Larissa vor allem nachmittags viel auf sich gestellt ist (vgl.1992: 7;3-10) und früh Verantwortung für den Haushalt übernehmen muss (vgl. 1992: 3;35-36). Sie fühlt sich vor allem zur Mutter hingezogen, mit der sich Larissa in vielem identifizieren kann: "Meine Mutter, mit der kommt eigentlich jeder gut aus, weil sie halt lustig ist, und ja, die hört auch zu." (1992: 6;27-30) "ich hab halt auch was von ihr, also dass ich die Wohnung immer sauber halt" (1992: 8;2122) Als Vorbild sieht Larissa ihre Mutter trotzdem nicht, denn "in manchen Sachen ist meine Mutter halt auch streng und ich möchte meinen Kindern halt ein bissle mehr Freizeit lassen, weil meine Mutter die bindet mich manchmal immer so arg." (1992: 8;13-17). Probleme bespricht sie mit ihrer Mutter (1992; 3;22-25), die problematische Situationen ihrer Tochter "von selber" wahrnimmt (ebd. 4;24ff). Mit ihrer Mutter kommt es, im Gegensatz zum Vater, "nie" (vgl. 1992: 9;40) zu Streitigkeiten. Bei Auseinandersetzungen mit ihrem Vater erfährt Larissa Unterstützung durch die Mutter, die dann zwischen Vater und Tochter vermittelt (vgl. 1992: 10;3-6). Ihren Vater erlebt sie als "eher strenger" (vgl. 1992: 6;18). LXXV Auseinandersetzungen mit ihm, wegen Larissas nächtlichen Unternehmungen, verlaufen rein verbal: "also, ich bin grad mit ein paar Freundinnen bin ich (..) abends mit zu einem 18jährigen, der hat Geburtstag gehabt, da sind wir mit dem heim und haben was getrunken, das hat mein Vater nicht verstehen wollen, (..) dann hat er mich halt wieder angeschrieen." (1992: 9;7-15) Im Verlauf dieser Auseinandersetzungen setzt sich Larissa verbal zur Wehr (vgl. ebd. 9;21) bis der Streit darin endet, dass ihr Vater sie mit Nichtbeachtung straft: "Der redet dann meistens mit mir nichts mehr und dann red ich halt wieder mit ihm, na ja, und dann, nach ein, zwei Tagen ist alles wieder vergessen." (1992: 9;27-29) Zur älteren Schwester, von der sie "total verschieden" (ebd. 13;1) ist, hat sie seit deren Auszug von zu Hause einen guten Kontakt (vgl.1992: 12;11-14). Sie findet bei Problemen auch Unterstützung und kann "jetzt immer zu ihr gehen" (vgl. ebd. 12;31-32). Frühere geschwisterliche Rivalitäten und Streitigkeiten der beiden belasten das gegenseitige Verhältnis nun nicht mehr: "Sie hat alles immer besser wissen wollen und dann haben wir halt immer uns geschlagen und alles. Ja, so richtig geboxt manchmal, aber seitdem sie ausgezogen ist, verstehen wir uns eigentlich super." (1992: 12;17-24) Larissa fühlt sich über den gesamten Erhebungszeitraum innerhalb des Familienverbandes geborgen (vgl. 1992: 10;21) und von allen Familienmitgliedern akzeptiert. Sie ist sehr selbständig, hat reale Mitverantwortung und unterstützt ihre Mutter "freiwillig, weil meine Mutter sonst so viel um die Ohren hat." (1992: 3;31-32). Ihre Eltern wissen ihre große Selbständigkeit zu schätzen und leisten im Gegenzug großen Vertrauensvorschub, wenn sie die Tochter an Wochenenden, die die Eltern im Wochenendhaus verbringen, auf Larissas Wunsch - "das ist langweilig halt" - allein in der elterlichen Wohnung zurücklassen (vgl.1992: 2:1ff). 1993 bezeichnet Larissa die Familie als größtes Problem (vgl. Fb.). Ursache für diese Einschätzung ist wohl ihr etwas gespanntes Verhältnis zum Vater. Sie empfindet, wohl aufgrund altersspezifischer Abgrenzungs- und Loslösungstendenzen, ihre Familie allgemein als für sie beengend (vgl.1993: 27;36-40) und ihren Vater im besonderen als ‘Unterdrücker’ (vgl. ebd.1;19-21). Der Kontakt zu Mutter und Schwester ist unverändert gut. 1994 hat sich die familiäre Situation wieder entspannt. Das Verhältnis Larissas zu ihrem Vater ist "viel besser" (1994: 8;8-9) geworden, sie fühlt sich von ihm nun wieder akzeptiert und als Erwachsene ‘"respektiert": "Ich werde jetzt mehr respektiert irgendwie. Früher hat es geheißen: Du bist noch jung, du kannst nicht mitschwätzen und jetzt kann ich auch mal einen Kommentar zu irgendwas abgeben." (1994: 8;14-16) Larissa nimmt nun "so jedes Vierteljahr vielleicht" (ebd. 8;19) an den Ausflügen zum Wochenendhaus in Norddeutschland teil und beteiligt sich gelegentlich an den Freizeitaktivitäten der Eltern (ebd. 8;20). Mit den schulischen Anforderungen kommt Larissa durchgängig im großen und ganzen zurecht. Sie akzeptiert die Schule als Bildungsvermittlerin und als Vorbereitung auf den Berufseinstieg; ja die Schule macht ihr sogar "Spaß" (1992: 17;1). Als sich 1993 abzeichnet, dass ihre Noten für den von ihr angestrebten Ausbildungsberuf nicht ausreichend sind (vgl.ebd.12;37), versucht sie mit Nachhilfeunterricht den erforderlichen Notendurchschnitt zu erreichen (vgl. ebd. 18;31), was ihr zwar nicht gelingt, aber zu keiner Frustration führt, da sie sich inzwischen (1994) für eine Ausbildung zur Friseurin entschieden hat und noch vor Ende der Schulzeit eine Lehrstelle findet (ebd. 4;39-41). Mit ihren MitschülerInnen kommt sie durchgängig gut zurecht, wenn sie auch einige Mädchengruppierungen in ihrer Klasse als "kindisch" (1992: 18;33) ablehnt und ihnen kein Vertrauen entgegenbringt, da sie nicht "dichthalten" (1992: 19;8-9). Den Klassenverband LXXVI beurteilt sie positiv (vgl. 1992: 19;33-14). Die Attraktivität des Unterrichts macht sie von den Lehrern abhängig (vgl.1992: 17;15-20), ist sich deren Verantwortung zur Wissensvermittlung bewußt und fordert diese auch ein: "grad wenn ich mal was nicht kapier, oder so, dann kann ich zu den Lehrern hingehen und sagen, er soll mir` s noch mal erklären." (1992: 18;3-6) Larissas "Spaß" an der Schule wird wohl vor allem auch durch den fast gänzlich fehlenden Leistungsdruck seitens ihrer Eltern mitkonstituiert: ""Solang du` s noch schaffst und nicht sitzenbleibst, ist` s eigentlich egal." (1992: 18;12-14). 1993 begeistert sie sich, vor allem in Hinblick auf ihre ehemalige Zugehörigkeit zur "rechten Clique", im Geschichtsunterricht für die Thematik und Problematik des deutschen Nationalsozialismus und beider Weltkriege: "Ja und gerade, weil ich ja früher irgendwie zu den Rechten gehört habe, interessiert mich das jetzt brutal, weil gerade mit dem Hitler und so, da erfährt man mal, wie das damals war und auf was für einer Bahn (hier ist wohl ihre Clique gemeint; d. V.) man sich damals bewegt hat irgendwie und das interessiert mich." (1993: 9;36-40) "die (Zeit) wäre nichts für mich gewesen, weil ich bin eigentlich mehr ein Mensch, der anderen hilft, aber damals, ich weiß nicht, das wäre keine Zeit für mich gewesen." (ebd. 10;18-23) "Erschreckend, wie man mit Menschen einfach nur so umgehen kann, als ob sie nur Tiere wären irgendwie, oder zweite Wahl." (1993: 11;4-6) 1994 erlebt Larissa die schulischen Anforderungen, bedingt durch das Lernen für die Abschlussprüfungen, als belastend. Es gelingt ihr jedoch, durch Anstrengungsbereitschaft ihre Leistungen zu verbessern. Entlastend wirkt sich hier der Umstand aus, dass sie bereits eine feste Zusage für eine Ausbildungsstelle als Friseurin hat (vgl. ebd. 4;38ff). 1992 ist Larissa zusammen mit 2 Freundinnen Mitglied in einer rechtsextrem orientierten Clique, die ca. zehn Jungen und Mädchen umfasst und nicht altershomogen ist - die Jungen sind überwiegend ca. 18-25 Jahre alt, die Mädchen ca.14. Der Verbund scheint eher lose zu sein; die Gruppe trifft sich nicht regelmäßig, sondern wenn es sich gerade so ergibt. Als Treffpunkt fungiert z.B. ein Spielplatz oder sommers das Freibad (vgl.1992: 27;39ff u. 28;1-3). Larissa hat sich dem cliquentypischen Outfit 1992 nicht gänzlich angepasst, sie trägt zwar ‘Doc Martens’, die Glatze als typisches Zugehörigkeitsmerkmal lehnt sie, anders als ihre "beste Freundin" (ebd.26;22ff) J., die eine Glatze trägt (vgl. 1992:28;11-12), aus Gründen der Eitelkeit jedoch ab: "Nein, ich hab meine Haare seit der vierten Klasse wachsen lassen und will` s mir auch nicht unbedingt schneiden lassen, ich häng sehr an meinen Haaren." (1992: 28;36-40 u. 29;1-2). Wie sie 1993 berichtet, hat sie sich noch 1992 diesem Gruppenzwang gebeugt und sich nach einem Fest, weil sie "irgendwie in der Stimmung" (11;25) ist und "getrunken" (11;24) hatte, dem Cliquenoutfit anpassen lassen: "und dann haben die M. und die L. sie mir hinten abrasiert." (1993: 11;25-26) Da Larissa diese neue Haartracht "beschissen" und ihrem Aussehen abträglich findet - "das war schlimm" (11;30) - lässt sie sich die Haare wieder wachsen. Sie raucht jedoch und stellt dies auch als Anpassung an die Gruppennormen dar (vgl. 1992: 5;8). Die Beteiligung an gewalttätigen Auseinandersetzungen mit anderen Gruppen ist für sie nicht akzeptabel, da sie Sanktionen nicht in Kauf nehmen möchte (vgl. Abschnitt Gewaltakzeptanz). Sie berichtet weder von Normübertretungen noch von gewalthaltigen Unternehmungen der Clique, an denen sie teilgenommen hat: "also wir selber machen eigentlich nichts" (ebd. 29;24). Ihre Freundinnen scheinen für sie wesentlich wichtiger zu sein, als der Rest der Gruppe. Sie bezeichnen sich 1992 als Reenee (vgl. ebd. 29;19) und bilden quasi eine Untergruppe innerhalb der Clique (vgl. ebd. 26;7-8). Sie "halten zusammen" (1992: 27;27-33), unterstützen sich gegenseitig bei Problemen - "grad wenn ich Liebeskummer hab, oder LXXVII Stress zu Hause, dass ich mich dann ausheulen kann und mit denen reden kann" (ebd. 27;17-20) - und gestalten gemeinsam ihre Freizeit (vgl. 1992: 26;12-17). Larissas beste Freundin J. ist mit einem Jungen aus der Clique zusammen, was sich aber nicht störend auf die Freundschaft auswirkt (vgl. ebd. 26;33-35 u. 27;3-5). 1993 ist Larissa nicht mehr Mitglied dieser Clique, "weil mich hat es mit der Zeit einfach angekotzt, was die alles gemacht haben, und da habe ich gedacht, da muss ich jetzt nicht länger dabei sein" (1993: 3;19-22). Sie legt nun mehr Wert auf soziale Akzeptanz, vor allem im Hinblick auf ihr Verhalten ihren Eltern gegenüber und die negativen Konsequenzen hinsichtlich ihrer schulischen Leistungen: "Alles, einfach der ganze Umgang mit denen. Ich bin auch auf einmal brutal schlecht in der Schule geworden, seit ich mit denen zusammen war und dann auch meine Umgangssprache und alles meinen Eltern gegenüber." (1993: 3;24-28) Ausschlaggebende Motivation zum Ausstieg war nach ihren Angaben ihre persönliche Betroffenheit und auch Entsetzen - "für mich war das eigentlich mehr ein Schock irgendwie" (1993: 4;11) - über die ausländerfeindlichen Anschläge in Solingen: "gerade mit den Brandanschlägen in Solingen, da habe ich gedacht, ja sag mal, das kann doch wohl nicht sein, oder? Das muss irgendwann einmal ein Ende geben und dann habe ich gedacht, nein, also ich will da nicht mehr dazugehören. Von einem Tag auf den anderen war ich dann einfach nicht mehr eine Zeit lang zusammen (mit den anderen; d. V.)." (1993: 4;2-7) Ihre Zugehörigkeit zur Clique erklärt sie mit dem Wunsch nach Zugehörigkeit, Akzeptanz und gemeinsamer Freizeitgestaltung, die sie die ideologische Ausrichtung der Clique hat hinnehmen lassen und der sie sich angepasst hat: "Bei mir war es damals echt nur Gruppenzwang. Alle waren halt rechts und dann will man halt dazugehören, dass man da irgendwie nicht ausgeschlossen wird." (1993: 4;10-14) "Ich habe zwar auch öfter mal so irgendwie was gesagt, aber so direkt gegen Ausländer habe ich nie was gesagt." (1993: 5;15-18) Dieser Versuch, den Grad ihrer Zugehörigkeit zu erläutern, zeigt sich auch in der Schilderung ihres spezifischen "Rechtsseins": "Das war, letztes Jahr war ich ja noch rechts, also rechtsradikal, so nicht direkt ganz, aber ich bin halt dann auch aufmüpfig meinen Eltern gegenüber gewesen." (1993: 3;33-36) Als sie schließlich die Clique verlässt, ist sie sehr erleichtert, wieder "auf dem geraden Weg" (ebd. 3;30) zu sein. Über die Reaktion der Clique auf ihren Ausstieg berichtet sie nur wenig differenziert: "Am Anfang haben sie sich einzeln um mich gekümmert irgendwie und dann mit der Zeit haben sie das dann einfach eingesehen, dass ich nicht mehr zu denen dazu gehören will. Dann sind sie auch wieder neutral geworden." (1993: 20;36-40) Über die Art und Dauer dieses "Kümmerns" geht aus dem Interview nichts hervor. Dass rechtsextreme Cliquen ihren Mitgliedern den Ausstieg erschweren, weil sie Verrat von Insiderwissen an die Polizei fürchten, ist Larissa bekannt - "es ist schwer, wieder rauszukommen, für die, wo sehr tief drin waren" (ebd. 41;10-11) -, ob aus subjektiver Erfahrung oder Beobachtung bei anderen, geht aus dem Interview nicht hervor. Die Freundschaft der drei Mädchen bricht auseinander, da J. ebenfalls die Clique verlässt, S. aber weiter dabei bleibt. Larissa und J. haben daraufhin keinen Kontakt mehr zu S. (vgl. 1993: 4;33-34) sind aber weiterhin miteinander befreundet. 1994 nennt Larissa als weitere Einstiegsmotivation in die rechte Clique die tendenzielle rechtsextreme Orientierung eines Großteils ihrer Mitschüler: "viele in meiner Klasse waren halt rechts damals" (vgl. 1994: 1;26). Larissa ist nun nicht mehr in einer Clique (vgl. ebd. 10;31). Durch Ihren Freund, der aktiver Fußballer zu sein scheint (vgl.1993: 24,5-6), hat Larissa 1993 teilweise engeren Kontakt zu einer Clique, die jungendominiert ist (vgl. ebd. 22;1415) und die sich am "Sporti", einem Sportplatz, der als Treffpunkt für einige Jugendliche LXXVIII fungiert (vgl. 1993: 22;18-22), trifft. In dieser Clique scheint sie sich auch aufgrund der homogenen Alterszusammensetzung wohl zu fühlen und - im Gegensatz zur früheren Clique - als "gleichwertig" zu empfinden: "Es ist halt einfach viel lustiger mit Gleichaltrigen, da komme ich mir halt irgendwie genauso, gleichwertig komme ich mir da irgendwie vor." (ebd. 23;3ff). Durch ihren Freund - "es war halt echt Liebe auf den ersten Blick" (ebd. 5;31) - fühlt sie sich bestätigt und angenommen, "weil er mich einfach so nimmt, wie ich bin irgendwie" (ebd. 29;32). 1994 beendet Larissa diese Beziehung, da sie sich durch die Eifersucht ihres Freundes verletzt - "er hat hinter mir her spioniert (..) das war dann auch ein bisschen Vertrauensbruch kann man sagen" (1994: 2;41 u. 3;10) - und sich durch seine Dominanz zu sehr beengt fühlt (vgl.1994:2;37-40). Zudem wurden gemeinsame Freizeitaktivitäten laut Larissa durch mangelnde finanzielle Mittel der beiden empfindlich beeinträchtigt (vgl. ebd. 3;19-22) und der Treffpunkt am "Sporti" durch den Drogenkonsum der dortigen Jugendlichen für das Paar - "ihn hat es auch angekotzt" (ebd. 3;30) - inakzeptabel: "Weil die kiffen alle, das finde ich nicht so gut. Da halte ich mich lieber fern." (ebd. 3;27-28). In ihrer Freizeit nutzt Larissa kommerzielle Freizeiteinrichtungen und singt 1992 u. 1993 in einer Gruppe (3 Personen), die bei schulischen Veranstaltungen auftritt (vgl. 1993: 9;115). Sie hat 1994 die Möglichkeit, bei einer etwas professionelleren Gruppe "vorzusingen", d.h. sich um die Aufnahme bewerben (vgl. 1994: 7;5-10). Ihre Freizeit verbringt und gestaltet Larissa 1992 mit ihrer in die erwähnte größere Clique eingebundene Mädchenclique, 1993 größtenteils mit ihrem Freund im privaten Bereich (Dartspielen, vgl. ebd. 5;36-38) und 1994 mit ihrer neuen Freundin, der Mitschülerin N. und ihrer Nachbarin A. bei sportlichen Aktivitäten (Rad fahren, spazieren gehen; vgl. ebd. 4;8-13). Larissas Nachbarschaft und Wohnumfeld ist geprägt von Einfamilienhäusern. Es handelt sich um ein ruhiges Wohngebiet. In der Nachbarschaft wohnen hauptsächlich ältere Menschen, darunter auch nichtdeutsche Familien (vgl.1992: 13;25-31). Larissa scheint sich in ihrer Umgebung durchgängig wohl zu fühlen (vgl. 1992: 13;35) und könnte sich nicht vorstellen, umzuziehen: "da möchte` ich eigentlich noch bleiben, weil da kenne ich viele, ja und wenn wir dann umziehen würden, dann müsste ich ja immer wieder neue Leute kennen lernen und wieder alles hier lassen, meine ganzen Erinnerungen und so." (1992: 16;17-21) In ihrem direkten Wohnumfeld gibt es keine Plätze, an denen sie sich bedroht oder unwohl fühlt, abgesehen von dem (nicht nur) spezifisch weiblichen Gefühl der Gefährdung an schlecht beleuchteten Plätzen, Straßen oder Unterführungen (vgl. 1992: 15;5ff). 3.1.3. Medienrezeption und sonstige Ressourcen politisch relevanter Information Larissa gibt an, gemeinsam mit ihren Eltern die ‘Tagesthemen’ zu sehen und anschließend über die Inhalte zu diskutieren (vgl. 1992: 11;15-17), zusätzlich liest sie "manchmal" die BILD - Zeitung (vgl. Fb. 1992) und die örtliche Lokalzeitung (vgl. Fb. 1994). Die Auswahl der von ihr rezipierten Medien richtet sich durchgängig jedoch hauptsächlich nach deren Unterhaltungswert (vgl. Fb. 1992 -1994). Der NS-Unterricht in der Schule interessiert sie 1993 sehr, sie gewinnt neue Einsichten über den ideologischen Inhalt der rechtsextremen Gruppierungen und ihren Zusammenhängen mit den NS-Ideologien und Verbrechen. Diese Erkenntnisse kann sie um so leichter akzeptieren, als sie zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr der rechtsextremen Clique angehört und sich mit deren Ideologien nicht mehr identifizieren muss. 3.1.4 Erfahrungen mit und Ressourcen von gesellschaftlicher und politischer Teilhabe Larissa könnte sich 1994 vorstellen, sich aktiv einer Gruppierung von Tierschützern anzuschließen oder umweltpolitisch "in der Gemeinschaft" "Initiative" zu ergreifen (vgl. LXXIX 1994: 11;25-32). In beruflicher Hinsicht möchte sie die Familientradition weiterführen und den Beruf der Friseurin erlernen und später den Friseurladen ihrer Mutter, der bislang verpachtet ist, übernehmen (vgl. 1994: 5;6ff). Neben diesen ‘bürgerlichen’ Berufsvorstellungen versucht Larissa ihren eigentlichen Wunsch, Sängerin zu werden, weiter zu verwirklichen (vgl. 1994: 7;5ff). 3.2 Kategorien, Kompetenzen und Mechanismen der Erfahrungsstrukturierung 3.2.1 Zentrale Bezugspunkte sozialer Identität Im ersten Erhebungszeitraum ist es für Larissa "wichtig", stolz auf ihre Nationalität zu sein. Dies entspricht auch dem Grundtenor der rechtsextremen Clique (vgl.1992: 35;2325). Zudem wird anhand ihrer o. a. Ungleichheitsvorstellungen und Ausgrenzungstendenzen in bezug auf Ausländer und besonders auf Asylbewerber deutlich, dass sie Deutschland als kulturelle und ethnische Heimat begreift. Im Verlauf der Erhebung baut sie ihre Schuldzuweisungen an Asylbewerber zunehmend ab und stellt die kulturellen Differenzen zu Nichtdeutschen als weniger relevant dar. Welcher Nationalität jemand angehört, macht sie jedoch durchgängig davon abhängig, dass der Betreffende und seine Eltern in Deutschland geboren sind. Nationalität scheint für sie demnach durchaus stark emotional besetzt zu sein und zur Abgrenzung zu anderen und zur Vorteilswahrung wichtig zu sein. Der Aspekt der Ungleichbehandlung Nichtdeutscher relativiert sich 1994 dahingehend, dass Larissa unabhängig von der Dauer des Aufenthaltes nichtdeutschen Mitbürgern gleiche Rechte einräumt (vgl.ebd.13;29-31). Sie gibt nun an, nicht mehr auf ihre Nationalität stolz zu sein (vgl. ebd. 14;36-37). Ihr regionaler und lokaler Sozialraum ließe die Möglichkeit zu, auch mit nichtdeutschen Jugendlichen Kontakt haben zu können. Sie hält sich aber mit Ausnahme von 1993, als sie mit der Clique ihres Freundes den Sportplatz - "auf dem Sportplatz sind viele Ausländer" (ebd. 35;11) - als Treffpunkt frequentiert, von dieser Gruppierung fern. Larissas Sozialstatus ist im gesamten Verlauf relativ hoch und gesichert. Sie sieht deshalb ‘Ausländer’ nicht als Konkurrenten am Wohnungsmarkt oder Arbeitsmarkt für die eigene Person an. Asylbewerber werden von ihr jedoch als Konkurrenten am Arbeitsmarkt wahrgenommen. Dies scheint zum einen durch ihre generelle Ablehnung dieser Gruppierung und die ihr unterstellte Anspruchshaltung bedingt zu sein. Zum anderen ist ihr Vater 1993 kurzfristig von Arbeitslosigkeit bedroht und dieser Umstand trägt wohl mit dazu bei, dass sie diese Konkurrenz stärker realisiert. In der Erhebung 1994 kommt Konkurrenzdenken um finanzielle Ressourcen auch im Zusammenhang mit der Alimentation der neuen Bundesländer zum Ausdruck. Sie befürwortet Unterstützung einerseits, "weil die haben ja damals echt nichts gehabt" (1994: 18;23), andererseits verweist sie auf die Fürsorgepflicht des Staates den Bürgern aus den ‘alten’ Bundesländern gegenüber, wo "noch viele Menschen auf der Straße sind und so" (vgl. 1994: 18; 27-28). Ihre geschlechtliche Identität kann Larissa auch über die gute Beziehung zu und Identifikationsmöglichkeiten mit ihrer Mutter ohne Probleme entwickeln. Sie nimmt unterschiedliche Verhaltensweisen und -attribute der Geschlechter wahr. Dabei definiert sie die der männlichen Jugendlichen als eher negativ (vgl. 1992: 34;1-2 u. 26-32) und fühlt sich in gleichgeschlechtlichen Gesellungsformen wohler. In der jungen-dominierten rechtsextrem orientierten Clique bildet sie mit ihren Freundinnen eine Untergruppe. Sie scheint sich hier eine Nische in der Gruppe, der sie sich wohl aufgrund der ähnlichen xenophoben Gesinnung zugewandt hat, geschaffen zu haben, in der sie die Beziehungen zu ihren Freundinnen, die ihr sehr wichtig sind, relativ ungestört von den Dominanzansprüchen der männlichen Jugendlichen leben kann. Auffällig ist zudem, dass Larissa keine Beziehung mit einem Jungen aus der Clique hat, obwohl die Zugehörigkeit und Akzeptanz weiblicher Mitglieder solcher Gruppierungen meist über die ‘Beziehungsschiene’ gelebt und gefestigt wird. Mit zunehmender körperlicher und biographischer Entwicklung gewinnt die partnerschaftliche Beziehung zum anderen LXXX Geschlecht für sie an Bedeutung. Sie scheint die ihr von der Gesellschaft als Frau zugeschriebene Rolle nicht prinzipiell in Frage zu stellen, kann sich jedoch in Bezug auf Kindererziehung und Haushalt arbeitsteilige Lebens- und Partnerschaftsformen vorstellen (vgl. 1993: 34;37-40). Larissas während des Erhebungszeitraumes wechselnde jugendkulturelle Orientierungen (1992: Reenee, 1993: Clique auf Sportplatz, 1994: keine Cliquenzugehörigkeit) scheinen zumindest nach 1992 weniger ihre politischen Ansichten, als vielmehr ihren Wunsch nach jugendkultureller Zugehörigkeit zum Ausdruck zu bringen. Ihre Beziehungen im sozialen Nahraum beeinflussen ihre politische Orientierung vermutlich in gewisser Weise. Sie scheint die rechtsextremen Tendenzen in ihrer Klasse zumindest 1992 als Normalisierung ihrer eigenen Ungleichheitsvorstellungen zu erleben. 3.2.2 Individuelle Kompetenzen bzw. Mechanismen zum Aufbau personaler Identität Larissas Toleranz gegenüber Ausländern allgemein und Asylbewerbern im besonderen, nimmt bis 1994 allmählich zu. Sie erlebt diese Gruppierungen nicht als Konkurrenten am Arbeits- oder Wohnungsmarkt (vgl. 1994: 13;3ff) und nimmt auch keine überzogenen Anspruchshaltungen dieser Personen mehr wahr. Sie scheint die Gleichheit in der Differenz zu propagieren und fordert mehr gegenseitige Toleranz (vgl. 1994: 15;8-12) für ein friedliches Miteinander. 1994 nimmt sie einen Perspektivenwechsel vor und fordert Gleichbehandlung aller in Deutschland Lebender, ungeachtet ihrer Nationalität: "Würde ich keine Unterschiede machen. Weil sie wohnen ja schließlich auch hier. Ich erwarte auch, dass wenn ich in ein anders Land ziehen würde, dass die mich dann genauso akzeptieren würden wie ich die." (1994: 13;28-30) Verweigert sie den Opfern der rechtsextremen Ausschreitungen von Rostock 1992 noch jegliche Empathie, so gibt sie 1993 rückblickend an, dass gerade diese Vorfälle und die Anschläge in Solingen sie "schockiert" und zum Austritt aus der Clique bewogen haben (s.o.). Einfühlsam zeigt sie sich im familiären Bereich. So übernimmt sie freiwillig Aufgaben im Haushalt, um ihre Mutter zu entlasten. Außerdem erkennt sie ausgehandelte Regelungen z.B. das abendliche Zeitlimit, das ihre Eltern ihr setzen, an und kann nachempfinden, dass ihre Eltern sich ängstigen, wenn sie diese nicht einhält (vgl. 1992: 6;21-22). Larissas Reflexionsvermögen in der Beurteilung gesellschaftlicher und politischer Zusammenhänge und vor allem eigener vormaliger Verhaltensweisen scheint bis 1994 zuzunehmen. Es scheint relevant für sie zu sein, ihre damalige Motivation zum Eintritt in die Clique und die durch die später von ihr gewonnene Distanz bedingte Veränderung ihrer Verhaltensweisen (vgl. 1993: 3;24ff) differenziert nachzuvollziehen - "ich bin irgendwie ganz anders geworden. Früher war ich total aufmüpfig, alle gegenüber und total immer die große Klappe gehabt, jetzt denke ich mir erst mal die Sache, bevor ich was sage" (ebd.4;24ff) - und neu gewonnene Erkenntnisse über den Zusammenhang von Nationalsozialismus und heutigen rechtsextremen Gruppierungen aufzuarbeiten. Diese Auseinandersetzung führt auch zur Ausprägung moralischer Wertvorstellungen und Kompetenzen, die sie schließlich jegliches Gewalthandeln zwischen Menschen ablehnen lassen. Ihre Fähigkeit, Konflikte verbal auszutragen, scheint das familiäre Konfliktverhalten widerzuspiegeln. Sie kann Konflikte mit ihrem Vater aktiv mit austragen, vor allem in der Sicherheit, dass ihr Vater seine körperliche Überlegenheit nicht gegen sie einsetzt: "wenn ihn was aufregt, dann schreit er halt gleich rum, aber schlagen tut er mich nicht, der hat mich noch nie geschlagen." (1992: 6;31-33) Larissa ist bereit, Verantwortung für sich selbst und andere zu übernehmen. Dies zeigt sich in der Unterstützung ihrer Mutter in häuslichen Angelegenheiten und in ihrem Verhalten ausgegrenzter Mitschüler gegenüber, deren Integration sie mit fördert (vgl. 1992: 19;37-39), sowie in ihrem erfolgreichen Bemühen um bessere schulische Leistungen. LXXXI Larissa präsentiert sich durchgängig als sehr selbstbewusst. Ihr Selbstwertgefühl basiert zum einen auf ihrer großen Selbständigkeit und der Akzeptanz wie dem Vertrauen, die ihr aufgrund dessen von ihren Eltern entgegengebracht werden. 1993 erfährt sie zudem in der Beziehung mit ihrem Freund körperliche Akzeptanz und Unterstützung bei der Festigung ihres Selbstwertgefühls: "Es ist eigentlich schon positiver geworden.(...)Ich kam mir so dick vor, aber er gibt mir irgendwie Selbstwertgefühle."(ebd. 31;23ff). Sie glaubt zudem, ihr Leben selbstbestimmt führen, ihre Wünsche (Sängerin) realisieren und Schwierigkeiten eigenverantwortlich (bessere Leistungen in der Schule) lösen zu können. Sie hat vor allem 1994 verstärkt Zutrauen in ihre eigenen Fähigkeiten (Schule und Singen) und Eigenschaften (vgl. ebd. 11;6-9) und ist auch mit ihrem Aussehen zufrieden. Als "größte" Veränderung nennt sie 1994 rückblickend den Wandel ihrer "politische Einstellung" (ebd. 1;12ff). Sie ist nun "echt zufrieden" (ebd. 11;6) und ihre sozialen Kontakte zu Anderen sind durch ihre "offene Art (..) mit allen voll super" (ebd. 11;6-7). 4. Zusammenfassung Larissa zeigt sich als ein Mädchen, dessen Ungleichheitsvorstellungen in Bezug auf Ausländer und besonders Asylbewerber von 1992 bis 1994 allmählich abnehmen bzw. differenzierter werden. Als Schlüsselerlebnis können die Geschehnisse in Solingen angesehen werden; sie führen Larissa vor Augen, welche brutalen Formen Rechtsextremismus annehmen kann. Sie prägt nun moralische Vorstellungen aus, aufgrund derer sie ihre Ungleichheitsvorstellungen im Verlauf der Erhebung relativiert - wenn auch nicht gänzlich abbaut - und zudem keinerlei Gewaltanwendung mehr befürwortet. Ihre Gewaltakzeptanz, die in der ersten Erhebung durchaus in Bezug auf Asylbewerber vorhanden war, fand ihren Ausdruck nie in eigener Gewaltanwendung, teils aus Angst vor Sanktionen, aber wohl auch dadurch begründet, dass sich ihre familiäre Sozialisation laut Larissa völlig gewaltfrei vollzog. So erscheint ihre Gewaltakzeptanz vordergründig als Übernahme des Cliquenkonsenses und weniger als eigenes, originäres Habitat. Die oben genannten Entwicklungsschritte führen schließlich zu ihrem Ausstieg aus der Clique und zur Abwendung vom rechtsextremen Gedankengut. Die Beschäftigung mit dem deutschen Nationalsozialismus löst ergänzend bei Larissa Reflexionen über ihre eigene Haltung gegenüber als ‘fremd’ definierten Gruppierungen aus, wodurch sie ihre Ungleichheitsvorstellung gegenüber nichtdeutschen Mitbürgern wesentlich abschwächt. Diesbezüglich ist die ‘Nützlichkeit’ ausländischer Arbeitnehmer in ihrer Funktion als Anwärter für minderwertige Arbeitsbereiche bei Larissa jedoch immer präsent, weshalb sie sie nicht als Konkurrenten um diese Ressource wahrnimmt. Durch ihre intensivere Auseinandersetzung mit historischen Themen gelingt es ihr zunehmend, gesellschaftliche und politische Zusammenhänge zu erkennen und politisch statt individuell geprägte Handlungsmöglichkeiten zu sehen. Leo 1992 - 1994 "Ich meine, die Asylanten sollte man sowieso schlagen, die sind wie Ausländer" (1992: 23;27-28) "Die Russen und die Polen, die hasse ich sozusagen schon auf den Tod. Die kann ich überhaupt nicht riechen." (1993: 22;12-14) LXXXII "Wäre mir auch recht, wenn sie es ein bißchen klären würden mit den Ausländern, aber die Jugendlichen können eh’ nichts daran ändern eigentlich. Und immer in Streit mit irgend jemand zu leben, habe ich auch keine Lust." (1994:35;30-33) "Was soll es, ich will halt meine Jugend ein bißchen genießen, ja (LACHEN). Mich da jetzt hinhocken und Zeitung lesen, das kann ich mit was weiß ich wie alt, mit 30 oder so." (1994: 29; 24-27) 1. Objektive Daten zum Lebenskontext im Überblick Leo, katholisch, ist wenige Tage vor der Ersterhebung 14 Jahre alt geworden und lebt in U., einem 10.000-Einwohner-Dorf im Großraum von Stuttgart, ca. 15 S-Bahn-Minuten von der Innenstadt entfernt. Nach der zum Zeitpunkt des ersten Interviews ca. zwei Monate zurückliegenden Scheidung der Eltern bewohnt Leo mit seinem Vater und seinem drei Jahre älteren Bruder eine 4-Zimmer-Mietwohnung mit Balkon, die in einem Viertel von Hochhäusern liegt. Er hat ein eigenes Zimmer und ist materiell gut ausgestattet. Er besitzt persönlich außer Farb-TV, Stereoanlage, CD-Player, Videorecorder und (ab 1994) Heimcomputer auch eine E-Baß-Gitarre. Leos Vater hat Abitur und arbeitet beim Oberschulamt, seine Mutter hat den Hauptschulabschluss und ist als Verkäuferin in einem Tabakwarenladen beschäftigt. Sein Bruder befindet sich in der Ausbildung zum Versicherungskaufmann. Leo besucht bis 1993 die ca. 3 km entfernte Realschule. 1994 macht er, um ein zweites Sitzenbleiben zu vermeiden und weil er die Mittlere Reife nicht schaffen wird, extern in einer Schulabschlussprüfung den Hauptschulabschluss und beginnt, ohne größere Bewerbungsanstrengungen unternehmen zu müssen, eine Ausbildung zum Schreiner. Während ihm bis 1993 noch 75,- DM Taschengeld (die er größtenteils für Kleidung, Discothekenbesuche, Getränke und Zigaretten ausgibt) zur Verfügung stehen, erhöht sich sein Einkommen mit Beginn der Ausbildung 1994 auf 850 DM monatlich. Bis 1993 ist Leo Mitglied in einer Rockgruppe, zu der auch Enrik (siehe Interpretation Enrik) gehört. Die Jugendlichen üben wöchentlich in einem Jugendzentrum in W. und sind nach Auskunft der dortigen Sozialpädagogin sowohl durch den Musikstil und das entsprechende Outfit, als auch aufgrund der Liedtexte als ‘rechts’ orientierter SkinheadNachwuchs zu bezeichnen. Die Band löst sich 1993 nach L.s Angaben wegen terminlicher Unzuverlässigkeiten einiger Mitglieder, des Defekts der benutzten Musikanlage, aber auch wegen "Meinungsverschiedenheiten" und der Warnung eines Onkels eines der Mitspielenden, der Staatsanwalt ist, vor eventueller strafrechtlicher Verfolgung aufgrund des verwendeten rechten Liedguts auf. Der Junge ist kräftig gebaut und erscheint 1992 in skintypischer Kleidung und Frisur, später äußerlich unauffällig zum Interview. 2. Politische Orientierung 2.1 Allgemeine Orientierung Nach seiner jugendkulturellen Orientierung ist Leo 1992 einer rechten, den Skinheads nahestehenden Szene zuzuordnen. Er ist zu diesem Zeitpunkt Mitglied einer Clique, deren Stil er selbst wie folgt beschreibt: "ein rechter, also wir sind nicht radikal, wir machen nichts, außer wenn uns welche anschreien, also wir fangen nie an, wenn irgend etwas los sein sollte." (1992:17;17-19) Diese Einschränkung seiner Radikalität als ‘Rechter’ paßt zu Leos unentschiedenem Statement im Fragebogen, in dem er sich nicht entscheiden kann, ob er die für ihn mit einem rechten Image behafteten Skinheads nur "ganz gut" findet oder sich als zu dieser Gruppe zugehörig fühlt (vgl. Fb 1992). Allerdings weist seine Sympathie mit Hooligans, national eingestellten Gruppen und Bundeswehrfans (ebd.) sowie seine Mitgliedschaft in einer ‘Nachwuchs-Skin-Band’ (Einschätzung der Sozialpädagogin im W.er Jugendzentrum, LXXXIII s.o.) eindeutig auf seine Zugehörigkeit zu einer recht(sextrem)en und gewaltbereiten Jugendszene hin. 1993 zeigt sich eine allmähliche Distanzierung von der rechten Skinhead-Szene. Die Rockgruppe hat sich mittlerweile aufgelöst. Nunmehr sympathisiert er zwar noch mit Skinheads, findet auch rechte Gruppen noch immer "ganz gut", fühlt sich ihnen aber nicht mehr zugehörig. Zwar meint er "nicht mehr so rechts" zu sein (1993:; 42,17f.), hält sich aber für "ein kleines bißchen schon noch rechts" (ebd.). Dies macht er vor allem auch daran fest, dass er gegen Punker, Grufties und Autonome eingestellt ist, weil das für ihn "alles Linke" sind. In keinem Fall will er seine politische Selbstzuordnung parteipolitisch verstanden wissen. Er ist also primär jugendkulturell rechts gestimmt. Auf mögliche RepSympathien angesprochen erklärt er : "Von Parteien halte ich gar nichts" (1993: 47;39). Er rechnet sich nunmehr eher zu den Hooligans und Fußballfans (vgl. Fb 1993); auch zwei seiner Freunde sind Hooligans (vgl.1993:12;25-26). Den politischen Orientierungswechsel sieht er in einer Abschwächung der Ausrichtung seiner Gewaltakzeptanz (vgl. dazu unten) auf eine spezielle Zielgruppe. An den Hooligans nämlich gefällt ihm "schon schlägern und so, aber halt, es ist egal gegen wen" (1993: 43; 10f.). In den Gesprächen von 1993 und deutlicher noch von 1994 - distanziert sich Leo allerdings auch immer wieder von der Hooligan-Szene, von der er sich aber eher räumlich als jugendkulturell - wie er selbst angibt - aus taktischen Gründen fernhält, um nicht zwischen die verfeindeten Fans unterschiedlicher Fußballvereine oder in Schwierigkeiten mit der Polizei zu geraten (vgl.1992:29;24ff und 1993:12;33-34). 1994 hat Leo eine Ablösung von der ‘rechten’ Szene vollzogen: Obwohl er Hooligans nach wie vor gut findet, hat er zu dieser Szene keinen Kontakt mehr (vgl.1994:21;33). Er zählt sich nun zu den Techno-Fans (vgl. Fb 1994 und 1994: 25;36)). Auch die Gruppierungen der Skater und Raper, die er zuvor noch ablehnte, sind ihm nun sympathisch (vgl. Fb), was sich auch in seinen Musikpräferenzen niederschlägt.. Leos Antipathien gegenüber bestimmten Gruppierungen von Jugendlichen haben sich im Laufe der Zeit eindeutig vermindert: Lehnte er 1992 und 1993 noch alle Jugendlichen ab, die in Verbindung mit der ‘linken’ Szene stehen und bezeichnete Punker und Autonome als Gegner (vgl. Fb 1992 und 1993), kann er sie zwar 1994 noch immer nicht gut leiden, hat aber seine Feindbilder sichtlich abgebaut (vgl. Fb 1994). Während er seine politische Verortung vorher über entsprechende Gegnerschaften vornahm, will er sich jetzt "nirgends" politisch ansiedeln und resümiert: "Ich stehe für mich selbst." (1994: 24;10). 2.2 Ungleichheitsvorstellungen/Gleichheitsvorstellungen im Kontext von Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus Leo zeigt über die Zeitspanne der Interviews hinweg eine deutliche Entwicklung: Stellt er sich 1992 noch als ein von Fremdenfeindlichkeit geprägter Jugendlicher dar, entwickelt er ab 1993 differenziertere Anti-Haltungen gegenüber Migranten und gibt 1994 zunehmend tolerantere Einstellungen gegenüber Nichtdeutschen zu erkennen. Leo präsentiert sich 1992 als ein Jugendlicher mit stark ausgeprägter Fremdenfeindlichkeit, die in deutlichem und explizitem Zusammenhang mit seiner ‘rechten’ Orientierung steht. Fremdenfeindlichkeit wird von ihm als das zentrale, diese Szene verbindende Element bezeichnet (vgl.26;28ff). Sie äußert sich sowohl in verhaltensbezogenen kulturellen Ungleichheitsvorstellungen, als auch in Ungleichbehandlungsforderungen, die er im speziellen mit Argumenten wie persönlicher Bedrohung, der damit verbundenen Angst vor Überfremdung durch nichtdeutsche Jugendliche oder mit anderen, für ihn alltagsferneren und z.B. in den Medien kursierenden Deutungsmustern begründet. Ausschlaggebend für Leos Antipathien gegenüber allen Ausländern scheinen (zumeist verlorene) Territoriumskämpfe zu sein, die auf der Orientierung an traditionellen Verhaltensmustern hegemonialer Männlichkeit (z.B. Dominanzstreben, Rangkämpfe) beruhen und sowohl auf dem Schulgelände, als auch in der näheren dörflichen Umgebung LXXXIV bzw. zwischen ausländischen und deutschen Cliquen der umliegenden Dörfer ausgetragen werden: "Ausländer, also aus dem Nebendorf von uns, sind wie so ein kleiner Schlägertrupp,...also wenn, dann kommen sie manchmal bei uns an der Schule vorbei und dann nehmen sie einen und schlagen den eben, ohne Grund. Das sind eben Ausländer." (19;20-24). Daher rührt offenbar sein Eindruck, dass "die Ausländer eigentlich schon die Oberhand, nicht die Oberhand, will ich nicht gerade sagen, die Jugendlichen eben, dass die da schon die Oberhand haben, die Jugendlichen. (22;32ff). Da Leos Clique zahlenmäßig - und er persönlich auch vom Alter her - den nach seinen Angaben mit 20-40 Jugendlichen organisierten ausländischen Gegnern unterlegen ist, trauen sich ihre Mitglieder nicht, sich bei angeblichen Provokationen zur Wehr zur setzten. Diese schwache Position läßt Überlegungen zu Gegenwehr schnell als aussichtslos erscheinen (vgl.1992:19;32-40 und 20;1-3). Die Ursachen für die Auseinandersetzungen sucht Leo ausschließlich bei den ausländischen Jugendlichen. "Bei Discos oder so, haben wir auch öfters Streit, aber wir fangen nie an, das sind immer die." (1992:21;3-5). Da er aus seiner Sicht nie mit dem Streit anfängt, sieht er sich kontinuierlich als Opfer, das von ausländischen Gangs "niedergemacht" (23;1) wird. Es kommt nach seiner Darstellung zu Übergriffen ausländischer auf deutsche Jugendliche einerseits aufgrund deren nach seiner Meinung niedrigeren Bildungsgrades, da "sie einfach blöd sind. Da sind fast die ganzen Hauptschüler und da sind eben der Hauptteil Ausländer." (20;7-9) und andererseits aus Vergeltung für Übergriffe auf Ausländer im übrigen Deutschland, die sich zudem nicht an Fairneß-Regeln hält: "Die suchen das, die denken wahrscheinlich, wir also Rostock-mäßig, überhaupt, und dann suchen sie sich die Kleineren heraus." (20;9-11). Für Leo sind folglich ausländische Jugendliche die "Hauptunterdrücker" (1992:21;26), die sich "ihre Rechte erschlagen" (1992:19;26) und sich dann wie "die Größten" (1992:23;1) fühlen, wobei für ihn fast alle Ausländer prinzipiell gleich sind: "Die sind eigentlich alle gleich." (1992:22;2), nur "die Türken sind noch ein bißchen schlimmer." (1992:22;2-3). In diesem Zusammenhang fällt die versächlichende Art ("so etwas") auf, in der Leo von seinen Gegnern spricht: "Türken, Griechen, so etwas." (1992:19;29). Leos Fremdenfeindlichkeit ist neben seiner Angst vor gewalttätigen Übergriffen ausländischer Jugendlicher mit in weiten Teilen der (Erwachsenen-)Gesellschaft kursierenden Deutungsmustern begründet. Er führt z.B. die in Medien veröffentlichten Zahlen zu kriminellen Delikten von in Deutschland lebenden Ausländern heran und pauschalisiert auf dieser Basis: "Die meisten Ausländer sind auch kriminell, das sieht man auch an den Statistiken." (26;11-12). Dieses meint er auch mit einer eigenen einzelnen Erfahrung belegen zu können, denn: "Das war auch so bei mir, Fahrräder klauen und solche Sachen." (26;20-21). Aus Leos Blickwinkel passen sich die Nichtdeutschen den hiesigen Lebens- und Umgangsformen insgesamt nicht genügend an. Er prangert z. B. an, dass Ausländer "Sperrmüll auf die Straße werfen... das machen Deutsche nicht" (1992:26;9). Im Laufe des Gesprächs überführt Leo seine Ungleichheitsvorstellungen in Ungleichbehandlungsforderungen. Nachdem er etwas resigniert feststellt, dass man gegen die Ausländer, die schon seit Jahren in Deutschland leben "auch nichts mehr machen kann" (28;13), verlangt er: "Aber trotzdem sollte man mal einschreiten, ... es werden langsam zu viele." (28;1-3) und fordert einen Aufnahmestopp bzw. die Abschiebung von Asylbewerbern: LXXXV "Aber die, die erst neu gekommen sind, die auf jeden Fall, dass sie die auf jeden Fall abschieben." (28;14-16), denn sonst "kommen immer mehrere, also nicht nur, dann werden es doppelt so viel. Dann haben wir eigentlich gar keine, sagen wir mal, Chance mehr, ja, irgend etwas dagegen zu tun." (28;2124). In diesem Zusammenhang ist Leos Affinität zum Nationalsozialismus zu nennen, dessen ‘Ordnungsprinzipien’ er sich teilweise zurückwünscht: "Früher war ja auch irgendwie besser als heute. Also nicht mit dem Vergasen und so, dass eben Ordnung her muss und alles." (27;3-6). Er denkt zwar, dass Hitler "auch einige gute Seiten hatte" und dass manches "besser als heute war, also nicht zu helfen den Ausländern" (27;16-17), kritisiert aber Hitlers ‘Lösungen’: "Das mit dem Vergasen oder so, das war zum Beispiel schlecht, finde ich. Dann hätte Hitler sie auch ausweisen können oder so etwas." (27;29-32). Da Leo Nichtdeutschen allgemein und besonders im Rahmen der von ihm beschriebenen Cliquenrivalitäten ausländischen Jugendlichen die Schuld für soziale Probleme und Auseinandersetzungen zuweist, wäre für ihn eine Abschiebung aller in Deutschland lebenden Ausländer eine willkommene und subjektiv logische Lösung, denn: "Wenn es die Ausländer nicht geben würde, dann würde es auch keinen Streß geben... Bei uns ist das eben so, dass alles von Ausländern beherrscht wird, also da machen die den meisten Stunk." (33;25-29). Realitätsbezogen glaubt er andererseits "das geht irgendwie auch nicht" und zeigt sich im direkten Anschluss an diese Äußerung entsprechend verunsichert: "ich weiß nicht, wie es noch weitergeht" (28;16) 1993 bezeichnet Leo sich selbst als "nicht mehr so arg rechts wie früher" (1993:1;8-9) und begründet dies damit, dass er jetzt in seiner Freizeit mehr mit Ausländern zusammen ist. Gastarbeitern billigt er inzwischen grundsätzlich einen Status als Deutsche zu, weil "Gastarbeiter für mich etwas Deutsches sind halt so, dass sie mitgeholfen haben beim Aufbau, sozusagen, wenn da einer für mich, also wenn seine Eltern Ausländer sind und er ist hier in Deutschland geboren, dann ist da für mich ein Deutscher." (1993:19;15-20) Sein Feindbild gegenüber Migranten schließt nun die ihm über neuerliche JugendzentrumsKontakte bekannten ausländischen Jugendlichen ausdrücklich aus und hat sich zu Haß gegenüber Aussiedlern bzw. Osteuropäern gewandelt: "Italiener und Jugoslawen, die sind eigentlich, also die ich kenne, ganz okay, aber die Russen und die Polen, die hasse ich sozusagen schon auf den Tod. Die kann ich überhaupt nicht riechen." (1993:20;12-14). Wiederum sind es Cliquenrivalitäten, die zu Leos Ablehnungshaltungen führen. Die Lagerverhältnisse haben sich mittlerweile geändert: In Leos Bekanntenkreis sind Deutsche und Ausländer verschiedener Nationalitäten näher zusammengerückt und kämpfen nun gemeinsam gegen den Feind "Aussiedler", der selbst cliquenförmig organisiert ist. Mit Jugendlichen aus dem ehemaligen Ostblock hatte er öfter größere Schlägereien. Hierbei handelte es sich zumeist um Auseinandersetzungen, die der Territoriumsverteidigung dienten, wie z.B. der Verteidigung deutscher Mädchen: "Dann haben sie, dann waren wir so eine Clique hier unten, da waren viele Ausländer dabei und wir halt und dann hat ein Russe ein Mädchen von hier geschlagen, ohne Grund und irgendwie Schlampe oder so gesagt und dann sind wir halt alle hin und dann gab es halt schon mit Keulen und so ... da kamen aus U. die ganzen Ausländer, die kenne ich ja jetzt, da waren wir halt geschwind 50 Leute oder so." (1993:20;22ff) 1994 ist in Leos Orientierung eine weitere Veränderung eingetreten. Die Migrationsproblematiken bzw. Cliquenauseinandersetzungen berühren ihn (fast) nicht mehr: LXXXVI "ich denke über sowas gar nicht mehr nach" (1994:38;32) Er kleidet sich nicht mehr als "Rechter" (vgl.1994:20;35), hat sich von der Hooligan-Szene zwar nicht von seiner jugendkulturellen Sympathie her, wohl aber alltagspraktisch vollkommen gelöst (Fußball genießt er jetzt konsumorientiert; vgl.1994:21;33) und meidet generell körperliche Auseinandersetzungen mit Migrantenjugendlichen: "Ich lasse mich jetzt auch nicht mehr so anmachen, dann sage ich halt, was soll der Kinderscheiß?" (1994:20;37-39) Diese Verhaltensänderung ist zum einen der Auflösung der ‘rechten’ Clique zuzurechnen, in der Leo zuvor Mitglied war, und die ihm genügend Schutz bei den Auseinandersetzungen geben konnte: "Ich halte mich ja nicht an den Orten auf, wo solche Leute sind" (1994:22;6-7) Zum anderen begründet Leo selbst sie mit altersspezifischen "Reife"prozessen: "man wird halt älter" (1994:35;14; s. auch oben "Kinderscheiß") Er will keinen Streß mehr haben und hat seine Regenerations- und Freizeitinteressen geändert: "gehe halt lieber in Discos, habe meinen Spaß, gehe nach Hause und schlafe" (1994:24;3234) Ob Leo seine ausländerfeindliche Einstellung wirklich abgelegt hat, bleibt fraglich. Vielleicht ist er nur in seinen Äußerungen vorsichtiger geworden. Dafür würde auch seine auf schulische politische Diskussionen bezogene und seit mindestens 1993 gültige Devise sprechen: "Lieber ein bißchen unauffälliger und seine Meinung für sich behalten" (1994:36;4-5), "denn sonst heißt es dann wieder Nazi oder rechts" (1993:16;19f.) Auch er selber räumt bezogen auf seine politische Orientierung der Vorjahre ein: "ist ja noch immer ein bißchen was hängen geblieben, aber... es bringt halt nichts. Gut, ich würde schon eher, wenn die jetzt hier mal ein bißchen was stoppen würden und so"" (1994: 35; 25ff.) Seine Umorientierung scheint in jedem Fall eher auf Resignation und der Einsicht, als Jugendlicher bzw. mit den von ihnen verwandten Mitteln (z.B. Gewalt) nichts ausrichten zu können, zu fußen: "Wäre mir auch recht, wenn sie es ein bißchen klären würden mit den Ausländern, aber die Jugendlichen können eh’ nichts daran ändern eigentlich. Und immer im Streß mit irgend jemand zu leben, habe ich auch keine Lust." (1994:35;30-34). 2.3 Gewaltakzeptanz Leo sieht über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg in der Anwendung von Gewalt in Konfliktsituationen eine Verhaltensweise der Normalitätsstatus zuzusprechen ist (besonders deutlich 1993: 22;30ff). Dabei weiß er sie (1993) vorrangig in der "rechten" politischen Kultur zu verorten: L.:"...Links ist ja meistens Anarchie, also was heißt Anarchie, gewaltfrei und was weiß ich" F.:" Also von gewaltfrei hälst Du nicht viel, oder?" L.:"Nein." F.:"Denkst Du da kommt man nicht weit, oder an was liegt das?" L.:"Gewalt gibt es immer und da muss man sich damit auseinandersetzen. Drum herum kommt man nicht als Jugendlicher." (1993: 43; 37ff.) Darüber hinaus ist sie für ihn ein probates Mittel, das ihm durch Notwehr legitimiert erscheint. 1992 berichtet er wiederholt von Situationen, in denen er sich gemeinsam mit seinen Freunden von einer Überzahl ausländischer Jugendlicher bedroht fühlt, so dass er zusammenfaßt: "Ich finde das nicht so gut, wenn man Angst hat, irgendwie auf die Straße zu gehen" (1992:34;10-11). Bei solchen Auseinandersetzungen waren, nachdem einzelne miteinander in Streit geraten sind "gleich wieder 20 oder 30 Leute wieder da ..."(21;13-14). LXXXVII Leo beschreibt sich selbst dessen ungeachtet als "leicht reizbar, also ich werde schnell wütend..." (1992:15;26). Er selbst besitzt "ein Gas, zur Verteidigung eigentlich." (20;15ff). Dabei neigt er zur Verharmlosung seiner eigenen Gewalttätigkeit. Wie sich später (1993) herausstellt, handelt es sich bei dem "Gas" nicht um ein Spray, sondern um eine Gaspistole und über eine Auseinandersetzung mit einem Türken, mit dem er bei einer Sperrmüllsammlung vor der eigenen Wohnung aneinandergeriet, berichtet er: "Kommt zu mir her und knallt mir einfach eine, dann bin ich also ausgerastet, ausgerastet würde ich nicht sagen, aber ich habe ihn zusammengeschlagen." (1992:20;34-37). Verharmlosungen der Folgen von Gewalt und über das selbstausgeübte Gewaltniveau hinausreichende Gewaltphantasien betten seine diesbezüglichen Orientierungen ein. Die Beobachtung der Ausschreitungen bedeutet für Leo eine willkommene Abwechslung in seinem alltäglichen Einerlei. Es trifft ihn nicht besonders, wenn ein Ausländer einen Überfall deutscher Jugendlicher mit dem Leben bezahlen muss: "Okay, wenn einer umkommt, ist das schon ein bißchen hart, aber sonst passiert ja nichts, sonst ist immer das Gleiche, sonst ist jeden Tag das Gleiche." (1992:23;33-35). Entsprechend träumt er von der ‘großen Rache’ an den ausländischen Cliquen: "Da sollte man mal mit den Autos hinfahren oder so oder mit sämtlichen Autos oder so, dass da eben gut gebaute Leute darin sitzen, die die mal richtig verklopfen, dass die auch mal wissen, wie das ist." (1992:22;20-24). Zu Hause bei den Kämpfen mit den ‘etablierten’ Ausländern eher zu den Unterlegenen gehörend, wäre Leo gerne nach Rostock gefahren, um sich an den Überfällen auf die Unterkünfte von Asylbewerbern zu beteiligen. Damit hätte er seiner Ansicht nach zumindest ein Signal gesetzt und an der Durchsetzung seiner fremdenfeindlichen Ziele mitgewirkt: "da musste ja mal irgendwas passieren, denke ich." (1992:23;19-20); "die Asylanten sollte man sowieso schlagen, die sind wie Ausländer." (1992:23;27-28). Einzig seine Angst vor Schwierigkeiten mit der Polizei und vor Sanktionen hat ihn davon abgehalten, selbst nach Rostock zu fahren: "Na ja, das ist dann schon blöd mit der Polizei und so, also in meinem Alter. Wenn ich dann schon ins Gefängnis komme oder so, nein, da habe ich keine Lust darauf." (1992:23;12-16). Bis einschließlich 1993 rechtfertigt Leo Gewalt überhaupt und insbesondere gewalttätige Übergriffe auf Migrantenjugendliche als das einzige ihm zur Verfügung stehende Mittel, um sich gegen Territoriumsverluste und Überfremdung zu wehren. Dies gilt sowohl für Schlägereien in der Schule, bei denen es sich hauptsächlich um Auseinandersetzungen mit Jugendlichen aus den Parallelklassen handelt (vgl.1993:11;9ff), als auch für Kämpfe mit Nichtdeutschen, die der Verteidigung von ‘Heimat-Territorien’ dienen. U.a. ausdrücklich mit dem Effekt der Vorbereitung auf seine Schlägereien trainiert Leo zu Hause am Boxsack ("das mache ich nur so aus Spaß, und bei Schlägereien und so kommt dann halt die Erfahrung"; 1993:15:21-23) und geht auch mental vorbereitet in die Auseinandersetzungen (vgl. 1993:14:35-37). Bei den Auseinandersetzungen, an denen Leo beteiligt ist, wird allerdings auf Eskalationsgrenzen Wert gelegt. Es handelt sich um "kleinere Schlägereien, so Blut nicht unbedingt" (1993: 12;37f.), denn: "zu brutal darf`s auch nicht sein." (1993: 11;21) Von ihm werden keine Waffen eingesetzt, obwohl er davon ausgeht, dass seine Gegner mit Messern, bzw. die Älteren auch mit Pistolen bewaffnet sind. Seine Grenze liegt bei "Cowboystiefel ins Gesicht, das würde ich nicht machen" (1993:14;34-35). Er genießt es freilich, als Mitglied seiner Clique in der Schule furchteinflößend zu sein: "Vor uns hat jeder sozusagen Angst, aber das nutzen wir nicht unbedingt aus." (1993:13;15-17). LXXXVIII Ursächlich für die relative Gewaltzurückhaltung, die Leo sich 1993 im Vergleich mit dem Vorjahr attestiert sind nach seiner eigenen Auskunft Befürchtungen, sich durch soziale Auffälligkeit möglicherweise Zukunftsoptionen zu verbauen: "ich habe aber keine Lust drauf so mit Polizei, und wenn ich mal im Knast bin, dann ist einfach meine ganze, dann kann ich meinen Beruf eh vergessen. Wo ich, lieber will ich in den Beruf, also die Lehrstelle und dann vielleicht..." (1993:44;32ff.) Insofern ist es nicht verwunderlich, dass Leo trotz seiner teilweisen Orientierungsrevision gegenüber Ausländern auch noch 1993 den Ereignissen von Rostock, Mölln und Solingen mehr relativierend als verurteilend begegnet. Zu den Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte meint er: "Rostock, da ist keiner umgekommen sozusagen. Aber ich hätte nicht unbedingt was dagegen, das kann man auch nicht sagen." (1993:18;37-39) Außerdem "(wolle) er nicht wissen", wieviele "Rechte" bereits in Auseinandersetzungen "umgekommen" seien (vgl.1993:17;28-29). Für sich selber findet er aber "schlägern o.k., aber keine Überfälle" (ebd:17;6). Der Grund für seine Zurückhaltung ist auch im Bereich explizit politischer Gewalt neben dem Kennenlernen ausländischer Jugendlicher, wenn nicht sogar vorrangig, im wesentlichen die Angst vor möglicher Stigmatisierung und Sanktionierung. Darauf angesprochen, dass bei fremdenfeindlichen Anschlägen "Leute umgekommen sind" läßt er sich ein: "Deswegen hat sich ja auch wahrscheinlich meine Meinung ein bißchen geändert, dass ich mich ein bißchen von dem distanzieren wollte, weil wenn man heutzutage noch als Rechter herumläuft, also Docs und rasiert, dann hat man nur Ärger. Und jetzt kenne ich ja die ganzen Leute. Also Ausländer, rechte, komme ich eigentlich gut aus" (1993:17;10ff.) 1994 erfolgt eine deutlichere Distanzierung von Gewaltanwendung. Zwar räumt Leo durchaus für seine Person eine weiter bestehende Lust an der Provokation ein ("Wenn mal man einen sieht und der paßt einem schon vom Aussehen her nicht... vielleicht gehe ich mal zu ihm hin...`Du Idiot` oder was weiß ich.. ein bißchen fertigmachen... das ist eine Sache der Laune"; 1994:2o;1ff.), mit der Auflösung von Band und Clique verringert sich aber die Häufigkeit der körperlichen Auseinandersetzungen. Bezogen auf die früheren Massenprügeleien mit Gruppen ausländischer Jugendlicher betont Leo jetzt: "das ist jetzt nicht mehr so schlimm, würde ich sagen" (1994:18;12f.); "Ich gehe dem Streß jetzt eher aus dem Weg. (1994:21;11-12) Auch bzgl. seiner Streitereien mit Aussiedlerjugendlichen vermerkt er: "ist mir alles so nebensächlich" (1994:22;8) An Hooliganismus ist er ebenfalls nicht mehr sonderlich interessiert ("ich kümmere mich da nicht mehr so drum"; 1994:21;38), so dass er resümiert: "Das ist halt nicht mehr wie früher, es ist uns zu blöd geworden herum zu rennen und wer hat wen angemacht, das war uns zu blöd" (1994:17;39ff) Er sieht diese Veränderung wohl als Ergebnis eines Reifungsprozesses, den er mit dem wachsenden Alter zusammenbringt: "was soll der Kinderscheiß?" (ebd.;20;39) Anstatt sich weiterhin an Älteren zu orientieren, "dass was los ist", "ist man nun selber ein bißchen älter und jetzt macht man selber was." (1994:35;39ff.) Einschlägige Situationen ergeben sich auch seit seinem Wechsel auf die Berufsschule nicht mehr so häufig (vgl.1994:18;12-17). Gleichwohl ist er nach wie vor in Schlägereien mit schwerwiegenden Folgen verwickelt. Im Interview kommen an zwei Stellen Schlägereien zur Sprache, in denen Nasenbeinbrüche - einmal bei seinem Freund Enrik, einmal bei einem Konfliktgegner in der Schule - die Folge waren (vgl.1994:9;16ff). Dennoch beginnt er seine Taten zu reflektieren und sogar zu bereuen: "Da habe ich mich mit ihm geprügelt, das hätte ich nicht machen sollen." (1994:19;11-12) Dabei muss jedoch offen bleiben, ob diese Reue wiederum nur aus der Angst vor bzw. der Erfahrung von Sanktion herrührt. LXXXIX 3. Zusammenhang von politischer Orientierung und Gewaltakzeptanz mit sozialen Erfahrungen und Erfahrungsstrukturierung 3.1 Erfahrungen und Bearbeitungsressourcen 3.1.1 Problembelastungen und zentrale Interessenlagen Obwohl Leo im Fragebogen von 1992 nicht explizit persönliche Probleme benennt, lassen sich durch die Gesprächsauswertung neben der schon oben erwähnten, von ihm empfundenen existentiellen Bedrohung seiner körperlichen Unversehrtheit durch ausländische Jugendliche zwei Problembereiche ausmachen: zum ersten die Scheidung der Eltern, zum zweiten die vom Erwartungsdruck an seine Schulleistungen geprägte Beziehung zum Vater, In Leos Familie sind der plötzliche Auszug der Mutter und die Scheidung der Eltern anscheinend nur am Rande thematisiert worden, denn Leo erzählt von den Ereignissen mehr oder weniger aus der Perspektive des ‘stillen Beobachters’, der gemeinsam mit seinem Bruder um das Verhältnis seiner Mutter mit einem anderen Mann wußte, somit "zwischen den Stühlen stand" (vgl.1992:9;5ff), aber sein Wissen dem Vater nicht mitteilte. Leo entscheidet sich nach der Trennung der Eltern, weil er der Mutter für die Zerrüttung der Familie die Schuld gibt, für ein Leben bei dem Vater, was zur Folge hat, dass Leo dessen Ansprüchen bezüglich schulischer Leistungen genügen muss, damit es nicht zu häuslichen Spannungen kommt. Wohl nicht zuletzt auch aufgrund seines eigenen schulischen Werdegangs und seiner beruflichen Stellung beim Oberschulamt legt Leos Vater großen Wert auf Schulnoten (vgl.1992:15;13) und versucht diese durch tägliche Hausaufgabenbetreuung seinerseits zu verbessern. Leo wiederum ist eher ein leistungsschwacher Schüler, der um seinen Realschulabschluss bangen muss. Ab 1993 bessert sich Leos Beziehung zu seinem Vater. Dieser hat nun eine Freundin, mit der er die meiste Zeit und vor allen Dingen die Wochenenden verbringt (vgl.1993:27;2932). Infolge dieser Beziehung verringert sich der Kontakt mit dem Vater. Leo hat kein besonders gutes Verhältnis zu der Freundin seines Vaters, so dass die beiden oft wegen Geringfügigkeiten aneinandergeraten (vgl.1993:29;2) und er sich nicht vorstellen kann, mit ihr zusammenzuwohnen (ebd.). Sieht er sich dennoch von familiären Problemen im Vergleich zum Vorjahr eher entlastet, so sind Probleme mit seiner weiteren Lebensplanung neu hinzugekommen. Er kann nun absehen, dass er den Realschulabschluss vielleicht nicht schaffen wird und muss deshalb eine Verunsicherung seiner beruflichen Aussichten gewärtigen. Dabei ist der Beruf für ihn "das Wichtigste für die Zukunft" (49). Er tröstet sich allerdings mit der Hoffnung "wird schon irgendwie klappen" (1993:3;32f.). 1994 ist er dieser Sorge durch seinen Lehrstellenantritt fürs erste erledigt: "mache mir um die Zukunft keine Gedanken. Hat ja gleich alles geklappt" (10). Jetzt gibt er als Problembelastung "zu wenig Zeit" und "Ärger mit anderen Jugendlichen" an. Die erstgenannte Belastung hängt offenbar mit dem Beginn seiner Lehre und die damit verbundene zeitliche Einspannung zusammen. Dass "Ärger mit anderen Jugendlichen" ausgerechnet im Jahre 1994 von ihm angegeben wird, wo dieser doch im Vergleich zu den Vorjahren der Häufigkeit nach abzunehmen scheint (vgl. oben), mag auf den ersten Blick erstaunen. Er bezieht ihn allerdings auf den zum Interviewzeitpunkt erst kurz zurückliegenden Vorfall, bei dem seinem Freund Enrik das Nasenbein gebrochen, also eine Eskalationsstufe erreicht wurde, die vorher nach seinem Bekunden nicht gegeben war und hat dabei wohl auch mögliche Rachezüge im Sinn. Gibt L. noch 1992 und 1993 keine ihn besonders antreibenden Interessenlagen zu erkennen, so äußert er 1994 wiederholt und ausdrücklich den Wunsch, seine "Jugend ein bißchen (zu) genießen"(1994:29;25). Er möchte gar "jede Minute genießen" (1994:34). Nicht zufällig fallen diese Äußerungen in einer Sequenz, in der er ein Loblied auf den von ihm begonnenen Haschischkonsum singt, den er "ziemlich besser als Alkohol" findet, weil XC man danach "keinen dummen Kopf" hat und halt "viel lockerer alles" sieht (alle Zit. 1994:29). Allerdings hat er sich schon eine polizeiliche Verfolgung als Dealer (auf dem Schulhof der Berufsschule) eingehandelt, die ihn aber nicht sonderlich zu belasten scheint, denn "mit dem Handel konnten sie mir halt nichts nachweisen" (31;38) 3.1.2 Erfahrungen im sozialen Nahraum und seine sozio-emotionalen Ressourcen Leos Darstellung seiner Familiensituation ist von der Scheidung der Eltern und damit von der Spaltung der Familie geprägt. Neben den aus der Entscheidung zwischen zwei Elternteilen resultierenden anfänglichen Loyalitätsproblemen bereitet Leo seine gespannte Beziehung zum Vater Probleme. Er stuft das Verhältnis zu ihm zwar insgesamt als "eigentlich gut" und normal ("Den normalen Ärger eben"; 1992:3;16) ein, fühlt sich aber vom Vater oft auch kontrolliert (vgl.1992:2;13ff), wobei hier die Sorge des Vaters um die Schulleistungen eine große Rolle spielt. Leo findet seinen Vater zu streng und beurteilt ihn als "Spießer. Also ein ordentlicher Mensch, also er will alles immer ganz genau machen und so, jetzt mit meinem Ohrring zum Beispiel, da hat er gemotzt..." (1992:3;23-27). Desweiteren scheint sein Vater nicht zufrieden mit Leos "rechtem" Lebensstil zu sein, denn Leo berichtet von Differenzen bezüglich seiner jugendkulturellen Orientierung. Diese resultieren aus dem Wunsch des Vaters, dass Leo nicht in der Öffentlichkeit auffällt und "nicht so viel Scheiße baut" (1992:13;1-2). Auch auf politischer Ebene sind Vater und Sohn unterschiedlicher Meinung, was dazu führt, dass Leo es aufgegeben hat, zu Hause seine rechte Position (bezüglich z.B. der Ausschreitungen in Rostock) zu verteidigen: "Es ist sinnlos, mit ihm darüber zu reden." (1992:13;38-39). Trotz solcher Differenzen ist sich Leo sicher, dass sein Vater hinter ihm steht, wenn er in ernsten Schwierigkeiten ist (vgl.1992:14;26). Er fühlt sich auch von ihm akzeptiert und bei ihm geborgen. 1993 hat sich Leos Beziehung zu seinem Vater "gebessert", denn "er erlaubt mir sozusagen mehr" (27;21ff.). Innerfamiliäre Gespräche gibt es "jetzt in jedem Fall mehr": "Wir setzen uns dann meistens manchmal ins Wohnzimmer und dann redet mein Bruder manchmal mit mir, alles mögliche, ob Schule, alle Themen überhaupt, das haben wir früher nie gemacht." (29;25) Auch politisch ist man sich nach der Einschätzung von Leo nähergekommen. Auch der Vater kommt inzwischen im Rahmen seiner Tätigkeit beim Oberschulamt mit Ausländern in Kontakt und "regt sich über die auf". Bezogen auf ihn und seinen Bruder glaubt er: "nicht unbedingt, dass sie rechts wären, sie denken eher rechts, aber sie sind nicht genug rechts" (30;7ff.). Immerhin meint er zu wissen, dass sein Vater "mal die Republikaner wählen wollte" (ebd;34). 1994 sieht L. die Beziehung zum Vater auf "gleiche(m) Stand", sogar "ein bißchen besser vielleicht" und begründet es mit dem Umstand: "Ich bin ja nicht mehr so oft Zuhause." (27,21ff.) Die Mutter besucht Leo über den Erhebungszeitraum hinweg gelegentlich. Sie ist für ihn keine verlässliche Anlaufstelle, da er sie zu selten sieht (vgl.1992:10;8-9 und 1993:32;6ff). Geborgenheit bezieht er bei ihr zunächst nicht. Aber über persönliche Probleme redet er mit ihr, nicht mit seinem Vater, weil sie ihm für seinen jugendlichen Lebensstil, u.a. seinen Alkohol- und Zigarettenkonsum, mehr Verständnis entgegenbringt (vgl.1992:6;4-11). Das Lob der Mutter wird aber im Kern von Leos Schwierigkeiten mit den ‘Maßregelungen’ des alleinerziehenden Vaters bestimmt, der nach dem Auszug seiner Frau in Zusammenhang mit einem fast ‘mütterlichen’ Rollenbild dafür zu sorgen versucht, dass sein Sohn ‘ordentlich’ gekleidet, in ‘guter Gesellschaft’ und leistungsfähig in der Schule ist. Die Beziehung zur Mutter wird durch deren neuen Freund, der auch den Anlass zur Scheidung abgab, erschwert. Dieser ist Spanier, spricht "kaum einen deutschen Satz" (1993;33) und liegt insofern auch quer zu den politischen Vorstellungen Leos. XCI Leos Beziehung zu seinem Bruder - anders als er selbst ein "Stubenhocker" (1992:13;20) stellt sich anfangs ähnlich dar wie die zum Vater. Er hat das Gefühl, dass "wenn man mit ihm redet, dann kann man nicht so die Umgangssprache benutzen, man muss alles so professionell ausdrücken und so." (1992:5;13-15). Ebensowenig wie sein Vater erfüllt Leos Bruder zu diesem Zeitpunkt eine Vorbildfunktion für ihn (vgl.1992:5;6-9). Später bessert sich die Beziehung zum Bruder (s.o. und 1993: 31;16), 1994 vor allem, weil dieser Leo abends auch schon mal mit dem Auto mitnimmt (vgl.1994:14;35-40). Leos Lernschwierigkeiten und die damit zusammenhängenden schulischen Probleme bilden bis zum Beginn seiner Berufsausbildung ein Konfliktpotential zwischen seinem Vater und ihm (s.o.). Leo scheint für sich akzeptiert zu haben, dass er ein schlechter Schüler ist und gibt sich damit zufrieden, gerade so eben ‘durchzukommen’. Sein Quartalslernen scheint wenig selbstbestimmt und eher vom Druck des Vaters und der großen Angst abhängig zu sein, auf die Hauptschule mit einem großen Ausländeranteil abzurutschen. Er hat zwar 1993 noch den Realschulabschluss im Visier, findet aber jetzt schon die Schule "viel zu stressig" und bekennt: "Schule kann ich nicht mehr aushalten" (1993:4;6 u. 8). Am Ende schafft Leo tatsächlich nur den Hauptschulabschluss und beginnt eine Lehre. In der Berufsschule, die er nun besucht, kann er nicht mehr auf seine alten Kumpels zählen. Er sieht sich nun in einem Klassenumfeld, in dem "Normale" und Linke ("rote Schnürsenkel, Palästinenserschal") die Mehrheit sind. Da ihn aber Politisches ohnehin nicht mehr sonderlich umtreibt, läßt ihn dieser Umstand relativ kalt. Die rechte Clique, der Leo angehörte und die ihm in einer schwierigen Zeit des familiären Umbruchs auch einen emotionalen Halt schenkte, der so umfassend von keinem Elternteil bezogen werden konnte (vgl. Fb.), löst sich ab 1993 auf. 1994 lassen auch seine Besuche im Jugendzentrum nach, über die er auch "ab und zu" mit ausländischen Jugendlichen zusammen war. Sie weichen Leos neuer Freizeitclique im Fitneßcenter, wo er sich ab 1994 mit mehreren Jugendlichen täglich für mehrere Stunden trifft, um gemeinsam mit ihnen, u.a. Kickboxen, zu trainieren (vgl.1994:2;27). Hierbei handelt es sich um eine lockere Clique von sieben Jugendlichen, die sich auch in Kneipen und Diskotheken treffen (vgl.1994:5;11-13). Aus ‘alten Zeiten’ übriggeblieben ist seine Freundschaft mit Enrik, mit dem er noch immer auch außerhalb des Fitneßcenters viel Zeit verbringt (vgl.1994:13;36). Mit diesem Wandel ändern sich auch die Bezugspunkte und Interessenlagen seiner Freizeit. 1992 verbringt er seine Freizeit vor allem außerhäusig, übt in seiner Rockband "einfache Musik, so deutsch, so heavy, also nicht so schnell, eben nur deutsch" (1992:15;16), hält sich auf öffentlichen Plätzen in relativ großen Gruppen von Jugendlichen auf (tagtäglicher Treff: Bushaltestelle, "weil man von da aus gut alles im Blick hat"), beschreibt seine Wochenendvergnügen mit "auf Parties gehen, etwas zu trinken kaufen... Musik hören" (17;11ff.), wobei er neben Metal-Rock vor allem Rechtsrock präferiert, konsumiert bereits erheblich Alkohol und raucht Zigaretten und setzt sich damit deutlich als Frühentwickler in Szene: "wenn ich da an die anderen Jugendlichen in meinem Alter denke, die noch mit 8jährigen Fußball spielen oder so. Und daheim Zuhause sitzen am Samstagabend, das könnte ich nicht aushalten, also da bin ich eigentlich schon härter und so." (1992:35;22ff.) 1993 stehen seine Vergnügungsaktivitäten ganz im Vordergrund. Über Politik nachzudenken, weist er von sich: "zur Zeit denke ich halt immer an Discos oder sowas. Party, trinken. habe halt irgendwie keine Lust mehr auf diesen ganzen Streß. Ich will irgendwie raus" (1993:48;23ff.) Besucht er zu dieser Zeit noch das Jugendhaus, entwickelt er 1994 "andere Interessen" und sind ihm die Jugendhaus-Besucher "zu jung". Das Fitneßcenter und "Weggehen" in kommerzielle Vergnügungsstätten (v.a. Diskotheken) werden jetzt seine Hauptbeschäftigungen in der Freizeit. Damit löst er auch seine Bezogenheit auf sein Wohnumfeld, die abgesehen von den BandProbeterminen in W. noch 1992 und durch die Jugendzentrumsbesuche auch noch 1993 XCII vergleichsweise hoch war, auf. Die Mobilität, die ihm über seinen Bruder gewährt wird, kommt ihm dabei entgegen. 3.1.3 Medienrezeption und sonstige Ressourcen politisch relevanter Information Leos rechte Orientierungen resultieren erkennbar nicht aus einer Rezeption rechtslastiger Medien oder einer Beeinflussung durch Lehrpersonen oder Eltern. Am ehesten erscheinen sie aus zwei medialen Quellen gespeist: einerseits dem über die Massenmedien verbreiteten öffentlichen Diskurs über das sog. "Ausländerproblem" und andererseits dem Rechtsrock. Ersteres läßt sich dort vermuten, wo er in völlig unkritischer Weise "Statistiken" (über Ausländerkriminalität) als `Beleg` seiner Ungleichheitsvorstellungen anführt, letzteres erscheint aufgrund seiner Musikpräferenzen offensichtlich. Beide Einflussfaktoren haben allerdings allenfalls Bestärkungsfunktion für die Deutung eines Zusammenhangs, der ihn viel deutlicher bewegt: die gewalthaltigen Auseinandersetzungen unter Jugendlichen, die unter ethnischen Vorzeichen interpretiert werden. Auch für den Rückgang seiner Rechtsorientierungen kann man Einflüsse der genannten Sozialisationsinstanzen nur sehr beschränkt verantwortlich machen. Der Eindruck einer Annäherung des Vaters an rechtspopulistische Positionen, der sich für Leo 1993 ergibt, hätte - simple Verführungsthesen unterstellt - ja eher zu einem Anwachsen als zu einer Abschwächung seiner Rechts-Inszenierung führen müssen. Die Medienberichterstattung über ausländerfeindliche Übergriffe hat bei L. letztlich aus Angst vor Stigmatisierung der eigenen Person als "Rechter" zu kaum mehr als äußerlicher Distanzierung von "zu brutalen" Gewalttaten geführt. Der schulische Unterricht über den Nationalsozialismus hat zwar "ein paar Punkte, die ich halt noch nicht so kannte" (1994;37;18) vermittelt, aber an der rechten Orientierung von Leo nichts geändert, denn "ich wußte auch schon früher, wie es war"(ebd.). Es waren eben nicht an historischen Vorbildern ausgerichtete Indoktrinationen, die ihn haben anfällig werden lassen, sondern Konstellationen seines Alltags. Insofern resümiert er in Bezug auf den historischen Unterricht und gewichtet dabei: "es hat nichts daran geändert irgendwie an der Meinung... (man) ist älter geworden und so, was anderes erleben und andere Freunde suchen vielleicht, ein bißchen mehr Spaß haben und ein bißchen weggehen."(1994:37;30ff.) 3.1.4 Erfahrungen mit und Ressourcen von gesellschaftlicher und politischer Teilhabe Leo übt nicht deshalb rechte Gewalt aus, weil er einen Mangel an geeigneteren politischen Beteiligungsformen wahrnähme und deshalb zur Gewalt als ultima ratio griffe. Vielmehr stehen seine Gewaltaktionen im Kontext maskuliner Territorialkämpfe und darin zu beweisender Selbstbehauptungskompetenz. Gewalt ist für ihn kein letzter Ausweg, sondern Normalität. Allerdings erkennt er ab 1993, dass er mit ihr politisch nichts auszurichten vermag. Wohl weil er dies feststellt, gleichzeitig aber keine alternativen Teilhabechancen zu erblicken vermag, zieht er sich in ein immer unpolitischer werdendes, von kommerziellen Freizeitvergnügungen und Drogenkonsum bestimmtes Leben zurück. Charakteristisch dafür ist seine Traumvorstellung von 1994, in einem südlichen Land zu leben - jetzt nennt er sogar Spanien, das Herkunftsland des von ihm nicht gelittenen Freundes seiner Mutter -, wo er nur "Spaß, Sonne, da gibt es solche Probleme (sog. Ausländerprobleme) gar nicht" erwartet (1994:42;12f.) 3.2 Kategorien, Kompetenzen und Mechanismen der Erfahrungsstrukturierung 3.2.1 Zentrale Bezugspunkte sozialer Identität Deutscher Nationalität zu sein, ist für Leo 1992 sehr wichtig. Aus der Perspektive als Deutscher baut er seine Feindbilder gegenüber Ausländern auf. Zwar ist er nicht "stolz" darauf, Deutscher zu sein, denn "ich kann doch nichts dafür, dass ich hier geboren bin" XCIII (1992;25/26). Doch auf Deutschland läßt er nichts kommen. Als er 1992 auf dem Schulranzen eines Mitschülers den Aufkleber "BRD ich hasse Dich" entdeckte schlägt er sich deswegen mit dem Betreffenden. Auch 1993 hält er die Selbstverliebtheit mancher Deutscher in Deutschland als eine starke Nation und Nationalstolz aus dem gleichen Grund für "dummes Geschwätz" (1993:47;25). Von einem Bezug auf "Rasse" und "Blut" hält er explizit gar nichts. 1994 erscheint ihm gar "alles so spießig in Deutschland" (26;17f.). Er träumt von einem "lockeren" Leben unter südlicher Sonne, am liebsten in Jamaika (s. seinen Haschischkonsum). Der regionale und lokale Sozialraum erscheint für den Affinitätsaufbau insoweit mitverantwortlich als durch den Mangel an Angeboten der Jugendarbeit, der bis 1993 bestand ( siehe auch Interpret. Enrik), Jugendliche im Alter von L. in ihrer Freizeit weitgehend alleinegelassen wurden. Ein "Abhängen" "auf der Straße" lag da für Jungen mit außerhäusigen Freizeitvorlieben in der Phase des Absetzens vom kindlichen Spiel ("nicht mehr Fußball mit 8jährigen" s.o.) nahe. Leos und E.s Beispiele zeigen, dass durch das einfache Zusammenkommen mit ausländischen Jugendlichen im Rahmen von Jugendarbeit, manche (nicht alle) Vorbehalte gegen Migranten aufgelöst werden können. Noch stärker aber scheint die spätere Umorientierung von Leos Zeitplan zu wirken: Zeitknappheit und gestiegene Mobilität entheben ihn zeitlich und räumlich den vormaligen Zwistigkeiten um Raum. Und er lernt darüber auch z.T., Beziehungen neu zu konfigurieren (z.B. zum Bruder). Soziale Status-Fragen sind für L. scheinbar wenig relevant. Bemerkenswert ist aber doch, dass er sich von den (ausländischen) Hauptschülern dadurch abzusetzen sucht, dass er ihnen eine erhöhte Aggressivität zuschreibt. Insofern er selber einsehen muss, leistungsmäßig schließlich eher auf Hauptschul- als auf Realschul-Niveau zu liegen, er selber äußerst gewaltakzeptierend ist und dabei auch seine Provokationslust eingestehen muss, erscheint die ethnische Absetzung fast paradox. Sie kann u.U. als Versuch der Ablenkung von der eigenen Problematik mittels Projektion gedeutet werden Geschlechtsspezifik, also hier: Maskulinität, als Bezugspunkt der sozialen Identität entfaltet dort ihre Wirkung, wo Gewaltorientierungen zum Vorschein kommen. Territoriale Kämpfe und sonstige gewalthaltige Konfliktlösungen sind an der Tagesordnung. Über sie verschafft man(n) sich Respekt, demonstriert seine Stärke und Kumpelhaftigkeit. Dies steht in deutlicher Verbindung mit einer jugendkulturellen Orientierung, innerhalb derer Maskulinität in politisch rechter Tönung lebbar erscheint. Offenbar ist sie das wesentliche Deutungskriterium, an dem Leo politische Verortung festmacht, sowohl seine eigene als auch die anderer Gleichaltriger. Es sind die jugendkulturellen Signets (Kleidung, Frisur Musikgeschmack usw.) und nicht politische Vorstellungen oder gar Ideologien im eigentlichen Sinne, die die Fronten bestimmen. Gleichzeitig werden darüber die Gewalthändel mit einem vorgeblichen Sinn ausgestattet, der ihnen nicht ohne weiteres zukäme, würden sie nur als bloße Rauferei im Sinne eines Kinderstreits ausgetragen: In den Streit der Jugendkulturen verwickelt zu sein, attestiert den Beteiligten die Überwindung der Kindheits-Phase; Die Auffassung, einen politischen Streit auszufechten, umgibt die Kämpfe gar mit dem Flair des Ernsthaften, des über den unmittelbaren Kontext hinaus Wichtigen und suggeriert Anschluss an gesellschaftliche Praxen, die in der Erwachsenengesellschaft Bedeutung haben bzw. wahrgenommen werden. Die Beziehungen Leos im sozialen Nahraum erscheinen in Hinsicht auf vor allem zwei Aspekte für den Verlauf von politischen Orientierungen und Gewaltakzeptanz bei ihm bedeutsam: Zum einen kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Dissoziation der Familienstruktur und der über den Vater weitergegebene schulische Leistungsdruck sich auf L. so auswirkten, dass er nach Halt und Verständnis außerhalb der Familie suchte. Mit seinem Freund E. steht er darüber hinaus in allen seinen Verlaufsbewegungen im Einklang. XCIV Anzunehmen ist also, dass diese Freundschaft erhebliche wechselseitige Beeinflussungen mit sich bringt, sowohl bzgl. der Gewaltakzeptanz als auch bzgl. rechter Inszenierungen, anfänglich in Richtung auf sie, später in Richtung auf deren Abschwächung. 3.2.2 Individuelle Kompetenzen bzw. Mechanismen zum Aufbau personaler Identität Leo zeigt sich in den Interviews als durchaus reflexionsbereiter und -fähiger Jugendlicher (vgl. auch Interviewer-Memo). Seine Rechtsorientierung zeigt sich nicht im bloßen Wiederkäuen aufgeschnappter einschlägiger Parolen. Er versucht seine Haltungen zumeist mit eigenen Erfahrungen zu untermauern. Allerdings bricht seine Reflexivität an zwei entscheidenden Stellen ab, nämlich zum einen dort, wo er seine eigenen Erfahrungen zum allgemeingültigen Maßstab einer Zustandsbeschreibung multikultureller Konfliktlagen erhebt, zum anderen dort, wo er für seine Person die Unerläßlichkeit gewaltsamen Agierens gegeben sieht und sich selbst gegenüber über die Angemessenheit seines Handelns keine Rechenschaft mehr ablegt. Seine Schwierigkeit, interethnische Konflikte nicht reflektierter beurteilen und verbal angehen zu können, hängt unabhängig von der Brisanz der akuten Bedrohungssituation, in der er sich wähnt, sicherlich damit zusammen, dass er - wie 1993 deutlich wird - sich nicht in der Lage sieht, einen Perspektivenwechsel vorzunehmen: "Ich kann mich nicht in die Lage von denen setzen." (19;34f.) Bei solchen Voraussetzungen ist erst recht keine Empathie zu erwarten. Seine Unfähigkeit, prinzipiell gewaltfrei zu handeln bzw. mindestens gewaltfrei zu reagieren, ist im Zusammenhang der (nicht nur) von ihm im Rahmen des männlichen Violenzmusters vorgenommenen Normalisierung von Gewaltanwendung zu sehen. Sie wird beispielsweise in der folgenden Sequenz deutlich: "Wenn mich zum Beispiel einer anrempelt, absichtlich zum Beispiel, dann weiß ich, jetzt geht es bestimmt gleich los. Nun muss ich mich darauf gefaßt machen, dass er mir gleich eine geben kann. Und das muss man jetzt halt wissen. Wenn man halt so dabei ist, dann lernt man das halt. Was heißt lernen? Dann weiß man das." (1993:22;31ff.) 1994 kommt er über seine bisherige innere Widerständigkeit, die er seinem Vater wegen dessen Zumutungen ihm gegenüber entgegengebracht hat, über die bisher von ihm gesetzten Relevanzen und in diesem Zusammenhang auch seine Gewaltakzeptanz (vgl. nochmals 1994:19;11f.) ins Grübeln. Der Tod eines nahen, mit dem Auto verunglückten Freundes (s.a. Enrik) hat ihn "nachdenklich" werden lassen, ob sich Aufregungen über "Kleinigkeiten" überhaupt lohnen oder es nicht eher darauf ankommt "Spaß" im Leben zu haben (vgl. 1993:30). In dieser Hinsicht ist er geneigt, Verantwortung für sein Leben zu übernehmen. Darin ist allerdings nicht eingeschlossen, sich von Normalitäts-Mustern vereinnahmen zu lassen. Er träumt vom großen Ausbruch ("irgendwie raus", z.B. durch Auswanderung) und scheint ihn alltagseingebunden z.Zt. mit seinem Drogenkonsum schon mal ausprobieren zu wollen. Speiste sich Leos Selbstwertgefühl 1992 und auch noch 1993 spürbar durch körperliche Kraft, Mut und Geschicklichkeit in gewalthaltigen Auseinandersetzungen, so resultiert es 1994 eher aus dem Wissen, diese Phase hinter sich gelassen und dabei viele auch heute noch relevante Fähigkeiten gewaltsamer Durchsetzung und Gegenwehr erworben, aber auch inzwischen neue Orientierungen für Beruf und Zukunft entwickelt zu haben. 4. Zusammenfassung Leo ist ein Jugendlicher, bei dem über den gesamten Zeitraum der Untersuchung hinweg fremdenfeindliche Orientierungen bestehen. Sie haben freilich dahingehend abnehmende Tendenz, dass sie für ihn an Bedeutung und an gewaltbezogener `Ladung` verlieren. Die Existenz dieser Orientierungen beruht offenbar im wesentlichen auf dem Vorhandensein von Konkurrenzsituationen mit Migrantenjugendlichen, vor allem im Umfeld maskulin konnotierter Territorialkämpfe im lokalen öffentlichen Raum. Sie werden - wohl von beiden Seiten - als interethnische Konflikte wahrgenommen und von Leo XCV entsprechend jugendkulturell inszeniert. L. ist wohl u.a. deshalb in sie verwickelt, weil ihm Schule und Familie keinen tragfähigen Rückhalt für seine Identitätsentwicklung zu bieten vermögen und er in seiner Freizeit auf Suche nach Orientierungsmarken für den Erwerb sozialer Anerkennung und Bestätigungsmöglichkeiten ist. Eine Reduktion ihrer subjektiv empfundenen Brisanz ergibt sich durch einen Wechsel der Freizeitorte, an denen die meisten dieser Konflikte angesiedelt sind. Er wiederum wird 1993 durch ein neues (s. Interpr. Enrik) jugendarbeiterisches Angebot eingeleitet. Darüber (und über eine vielleicht zufällige, vielleicht aber auch erwartbarem Sanktionsdruck vorbeugende Auflösung seiner Skin-(Band-)Orientierung) verlieren sich die Kontakte zur rechten Szene allmählich, und es kommen auch positive Kontakte mit ausländischen Jugendlichen zustande, die für L. das Weiterverfolgen einer undifferenzierten Fremdenfeindlichkeit dissonant machen, so dass er sich gezwungen sieht, die ihm persönlich bekannten ausländischen Jugendlichen von seinen Ungleichheitsvorstellungen auszunehmen, insgesamt bereits lange in Deutschland lebenden "Gastarbeitern" und ihren Familienangehörigen Anciennitätsrechte zuzugestehen und seine Gewaltakzeptanz von diesen Zielgruppen wegzunehmen, um sie auf Neuankömmlinge, wie z.B. Spätaussiedler(jugendliche) zu übertragen. Sie sind nämlich genauso cliquenförmig in jungentypische Kämpfe hegemonial-maskulinen Zuschnitts verwickelt. Diese Übertragung auf deutsche Staatsangehörige kann ihm auch deshalb gelingen, weil seine Fremdenfeindlichkeit nie rassistisch, nicht einmal i.e.S., trotz stellenweiser Relativierung der NS-Herrschaft, nationalistisch (im Sinne einer Aufwertung der deutschen Nation) begründet war und seine politische Positionierung insgesamt weniger rationalen Überlegungen folgte als auf jugendkulturellen Attitüden und Präferenzen (Enrik spricht auch von "Moden") beruhte. Durch das Verblassen des interethnischen Konflikts als Lebensabschnitts-Thema werden auch die im Zusammenhang damit stehenden Gewalterfahrungen seltener und drängen sich ihm entsprechende Gewaltphantasien weniger auf. Er kann nun deren Prävalenz als ein durchlaufenes Entwicklungsstadium ("Kinderscheiß") bewerten und eben daraus auch Selbstwertgefühl ziehen. An der prinzipiellen Gewaltakzeptanz Leos hat dies aber nichts geändert (s. z.B. sein hooliganismus), ja das Gewaltniveau scheint sich sogar bis 1994 gesteigert zu haben; möglicherweise eine Folge der der Dauerhaftigkeit von Gewaltanwendung innewohnenden und kaum zu stoppenden Eskalationstendenz. So sieht es jedenfalls L., wenn er an mehreren Stellen der Interviews die eingesetzte Brutalität in Abhängigkeit vom Alter setzt. Nichtsdestoweniger hält ihn anscheinend die Angst vor Sanktionierung und einer Verdüsterung seiner Zukunftsoptionen von auffälligem Gewaltverhalten ab. Da er trotz schlechter schulischer Voraussetzungen noch einen ganz ordentlichen Schulabschluss geschafft (Note: 2,4) und sofort problemlos eine Lehrstelle gefunden hat, will er die sich damit bietende Normalitäts-Perspektive nichts aufs Spiel setzen. Zu dieser Deutung paßt auch sein im letzten Erhebungsbogen niedergeschriebener Spruch: "Glück im Unglück". Außerdem hat er schlicht keine Zeit und Energie mehr dazu, sich an Orten aufzuhalten, wo Konflikte gewaltförmiger Natur vorprogrammiert sind. Hinzu kommt, dass Vater und Bruder ihn in dieser Hinsicht bestärken, ohne dass er sich dem vormaligen Leistungsdruck ausgesetzt sieht, vor allem aber, dass er inzwischen neue apolitische Lebensvorstellungen und individualisierte Lebensweisen (kommerzielle Vergnügungsorientierung, Haschischkonsum) entwickelt hat, die ihn den alten Konflikten entheben, seine Ungleichheitsvorstellungen ohne gründliche Aufarbeitung in die Latenz verdrängen und ihn "alles lockerer" sehen lassen, zumal er keine politischen Durchsetzungschancen für sich sieht. Insofern sein über die Jahre hinweg "bester Freund" Enrik einen nahezu gleichen Verlauf zeigt, ist auch von einer gegenseitigen Bestärkung der beiden auszugehen. Lisa 1992 - 1994 XCVI "Wir haben eigentlich ganz schön viele Ausländer in der Clique und auch Deutsche und so, die verstehen sich ganz gut." (1992: 29;26 ff) "Jeder Mensch ist genauso wie der andere, also es gibt für mich keine Unterschiede." (1993: 42;30 ff) "Wenn jemand hierher kommt und wirklich hier auch absahnen will, dann finde ich das auch nicht richtig, schließlich arbeiten wir für, auch für die Asylbewerber." (1994: 53;26 ff) 1. Objektive Daten zum Lebenskontext im Überblick Lisa, 1992 13 Jahre alt, katholisch, deutsch, lebt mit ihrer polnischen Mutter seit neun Jahren in einem Vorort einer süddeutschen Großstadt. Vorher lebte sie in einer mittelgroßen Stadt im Ausland. 1992 bewohnt sie mit ihrer Mutter und derem deutschen Freund eine 2-ZimmerSozialwohnung in einem Hochhaus. Zu ihrem leiblichen deutschen Vater hat sie keinen Kontakt mehr. Die Mutter und der Freund haben beide Abitur und sind als Buchhalterin bzw. technischer Zeichner tätig. 1993 trennt sich die Mutter von ihrem Freund und lernt einen neuen Mann kennen, der aber nicht mit in der Wohnung wohnt. Lisa hat ein eigenes Zimmer, und die Familie ist durchschnittlich materiell ausgestattet (vgl. Fb.). Lisa bezieht zunächst 50 DM Taschengeld, 1994 hat sie aufgrund eines Nebenjobs 300 DM im Monat zur Verfügung. Sie besucht bis zum Ende der Untersuchung eine Realschule. 2. Politische Orientierung 2.1 Allgemeine Orientierung Lisa zeigt sich politisch interessiert und beklagt 1992, dass ihre Eltern sie mit dem Hinweis auf zu erbringende schulische Leistungen bei Gesprächen über aktuelle Themen ausschließen: " ...das ist viel wichtiger, ob da jemand weiß, was in der Welt passiert, als nur hier in der Schule zu sitzen über den Heften und Büchern. Ich finde, was hier passiert, ist eigentlich viel wichtiger" (1992: 15;1 ff) Sie würde 1994 sofort wählen gehen, wenn sie dürfte: "wenn ich nicht wähle, dann kann ich nichts verändern" (1994: 52;5 f). 1992 rechnet sich Lisa selbst keiner jugendkulturellen Stilrichtung zu, bezeichnet aber Skinheads, Hooligans, Hausbesetzer und national eingestellte Gruppen als "Gegner". Ab dem folgenden Jahr bezeichnet sie sich selbst als "linke", d.h. für sie (gewaltfrei) "gegen Nazis" (1994:23;16) eingestellte Jugendliche, während zu den letztgenannten Gruppierungen noch Bundeswehrfans und rechte Jugendliche hinzu kommen. 1994 benennt sie keine Gruppierung explizit als "Gegner" und fühlt sich selber den Technos zugehörig. Für sie gilt nun das Motto: "Jeder akzeptiert das, was der andere hört und mag" (1994: 26;27 f). 2.2 Ungleichheitsvorstellungen/Gleichheitsvorstellungen im Kontext von Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus Lisa zeigt durchgängig viele Gleichheitsvorstellungen in bezug auf Ausländer, vermutlich auch dadurch bedingt, dass ihre Mutter Polin ist und sich 1992 und 1994 in ihrer jeweils aktuellen Clique auch Ausländer befinden: "wir haben eigentlich ganz schön viele Ausländer in der Clique und auch Deutsche und so, die verstehen sich ganz gut" (1992: 29;26 ff). Durchgängig betont sie auch die positive Möglichkeit des kulturellen Austausches zwischen Deutschen und Ausländern - "ja, man erfährt total viel, erstens über XCVII die Länder oder über die Sprache oder über Kultur" (1993: 45;25 ff) und schreibt Ausländern (hier Engländern, die sie bei einem England-Besuch kennen gelernt hat) ebenso grundsätzlich positive Attribute zu: "die Leute waren total freundlich, und sie haben einen angenommen ..." (1994: 45;33 f). Obwohl Lisa 1993 schon Angst vor zukünftiger Arbeitslosigkeit verspürt, hegt sie korrespondierend mit ihrer Selbsteinschätzung als "links" keine Wegnahme-Theorien in bezug auf Ausländer: "...wir denken jetzt nicht so, wie viele uns eigentlich einreden wollen, dass es vielleicht zu viele Ausländer gibt ..." (1993: 30; 38 ff), sondern sucht die Gründe eher in der wirtschaftlichen Konkurrenz anderer Länder oder finanziellen Fehlentscheidungen der verantwortlichen Politiker (ebd.). Weiterhin unterstellt sie Ausländern keine erhöhtes Kriminalitätspotential: "...es sind bestimmt nicht die Ausländer (...), die einbrechen oder sonst was machen" (1993: 50;21 ff). Sie macht keine Unterschiede zwischen Deutschen und Ausländern, weil sie der Meinung ist, dass "jeder Mensch genauso ist, wie der andere" (1993: 42;30 ff). Die deutsche Staatsbürgerschaft sollte ihrer Einschätzung nach jeder bekommen, der sie "möchte" (vgl. 1993: 43;24 ff), außerdem sollte jeder Ausländer das Wahlrecht haben (ebd., 46;29 f). Als Gründe für die Einwanderung nach Deutschland erkennt sie Flucht vor Folter, Schutzsuche und Armut an. Als Grund für eine schlechtere Behandlung von Asylbewerbern im Vergleich zu anderen Ausländergruppierungen (z.B. Aussiedlern) sieht sie die von deutschen Bürgern vorgenommene Unterstellung "die wollen nur Geld haben" (1993: 44;2) an. Des weiteren nimmt sie generelle Andersartigkeit und damit Auffälligkeit (z.B. dunkle Hautfarbe) als Ursache für Ausgrenzung wahr (ebd.). Sie plädiert für einen anderen Umgang mit Asylbewerbern, indem die Fehler nicht nur bei dieser Gruppierung, sondern auch im eigenen Lande gesucht werden sollen und somit Veränderungen vorgenommen werden können (1993: 46;34 ff). Allerdings glaubt sie, dass gegenseitige Akzeptanz nur freiwillig erfolgen kann und Zwang keinen nachhaltigen Erfolg tätigen würde (ebd., 1 ff). Eine absolute gesetzliche Gleichstellung der Ausländer hält sie hinsichtlich einer möglicherweise daraus resultierenden unwilligen Reaktion der deutschen Bevölkerung für problematisch. Obwohl sie sich einen Ausländer als Freund vorstellen kann, äußert sie Vorbehalte hinsichtlich eines "angeberischen" und "machohaften" Verhaltens von männlichen Türken und Italienern. Dies kann sie mit eigenen Anmach-Erfahrungen begründen: "... dann wird man irgendwie angepöbelt oder dann wird nachgepfiffen" (1993: 44;40 ff). 1994 bezeichnet Lisa sich explizit als "gegen Nazis oder Republikaner" (1994: 15;2). Für sie äußert sich ‘Links-Sein‘ nicht im Tragen eines bestimmten Outfits oder der gewalttätigen Konfrontation mit "Rechten", sondern darin, dass man "alle Leute tolerieren können (muss), und das ist irgendwie egal, was für eine Nationalität und was für eine Hautfarbe der hat" (ebd., 23;24). Obwohl sie selbst nicht alle Ausländer "liebt", plädiert sie dafür, sie nach ihren individuellen Qualitäten und nicht nach ihrer Nationalität zu beurteilen: "Ich finde es ganz ok, wenn man sagt, ja, ich kenne den, und ich mag den nicht (...), ich habe irgendwie was dagegen, wenn man sagt, oh, das Gesicht gefällt mir nicht" (1994: 24;12 ff). Noch immer fordert Lisa, dass Verfolgten geholfen werden muss. Allerdings spricht sie sich erstmals gegen ‘Asylbetrug’ aus und begründet dies mit Steuerzahler-Argumenten: "Wenn jemand hierher kommt und wirklich hier auch absahnen will, dann finde ich das auch nicht richtig, schließlich arbeiten wir für, auch für die Asylbewerber" (1994: 53;26 ff). Hinsichtlich kursierender Annahmen über eine erhöhte Ausländerkriminalität verwehrt sie sich gegen eine Sündenbock-Suche der Deutschen, weil diese nicht minder kriminell seien. Jedoch benennt sie als "typische" Ausländerkriminalität "Autoschmuggel", "Drogenverkauf" und "Prostitution" und fordert höhere Bestrafungen und die Abschiebung kriminell gewordener Ausländer (1994: 54;10 ff). Dies begründet sie mit einer Anpassungsforderung an deutsche Gesetze und Sitten: "Wenn jemand hier auch leben will, XCVIII und man ermöglicht ihm das auch, dann soll man sich auch irgendwie dementsprechend verhalten" (ebd., 28 ff). 2.3 Gewaltakzeptanz Lisa zeigt 1992 eine hohe Akzeptanz von staatlicher und fremdausgeübter Gewalt und nimmt auch selber gelegentlich aktiv an gewalttätigen Auseinandersetzungen mit anderen Jugendlichen teil. Sie verurteilt jedoch die in Rostock und Solingen erfolgten Übergriffe gegen Ausländer. Im Laufe der Erhebung nimmt ihre personale Gewaltakzeptanz anders als die Forderung nach einer stärker reglementierenden gesetzgebenden Gewalt sehr stark ab. 1992 äußert sie implizit Kritik an den Übergriffen in Rostock, indem sie die Äußerung ihrer Eltern, "es gäbe zu viele Ausländer in Deutschland" kritisiert: "... dann haben sie sich aufgeregt (...), das sind doch zu viele Ausländer, dann habe ich gesagt, ihr seid doch eigentlich auch welche, wenn man eigentlich so beurteilt, müsste ja halb Deutschland raus, weil sie entweder nicht richtig deutsch sind oder Ausländer, und ich finde, was soll das eigentlich..." (1992: 14;18 ff). Vermutlich aus Angst vor sexuellen Übergriffen (vgl. 1992: 20;22 ff) fordert sie eine "straffere" Gangart in Deutschland (vgl. Fb.). Hinsichtlich der gewalttätigen Konflikte zwischen ihrer "Spielplatz-" und anderen Cliquen zeigt sie Billigung sowie Normalisierungs- und Verharmlosungstendenzen: "... dann gibt es manchmal schon Zoff, und dann fangen die eben an, komm, schlagen wir uns und so, und dann prügeln sie sich ein bisschen herum und so" (1992: 27; 14 ff). Auch sie selbst war schon aktiv an zumindest einer Schlägerei beteiligt, wobei der Auslöser für sie war, "wie sie über andere Leute und über mich herzogen" (ebd., 27;36 f). Vermutlich begründet durch den restriktiven Erziehungsstil des Stiefvaters (s.u.), gegen den Lisa sich nicht wehren kann und den sie als belastend empfindet, scheint sie Gewalt als eine Möglichkeit der Abreaktion zu nutzen: "...man braucht so etwas, sich irgendwann mal zu prügeln." (1992: 28;9 ff) Zudem scheint sie Gewalt zum einen als eine Art ‘Kräftemessen’ - "es ging nicht um Siegen oder Verlieren (...), wenn der eine am Boden war, dann hat man gesagt, siehst du, ich bin der Stärkere, (...) man hat einfach losgelassen" (ebd., 3 ff) -, zum anderen als Erziehungsmaßnahme zu verstehen: "wenn es Leute sind, die einfach nichts kapieren und die über nichts reden wollen, dann ist der einzige Weg nur Prügel" (ebd., 20 ff). Bei solchen Auseinandersetzungen werden keine Waffen benutzt (vgl. ebd., 33;35 ff). Innerhalb der "Spielplatz"-Clique hält Lisa aus Angst vor gewalttätigen Reaktionen der Cliquenmitglieder ihre eigene Meinung häufiger zurück (vgl. ebd., 29;6 ff). Vermutlich aufgrund des aus der Trennung der Mutter von ihrem Freund resultierenden wesentlich verbesserten Verständnisses zwischen Mutter und Tochter (s.o.), der Abwendung von ihrer gewaltbereiten Spielplatz-Clique (s.u.) und der Einsicht "es bringt nichts (...), wenn man jemand mit Gewalt begegnet, das kommt auch irgendwie wieder zurück" (1993: 47;23 ff), distanziert sich Lisa 1993 eindeutig von der Anwendung personaler Gewalt. Sie plädiert - auch unter Hinweis auf den Anschlag von Solingen - für friedliche Wege der Konfliktlösung. Als Gründe für das Handeln der jugendlichen Täter sieht sie Mitläufertum und das unreflektierte Übernehmen von Hetzparolen ( vgl.1993: 47;9 ff). Für die aggressive Reaktion der jugendlichen Türken zeigt sie Verständnis, weil sie deren Betroffenheit nachvollziehen kann: "Ich denke mal, dass die so eine richtige Wut hatten, (...) Mensch, wir leben doch hier (...), dann tut ihr uns das an. Wir sind doch keine schlechteren Menschen" (ebd., 33 ff). Lisa hält die Polizei im Hinblick auf die hohe Kriminalitätsrate in Deutschland für "machtlos". Jedoch sieht sie in einer von den Nationalitäten her gemischten Polizei eine sinnvolle Maßnahme, um wachsender Kriminalität zu begegnen, weil ausländische Polizisten sich besser in die jeweilige Mentalität ihrer Landsleute hineinversetzen und somit etwas zur Verbrechensbekämpfung beitragen könnten. XCIX 1994 hält Lisa den Einsatz von Gewalt für unter ihrem "Niveau" (1994: 9;22) und sieht als Grund für ihre vormalige Gewaltbereitschaft einen die "Langeweile" vertreibenden "Kick" (1994: 9;34 ff), den ihr die Teilnahme an Schlägereien verschafft habe. Sie kann ihre Interessen mittlerweile ohne den Einsatz von körperlicher Gewalt durchsetzen: "...wenn ich irgendwelche Interessen habe, dann sage ich das, und dann mache ich die auch, ich meine, ich muss mich vor keinem rechtfertigen, und ich muss auch gar keine Gewalt ansetzen." (1994: 10;4 ff) 3. Zusammenhang von politischer Orientierung und Gewaltakzeptanz mit sozialen Erfahrungen und Erfahrungsstrukturierung 3.1 Erfahrungen und Bearbeitungsressourcen 3.1.1 Problembelastungen und zentrale Interessenlagen 1992 gibt Lisa als Problembelastungen "das Verhältnis zu den Eltern" und "schulische Probleme" an. Das Verhältnis zu ihrem kontrollierenden Stiefvater belastet sie aufgrund seiner Dominanz, eines von ihr empfundenen Vertrauensmangels und einer starken Leistungsorientierung, welche zu einem erhöhten schulischen Leistungsdruck bei ihr führt. Zudem fürchtet sie, dass sich der Stiefvater negativ auf ihr Verhältnis zu ihrer Mutter auswirkt. Weiterhin gibt Lisa "Ärger mit älteren Jugendlichen" an, womit sie vermutlich auf die in der "Spielplatz-Clique" (s.u.) vorherrschende Gewalt anspielt. 1992 und auch 1993 hat sie zudem "Schwierigkeiten, einen Freund" zu finden. 1993 gibt sie o.a. Problembelastungen nicht mehr an, jedoch belastet sie ihre "weitere Lebensplanung". Lisa hat ein Praktikum als Sekretärin absolviert und macht sich Gedanken über evtl. spätere Arbeitslosigkeit. Zudem ist sie sich über ihre Berufswahl noch nicht im klaren. 1994 gibt sie als einzige Belastung "zu wenig Zeit" an. Sie lernt im Hinblick auf ihre Abschlussprüfung sehr viel für die Schule, jobbt zur Aufbesserung ihres Taschengeldes in einer Boutique und hat einen recht großen Freundeskreis, so dass sie sich die ihr zur Verfügung stehende Zeit sehr gut einteilen muss. 3.1.2 Erfahrungen im sozialen Nahraum und seine sozio-emotionalen Ressourcen 1992 stellt sich Lisas familiäre Situation für sie vor allem durch das stark angespannte Verhältnis zu ihrem Stiefvater als ziemlich belastend dar: "mit meinem Vater habe ich eigentlich jeden Tag Zoff" (1992: 6;4), "der ist nie liebevoll" (ebd.; 31) . Sie empfindet ihn als kontrollierend, "streng" und "notengierig" (ebd.: 2;6 f) und wirft ihm mangelndes Vertrauen, vor allem auch in ihre Freundeswahl, und emotionale Oberflächlichkeit vor. Sie fürchtet um ihre Beziehung zur Mutter, weil diese dem Stiefvater in vielen Dingen nachgibt und sich seiner Meinung anschließt. Zu ihrem leiblichen Vater hat Lisa aufgrund der Tatsache, dass ihre Mutter sie vor die Wahl ‘sie oder der Vater’ gestellt hat, zu ihrem Bedauern keinen Kontakt mehr. Nach der Trennung der Mutter von ihrem Freund verbessert sich ihr Verhältnis zur Mutter wesentlich hin zu einer verständnisvollfreundschaftlichen Beziehung. Sie kann nunmehr mit der Mutter sowohl private als auch aktuelle Probleme besprechen und unternimmt viel mit ihr, so dass diese Beziehung für sie einen subjektiv für ausreichend empfundenen emotionalen Rückhalt darstellt. Den Leistungs- und Anpassungsforderungen der Schule zeigt sich Lisa gewachsen, obwohl sie 1992 - vermutlich hauptsächlich durch die Leistungsorientierung der Eltern - "die wollen einfach nur Leistung sehen. Da interessiert die nicht, wie ich das fertig bringe" (1992: 5;15 ff) -, respektive des Stiefvaters, - unter einem starken Leistungsdruck steht und befürchtet, den Anforderungen nicht gerecht zu werden. In der Folge verbessern sich ihre Leistungen zu ihrer eigenen Zufriedenheit. In die Klassengemeinschaft scheint sie durchgängig gut integriert zu sein. Sie trifft sich auch privat mit ihren KlassenkameradInnen. 1993 nimmt sie das Amt der Klassensprecherin wahr. Während des gesamten Erhebungszeitraums hat Lisa wechselnde Freundeskreise bzw. Cliquen. 1992 bewegt sie sich in einer "vertrauten" Klassenclique und in einem größeren, offeneren Cliquenverband, der sich auf einem C Spielplatz des Ortes trifft. Diese Clique ist altersheterogen und setzt sich aus Deutschen und Ausländern zusammen, die untereinander nach ihrem Bekunden "gut" miteinander auskommen. Innerhalb der Clique herrschen altersbedingte Hierarchien. Mit anderen, u.a. um den Treffpunkt konkurrierenden, Cliquen kommt es häufiger zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. 1993 hat Lisa sich aufgrund neuer Freizeitmöglichkeiten (Billard im Schulgebäude; Mitnahme zum Tanzkurs durch ältere Mitschülerinnen) von dieser Clique gelöst und ist mit vier Klassenkameradinnen befreundet. Diese Mädchengruppe löst sich bis 1994 wegen interner "Eifersüchteleien" auf. Lisa ist weiterhin mit einem Mädchen aus dieser Gruppe befreundet und hat sich u.a. über den Besuch einer Tanzschule eine größere Clique erschlossen, die aus Ausländern und Deutschen verschiedener jugendkultureller Stilrichtungen besteht. Diese trifft sich vornehmlich an den Wochenenden in verschiedenen Discotheken oder Kneipen. Obwohl Lisa aufgrund persönlicher Bindungen ihre Nachbarschaft bzw. ihr Wohnumfeld nicht verlassen möchte, würde sie doch lieber in einem eigenen Haus wohnen. Zu ihren Nachbarn hat sie ein distanziertes Verhältnis, weil sie "ihre Ruhe" haben möchte. Insgesamt befindet sie ihre Umgebung als zu "trist". Aufgrund schlechter Straßenbeleuchtungen und wachsender Kriminalität entwickelt sie Ängste in Richtung auf sexuelle Übergriffe und zeigt in Folge Vermeidungsverhalten, z.B. sich nicht im Dunkeln alleine draußen aufzuhalten. 1994 bewegt sie sich im Rahmen ihrer neuen Clique über die Grenzen ihres Wohnortes hinaus. In ihrer Freizeit unternimmt Lisa etwas mit ihren Freunden, z.B. Schwimmen oder Bummeln gehen. Zunehmend bewegt sie sich in Discotheken und kommerziellen Freizeiteinrichtungen. Außerdem besucht sie einen Tanzkurs und möchte in einem Verein Volleyball spielen. Das örtliche Jugendhaus besucht sie von Anfang an selten, weil sie einen "schlechten Einfluss" der dortigen älteren Jugendlichen z.B. im Hinblick auf Drogenkonsum fürchtet. 3.1.3 Medienrezeption und sonstige Ressourcen politisch relevanter Information Obwohl sich Lisas Auswahl der von ihr rezipierten Medien vornehmlich nach deren Unterhaltungswert richtet (vgl. Fb.), zeigt sie sich doch sehr interessiert an aktuellen Themen. Ab 1993 bespricht sie aktuelle Themen mit ihre Mutter und weiß sich mit ihr in ihrer Ablehnung von Rechtsextremismus in Übereinstimmung. Besonders schätzt sie Diskussionen, weil sie daraus lernen kann, "irgendwie die Meinungen von anderen zu akzeptieren" (1994: 14;32 f). Auch ihre Klassenkameraden und jeweiligen FreundInnen beschreibt sie als vornehmlich "links". Mit der Schule hat sie den Landtag besucht. Besonders hat sie die Reaktion ihrer Klassenlehrerin beeindruckt, die sich hinsichtlich der Anschläge in Solingen und Mölln bei einem türkischen Klassenkameraden "im Namen des Volkes" entschuldigt hat. Mit Interesse hat sie den NS-Unterricht in der Schule verfolgt und kommt zu dem Schluss, dass sich die Deutschen ihrer Vergangenheit schämen müssen und dass jeder Deutsche, der damals dabei gewesen ist, Verantwortung gegenüber den NS-Opfern trägt. Dennoch zeigt sie Verständnis für das Verhalten der damaligen "manipulierten" Bürger, die ihrer Ansicht nach wegen der Bedrohung ihres eigenen Lebens bzw. das ihrer Familien keine andere Wahl hatten. 3.1.4 Erfahrungen mit und Ressourcen von gesellschaftlicher und politischer Teilhabe Obwohl Lisa sich persönlich nicht in Initiativen o.ä. engagiert, begrüßt sie die Aktivitäten von z.B. Amnesty International und Umweltschutzinitiativen. Sie selber hat angefangen, ihr Konsumverhalten nach Umweltschutz-Gesichtspunkten auszurichten. Hinsichtlich ihrer beruflichen Zukunft möchte sie weiter die Schule besuchen, um später evtl. Betriebswirtschaft studieren zu können. Entsprechend groß ist 1994 ihr schulischer Einsatz. Möglicherweise bedingen ihre Ängste vor späterer Arbeitslosigkeit und die damit CI verbundene Leistungsorientierung die bei ihr 1994 erstmals auftauchenden - vermutlich dem öffentlichen Diskurs entlehnten - Vorbehalte in bezug auf "Asylbetrüger", die ‘unberechtigterweise’ staatliche Leistungen ‘erschleichen’ (vgl. Kap. 2.2). 3.2 Kategorien, Kompetenzen und Mechanismen der Erfahrungsstrukturierung 3.2.1 Zentrale Bezugspunkte sozialer Identität Lisa hat keine explizit positive oder negative Einstellung zu ihrer deutschen Nationalitätszugehörigkeit. "Heimat" ist für sie dort, wo sie sich "wohlfühlt" und wo sie Menschen hat, die sie "leiden" können. Sie kann sich vorstellen, eine zeitlang in England zu leben, weil sie die "freundliche" und "offene" Mentalität der Engländer im Rahmen einer Klassenfahrt kennen- und schätzen gelernt hat. Hauptsächlich scheint sie ihr Deutsch-Sein als kulturelle Einbettung zu verstehen, weil sie immer wieder die Wichtigkeit des kulturellen Austausches und die damit verbundenen Lern- und Verständnismöglichkeiten zwischen Ausländern und Deutschen betont. Ihr regionaler und lokaler Sozialraum scheint aufgrund seiner Bevölkerungszusammensetzung dazu beizutragen, dass sie vermehrt auch im privaten Bereich mit Ausländern zusammentrifft und sie daher individuell nach ihren persönlichen Qualitäten einschätzt. Ihr Sozialstatus als Tochter einer Polin, die wie viele Ausländer in einer Sozialwohnung lebt, scheint dazu beizutragen, dass Lisa sehr viel Sensibilität für die Probleme von Ausländern zeigt und Ungleichheitsvorstellungen im großen und ganzen nicht entwickelt. Lisa nimmt ihre Geschlechtsrolle bewusst wahr und identifiziert sich mit ihrer Meinung nach typischen weiblichen Eigenschaften, wie z.B. Einfühlungsvermögen. Allerdings sieht sie sich aber aufgrund mangelnder körperlicher Stärke und männlicher Aggressivität auch als potentielles Opfer sexueller Übergriffe. Zumindest in der erwähnten "Spielplatz"-Clique scheint sie sich noch 1992 als junges Mädchen der männlichen Dominanz häufig zu fügen. Obwohl sie in bezug auf Ausländer keine Kriminalitätstheorien vertritt, scheint ihre Angst, als Frau ein potentielles Opfer von Gewalt zu sein, doch eine Sensibilisierung gegenüber Kriminalität und somit ihre Forderung nach Anpassung der Ausländer an deutsche Gesetze und Sitten und bei Nichtbeachtung nach deren Ausweisung zu bedingen. Zudem zeigt sie aufgrund eigener Erfahrungen Ressentiments hinsichtlich des "Macho-Gehabes" und "Angebertums" männlicher italienischer und türkischer Jugendlicher. Lisas jugendkulturelle Orientierung richtet sich auf "linke" Positionen, wobei sie aber die Verwendung von entsprechenden äußerlichen Attributen ablehnt. Ihre Beziehungen im sozialen Nahraum scheinen ihre politischen Ansichten zu unterstützen, weil sie sich sowohl mit ihrer Mutter als auch mit ihren Klassenkameraden und jeweiligen (ausländischen) FreundInnen zumeist in Übereinstimmung weiß. Hinsichtlich ihrer anfänglich hohen Gewaltakzeptanz scheint sich zum einen das gespannte Verhältnis zum Stiefvater auszuwirken, aufgrund dessen sie anscheinend Gewalt ab und zu als "Ventil" benutzt. Zum anderen bieten sich im Rahmen ihrer Zugehörigkeit zu der "Spielplatz"Clique Möglichkeiten zur Teilnahme an kollektiven gewalttätigen Auseinandersetzungen, die im Hinblick auf Konkurrenz- und Territorialverhalten mit anderen Jugendgruppierungen ausgetragen werden. 3.2.2 Individuelle Kompetenzen bzw. Mechanismen zum Aufbau personaler Identität Lisa zeigt Ausländern gegenüber ein hohes Maß von Toleranz, die sich in Gleichheitsvorstellungen ihnen gegenüber und der Achtung bzw. Wertschätzung fremder Kulturen und Mentalitäten niederschlägt. Ebenso beweist sie Reflexionsvermögen hinsichtlich aktueller Probleme, der Situation der Ausländer in Deutschland und ihrer familiären Situation. Besonders ihrer Mutter und der Situation von Asylbewerbern in ihren Herkunftsländern bringt sie ein ausgeprägtes Empathievermögen entgegen. Dies korrespondiert mit ihrer Einschätzung, dass Mädchen und Frauen grundsätzlich mehr Einfühlungsvermögen als Jungen und Männer besitzen. Lisas Konfliktfähigkeit steigert CII sich zunehmend dahingehend, dass sie ihre Meinung verbal durchsetzen und daher auf personal-physische Gewalt verzichten kann. Sie schätzt Diskussionen, weil sie bewusst die Mechanismen verbaler Auseinandersetzungen präferiert und weiter erlernen will. Ihre persönlichen Wünsche kann sie zurückstellen, wenn sie einsieht, das diese die (z.B. finanziellen) Möglichkeiten der Familie übersteigen. Lisa zeigt Bereitschaft, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen, sei es in der Schule als Klassensprecherin oder auch als Bürgerin Deutschlands, die zur Verteidigung der Rechte ausländischer Mitbürger an "Lichterketten" oder friedlichen Demonstrationen teilnehmen würde (vgl. 1994: 56;20 ff). Lisas zunehmend ausgeprägtes Selbstwertgefühl resultiert aus dem Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und der Kompetenz, auch komplizierte Sachverhalte reflektiert beurteilen zu können. Ihre individuellen Kompetenzen befähigen sie zunehmend, sich eine eigene Meinung zu bilden, diese begründet darstellen und gegebenenfalls gewaltfrei durchsetzen zu können. Die Anerkennung und Akzeptanz, die sie von ihrer Mutter und ihren jeweiligen FreundInnen bezieht, auf deren konstruktive Meinung bzw. Kritik an ihr sie sehr viel Wert legt, untermauern ihr Selbstbewußtsein. 4. Zusammenfassung Lisa präsentiert sich als ein Mädchen, dass sich - vermutlich hauptsächlich aufgrund der polnischen Nationalität ihrer Mutter und des freundschaftlichen Umgangs mit AusländerInnen, die sie anhand ihrer individuellen Qualitäten beurteilt - durch die Ausbildung vieler Gleichheitsvorstellungen in bezug auf Ausländer auszeichnet, die allerdings von Ressentiments hinsichtlich eines selbst erfahrenen "Macho-Gehabes" und "Angebertums" jugendlicher männlicher Türken und Italiener und 1994 erstmals augenscheinlich nicht zuletzt resultierend aus der Angst vor Arbeitslosigkeit und einer damit einhergehenden starken Leistungsorientierung in der Schule - von Vorbehalten im Hinblick auf "Asylbetrüger", die sie mit Steuerzahler-Argumenten begründet, durchsetzt sind. Durchgängig distanziert sich Lisa von der Anwendung politisch motivierter personaler Gewalt an Ausländern. Ihre eigene, 1992 recht hohe, personale Gewaltakzeptanz baut sich bis 1994 ganz ab. Lediglich die Propagierung und Billigung von staatlicher (Polizei-)Gewalt zur Verhinderung von Kriminalität ist gleichbleibend, wenn nicht gar nach 1994 hin zunehmend, weil sie hier erstmals explizit die Ausweisung kriminell gewordener Ausländer fordert. Im einzelnen zeigt sich Lisas Gewaltakzeptanz 1992 in der Billigung von Gewalt Dritter, wobei sie diese im Cliquenrahmen z.B. durch "Anfeuern" zu verstehen gibt. Sie selbst wird zumindest bei einer Cliquen-Schlägerei selbst aktiv. Die Anwendung von Gewalt scheint dabei für sie als "Ventil" für Spannungen zu fungieren, die wohl vornehmlich aus dem belasteten Verhältnis zum Stiefvater und einem hohen schulischen Leistungsdruck resultieren. Lisa, die ihren Stiefvater als kontrollierend, "notengierig" und launisch empfindet, kann sich gegen ihn nicht durchsetzen, zumal ihre Mutter bei Auseinandersetzungen eher zu ihrem Freund hält und ihr keinen Beistand leistet. Daher fürchtet Lisa, auch die Zuneigung ihrer Mutter zu verlieren, wenn sie sich zu Hause zu sehr auflehnt. Da sie sich - wie erwähnt - z.T. mit von ihr für typisch gehaltenen MädchenEigenschaften wie z.B. Einfühlungsvermögen und körperliche Unterlegenheit identifiziert, scheint ihr kollektives Gewaltverhalten im schützenden Cliquen-Zusammenhang als willkommene Maßnahme zum Ausbruch aus der zu Hause gezeigten Anpassung und zum Abreagieren von Spannungen zu dienen. Daneben stellt Gewalt für Lisa eine Art "Erziehungsmittel" dar, wenn verbale Auseinandersetzungen nicht mehr fruchten. Hier scheint sie cliquen-interne Mechanismen von Dominanz und Durchsetzung aber auch eigener Unterlegenheit zu übernehmen. Denn innerhalb der alters -, geschlechts- und nationalitätsheterogenen Spielplatz-Clique leidet Lisa selbst unter der Dominanz einzelner (männlicher) Mitglieder, so dass sie aus Angst vor gewalttätigen Repressalien häufig auf die Äußerung ihrer eigenen Meinung verzichtet. Durchgängig zeigt Lisa Angst vor CIII sexuellen Übergriffen und fühlt sich als Frau als potentielles Opfer. Diesem Umstand scheint geschuldet zu sein, dass sie eine reglementierende Gesetzgebung bzw. Polizeigewalt propagiert und billigt und dass sie aus eigener Erfahrung o.a. Ressentiments gegen Türken und Italiener zeigt. Mit der Trennung der Mutter von ihrem Freund verbessert sich Lisas Verhältnis zu ihr hin zu einer verständnisvoll-freundschaftlichen Beziehung ("ganz arg toll", 1993: 8;32), in der sie emotionalen Rückhalt, mehr Verantwortung und Anerkennung erhält. Gepaart mit dem Wachsen ihrer persönlichen Kompetenzen und ihres Selbstbewusstseins als Frau - "ich akzeptiere mich eigentlich wie ich bin" (1993: 35; 26 f) - sowie der anscheinend damit verbundenen freiwilligen Abgrenzung von der "Spielplatz"-Clique scheinen diese Entwicklungen in ihrem Lebensalltag und ihrer Persönlichkeit dazu zu führen, dass sie in der Folge Gewalt nicht mehr als Lösungsmittel für Konflikte ansieht und sich deshalb konsequent davon distanziert. Zudem hat sie schon 1993 ihr Freizeitverhalten aufgrund neuer Angebote dahingehend verändern können, dass sie nicht mehr pure "Langeweile" hat, die sie im nachhinein als einen wichtigen Grund für ihre ehemalige "Spielplatz"Cliquenzugehörigkeit und das damit verbundene Gewalthandeln erkennt. Dazu kommt 1994 eine über die Grenzen des Ortes hinausgewachsene Mobilität: Lisa bewegt sich nun im Rahmen einer stilungebundenen, heterogenen Clique bei ihren Freizeitunternehmungen in Discotheken und Kneipen, in denen sie nicht mehr mit Mitgliedern der "Spielplatz"Clique zusammentrifft. Die Teilnahme an einem Praktikum als Sekretärin bedingt bei ihr, dass sie sich vermehrt Gedanken über ihre berufliche Zukunftsplanung macht und damit verbunden auch Ängste in Richtung späterer Arbeitslosigkeit entwickelt. Dies und der Wunsch zu studieren scheinen bei ihr eine erhöhte Leistungsorientierung und -bereitschaft zu verursachen. Möglicherweise ist hier ein entscheidender Grund dafür zu suchen, dass Lisa 1994 erstmals Vorbehalten in bezug auf "Asylbetrüger" entwickelt. Die zur Begründung herangezogenen anscheinend dem öffentlichen Diskurs entlehnten - Steuerzahler-Argumente deuten darauf hin, dass sie Leistung und Anpassung an hiesige Normen, die sie selbst erbringen muss, auch von Flüchtlingen verlangt. Mickey 1992 - 1994 "Die, welche einfach nur so hierher kommen, die Asylanten, und viel Geld kriegen und so, gegen die habe ich auch schon was. Meine Eltern arbeiten, und die bekommen das Geld und dürfen umsonst Bus fahren, dürfen umsonst ins Freibad, klauen Fahrräder, die Polizei macht nichts." (1992: 36;12 ff) "Mir ist das egal (Anschlag in Solingen; d.V.). Hier gibt es ja eh jeden Tag Schlägerei." (1993: 26;20 f) "Ja, links schon mal nicht, Kommunismus, nein danke, ja, mehr rechts. Also in Deutschland würde ich nicht sagen, aber wenn ich in Kroatien wäre, dann schon rechts. (...) Ich bin ja Ausländer, da kann ich nicht sagen, hier bin ich rechtsradikal und scheiß Ausländer." (1994: 38;22 ff) 1. Objektive Daten zum Lebenskontext im Überblick CIV Mickey, geb. 1979, Kroate, katholisch, lebt mit seinen Eltern in T., einer Gemeinde mit ca. 9.000 Einwohnern im Ballungsraum Stuttgart. Die Eltern sind ebenfalls kroatischer Nationalität und leben seit geraumer Zeit in Deutschland. Mickey ist in Deutschland geboren und zweisprachig aufgewachsen. Er hat noch zwei ältere Brüder, von denen der eine zunächst mit seiner Familie in Kroatien im Haus des Vaters lebte, später nach Deutschland zurückzog und nun wie der andere Bruder in Stuttgart wohnt. Mickeys Mutter arbeitet in einer Wäscherei, der Vater "auf dem Bau". Der zweitälteste Bruder ist Kfz-Mechaniker. Die Familie bewohnt eine 3-Zimmer-Mietwohnung in einem Mehrfamilienhaus mit sechs Wohneinheiten. Mickey verfügt über ein eigenes Zimmer. Die Familie ist durchschnittlich gut materiell ausgestattet, wobei Mickey z.B. im Hinblick auf Kleidung überdurchschnittlich gut von seinen Eltern versorgt wird. Als Taschengeld stehen ihm zunächst 50 DM, später 100 DM im Monat zur Verfügung. Bis zum Schuljahreswechsel 1993/94 besucht er die in eine größere Jugendhilfeeinrichtung integrierte Tagesgruppe in der ca. 15 km entfernten Stadt W. sowie die ebenfalls dort angeschlossene Förderschule. Danach besucht er wieder eine Hauptschule in seinem Wohnort. Dort ist er durchgängig Mitglied in einem Fußballverein. 2. Politische Orientierung 2.1 Allgemeine Orientierung Mickey ist an deutscher Politik explizit nicht interessiert. 1994 zeigt er jedoch gemessen an seinem sonstigen politischen Informations- und Interessestand ein beachtliches Wissen und Interesse von und an der kroatischen Geschichte und Politik. Hier interessieren ihn besonders die Ustascha (nationalistische kroatische Organisation, 1929 gegr.; unter A. Pavelic, 1941-45 in Kroatien herrschend) und deren Zusammenarbeit mit den deutschen Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg sowie der HSP, einer gegenwärtig bestehenden nationalistischen Partei Kroatiens und deren Armee (HOS). Zudem hat er Kenntnisse von deutschen rechten Vereinigungen z.B. von der Deutschen Liga und Wiking-Jugend. 1992 rechnet Mickey sich selbst zu den Fußball- und Heavy-Fans, Fans von Musikgruppen und Hooligans. "Gegner" sind für ihn Rapper, Biker, Bundeswehr-Fans, Rocker und DiscoFans. 1993 fühlt er sich nur noch den Fußball-Fans zugehörig, zu den "Gegnern" kommen noch linke Jugendliche, Grufties und Autonome hinzu. 1994 rechnet er sich wieder zu den Hooligans und neu zu den Technos, explizite "Gegner" benennt er nicht mehr (vgl. Fb.). 2.2 Ungleichheitsvorstellungen/Gleichheitsvorstellungen im Kontext von Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus 1992 sind Mickeys Orientierungen in bezug auf (Un-)Gleichheitsvorstellungen hinsichtlich Ausländern stark von einem Zwiespalt geprägt, der sich aus seiner Zugehörigkeit zu einer rechtslastigen Clique einerseits und seinem Status als Ausländer in Deutschland andererseits ergibt. Obwohl sich in seiner alters-, nationalitäts- und stil-heterogenen Clique mehrere rechtsorientierte Skins befinden, rechnet er sich selber zu den "Heavies" (vgl. 1992: 11;1 ff) und schätzt sich als "eher mehr links eben" (ebd. 23;35) ein. Als Definition für diese Richtung benennt er das subkulturelle Kriterium "linke Musik eben hören" (ebd. 37), wenngleich er ebenfalls Musik von den rechtsorientierten Gruppen ‘Störkraft’, ‘Endstufe’, und ‘Kahlkopf’ hört (vgl. 1992: 1;6 ff). In der Folge begründet er seine Einstellung aber auch tiefergehend mit einem Argument, das seine eigene Betroffenheit angesichts der aktuellen ausländerfeindlichen Gewalttaten widerspiegelt: "Ich finde es eben Scheiße. Angenommen, du kommst jetzt als Fremder in ein Land (...) und wirst dort zusammengeschlagen oder so etwas, und deine Eltern werden umgebracht." (1992: 23;38 ff) Zwar distanziert er sich einerseits von den Skins in seiner Clique, weil "die blöd (sind), die blicken das auf keinem Auge.(...), weil sie Mitläufer sind" (ebd. 13;4 ff), andererseits kann er jedoch deren ausländerfeindlichen Aktionen auch etwas Gutes abgewinnen, weil dadurch CV "vielleicht die Ausländer, die einfach nur so hierher kommen und Geld verdienen" (ebd. 13;29 f) abgeschreckt werden. Anscheinend um die Diskrepanz zu überbrücken, die sich zwischen seiner trotz seines geringen Alters führenden Rolle (s.u.) in seiner tendenziell rechtsorientierten Clique und seinem Status als Ausländer ergibt, differenziert er Ausländer in zu akzeptierende, da schon länger ansässige und sich selbst versorgende Gastarbeiter "ja, meine Eltern arbeiten" (1992: 36;19) - sowie "Flüchtlinge" (ebd. 37;11) und in nicht zu akzeptierende, "zurückzuschickende" (ebd. 37;16) Asylbewerber: "die bekommen das Geld, und die dürfen umsonst Bus fahren, dürfen umsonst ins Freibad, klauen Fahrräder, die Polizei macht nichts" (ebd. 36:19 ff). Hier greift er sowohl auf in der Öffentlichkeit kursierende ‘Scheinasylanten’-Argumentationen und Fehlinformationen über die Versorgung von Asylsuchenden als auch auf den Vorwurf einer erhöhten Kriminalität zurück. Bei letzterem kann er auf die eigene Erfahrung des Diebstahls seines Fahrrades durch einen "Albanier oder Araber" (ebd. 36;36) verweisen. Obwohl Mickey 1993 von sich behauptet, dass ihm Asylbewerber "egal" sind, solange sie ihn "in Ruhe lassen" (1993: 29;12) und er als Gründe für Asylgewährung politische Verfolgung, Krieg im Herkunftsland und Armut anerkennt (vgl. ebd. 33;38 ff), vertritt er nach wie vor die ‘Scheinasylanten’-Argumentation, wobei er allerdings zwischen seiner an den eigenen Aufenthaltsstatus gebundenen Meinung als Ausländer und der davon unabhängig eher latent individuell vorhandenen differenziert: "Das kann ich nicht sagen, ich bin ja selber Ausländer. Wenn ich Deutscher wäre, würde mich das natürlich schon ankotzen." (ebd. 30;6 ff) Zusätzlich argumentiert er nun auch mit Wegnahme-Theorien: "Weil sie herkommen und hier Geld machen wollen und die Deutschen vielleicht keine Wohnung kriegen und keine Arbeit" (ebd. 14 ff). Weiterhin macht er Asylbewerbern (hier Albanern) den Vorwurf, "Freundinnen anzubaggern" (ebd. 29;16), ein Vorfall, der ihm von den betroffenen Mädchen berichtet wurde. Sein o.a. Rollenkonflikt als Ausländer in einer tendenziell rechtsgerichteten Clique äußert sich noch immer, z.B. einerseits in der Einlassung, bei gewalttätigen Auseinandersetzungen ‘gezwungenermaßen’ eher zu den Türken zu halten "ich muss ja den Türken helfen" 1993: 28;25) - und die (rechtsorientierten) Skins zu "hassen" (ebd. 46;26). Andererseits nimmt er aber die Mitglieder seiner Clique aus der Definition "Skins" heraus, vermutlich um trotz seines vorhandenen Feindbildes konfliktfrei mit ihnen zusammensein zu können: "Nein, das sind ja auch nicht richtige Skins, also die haben also mehr was gegen Asylanten, nicht gegen Ausländer" (ebd. 28;32). Auf diese Weise kann er sich über die gemeinsamen Vorurteile gegen Asylbewerber mit den seiner Meinung nach eher "rechten Jugendlichen" (vgl. ebd. 29;2 f) arrangieren (und bis zu einem gewissen Grad wohl auch identifizieren), ohne sich als Ausländer von ihnen bedroht fühlen oder die Offensive gegen sie ergreifen zu müssen. 1994 sind Mickeys Orientierungen neben den noch immer o.a. Ungleichheitsvorstellungen in bezug auf Asylbewerber von einem starken kroatischen Nationalitätszugehörigkeitsgefühl und einem großen Nationalstolz sowie der traditionellen Feindschaft zwischen Kroaten und Serben geprägt. Noch immer differenziert er zwischen politischen Ansichten, die er als Ausländer in Deutschland vertritt und solchen, die er als Einheimischer in Kroatien vertreten würde. Er selbst schätzt sich nun "mehr rechts" ein: "Links schon mal nicht, Kommunismus, nein danke, ja, mehr rechts. Also in Deutschland würde ich nicht sagen, aber wenn ich in Kroatien wäre, dann schon rechts. (...) Ich bin ja Ausländer, da kann ich ja nicht sagen, hier bin ich rechtsradikal und scheiß Ausländer." (1994: 38;22 ff) Als Konsequenz der im Zweiten Weltkrieg erfolgten Zusammenarbeit der deutschen Nationalsozialisten mit dem damaligen faschistischen Führer der Kroaten, den Mickey bewundert (vgl. ebd. 23;34 ff), beurteilt er "Nazis" und "Skins" im Gegensatz zu den Vorjahren jetzt eher neutral: "Ich kann jetzt nicht sagen, dass ich die Nazis gut finde, weil sie nach Kroatien gegangen sind, weil sie den Kroaten helfen, und ich kann nicht sagen, ja, CVI die Nazis finde ich schlecht, weil sie Ausländer rausscheuchen" (ebd. 35;31 ff). "Ich kenne nur Skins, die nichts gegen Kroaten haben" (ebd. 36;23 f). Obwohl er der Ansicht ist, dass die Deutschen sich für Hitler "schämen" müssen (ebd. 20;40), weil dieser "die ganze Welt erobern wollte" (ebd. 24;16), ist er auf den damaligen kroatischen Führer Pavelic eher "stolz", weil dieser nur für Kroatien gekämpft und "alle Serben umgebracht" habe (ebd.). Das im damaligen Kroatien auch Juden und Zigeuner getötet wurden, "war nur eine Nebensache, der Hauptsinn war nur mit den Serben" (ebd. 29;4 ff). Im nachhinein scheint der Umstand, dass Mickey in den Vorjahren explizit mehrmals Albaner ("das ist Serbien", 1992: 31;26) als Zielgruppe seiner Ungleichheitsvorstellungen benannte, zumindest auch der vermutlich schon zu diesem Zeitpunkt latent empfundenen traditionell-nationalistischen Feindschaft zwischen Kroaten und Serben geschuldet zu sein. 2.3 Gewaltakzeptanz Mickey zeigt 1992 sowohl auf personaler als auch auf politischer Ebene eine hohe Gewaltakzeptanz. Cliquen-intern weiß er sich mit Gewalt den nötigen Respekt zu verschaffen, wenn er in seinem Status als Ausländer angegriffen werden sollte: "Also die wissen ganz genau, wenn sie das vor mir machen, dann gibt es Dresche." (1992: 12;6 f) Die Bereitschaft, die Gewaltoption einzuschlagen, wird für ihn durch die verschiedenen Erfahrungen im Cliquenzusammenhang erleichtert, in denen sich diese Art der direkten Konfrontation bisher bei Schlägereien mit anderen (türkischen) Jugendlichen bewährt hat. Hier sieht er sich zum einen in der Opferposition, weil die türkischen Aggressoren ein Cliquenmitglied zusammengeschlagen haben (vgl. 1992: 14;1 ff), zum anderen fühlt er sich der Regel ‘den Freunden helfen zu müssen’ (vgl. 1992: 19;15 ff) verpflichtet. Letzteres scheint der Orientierung an bestimmten ‘Männlichkeitsidealen’, z.B. Kraftprotzerei, Kumpelhaftigkeit und Verlässlichkeit unter Männern, geschuldet zu sein. Obwohl während dieser Auseinandersetzung auch Gaspistolen benutzt und Messer mitgebracht wurden, die aber nicht zum Einsatz kamen, scheint diese Art von Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Jugendgruppierungen eher jugendkulturell als ideologisch begründet zu sein, wobei Gewalt als ritualisierte Form des Kräftemessens eingesetzt wird. Wenngleich es zu schwereren Verletzungen bei einzelnen Teilnehmern kam, konnte der Streit durch eine Entschuldigung des Gegners beigelegt werden und führte nicht zu einer dauerhaften Verfeindung der beiden Gruppen. Im Rahmen der Clique kommt es häufiger zu mehr oder weniger großen Normüberschreitungen (z.B. Herumspielen mit einem Feuerlöscher in einer Tiefgarage, vgl. 1992: 21;30 ff), weswegen die Jugendlichen schon polizei-bekannt sind (vgl. ebd. 22;2 f). Inwieweit Mickey selber aktiv an diesen Aktionen beteiligt war, bleibt unklar, zumindest scheint er sie aber zu tolerieren, wenn nicht zu billigen. Obwohl Mickey eine "straffere Gangart" in Deutschland befürwortet (Fb. 1992), "juckt" es ihn aufgrund der negativen Erfahrungen mit der Polizei und des Erlebnisses der Untätigkeit der Polizei bei Fahrraddiebstählen (vgl. ebd. 37;1 ff) "eigentlich weniger", dass Jugendliche in Rostock Gewalt gegen die Polizei angewandt haben (vgl. ebd. 16;9). Gewalt fungiert für ihn nicht nur als jederzeit einsetzbares Mittel der Einschüchterung bzw. Bedrohung gegenüber konkreten Provokationen, sondern auch als kollektives Machtinstrument zur Vergeltung nicht tolerierbarer (politisch motivierter) Übergriffe. So vertritt er z.B. im Hinblick auf rassistische Gewalttaten wie in Mölln eine harte und offensive Linie und propagiert ein Bündnis aller Ausländer gegen Rechtsorientierte: "Hoffentlich passiert mit den Skins und mit den Nazis dasselbe, was mit den drei Frauen passiert ist. Ich meine: dass die ganzen Ausländer zusammen gegen die Skins gehen." (1992: 35;32 ff) Trotzdem kann er als Gründe der Täter für die ausländerfeindlichen Übergriffe Problemdruck und Abschreckungsfunktionen nachvollziehen (vgl. 1992: 6;20 ff). CVII Obwohl Mickey 1993 von sich behauptet, "insgesamt ruhiger geworden" zu sein (1993: 2;28) und meint, "dass man Probleme ohne Gewalt lösen kann" (ebd. 1;20), scheint seine Gewaltakzeptanz sowohl im politischen als auch im personalen Bereich weiter angestiegen zu sein. Besonders auf ausländerfeindliche Übergriffe reagiert er jetzt im Gegensatz zum Vorjahr sehr indifferent und neigt dazu, diese politisch motivierte Gewalt aufgrund von alltäglich gemachten Gewalterfahrungen zu verharmlosen und zu normalisieren: "Mir ist das egal (Solingen; d.V.). Hier gibt es ja eh jeden Tag Schlägerei" (ebd. 26;20). Noch immer sieht er Gewalt u.a. als Mittel zur Gegenwehr an. Daher kann er die gewalttätigen Aktionen der Türken als Wut- und Rache-Reaktion auf den Anschlag in Solingen auch gut verstehen und macht zudem die Einlassung, dass er als Betroffener ebenso reagieren würde (vgl. ebd. 34;23 ff). Auch seinen momentan besten Freund, der schwarzhäutig ist, würde er mit Gewalt verteidigen: "Sollen sie doch herkommen, wenn sie was wollen" (ebd. 32;19). Einen anderen wesentlichen Aspekt seiner hohen Gewaltakzeptanz stellt die Möglichkeit dar, über violentes Verhalten Männlichkeitsideale wie Wehrhaftigkeit und Dominanz(streben) zu demonstrieren und damit verbunden Risiko, Spannung und Abenteuer zu erleben. Dies wird deutlich an seinen Äußerungen über die Reaktion der Türken sowie die Anwendung von kollektiver Gewalt der Hooligans im Fußballstadion: "Das ist geil" (ebd. 36;2). Obwohl Mickey sich gegen Waffengebrauch und allzu brutale Vorgehensweisen ausspricht (vgl. 1993: 35;35 ff) und Gewalt in diesem Zusammenhang eher als ritualisierte Form des Kräftemessens ansieht - "wenn sie sich so schlagen mit Fäusten, ja" (ebd.) - billigt er doch den Einsatz von Waffen (z.B. Kampfhunde) bei kollektiven Hooligan-Auseinandersetzungen. Ein Hool, der seine Rottweiler auf seine Gegner losläßt, scheint für Mickey zudem eine Art Vorbildfunktion zu haben ("einer, wo Power hat", 1993: 37;18), ein Zeichen für die große Faszination, die diese Aktivitäten auf ihn ausüben. Obwohl er sich - wahrscheinlich aufgrund seines geringen Alters - bei den Auseinandersetzungen zwischen Skins und Türken sowie bei Hool-Schlägereien noch mehr als Zuschauer betätigt, kann er sich vorstellen mitzumachen, wenn er älter ist (vgl. ebd. 36;23 ff). Insgesamt wird gerade die Hooligan-Gewalt von Mickey vollkommen verharmlost und normalisiert, so dass er sie nicht mehr als solche, sondern eher als festen Bestandteil eines Fußballspiels wahrnimmt: "Das ist normal beim Fußball (und keine Gewalt; d.V.)" (36;32), "erst das Spiel angeschaut und danach die Schlägerei angeschaut" (38;12 f), "das brauchen wir, die einfach. Die Mannschaft unterstützen" (37;30 f). Der Umstand, dass es häufig zu Auseinandersetzungen zwischen Hools und Ausländern kommt, scheint weniger ideologisch als jugend- bzw. konsumkulturell bedingt zu sein: "Hooligans tragen halt Prince-System-Sachen, Replay-Sachen, Markensachen halt (...), was die (Ausländer; d.V.) sich nicht leisten können. So sagen sie es" (1993: 39;15 ff). Während 1994 Mickeys Akzeptanz personaler Gewalt im privaten Bereich eher gleich bleibt - wenn nicht sogar nach seiner eigener Einschätzung abnimmt - nimmt sie im Hinblick auf politisch motivierte staatliche und personale Gewalt stark zu. Obwohl es zwischen den unterschiedlich jugendkulturell ausgerichteten Gruppierungen in seinem Umfeld noch immer häufig zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommt, hält er sich persönlich aus diesen Konflikten heraus, weil es ihn "nichts angeht" (1994: 42;2) oder weil er vor bestimmten Gruppierungen "Muffe" hat (ebd. 47;15). Auslöser für eigene Gewalttätigkeit ist hauptsächlich ‘Anmache’: "Dann mache ich dumm an zurück oder setze ihm gleich eine" (ebd. 42;7 f). Insgesamt scheint es aber besonders in seinem direkten Wohnumfeld ruhiger geworden zu sein. Dies führt Mickey auf eine entwicklungsbedingte Reifung der Jugendlichen zurück: "die sind z.T. auch älter geworden" (ebd. 41;19). Einen weiteren Grund für die Abnahme gewalttätiger Konflikte sieht er darin, dass er nicht mehr häufig mit seiner vormaligen Clique zusammen ist (vgl. ebd. 46;1 ff) und in dem Einfluss seines Sportvereins und seiner momentanen Freunde (vgl. ebd. 53;1). Nichtsdestoweniger besucht er aber noch immer mit Freunden das Fußballstadion und beteiligt sich mittlerweile auch aktiv an Hooligan-Schlägereien (vgl. ebd. 47;36 ff). Obwohl für ihn bei solchen CVIII Auseinandersetzungen noch immer bestimmte Fairness-Regeln gelten (vgl. ebd. 49;9 ff), verharmlost und normalisiert er doch den Gebrauch von Waffen: "Das sind doch keine Waffen (Butterfly, Wurfstern, Tschakkos; d.V.). (...) das sind ja Kindersachen" (ebd. 50;1 ff). Er selbst distanziert sich aber letztendlich aufgrund der o.a. Regeln vom Gebrauch tödlicher Waffen: "Einen abstechen (...) ist feige. Genauso mit einer Waffe jemanden erschießen, das finde ich auch Blödsinn. Wenn man eine Schlägerei macht, dann macht man es ohne Waffen." (ebd. 14 ff) Im Bereich politisch motivierter Gewalt propagiert er zumindest für Ex-Jugoslawien militärische Intervention ohne Rücksicht auf Verluste, wenn nur der Erreichung des politischen Ziels gedient wird: "Das ist schon schlimm, wenn Leute sterben und so, aber das ist halt Nebensache, Hauptsache sind eigentlich nur die Serben" (ebd. 31;2 ff). Demzufolge wäre er auch bereit, für Kroatien in den Krieg zu ziehen (vgl. ebd. 22;36). Neben seinem stark ausgeprägten Nationalgefühl scheint auch seine hohe Gewaltakzeptanz zu einer absoluten Bewunderung der Ustascha und ihrer anscheinend recht brutal vorgehenden Anhänger (s.u., vgl. ebd. 25; 28 ff) zu führen, ebenso wie zu einer Propagierung des ‘Auge um Auge, Zahn um Zahn’-Gedankens: "der macht uns nichts, wir machen ihm auch nichts" ( ebd. 31;39). In Weiterführung dieses Gedankens billigt er auch aus politischer Motivation heraus begangene Gewalt von Privatpersonen an Privatpersonen, wobei noch ein hohes Maß an Faszination damit einherzugehen scheint: "Da waren vier, fünf Männer, die haben den (einen vermeintlich verräterischen Serben in Kroatien; d.V.) dann, eines nachts haben sie ihn überrascht, und dann haben sie ihm die Finger abgeschnitten, Zehen und das intime Teil, die haben dem alles mögliche abgeschnitten, und dann haben sie ihn verbrannt. (...) Richtige Ustascha-Fans halt" (ebd. 31;19 ff). Obwohl Mickey diesen Serben persönlich gekannt hat, weil er sein Nachbar in Kroatien war, zeigt er keinerlei Mitleid mit dem Opfer. Dies läßt darauf schließen, dass er weniger reflektiert denn fanatisiert nationalistische Gedankengänge wiedergibt, die für seine ohnehin vorhandene Gewaltakzeptanz eine anscheinend legitime politische Begründung bieten. 3. Zusammenhang von politischer Orientierung und Gewaltakzeptanz mit sozialen Erfahrungen und Erfahrungsstrukturierung 3.1 Erfahrungen und Bearbeitungsressourcen 3.1.1 Problembelastungen und zentrale Interessenlagen 1992 gibt Mickey als Probleme "die Beziehung zu gleichaltrigen Freunden" und "Ärger mit älteren Jugendlichen" an. Letzteres ist wahrscheinlich auf gruppeninterne und Intergruppen-Konflikte zurückzuführen, die er als eines der jüngsten Mitglieder mit seiner Clique erlebt (s.o.). Die Zugehörigkeit zu dieser Clique sowie der Wechsel in eine Schule, die nicht in seinem Heimatort liegt und die aus Zeitgründen fehlende Möglichkeit, weiterhin am Fußballtraining in seinem Sportverein teilzunehmen, scheint zu einem Mangel an Kontakten mit gleichaltrigen Jugendlichen zu führen. 1993 gibt er an, "keine Probleme" zu haben, obwohl er zunächst im Fragebogen "Stress in der Nachbarschaft" angekreuzt hatte. Dieser könnte aus den erwähnten Normübertretungen der Clique, die zumindest teilweise bei der Polizei bekannt ist, resultieren. Sein Wunsch, wieder seine vorherige Hauptschule besuchen und die Tagesgruppe verlassen zu können, ist möglicherweise ursächlich für seine Zurückhaltung in diesem Bereich, weil seine Eltern seinem Wunsch entsprechen wollen, wenn er sich angemessen verhält. 1994 hat Mickey "zu wenig Geld". Dies scheint vor allem seinen hohen Ansprüchen im Hinblick auf Markenbekleidung geschuldet zu sein. 3.1.2 Erfahrungen im sozialen Nahraum und seine sozio-emotionalen Ressourcen CIX Mickeys Familie bietet ihm ausreichende materielle Versorgung und emotionalen Rückhalt. Dabei kann er sowohl auf seine Eltern als auch auf den in Stuttgart ansässigen Bruder zählen. Vor allem angesichts seiner überdurchschnittlich guten Ausstattung mit verschiedenen hochwertigen Sachgütern (Kleidung, Konsumgüter, vgl. 1992:38;6 ff) wird der Eindruck eines fast schon verwöhnten Jungen geweckt, der als einziger von drei Brüdern noch zu Hause bei den Eltern wohnt und deshalb deren ungeteilte Zuwendung erfährt. Trotz des anscheinend guten Verhältnisses zu seinen Eltern versucht Mickey, vermutlich um Sanktionen zu vermeiden, brenzlige Situationen (z.B. Schlägerei 1992) zu Hause zu verschweigen. Sorgenpunkte der Eltern ihn betreffend sind trotzdem wohl neben seiner zumindest bis 1994 eher unbefriedigenden Schulsituation seine scheinbar nicht seltenen Verwicklungen in Normverletzungen im Cliquenzusammenhang. Ab ca. fünf Monate vor dem ersten Gesprächstermin bis zum Schuljahreswechsel 1993/94 besuchte Mickey die Förderschule einer Jugendhilfeeinrichtung in W. sowie das daran angeschlossene Tagesgruppenangebot. Grund für den Wechsel waren neben Lernschwierigkeiten wohl auch Verhaltensauffälligkeiten. Obwohl Mickey sich in der Tagesgruppe wohlfühlt und sich mit den anderen Jugendlichen dort versteht, äußert er 1993 doch den Wunsch, wieder auf die Hauptschule in seinem Wohnort zu wechseln. Ursächlich scheint dafür die fehlende Zeit zu sein, mit seinen Freunden am Wohnort zusammentreffen zu können. Die Eltern stellen ihm einen Wechsel in Aussicht, wenn seine Leistungen und sein Verhalten entsprechend gut bzw. unauffällig sind. Daher scheint Mickey sich bei Äußerungen über evtl. (mit)begangene Normverletzungen ziemlich bedeckt zu halten, um negative Konsequenzen zu vermeiden. Zu Beginn des Schuljahres 1993/94 gelingt ihm dann die Versetzung zurück an seine ursprüngliche Schule. Seine Leistungen sind zufriedenstellend, wenn auch etwas schlechter als in der Förderschule, weil er jetzt nicht mehr soviel Zeit zum Lernen aufwendet. Mickeys Freundeskreis wird 1992 und ‘93 wesentlich von einer größeren Clique geprägt. Diese ist ein lockerer Zusammenschluss von "15 - 20 Leuten" und setzt sich hinsichtlich des Geschlechts, des Alters und der Nationalität - "Deutsche, polnisch, französisch und ich kroatisch halt" (1992: 3;38) - heterogen zusammen. Die Jugendlichen gehören unterschiedlichen Stilrichtungen an: "Heavy, ein paar von uns gehen in die Skin-Phase. Ein paar von uns sind Skater" (1992: 11;1 ff), "Es gibt auch ein paar Linke bei uns. Die hören eben linke Musik, und die haben sich schon öfters geschlagen mit denen (Rechten; d.V.)" (ebd. 12;7 ff). Eine gewisse cliqueninterne Dominanz der rechten Jugendlichen zeigt sich über die von ihnen vorgenommene Benennung der Clique als "Cash Money Brothers" (vgl. 1992: 23;28 ff). Dieser Name verweist über den Geldbegriff auf ein wesentliches Kriterium der Gruppe: das Tragen von Markenkleidung (vgl. ebd. 38;27 ff). Obwohl Mickey zwei bis drei Jahre jünger als die meisten Jugendlichen der Clique ist, hat er eine durch Abstimmung abgesicherte Führungsrolle in der Gruppe inne (vgl. 1992: 17;24 ff), worüber er Anerkennung und Bestätigung erfährt. Auf diese Position ist er dementsprechend stolz und begründet für sich seine Wahl mit seinen Eigenschaften Vertrauenswürdigkeit und Verlässlichkeit (vgl. ebd. 18,13 ff). Allerdings sind mit dieser Führungsrolle auch Anforderungen im Hinblick auf Standfestigkeit und Verantwortungsübernahme verbunden: Aufgrund der Heterogenität der Clique und damit einhergehender Differenzen unter den einzelnen Jugendlichen sowie vielfach begangener Normübertretungen (Schlägereien, Sachbeschädigungen, Vandalismus, Konfrontation mit der Polizei) im öffentlichen Raum und dem damit verknüpften ‘einschlägigen’ Ruf der Gruppe wird er vermutlich häufig in den Status eines Anstifters oder Hauptbeteiligten gedrängt. Im Gespräch ist Mickey bemüht, sich mit z.T. widersprüchlichen Aussagen von den auffälligen Erscheinungsformen und Begebenheiten zu distanzieren. Vermutlich sind ihm die für ihn möglichen negativen Konsequenzen durchaus bewusst, so dass er nach außen hin versucht, seine Unbescholtenheit zu demonstrieren. 1994 trifft er wohl aufgrund altersbedingt veränderter Freizeitinteressen seitens der älteren Cliquenmitglieder nicht mehr mit dieser Gruppe CX zusammen: "Das hat sich irgendwie mal mit der Zeit gelegt. Also die kümmern sich um ihre Sachen, und wir kümmern uns" (1994: 46;1 ff). Seine Freizeit verbringt er jetzt mit seinem z.Zt. besten Freund, seiner Freundin und ein paar anderen Jugendlichen sowie mit einigen Klassen- und Mannschaftskameraden. Bis 1993/94 ist Mickeys Freizeit an den Nachmittagen weitgehend reduziert durch den Aufenthalt in der Tagesgruppe. In den Abendstunden und an den Wochenenden verbringt er seine Zeit hauptsächlich mit seiner Clique aufgrund fehlender Angebote an öffentlichen Plätzen, z.B. in der örtlichen Gemeindehalle oder der darunter liegenden Tiefgarage. Ab und zu besucht er eine nahegelegene Eisbahn und im Sommer ein Freibad. Einmal pro Woche besucht er eine kirchliche Jugendgruppe. An den Wochenenden werden häufig Parties veranstaltet. Ab und zu darf Mickey mit älteren Jugendlichen eine Disco besuchen. Ab 1993 nimmt er wieder zweimal wöchentlich am örtlichen Fußballtraining teil. 1993 und 94 besucht er in Zusammenhang mit der Hool-Szene häufiger Fußballspiele. 1994 verbringt er die meiste Zeit mit nachmittäglichem Fußballspielen oder bei seinem Freund zu Hause. Dort schaut er mit mehreren Freunden häufig Videos an. Mickeys Nachbarschaft und Wohnumfeld stellt seine Heimatgemeinde T. als Hauptort der aus noch vier weiteren Dörfern bzw. Siedlungen gebildeten Kleinstadt U. mit insgesamt ca. 30.000 Einwohnern dar. Speziell in T. als größtem und zentralen Gemeinwesen existieren keinerlei offene Jugendarbeitsangebote, so dass er sich als Verbesserung wünscht: "einen Jugendraum einrichten, damit sich dort Jugendliche treffen können" (1992: 8;18 f). 3.1.3 Medienrezeption und sonstige Ressourcen politisch relevanter Information Mickey läßt sich bei der Auswahl der von ihm rezipierten Medien von deren Unterhaltungswert leiten. Obwohl er angibt, nicht mit seinen Eltern über aktuelle Probleme zu reden, weiß er sich doch 1992 in der Verurteilung ausländerfeindlicher Übergriffe mit ihnen in Übereinstimmung. Auch im Hinblick auf sein 1994 stark ausgeprägtes Nationalitätszugehörigkeitsgefühl zu Kroatien lässt sich ein zumindest indirekt prägender Einfluss der Herkunft bzw. des Elternhauses vermuten. 1992 ist ein Bruder des Vaters im Jugoslawien-Krieg gefallen. Zudem gibt er an, dass in seiner Familie eine nationalistisch ausgerichtete Tradition besteht (vgl. 1994: 25;26 ff). Ein Einfluss seiner kroatischen Verwandten und Bekannten, die er jedes Jahr in den Sommerferien in Kroatien besucht, lässt sich ebenfalls vermuten. Z.B. hat er einen Bekannten, der seinen Angaben nach Mitglied der HOS, einer fremdenlegionsähnlichen Armee in Kroatien, war. Diesen Bekannten scheint er aufgrund des Geheimnisvollen, das ihn umgibt, sehr zu bewundern (vgl. 1994: 26;12 ff). Nicht zuletzt hat Mickey sich selber über Bücher und Zeitschriften Informationen über die kroatische Geschichte und Politik angelesen (vgl. ebd. 24). Mit bekannten Skins hat er über die Verknüpfung von Nationalsozialisten und Kroaten im Zweiten Weltkrieg gesprochen. Durchgängig hört Mickey auch rechte Musik, z.B. die Gruppen ‘Störkraft’ und ‘Endstufe’. Dies scheint aber weniger ideologisch als jugendkulturell bedingt zu sein, weil ihm "egal (ist), was die für Texte machen" (1994: 48;22) und er auch das Lied ‘Schrei nach Liebe’ von der eher linksorientierten Gruppe ‘Die Ärzte’ "geil" findet (ebd.). 3.1.4 Erfahrungen mit und Ressourcen von gesellschaftlicher und politischer Teilhabe Abgesehen von dem Besuch einer kirchlichen Jugendgruppe und des Fußballvereins hat Mickey in seinem Wohnort mangels Angeboten keine weiterreichenden Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe. 1992 gibt er als ihm wichtiges Anliegen den Umweltschutz an (vgl. 1992: 39;5). 1994 steht seine Teilnahme an einem zweigeteilten Berufspraktikum bevor, das er als Einzelhandelskaufmann und als Kfz-Mechaniker absolvieren wird. Obwohl er durchgängig als Berufswunsch ‘Metzger’ angibt, weil ihm das "Schlachten" CXI gefällt, "das ist halt geil" (vgl.1994: 54;32 ff), hatte er sich nicht selbst um einen Platz in einer Fleischerei gekümmert, so dass ihm Plätze zugewiesen wurden. Auf keinen Fall kann er sich vorstellen, Kfz-Mechaniker zu werden, weil er nicht "immer dreckig" sein will (vgl. ebd. 20;18). !994 stellt er sich hinsichtlich seiner Zukunftsplanung vor, in Deutschland die Lehre zu machen, eine Weile hier zu arbeiten und zu sparen, um dann in Kroatien ein Lokal zu eröffnen (vgl. ebd. 19;10 ff). 3.2 Kategorien, Kompetenzen und Mechanismen der Erfahrungsstrukturierung 3.2.1 Zentrale Bezugspunkte sozialer Identität Mickeys politischen Ansichten werden wesentlich von seiner kroatischen Nationalität geprägt. Während er 1993 noch Deutschland aufgrund engerer persönlicher Bindungen und besserer Verdienstmöglichkeiten als seine Heimat bezeichnet, zeigt er 1994 einen stark ausgeprägten kroatischen Nationalstolz und nationalistische Orientierungen. Er benennt demzufolge Kroatien als seine Heimat, in die er später zurückkehren will. Deutschland scheint er nunmehr lediglich als Wohlstandsstaat, in dem es bessere Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten gibt, und somit als Sprungbrett für seine Zukunft zu betrachten (vgl. 1994: 5;5 und 19;10 ff). Weder möchte er einen deutschen Paß, noch will er in Deutschland das Wahlrecht haben (vgl. 1994: 14;35 ff und 16;5 ff). Seine Vorstellungen vom Leben in Kroatien scheinen hauptsächlich aus seinen häufigen Urlaubserfahrungen in diesem Land zu resultieren (vgl. ebd. 18;10 ff). 1992 und ‘93 versucht er den scheinbaren Widerspruch zwischen seinem Status als Ausländer in Deutschland einerseits und der Mitgliedschaft in einer tendenziell rechtsorientierten Clique andererseits durch die Konstruktion eines gemeinsamen Feindbildes ‘Asylsuchende’ zu beseitigen, wodurch zumindest die ihm bekannten Rechtsradikalen vermittels dieses Identifizierungs- bzw. Solidarisierungsmechanismus an Bedrohlichkeit verlieren. Sein regionaler und lokaler Sozialraum trägt aufgrund des Mangels an Angeboten für Jugendliche dazu bei, dass Mickey und seine Clique dazu gezwungen sind, sich vornehmlich an öffentlichen Orten aufzuhalten. So unterliegen sie der gesellschaftlichen Kontrolle und werden wegen begangener Normverletzungen häufig mit gesellschaftlichen Sanktionen konfrontiert. Zudem bewirkt der Mangel an Angeboten vermutlich auch, dass es zwischen den einzelnen Jungendgruppierungen zu Konkurrenz- und Territorialverhalten kommt. Sein Sozialstatus als ausländischer Jugendlicher trägt zu o.a. Widersprüchlichkeiten in seinen Orientierungen bei. Mickeys geschlechtsspezifischen Orientierungen an Männlichkeitsidealen wie Wehrhaftigkeit, Dominanz(streben) und Kumpelhaftigkeit scheinen ursächlich für sein violentes Verhalten im Cliquen- und Hool-Zusammenhang. Einerseits kann er so (als jüngeres Mitglied) die Anerkennung und Akzeptanz seiner Clique erlangen und bewahren, andererseits lassen sich über die kollektiven Gewalterlebnisse im Stadion Wünsche nach dem Erleben von Abenteuer, Risiko und Spannung erfüllen. Ab 1993 hat Mickey verschiedene Freundinnen, die mehr oder weniger in seinen Freundeskreis integriert werden. 1993 gibt er als einen Grund für seine zunehmende Zurückhaltung seine Freundin an (vgl. 2;23). Seine jugendkulturelle Orientierung tendiert zumindest 1992 und ‘93 nach rechts. Die Zugehörigkeit zu einer markenbewussten, konsumorientierten, tendenziell rechts ausgerichteten Clique, das Hören von Musik entsprechender Stilrichtungen (z.B. Heavy-Metal, Oi-Musik), Pogo-Tanzen und die Zugehörigkeit zu den Hooligans deuten daraufhin, dass Mickeys Orientierungen weniger ideologisch als jugendkulturell besetzt sind. Seine Beziehungen im sozialen Nahraum prägen seine Ansichten in unterschiedlicher Weise. Die Eltern, die Ausländerfeindlichkeit in Deutschland zwar verurteilen, scheinen zumindest latent einflussnehmend auf seine 1994 geäußerten nationalistischen Ansichten in bezug auf Kroatien zu sein. Seine rechtsorientierten Bekannten bewirken mit ihren Ansichten vermutlich seine diffuse Einstellung zu Skins und anderen rechten Gruppierungen. Während er einerseits ausländerfeindliche Übergriffe CXII verurteilt und angibt, Skins zu hassen (s.o.), hebt er doch die Zusammenarbeit rechter Gruppierungen mit kroatischen Nationalisten hervor. 3.2.2 Individuelle Kompetenzen bzw. Mechanismen zum Aufbau personaler Identität Mickey äußert sich über andere Bevölkerungsgruppierungen zumeist intolerant. Dies wird besonders deutlich bei der undifferenzierten, pauschalierenden ‘Begründung’ seiner Abneigung gegen Punks ("Schwachsinnige, diese Idioten, diese Doofen. Das ist doch kein normaler Mensch", 1993: 46;37 f), Linke ("schon allein, wie die herumlaufen, voll dreckig und stinken", 1994: 43;37 f) und ‘Ökos’ ("behämmert irgendwie", ebd. 44;4). In der Regel scheint er - vermutlich auch aufgrund seines geringen Bildungsniveaus - nicht in der Lage zu sein, Gedankengänge oder bekundete Meinungen kritisch zu hinterfragen oder zu reflektieren. Dies zeigt sich u. a. bei seiner Reaktion auf komplexere oder nachhakende Fragen, auf die er häufig sehr schnell abblockend mit "egal" oder "was weiß ich" o.ä. antwortet. Auch in seiner Beurteilung rechtsradikaler Gruppierungen argumentiert er eher emotional und oberflächlich als sachlich überlegt (s.o.). Während er 1992 wenigstens ansatzweise die Fähigkeit zur Empathie zeigt, indem er Ausländerfeindlichkeit verurteilt, weil er nachvollziehen kann, wie es sein muss, in einem fremden Land bedroht und angegriffen zu werden (s.o. und vgl. 1992: 23;37 ff), wird in den Folgejahren besonders an seinem mangelnden Mitleid mit Opfern von Gewalttaten - z.B. dem ihm bekannten Serben, der zu Tode gefoltert wurde (s.o.) - deutlich, dass seine Empathiefähigkeit, wenn überhaupt, dann nur sehr schwach ausgeprägt zu sein scheint und sich jedenfalls nicht auf Situationen erstreckt, in denen er selbst in der Rolle des Mächtigen ist. Obwohl Mickey auf vermeintliche oder reale verbale oder körperliche Übergriffe in der Regel violent reagiert, vermutlich um seine männliche ‘Ehre’ zu schützen und vor seinen Freunden bestehen zu können, zeigt er doch z.B. 1992 auch die Fähigkeit, Konflikte verbal zu lösen. So ist es als Anführer seiner Clique u.a. seine Aufgabe: "Wenn es dann Schlägerei oder so etwas gibt, dass wir dann zuerst mit denen sprechen oder so, wenn es irgendwo Streit gibt mit Erwachsenen" (1992: 17;33 ff). Dies und auch sein Vermögen, seine Lern- und Verhaltensweisen dahingehend zu verändern, dass er 1993/94 wieder auf seine vorherige Hauptschule wechseln kann, sind u.a. Anzeichen für seine Bereitschaft, unter bestimmten Bedingungen Verantwortung für sich selbst und andere zu übernehmen. Trotz seiner im großen und ganzen schwach ausgebildeten individuellen Kompetenzen zeigt Mickey ein recht starkes Selbstwertgefühl. Dieses scheint sich vor allem auf die Anerkennung und Akzeptanz zu gründen, die ihm von den meist älteren Mitgliedern seines Freundeskreises als Anführer und von seinen Mannschaftskameraden als guter Fußballspieler in einer höheren Altersklasse entgegengebracht wird. Nicht zuletzt kann er auch über seine überdurchschnittlich gute materielle Versorgung und dabei besonders über das Tragen von Markenkleidung und 1994 über sein gewachsenes Nationalitätsgefühl Identität und somit im Freundeskreis bzw. in der kroatischen Verwandt- und Bekanntschaft Anerkennung erlangen. 4. Zusammenfassung Mickey stellt sich als ein Junge dar, dessen diffuse und z.T. widersprüchliche politische Orientierungen zunächst wesentlich von seinem Status als Ausländer in Deutschland einerseits und der Mitgliedschaft in einer tendenziell rechtsorientierten Clique andererseits geprägt werden, zu der er ab 1994 nicht mehr gehört. Zu diesem Zeitpunkt entwickelt er ein starkes Nationalitätsgefühl für Kroatien und ist explizit an einer nationalistischfaschistischen (und in entsprechende historische Traditionen eingebettete) Politik seines Heimatlandes orientiert, so dass sich der Zwiespalt zwischen den offiziell als Ausländer in Deutschland geäußerten Gleichbehandlungsinteressen und den als Kroate in Kroatien vertretenen mit rassistischen Ressentiments geladenen, rigorosen Ausgrenzungsbestrebungen gegenüber ethnischen Minderheiten (Slowenen und v.a. CXIII Serben) weiter fortsetzt. Seine hohe personale Gewaltakzeptanz resultiert bis 1993 hauptsächlich aus seiner Orientierung an traditionellen Männlichkeitsidealen wie Wehrhaftigkeit, Dominanz(streben) und Kumpelhaftigkeit, über deren Demonstration er Anerkennung und Akzeptanz im Freundeskreis gewinnen, sowie - besonders im kollektiven Rahmen der Hool-Szene - Bedürfnisse nach dem Erleben von emotionalen Höhepunkten in Richtung auf Action, Spannung und Risiko befriedigen kann. Während seine personale Gewaltakzeptanz bis 1994, vermutlich durch den Wechsel des Freundeskreises und verändertes Freizeitverhalten - leicht abnimmt, steigt - anscheinend im Zusammenhang mit seiner nationalistischen politischen Ausrichtung - die Akzeptanz von politisch motivierter staatlicher und personaler Gewalt. Im einzelnen richten sich Mickeys Ungleichheitsvorstellungen hauptsächlich gegen Asylbewerber. Er begründet sie mit der ‘Scheinasylanten’-Argumentation und dem Vorwurf erhöhter Kriminalität und sexueller Konkurrenz sowie mit Wegnahme-Theorien. 1994 äußert er zusätzlich Ungleichheitsvorstellungen in bezug auf Slowenen und Serben. Gewalt bedeutet für ihn ein alltägliches Mittel zur Gegenwehr sowohl im privaten als auch im politischen Rahmen. Ein weiterer Aspekt von Gewalt stellt für ihn die ritualisierte Form des Kräftemessens bei Auseinandersetzungen unter Jugendlichen dar, bei denen (noch ?) gewisse Fairness-Regeln gelten. Obwohl er selbst sich eher vom Gebrauch von Waffen distanziert, scheint er ihren Einsatz bei bestimmten Auseinandersetzungen aber zu tolerieren, wenn nicht zu billigen oder aber als unabänderlich hinzunehmen. Bis 1994 ist Mickey Mitglied in einer tendenziell rechtsorientierten alters-, geschlechts-, nationalitäts- und stilheterogenen Clique, in der er trotz seines geringen Alters eine Führungsposition innehat. Obwohl er zumindest 1992 ausländerfeindliche Übergriffe explizit verurteilt, kann er doch immer auch Verständnis für die Täter aufbringen. Die Skins aus seiner Clique bezeichnet er als ‘nur’ gegen Asylbewerber eingestellt, so dass er sich selbst als Ausländer nicht von ihnen bedroht fühlen muss und sich über seine eigenen Ungleichheitsvorstellungen in bezug auf Asylbewerber mit ihnen zumindest vordergründig solidarisieren kann. So kann er einerseits seine Integrität als Ausländer wahren und andererseits weiterhin Mitglied der Clique bleiben, ohne in größere Rollenkonflikte zu geraten. Aufgrund mangelnder Angebote für Jugendliche in seinem Wohnort sind die Jugendlichen gezwungen, sich weitgehend an öffentlichen Plätzen aufzuhalten, wo sie gleichzeitig der gesellschaftlichen Kontrolle unterworfen sind. Immer wieder kommt es zu Normverletzungen durch Mitglieder der Clique, wodurch sie einen ‘berüchtigten’ Ruf innehat. Mitbedingt durch die unterschiedlichen vorherrschenden Stilrichtungen kommt es cliquen-intern häufig zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Des weiteren wird die Gewaltoption auch bei Konfrontationen mit anderen (türkischen) Jugendgruppierungen gewählt, so dass sie für Mickey zur alltäglichen Erfahrungswelt wird. Aufgrund dessen verharmlost und normalisiert er Gewalt, besonders im Zusammenhang mit der Hool-Szene. Diese Auseinandersetzungen scheinen hauptsächlich durch die unterschiedlichen jugendkulturellen Orientierungen der einzelnen Gruppierungen bedingt zu sein, z.B. Musik und Kleidung (s.o.). 1994 ist Mickey - obwohl er sich noch immer in der Hool-Szene befindet - insgesamt seltener gewalttätig. Dies resultiert zum einen daraus, dass er vermutlich aufgrund veränderter Freizeitinteressen seitens der älteren Cliquen-Mitglieder nicht mehr mit diesen zusammentrifft und sich nunmehr mit anderen Freunden vornehmlich im häuslichen und Vereinsbereich aufhält. Zum anderen gibt Mickey selbst eine altersbedingte Entwicklung als Grund dafür an, dass er "ruhiger" geworden ist. Nicht zuletzt wird auch zunächst der Wunsch nach einem und dann der tatsächlich erfolgte Wechsel zu seiner ursprünglichen Hauptschule Anpassungstendenzen bei ihm hervorgerufen haben, weil er das (erreichte) Ziel nicht durch unangepasstes Verhalten gefährden möchte. 1994 führt vermutlich seine nationalistisch-faschistische politische Ausrichtung, die zumindest indirekt durch seine Familie und seine Verwandten und Bekannten in Kroatien mitbeeinflusst scheint, zu einer ansteigenden Akzeptanz politisch CXIV motivierter Gewalt. Hierbei propagiert er zum einen staatlich-militärische Intervention ohne Rücksicht auf Verluste, wenn nur dem politischen Ziel gedient ist. Zum anderen billigt er auch Gewalt, die unter diesem Vorzeichen von Privatpersonen an Privatpersonen begangen wird (s.o.). Hierbei lässt er sich weniger von reflektiert-sachlichen Gedankengängen als vielmehr von diffus emotional-fanatischen Impulsen leiten. Möglicherweise kann er durch diese Politisierung seine ohnehin vorhandene Gewaltakzeptanz vor sich selber und vor anderen besser legitimieren. Norbert 1992 - 1994 "Jetzt gerade mit dem Rostock, mit den Ausländern ... so brutal muss es nicht sein, aber irgendwie kann man die Jugendlichen verstehen. Also ich weiß auch nicht. Ha ja, mit diesen Wohnungen, das ist ja knapp und dass das alles teuer ist. Ich habe zwar nichts gegen Ausländer, aber, ich weiß auch nicht, sie sind doch in diesem Land und dann. Ja, jetzt zum Beispiel, die vom Krieg, das sieht man ein, dass die da her kommen. Aber nur so, weil sie denken, in Deutschland ist es schön und da bekommt man alles und da, dass die da kommen müssen, ich weiß auch nicht, das sehe ich eigentlich nicht so ein." (1992 : 20; 1-11) " Die wo Asyl, also die wo arbeiten, die sind doch ganz normal, oder die wo Flüchtlinge sind, und dann mal wieder später gehen, vielleicht von Jugoslawien, aber die wo nichts haben und einfach hier her kommen und etwas wollen, das ist nicht so ganz toll." (1993 : 45; 38 ff) " Wie ich dem, da müsste ich, weil ich halt auch sehe, dass die in der Überzahl, Ausländer allgemein in der Überzahl sind, also zu viel in Deutschland, viel zu viel gegenüber anderen Ländern, Schweiz und so." (1994 : 41; 1-4) 1. Objektive Daten zum Lebenskontext im Überblick Norbert, katholisch, ist 13 Jahre alt und lebt mit seinen Eltern sowie seinem leicht behinderten 17jährigen Bruder in F., einem ehemals landwirtschaftlich geprägtem Dorf in einer schwach strukturierten Region der Schwäbischen Alb. Die Familie wohnt im Ortskern in einem eigenen 6-Zimmer-Einfamilienhaus mit Garten und Terrasse, in dem Norbert ein eigenes Zimmer hat. Die Berufstätigkeit der Mutter als Näherin in einer Textilfabrik und der trotz Ruhestands noch arbeitende Vater, der zuvor bei einer Standortverwaltung der Bundeswehr angestellt war, lassen auf eine mindestens durchschnittliche finanzielle Versorgung der Familie schließen. 1992 erhält Norbert noch 40 DM Taschengeld im Monat, die er "viel zu schnell" (1992:13;15) "für Eis und Süßigkeiten" (ebd.;18) ausgibt. Er besucht zunächst die Hauptschule in F.. 1994 beginnt er eine Lehre zum Feinmechaniker und wechselt auf die Berufsschule in der nächstgrößeren Stadt. Zu diesem Zeitpunkt stehen ihm monatlich 800,DM zur Verfügung, die er insbesondere in teure Markenkleidung investiert (1994:19;1736). Norbert spielt aktiv Fußball, sowohl in einem Verein, als auch ‘auf der Straße’. Er besitzt einen Hamster, für dessen Pflege er alleine zuständig ist. 2. 2.1. Politische Orientierung Allgemeine Orientierung CXV Norbert zeigt keinerlei politisches Interesse. Er erhofft zwar für die Bundestagswahlen 1993 einen allgemeinen Stimmenzuwachs der Republikaner (vgl. 1993:49;16-25), diese Äußerung ist jedoch im Kontext seiner Fremdenfeindlichkeit zu verstehen (siehe 2.2.). 1994 bekundet Norbert sogar ein generelles Desinteresse an Politik, das sich u.a. dadurch zeigt, dass er selbst dann nicht wählen ginge, wenn das Wahlberechtigungsalter auf 16 Jahre herabgesetzt würde (vgl. 1994:32;27 ff). Er zählt sich kontinuierlich zu den Fußballfans, Skatern und Heavies, wobei er sich 1992 seinem Musikgeschmack nach nur zögerlich als ‘Heavy’ bezeichnet (vgl. 1992:38;23). 1994 sympathisiert er mit den Rapern, die er 1993 zu seinen Gegnern zählte. Im Gegensatz zu 1993, als ihm Bundeswehrfans und Skinheads noch gleichgültig waren, gibt Norbert 1994 an, diese Gruppierungen abzulehnen. Als gleichbleibend "egal" schätzt er auch 1994 Punker, rechte Jugendliche, Hooligans, Wehrsportgruppen, Autonome und deutschnationale Gruppen ein. An ‘Streetfightern’, zu denen er sich 1993 noch hingezogen fühlte, hat Norbert 1994 das Interesse verloren. 2.2. Ungleichheitsvorstellungen/Gleichheitsvorstellungen im Kontext von Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus Norbert zeigt das Bild eines von fremdenfeindlichen Einstellungen geprägten Jugendlichen, dessen schon anfangs vorhandene Ungleichheitsvorstellungen im Laufe der Zeit durch Ungleichbehandlungsforderungen ergänzt werden. Obwohl Norberts Aussagen im allgemeinen einige Widersprüchlichkeiten beinhalten, sind seine Stellungnahmen bei Ausländerfragen durchgängig als zumindest tendenziell ‘rechts’ zu bezeichnen. Er selbst beschreibt sich als "ein bißchen rechts" und erklärt diese Einschätzung mit seiner Abneigung gegenüber Ausländern (vgl. 1994 : 40;30 ff). Trotz dieser Antipathien lehnt Norbert Brandanschläge wie in Rostock oder Solingen entschieden ab. Rechtsradikal ist für ihn "... immer Türken verfolgen und eben Ausländer, und denen ihre Häuser kaputt machen und so." (1992:22;12-13). Hiervon versucht sich Norbert abzugrenzen: "Manche sind ja ganz recht; die sind in Ordnung. Die arbeiten auch und machen keinen Krach. Dann kann man das nicht sagen, dass wir rechtsradikal sind, finde ich." (ebd:22;14-17). Zielgruppe seiner Ressentiments sind zumindest primär (männliche) Türken, 1994 auch Albaner. Weniger Abneigung bringt er Aussiedlerfamilien und Flüchtlingen aus Kriegsgebieten entgegen, obwohl sich seine vehemente Kritik an der deutschen Aufnahmepolitik zwangsläufig auf die Aufgenommenen überträgt (vgl. 1994:33;34 ff). Norbert zeigt zwar an verschiedenen Stellen Verständnis für Kriegsflüchtlinge ("Die, welche vom Krieg kommen aus Jugoslawien und so, das sieht man ja ein, dass sie zu uns kommen. Wir haben auch einen in der Klasse, da denken wir eigentlich auch nichts." 1992:20;34-37), wobei diese Duldsamkeit auf zwei Aspekten zu beruhen scheint: Sowohl das Erscheinungsbild der Kriegsflüchtlinge in Form von Familienverbänden, als auch deren nur temporäre Anwesenheit in Deutschland unterscheiden Flüchtlingsfamilien in ihrer Bedrohlichkeit für Norberts territoriale Ansprüche von den in Deutschland lebenden ‘Gastarbeitern’ und deren Söhnen. Diese stellen für ihn einerseits eine Konkurrenz auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt dar, andererseits unterstellt er Ausländern generell - ohne ihren Anwesenheitsstatus in Deutschland zu differenzieren - mangelnde Arbeitsmotivation bei gleichzeitiger Versorgung durch öffentliche Stellen (mit z.B. Wohnungen): "Die welche wo arbeiten, das finden wir eigentlich auch gut, aber die Anderen kommen auch bloß so, die wollen nichts tun oder so, das gibt es auch. (...) Da gibt es eben Türken, die tun nichts, die wollen nicht arbeiten. Die kommen zu uns und dann haben sie eben Wohnungen." (1992:20;37 ff). Er betont wiederholt die Not Deutscher, die es vorrangig zu beheben gälte (vgl.1993:46;3740) und argumentiert weiter mit den Kosten, die ‘Ausländer’ seiner Meinung nach verursachen: "Uns zieht man es ab und denen gibt man es." (1993:45;32). Ein anderes von CXVI Norbert häufig genanntes Argument für seine Fremdenfeindlichkeit ist die in seinen Augen mangelnde Anpassungsfähigkeit von Ausländern. Er akzeptiert zwar Krieg oder politische Verfolgung als Asylgründe (vgl. 1993 : 23 ff), fordert aber im Gegenzug, dass (alle) Ausländer sich wie ‘Gäste’ benehmen sollen (vgl. 1994 : 33;34 ff). 1992 und 1993 erzählt Norbert von häufigen, manchmal gewalttätigen Auseinandersetzungen mit türkischen Jugendlichen. Diese geschehen zumeist in der Schule. Im Rahmen dieser Zusammenstöße fühlt sich Norbert von den Lehrern ungerecht behandelt. Er betont wiederholt, dass es die ausländischen Mitschüler seien, die die Konflikte auslösen und empört sich darüber, dass diese auch noch von den Lehrern in Schutz genommen und seine Freunde und er als ‘rechtsradikal’ tituliert würden. (vgl. 1992:22;1ff). 1994 tritt eine Veränderung in der Art und Häufigkeit von Zusammenstößen ein: Zum Teil aus Angst vor Waffengewalt, aber auch wegen der von ihm angegebenen Überzahl und des starken Zusammenhaltes türkischer Jugendlicher auf der von ihm besuchten Berufsschule geht Norbert sowohl ausländichen Mitschülern als auch den aus der Konfrontation entstandenen Konfliktsituationen aus dem Weg ("Was will man sagen, ich weiß, wie die Jungs sind, da sage ich lieber nichts zu." 1994:34;30-31). Bis zuletzt nennt Norbert als das dringendste zu lösende Problem in Deutschland ‘die Ausländer’ (vgl. 1994:33;27ff). 2.3. Gewaltakzeptanz Bei Norbert ist ein physisches Gewaltpotential festzustellen. In seinen Darstellungen läßt sich im Laufe der Jahre jedoch eine deutliche Abnahme gewalttätiger Auseinandersetzungen mit ausländischen Jugendlichen ausmachen. 1992 noch in Schlägereien verwickelt, gibt er 1993 an, die Handgreiflichkeiten seien seltener geworden (vgl.1993:40;32-32). Trotzdem erzählt er von einem Vorfall, bei dem alle Jungen dem einzigen Türken der Klasse gemeinsam "eine gegeben haben" und er selbst ihm "die Leviten gelesen hat" (vgl.1993:41;24-27). 1994 hat sich Norberts Gewaltbereitschaft dahingehend verändert, dass er ‘nur’ zurückschlagen würde, wenn ein anderer anfängt. Seine Reaktanzschwelle siedelt er selbst entsprechend hoch an: "Wenn er mal handgreiflich wird, wenn der zuschlägt, dann schlage ich auch zurück, aber den ersten Schlag machen, tu ich nicht." (1994:36;36-38). Zwei Ursachen spielen hier eine Rolle: In der ersten Phase der Rückentwicklung der Übergriffe kam es weniger zu einer bewußten Abnahme von Gewaltbereitschaft, als zu einer Reduktion potentieller Gegner in Norberts direktem Umfeld. In seiner Schulklasse, die primärer Austragungsort von Schlägereien zwischen ihm und Ausländern war, gab es 1993 nur noch einen türkischen Mitschüler und in seinem Heimatort lebten ohnehin wenig Ausländer. Mit Norberts Schulwechsel von der Haupt- auf die Berufsschule stellt sich seine Situation schlagartig anders dar: "Berufsschule ist keine Überlebenschance, da hat es mehr Ausländer als Deutsche." (1994: 37;3-4). Der Abbau seiner Gewaltbereitschaft ist im Kontext der empfundenen Bedrohung zu verstehen: Norbert sieht sich mit seinem zuvor nur vereinzelt aufgetretenem Feindbild ‘Ausländer’ nun in Gestalt von zusammengeschlossenen und teilweise bewaffneten Cliquen konfrontiert und scheint angesichts dessen notgedrungen ruhiger auf Konfliktsituationen zu reagieren oder sich sogar zurückzuziehen. Norbert erwägt selbst nicht, sich eine Waffe zuzulegen. Seine konstant stabile Position in der heimatlichen Clique stützt sicherlich diese Entwicklung, da er sich nicht durch Gewaltrepräsentation einen Führungsplatz in einer neuen Gruppe erkämpfen muss. 3. 3.1. 3.1.1 Zusammenhang von politischer Orientierung und Gewaltakzeptanz mit sozialen Erfahrungen und Erfahrungsstrukturierung Erfahrungen und Bearbeitungsressourcen Problembelastungen und zentrale Interessenlagen CXVII Norbert gibt außer dem ‘Ausländer-Problem’ keinerlei durchgängige Probleme an. Auffällig ist aber sein Verhältnis zu den Eltern, die ihm mit gewisser (Für-)Sorglosigkeit, wenn nicht Gleichgültigkeit begegnen. Norbert macht aber nicht den Eindruck, dass diese Beziehung ihn belastet. 3.1.2. Erfahrungen im sozialen Nahraum und seine sozio-emotionalen Ressourcen Norbert gibt an, Akzeptanz, Geborgenheit und tatkräftige Unterstützung in seiner Familie zu erhalten, seine Probleme jedoch zu Hause nicht besprechen zu können (Fb.1-3). Norberts Bruder ist aufgrund einer Behinderung nur am Wochenende zu Hause. Ihr Verhältnis ist zunächst von Streitereien geprägt (vgl.1992:15;2ff), die später nachlassen (vgl.1993:15;6ff). Die Beziehung zwischen Norbert und seinen Eltern entwickelt sich im Laufe der Jahre mehr zu einem Nebeneinanderherleben, was sich in Norberts häufiger Abwesenheit von zu Hause und der zunehmenden Gleichgültigkeit der Eltern manifestiert (vgl.1993:13;33-36). Norbert muss zwar die üblichen Haushaltsarbeiten übernehmen, wird aber von Jahr zu Jahr von mehr Familienpflichten wie z.B. dem Kirchgang entbunden. Dementsprechend groß sind seine Freiheiten, er kann abends lange fort bleiben und die Eltern fragen nicht nach, solange er "nichts Schlimmes tut" (vgl.1992:9;34-37). Norbert schätzt an seinem Vater dessen Fleiß (vgl.1992:11;6-11). Wie auch an anderen Stellen zeigt sich hier Norberts starke Verinnerlichung des Wertes ‘Arbeit’. Die von Norbert angegebenen Unterstützungsressourcen scheinen mehr auf materiellen und funktionalen Leistungen der Eltern (z.B. ‘Fahrdienste’ des Vaters) und weniger auf Verständnis, Interesse oder Besorgnis für ihr Kind zu beruhen. Das relativ hohe Alter des Vaters scheint ebenfalls ein Umstand, der die Beziehung belastet und diesen für Norbert als möglichen Ansprechpartner nicht in Frage kommen läßt. Norbert beschreibt seine Eltern als "altmodisch" (1992:10;33). Als Konsequenz distanziert er sich vom familiären Klima durch Abwesenheit, ohne sich aber mit den zugrundeliegenden Motiven auseinanderzusetzen. 1993 hat Norbert eine feste Freundin, bei der er Akzeptanz und Unterstützung findet und mit der er Probleme besprechen kann (Fb.2). Die Schule stellt für Norbert kein Problem dar. Er beschreibt sich selbst als ‘Quartalsarbeiter’, der ohne viel Arbeitsaufwand durchschnittliche Noten erzielt. Besonders die lebensweltliche Dimension, zu der z.B. Abwechslung und Treffen von Gleichaltrigen und Freunden gehören, verleiht der Schule in Norberts Augen einen gewissen Anreiz. Während des letzten Hauptschuljahres bekundet Norbert Langeweile an schulischen Inhalten. Relativ lustlos hat er ein Schulpraktikum beim Gipser im Ort absolviert. Probleme mit Lehrern resultieren aus seiner Einstellung zu Ausländern und den daraus folgenden Vorwürfen der Parteilichkeit der Lehrer zugunsten ausländischer Mitschüler und der Stigmatisierung seiner Person und seiner Freunde. Mit Beginn seiner Lehre 1994 scheint Norbert der Berufsschulalltag zu frustrieren. Er klagt über den hohen Ausländeranteil und die Anonymität der großen Schule. Er fügt sich jedoch in den Klassenverband gut ein und scheint keine Probleme auf der Leistungs- oder sozialen Ebene zu haben. Trotz des Schulwechsels bleibt für Norbert der verlässliche Bezugsrahmen seiner Clique bestehen. Die Gruppe von Jugendlichen aus dem Dorf, mit der er sich nach der Schule und an den Wochenenden trifft, ist relativ geschlossen. Es gibt einen harten Kern, zu dem auch Norbert gehört, und einige weniger gebundene Mitglieder. Norbert beschreibt die Einstellungen der Freunde als den eigenen ähnlich: Die Gruppe scheint von Fremdenfeindlichkeit geprägt und gerade auch diesbezüglich in Gesprächen einer Meinung zu sein. Die Gemeinsamkeit der Freunde ist das Fußballspielen, sowohl im Verein, als auch in der Freizeit auf einem Bolzplatz im Ort. Ein weiterer Treffpunkt ist 1992 eine Disco, die auch nachmittags geöffnet ist, sowie ein Jugendraum der Kirche, der 1993 vorübergehend geschlossen wurde. 1994 ändert sich das Freizeitverhalten in der Weise, dass an den Wochenenden Alkohol eine zunehmende Rolle spielt (vgl.1994:52;22ff). Alle Cliquenmitglieder sind Fans der ‘Böhsen Onkelz’. CXVIII Es ist anzunehmen, dass ein Zusammenhang zwischen Nachbarschaft und Wohnumfeld einerseits, und Norberts politischen Ansichten andererseits besteht. Da es in dem sehr schwach strukturierten ländlichen Raum, in dem Norberts Heimatort liegt, kaum Freizeitangebote für Jugendliche gibt und keinem seiner Freunde besonders viel Taschengeld zur Verfügung steht, trifft sich Norberts Clique abwechselnd zu Hause. Phasenweise werden gemeinsame Fahrten zu umliegenden Discos unternommen. Während der Zeit, in der der Jugendraum geschlossen war, blieb Norberts Clique nur der Bolzplatz als Treffpunkt, wo es allerdings zeitweise zu Beschwerden eines Anwohners kam. In keinem der Treffpunkte gibt es erwachsene Aufsichtspersonen oder Sozialarbeiter, die mit den Jugendlichen diskutieren und ihnen alternative Sichtweisen zeigen. Es ist anzunehmen, dass die Diskussionen, die die Jugendlichen z.B. über Ausländer führen, einseitig und fremdenfeindlich verlaufen (vgl. 1992:19;23ff). Die beschriebene Isolation der Jugendlichen ist als Verstärker fremdenfeindlicher Einstellungen einzuordnen. 3.1.3. Medienrezeption und sonstige Ressourcen politisch relevanter Information Norbert liest weder die Tageszeitung, noch sieht er Nachrichten oder informiert sich auf anderem Wege über politische Ereignisse. Er sieht sehr viele TV-Sportmagazine und kauft sich hin und wieder die ‘Bravo’. Seine Lieblingsgruppe sind die ‘Böhsen Onkelz’, von denen er alle CDs besitzt und deren Texte er auswendig kennt. Er bestreitet ausdrücklich einen rechtsradikalen Charakter der Texte (vgl. 1993 : 24;29 ff). Vielleicht ist so teilweise erklärlich, dass zu seinen weiteren Lieblingsgruppen ‘Die Ärzte’ und ‘Die Toten Hosen’ zählen, Bands, die als (eher) ‘links’ gelten. Der scheinbare Widerspruch, der im gleichzeitigen Konsum von ‘rechten’ und ‘linken’ Liedern liegt, scheint darin verankert zu sein, dass beide Richtungen einen sehr ähnlichen, dem Punk entlehnten Musikstil pflegen. Er bildet den kleinsten aber auch für ihn wohl wichtigsten gemeinsamen Nenner seiner Lieblingsgruppen. 3.1.4. Erfahrungen mit und Ressourcen von gesellschaftlicher und politischer Teilhabe Als wichtigstes Element gesellschaftlicher Teilhabe ist Norberts Einstieg in das Berufsleben einzuordnen. Mit den durch zunehmendes Alter steigenden Anforderungen seiner Umwelt an ihn und der damit verbundenen Übertragung von Verantwortung scheint Norbert mit seinem Leben zufriedener zu werden, was sich in größerer ‘Gelassenheit’ äußert. Unter anderem durch sein Engagement wurde der Jugendraum wieder geöffnet und Norbert trägt nun aufgrund seines Alters ein Stück Verantwortlichkeit für die jüngeren Besucher des Jugendtreffpunktes (vgl.1994:3;5ff). 3.2. Kategorien, Kompetenzen und Mechanismen der Erfahrungsstrukturierung 3.2.1. Zentrale Bezugspunkte sozialer Identität Norberts Nationaltätsbewußtsein beruht auf der Gewißheit, in einem reichen Land zu leben und dem Bestreben, diesen Reichtum zu erhalten und von ihm zu profitieren. Als potentielle Angreifer auf die deutsche Wohlstandsgesellschaft sieht er die ‘Ausländer’, die seiner Meinung nach nur nach Deutschland kommen, um es ‘besser zu haben als in ihrer Heimat’, dafür aber keine ausreichende Gegenleistung erbringen. Ein weiteres Qualitätsmerkmal Deutschlands ist für Norbert die Abwesenheit von kriegerischen Unruhen. Der regionale und lokale Sozialraum wirkt verstärkend auf Vorurteile, die bei Norbert zu einem großen Teil auf Unkenntnis bestimmter Zusammenhänge beruhen. Norbert ist es gewöhnt, dass jeder im Ort den anderen kennt; er hat mit Neuartigem nicht umzugehen gelernt. Auch die Flucht der Jugendlichen in private Treffen der Clique ist in ihrer Aktionalität defensiv und bietet nicht die Möglichkeit, andere Eigenschaften wie z.B. Neugier oder Interesse für Unbekanntes zu wecken. CXIX Norbert äußert keine Unzufriedenheit über seinen sozialen Status, in seiner Clique scheint seine finanzielle Situation durchschnittlich bis gehoben zu sein. Die Freunde treffen sich gerne bei ihm zu Hause, da er über einen eigenen Kabelanschluss, eine gute Stereoanlage, Fernseher, einen Computer und zahlreiche CDs verfügt. Von seinem Lehrgeld, das ihm zur alleinigen Verfügung steht, kauft er sich vorzugsweise Markenkleidung, die im Dorf niemand trägt. Bei Norbert läßt sich auf den ersten Blick keine ausgeprägte Geschlechtsspezifik seiner Denk- und Verhaltensweisen feststellen. Er akzeptiert ohne Probleme in seiner Lehrwerkstatt ein Mädchen als Auszubildende in einem typischen Männerberuf und hat auch ansonsten ein seinem Alter entsprechendes Verhältnis zu Mädchen. Deutlich geschlechtsspezifisch sind aber seine Gewaltbereitschaft sowie seine ablehnende Einstellung gegenüber ausländischen Jungen und Männern einzuordnen, die er als Bedrohung seiner ‘territorialen Ansprüche’ sieht. Sein Interesse für Sport, u.a. amerikanische Sportarten, Fußball und Skateboardfahren, lassen auf eine relativ unauffällige jugendkulturelle Orientierung schließen. Abgesehen von Norberts Vorliebe für die ‘Böhsen Onkelz’ ist auch sein favorisierter Musikstil ‘Heavy’ nicht außergewöhnlich. Die von ihm konsumierte Musik könnte Mittel im Prozeß der Ablösung vom Elternhaus sein. Norberts Beziehungen im sozialen Nahraum sind von Konstanz geprägt. Trotz Schulwechsels und Berufseinstiegs bleibt seine Clique als stärkste Bezugsgruppe bestehen. Es findet keine Umorientierung oder der Aufbau eines neuen Freundeskreises statt. 3.2.2. Individuelle Kompetenzen bzw. Mechanismen zum Aufbau personaler Identität Norberts Toleranzschwelle gegenüber Ausländern ist sehr niedrig. Es besteht eine besonders starke Voreingenommenheit gegenüber Türken und Albanern, denen er gehäuft mangelnde Anpassungsbereitschaft, Leistungsmißbrauch und Gewaltbereitschaft vorwirft. Norbert zeigt innerhalb seiner Bezugsgruppe aber auch andere Seiten, zum Beispiel wenn von dem sehr rücksichtsvollen Umgang mit jüngeren Cliquenmitgliedern erzählt, wegen deren Alters alle auf Discobesuche verzichten. Das unterschiedliche Ausmaß seiner Toleranz gegenüber anderen ist zu einem großen Teil auf seine eingeschränkten empathischen Fähigkeiten zurückzuführen: Norbert kann sich zwar in jüngere Freunde hineinversetzen und Verständnis für deren Bedürfnisse entwickeln, ihm fehlt aber die grundlegende Fähigkeit, die Motivation ausländischer Jugendlicher oder Familien nachzuempfinden, wenn diese sich nicht Norberts Normen- und Wertemuster entsprechend verhalten. In den Interviews zeigt Norbert nur geringe Tendenzen, sein Verhalten reflexiv zu beobachten. Er berichtet zwar, dass seine Übergriffe auf ausländische Mitschüler negative Reaktionen bei Lehrern auslösen, reflektiert aber nicht sein Verhalten oder stellt es gar in Frage; er wälzt vielmehr die Schuld für die Auseinandersetzungen auf die Ausländer und die Stigmatisierungsfolgen für ihn auf die Lehrer ab. Norberts feste Eingebundenheit in seine Clique und sein in geordneten Bahnen verlaufendes Leben vermitteln ihm Sicherheit und tragen zu seinem Selbstwertgefühl bei. Er ist in der Lage und auch dazu bereit, Verantwortung für andere, insbesondere jüngere, zu übernehmen. Ein Teil seines Engagements ist hierbei dem kleinen Heimatort Norberts zuzuschreiben, denn besonders in schwach strukturierten Gegenden wachsen die Jugendgenerationen näher beieinander auf als in städtischen Gebieten. 4. Zusammenfassung Norbert erweckt den Eindruck eines politisch und sozial nicht oder wenig interessierten Jugendlichen, der darauf bedacht ist, sein Dasein in möglichst geordneten Verhältnissen zu verbringen. Norberts Entwicklung von einem durchaus gewaltbereiten zum eher streitmeidenden Jugendlichen basiert weniger auf einem grundsätzlich gelernten Prinzip CXX von Gewaltlosigkeit o.ä., sondern vielmehr darauf, dass er sich aus Angst vor Niederlagen mit den in Cliquen formierten ausländischen Mitschülern nicht anlegen will. In seinen Denk- und Verhaltensweisen verfestigt sich das Feindbild ‘Ausländer’, das für viele sozialpolitische Probleme wie etwa Wohnungsnot oder Abgabenlast der Steuerzahler herhalten muss. Während er 1992 noch nur Ungleichheitsvorstellungen gegenüber Ausländern äußert, diese aber noch nicht explizit in Ungleichbehandlungsforderungen überführt, hält er ab 1993 sein Patentrezept ‘Deutsche zuerst’ parat. Norberts Ressentiments entspringen offenbar relativ unreflektiert übernommenen allgemein kursierenden Deutungsmustern, die in seiner Clique anscheinend auf Nährboden stoßen. Dafür spricht auch, dass Norbert sich gesellschaftliche Brennpunkte zu Argumentationszwecken sucht, die sein Leben nur am Rande betreffen: Da er auch weiterhin zu Hause wohnen möchte, leidet er weder unter der im ländlichen Raum ohnehin schwächer ausgeprägten Wohnungsnot, noch drückt ihn als Auszubildenden eine wie auch immer geartete Abgabenlast. Im Laufe der Jahre löst sich Norberts Fremdenfeindlichkeit zwar von seiner zuvor manifesten Gewaltakzeptanz, diese Mäßigung nimmt seinen anfangs noch auf der Erfahrung körperlicher Auseinandersetzung beruhenden Antipathien gegenüber potentiellen Leistungsbetrügern jedoch nicht die Schärfe. Er legt großen Wert auf materiellen Wohlstand und sieht in zumindest gleichbleibendem Maße in Ausländern eine Bedrohung deutscher und damit auch seiner eigenen Besitzstände. Mit diesem Argument rechtfertigt er seine verbalen Angriffe (in der Form von Ungleichheitsvorstellungen und Ungleichbehandlungsforderungen) auf Ausländer im allgemeinen, während seine tätlichen Angriffe auf männliche ausländische Jugendliche als Verteidigung des von ihm in Anspruch genommenen Territoriums, nämlich seiner näheren Umgebung, zu verstehen sind. So ist als weiterer Grund für die Abnahme direkter gewalttätiger Konfrontationen mit ausländischen Jugendlichen Norberts über die Jahre gewachsenes und gesichertes soziales ‘Nest’ anzuführen, um das keine Verteidigungskämpfe geführt werden müssen. Die schwache Sozialstruktur seines Heimatortes mit wenig adäquaten Freizeitangeboten für Jugendliche, mangelnde elterliche Aufmerksamkeit und eine feste Clique politisch rechts orientierter Jugendlicher verstärken Norberts Ungleichheitsvorstellungen zusätzlich. Dass Norbert sich auf der Berufsschule mit einer Überzahl ausländischer Mitschüler konfrontiert sieht und in diesem Zusammenhang seine Gewalttätigkeit nachgelassen hat, bedeutet jedoch keine unbedingte Entwarnung für die Zukunft. Nur solange er sich in seinem Lebensradius nicht zu sehr eingeschränkt oder bedroht fühlt und er die wirtschaftliche und soziale Sicherheit, in der er lebt, weiterhin aufrecht erhalten kann, ist anzunehmen, dass er nicht mehr versucht, seine Ungleichheitsvorstellungen mit Gewalt durchzusetzen. Oswin 1992 - 1994 "Was mich halt wahnsinnig aufregt ist, wenn irgend jemand mit irgendwelchem NaziGequatsche herkommt. Ich meine, ich habe zwar gegen manche Ausländer was, aber was mit Nazi zu tun hat und sonst, ‘Heil Hitler’ und so, also da könnte ich echt durchdrehen." (1992: 21;8 ff) "Ja, was heißt, ‘Störkraft’ ist rechtsextreme Musik, aber mir gefällt sie halt. Ich meine, man kann sagen, ich bin auch ein bisschen rechts, also ich bin nicht gerade links, also auf ‘Rotfront’ oder so. Aber ich gehe nicht einfach zu einem Ausländer hin und sage, du bist CXXI ein Ausländer, also schlage ich dir jetzt eine rein. (PAUSE) Aber wenn sie sich benehmen wie die Axt im Walde, dann wird es schon ein wenig happig." (1993: 22;28 ff) "Und ich habe auch die Berichte von Dings gesehen, von Rostock-Lichtenhagen und im nachhinein kann man, neulich ist noch eine Reportage gekommen, warum die Anwohner so stark dagegen plädiert haben, und wo ich das dann gesehen habe, dann habe ich echt zum Schluss sagen müssen, da hätte ich wahrscheinlich auch mitgemacht. (PAUSE) Dass sie in den Park geschissen haben, dass sie alles haben herumliegen lassen." (1994: 40;2 ff) 1. Objektive Daten zum Lebenskontext im Überblick Oswin, geb. 1979, lebt mit seinen Eltern und seiner vier Jahre älteren Schwester in dem Dorf T., das in einem gut strukturierten ländlichen Raum des Albvorlandes gelegen ist. Die Familie bewohnt ein eigenes 10-Zimmer-Haus mit Terrasse und großem Garten in einem Randbezirk des Dorfes, der vorwiegend durch relativ neuerbaute Einfamilienhäuser geprägt ist. Die Familie ist relativ wohlhabend. Der Vater hat Hauptschulabschluss, ist Industriekaufmann und besitzt ein Geschäft für Markenkleidung in einer Großstadt in den neuen Bundesländern. Die Mutter hat Realschulabschluss und arbeitet ebenfalls im familieneigenen Geschäft. Oswin besucht ein Gymnasium im acht Kilometer entfernten F., wobei er die achte Klasse wiederholen musste. Während er zu Beginn der Erhebung sehr aktiv im örtlichen Sportund Schützenverein ist, betätigt er sich in den folgenden Jahren eher mehr im evangelischen Jugendkreis sowie im Jugendgemeinderat des Dorfes. Zu den Befragungen macht er einen durchweg gepflegten Eindruck, der durch die von ihm getragene Markenkleidung unterstützt wird. Er ist nicht übermäßig groß, dafür aber kräftig gebaut und trainiert durchgängig diverse Kampfsporttechniken und Kraftsport. 2. Politische Orientierung 2.1 Allgemeine Orientierung Obwohl Oswin explizit kein politisches Interesse zeigt, wird 1994 deutlich, dass er grundsätzlich nicht sehr weit von der FDP-orientierten Linie seiner Eltern entfernt ist. In seiner Kommentierung der Bundestagswahl betont er, dass er eine CDU-geführte Koalitionsregierung der SPD vorzieht (vgl. 1994: 38;11 ff). Während er sich anfänglich zu den Heavies und Bikern rechnet und mit Rockern und rechten Jugendlichen sympathisiert, zählt er sich 1994 nur noch zu den Heavies und rechnet u.a. rechte Jugendliche, Skinheads, Hooligans, Wehrsportgruppen und deutschnationale Gruppen zu seinen Gegnern (vgl. Fb.). 2.2 Ungleichheitsvorstellungen/Gleichheitsvorstellungen im Kontext von Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus Bis 1994 zeigt Oswin zahlreiche Ungleichheitsvorstellungen in bezug auf Ausländer. Den Hauptgegner stellen für ihn besonders türkische Jugendliche dar, denen er das alleinige Aggressionspotential bei gewalttätigen Auseinandersetzungen und die Verwicklung in kriminelle Machenschaften zuschreibt. Zwischen diesen Jugendlichen und Oswins Clique kommt es häufig zu Konkurrenz- und Bedrohungssituationen, die sich vornehmlich an Orten, die beide Gruppen in ihrer Freizeit nutzen (z.B. Disco), abspielen. Dieses explizite Feindbild bedeutet jedoch nicht, dass Oswin sich auf die Ablehnung von jugendlichen nichtdeutscher Nationalität beschränkt. Auch Aussiedlerjugendliche aus Russland versieht er mit den Prädikaten des Gewalttätigen und Provokativen (vgl. 1993: 17;12 ff), und schwarzhäutigen Asylbewerbern wirft er erhöhte Drogenkriminalität vor (vgl. 1993: 47;15 ff). Die Antipathie gegenüber Ausländern nimmt eine zentrale Position innerhalb der Selbstzuordnung als rechter Jugendlicher - "ich bin auch ein bisschen rechts" (1993: 22;30) - ein, wobei Oswin betont, dass es sich nicht um eine generelle Ablehnung handelt, sondern CXXII um eine Haltung, die aus seiner Sicht zwischen ‘gut’ (= angepasst, gut situiert, leistungsbereit) und ‘böse’ (= rabiat, anmaßend, unverschämt) unterscheidet. Die Begründungen seiner nicht auf negative Eigenerfahrungen gestützten Ressentiments gegenüber Asylbewerbern sind an verschiedene, allgemein kursierende Deutungsmuster angelehnt. Zum einen hält er die Anzahl der in Deutschland aufgenommenen Flüchtlinge für zu hoch, wobei er mit der Überflutungsmetapher argumentiert. Zum anderen verwendet er Steuerzahler-Argumentationen mit dem Hinweis auf die damit einhergehenden hohen Belastungen für den Sozialstaat und wirft einigen Asylbewerbern Asylbetrug vor. "Scheinasylanten" sind für ihn diejenigen, "wo halt Arbeit haben (...), und dann kriegen sie noch Asylhilfe" (1993: 47;14 f). Obwohl Oswin Hunger und Verarmung durchaus als Asylgrund gelten läßt, fordert er doch eine rigidere Handhabung der Asylvergabe, was er u.a. mit dem Vorwurf der Selbstverschuldung von Notlagen in den Herkunftsländern der Flüchtlinge sowie mit der Forderung nach Anpassung an das ‘Gastland’ begründet. 1994 distanziert er sich vom rechten Standpunkt und schätzt sich selbst nun als "eher links" (1994: 39;9) ein. Allerdings kann er diese politische Positionierung kaum offensiv und inhaltlich füllen. Lediglich eine weitgehend passive und gleichgültige Haltung gegenüber Migranten sowie der von ihm als positives Beispiel dargestellte Einzelfall des Aufbaus einer unterstützenden Beziehung seiner Familie zu einer ehemals im Haushalt tätigen Putzfrau dienen ihm zur Veranschaulichung des ‘Linksseins’. Daneben ist es vor allem die Verurteilung neonazistischer Gruppierungen, die für die Relativierung bzw. Revidierung der früheren Position herangezogen wird. Obwohl er Ungleichheitsvorstellungen in bezug auf Ausländer und andere Immigranten nunmehr ablehnt - "ich hab zwar gegen manche Ausländer was, aber was mit Nazi zu tun hat und sonst ‘Heil Hitler’ und so, also da könnte ich echt durchdrehen" (1994 b: 21; 12 ff) -, zeigt sich mit seinem einschränkenden Hinweis auf "manche" Ausländer seine jetzt stärker differenzierende Einstellung zu dieser Problematik. Trotz der Distanzierung von deutlich wahrnehmbaren rechtsextremen Phänomenen benutzt Oswin in der inhaltlichen Diskussion, etwa bei der Einschätzung der ‘drängendsten Probleme in Deutschland’, weiterhin einige der auch im rechten Diskurs gängigen Argumentationsmuster: "Ausländerstrom, würde ich sagen, immer noch" (1994: 39;38 ff). Neben dem Gebrauch eindeutiger Metaphern (z.B. "Ausländerstrom") kommt als wesentliches Orientierungsmuster nach wie vor die Anpassungsforderung an die Einwanderer zum Tragen. Mit Hilfe des Grades der Angleichung an die herrschenden Werte (Arbeits- und Leistungswillen, Selbstversorgung) bzw. des Ausmaßes des Verstoßes dagegen werden die Migranten in akzeptierte und (aktiv) auszuschließende Gruppen eingeteilt. Hinsichtlich der Konsequenzen für die negativ bewertete Gruppierung legt er das Schwergewicht auf das Einklagen eines kontroll- und sanktionsbereiten Staates. 2.3 Gewaltakzeptanz Dominierendes Thema innerhalb Oswins Orientierungsmuster ist bis 1994 der Komplex ‘Gewalt’ mit all seinen Facetten und individuell bedeutsamen Aspekten. Gewalt ist dabei in seiner Wahrnehmung zum einen selbstverständliche Handlungsform im Alltag, mit deren Hilfe Konflikte nach dem Stärkeprinzip sowohl in der Schule als auch innerhalb der Clique gelöst werden können. Um daran angelehnten Anforderungen der Jungen-Sozialisation wie Dominanz und Wehrhaftigkeit genügen zu können, trainiert Oswin durchgängig verschiedene Kampfsportarten und -techniken sowie Kraftsport. Innerhalb der Clique erscheint Gewalt nicht nur als Sanktion, sondern fast schon als selbstverständliches Erziehungsmittel: "...dann schlägt man dem eine rein, bis er das dann einsieht." (1993: 30; 33 ff) Zum anderen betrachtet Oswin Gewalt als unumgängliches Mittel des Widerstandes und der Notwehr z.B. gegenüber türkischen Jugendlichen. Sowohl abgeleitet aus entsprechenden Erfahrungen von Auseinandersetzungen mit dieser Gruppierung als auch zur Legitimation für eine offensiv-aggressive Haltung ihr gegenüber fungiert sie als CXXIII Hauptgegner. Begründet wird dies mit Provokations- und Anmaßungsvorwürfen, mit der Verteidigung von vermeintlich den deutschen Jugendlichen streitig gemachten Territorien sowie mit Beschützermotiven hinsichtlich der deutschen Mädchen. Obwohl Oswin eher Anhänger einer ‘handfesten’, traditionsgeleiteten Gewaltmoral ist, bei der bestimmte Fairness-Regeln gelten und eingehalten werden, sieht er sich anhand der Umstände gezwungen, eine Waffe (Butterfly-Messer) bei sich zu tragen, was für ihn mit einem gewissen Fatalismus als ‘Normalität’ hingenommen wird: "das ist normal geworden. Mir tut es eigentlich ein wenig leid, dass es so geworden ist, aber ich kann nichts dagegen machen" (1993: 41;30 ff). Momente der Billigung von Gewalt Dritter und eigener Gewaltbereitschaft werden insbesondere in seinen Kommentierungen zu den Geschehnissen in Rostock und Solingen deutlich. Zwar folgt er in seiner Verurteilung der Morde in Solingen zunächst der allgemeinen Empörung und kritisiert vor allem die Tatsache, dass es sich bei den Opfern des Anschlages um Arbeitsmigranten mit langer Aufenthaltsdauer in Deutschland und damit um seiner Meinung nach voll integrierte Personen handelte, doch befürwortet er direkte Übergriffe auf die Gruppierung der Flüchtlinge zur Maßregelung ("die scheißen in den Garten ...", 1993: 42; 31), solange sie unter der Schwelle extremer Ausformungen bleiben: "...man muss die Leute nicht gleich umbringen, aber wenn sie mal wirklich einen auf den Deckel bekommen, dann könnte ich sagen, ich habe nichts dagegen." (1993: 42, 33 ff) Mehr noch bezüglich der Ausschreitungen in Rostock bringt er Verständnis für die jugendlichen Täter auf, wobei er das wahrgenommene Aggressionspotential als Beleg für Ursachen, die unausgesprochen der Opfergruppe angelastet werden, bewertet: "...das war ja wirklich nur noch geballter Hass, so was muss sich irgendwie bilden, so was kommt nicht von einem Tag auf den anderen." (1993: 43;8 ff) Hier kommt bei seiner rückblickenden Einlassung "da hätte ich wahrscheinlich auch mitgemacht" (1994: 40;8 f) eindeutig seine trotz vordergründiger Verurteilungen der Gewalttaten noch immer zumindest ambivalente Einstellung zur Frage der Legitimität von Gewalt gegen Ausländer zum Tragen. Zwar distanziert er sich von organisierter Gewaltanwendung bis zu einer bestimmten Grenze ("Umbringen"), jedoch würde er - evtl. aufgrund seiner hinsichtlich seiner beruflichen Zukunftsplanung selbst zu erbringenden Anpassungsleistungen - selber bis zu einem gewissen Grad Gewalt gegen normüberschreitende (z.B. gegen "Sauberkeit" verstoßende) Immigranten anwenden. Einhergehend mit der seiner Ansicht nach geänderten politischen Einstellung (s.o.) äußert Oswin sich 1994 kritisch über die vormalige eigene Gewaltbereitschaft. Trotz einer mehrfach beteuerten Abkehr von harten und brutalen Gewaltformen in der Auseinandersetzung mit anderen Jugendlichen zeigt er aber immer noch seine Bereitschaft, bei entsprechenden Anlässen wie z.B. Gegenwehr bei körperlicher oder verbaler ‘Anmache’ oder bei Beleidigungen seiner ‘männlichen’ Ehre, aktiv gewalttätig zu reagieren. Obwohl u.a. bedingt durch ein verändertes Freizeitverhalten - Oswin verbringt mehr Zeit mit seiner Schwester und anderen Erwachsenen - in den vorhergehenden Monaten die Notwendigkeit zu massiveren und kollektiven Gewaltdemonstrationen nicht mehr bestand, hat er mit dem Einüben einer neuen Kampftechnik (Verwendung von Würgehölzern) dennoch individuell weiter aufgerüstet. Der Umstand, dass es für Oswin keine konkreten Probleme mehr mit ausländischen Jugendlichen gibt, könnte allerdings eher als einem grundlegenden Wandel seiner eigenen Einstellungen Ausländern gegenüber der Tatsache geschuldet sein, dass er und seine Clique sich in der Vergangenheit durch ihr gewalttätiges Auftreten eine solchermaßen respektierte, wenn nicht gefürchtete Stellung geschaffen haben, dass andere Jugendliche eine direkte Konfrontation scheuen. 3. Zusammenhang von politischer Orientierung und Gewaltakzeptanz mit sozialen Erfahrungen und Erfahrungsstrukturierung CXXIV 3.1 Erfahrungen und Bearbeitungsressourcen 3.1.1 Problembelastungen und zentrale Interessenlagen Oswin selber gibt durchgängig ‘schulische Probleme’ an (vgl. Kap. 3.2.1 Abschnitt ‘Schule’). Latent scheint für Oswin auch die häufige beruflich bedingte Abwesenheit der Eltern belastend zu sein. Obwohl er selber seine Eigenständigkeit betont und auch die Eltern Wert auf eine Erziehung zur Selbständigkeit zu legen scheinen, klingt in den Gesprächen an mehreren Stellen sein Wunsch an, häufiger etwas mit den Eltern gemeinsam zu unternehmen bzw. sie öfter zu sehen. 3.1.2 Erfahrungen im sozialen Nahraum und seine sozio-emotionalen Ressourcen Die Familie stellt für Oswin durchgängig einen unbelasteten, weitgehend zufriedenstellenden sowie vor allem hinsichtlich der materiellen Ressourcen überdurchschnittlich gut ausgestatteten Bereich dar. Obwohl er die beruflich bedingte häufige Abwesenheit der Eltern implizit bedauert, fungieren sie wie auch die Schwester als soziale und emotionale Bezugspersonen, der Vater in einigen Aspekten (bewegte Jugendzeit, beruflicher Erfolg) zudem als Vorbild. Bestätigung gewinnt er durch die im Alters- und Geschlechterdurchschnitt übermäßige Inpflichtnahme in der Haus- und Gartenarbeit sowie die frühzeitige Einbindung in die berufliche Sphäre der Eltern. Quasi als ‘Belohnung’ gewähren ihm die Eltern weitestgehende Freiräume, wobei Oswin durch seine bereitwillige Hilfe und damit bewiesene Eigenständigkeit aber auch für sich das Recht ableitet, sich Freiräume gegebenenfalls auch ungefragt zu nehmen. Mit seinen zumindest anfänglich rechtslastigen Ansichten und seiner Gewaltbereitschaft befindet er sich nicht in Übereinstimmung mit seinen Eltern, so dass er diese Themenbereiche sowie von ihm begangene Normüberschreitungen (z.B. Alkohol- und gelegentlicher Drogenkonsum) zur Vermeidung eines Konfliktes bei den sonst eher offenen und verständnisvollen Gesprächen mit den Eltern ausspart. Die häufige Abwesenheit der Eltern und die damit einhergehende fehlende Kontrolle mögen ein Grund mit für Oswins z.T. recht auffälliges Verhalten sein. In der Schule kommt es 1992 und 1993 vor allem aufgrund Oswins eigenen unangepassten, "angeberischen" und nicht-integrativen Verhaltens häufig zu gewalttätigen Konflikten mit seinen Mitschülern. Dementsprechend macht er auch schlechte Erfahrungen mit den Autoritätspersonen der Institution, bei denen er angesichts einiger normabweichender Verhaltensweisen (Schlägereien, Rauchen, Widerstandshandlungen) einen umstrittenen Ruf innehat. In der Folge verschlechtern sich seine Leistungen so, dass er 1993 in der achten Klasse nicht versetzt wird. Aufgrund eigener Einsicht in vormaliges Fehlverhalten und einer damit einhergehenden Verhaltensänderung verbessert sich Oswins Verhältnis zu den Schülern seiner ehemaligen Klasse, und sein Leistungsstand pendelt sich um den Durchschnitt herum ein. Die Schüler seiner neuen Klasse hält er für ‘infantil’ und weit hinter seinem eigenen Entwicklungsstand zurück, so dass sein Verhältnis zu ihnen eher zwiespältig ist. Einerseits distanziert er sich von ihnen, andererseits genießt er aber auch die Bewunderung, die ihm als ‘erfahrenem Wiederholer’ von ihnen entgegengebracht wird und füllt das ihm verliehene Klassensprecheramt engagiert aus. 1994 versucht er, sich in der Schule möglichst nichts zuschulden kommen zu lassen, um sein Ziel, in der Zukunft einmal Betriebswirtschaft und/oder Jura studieren zu können (s.u.) zu erreichen und nicht durch unangepasstes Verhalten zu gefährden. Während Oswin 1992 noch in eher wechselnden sozialen Zusammenhängen verkehrte, stellt ab 1993 seine Clique für ihn einen durchgängig emotional verlässlichen Bezugsrahmen dar. Merkmale dieser ausschließlich aus mehr oder weniger rechtsorientierten deutschen Jungen seines Heimatortes bestehenden Gruppe sind ein starker Zusammenhalt, gemeinsam durchgemachte Erfahrungen und Aktivitäten im Bereich von Grenzüberschreitungen (Alkohol, Sexualität, Gewalt) sowie die ebenfalls geteilte Affinität zu politisch einschlägigen Musikgruppen (s.o.) bzw. entsprechenden Haltungen. CXXV Ein zentraler Konnex wird durch die Verständigung über Gewaltbejahung und Kampfbereitschaft (z.B. Bewaffnung, individuelle Kampffähigkeiten) gebildet, wobei als Anforderung an die einzelnen Mitglieder auch intern wirksame gewaltförmige Momente (Konfliktbereinigung, Auseinandersetzungsformen) zum Tragen kommen. Zum einen kann Oswin über die Demonstration von ‘männlichen’ Eigenschaften wie Dominanz(streben) und Wehrhaftigkeit Anerkennung von Seiten seiner Freunde erhalten und bewahren, zum anderen kann die Gruppe als solche über die Inszenierung als gewalttätige und rechte Clique und die ausgetragenen gewalttätigen Konflikte mit vornehmlich ausländischen Jugendgruppierungen ihren Status als zu respektierende, gefährliche Gruppe, mit der nicht zu spaßen ist, ausbauen und bewahren. 1994 distanziert sich Oswin zwar von der seiner Einschätzung nach noch immer bestehenden rechten Ausrichtung der Clique, ist aber weiterhin mit ihr zusammen. Räumlich verändertes Freizeitverhalten (s.u.) und eine weniger als provokativ empfundene Umwelt (s.o.) führen dazu, dass die Clique insgesamt nicht mehr so häufig in gewalthaltige Auseinandersetzungen verwickelt ist. 1992 betätigt Oswin sich intensiv im Leistungssportbereich zweier örtlicher Vereine, muss dieses Engagement aber aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. In der Folge bilden neben regelmäßigen Treffen im ev. Jugendkreis und wöchentlichem Training mit dem Luftgewehr im Schützenverein gesellige Zusammenkünfte mit seiner Clique den Schwerpunkt seines Freizeitverhaltens. Die Jugendlichen treffen sich zu Hause, auf öffentlichen Plätzen sowie zunehmend in zwei Gaststätten des Ortes. Wesentliches Moment bei diesen Treffen stellt zum einen der gemeinsame, z.T. exzessive Konsum von Alkohol dar. Zum anderen bieten die Aufenthalte an öffentlichen, auch von ausländischen Jugendlichen genutzten Orten immer wieder auch Anlass und Gelegenheit zu mit Territorialansprüchen begründeten körperlichen Auseinandersetzungen mit diesen Jugendgruppierungen. 1994 verändert sich Oswins Freizeitverhalten dahingehend, dass er an den Wochenenden vermehrt mit seiner motorisierten Schwester unterwegs ist. Ein konkreter Anlass zu o.a. Auseinandersetzungen ist aufgrund des Besuches anderer Discotheken bzw. Kneipen daher nicht mehr gegeben. Ein direkter Zusammenhang zwischen Oswins Nachbarschaft und Wohnumfeld und seinen politischen Ansichten und seiner hohen Gewaltakzeptanz erscheint nicht gegeben. Er nutzt einige der für ihn attraktiven dörflichen Strukturen und Angebote, ohne dass er sich von diesem Rahmen eingeschränkt fühlt. Darüber hinaus kann er sich aufgrund der Mobilität der Schwester zunehmend außerhalb der dörflichen Umgebung bewegen. Lediglich das eingeschränkte Angebot für Jugendliche könnte dazu beitragen, dass sich die einzelnen Jugendgruppierungen nicht ausweichen können, sondern immer wieder an bestimmten Plätzen zusammentreffen, was wiederum territorialen Auseinandersetzungen Vorschub leistet. 3.1.3 Medienrezeption und sonstige Ressourcen politisch relevanter Information Oswin liest mit steigender Tendenz regelmäßig die Tageszeitung und manchmal den ‘Stern’. Im Fernsehen verfolgt er "oft" die Nachrichten, Jugendmagazine, Reportagen und Dokumentarfilme (vgl. Fb.). Während er zunächst neben anderen Musikrichtungen hauptsächlich die Musik seiner Lieblingsgruppe ‘Böhse Onkelz" und der Gruppen ‘Tonstörung’, "Störkraft" und ‘Endstufe’, über deren rechtsradikalen Inhalt er sich bewusst ist und den er befürwortet, bevorzugt, distanziert er sich 1994 etwas von dieser Stilrichtung mit dem Hinweis "die Texte gefallen mir halt nicht mehr" (1994: 2;14). Mit seinen Eltern bespricht er die meisten Themen ziemlich offen, allerdings verschweigt er eigene Gewalterlebnisse, begangene Normüberschreitungen und Ansichten über Ausländer in Vorwegnahme und zur Vermeidung eines Dissenses zu der eher liberalen politischen Einstellung der Eltern und ihrer Erwartung eines angepassten Verhalten seinerseits. Durchgängig erlebt er sich in seinen Ansichten und seiner Gewaltakzeptanz in Übereinstimmung mit seiner Clique, wobei die Tendenz nach seiner eigenen Einschätzung CXXVI 1994 zumindest bei ihm in Richtung "links" und - aufgrund ruhigerer Lebensumstände weniger Gewaltakzeptanz geht. 3.1.4 Erfahrungen mit und Ressourcen von gesellschaftlicher und politischer Teilhabe Oswin ist für die Erreichung von für ihn lohnend erscheinender Ziele durchaus bereit, sich in Gremien o.ä. zu engagieren. Im Rahmen seines 1994 bestehenden Klassensprecheramtes versäumt er keine SMV-Sitzung in der Schule und versucht, dem Amt so gut wie möglich gerecht zu werden. 1993 wird er in den örtlichen Jugendgemeinderat gewählt. Konkrete Motivation ist für ihn hierbei die Eröffnung eines Jugendkellers. Auch bei von diesem Gremium (mit-) veranstalteten Festen steht er seinen ‘Mann’ in der Planung und Ausführung und opfert dafür bereitwillig seine Freizeit. Hinsichtlich seiner beruflichen Zukunftsplanung ist er zunehmend bereit, Anpassungsleistungen (z.B. in der Schule) zu erbringen, um ein angestrebtes Studium und eine spätere selbständige Tätigkeit im kaufmännischen Bereich nicht zu gefährden. 3.2 Kategorien, Kompetenzen und Mechanismen der Erfahrungsstrukturierung 3.2.1 Zentrale Bezugspunkte sozialer Identität Oswin hat kein übersteigertes Nationalitätsempfinden, er scheint Deutschland vornehmlich als Wohlstandsstaat zu begreifen. Die momentan gute materielle Versorgung und sein Ziel, auch in der Zukunft mit einem eigenen Betrieb möglichst viel Geld zu verdienen, scheinen ein Grund dafür zu sein, dass er seine Ablehnung von Ausländern u.a. mit SteuerzahlerArgumenten begründet. Seine eigene Leistungsorientierung ist vermutlich Kriterium für die Akzeptanz arbeitender, für sich selbst sorgender Ausländer sowie die grundlegende Ablehnung von Gruppierungen wie die Asylbewerber, die - womöglich noch als "Scheinasylanten" - vom Staat Leistungen beziehen. Oswins regionaler und lokaler Sozialraum scheint - wenn überhaupt - nur dahingehend Einfluss auf seine Ansichten und seine Gewaltbereitschaft zu haben, dass es aufgrund mangelnder Angebotsvielfalt häufig zu vornehmlich gewalttätig ausgetragenem Konkurrenz- bzw. Territorialverhalten in bezug auf die vorhandenen Freizeitressourcen zwischen den einzelnen Jugendgruppierungen kommt. Sein Sozialstatus als materiell gut versorgter Gymnasiast scheint hauptsächlich seinem Anspruchs- und Leistungsdenken Vorschub zu leisten, wodurch vermutlich die Ausgrenzung der Asylbewerber, die nicht für sich selber sorgen können und sich zudem noch "fordernd" oder "unangepasst" verhalten, begünstigt wird. Ausschlaggebend für Oswins hohe Violenz scheint die Geschlechtsspezifik seines Verhaltens zu sein. Die Orientierung an gängigen Standards der Jungen-Sozialisation bringt mit sich, dass er über die Demonstration von ‘typisch’ männlichen Eigenschaften - wie z.B. Kampfbereitschaft, Dominanz(streben) und Wehrhaftigkeit - Anerkennung von Seiten der Freunde gewinnen und bewahren kann. Seine jugendkulturelle Orientierung als rechtsgerichteter Heavy-Fan führt zu einer Gegnerschaft zu ausländischen - vornehmlich türkischen - Jugendlichen. Über die Inszenierung als gewalttätige, rechtsgerichtete Gruppe kann die Clique ihren Zusammenhalt demonstrieren und einen bei anderen Jugendlichen gefürchteten Status erlangen. Zudem müssen türkische Jugendliche unter dem Deckmantel der als berechtigt empfundenen Vorwürfe ihnen gegenüber als ‘Feinde’ und somit als willkommene Zielscheibe für Gewalt und die damit erlebte Faszination sowie für das Ausleben von Risiko- und Abenteuerwünschen herhalten. Seine sonstigen Beziehungen im sozialen Nahraum wirken sich nicht explizit fördernd auf seine politischen Ansichten und seine Gewaltbereitschaft aus. Die Eltern sind eher liberal eingestellt und zeigen weder für das eine noch für das andere Verständnis. Lediglich ihre häufige Abwesenheit und die damit einhergehende fehlende Kontrolle könnten seinem Verhalten Vorschub leisten. 3.2.2 Individuelle Kompetenzen bzw. Mechanismen zum Aufbau personaler Identität CXXVII Oswin zeigt für Ausländer wenig Toleranz, insbesondere dann, wenn sie sich seiner Meinung nach ihrem hiesigen Status nach unangemessen oder an die vorherrschenden Sitten unangepasst verhalten. Er ist in der Lage, im nachhinein eigenes Fehlverhalten reflexiv zu betrachten (z.B. in der Schule) und die Folgen des eigenen Handelns im Rahmen eines Kosten-Nutzen-Kalküls abzuwägen, jedoch fehlt es ihm in der Beurteilung aktueller Orientierungs- und Verhaltensmuster sowie herrschender Mechanismen von Gewalt und Gegengewalt entweder an der Fähigkeit oder an der Bereitschaft zu kritischem Hinterfragen. Empathie zeigt er den Belangen der Eltern und der Schwester gegenüber, in Ansätzen kann er sich in verfolgte oder hungernde Minderheiten einfühlen. Trotzdem revidiert er diese Einsicht z.T. durch den Vorwurf der Selbstverschuldung, zumindest der Politiker dieser Herkunftsländer, wieder. Seine Konfliktfähigkeit beschränkt sich zumindest 1992 und 1993 vornehmlich auf das - z.T. rein emotional gesteuerte gewalttätige Reagieren auf vermeintliche Angriffe oder Beleidigungen. Auch innerhalb der Familie verschweigt er lieber kritische Themen, als es zu einer verbalen Auseinandersetzung kommen zu lassen. 1994 zeigt er sich in seinen Reaktionen etwas gemäßigter, die Schwelle zum Einsatz von Gewalt scheint - evtl. aus reinem KostenNutzen-Kalkül hinsichtlich seiner schulischen und beruflichen Zukunft - gestiegen zu sein. Oswin ist durchaus dazu bereit, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Dies belegen seine Tätigkeiten als Klassensprecher und als gewähltes Mitglied des Jugendgemeinderates. Sein Selbstwertgefühl scheint zunächst hauptsächlich auf dem Aufbau einer Selbstgewissheit zu basieren, die er als rechter, kampferprobter Jugendlicher in einer rechtslastigen, gewaltbetonenden, jungendominierten Clique gewinnt. Zunehmend gewinnt er aber auch Selbstbewusstsein aus dem Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, die ihm z.B. Anerkennung von seiten der Eltern (Hilfe im Haushalt, Erledigen von geschäftlichen Aufgaben) oder anderen Jugendlichen und Erwachsenen für seinen Einsatz als Klassensprecher oder im Jugendgemeinderat zuteil werden lassen. Vor diesem Hintergrund wird es ihm 1994 auch im Hinblick auf die Erreichung zukünftiger Ziele möglich, sich zumindest vordergründig vom rechten Standpunkt zu distanzieren und auch auf vermeintliche Angriffe oder Beleidigungen etwas gelassener zu reagieren. 4. Zusammenfassung Oswin bietet das Bild eines Jungen, das sich zunächst sowohl durch eine - wohl aus eigenem Leistungs- und Anspruchsdenken sowie seiner jugendkulturellen Orientierung resultierenden - von Ungleichheitsvorstellungen geprägte Ausländerfeindlichkeit als auch durch - vornehmlich durch seine Orientierung an gängigen Standards der JungenSozialisation bedingte - hohe Akzeptanz von Gewalt jeglicher Couleur kennzeichnet. 1994 relativiert er - vermutlich hauptsächlich vor dem Hintergrund eines Kosten-Nutzen-Kalküls hinsichtlich seiner schulischen und beruflichen Zukunft - zumindest vordergründig seine vormals rechtslastige Einstellung in Richtung "linker" Positionen und zeigt sich aus den gleichen Gründen auch weniger gewaltbereit. Hier könnte noch hinzukommen, dass sich Oswin mit seiner Clique durch das vorangegangene Verhalten bei den anderen Jugendlichen einen so gefürchteten Status erworben hat, dass diese eine direkte Konfrontation scheuen und Provokationen vermeiden. Außerdem trifft Oswin durch ein räumlich verändertes Freizeitverhalten nicht mehr so häufig mit konkurrierenden ausländischen Jugendgruppierungen zusammen. Das Ausgehen mit der motorisierten vier Jahre älteren Schwester scheint darauf hinzudeuten, dass Oswin vermutlich entwicklungsbedingt zu diesem Zeitpunkt neue, evtl. ältere Freunde und Bekannte sucht und seine Clique somit zunehmend an Bedeutung für ihn verliert. Im einzelnen beziehen sich seine Ungleichheitsvorstellungen zum einen auf die als ‘Hauptgegner’ wahrgenommenen türkischen Jugendlichen, mit denen es immer wieder zu gewalttätigen Konfrontationen kommt. Ihnen, aber auch jugendlichen Einwanderern aus Russland, macht er den Vorwurf einer gewalttätigen und provokativen Haltung sowie einer CXXVIII z.T. gesteigerten Kriminalität(sbereitschaft). Hinsichtlich der Gruppierung der Asylbewerber argumentiert er eher mit im öffentlichen Diskurs gängigen Argumentationsmustern wie Überflutungsmetaphern und Steuerzahler-Argumenten, wobei er zwischen zu akzeptierenden, weil arbeitenden, sich selbst versorgenden, angepassten und integrierten Einwanderern und nicht akzeptablen, weil anmaßenden, ungerechtfertigterweise Leistung beziehenden "Scheinasylanten" differenziert. Oswins Violenz äußert sich sowohl in der Verwendung von Gewalt als alltäglichem Mittel zur Konfliktlösung in Schule und Clique als auch als unabwendbarem Mechanismus zur ‘Gegenwehr’ bei körperlichen Übergriffen und vermeintlichen Beleidigungen seiner ‘männlichen’ Ehre sowie zur Maßregelung ausländischer, respektive türkischer, Jugendlicher bzw. zur Verteidigung beanspruchter Ressourcen. Beinahe fatalistisch nimmt er die Notwendigkeit, Waffen mitzuführen, als Normalität hin. Obwohl er die Übergriffe in Solingen und Rostock zunächst verurteilt, gibt er doch die Billigung von Gewalt Dritter unter gewissen Umständen zu erkennen. Zudem äußert sich seine eigene vorhandene Ambivalenz hinsichtlich der Anwendung von Ausgrenzungs-Gewalt in seiner Einlassung, zur Not auch selber bis zu einem gewissen Grad ("auf den Deckel geben", 1993: 42;33 ff) Gewalt einzusetzen, um die Anpassung der Migranten an hiesige Sitten und Gebräuche zu erzwingen (s.o.). Ausschlaggebend für Oswins Ungleichheitsvorstellungen in bezug auf Asylbewerber scheint seine Identifikation mit Deutschland als Wohlstandsstaat, den er durch leistungsbeziehende Einwanderergruppierungen gefährdet sieht, sowie sein eigenes hohes Anspruchs- und Leistungsdenken zu sein. Da ihm durch seine bereits gewonnenen Einblicke in das Geschäftsleben des Vaters bewusst ist, dass materieller Wohlstand in der Regel hart erarbeitet werden muss und dass er bereits jetzt gute schulische Leistungen erbringen muss, um seinen späteren Berufswunsch zu erfüllen, kann er nur Einwanderer akzeptieren, die ihrerseits selber für sich sorgen können und sich den gegebenen Umständen anpassen. Da er sich selber keinen ‘Müßiggang’ und kein normabweichendes Verhalten erlauben kann, will er seine Ziele erreichen, gesteht er dies auch nicht den seiner Meinung nach auszugrenzenden, alimentierten und unangepassten Asylbewerbern zu. Seine Ungleichheitsvorstellungen in bezug auf türkische Jugendliche sowie seine Gewaltbereitschaft ihnen gegenüber sind zum einen hauptsächlich seiner jugendkulturellen Orientierung als rechter Heavy-Fan, bei der die Feindschaft zu dieser Gruppierung als traditionell und somit als ‘normal’ empfunden wird, zum anderen seinen Maskulinitätsinszenierungen und somit der Orientierung an gängigen Standards der Jungen-Sozialisation geschuldet. Im Rahmen des Cliquenzusammenhaltes können über die Inszenierung als rechtsgerichtete, gewalttätige Gruppe durch das gewalttätige Austragen von Territorial- und Konkurrenzkonflikten Bestrebungen nach Machterlebnissen, Risiko und Abenteuer ausgelebt werden, für deren Erfüllung die türkischen Jugendlichen in ihrer Funktion als traditioneller Hauptgegner herhalten müssen. Über die Demonstration von männlichen Eigenschaften wie Dominanz, Wehrhaftigkeit und Kampferprobung kann darüber hinaus auch innerhalb der Clique und anderer Lebensbereiche Anerkennung von Gleichgesinnten erlangt und bewahrt werden. Da Oswin ein gutes Verhältnis zu seinen Eltern hat und der Vater z.T. Vorbildfunktion für ihn innehat, er sich mit seinen politischen Ansichten und seiner Gewaltakzeptanz aber nicht in Übereinstimmung mit ihnen befindet, scheint er aus Angst vor Auseinandersetzungen brisantere Themen zu Hause zu verschweigen. Eventuell gibt ihm aber die häufige Abwesenheit der Eltern und die damit einhergehende mangelnde Kontrolle sowie die von den Eltern forcierte Selbständigkeit ihres Sohnes den nötigen Freiraum für seine z.T. normüberschreitenden Aktivitäten. Da Oswin trotz alledem seine berufliche Zukunft nicht aus den Augen verliert und er sich mit seiner Clique 1994 einen allseits gefürchteten Status geschaffen zu haben scheint, passt er sich - wahrscheinlich aus reinem Kosten-NutzenKalkül und in Ermangelung von durch verändertes Freizeitverhalten und fehlende CXXIX Provokationen seitens der türkischen Jugendlichen bedingten Gelegenheiten zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zumindest vordergründig allgemeinen Verhaltensregeln wieder mehr an, indem er sich vom rechten Standpunkt distanziert und auch in potentiellen Konfliktsituationen gelassener reagiert. Paul 1992 - 1994 „Ich habe eigentlich keine Angst vor dem Streit, aber wenn ich weiß, ich bekomme eine aufs Maul, mein Gott, dann trete ich einmal zu, dann bekomme ich eine aufs Maul, dann ist der Kampf vorbei...so richtig krankenhausreif geschlagen habe ich noch keinen.“ (1992: 28; 7ff) „Wenn er am Boden liegt, dann warte ich erst mal, und wenn er dann irgendeinen falschen Muckser macht, das macht mir nichts aus, er liegt immer noch am Boden, dann kann es sein, dass ich ihn krankenhausreif schlage.“ (1993: 21;28 ff) „Schläger, das habe ich mir mehr oder weniger abgewöhnt." (1994: 1;4 f) 1. Objektive Daten zum Lebenskontext im Überblick Paul, anfangs der Studie 13 Jahre alt, evangelisch, lebt mit seinen Eltern und seinem ein Jahr älteren Bruder im Stadtteil Pf. (ca. 4.200 Einwohner) der ca. 2 km entfernten und in einem ballungsgebietabgewandten, strukturstarken ländlichen Raum im Albvorland liegenden Kleinstadt G. (ca. 8.000 Einwohner; die Gesamtstadt mit allen Stadtteilen hat ungefähr 18.000 Einwohner). Die Familie bewohnt ein eigenes Haus mit 5 Zimmern, Garten und Terrasse sowie einer derzeit ungenutzten Einliegerwohnung in einem Gebiet, das in der direkten Nachbarschaft ebenfalls durch Einfamilienhäuser geprägt ist. Paul verfügt über ein eigenes Zimmer. Im Haushalt sind zwei Autos, Farb-TV, Stereoanlage, Videorecorder, Spülmaschine etc. vorhanden; an 1993 auch ein Videogerät. Paul selbst besitzt eine Stereoanlage mit CDPlayer, ein Skateboard und ein Keyboard, seit 1993 auch einen PC und ein Mountainbike, ab 1994 eine neue Skiausrüstung. An Taschengeld stehen ihm zunächst 40 DM im Monat zur Verfügung; 1993 gibt er an, diese Summe würde durch zusätzliche Zuwendungen seiner Eltern faktisch auf etwa 100 DM aufgestockt; 1994 bezieht er 60 DM. Der Vater arbeitet als selbständiger Architekt im ca. 20 km entfernten F., die Mutter ist ebenfalls dort seit kurzer Zeit wieder in einem Büro beschäftigt. Die mittelgroße Stadt F. war bis vier Jahre vor Beginn der Studie auch der Wohnort der Familie. Paul besucht 1992 und 1993 die Hauptschule in Pf., ab 1994 eine soz.-hauswirtsch. Schule, um dort den Realschulabschluss zu erwerben. Seine Bruder - in den ersten Jahren mit ihm in einer Klasse - hat seitdem eine Maurerlehre begonnen. 2. Politische Orientierung 2.1 Allgemeine Orientierung Paul zeigt sich über den Untersuchungszeitraum hinweg politisch nicht sehr interessiert und/oder informiert, jedoch macht er sich zu bestimmten Themen (u.a. zu Rechtsextremismus; s.u.) durchaus eigene Gedanken. Er selbst rechnet sich 1992 zu den Heavy-Fans, Bikern und Fans von Musikgruppen. „Ganz gut“ findet er zu diesem Zeitpunkt Skater, Rapper, Bundeswehrfans und Disco-Fans. National eingestellte Gruppen kann er „nicht so gut“ leiden, und Skinheads und Hooligans bezeichnet er als „Gegner“ (vgl. Fb. 1992). Während die letztgenannten Abneigungen CXXX bestehen bleiben, rechnet er sich ab 1993 zusätzlich zu den Rappern, linken Jugendlichen und Streetfightern (dies nur 1993) und geriert sich auch entsprechend (s.u.). 2.2 Ungleichheitsvorstellungen/Gleichheitsvorstellungen im Kontext von Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus Paul äußert in den beiden ersten Jahren (fast) keine Ungleichheitsvorstellungen in bezug auf Ausländer. Vermutlich, weil er viele ausländische Freunde hat - „die meisten von meinen Freunden sind ja Ausländer“, (24;21 f) - betont er die Gleichheit aller Menschen und verurteilt ausländerfeindliche Angriffe: „Menschen sind doch Menschen, oder?“ (23;6 ff). Lediglich bei der Analyse der Gründe für die Vorkommnisse in Rostock klingen „Steuerzahler-Argumente“ bezüglich der finanziellen Belastungen durch Asylbewerber an, jedoch entkräftet er diese Argumentation bewusst selber, indem er anführt, dass Asylbewerber in Deutschland zunächst gar nicht arbeiten dürfen: „Wir Deutschen unterhalten ja die Ausländer, die Asyl suchen und so, aber wieso, man lässt ja die Ausländer gar nicht arbeiten, die Asyl suchen, (...) ich meine, wieso lässt man sie nicht arbeiten? Dann würde es wieder heißen, die nehmen den Deutschen die Arbeitsplätze weg.“ (24;37 ff) Der Umstand, dass Paul den ‘Teufelskreis’ zwischen Schuldzuweisungen im Sinne von ‘Alimentierung’ bzw. ‘Leistungserschleichung’ einerseits und ‘Wegnahme der Arbeitsplätze’ andererseits erkennt, zeigt, dass er sich eingehender mit der Situation der Asylbewerber befasst hat. Konsequenterweise distanziert er sich von Rechtsextremen, die er explizit als „Gegner“ bezeichnet (vgl. 24;21 und Fb. 1992), indem er sich kritisch über ihr Verhalten (vgl. Kap. 2.3) und ihr Äußeres äußert (vgl. 24;1 ff). Vermutlich beeinflusst durch seinen noch immer zum großen Teil von ausländischen Jugendlichen gebildeten Freundeskreis (vgl. Abschnitt ‘Clique’) charakterisiert er 1993 seine eigene Einstellung noch deutlicher als: „Linksradikal und mit Ausländern zusammen sein, (...) also nichts gegen Ausländer haben, (...) was mit Ausländern unternehmen.“ (38;35 ff; ähnlich: 1994: 44;24ff; 55;27ff) Paul setzt sich weiterhin vehement von „rechtsradikalen“ Gruppierungen ab, die er als „Nazis“ bezeichnet. Als Gründe hierfür gibt er demonstrierte Gruppenstärke, deren Bedrohlichkeit und moralisch ungerechtfertigten Hass auf andere (vornehmlich ausländische) Menschen an: „Der Hass auf Ausländer, das heißt, nicht gerade auf Ausländer, sondern der Haß auf andere Menschen, die meisten Nazis, die wissen gar nicht, warum sie so was machen. Die sind halt dabei, weil sie genau wissen, da bist du in einer Gruppe, da bist du stark. Ich meine, gegen einen Nazi legt sich keiner an. Ich hasse Nazis, die gehen einfach auf Leute los, die gar nichts gemacht haben, bloß weil sie jetzt aus einem anderen Land kommen, das ist der totale Schwachsinn.“ (37;32 ff) Obwohl er zeigt, dass er die hier herrschenden (faschistoiden) Gruppenmechanismen von kollektiver Stärke und Bedrohung erkennt, wird ihm anscheinend nicht klar, dass er in seinem Freundeskreis oftmals ebenfalls gewissen Anpassungszwängen unterworfen ist (vgl. Abschnitt ‘Clique’). Zudem wirft Paul den „Rechtsradikalen“ vor, dass sie aus Dummheit mit den Ausländern die falschen Adressaten für ihre ‘Unmutsbekundungen’ und Aggressionen auswählen: „...die Leute sind so dumm, da bauen sie Wohnungen, da z.B. hier die Sozialwohnungen, gerade für die Leute, die wirklich nichts haben, kein Geld und so, und da sollte man eigentlich auch stolz drauf sein, aber dann kommen Rechtsradikale und sagen, scheiß Ausländer, wieso sagen sie dann nicht, scheiß Regierung.“ (41;12 ff) Obwohl Paul sich 1994 weiterhin als „linksradikal, (...) gegen Nazis“ (44;24 ff) einschätzt und der Meinung ist, „ein Mensch ist ein Mensch, ob er jetzt schwarz ist, ob er Türke ist“ CXXXI (55;27 ff), klingen in dieser Befragung doch erstmals einige Ungleichheitsvorstellungen in Richtung bestimmter Ausländergruppierungen an. Paul hält es zwar für richtig, dass für bedürftige Menschen Sozialwohnungen gebaut werden (vgl. 42;16 ff), spricht sich aber gegen eine ‘Zwangsumwandlung’ von leerstehenden Gebäuden in Wohnraum für Ausländer und eine oftmals damit einhergehende Überbelegung aus, wobei er in der daraus resultierenden Zentrierung implizit einen Grund für wachsende Kriminalität zu sehen scheint: „... ein Freund von mir, der hat so einen Bauernhof da, der soll auf einmal die Scheune umbauen, um Wohnungen daraus zu machen, also irgendwann hört es doch mal auf. (...) in Pf. da ist so ein (...) Haus, mit sechs, sieben Zimmern vielleicht, und da wohnen 30 Zigeuner drin, also irgendwo ist doch das, in G. und überall klauen sie die Fahrräder hier und machen und tun.“ (41;18 ff) Bei dieser Behauptung kann Paul allerdings auf eigene Erfahrungen zurückgreifen: „Ich habe einmal einen erwischt, so einen Zigeuner, mit meinem BMX damals noch, habe ich mich auch nicht mehr bremsen können. Und meinem Bruder haben sie das Mountainbike geklaut, dann fahren wir nach F., und dann fährt auf einmal rechts neben der Straße, dann ist mein Bruder ausgestiegen und hat ihn vom Fahrrad heruntergezogen ...“ (41;27 ff). Darüber hinaus scheint er den „Zigeunern“ („Jugoslawen, Sinti, da ist eigentlich alles dabei, halt die jetzt gerade aus den Krisengebieten und so“, 42;8 ff) eine für ihren hiesigen Status unangemessene Anspruchshaltung vorzuwerfen: „... die benehmen sich halt irgendwie, wie jetzt wären sie die Kings.“ (42;5 f) Er versucht, seine (Vor-)Urteile mit seiner ansonsten nicht vorhandenen Ausländerfeindlichkeit in Einklang zu bringen, indem er sich gegen Generalisierungen ausspricht: „Also ich habe gewiss nichts gegen Ausländer, aber man kann Ausnahmen machen, zwar soll man das nicht gleich verallgemeinern, dass alle Zigeuner, jetzt sagen wir mal, Arschlöcher sind, oder was weiß ich, es gibt halt schon ein paar, gerade die aus Pf. oder so, die führen sich auf wie die Irren.“ (42;33 ff) Erstmals äußert Paul explizit eine gewisse Konsumorientiertheit und unter Hinweis auf die von ihm getragene Kleidung ein damit einhergehendes Markenbewusstsein - „die Jacke hier kostet 180 Mark, die Hose 120, die Schuhe 260“, 11;14 f). In diesem Zusammenhang grenzt er sich indirekt von seinen sozial schwächeren Freunden und Bekannten, unter denen noch immer viele Ausländer sind, ab: „ ... ich wohne ja nicht gerade in schlechten Verhältnissen, im Gegensatz zu denen, weil das sind ja alles Sozialwohnungen da ganz hoch, ich meine, die können sich gerade nicht so ein Fahrrad leisten wie ich oder mein Kumpel.“ (39;29 ff; ähnlich 40;29 ff) Da aber auch Paul sich nicht alles leisten kann, was er möchte, - „ich war auf meinen Vater angewiesen, der hat mir eben auch nicht nur alles gekauft, was ich gerade mal wollte ...“ (39;1 ff) scheint er ein gewisses Unverständnis für und Missgunst gegen den Lebensstandard der „Zigeuner“ zu hegen, was er mit Steuerzahler-Argumenten zu rechtfertigen sucht: „... dann gehen wir an so einem Zigeunerhaus vorbei, und dann, was steht da, ein BMW, ich meine, woher sollen die sich einen BMW leisten können, wer zahlt das, denke ich mir dann auch.“ (42;25 ff) In der Abschlussformulierung schwingt aber auch der indirekte Vorwurf mit, dass sich diese Bevölkerungsgruppierung die Mittel für ihren ‘Wohlstand’ auf illegale Weise (z.B. durch Verkauf von gestohlenen Waren) beschafft. Dennoch distanziert Paul sich nach wie vor von "rechtsradikalen" Gruppierungen, für deren Handlungsweisen er absolutes Unverständnis zeigt (vgl. 45;12 ff). Diese Verurteilung "rechtsradikalen" Denkens basiert anscheinend noch immer hauptsächlich auf einer durch seine Freundschaft mit CXXXII ausländischen Jugendlichen hervorgerufenen Betroffenheit aber auch auf der Reflexion und der darausfolgenden Ablehnung gängiger Argumentationsmuster. 2.3 Gewaltakzeptanz Paul distanziert sich 1992 noch von jeglicher Anwendung personaler politischer Gewalt. Er fordert aber eine rigidere staatliche Gewalt und zeigt Bereitschaft, selber Gewalt im privaten Umfeld der Gleichaltrigen einzusetzen, wenn er sich beleidigt fühlt oder körperlich angegriffen wird. Korrespondierend mit seiner Ausländer’freundlichkeit’ distanziert er sich konsequent von rechtsradikalen Gewaltaktionen gegen Ausländer, um die er aus dem Fernsehen und seinem Wohnumfeld weiß (vgl. 23;18 f u. 23;31 ff). Paul selbst fühlt sich schon 1992 selbst von „Rechten“ bedroht, wobei er auf konkrete Erfahrungen zurückgreifen kann. Er versucht, konfliktträchtigen Situationen mit rechten Jugendlichen aus dem Weg zu gehen: „Wir saßen da, in G. bei der Feuerwache dort, (...) dann sind sie (Skinheads, d. V.) einfach von hinten gekommen und haben irgend etwas geredet von Schlagen und so, dann sind wir gleich geflüchtet. Das haben wir erst gar nicht darauf ankommen lassen.“ (35;31 ff; ähnlich 24;10 ff) Vermutlich auch im Hinblick auf die geschilderte Problematik wünscht er sich in Deutschland eine „straffere Gangart“ (vgl. Fb. 1992). Innerhalb der Familie kommt es gelegentlich bei bestimmten Anlässen (vgl. Abschnitt ‘Familie’) zu körperlichen Züchtigungen Pauls und seines Bruders durch den Vater. Paul erachtet allerdings z.B. die Schläge, die er angesichts des Stehlens einer Schachtel Zigaretten aus einem Supermarkt bekommen hat, als „verdient“ (vgl. 6;24 f), greift aber auch vermittelnd ein, wenn der Vater den Bruder anlässlich erfolgter Normübertretungen schlägt (vgl. 1992: 10;27 ff) . Im Freundes- und Bekanntenkreis zeigt eine sehr hohe Bereitschaft, Gewalt auch selber anzuwenden: „Ja, doch, es gibt schon manchmal Schlägereien. Ich meine schon, manchmal haut man dem anderen eine aufs Maul, dann bekommt man wieder eine aufs Maul.“ (26;20 ff) Die Eskalation solcher Zwischenfälle erscheint in seinen Schilderungen als Automatismus und somit als ‘normal’: „Herumschubsen, dann bekommt man mal einen Tritt. Dann tritt man zurück. Dann bekommt man meistens eine ins Gesicht, dann ist die Kappe sowieso schon aus. Dann schlägt man manchmal zurück und so.“ (26;32 ff) Die Anlässe sind - auch im Kreise der ‘Kumpel’ - oft geringfügiger Natur, wobei Paul in dieser Art der Konfliktaustragung keine negativen Folgen für die Beziehungen untereinander sieht: „Also, mit meinem Kumpel habe ich noch nie Streit gehabt. Außer einmal, da hat einer mein Fahrrad umgeworfen, und dann ist fast etwas kaputt gegangen. Dann hab’ ich gesagt, he, von dir laß’ ich mir doch nicht mein Fahrrad kaputtmachen und irgendeinen Ausdruck gesagt, ich weiß nicht mehr. Dann hab’ ich eine gefangen bekommen, zurückgeschlagen, und dann war der Kampf aus. Am nächsten Tag haben wir uns wieder vertragen.“ (26;38 ff) Die schnelle Abfolge von körperlicher Auseinandersetzung und Versöhnung wird wie die fast schon ein Ritual beschwörende - Erklärung „bei uns trägt man so einen Kampf aus, dann war es gewesen“ (27;7 f) als Beleg für die Harmlosigkeit dieser Gewaltformen genommen. Diesem ‘Faustrecht-Prinzip’ entspricht, dass keine Waffen im Spiel sind. Paul schließt Waffengebrauch zunächst für sich gänzlich aus, auch weil er sich neben der Einhaltung der ‘Kampfregeln’ - vermutlich aus Angst vor negativen Konsequenzen in anderen Lebensbereichen - auch Sorgen um seinen Leumund macht (vgl. 1992: 27; 22f). Nichtsdestoweniger trägt er schon 1992 aus Angst vor körperlichen Übergriffen ein Messer bei sich, wenn er abends alleine unterwegs ist: CXXXIII „Bisher habe ich das noch nie benutzt. Ich habe eigentlich auch nie die Idee, das zu benutzen, also so zum Abschrecken oder so. Ich habe viel zu viel Schiss, das Messer zu benutzen, aber ich meine, wenn einer mich angreift und mich vergewaltigen will oder sonst etwas, es gibt ja solche Typen, vielleicht in den Schenkel oder so, aber umbringen, nein. Ich meine, ich kenne auch ein bisschen Verteidigung und so, ich könnte mir schon helfen, aber wenn es gar nicht mehr geht, dann Messer.“ (46;13 ff) Neben der durchaus berechtigten Angst vor gewalttätigen Übergriffen (vgl. Abschnitt ‘Wohnumfeld’) fällt auf, dass Paul sich als Junge vor sexuellen Angriffen fürchtet. Inwieweit diese Angst aus konkreten Anlässen oder aus der Sorge um die Verletzlichkeit der für die Jungen-Sozialisation gängigen Standards von sexueller Potenz und Selbstbestimmtheit resultiert, bleibt zu klären. Der Hinweis auf seine Kenntnisse von Selbstverteidigungsstrategien weist zudem auf das subjektive Bedürfnis nach männlicher Durchsetzungskraft und Invulnerabilität hin. In den ‘ritualisierten’ Kämpfen unter ‘Freunden’ wird „zugeschlagen auf Teufel komm raus“ (27;11), wobei Paul in solchen Situationen mehr Zutrauen in seine körperlichen Fähigkeiten setzt als bei potentiellen Auseinandersetzungen mit "Rechtsradikalen": „Krankenhausreif geschlagen hab’ ich noch keinen. So ein blaues Auge, ja. Das schon mal, aber ich haue einmal zu oder auch zweimal, und die sitzen dann auch meistens.“ (26;23 ff) Er vertuscht nicht die Gewalthaltigkeit solcher Auseinandersetzungen, betont aber deren Unausweichlichkeit, die zum großen Teil in der Bewahrung bzw. Herstellung der ‘männlichen’ Ehre, z.B. bei vermeintlichen Angriffen oder Beleidigungen des Selbstwertgefühls, fußt: „Wenn einer so irgendwie einen herausfordert, das ist schon Gewalt. Aber was will man machen, ich meine, man lässt sich ja auch nicht alles gefallen. (...) Ich meine eben, wenn einer ‘Hurensohn’ sagt oder ‘Bastard’ oder so, solche Sachen halt, und das mehrfach. Dass ich ihn zuerst verwarne, hör auf, sonst bekommst du eine drauf. Wenn er das immer noch macht, dann gibt’s halt eine.“ (27;29 ff) Dazu gehört auch, nicht vor heiklen Situationen zu kneifen, und - selbst wenn die eigenen Gewinnchancen eher schlecht sind - eigene Kampfbereitschaft zu demonstrieren: „Ich habe keine Angst vor dem Streit. Aber wenn ich weiß, ich bekomme eine aufs Maul, mein Gott, dann trete ich einmal zu. Dann bekomme ich eine aufs Maul, dann ist der Kampf vorbei.“ (28;7 ff) Das eigene Engagement hinsichtlich dieser rauhen Umgangsformen erscheint demzufolge schon als ‘unvermeidbares’ Schicksal - quasi als ‘Härtetest’ der Tauglichkeit für die im Alltag als selbstverständlich erlebten personalen Gewaltphänomene. Größere Schlägereien zwischen seinen Bekannten und anderen Gruppierungen hat es Pauls Schilderung nach bisher noch nicht gegeben. Er könnte es sich aber vorstellen, gemeinsam mit seinen ausländischen Freunden eine Gang zu gründen und mit ihnen gegen „Rechtsradikale“ vorzugehen (vgl.48;5 ff). Während Paul 1993 weiterhin die Anwendung politischer Gewalt auf Ausländer verurteilt, zeigt er selbst mittlerweile Bereitschaft, zumindest z.T. politisch motiviert gewalttätig auf Rechtsradikale zu reagieren, wie nicht nur an der folgenden Situation deutlich wird: P:" ...kam er an und hat mich so von der Straße weggeschubst, ich soll von der Straße runter, dann habe ich gesagt, warum, ich darf ja hier wohl noch stehen, dann hat er gesagt, du scheiß Ausländer, dann habe ich ihm die Fresse poliert." F: "Und woher weißt du, dass das ein Nazi war?" P: "Wenn man zu mir sagt, komm doch her, scheiß Ausländer und so, ich hasse dich (...), dann geht man schon davon aus, dass er ein Nazi ist. Der hat dann auch gesagt `Sieg Heil`.“ (38;12 ff) Zudem billigt und propagiert er unter bestimmten Umständen von Ausländern angewandte politische Gegengewalt. Allerdings befürchtet er in diesem Fall negative Konsequenzen in CXXXIV der Hinsicht, dass dann auch die „normale“ Bevölkerung der gesellschaftlichen Mitte gegen Ausländer aufgebracht wäre und zur Gewalt greifen könnte: „Das finde ich richtig, weil die Ausländer, die sollten sich auch wehren, bloß ich meine, das können die nicht, sonst werden die, also die Linksradikalen oder die nicht links, nicht rechts sind und bloß ein normaler Mensch sind, sagen wir so, die schlagen dann auch die Ausländer zusammen. Ich meine, die Ausländer, die können sich nicht wehren, die müssen sich das gefallen lassen, sage ich mal so, und das finde ich irgendwo den totalen Hammer.“ (1993: 43;21 ff) Hinsichtlich fremdausgeübter Gewalt propagiert er jetzt - wohl aus dem Erkennen einer gewissen Ohnmacht des Staates/der Polizei gegenüber steigender Kriminalitätsraten heraus - nicht mehr eine straffere Staatsgewalt, sondern eher eine von den Bürgern selbst initiierte Bürgerwehr (vgl. 1993: 45; 15f) Pauls Bereitschaft, personale private Gewalt anzuwenden, ist seit dem letzten Erhebungszeitraum beträchtlich gestiegen. Er schreckt weder bei eher ritualisierten, nach bestimmten Regeln ablaufenden ‘Massenschlägereien’, noch bei anderen gewalttätigen Konfrontationen vor dem Einsatz von Waffen (speziell eines Messers) zurück (vgl. 17; 30). Andererseits distanziert er sich von früher, als er Gewalt z.T. noch aktiv gesucht hat (vgl. 26;16 ff) und betont, dass es nie vorkommt, dass „wir Streit suchen“. Er führt die zwingende Notwendigkeit von Gewalt an, will man nicht als ‘Opfer’ dastehen: „...ich bin in der Hinsicht gewalttätig, weil ich gewalttätig sein muss, (...) sonst bekommt man immer eine auf das Maul.“ (25;38 ff) Mit Hinweis auf diese Ausgangssituation versucht er, sein Verhalten zu rechtfertigen: „Also eine Schlägerei ist einfach immer eine Notwehr, kann man sagen, oder halt aus Jux und Laune mal einen zusammenschlagen, (...) so etwas kommt bei mir nicht vor.“ (26;6 ff) Seine Hemmschwelle für die Anwendung von Gewalt ist eher niedrig: „...also wenn mein Blut kocht, dann kenne ich nichts.“ (24;5 ff) Noch wenn das Opfer schon am Boden liegt, schlägt er weiter zu, wenn er sich provoziert fühlt (vgl. 1993: 21;28 ff). Vermutlich aufgrund eines an Standards der Jungensozialisation orientierten ‘Ehrenkodex’ schlägt Paul keine Jüngeren und keine Mädchen, obwohl er sich einlässt, einmal ein Mädchen körperlich angegriffen zu haben: „Hurensohn und Wichser und so, dann habe ich ihr mal eine Ohrfeige gegeben.“ (22;4 ff) Auch hier wird seine Orientierung an ‘männlichen’ Werten wie sexuelle Attraktivität und Potenz deutlich, weil er bei deren vermeintlicher Verletzung auch gegen seine selbstgesetzten Regeln verstößt. Lediglich die wohl aus traditioneller Gewaltmoral abgeleiteten Regeln, keine Mädchen, Jüngeren, Betrunkenen und unter Drogen stehenden Personen zu schlagen, läßt er für sich gelten (vgl. 1993: 21; 2ff). Das häufige Erleben gewalttätiger Konflikte sowohl im Rahmen von Cliquenauseinandersetzungen als auch im ‘Zweikampf’ ziehen bei Paul Normalisierungstendenzen nach sich, die sich u.a. am automatisierten Ablauf gewalttätiger Konfrontationen ablesen lassen. „...wenn ich jetzt mit meinem Bruder und ein paar Leuten, Clique z.B. in einer Schlägerei bin, dann fängt irgendeiner irgendwo anders an, der bekommt halt eine auf das Maul, das ist kein Problem, aber wenn zwei kommen, die bekommen dann auch eine aufs Maul, aber wenn es plötzlich 10 oder 11, dann geht es richtig los (...), bis irgend jemand mal aufhört. Bis einer geht, dann geht der zweite, weil sie dann immer weniger werden, dann geht der dritte, und dann ist es vorbei.“ (18;29 ff) Bei solchen eher ritualisierten Massenschlägereien werden bestimmte Regeln eingehalten: „Entweder jeder hat eine Waffe, oder keiner hat eine Waffe.“ (18;18 f) Solche Schlägereien werden denn oftmals auch eher als Wettkampf angesehen, bei dem möglichst alle Beteiligten die gleichen ‘fairen’ Chancen haben sollten: „In der Schule gibt es nur ein paar, die gut sind, also die schlagen können und die anderen, die lassen wir halt in Ruhe. Ich meine, von denen will man ja dann auch nichts.“ (24;17 ff) CXXXV Obwohl für Paul Gewalt anfängt, „wenn es Schmerzen gibt“ (25;25 f), setzt er sich selbst wenig Grenzen hinsichtlich ihrer Anwendung, „wenn einer blutet, ach was, dann geht es erst richtig los“ (18;26). Sieben- bis achtmal im Jahr gerät Paul nach seinen Angaben in eine private Schlägerei, wenn er sich provoziert fühlt. Typisch für Einstiegsrituale ist: „der schaut mich die ganze Zeit an, dann habe ich gesagt, hast du noch nie einen Menschen gesehen, habe ich gesagt, komm doch raus, schlagen wir uns ...“ (19;38 ff). Allgemein schwankt Paul zwischen ‘Stolz’ auf seine hohe Gewaltbereitschaft (s.o.) und der Distanzierung vom ‘Schlägertum’, was an der Reaktion der Clique auf die Angst anderer Eltern, ihre kleineren Kinder auf den Spielplatz zu schicken, auf dem sich die Clique immer traf, deutlich wird: „Nein, Schläger wollen wir keine sein, weil wir haben das auch zu den Eltern gesagt, weil, die Eltern haben Angst gehabt, wir machen den kleinen Kindern was, dann haben wir gesagt, nein, das stimmt nicht, wir machen so was nicht ...“ (28;7 ff) Möglicherweise differenziert Paul zwischen unterschiedlichen Verhaltensanforderungen innerhalb der gewaltbetonten, an Standards der Jungensozialisation wie Invulnerabilität, Durchsetzungskraft und Wehrhaftigkeit orientierten Clique auf der einen Seite und der eher gewaltverurteilenden Erwachsenengesellschaft auf der anderen Seite. Um einerseits Anerkennung von Seiten der Clique zu erhalten und zu bewahren, andererseits aber auch gesellschaftlich negative Konsequenzen für sich zu vermeiden, zieht er sich auf das Einhalten eines Ehrenkodexes zurück, zu dem auch gehört, Jüngere nicht anzugreifen. 1994 hat sich hinsichtlich seiner Gewaltakzeptanz wenig verändert. Noch immer verurteilt er politische Gewalt an Ausländern, propagiert (Gegen-)Gewalt an "Rechtsradikalen" und sucht auch selber direkte gewalttätige Konfrontationen mit seiner Ansicht nach „rechten“ Jugendlichen. „...also zwei kleinere Farbige bei uns, als er einen von denen geschlagen hat, sind wir halt dem auch hinterher, dann hat er auch Prügel bekommen. (...) die Schnauze polieren, bis er was in die Birne bekommt.“ (47;4 ff) Seinem Bruder hat er vor längerer Zeit das angebliche „Nazi-Sein“ mit „Schlägen ausgetrieben“ (vgl. 56;12 ff). Im privaten Umfeld zeigt er noch immer eine hohe Reaktanz, obwohl er sich selber als „ruhiger“ geworden einschätzt (vgl. 1994: 16;23; 27;28ff). Möglicherweise versucht er sich einerseits über Anpassung in die Erwachsenengesellschaft zu integrieren, ist aber andererseits den gängigen Leitbildern der Jungen-Sozialisation aufgrund seines aktuellen Entwicklungsstandes noch zu sehr verhaftet, als dass er im Kontakt zu anderen Jugendlichen von Wehrhaftigkeit und Dominanz demonstrierendem Verhalten abweichen könnte. So stellen z.B. verbale Angriffe, die sich auf seine sexuelle Potenz bzw. Attraktivität oder seine (moralisch ‘einwandfreie’) Herkunft beziehen, für ihn einen Grund zur körperlichen Gegenwehr dar: „...wenn ein Kumpel zu mir sagt, du Arschloch, du Wichser, dann ist es o.k., weil ich weiß, dass er es aus Spaß meint, aber ich meine, wenn er sagt, du fickst deine Mutter oder du Hurensohn ...“ (29;13 ff) Hier reagiert er auch aggressiv, weil er die Ehre der Mutter schützen will: „Weil das nicht nur mich betrifft, sondern auch meine Mutter. Ich meine, meine Mutter ist keine Hure, denke ich mal, dass ich kein Hurensohn bin...“ (29;37 ff) Desweiteren greift er als ‘Kumpel’ ein, wenn seine Freunde angegriffen werden: „Ja, zählen, rechnen kann man mit mir immer, wenn es hart auf hart kommt.“ (30;27 f) Zudem hat er einen ‘Ruf’ zu verteidigen: „Nein, bevor ich als Feigling dastehe, also das möchte ich auch nicht gerade, weil, das bin ich auch keiner. (...) Ich bin ja bekannt bis zu F. und dann da hoch und überhaupt.“ (31;11 ff) CXXXVI Zwischen den einzelnen Rapper-Cliquen aus der Umgebung kommt es immer wieder einmal zu Massenschlägereien, wobei es vor allem um die Verteidigung des Territoriums und um die Konkurrenz um das gefährlichste Image zu gehen scheint: „Die (O.er Rapper; d. V.) ziehen vor uns den Schwanz ein. (...) Da gab es halt auch mal eine Massenprügelei, dann haben die halt den Kürzeren gezogen. (...) Das hat sich nach und nach aufgebaut, dann kamen halt sechs von denen, sieben von hier, und dann wieder einzeln, immer haben die Oer das Maul voll bekommen. Bis auf einer, (...) der ist der bekannteste in O., der hat auch gemeint, er müsste hierher kommen, prompt hat er halt das Maul voll bekommen.“ (34;30 ff); „Da standen halt, wo ich das nächste Mal da war, gleich 15 da, ich meine, dann bin ich halt geschwind wieder nach Hause gegangen, und dann stand ich halt auch mit 15 da. (...) Die Pf.er Rapper, die sind mehr oder weniger bekannt, weil wir schon in der Zeitung stehen, als ‘Little Chicago’ oder so was.“ (32;14 ff) Noch immer gelten für solche (z.T. ritualisierte) Schlägereien Auslöse-Automatismen (vgl. 1994: 31;36ff) und - wenn auch wenige - Regeln (vgl. 30,39 ff; 31;6 ff; 33;5 ff) Der herrschende Gruppendruck und die Angst, als Feigling dazustehen und dadurch evtl. die Anerkennung der Freunde zu verlieren, scheint bei Paul größer als die Angst vor Verletzungen oder anderen negativen Konsequenzen, die aus dem Waffengebrauch resultieren könnten, zu sein. Die Jugendlichen aus seiner Clique benutzen „Gaspistolen und so was, CS-Gas. Ja, nicht gerade, wo man einem die Zähne damit ausschlägt, (...) ich hatte eine Zeit lang auch ein Springermesser mit mir rumgetragen, aber das liegt jetzt nur noch bei mir zu Hause, ich schaue das gar nicht an. Ich hätte auch nie die Klinge rausgemacht, sondern bloß die zwei Zacken, die da vorne dran sind, die hätte ich vielleicht benutzt, aber mehr auch nicht. Die einzige Waffe, die ich habe, das ist mein Schlüssel. (...) da ist halt so eine Kette dran. Ich habe ihn noch nie (als Schlagring, d.V.) gebraucht, aber kann ja schon mal vorkommen.“ (33;9 ff) Aber auch ohne Zusammenhang mit der Clique hatte Paul in letzter Zeit Probleme hinsichtlich seiner Reaktanz. Einem Jugendlichen hat er eine Platzwunde beigebracht, denn: „Da hat einer gemeint, er müsste über mich lästern, der mich gar nicht kennt, und dann bin ich halt zu ihm hingegangen, habe geklingelt, und der kam raus (...) gleich, wo er rausgekommen ist, und dann habe ich zu ihm gesagt, jetzt möchte ich wissen, wer hier das Arschloch ist, weil der mich voll abgelästert hat, dann hatte er hier so eine Platzwunde ...“ (12;17 ff) Es ist zwar nicht zu einer Verhandlung wegen Körperverletzung gekommen, aber die Jugendlichen haben sich im Rahmen eines Täter-Opfer-Ausgleichs darauf geeinigt, dass Paul dem Geschädigten 450 DM Schmerzensgeld zahlt (vgl. 12; 36 ff). Ausschlaggebend für Pauls heftige Reaktion könnte u.a. der Umstand gewesen sein, dass der betreffende Jugendliche in Pauls Abwesenheit vor seiner damaligen Freundin schlecht über ihn gesprochen hatte, so dass Paul sich genötigt sah, seine ‘angekratzte’ Ehre vor ihr wieder herstellen zu müssen (vgl. 13;10 ff). Gegenüber einer jugendlichen „Zigeunerin“ ließ er sich sogar hinreißen, entgegen seines ‘Ehren-Kodex’ (vgl. 1993), keine Mädchen zu schlagen, gewalttätig zu reagieren, als sie seine ‘Männlichkeit’ in Frage stellte, indem sie ihn ohrfeigte. Er erzählt von einer Situation auf einer Wippe: „... die setzt sich so, auf einmal geht halt meine Seite hoch, dann habe ich auch rüber geschrieen, du fettes Tier, so aus Spaß an der Freud, auf einmal kam die halt an und gab mir eine Ohrfeige. Ja, dann habe ich ihr halt auch eine gegeben und noch mal eine ...“ (43;3 ff) 3. 3.1 Zusammenhang der politischen Orientierung mit sozialen Erfahrungen und Erfahrungsstrukturierung Erfahrungen und Bearbeitungsressourcen CXXXVII 3.1.1 Problembelastungen und zentrale Interessenlagen Im Fragebogen benennt Paul sowohl 1992 als auch im Folgejahr als sein derzeit größtes persönliches Problem den "Ärger mit älteren Jugendlichen" (Fb.1992). Als Indizien in diese Richtung können im Gespräch von 1992 seine Äußerungen hinsichtlich einer gewissen Problematik zwischen Älteren und Jüngeren im Jugendtreff sowie der Wunsch nach mehr Freiraum für seine Altersgruppe (vgl. Abschnitt ‘Freizeit’) gewertet werden. Vermutlich verbirgt sich aber dahinter als wesentlicherer Faktor schon 1992 das Zusammentreffen und damit einhergehende Konflikte mit z.T. bedeutend älteren Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen innerhalb eines - von Paul eher als ‘lose’ wahrgenommenen - Cliquenverbundes (vgl. Abschnitt ‘Freundeskreis’). Hinzu kommen wahrscheinlich die Bedrohtheitsgefühle, die er im Hinblick auf rechte Jugendliche und ‘unsichere’ Situationen an seinem Wohnort entwickelt (vgl. Kap. 2.3 und Abschnitt ‘Wohnumfeld’). 1993 kommt hinzu die - wenn auch eher implizit geäußerte - Belastung zu sein, die sich aus einer Beteiligung einiger seiner (Cliquen-)Freunde und seines Bruders an einer Serie von Autoaufbrüchen zu sein, an deren Folgen auch Paul indirekt zu leiden hat (vgl.1;9 ff). Obwohl er selbst nicht beteiligt war, führte die Polizei auch bei ihm eine ‘Zimmer’durchsuchung durch und konfiszierte seine technischen Geräte zur Überprüfung ihres legalen Erwerbs (vgl. 55;24 ff). Bis auf einen gestohlenen Photoapparat, den Paul nach eigenen Angaben gefunden hatte, bekam er die Geräte zurück. Außerdem ist er mit seiner Clique von der Polizei beim Haschisch-Rauchen erwischt worden, was zu einer Befragung führte und - unter Androhung einer Anzeige der Eltern wegen Verletzung der Aufsichtspflicht, da er noch nicht 16 ist - ein Verbot, den neuen Treffpunkt der Clique (eine ‘Kneipe’) (vgl. Abschnitte ‘Freundeskreis’ und ‘Freizeit’) aufzusuchen, nach sich zog. Da Paul sich an die Auflage hält, hat er kaum noch Gelegenheit, mit seiner Clique zusammenzutreffen. Außerdem steht ihm noch ein Gespräch mit Mitarbeitern des Jugendamtes bevor, das der Drogenaufklärung dienen soll. Auch in der Schule gerät Paul schon 1993 zunehmend unter Druck: Sowohl seine Noten als auch sein Verhalten lassen zu wünschen übrig (vgl. 51;6 ff und Abschnitt ‘Schule’). Da er eine Lehre als Koch beginnen möchte und sein potentiell zukünftiger Chef eine Verbesserung der Noten für die Einstellung zur Bedingung macht, sieht er sich gezwungen, mehr für die Schule zu arbeiten und sich anzupassen. 1994 verstärken sich die „schulischen Probleme“. Hinzu kommt die Klage, „zu wenig Geld“ zu haben (vgl. Fb. 1994). Nach dem Schulwechsel fühlt Paul sich auf der neuen Schule, auf der er nach zwei Schuljahren den Realschul-Abschluss machen könnte, nicht wohl. Er fühlt sich den Mädchen der Klasse gegenüber ungerecht behandelt und kommt zudem mit den meisten Lehrern nicht zurecht, was zunehmend zu Unangepasstheit und Lernverweigerung führt. Mit Schülern eines an der Schule ebenfalls durchgeführten Berufsvorbereitungsjahres kommt es immer wieder zu Konflikten, die durch verbale und körperliche Gewalt zu regeln gesucht werden (s.u.). Die aus den angeführten Problemen resultierende Schulunlust bedingt bei Paul den Wunsch, entgegen dem Willen der Eltern die Schule zum Halbjahresende zu verlassen. Zu diesem ungünstigen Zeitpunkt lässt sich aber keine Lehrstelle finden, so dass er über Beziehungen des Vaters versuchen will, eine Praktikumsstelle zu finden. Pauls Konsumorientiertheit und Markenbewusstsein sowie seine Orientierung an seinem derzeit besten Freund, der sich sehr viel leisten kann (vgl. Abschnitt ‘Freundeskreis’), scheinen der Grund dafür zu sein, dass er mit seinem Geld nicht zurecht kommt. 3.1.2 Erfahrungen im sozialen Nahraum und seine sozio-emotionalen Ressourcen Familie CXXXVIII Paul versteht sich noch 1992 „gut“ (vgl. 9;36) mit seinen Eltern und bekommt nach eigener Einschätzung von beiden Elternteilen Geborgenheit, Akzeptanz, Vertrauen und tatkräftige Hilfe (vgl. 21;6ff; 13;15ff; 13;36ff). Mit seinem Bruder kommt Paul „gut...sehr gut sogar" (11;35) aus. Er fühlt sich insbesondere vom Vater verstanden und nennt hier typisch ‘männliche’ Themen wie „Mädchen eben, Hobby, alles solche Sachen“ (14;18). Auch die eher für die Jungen-Sozialisation typischen Annäherungsformen wie „Spaßkämpfchen“ (19;9) praktiziert er gerne mit seinem Vater. Sogar bei einem für ihn doch eher negativen Vorfall kann er den (gewalthaltigen) Reaktionen des Vaters noch die guten Seiten von Reumütigkeit und ex-post-Sensibilität abgewinnen: „Einmal hab` ich, das war da, wo ich geklaut habe, da hab` ich mit dem Gürtel bekommen....Da ist mein Vater dann weggelaufen, und dann ist er in den Wald und hat voll `rumgeschrieen. Das hat ihm wahrscheinlich mehr weh getan als mir....dann hat er sich ausgeflennt und so.“ (10;8 ff) Er kann sich mit den Eltern noch über private Probleme unterhalten (vgl. Fb. 1992) und stimmt auch politisch mit ihnen überein(vgl. 23;17ff), 1993 betrachtet er die Beziehung zu seinen Eltern differenzierter: Vom Vater fühlt er sich nach wie vor akzeptiert und meint, Geborgenheit und tatkräftige Unterstützung zu bekommen, allerdings glaubt er nicht mehr, über persönliche Probleme mit ihm sprechen zu können. Von der Mutter bekommt er seiner Ansicht nach lediglich Geborgenheit und tatkräftige Unterstützung (vgl. Fb. 1993). Diese Einschätzung scheint mit der aus seinem allgemein auffälligen Verhalten (und dem seines Bruders) resultierenden gespannteren Familiensituation zu korrespondieren. Die Mutter scheint die Verhaltensänderung Pauls vom im Gegensatz zu seinem Bruder eher angepassten Sohn in Richtung zunehmender Aggressivität und Auffälligkeit nicht hinnehmen zu wollen (vgl. 30;12 ff). Gerade in puncto ‘Schlägereien’ - „ach, das erzähle ich ihnen, weil ich auch mal mit einem blauen Auge nach Hause komme oder so, dann bekommen die das schon mit“ (23;10 ff) - reagiert sie ablehnend, während sich der Vater eher duldend, wenn nicht die ‘typische’ Männersozialisation unterstützend, gibt: „Meine Mutter sagt immer, du kannst das nie lassen, nie kannst du das lassen. Mein Vater sagt immer, hast du ihm dann wirklich eine auf das Maul gegeben ...“ (23;15 ff). Die eher fördernde Haltung des Vaters geht auch daraus hervor, dass er mit den Söhnen zu Hause „ein bisschen Kung Fu, und da ein bisschen Karate“ (20;17 f) übt. Zudem trainieren die Söhne zu Hause Body-Building (ebd.). Implizit scheint Paul dementsprechend auch dem Vater (oder anderen Erwachsenen ?) Inkonsequenz vorzuwerfen und zumindest eine Teilschuld an dem aggressiven Verhalten des Bruders zu geben: F: "Also das heißt, dein Vater, der findet das eher o.k., wenn du dich wehrst?“ P: „Ja, und mein Bruder sagt auch immer, weil der ist früher auch immer gekommen, weil der wollte sich früher nie schlagen, den hätte jeder schlagen können, (...) und jetzt ist er soweit dass sie sich schlägern, mal einer hat gesagt, wehr dich, wehr dich, jetzt ist er soweit, dass er sich wehrt, und ich meine, der schlägt schon ordentlich zu, und jetzt sagen alle, warum schlägst du denn jeden?“ (23;19 ff) Zu seinem Bruder hat Paul noch immer ein gutes Verhältnis (vgl. 4;6). Paul bekommt von ihm Akzeptanz und tatkräftige Unterstützung (vgl. Fb. 1993), wobei sich letztere wohl vornehmlich in der Unterstützung bei Schlägereien äußert (vgl. 20;25 ff). Zumindest hinsichtlich seiner Körperstatur und Wehrhaftigkeit ist der Bruder für Paul ein Vorbild: „...wenn mein Bruder dabei ist, dann kann ich sicher sein, weil das ist schon ein harter Brocken.“ (20;7 ff) 1994 gibt Paul an, dass sich sein Verhältnis zu den Eltern nicht verändert habe. Nach wie vor fühlt er sich vom Vater akzeptiert und meint von ihm Geborgenheit sowie tatkräftige Unterstützung zu bekommen. Im Gegensatz zum letzten Erhebungszeitraum fühlt er sich von der Mutter jetzt ebenfalls wieder akzeptiert, jedoch meint er von ihr keine Geborgenheit mehr zu bekommen, dafür aber tatkräftige Unterstützung (vgl. Fb. 1994). CXXXIX Er kritisiert zwar auch die Lässigkeit seiner Eltern bei der Erziehung (vgl. 1994: 22;4 ff; 22;33 ff) Dennoch meint er, dass sich das Verhältnis zwischen ihm und seinem Vater noch verbessert hat („enger halt so“, 25;19) und es sich jetzt eher auf freundschaftlicher Ebene abspielt (vgl. 25;15 ff): „Also der ist nicht gerade so ein Gruftie, der von nichts eine Ahnung hat.“ (25;28f) Dementsprechend spricht Paul auch mit seinem Vater über seine Probleme (vgl. 24;34 ff; 23;25 ff; 9;10 ff) Obwohl Paul meint, der Bruder sei „jetzt auch ein bisschen normaler geworden“ (16;38), scheint sein Verhältnis zu ihm nicht das beste zu sein. Entsprechend übt er denn auch ziemlich viel Kritik an seinem Bruder: „...er ist immer noch wegen jedem Scheißdreck eingeschnappt, seine Freundin hat auch Schluss gemacht, der hängt jetzt auch bloß noch herum. (...) ihn regt alles auf.“ (17;3 ff) Darauf angesprochen, dass er früher ‘braver’ war als sein Bruder, antwortet er allerdings: „Jetzt bin ich eigentlich mehr oder weniger auf gleicher Ebene wie er. (...) Er kommt ein bisschen hoch, ich komme ein bisschen runter.“ (21;26 ff) Schule Der Lebensbereich ‘Schule’ stellt Paul 1992 (noch) vor keine allzu großen Anforderungen („Dreier, Vierer; 18;20). Dies resultiert auch aus dem Umstand, dass er sich von seinen Leistungsmöglichkeiten her unter seinem Level bewegt und eigentlich weiß, dass er im Notfall durchaus noch etwas zulegen könnte („Ich bin zu faul zum lernen; 18;20). Außerdem hat er in einigen Bereichen nach wie vor Erfolgserlebnisse. Sowohl seine Klasse als auch der Großteil der Lehrer stellen für ihn weitgehend befriedigende Rahmenbedingungen seines Schulalltags dar, zumal er generell eine eher positive und teilweise durch das Erkennen von Sinn geprägte Einstellung zu dieser Institution hat (vgl. 1992: 36 - 40) 1993 ist Paul zunehmend weniger in der Lage, den Anforderungsstrukturen der Schule zu genügen und sich dem herrschenden Leistungs- und Anpassungsdruck zu beugen. Dies äußert sich in schlechteren Noten, vor allem in den Bereichen Mitarbeit und Verhalten („also bloß Scheiß gebaut, was es zum Scheiße bauen gibt“; 51;23 f). So konnte Paul eine Verwarnung und einen einwöchigen Schulverweis wegen einer Schlägerei gerade noch verhindern (vgl. 25;18 ff). Lediglich das Wissen, dass er ein gutes Abschlusszeugnis benötigt, um eine Chance auf einen Ausbildungsplatz zu haben, erzeugt bei ihm eine gewisse Einsicht in eigenes Fehlverhalten und die Bereitschaft, mehr für die Schule zu lernen und sich besser auf Lern- und Verhaltensanforderungen einzustellen. Während seine Einstellung zu den verschiedenen Lehrern sehr unterschiedlich ist, scheint er in die funktionierende Klassengemeinschaft („...alle haben zusammengehalten, also wir sind schon eine besondere Klasse.“; 1993: 7;2 ff) trotz seiner Auffälligkeiten gut integriert zu sein (vgl. 1993: 50 - 54). 1994, nach dem Schulwechsel, ist Paul den in der Schule herrschenden Anforderungsstrukturen und dem Anpassungsdruck nicht mehr gewachsen. Das subjektive Empfinden, in seiner Freiheit ‘eingeengt’ bzw. fremdbestimmt zu sein („das ist keine Schule, das ist Knast“; 3;25f) und ungerecht behandelt zu werden, ein vorherrschendes Misstrauen gegenüber den meisten seiner LehrerInnen, Konflikte mit Mitschülern („irgendwie das asozialste Volk“; 4;20) anderer Klassen („Auseinandersetzungen gab es schon oft, da kommt ja immer ein Kleiner daher und sagt, hey, Arschloch und so, so ein Grieche, ich meine, den beachte ich schon gar nicht mehr, weil ich genau weiß, wenn er mir noch mal auf den Sack geht, dann fängt er halt auch mal eine.“ (8;13 ff) und nicht zuletzt eine vermutlich vorhandene Angst, den Leistungsanforderungen auf die Dauer nicht genügen zu können, führten bei ihm von Leistungsverweigerung über Störverhalten in der Klasse bis hin zu aggressivem Verhalten den Lehrern gegenüber: CXL „Wenn sie angemotzt haben, zurückgemotzt, habe ich gesagt `halt doch dein Maul, was willst du eigentlich von mir?` und lauter solche Sachen. Ich meine, mir ist das egal, mehr als rauswerfen können sie mich nicht.“ (6;35 ff) Diese anscheinend für ihn ausweglose Situation bedingte seine Entscheidung, die Schule zum Halbjahresende gegen den Willen seiner Eltern verlassen zu wollen. Freundes- und Bekanntenkreis Zu seinem Freundes- und Bekanntenkreis zählt Paul 1992 seinen besten Freund, seine Freundin sowie eine größere Clique, in der die beiden erstgenannten Personen wie auch sein Bruder ebenfalls verkehren. Pauls bester Freund und seine Freundin gewähren ihm nach eigenen Angaben Akzeptanz, Verlässlichkeit und Problemansprache ( vgl.Fb.1992). Mit der erwähnten Clique kommt Paul vor allem auf dem vor Ort bekannten, zentral in Pf. gelegenen Spielplatz „Däle" - „dann gehe ich zum Treffpunkt nach der Schule" (1;12 f) oder dann abends im städtischen Jugendtreff zusammen. Obwohl er diese Gruppe regelmäßig und fast täglich trifft, sieht er sie nicht als „feste Clique" (33;37). Dies ist nicht verwunderlich, da es sich um eine große und vor allem in gewissen Punkten heterogen zusammengesetzte Gruppierung handelt, die ob der Offenheit und Unverbindlichkeit des Versammlungsortes von einer gewissen Unstetigkeit geprägt ist. Pauls Freund Udo beschreibt die Clique als einen Zusammenhang von über zehn z.T. älteren Jugendlichen, die verschiedenen Stilen (Heavies, Rapper, Technos) anhängen. Zudem ist sie geprägt durch die Dominanz nicht-deutscher Jugendlicher, z.B. aus Italien, Jugoslawien, Russland und Rumänien. Den Anteil der Mädchen begrenzt er auf ca. vier. Diese Darstellung deckt sich weitgehend mit der Beschreibung der Stadtjugendpflege von G., für die die „Jugendlichen, die ins Däle kommen" ein fester und bekannter Faktor sind: „Das 'Däle', genauer der Pavillon auf dem Spielplatz H., ist der Treffpunkt für ca. 30-40 Jugendliche im Alter von neun bis 27 Jahren, von denen die meisten aber 14 bis 18 Jahre alt sind. (...) Die meisten der Jugendlichen, die ins Däle kommen, wohnen in einer Sozialwohnung in der (unmittelbaren Umgebung; d.V.). Ebenso gehen fast alle auf die Hauptschule bzw. waren dort und sind jetzt in der Lehre." (Aus: Feldanalyse Pf., April 1988, Stadtjugendpflege G., S.23) Paul selbst erwähnt indirekt ein wesentliches Merkmal der Gruppe, wenn er angibt, dass die meisten seiner Freunde Ausländer sind, z.B. aus „Italien, Jugoslawien" (vgl. 24;21 ff). Da der Spielplatz für die Jugendlichen nicht viel an Anregungen bzw. Betätigungsmöglichkeiten bietet, müssen sie sich mit dem Vorhandenen begnügen - „da ist so eine Hütte, da sitzen wir dann drin und so" (1;21 f). Zum anderen sind sie auf der Suche nach Erlebnissen, was dann nicht selten zu Konflikten untereinander, mit den Anwohnern, Spielplatzbesuchern oder auch den Ordnungsbehörden führt (Auskunft des Jugendarbeiters). Generell war und ist es (1992) vermutlich für P. wichtig, in diesem Zusammensein mit zum größten Teil älteren Jugendlichen anerkannt zu sein und dazuzugehören. Dafür, dass ihm dies zumindest nach subjektivem Empfinden auch gelingt, spricht der Umstand, dass er im Fragebogen 1992 angibt, von der Clique „Geborgenheit“ zu bekommen. Die auf den ersten Blick alters- bzw. vor allem geschlechtstypische Einbindung in eine jungendominierte und ansonsten heterogen zusammengesetzte Clique beinhaltet im Falle Pauls aber eine Besonderheit: Die von ihm präferierte Gruppe wird fast ausschließlich von Jugendlichen aus eher benachteiligten Verhältnissen gebildet, zu denen auch sein bester Freund Udo gehört. Er selbst unterscheidet sich demnach, als Kind einer äußerlich intakten Familie der gehobenen Mittelschicht mit Eigenheim und weiteren materiellen Ressourcen, in diesem Punkt doch wesentlich vom Rest der Clique (mit Ausnahme eben seines Bruders, der auch dabei ist). Erklären lässt sich dieser Widerspruch wohl zum einen mit der Einbindung in das Wohnumfeld der Familie (vgl. Abschnitt ‘Wohnumfeld’) und dem Besuch der dortigen Hauptschule. Zum anderen stellt sich die Frage, inwieweit gerade dieses „subkulturelle Milieu" (Bezeichnung der CXLI JugendarbeiterInnen) der „Däle-Clique" für ihn zu einem attraktiven Moment im Kontrast zum Elternhaus wird, denn damit verbunden ist die Teilnahme sowohl an ‘jungentypischen’ Aktivitäten - „Streiche eben so, Klingeln putzen, an Fahrrädern Luft rauslassen“, (7;24 f) als auch an gewaltträchtigen (vgl. Kap. 2.3) und z.T. normverletzenden bzw. aufregenden Erlebnisformen und Aktionen, die für ihn Nachweis seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe sind. 1993 scheint Pauls engste Bezugsperson außerhalb der Familie seine derzeitige Freundin zu sein. Von ihr fühlt er sich akzeptiert und bekommt sowohl Geborgenheit als auch tatkräftige Unterstützung. Auch kann er mit ihr über persönliche Probleme reden (vgl. Fb. 1993). Obwohl Paul Udo noch immer als seinen besten Freund bezeichnet (vgl. 29;1), macht er im Fragebogen keinerlei Angaben mehr zur Qualität ihrer Beziehung. Anscheinend trifft er sich nicht mehr häufig mit ihm, weil Udo weiterhin den von Paul gemiedenen Treffpunkt der Clique aufsucht. Aus diesem Grund kommt Paul auch nicht mehr mit seiner Clique zusammen, die sich neuerdings in einer Kneipe namens Tee-Garten trifft. Zum einen hält er sich an die Auflagen der Polizei (vgl. Kap. 3.1.1). Zum anderen scheint er sich aber auch freiwillig von der Clique zu distanzieren, weil er selber nicht in kriminelle Machenschaften hineingezogen werden und zudem mit Drogen nichts (mehr) zu tun haben will, da er glaubt, dass sie einen schlechten Einfluss auf das Verhalten haben (vgl. 47;14 ff). Vor dem Hintergrund, dass Paul aus gemachten Fehlern lernt, ist wohl auch zu verstehen, dass er sich dem Einfluss der Jugendlichen, die ihn dazu überreden wollten, an den ca. 60 Autoaufbrüchen teilzunehmen, entziehen konnte. Obwohl Paul momentan nicht mehr mit seiner Clique zusammentrifft, gibt er im Fragebogen an, dass er sich dort akzeptiert fühlt und sowohl über Probleme reden kann als auch tatkräftige Unterstützung erwartet (vgl. Fb. 1993). Möglicherweise bezieht sich diese Einschätzung auf die Zeit vor der ‘Trennung’. Paul schildert für diese Zeit hauptsächlich Party-Situationen und Situationen, in denen sich die Cliquenmitglieder gegenseitig bei gewalttätigen Auseinandersetzungen zur Hilfe kamen (vgl. 27;12 ff). Den Kern der Clique bilden nach Pauls Angaben acht bis zehn Jugendliche. Kommen alle zusammen, sind es 20 - 25 Jugendliche gemischter Nationalität und verschiedenen Alters (vgl. 27;3 ff und 1992). Paul ist jetzt mehr mit seinem Bruder und dessen Freunden zusammen (vgl. 29;15 ff). 1994 hat P. die Beziehung zu seiner Freundin „endgültig“ abgebrochen, weil er sich anscheinend von ihr zu sehr bevormundet (vgl. 14;30 ff) und in seinen Beziehungen zu seinen Freunden gestört fühlte (vgl. 37;17 ff). Nachdem eine Weile „Funkstille“ geherrscht hatte, ist er jetzt häufig mit dem Jungen zusammen, der ihm früher einmal eine Praktikumsstelle als Koch besorgt hatte und mit dem er schon mehrmals im Skiurlaub war. Um ihn und andere Bekannte hat sich Paul nach der Trennung von seiner Freundin aktiv bemüht (vgl. 37;25 ff). Den erwähnten Jungen bezeichnet er als „besten Freund“. Er bekommt von ihm Akzeptanz und Geborgenheit und meint, sowohl über Probleme mit ihm sprechen zu können als auch tatkräftige Unterstützung zu bekommen (vgl. Fb. 1994). Der 17jährige Freund, der seine Lehrstelle gekündigt hat und von den Leuten aus Pauls Clique „nichts hält“ (vgl. 36;29 ff), scheint für Paul ein Vorbild zu sein, von dem er auch Ratschläge beherzigt (vgl. 37;33 ff). Auch wegen anderer Eigenschaften scheint er seinen Freund zu bewundern. So trägt dieser noch ein „bisschen teurere“ Kleidung als er (vgl. 38;35), hat Erfolg bei Mädchen - „was dem für Mädchen hinterher rennen, oh Gott, da träume ich nur von“ (39;4 ff) - und im Kontakt mit anderen Jugendlichen - „der ist irgendwo, und in zehn Minuten hat er 20 Kumpels um sich rum (...), und dann bekommt er von dem was gezahlt und von dem, die kennt er alle gar nicht“ (39;14 ff). Obwohl die Beziehung zu den wohl engeren Freunden aus der Clique (mit denen er zwischenzeitlich wieder zusammen war, vgl. 1993) anscheinend auseinandergegangen ist (vgl. 14;14 ff), gibt Paul im Fragebogen an, dass er sich bei der Clique geborgen fühlt und tatkräftige Unterstützung bekommt. Letzteres scheint sich auf den Umstand zu beziehen, CXLII dass er die Jugendlichen bei anstehenden Konflikten mit anderen Jugendgangs (s.o.) mittels einer Telefonkette noch immer mobilisieren kann (vgl. 33;1 ff). Trotz des schlechteren Zusammenhalts besucht Paul - vermutlich aus Langeweile - weiterhin den Treffpunkt, der jetzt wieder auf den Spielplatz verlagert worden ist, wenn er glaubt, dort Leute vorzufinden (vgl. 32;32 ff). Zudem wird der Treffpunkt jetzt auch von Jüngeren besucht (neun- bis zehnjährige), für die die Älteren nach Pauls Ansicht Vorbildfunktion haben (vgl. 48;7 ff). Demzufolge übernimmt er auch schon mal die Beschützerrolle für die Jüngeren. Freizeit Paul verfügt über zahlreiche Möglichkeiten und Zugänge (Sportverein; Jugendhaus; FreundIn; Clique), seine Freizeit zu verbringen. Diese werden von ihm genutzt, und es erweist sich, dass er alles andere als ein träger, passiver Jugendlicher ist, der nicht weiß, wie er seine freie Zeit verbringen soll. Paul zeigt eine Tendenz zu den eher unverbindlichen Angeboten. Eine festere Einbindung z.B. in den Sportverein oder den Schritt hin zu einem geregelten Musikunterricht hat er noch vermieden. Obwohl Paul 1993 nicht mehr mit seiner früheren Clique zusammentrifft (s.o.), verfügt er in seiner Freizeit noch über genügend Beschäftigungsmöglichkeiten. Diese reichen über sportliche, musikalische und (computer-)spielerische Betätigungen zu Hause über Fahrrad fahren bis hin zu gemeinsamen Unternehmungen mit seiner Freundin oder seinem Bruder und Freunden. 1994 äußert sich P. wenig begeistert über seine derzeitigen Freizeitgestaltungsmöglichkeiten („Ich hänge echt nur noch herum“; 16;15 ff). Die freie Zeit verbringt er häufig mit seinem besten Freund. Außerdem besucht er noch häufig den Treffpunkt der Clique. Im Kindergarten des Ortes stehen den Jugendlichen inzwischen zwei Räume zur Verfügung, wo sie sich treffen und Musik hören können (vgl. 47;24 ff). Er treibt keinen Sport mehr im Verein. Zu Hause trainiert er noch ein bißchen Kampfsport (vgl. 48;18 ff). Außerdem hat er sich eine „Home-Disco“ zusammengestellt, mit der er sich beschäftigt, „weil man ja ständig probiert, jede Menge Lieder reinzumixen, das aufzunehmen ...“ (18;34 ff). Nachbarschaft/Wohnumfeld Obwohl die Heimat von P. objektiv betrachtet nicht gerade ein für Jugendliche und generell für die dort lebenden Menschen attraktives und gut ausgestattetes Gemeinwesen darstellt, fühlt er sich 1992 nicht wesentlich beeinträchtigt durch seine nähere Umgebung. Bis auf die aufsehenerregenden kriminellen Vorkommnisse im Stadtteil („Pf. wird auch 'KleinChicago' genannt. Autodiebstähle gibt’s zur Zeit, Einbrüche. (..) Da ruft auch einer abends an, eins, halb zwei und schaut, ob die Leute schon schlafen oder nicht da sind. Dass sie dann einbrechen können. War bei uns auch so. (...) Da kann man nichts unternehmen, weil bisher noch keiner geschnappt worden ist von den Typen. (...) stand in der Zeitung, ein Achtjähriger wurde überfallen. (...) das Geld weggenommen und zusammengeschlagen. Von Größeren, 15-, 16-, 17-Jährigen."; 1992: 45;22 ff), die ihn immerhin zu gewissen Vorsichtsmaßnahmen und zur Bewaffnung anhalten, ist ihm dieses Gebiet ob seiner Einbindung in die dortigen, von Jugendlichen frequentierten Plätze und Einrichtungen einigermaßen vertraut. 1993 äußert sich Paul weder positiv noch negativ über sein Wohnumfeld. Lediglich die Schließung des Jugendtreffs für ältere Jugendliche wegen einer angeblichen Renovierung bedauert er, u.a. auch wegen des langen - für ihn unverständlichen -Zeitraums der Schließung (vgl. 56;38 ff). Besonders vor dem Hintergrund, dass er nicht mehr mit seiner früheren Clique zusammentrifft, scheint ihm diese Möglichkeit der Freizeitgestaltung sehr zu fehlen. 1994 schämt Paul sich - korrespondierend mit seiner Distanzierung von sozial schwächer gestellten Mitbürgern (vgl. Kap. 2.2) - nunmehr erstmals wegen seines Wohnortes: „Man geniert sich auch zu sagen, wenn man jetzt, sagen wir mal, einen trifft aus Pf. im Skiurlaub, (...) und der sagt, wo wohnst du, und du sagst Pf., ich meine, ich sage auch nicht CXLIII Pf., ich sage G., weil ich genau weiß, da (sagt) die Hälfte darüber, das ist bloß Sozi, und darüber sind die etwas besseren.“ (50;28 ff) Er will zwar nicht umziehen (vgl. 51;4), dennoch stören ihn der schlechte Ruf des Stadtteils (vgl. 50;37 f) und die mangelnden Angebote für Jugendliche. Um der Langeweile zu entgehen, ist er auf die motorisierten älteren Jugendlichen angewiesen (vgl. 51;12 ff). Interessant erscheint der Umstand, dass Paul sich wegen des schlechten Rufes des Stadtteils schämt, wo er doch andererseits stolz auf das ‘gefährliche Image’ seiner Clique ist (s.o.). Hier zeigt sich einmal mehr die Diskrepanz zwischen Anspruch bzw. Ansichten und tatsächlichem Handeln und das damit vermutlich einhergehende Schwanken Pauls zwischen der Anpassung an Erwachsenenstandards und dem Verhaftetsein mit traditionellen Leitbildern der Jungen-Sozialisation. 3.1.3 Medienrezeption und sonstige Ressourcen politisch relevanter Information Pauls Medienauswahl richtet sich durchgängig hauptsächlich nach ihrem Unterhaltungswert. Relativ regelmäßig und viel sieht er fern. Nachrichten interessieren ihn nur bedingt - „kommt drauf an, welche Themen eben“, (1992 22;39), wohl aber werden häufiger Nachrichten oder aktuelle Berichte im Familienkreis gesehen. Dabei kommt es dann auch zu Gesprächen zwischen Paul und den Eltern, wobei sie sich bei der negativen Beurteilung von Fremdenfeindlichkeit einig sind (vgl. 1992: 23;1 ff; auch 1993: 41;1f und 1994: 54;1f)). Zeitungen, Zeitschriften und Illustrierte liest er nach eigenen Angaben nicht (vgl. Fb. 1992, 1993,1994). Macht er noch 1992 über evtl. für ihn relevante Unterrichtsthemen in der Schule keine Angaben, so beteiligt er sich 1993 trotz seiner Auffälligkeiten an für ihn interessanten Unterrichtsthemen, ein Arbeitsverhalten, das er 1994, aufgrund seines schulischen Unbehagens eingestellt hat. Seinen Musikkonsum (Rap, und u.a. „Die Ärzte“) bringt er ab 1993 explizit mit seiner politischen Haltung als Antifaschist in Verbindung (vgl. ebd. 36;32ff). 3.1.4 Erfahrungen mit und Ressourcen von gesellschaftlicher und politischer Teilhabe Paul nutzt 1992 zwar die in seinem Wohnort gemachten Angebote für Jugendliche, z.B. Sportverein und Jugendtreff, Interesse, sich in öffentlichen Initiativen oder in der SMV zu engagieren, zeigt er aber nicht. Gründe für sein mangelndes Engagement in letzterer könnten sein geringes Alter und der Umstand, dass er sich grundsätzlich wohl in der Schule fühlt und infolgedessen nicht viel verändern möchte, sein. Im Vergleich zum Vorjahr sind 1993 Pauls Teilhabewünsche und seine Bereitschaft, sich in verschiedenen Bereichen zu engagieren, gestiegen. So beteiligt er sich trotz seiner schulischen Probleme an der schulinternen Schülerzeitschrift (vgl. 52;20 ff). Ob er mit diesem Engagement auch Einflussnahme auf schulische Bedingungen verbindet, äußert er nicht. 1994 ist Paul, obwohl er nicht verbindlich in Gremien oder Initiativen mitarbeitet, doch bereit, sich für Ziele, die ihm wichtig sind, zu engagieren. So nahm er z.B.- wie schon erwähnt - an einer Gegendemonstration gegen die Republikaner teil. Auch in seinem Wohnort arbeitet er an einem Projekt mit, das anscheinend ein Sozialarbeiter der Kirchengemeinde ins Leben gerufen hat. Dabei werden den Jugendlichen am Wochenende Freizeitangebote gemacht, um sie ‘von der Straße’ zu holen: „Das macht man freitagabends. Ja, und dann habe ich mich halt auch eingegliedert und habe gesagt, komm, jetzt machen wir dies, holen wir uns Dart-Scheiben, über den Katalog besorgt und gemacht, ja, dann habe ich auch gesagt, jetzt machen wir mal eine Weihnachtsparty, da habe ich meine Anlage da runtergeschleppt ...“ (50;1 ff) Die daraus resultierende Integration von Jugendlichen aus verschiedenen Stadtteilen und die darüber betriebene Entstigmatisierung seines Stadtteils findet Paul wichtig (vgl. 50;17 ff). CXLIV 3.2 Kategorien, Kompetenzen und Mechanismen der Erfahrungsstrukturierung 3.2.1 Zentrale Bezugspunkte sozialer Identität 1992 hat Paul ein recht unbefangenes Verhältnis zu seiner Nationalität als Deutscher. In der Annahme, dass jeder Mensch stolz auf seine Nationalität ist, äußert er „Stolz“ auf Deutschland, weil es „ein schönes Land“ sei und es, solange er lebt, noch „keinen Krieg“ gegeben hat (vgl. 25;21 ff). Er definiert seine Heimat nicht explizit - wie viele andere Jugendliche - als Wohlstandsstaat, was vermutlich mit ein Grund für das Nichtvorhandensein von Ungleichheitsvorstellungen in bezug auf Ausländer (z.B. Wegnahme-Theorien) ist. Sein regionaler und lokaler Sozialraum, der von einem hohen Ausländeranteil an der Bevölkerungszahl geprägte Vorort Pf., legt nahe, dass Paul im privaten Umfeld häufig mit ausländischen Jugendlichen zusammentrifft. Die darüber geknüpften Freundschaften mit einigen dieser Jugendlichen begünstigen ebenfalls 1992 das Fehlen von Ungleichheitsvorstellungen sowie die vehemente Ablehnung politischer Gewalt gegen Ausländer. Andererseits verursacht die relativ hohe Kriminalitätsrate in Pf. (vgl. Abschnitt ‘Wohnumfeld’) bei ihm aber auch Bedrohtheitsgefühle, so dass er aus Angst vor Übergriffen eine hohe Gewaltakzeptanz entwickelt, die in der Bewaffnung mit einem Messer gipfelt. Pauls Sozialstatus als mittelständischer Hauptschüler scheint 1992 keinen Einfluss dahingehend zu haben, dass er es für ‘unter seiner Würde’ hält, sich mit Jugendlichen, die vermutlich großenteils zur Unterschicht gehören, zu treffen. Der Besuch der Hauptschule, die vermutlich auch von vielen ausländischen Jugendlichen besucht wird, könnte ihn sogar darin bestärken, sich seine Freunde in diesen Kreisen zu suchen. Sein Geschlecht scheint ausschlaggebend für seine im privaten Umfeld hohe Gewaltakzeptanz zu sein. Das mehr oder minder alltägliche Ausleben von gewaltträchtigen Konflikten (vgl. Kap. 2.3) innerhalb einer jungendominierten Clique scheint in den gängigen Standards der Jungen-Sozialisation zu fußen, die männliche Durchsetzungskraft, die Bewahrung der ‘Ehre’, sexuelle Potenz und männliche Invulnerabilität propagieren. Damit korrespondiert, dass für Paul die freundschaftliche Beziehung zu gleichgeschlechtlichen Freunden von größerer Wichtigkeit ist als die Beziehung zu seiner Freundin (vgl. Abschnitt ‘Freundeskreis’). Auch sein inzwischen wegen seines geringen Alters wieder abgebrochenes Body-Building-Training (vgl. 42;10 ff) und die Nennung der Schauspieler Sylvester Stallone und Arnold Schwarzenegger als Idole (vgl. 42;5 ff) belegen seine Orientierung an Männlichkeitsidealen wie z.B. körperliche Stärke und scheinbare ‘Unbesiegbarkeit’. Pauls jugendkulturelle Orientierung richtet sich einerseits über die Zugehörigkeit zu seiner Clique 1992 auf das Erleben von Spaß, Abenteuer und Risiko aus. Dabei kann es vermutlich zum Zwecke der Abgrenzung von der Erwachsenenwelt und der Erhaltung und Bewahrung von Akzeptanz und Zugehörigkeit im Peer-Rahmen - auch zu Normüberschreitungen kommen (vgl. Abschnitt ‘Freundeskreis’). Damit verbunden ist die hohe Gewaltakzeptanz im Bekannten- und Freundeskreis. Diese Aktivitäten beinhalten jedoch keinerlei rechtsgerichteten Tendenzen. Andererseits betätigt er sich, bestärkt durch die Anerkennung, die er von seinen Eltern für diese Talente bekommt, sportlich und musikalisch. Seine Beziehungen im sozialen Nahraum scheinen ihn in seiner ‘Ausländerfreundlichkeit’ und nicht vorhandenen politischen Gewaltakzeptanz zu bestärken. So befindet er sich z.B. in seiner Verurteilung der Vorkommnisse in Rostock, des Golf- und des Jugoslawienkrieges in Übereinstimmung mit seinen Eltern (vgl. Abschnitt ‘Familie’). Auch seine Freundschaft mit ausländischen Jugendlichen verhindert das Aufkommen von Vorurteilen, die sich gegen Ausländer als Gesamtgruppierung richten. Anders verhält es sich mit der Gewaltakzeptanz im privaten Umfeld. Wohl eher aus Resignation denn aus CXLV eigener Überzeugung dulden die Eltern Pauls gewalttätiges Verhalten und versuchen, Schlimmeres zu vermeiden, indem sie ihm raten: „mach nichts mit Steinen herum, wirf auf niemand und so, paß auf, wenn du schlägst, dass du nicht an solche kritische Stellen triffst...“ (15;15 ff). Im Freundeskreis wird er in seinem Verhalten bestärkt, weil es für die Selbstdarstellung der Jungen dazugehört, eine hohe Reaktanz zu zeigen, und sie u.a. darüber ihre Anerkennung beziehen. Während Paul 1992 noch recht unbefangen mit seinem Nationalstolz umging, sieht er diese Problematik 1993 wesentlich differenzierter: So äußert er vor dem Hintergrund des in Deutschland praktizierten Rechtsradikalismus: „Auf Deutschland bin ich gewiß nicht stolz. Das heißt, auf das Land Deutschland schon, aber nicht auf die Bevölkerung.“ (41;7 ff) Abgesehen davon, dass er Deutschland als „schönes Land“ bezeichnet, scheint er sich nunmehr auch mit ihm als ‘Sozialstaat’ zu identifizieren, auf dessen soziale Leistungen er stolz ist: „... da bauen sie Wohnungen, da z.B. hier die Sozialwohnungen, gerade für die Leute, die wirklich nichts haben, kein Geld und so, und da sollte man eigentlich auch stolz darauf sein...“ (41;13 ff) Dieser Umstand führt neben anderen dazu, dass Paul keine Ängste entwickelt, Ausländer könnten ihm ‘etwas wegnehmen’ und er infolgedessen auch keine diesbezüglichen Ungleichbehandlungsvorstellungen in bezug auf diese Gruppierung entwickelt. Nach wie vor trägt sein durch einen hohen Ausländeranteil an der Gesamtbevölkerung geprägter regionaler und lokaler Sozialraum dazu bei, dass er viele ausländische Freunde hat. Der private Umgang mit ihnen bewirkt, dass Paul nach menschlichen Qualitäten differenziert. Der Umstand, dass anscheinend an den erwähnten Autoaufbrüchen nur ein ausländischer Bekannter und sonst nur Deutsche beteiligt waren (vgl. 3;32 f), unterstützt ihn vermutlich ebenfalls in seiner Vorurteilslosigkeit Ausländern gegenüber. Pauls weiterhin materiell gut abgesicherter Sozialstatus als Mittelschichtskind hat keinen Einfluss in Richtung Ausländerfeindlichkeit auf ihn. Vielmehr scheint ihn seine im Vergleich zu den meisten seiner Freunde überdurchschnittliche materielle Versorgung vor der Konkurrenz um materielle Ressourcen im Freundeskreis zu schützen und somit Vorurteilen vorzubeugen. Da er noch immer die Hauptschule besucht, trifft er wahrscheinlich auch in diesem Lebensbereich weiterhin auf Freundschafts- oder Bekanntschaftsebene mit ausländischen Schülern zusammen. Noch immer scheint seine Geschlechtsrolle einen prägenden Einfluss auf seine hohe Reaktanz zu haben. Obwohl seine Freundin an Bedeutung für ihn gewinnt, scheinen doch gleichgeschlechtliche Freundschaften bei der Freizeitgestaltung für ihn noch von größerer Wichtigkeit zu sein (vgl. Abschnitt ‘Freundeskreis’). Im Rahmen dieser jungenorientierten Freundeskreise werden die für dieses Alter gängigen Standards der Jungen-Sozialisation zu Maßstäben des individuellen Wertes. Über die vorherrschende Gewaltförmigkeit, die vornehmlich als Reaktion auf subjektiv wahrgenommene Verletzungen der männlichen ‘Ehre’ erfolgt, kann Wehrhaftigkeit, Dominanz, Invulnerabilität, Kumpelhaftigkeit etc. demonstriert werden, womit Zugehörigkeit gelebt und Akzeptanz und Anerkennung von seiten der Freunde erlangt und bewahrt werden kann. Pauls jugendkulturelle Orientierung ist nach wie vor nach links gerichtet. Jedoch distanziert er sich aus o.a. Gründen von seiner früheren Clique, so dass das Ausleben von Spaß, Risiko und Abenteuer im schützenden und vermutlich auch anregenden Rahmen der Großclique z.Zt. nicht abläuft. Während er während des letzten Erhebungszeitraums Normüberschreitungen von Seiten der Clique - wahrscheinlich in Abgrenzung von der Erwachsenenwelt - noch duldete, wenn nicht billigte und wenigstens einmal an ihnen teilnahm (Haschisch-Rauchen), so grenzt er sich jetzt von solchen Unternehmungen teils aus Einsicht, teils aus Kalkül bewusst ab. CXLVI Seine Beziehungen im sozialen Nahraum fördern über die politischen Ansichten der Eltern und seiner ausländischen Freunde weiterhin seine positive Einstellung zu Ausländern und seine Ablehnung politischer Gewalt an Ausländern. Möglicherweise bedingen aber letztere über ihre eigene Betroffenheit seine zunehmende Bereitschaft, politisch motivierte Gewalt an Rechtsradikalen zu propagieren oder sogar selber anzuwenden. Während seine Mutter seiner Violenz ablehnend gegenübersteht und versucht, diese durch Erziehungsmaßnahmen abzubauen, nimmt sein Vater - vermutlich, weil er sich ebenfalls an gängigen Vorbildern für ‘Männlichkeit’ orientiert - diesbezüglich eine eher tolerierende, fast fördernde Haltung ein. Da der Vater für Paul Vorbildfunktion hat und eine verlässliche Bezugsperson für ihn darstellt, scheint sein Einfluss der maßgeblichere zu sein. In der gleichen Richtung scheinen sein Bruder und seine Freunde seine hohe Gewaltbereitschaft zu fördern (s.o.). 1994 ist Paul weder stolz auf seine deutsche Nationalität, noch schämt er sich ihrer (vgl. 58;9 ff). Trotzdem möchte er später „auf jeden Fall raus aus Deutschland“ (57;13), irgendwohin, wo man billig leben kann („Mir geht es ums Zahlen, Steuern und so.“; 57;27). Im Gegensatz zu den vorangegangenen Erhebungen zeigt sich hier erstmals der Einfluss einer starken Konsumorientiertheit. Diese Besorgtheit um den eigenen Wohlstand scheint auch ursächlich für Pauls Ungleichheitsvorstellungen in bezug auf „Zigeuner“ zu sein, denen er den seiner Meinung nach ihrem hiesigen Status unangepassten Wohlstand neidet, was er mit Steuerzahler-Argumenten zu rechtfertigen sucht. Obwohl er Deutschland mittlerweile als Wohlstandsstaat zu definieren scheint, glaubt er, als Deutscher im Ausland billiger und somit besser leben zu können. Dies könnte damit zusammenhängen, dass Paul sich aufgrund seiner schlechten schulischen Leistungen evtl. keine großen Chancen ausrechnet, in Deutschland einen gutbezahlten Beruf erlernen zu können. Pauls wachsende Konsumorientiertheit und ein damit verbundenes gestiegenes Statusdenken scheint auch der Grund dafür zu sein, dass er sich 1994 erstmals seines regionalen und lokalen Sozialraums, der durch einen hohen Anteil von Sozialhilfeempfängern und somit von einer gewissen Armut geprägt ist, schämt. Über ein stark ausgeprägtes Markenbewusstsein und die Demonstration des eigenen Wohlstandes versucht er, sich von seinen sozial schwächeren (ausländischen) Freunden und Bekannten abzugrenzen. Diese Distanzierungsversuche lassen auf Ungleichheitsvorstellungen in bezug auf schlechter gestellte (aber nicht explizit auf ausländische) Bevölkerungsschichten schließen. Damit verbunden gewinnt sein Sozialstatus als Kind einer materiell abgesicherten Mittelschichtsfamilie an Bedeutung - „ich habe immer das bekommen, was ich will, und ich meine, das wird sich wahrscheinlich auch kaum ändern, ich lege halt darauf Wert, so im gehobeneren Stil“ (40;11 ff). Um keine Zweifel an seiner momentanen gesellschaftlichen Stellung und der damit von ihm vermuteten einhergehenden Akzeptanz von Seiten Gleichgestellter aufkommen zu lassen, verschweigt er sogar bei neuen (Urlaubs) Bekannten seinen genauen Wohnort. Diesem Kontext läßt sich vermutlich auch die Bemängelung des ‘schlechten Rufes’ des Stadtteils, zu dem er mit der Teilnahme an Schlägereien sicherlich auch selbst beigetragen hat, als Versuch, Akzeptanz über die Anpassung an Standards der Erwachsenengesellschaft zu erlangen, zuordnen. Für Pauls Gewaltsamkeit und die dabei zu Tage tretende hohe Reaktanz scheint nach wie vor seine geschlechtsspezifische Sozialisation und die damit verbundene Orientierung an gängigen Standards der Jungen-Sozialisation von großem Einfluss zu sein. Besonders dann, wenn Paul sich in seiner sexuellen Potenz und Attraktivität, in seiner Eigenschaft als Kumpel oder in seiner Wehrhaftigkeit und Dominanz in Frage gestellt fühlt, reagiert er mit körperlicher Gewalt, um seine ‘Ehre’ wiederherzustellen und somit die Anerkennung und Akzeptanz von seiten seiner hauptsächlich männlichen Freunde zu erhalten. Bei Auseinandersetzungen der einzelnen Cliquen untereinander kommt noch der über Konkurrenz- und Territorialverhalten zu demonstrierende Zusammenhalt der eigenen Gruppe und die damit verbundene Selbstinszenierung von Stärke und Bedrohlichkeit hinzu. CXLVII Pauls jugendkulturelle Orientierung richtet sich nach wie vor nach links. Seine tatsächlichen Freizeitunternehmungen spielen sich aber eher im privaten Rahmen mit gelegentlichen Kneipen- und Discobesuchen ab. Während seine Beziehungen im sozialen Nahraum von den Eltern bis hin zu seinen ausländischen Freunden seine grundsätzliche Vorurteilsfreiheit gegenüber Ausländern eher fördern, so scheint die relative Armut seiner meisten Freunde doch allmählich dazu zu führen, dass er über seinen eigenen Wohlstand die o.a. Distanzierungsversuche unternimmt, weil er sich seines Wohnortes und evtl. auch seiner Freunde schämt. Die Beziehung zu seinem - materiell noch besser als er selbst gestelltem - besten Freund scheint diese Tendenz zu unterstützen. Evtl. glaubt Paul, durch die Abgrenzung von seinen ärmeren Freunden die Akzeptanz seines Freundes zu erlangen. 3.2.2 Individuelle Kompetenzen bzw. Mechanismen zum Aufbau personaler Identität Pauls Freundschaft mit ausländischen Jugendlichen, seine nicht vorhandenen Ungleichheitsvorstellungen in bezug auf Ausländer und seine vehemente Ablehnung politischer Gewalt implizieren 1992 eine besonders hohe Toleranzfähigkeit gegenüber dieser Gruppierung. Basierend auf diesen Ansichten zeigt er jedoch keine Toleranz rechten Gruppierungen gegenüber. Er bezeichnet sie als „Gegner“ und würde sie notfalls sogar mit Gewalt bekämpfen (vgl. Kap. 2.3). Reflexivität zeigt er zu diesem Zeitpunkt vor allem innerhalb der familiären Beziehungen und im Hinblick auf eigene Verfehlungen. Resultierend aus der Einsicht, nicht stehlen zu dürfen, zeigt er Verständnis für die auf die Tat folgenden Züchtigungsversuche des Vaters und bezeichnet sie als „verdient“ (6;27). Als Grund für sein Fehlverhalten erkennt er seine Zugehörigkeitswünsche zur Clique. Sein Bekunden, nicht wieder „klauen“ zu wollen oder auch seine Äußerung, im Jugendhaus zwar „ein bißchen Scheiße zu bauen“, „aber nichts kaputt(zu)machen“ (vgl. 29;5 f), zeugen von einer Einsicht in und einer Akzeptanz von diesbezügliche(n) gesellschaftliche(n) Regeln. Auch seine Einsicht in die Situation der Asylbewerber in Deutschland, die zum einen der ‘Leistungserschleichung’ bezichtigt werden, obwohl sie nicht arbeiten dürfen, denen zum anderen aber der Vorwurf gemacht wird, den Deutschen die Arbeitsplätze wegzunehmen, zeigt, dass er sich zu dieser Problematik reflektiert Gedanken gemacht hat. Seine Verurteilung recht(sextrem)er Gruppierungen basiert aber wohl eher auf einer - durch seine Freundschaften bedingten emotionalen Betroffenheit denn auf der kritischen Reflexion ihrer Ziele und Ideologien. Gegenüber seinen Eltern zeigt Paul 1992 empathisches Verständnis gepaart mit einer für sein Alter sehr weit entwickelten Fähigkeit, Konflikte verbal auszutragen bzw. beizulegen. So führt er u.a. die häufig genervten bzw. ungeduldigen Reaktionen der Mutter auf deren Streß im (neuen) Beruf und im Haushalt zurück (vgl. 13;28 ff). Auch seine o.a. Reaktion auf das Verhalten des Vaters nach dem Diebstahl weisen auf sein Verständnis für die Sorgen und Ängste des Vaters hin. Pauls Sorge um die Aufrechterhaltung des familiären Status quo veranlassen ihn in Konfliktsituationen zu einem vermittelnden Eingreifen. So intervenierte er erfolgreich bei einem ernsthaften Streit der Eltern untereinander, indem er den Vater aufforderte, sich bei der Mutter zu entschuldigen, was wiederum auch als ein Beleg für seine Fähigkeit, sich in andere Personen hineinzudenken, gewertet werden kann. Auch bei Konflikten zwischen dem Vater und dem Bruder konnte er vermittelnd und gewaltvermeidend eingreifen (vgl. 10;26 ff). Im Freundes- und Bekanntenkreis reagiert Paul gemäß o.a. geschlechts’typischer’ Verhaltensstandards in Konfliktsituationen eher reaktant, während er versucht, potentiell gewalttätigen Konflikten mit z.B. fremden (rechten) Jugendlichen aus dem Weg zu gehen (vgl. Kap. 2.3). Er ist 1992 bereit, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Dies zeigt seine grundsätzliche Bereitschaft, in der Schule zu lernen oder auch - wenn nötig - zu Hause zu üben (vgl. Abschnitt ‘Schule’). Als ein weiterer Beleg dafür kann angesehen werden, dass CXLVIII er zu dem begangenen Diebstahl gestanden hat und bereit war, auch die diesbezügliche Strafe zu akzeptieren. Pauls positiv ausgeprägtes Selbstwertgefühl basiert vornehmlich auf dem Vertrauen in die eigenen Eigenschaften („...nett vielleicht, großzügig, nicht geizig“; 1992: 17;23f) und Fähigkeiten und der Kompetenz, Sachverhalte und Beziehungen im allgemeinen reflektiert beurteilen zu können. Unterstützend kommt die grundsätzliche Akzeptanz seiner Person und die Anerkennung seiner individuellen Fähigkeiten durch die Eltern hinzu. Nichtsdestotrotz ist er zudem aber auch auf die Erlangung und Erhaltung von Akzeptanz von seiten der Clique angewiesen, was er durch die o.a. Normabweichungen zu erreichen sucht. 1993 zeigt Paul Reflexivität, gepaart mit empathischen Fähigkeiten, über das familiäre Umfeld hinaus. Seine Mitleidensfähigkeit gegenüber den Eltern zeigt sich u.a. in seiner Beschreibung ihrer Reaktion auf das Straffälligwerden des Bruders (vgl. 1993: 2;28 ff vgl. auch: 3;21 ff). Auch bei seiner Beurteilung der Drogenproblematik (vgl. 47;21 ff) und des Strafvollzugs äußert Paul relativ reflektierte Gedankengänge (vgl. 46;21 ff). Mit dieser Einschätzung korrespondiert, dass er selber durchaus in der Lage ist, aus einmal gemachten (als solche erkannten) Fehlern zu lernen. Seine Ablehnung von Drogen nach einmaligem Haschischrauchen und Kriminalität nach einmaligem Zigarettendiebstahl scheinen auf echter Einsicht in mögliche Konsequenzen solchen Handelns zu basieren, weil er von sich aus bereit ist, sich von seiner Clique zu distanzieren, um nicht mit da hineingezogen zu werden, selbst, wenn dieses für ihn Einschränkungen in seiner Freizeit bedeutet. Bei der Beschreibung seines eigenen reaktanten Verhaltens zeigt Paul keine Reflexivität bzw. erkennt ihre Notwendigkeit nicht. So scheint ihm die Diskrepanz zwischen seiner ablehnenden Haltung zu Gewalt sowie seiner ‘caritativen’ Denkungsweise einerseits und seines gewalttätigen Verhaltens andererseits nicht im Widerspruch zu stehen oder gar nicht bewusst zu werden. Die Fähigkeit zur Einsicht in bestimmte (gesellschaftliche) Mechanismen befähigen Paul zunehmend dazu, Verantwortung für sich zu übernehmen. Dies äußert sich u.a. in der erwähnten Distanzierung von der Clique, in seiner sehr umsichtigen Praktikumsplanung und seiner bedingten Bereitschaft, sich für die Erlangung eines Ausbildungsplatzes in der Schule wieder mehr anzustrengen und anzupassen. Zudem versuchte er, einen Freund vom Haschischrauchen abzubringen (vgl. 47;5 ff). Innerhalb der Familie ist Paul nach wie vor in der Lage, Konflikte verbal auszutragen, wenngleich es auch scheint, als wären diese Gespräche nunmehr eher von Ungeduld und ‘Genervtsein’ seinerseits und nicht mehr von dem ernsthaften Bemühen, Streitpunkte zwischen ihm und den Eltern gütlich beizulegen, geprägt. Pauls Selbstwertgefühl basiert weiterhin auf dem Vertrauen in seine eigenen Fähigkeiten und der Kompetenz, über die Reflexion bestimmter Sachverhalte Einsicht in gesellschaftliche Mechanismen zu gewinnen und daraus Konsequenzen für sein eigenes Verhalten zu ziehen. Dementsprechend fühlt er sich auch ‘reifer’ als andere Gleichaltrige. Anerkennung und Akzeptanz von außen bekommt er einerseits über die Demonstration von ‘männlicher’ Stärke, andererseits über seine Eigenschaften als Freund (vgl. 1993: 22;19 ff). Die Fähigkeit zu Reflexivität, gepaart mit Empathie, zeigt Paul 1994 weiterhin hauptsächlich im familiären Umfeld. Wie schon während der letzten Interviewzeiträume kann er sich in die Beziehung der Eltern (z.B. Vernachlässigung der Mutter durch den Vater) hineindenken und versucht, vermittelnd einzugreifen. In den freundschaftlichen Gesprächen mit dem Vater geht er auf dessen Probleme ein und versucht, ihn zu beraten. Seine Kritik am Vater deutet darauf hin, dass er sich Gedanken über die Auswirkungen der elterlichen Erziehung auf sein Verhalten macht. Seine Erziehungsversuche des Vaters deuten darauf hin, dass er sich den Vater mehr als Respektsperson wünscht; vielleicht fühlt er sich dadurch, dass ihn der Vater wie einen Erwachsenen behandelt und ihn hauptsächlich eigenverantwortlich handeln lässt, doch etwas überfordert. Das Verhalten des CXLIX Bruders versucht er sich darüber zu erklären, dass er ein Typ ist, der alles „in sich hineinfrisst“ (1994: 24;4). Um Streitigkeiten zu vermeiden, nimmt Paul dahingehend Rücksicht, dass er seine Musikanlage gar nicht erst aufbaut, um sich so nicht vom Bruder provozieren zu lassen. Auch aktuelle Themen kann er reflektiert bedenken, so z.B. die allgemeine Situation der Ausländer in Deutschland. Noch immer ist er in der Lage, aus Fehlern zu lernen und mögliche Konsequenzen seines Handelns vorwegzunehmen. Soweit seine Einsichtsfähigkeit und Akzeptanz bestimmter gesellschaftlicher Normen auch gediehen scheint, sie versagen meistens dann, wenn Paul sich in seiner ‘männlichen’ Ehre angegriffen oder in seinen Selbstbestimmungsansprüchen gegängelt (z.B. Schule) fühlt. Dann scheint er in seinen Reaktionen noch so auf die Erfüllung traditioneller Standards der Jungen-Sozialisation fixiert zu sein, dass sie nur auf emotionale und reaktante Weise erfolgen können. Davon beeinflusst ist auch seine Fähigkeit, Konflikte verbal zu lösen. Während er im familiären Bereich, in dem er keine (Mutter) oder kaum (Vater) Akzeptanz über die Demonstration von Männlichkeit im erwähnten Sinne erlangen kann, durchaus dazu in der Lage ist, scheint diese Fähigkeit im Freundeskreis aus o.a. Gründen weniger gefragt zu sein, so dass er sie entsprechend auch nicht anwendet. Erstmals erwähnt er auch explizit Ausländer als Gegenpart bei gewalthaltigen Auseinandersetzungen (Grieche im BVJ, jugendliche Zigeunerin, Zigeuner, der das Fahrrad gestohlen hat). Bedingt ist Paul dazu bereit, Verantwortung für sich selbst und andere zu übernehmen. Obwohl er in der Schule keine Bereitschaft mehr zeigt, für einen höheren Schulabschluss und somit für bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt Anpassungsleistungen zu erbringen, kümmert er sich doch um seine berufliche Zukunft. Als eine Freundin sich angeblich umbringen wollte, blieb er die ganze Nacht mit einem Freund bei ihr und versuchte mit Erfolg, es ihr auszureden (vgl. 1994: 16;6 ff). Für Jüngere, die den Treffpunkt besuchen, übernimmt er bei Bedarf die Beschützerrolle, z.B. bei den beiden Schwarzen, die er mit Freunden zusammen vor Übergriffen von einem rechten Jugendlichen bewahrte. Pauls Selbstwertgefühl basiert noch immer vornehmlich auf dem Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und der Kompetenz, Sachverhalte reflektiert beurteilen und dementsprechend reagieren zu können. Jedoch scheint es während dieser Lebensphase, als sei er mehr als früher auch auf die Akzeptanz von außen angewiesen. Diese versucht er einerseits von seinen Freunden und Bekannten über die bewährte Demonstration von ‘Männlichkeit’ zu erlangen, erstmals scheint es andererseits aber auch so, dass er über äußere Attribute wie Markenkleidung, Markenfahrrad und die damit implizit verbundene Distanzierung von seinen sozial schwächer gestellten Freunden Akzeptanz von anderer Seite, z.B. von Erwachsenen und seinem besten Freund, erlangen will. Ein Grund dafür sind möglicherweise seine schlechten schulischen Leistungen und die damit verbundene Erkenntnis, dass er - entgegen früherer Hoffnungen - den Realschulabschluss nicht schaffen wird. Dies könnte zu Versagensängsten in diesem und anderen Bereichen führen. 4. Zusammenfassung Paul präsentiert sich als ein Junge, der sich einerseits - vermutlich hauptsächlich beeinflusst von seinem liberal geprägten Elternhaus und dem täglichen freundschaftlichen Umgang mit ausländischen Jugendlichen, die er aufgrund ihrer individuellen Qualitäten schätzt - durch im 13ten und 14ten Lebensjahr durchgängig vertretene Gleichheitsvorstellungen in bezug auf sowie eine vehemente Ablehnung von politischer Gewalt an Minderheiten wie Ausländern und eine Verurteilung des Denkens und Handelns von Rechtsradikalen auszeichnet, der aber andererseits - wohl aufgrund emotionaler Betroffenheit - zunehmend politisch motivierte Gewalt an Rechtsradikalen propagiert und selber anzuwenden bereit ist und auch im privaten Umfeld im ganzen gleichbleibend - allenfalls nach seiner Selbstwahrnehmung zwischen 1992 und 1993 zunehmend, 1994 wieder leicht abnehmend mit einer hohen Reaktanz reagiert, wenn er sich in seinen - an gängigen Standards der CL Jungen-Sozialisation orientierten - selbst zugeschriebenen männlichen Eigenschaften wie Durchsetzungskraft, Wehrhaftigkeit, Invulnerabilität, sexuelle Attraktivität etc. angegriffen fühlt. Im einzelnen zeigt Paul 1992 und 1993 keine nennenswerten Ungleichheitsvorstellungen gegenüber Ausländern, während er 1994 erstmals Vorwürfe in Richtung der Gruppierung der „Zigeuner“ erhebt, denen er auch aufgrund eigener Erlebnisse eine erhöhte Kriminalität zuschreibt. Weiterhin unterstellt er ihnen eine ihrem hiesigen Status unangepasste Anspruchshaltung und neidet ihnen einen seiner Ansicht nach ungerechtfertigten Wohlstand. Zudem klingen implizit über die Betonung seines eigenen Wohlstandes und die Kritik an seinem Wohnort, der durch einen hohen Anteil von Sozialhilfeempfängern und Ausländern geprägt ist, Distanzierungsversuche von sozial schwächer gestellten Bevölkerungsschichten an. Gleichbleibend verurteilt Paul die Anwendung politischer Gewalt an Ausländern. Während er 1992 noch vor der direkten Konfrontation mit rechten Jugendlichen zurückschreckt, propagiert er in den folgenden Jahren zunehmend eine politisch motivierte, gewalttätige Gegenwehr von Ausländern und ist auch selber bereit, Gewalt in der Auseinandersetzung mit rechten Jugendlichen einzusetzen. Hinsichtlich staatlicher (Polizei-)Gewalt wünscht er sich noch 1992 eine „straffere Gangart“ (vgl. Fb. 1992), während er 1993 - wohl aus dem Empfinden einer gewissen Machtlosigkeit der Polizei gegenüber gesellschaftlichen Gewaltbzw. Kriminalitätsphänomenen heraus - eine Bürgerwehr nach amerikanischem Vorbild propagiert. 1994 zeigt er sich gegenüber dem Einsatz von Polizei eher duldend und verständnisvoll. Pauls von Anfang an hohe Violenz im privaten, jungendominierten Umfeld steigert sich im Laufe der Jahre dahingehend, dass er - zumindest verbal - zunehmend bereit ist, Waffen als Mittel der Gegenwehr einzusetzen. Zudem scheint seine Hemmschwelle zum Einsatz von Gewalt immer weiter zu sinken, was zur Folge hat, dass auch bei eher ritualisierten gewalttätigen Konfrontationen immer weniger ‘Fairness’Regeln eingehalten werden. Seine zunehmende Orientierung an Erwachsenen-Standards scheint jedoch bei ihm eine veränderte Selbstwahrnehmung dahingehend nach sich zu ziehen, „ruhiger“ und „zurückhaltender“ geworden zu sein sowie „nicht mehr gleich loszugehen“. Damit einhergehend scheint das aktive Suchen von gewalttätigen Situationen und somit die Frequenz eben dieser nachzulassen, so dass es wohl zu einer Abnahme der Quantität, aber trotzdem zu einer Zunahme der Qualität von Gewalt im Ernstfall kommt. Ausschlaggebend für weitgehende Gleichheitsvorstellungen in bezug auf Ausländer und Pauls gleichbleibende Ablehnung von politischer Gewalt gegen Ausländer sowie seine Verurteilung von Rechtsradikalen scheint hauptsächlich der Einfluss seiner Eltern und ausländischen Freunde - und damit verbunden, zunächst noch seines direkten Wohnumfeldes - zu sein. Paul hat nach eigenem Bekunden ein gutes Verhältnis zu seinen Eltern, demzufolge zunächst beide, später explizit noch der Vater, Vorbildfunktion für ihn haben. Beide Elternteile scheinen liberal zu sein, und aktuelle Themen werden im Familienkreis besprochen. So befindet sich Paul mit seinen politischen Ansichten in Übereinstimmung mit seinen Eltern. Sein Wohnort zeichnet sich durch einen hohen Anteil von Sozialhilfeempfängern und Ausländern an der Gesamtbevölkerung aus. Dies und der Umstand, dass Paul in direkter Nähe eines Treffpunktes, an dem sich viele (ausländische) Jugendliche im mehr oder weniger losen Cliquenverbund treffen, führten vermutlich dazu, dass er viele ausländische Freunde hat. Da er diese nach menschlichen Qualitäten und nicht nach Nationalität beurteilt und über Gespräche viel über ihre Situation in Deutschland erfahren hat, scheint seine Ablehnung jeglicher Ausländerfeindlichkeit auf einer direkten Betroffenheit und Anteilnahme am Alltag seiner Freunde zu fußen. Die daraus resultierende Sensibilisierung gegenüber ausländerfeindlichen Andeutungen und Übergriffen und seine Verantwortung als ‘Kumpel’ erklären vermutlich auch seine zunehmende Bereitschaft, selber gewalttätig auf tatsächliche oder vermeintliche „Nazis“ zu reagieren. CLI Pauls hohe personale Violenz scheint hauptsächlich auf eine vermutlich entwicklungsbedingt besonders ausgeprägte Orientierung an gängigen Inhalten und Standards der Jungen-Sozialisation zurückzugehen. Über die Demonstration von Dominanz, Wehrhaftigkeit, Invulnerabilität, Kumpelhaftigkeit und sexueller Attraktivität und damit verbundene, vereinzelt begangene Normverletzungen (Diebstahl von Zigaretten 1992 und Haschischrauchen 1993) versucht er, Akzeptanz und Anerkennung von Seiten seiner jungendominierten Clique zu erlangen und zu bewahren. Zudem wird über (gewalttätiges) Konkurrenz- und Territorialverhalten anderen ‘Gangs’ gegenüber die Zugehörigkeit zu und die Stärke der eigenen Gruppe inszeniert. Die Häufigkeit dieser z.T. ritualisierten Konfrontationen führen zu einer Normalisierung sowie Automatisierung von Gewalthandeln aber auch zu einer gewissen Unausweichlichkeit, will Paul den bei den Jugendlichen und für sein Selbstbild geltenden Normen entsprechen. Demzufolge ist seine Einstellung zu seiner eigenen Gewaltbereitschaft ambivalent: Einerseits zeigt er Stolz auf seine Aggressivität, weil er sich aufgrund der ihm deswegen entgegengebrachten Akzeptanz als ‘Schläger’ und somit als ‘männlich’ definiert, andererseits sieht er sich aber auch als Opfer von gewaltsamer Bedrohung, dem zur Gegenwehr keine andere Möglichkeit bleibt, als selbst gewalttätig zu werden. Korrespondierend damit zeigt Paul auch durchgängig Diskrepanzen zwischen seinen allgemein eher gewaltverurteilenden und oft gesellschaftliche Mechanismen reflektiert beurteilenden Ansichten, die auf seiner Fähigkeit, aus begangenen Fehlern lernen und sein Verhalten vorausschauend planen und modifizieren zu können, beruhen und seinem tatsächlich gezeigten Verhalten. Möglicherweise versucht er einerseits, sich über die Anpassung an gesellschaftliche Normen in die Erwachsenengesellschaft zu integrieren, um in naher Zukunft als vollwertiges berufstätiges Mitglied an ihr teilhaben zu können, ist aber andererseits aufgrund seines aktuellen Entwicklungsstandes noch zu sehr der Erfüllung der für ihn und in seinem Freundesumfeld gültigen Standards der Jungen-Sozialisation und den damit verbundenen Erfolgserlebnissen im Freundeskreis verhaftet, als dass er z.Zt. sein Verhalten in Richtung Gewaltfreiheit wesentlich verändern könnte. Erschwerend kommt hier vermutlich hinzu, dass Pauls Vater zum einen seinem diesbezüglichem Verhalten - evtl. aufgrund eigener Orientierungen - eher duldend, wenn nicht teilweise sogar fördernd (vgl. 1993), gegenübersteht, und Paul ihn zum anderen weniger als (erwünschte) Respektsperson denn als ‘Kumpel’, der seinerseits auf die Ratschläge seines Sohnes angewiesen ist, wahrnimmt (vgl. 1994). Die oben erwähnten - erstmals 1994 anklingenden - Ungleichheitsvorstellungen in bezug auf „Zigeuner“ lassen sich vermutlich durch schlechte Eigenerfahrungen und vor dem Hintergrund großer schulischer Schwierigkeiten Pauls erklären: Nachdem er den Hauptschulabschluss absolviert hatte, wechselte er auf eine weiterführende Schule, die er nach zwei Jahren mit dem Realschulabschluss hätte abschließen können. Eine subjektiv empfundene Fremdbestimmtheit und seiner Meinung nach an ihm begangene Ungerechtigkeiten führten bei ihm von Leistungsverweigerung über Störverhalten bis hin zu aggressivem Verhalten Mitschülern und Lehrern gegenüber, so dass er 1994 die Entscheidung trifft, die Schule gegen den Willen seiner Eltern zum Halbjahresende zu verlassen. Paul muss die Hoffnung auf einen höheren Schulabschluss und die damit verbundenen besseren Chancen auf dem Arbeitsmarkt aufgeben. Die daraus vermutlich resultierenden Selbstzweifel und Versagens- bzw. Zukunftsängste scheinen ursächlich dafür zu sein, dass er mehr als in den Vorjahren auf Akzeptanz von außen angewiesen zu sein scheint, um sein Selbstwertgefühl aufrechterhalten zu können. Über die Betonung seiner eigenen Konsumorientiertheit und ein zur Schau getragenes Markenbewusstsein und die ‘Scham’ über seinen Wohnort scheint er sich implizit von seinen sozial schwächer gestellten Freunden distanzieren zu wollen, um so die Akzeptanz von gesellschaftlich Gleichgestellten, respektive von seinem - materiell noch besser als er selbst gestellten besten Freund zu erlangen (vgl. 1994). Die Möglichkeit, dass er aufgrund seiner CLII beruflichen Chancen seinen - bisher als selbstverständlich empfundenen - Wohlstand später nicht aus eigener Kraft erhalten bzw. vermehren könnte, ist vermutlich die Ursache dafür, dass er Deutschland erstmals als einen Wohlstandsstaat definiert, der durch die ihm unangemessen erscheinende Alimentierung einzelner Ausländergruppierungen - und damit verbunden, durch von ihm angenommene, unberechtigterweise zu erfolgende Steuerzahlungen der deutschen Staatsbürger - gefährdet sein könnte. Zudem könnte sich der Umstand, dass Paul 1994 erstmals explizit einzelne ausländische Jugendliche als Gegner bei Auseinandersetzungen benennt, fördernd auf die Ausbildung von Ungleichheitsvorstellungen auswirken. Insgesamt könnte für Paul die These aufgestellt werden, dass seine zunehmende Orientierung an Erwachsenen-Standards dazu führt, dass die anfangs vorherrschende Gewaltorientierung zunehmend von einer von der Gesellschaft tolerierten, wenn nicht gewünschten Konsumorientiertheit als Stützpfeiler seiner Identitätsfindung ergänzt (und unter Umständen später einmal abgelöst) wird. In aber eben dieser Konsumorientiertheit scheint die Ausbildung von o.a. Ungleichheitsvorstellungen begründet zu sein, denn in ihrem Rahmen kann Paul sich nur über die Abgrenzung von sozial schwächer gestellten (ausländischen) Mitbürgern und den Eigenbesitz von materiellen Ressourcen definieren und somit sein Selbstwertgefühl stärken. Renate 1992 - 1994 " Gerade die Asylanten, welche einen so blöd ansprechen ... die soll man anzeigen und sie sollen in ihr Land zurückgehen." (1992:19;29-32) " Die Asylanten sollten weniger Geld bekommen, weil sie geben das gerne so zum Trinken her und die kaufen sich gar nichts so zum Essen. Die machen sich eine schicke Frisur und haben Super-Klamotten und wir geben das ganze Geld aus." (1993:36;33-37) " Es gibt doch Asylanten hier, und die kriegen halt alles immer gleich. Wir müssen halt immer arbeiten. Das ist unser Nachteil wahrscheinlich." (1994:18;10-13) 1. Objektive Daten zum Lebenskontext im Überblick Renate, evangelisch, lebt seit ihrem fünften Lebensjahr zunächst mit ihren Eltern und ihrem älteren Bruder in K., einer Kleinstadt in Süddeutschland, wo ihre Eltern eine Gaststätte betreiben. Sie wohnt mit ihrer Familie in einer 4-Zimmer-Mietswohnung im Stadtkern, in der sie sich noch ein Zimmer mit dem Bruder teilt. Renate besucht die 8. Klasse der städtischen Förderschule. 1993 zieht sie mit ihren Eltern in ein Einfamilienhaus mit Terasse und Garten in eine von K. weit abgelegene Kleinstadt, wo Renate jedoch nur die Wochenenden mit ihren Eltern verbringt. Dort hat sie ein eigenes Zimmer. Während der Woche wohnt sie bei der Familie einer Freundin in K., um dort weiterhin die Schule besuchen zu können. 1994 beginnt Renate eine Ausbildung zur hauswirtschaftstechnischen Angestellten in einem Ausbildungszentrum, wo sie auch ihren Hauptschulabschluss machen möchte. Da diese Schule 75 km von ihrem Heimatort entfernt in der Schwäbischen Alb liegt, wohnt sie dort in einem Internat, in dem sie ein Zimmer mit einer anderen Schülerin teilt. Als Taschengeld stehen Renate zunächst 35,-DM monatlich zur Verfügung; zudem steckt der Vater ihr öfter noch etwas zu (vgl.1992:10;20-29), was aber meistens "gleich weg ist" (1992:11;3-5). 1994 erhält sie wöchentlich 35,-DM von ihren Eltern, die sie vorwiegend für Kleidung ausgibt. Renates Umgang mit Geld ist ein häufiger Konfliktpunkt zwischen ihr und ihrer Mutter (vgl.1994:5;38ff). 2. Politische Orientierung CLIII 2.1 Allgemeine Orientierung Renate hat außer ihrer ablehnenden Haltung gegenüber Asylbewerbern (s.u.) kein explizit politisches Interesse und gibt keine allgemeine politische Orientierung zu erkennen. Ihre jugendkulturelle Ausrichtung konzentriert sich auf die Musikszene der ‘Raper’ und Discofans, Skinheads zählt Renate durchgängig zu ihren Gegnern. Während sie noch 1993 rechte Jugendliche und Hooligans ablehnt, sind ihr diese 1994 gleichgültig geworden (vgl.Fb). 2.2 Ungleichheitsvorstellungen/Gleichheitsvorstellungen im Kontext von Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus Renate formuliert durchgängig sowohl Ungleichwertigkeitsvorstellungen als auch Ungleichbehandlungsforderungen gegenüber Asylbewerbern. 1992 stehen bei ihren Äußerungen Verunsicherung und Angst vor sexueller Belästigung seitens Asylbewerbern im Vordergrund ("Die sprechen immer Mädchen an und fragen sie immer aus...da kam auch ein Asylant und hat gesagt, komm, jetzt wollen wir mal machen, darum habe ich so Angst vor denen." 1992:18;14-29, vgl. auch 1992:17;25-40), die durch Warnungen der Eltern ("Ich darf mich nicht mit solchen abgeben ... weil ich mich nicht so gut wehren kann wie ein Junge."; 1992:19;1-7) und eines Freundes ("In dem Haus wohnen Asylanten drin und die sind falsch."; 1992:18;11) verstärkt und bis 1994 verfolgt werden können: "Da hat einer, da bin ich an der Telefonzelle vorbeigelaufen, da war so mittag um vier ‘rum, da wollt ich meine Freundin abholen und nach E. ins Kino, da sagt einer zu mir, willst du mit mir bumsen oder so was und seitdem will ich mit denen nichts mehr zu tun haben." (1994:18;22-27). 1992 raten ihr die Eltern: "Wir sollen sie einfach reden lassen und wenn sie etwas fragen oder soll ich zur Polizei gehen." (1992:18;37-38) und "Wenn ich da vorbei laufe, soll ich auf der anderen Straßenseite laufen." (1992:19;16-17). Renate sieht in Asylbewerbern Menschen, die nicht in ihre Umgebung gehören (vgl.1992:21;19). Ein ausreichender Abschiebeanlass ist für sie die von ihr mehrfach angesprochene Belästigung: "Gerade die Asylanten, welche einen so blöd ansprechen ... die soll man anzeigen und sie sollen in ihr Land zurückgehen." (1992:19;29-33) Bereits zu diesem Zeitpunkt scheint Renates Unwissenheit über die Herkunft und Beweggründe von Asylbewerbern in Deutschland einer der Gründe für ihre abweisende Haltung zu sein. So glaubt sie beispielsweise, ‘Kurden’ kämen aus Jugoslawien (vgl.1992:21;15-26). 1993 greift Renate das in ihrer Familie und Schule kursierende Vorstellungsbild von ‘Wirtschaftsflüchtlingen’ auf (s.u.). Sie ist der Meinung, dass Asylbewerber nach Deutschland kommen, "weil bei denen nicht so viel Arbeit wie hier, und in Deutschland, da bekommt man halt alles." (1993:39;18-19). Renate gibt an, nie von der Existenz von Kriegsflüchtlingen gehört zu haben, sie hat somit kaum oder keine Kenntnis von politischem Asyl (vgl.1993:39;26-32). 1993 haben sich Renates Unsicherheitsgefühle gegenüber Asylbewerbern verfestigt: "So Asylanten stehen immer an der Telefonzelle abends, dann machen sie einen halt blöd an und da habe ich ein bißchen Angst." (1993:13;38-40). Sie macht in ihrer gewohnten Umgebung (z.B. in ihrer Schulklasse) ansonsten kaum Unterschiede zwischen ‘Ausländern’ und Deutschen (vgl.1993:36;18), solange diese sich ihren Vorstellungen entsprechend verhalten: "...dass nicht wie wenn türkische Väter ihre Töchter nie rauslassen. An den türkischen Sitten, sie sind nämlich in Deutschland, da sollten sie sich schon an deutsche Sitten halten." (1994:17;21-24). 1994 hat Renate "eigentlich nur ausländische Freunde. Türken hab’ ich, Italiener hab’ ich ein paar und Deutsche. Aber meistens nur Türken. Ich weiß nicht, mit denen bin ich halt meistens zusammen." (1994:17;34-37). Hier spielt sicherlich die Schule eine prägende Rolle, da in Renates Klasse von insgesamt dreizehn Mitschülern zehn Schüler CLIV ausländischer Herkunft sind. Renate unterscheidet in ihren Bewertungen ‘Ausländer’ von ‘Asylbewerbern’: "Ich habe nichts gegen Ausländer, aber gegen solche schon." (1992:19;26-27). Sie sieht es als Vorteil der Anwesenheit von erwerbstätigen Ausländern in Deutschland an, "dass die Deutschen nicht mehr so viel arbeiten müssen, die arbeiten ja auch alle mit uns." (1994:18;7-9). Dementsprechend sieht sie als Nachteil der Asylbewerber: "Nachteil, wie soll ich das sagen, es gibt doch Asylanten hier, und die kriegen halt immer alles gleich. Wir müssen halt immer arbeiten. Das ist unser Nachteil wahrscheinlich." (1994:18;9-13). Auffällig ist hier Renates Tendenz zur Generalisierung ("...die kriegen halt") sowie quantitativen ("alles") und qualitativen ("immer gleich") Überdramatisierung staatlicher Unterstützungsleistungen für Asylbewerber, um ihren Vorurteilen einen argumentativen Rahmen zu verleihen. Da sie nie einen Asylbewerber näher kennengelernt hat (vgl.1994:18;14), ist anzunehmen, dass Renate ihren Standpunkt zu einem Großteil von Dritten übernommen hat. Hier stehen sowohl der elterliche Einfluss ("Meine Mutter hat nichts gegen Ausländer, aber sie sagt halt immer such Dir ‘nen Deutschen, und sie hat vielleicht auch Angst um mich und so, und deshalb eigentlich. Sonst haben wir eigentlich keine Probleme zu Hause mit Ausländern. Meine Mama hat selber nichts gegen sie, bloß sie regt es halt auch auf, dass wir arbeiten müssen und die kriegen alles umsonst. Das regt die auch auf." 1994:19;1-7), als auch die Agitation eines Lehrers im Vordergrund: "Die Asylanten sollten weniger Geld bekommen, weil sie geben das gerne zum Trinken her und die kaufen sich gar nichts so zum Essen. Die machen sich eine schicke Frisur und haben Super-Klamotten und wir geben das ganze Geld aus...Ich weiß es von meinem Lehrer, der hat es mir gesagt, er hat es uns allen gesagt." (1993:36;39ff). Besonders im Zusammenhang mit der ‘Kostenargumentation’ identifiziert sich Renate zunehmend allgemein mit Steuerzahlern ("Die Deutschen regen sich halt immer auf darüber, dass die alles bekommen und wir halt müssen arbeiten und Steuern bezahlen, und die kriegen alles umsonst." 1994:18;33-36); vielleicht aber deutet das "wir" in ihrer Einlassung auch im engeren Sinne auf sie selbst und ihre Eltern hin. Sie beklagt häufig, dass ihre Eltern zu wenig Zeit für sie haben, da diese unter großem Zeitaufwand ihre Gaststätte betreiben ("Was hab’ ich denn von euch, wenn ihr unten seid und ich bin oben, sag’ ich dann auch ab und zu." 1994:5;35-36). Bei Renate scheint sich der Eindruck zu festigen, dass ihr persönlicher Beitrag zu den von Asylbewerbern verursachten Kosten der Verzicht auf die Zuwendung der Eltern ist, welche wiederum als Argument für ihre häufige Abwesenheit die hohe Abgabenlast, die sie eben auf die Alimentierung von Asylbewerbern zurückführt, anführen. Hinzu kommt mit dem Ausbildungsbeginn ihr persönlicher Eintritt in das Berufsleben, mit dem sie sehr unzufrieden ist. Sie fühlt sich von den über die ausbildungsbedingten Arbeiten hinausgehenden Aufgaben des täglichen Lebens, die alle Internatsbewohner in Form von ‘Diensten’ zu erfüllen haben, überfordert: "Weil, mir stinkt das hier ... das ist einfach zu viel. Wenn wir hier fertig sind..., da hat man kaum noch Freizeit, und immer das Gejaule von den Erzieherinnen, das stinkt mir so langsam" (vgl.1994:1;29ff). Die in diesem Rahmen geäußerte Unzufriedenheit bezieht sich sowohl auf Renates instrumentelle, als auch ihre sachlich-inhaltliche Arbeitsorientierung, da sie sich nicht mehr sicher ist, ob ihre Berufswahl überhaupt richtig war ("...weiß ich nicht, mache ich mir immer Gedanken darüber. Heute habe ich mich wieder gefragt, wie konnte ich nur HTA aussuchen." 1994:9;9-16). Renate steht in einem Konflikt zwischen der Einsicht in die Notwendigkeit von Berufsausbildung und Arbeit zur Sicherung des eigenen Lebensstandards und dem Leiden unter den im Arbeitsleben entstehenden ‘Opportunitätskosten’, die ihre Freizeit und Selbstentfaltung einschränken. Offensichtlich vor dem Hintergrund dieser Lebenserfahrung wird ‘Arbeitsleistung’ für Renate zunehmend zum zentralen Legitimationsaspekt für eine Aufenthaltsberechtigung in Deutschland. Dementsprechend sollen Asylbewerber in CLV Deutschland selber für ihren Lebensunterhalt arbeiten und notfalls die ‘Dreckarbeit’ im Sinne allgemein gesellschaftlich notwendiger und volkswirtschaftlich sinnvoller Aufgaben machen: "Die Asylanten sollen Waldarbeit machen, oder etwas für den Umweltschutz tun oder vielleicht wenn sie auf der Mülldeponie arbeiten würden oder irgendwas, wo man sie halt brauchen kann." (vgl.1994:19;12-15). 2.3 Gewaltakzeptanz Renates anfangs noch ausgeprägtes physisches Gewaltpotential nimmt bis 1994 deutlich ab. Sie berichtet 1992 von häufigen Schlägereien "mit Fäusten" (1992:24;30) unter den Mädchen in der Schule. Dies sind zum einen individuelle, geschlechtergetrennte Streitereien, die in oder auch außerhalb der Clique ausgetragen werden: "Dann spricht man mal mit der und wird sie dann auch noch frech, dann bekommt sie gleich eine." (1992: 24;40ff) Auch Renates eigene Tendenz, sich im Streit mit Gewalt durchzusetzen, zeigt sich in ihrer Bereitschaft, auf verbale Angriffe tätlich zu reagieren: "Also da hat sie auch so Scheiß herum erzählt und hat einen immer stehen lassen, dann hat sie eben eine mit der Faust auf die Nase bekommen." (1992:25;17-19) Offenbar hält sie diese Art der Konfliktaustragung für normal (Man beachte die Funktion des "eben" im obigen Zitat) und innerhalb der gängigen Interaktionsmuster reflexhaft gefordert (siehe oben im vorgängigen Zitat: "gleich"). Sie berichtet zum anderen von Rivalitäten mit anderen Cliquen, z. B. den ‘Heavies’ von der Realschule, denen ihre Freunde und sie aber aus dem Weg gehen (vgl.1992:33;13-14). Ab 1993 ist Renate nicht mehr an gewalttätigen Auseinandersetzungen beteiligt (vgl.1993:21;26-28). Sie wohnt zu diesem Zeitpunkt bei der Familie ihrer Freundin, mit der sie auch ihre Freizeit verbringt. Ab diesem Zeitpunkt scheint Renate wohl seltener in Konfliktsituationen zu geraten, da die beiden Mädchen die meiste Zeit zu Hause verbringen. Mit dem Argument "... die sind ja genauso Menschen wie wir. Die machen das doch auch nicht bei Deutschen, das Haus einfach abbrennen" (1993:41;7-19) nimmt sie ausdrücklich negativ Stellung zu Gewaltaltanschlägen auf Ausländer (vgl.1993:40;26-36). Im Internat 1994 kommen Handgreiflichkeiten nicht vor. Renates Lösung in unangenehmen Situationen ist jetzt: "Weiterlaufen, still sein, gar nichts mehr sagen. Erst wenn ich weiter weg bin, laß ich meine Wut ‘raus: Was war das für ein Depp." (1994:7;27-30). 3. Zusammenhang von politischer Orientierung und Gewaltakzeptanz mit sozialen Erfahrungen und Erfahrungsstrukturierung 3.1 Erfahrungen und Bearbeitungsressourcen 3.1.1 Problembelastungen und zentrale Interessenlagen Renates durchgängiges Kernproblem ist ihre zunächst durch die starke berufliche Einspannung der Eltern verursachte Vereinsamung, unter der sie bereits 1992 sehr zu leiden scheint (vgl.1992:7;4-6). Auch während ihrer Zeit im Internat, in der sie nur die Wochenenden zu Hause verbringt, ändert sich kaum etwas an der Vernachlässigung ihrer Eltern und den damit verbundenen Einsamkeitsgefühlen: "Wenn meine Eltern keine Zeit haben, verkrieche ich mich meistens in mein Zimmer" (1994:4;33). Renate wünscht sich, dass die Eltern mehr Zeit mit ihr verbringen. 1994 kommt als zusätzliche Belastung das Internatsleben hinzu, wo sie sich reglementiert, bevormundet und ungerecht behandelt fühlt (vgl.1994:1;29ff ). Deshalb dachte sie auch schon darüber nach, die Ausbildung abzubrechen: "Mir stinkt das Internatsleben. Ich wollte auch schon mal aufhören von hier" (1994:1;26-28). Renates häufiges Klagen über fehlende Freizeit läßt darauf schließen, dass sie sich durch das alltägliche Zusammensein mit den anderen InternatsschülerInnen und mit den CLVI Erzieherinnen auf relativ engem Raum sowie den vollen Stundenplan in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt fühlt. Zwar war sie aufgrund der Abgelegenheit des Elternhauses schon früher an Abhängigkeiten (z.B. in Form von wochenendlichen Fahrdiensten ihrer Eltern in die Stadt) gewöhnt, kann sich aber nicht mit den nun im Internat herrschenden Verbindlichkeiten arrangieren. Die für die soziale Ordnung innerhalb des Internats notwendige Rücksichtnahme und Unterordnung des Einzelnen unter die Gruppe erscheint für Renate wenig einsichtig. Sie leidet also auch im Internat unter Lebensbedingungen, die sie sich nicht selbst ausgesucht hat und in denen es keine Bezugspersonen gibt, zu denen sie ein Vertrauensverhältnis hat und die ihr verständnisvoll begegnen. 3.1.2 Erfahrungen im sozialen Nahraum und seine sozio-emotionalen Ressourcen Obwohl Renate an ihren Eltern bemängelt, dass diese zu wenig Zeit für sie haben, findet sie grundsätzlich ihren sozio-emotionalen Rückhalt in der Familie. Dort erfährt sie sowohl Anerkennung und Lob als auch Zärtlichkeit (vgl.1992:8;21-39). Sie hat zu beiden Elternteilen Vertrauen (vgl.1992:5;4-5), fühlt sich aber von ihrem Vater mehr akzeptiert als von ihrer Mutter (vgl.1992:4;37-39). Da die Eltern eine Gaststätte betreiben, in der der Vater als Koch und die Mutter als Bedienung arbeiten, sieht Renate ihre Eltern nur morgens, mittags und abends. Wenn die Gaststätte geschlossen hat, ist Renate in der Schule. So bleibt nur wenig Zeit zum Besprechen von (schulischen) Problemen (vgl.1992:3;33-37). Dies tut Renate meist mit dem Vater, der ihr hilft und auch in der Schule mit den Lehrern redet (1992:3;40ff). Als sie 1994 Probleme im Internat bekommt, zeigt ihre Mutter nur wenig Verständnis für Renates Situation: "Meine Mama sagt immer:... Lehrjahre sind keine Herrenjahre, das muss jeder durchmachen. Aber sie versteht das glaube ich gar nicht so arg. Die soll mal ‘ne Woche oben bleiben und mal sehen wie das ist. Die würde sich genauso fühlen wie ich." (1994:3;11-16). Auch hier erhält sie mehr Unterstützung vom Vater: "Aber mein Papa versteht es schon...Dann haben wir Elterngespräch gehabt, dann hat mein Papa zu Frau W. gesagt, wenn das hier nicht besser wird, dann holt er mich ‘raus." (1994:3;17ff). Ihre Mutter hingegen ist für andere Belange zuständig, sie erteilt z.B. die Erlaubnis zum Ausgehen o.ä.. Wenn Renate zu spät nach Hause kommt, erhält sie Hausarrest (1992:6;2839). Auseinandersetzungen in der Familie beschreibt sie als "so ein bißchen anmeckern und vielleicht nach zwei Stunden Entschuldigung sagen." (1992:13;29-30). Renate muss zu Hause keine Aufgaben erledigen (vgl.1992:5;17-39), sie hilft aber unentgeltlich in der Gaststätte beim Ausschank: "Ich bekomme ja sonst immer alles, darum." (1992:8;13). ’Echte’ Probleme behält Renate für sich oder bespricht diese mit ihrer Freundin. Das anfangs eher gespannte Verhältnis (vgl.1992:5;6-16) zu ihrem vier Jahre älteren Bruder bessert sich mit den Jahren., so dass sie mit ihm zuletzt auch ihre Probleme im Internat bereden kann (vgl.1994:5;16-20). Dies ist sicherlich nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass Renate ab 1993 für ein Jahr bei der Familie ihrer Freundin lebt und nur während der Wochenenden zu Hause ist. Die Problembesprechung mit den Eltern leidet nach wie vor unter Zeitmangel. Renate hat aber mit den Eltern der Freundin ein Vertrauensverhältnis (vgl.1993:26;22ff) und bekommt vom Vater der Freundin Hilfe in schulischen Angelegenheiten (vgl.1993:15;8-15), so dass sie unter der Trennung vom Elternhaus nicht zu leiden scheint. 1992 und 1993 geht Renate gerne in die Schule, wobei hier der soziale Aspekt die tragende Rolle spielt. Sie schätzt den guten Klassenverband (vgl.1992:34;9-15) und macht sich generell keine Sorgen um die Schule (vgl.1992:37;19-21). Dies mag auch in der in Förderschulen üblichen kleinen Klasse mit in diesem Fall nur dreizehn SchülerInnen begründet liegen. Das ändert sich mit Renates Wechsel auf das Internat. Zwar trifft sie in der Berufsschule ihre alten Freunde wieder, sie muss aber eine getrennte Klasse des Ausbildungszentrums CLVII besuchen, wodurch sie sich zunehmend stigmatisiert fühlt: "Oh Gott, Renate, mit was für Leuten bist du in eine Klasse gekommen." (1994:10;33-34). Sie hat das Gefühl, dass ihre alten Freundinnen nichts mehr mit ihr zu tun haben wollen (vgl.1994:10;37-40). Den Unterricht findet Renate "nicht so besonders. Die Lehrer sind da so alt und streng und ich weiß auch nicht." (1994:10;29-30). Sie resümiert: "Ich würde lieber wieder in die Schule gehen wie hierbleiben" (1994:1;11-12). 1992 verbringt Renate einen Großteil ihrer Freizeit in einer Clique von Mitschülern, mit denen sie sich meistens in der Stadt trifft, um dort Musik zu hören, Game-boy zu spielen oder zu bummeln. In diesem offenen Verband sind auch ihre fünf Freundinnen, bei denen sie Unterstützung und Verlässlichkeit erfährt (vgl.1992:23;33). Allgemein sind Probleme aber " jedem seine Angelegenheit." (1992:32;21). Alle tragen Kleidung der gleichen Stilrichtung: Weite Hosen, Turnschuhe und Rollkragenpullover (vgl.1992:32;31). Während der Zeit, die sie ab 1993 in der Familie der Freundin verbringt, löst sich Renate aus dem Kreis der Clique und verbringt ihre gesamte Freizeit mit der nun besten Freundin (vgl.1993:9;7-13). Mit ihr bespricht sie auch intime Themen wie z.B. Sexualität (vgl.1993:24;26-30). Ihre Wochenenden vom Internat verbringt Renate wiederum in einer lose formierten RaperClique von alten Schulfreunden, mit denen sie z.B. in Kneipen zum Kickern geht (vgl.1994:13;21-23): "Wir halten schon zusammen, weil wenn es z.B. Streit geben würde, wenn jetzt ‘ne Neue reinkommt, weil wir sind ja E.inger, und wir halten schon zusammen. Uns kriegt man nicht so schnell auseinander. Auch wenn man sich nicht so oft sieht. Zusammenhalten tun wir schon." (1994:12;5-10). Für Renate hat diese Clique zuletzt eine bedeutende Regenerationsfunktion übernommen. Die Treffen helfen ihr zumindest für die Wochenenden die im Internat aufgestauten Frustrationen zu verdrängen: "Wenn ich die sehe ist eigentlich jedes Wochenende super. Weil ich mich freue, dass ich die mal wieder sehe. Weil ich mag die einfach mehr wie hier die Älbler." (1994:13;2-5). Durch Renates permanente Wohnortwechsel ist sie nie in ein festes Nachbarschafts- oder Wohnumfeld gewachsen. Das Haus, das sie 1993 mit ihrer Familie bezieht, ist sehr abgelegen, worunter sie an den Wochenenden, die sie zu Hause verbringt, sehr leidet (vgl.1993:1:30-33). Auch an den Wochenenden, die sie während des Internatsaufenthaltes zu Hause verlebt, bleibt sie auf die Fahrdienste der Eltern angewiesen. Kennzeichnend für Renates Sozialisationserfahrungen ist sicherlich, dass sie keine Gelegenheit hatte, sich an einem Ort heimisch und zugehörig zu fühlen. 3.1.3 Medienrezeption und sonstige Ressourcen politisch relevanter Information Renate informiert sich weder über die Tagespresse noch durch Nachrichten im Fernsehen über politische Ereignisse. Trotzdem wird im Familienkreis über politische Nachrichtenbeiträge wie z.B. Krieg in Jugoslawien diskutiert (vgl.1992:15;16-30). Ihr Wissen etwa um wirtschaftspolitische Zusammenhänge erlangt sie 1993 auch im Unterrichtsfach ‘Vorbereitung auf Beruf und Leben’ (vgl.1993:22;24ff). Sie liest regelmäßig die Jugendzeitschriften ‘Bravo-Girl’ und ‘Popcorn’. 3.1.4 Erfahrungen mit und Ressourcen von gesellschaftlicher und politischer Teilhabe Da Renate sowohl 1993 durch den Umzug der Eltern in einen abgelegenen Ort und damit zusammenhängenden Aufenthalt bei der Familie einer Freundin, als auch 1994 mit Beginn der Internatszeit nicht in einem kontinuierlich bestehenden Aktionsradius lebt, fehlen ihr weitgehend die Möglichkeiten zu politischen oder gesellschaftlichen Aktivitäten wie z.B. dem Besuch eines Jugendzentrums. 3.2 3.2.1 Kategorien, Kompetenzen und Mechanismen der Erfahrungsstrukturierung Zentrale Bezugspunkte sozialer Identität CLVIII Renate besitzt kein ausgeprägtes Nationalitätsgefühl. Sie empfindet zwar keinen persönlichen Stolz auf ihre deutsche Staatsangehörigkeit (vgl.1992:40;39ff), ordnet aber ‘den Deutschen’ die positiven Eigenschaften " dass sie Arbeit haben, dass sie eine Wohnung haben, dass wir ein Industrieland haben, dass wir nicht alles von Hand machen müssen" (1994:20;19-23) zu und knüpft dementsprechend als Bedingung an die deutsche Staatsangehörigkeit für Ausländer einen Arbeitsplatz und die Kenntnis der deutschen Sprache (vgl.1993:38;7-18). Wie zuvor wiederholt sich hier Renates zentrale Vorstellung der gesellschaftlichen Legitimation des Individuums durch Arbeit, infolge derer sie nicht arbeitende Asylbewerber ausschließt. Renates wechselhafter, durch zwei Umzüge geprägter lokaler und sozialer Nahraum bietet der Jugendlichen kaum Möglichkeiten, die zumindest subjektiv wahrgenommene zeitliche Vernachlässigung durch die Eltern zu kompensieren. Erst im Internat ist Renate zumindest der äußere Rahmen einer Orientierung geboten, dem sie sich jedoch aufgrund von Meinungsverschiedenheiten mit den Erzieherinnen verschließt. Es fällt ihr schwer, sich dem Internatsleben unterzuordnen und die Erzieherinnen als Autoritätspersonen ernst zu nehmen. Bei Auseinandersetzungen um Erziehungsmethoden, Verhaltensmaß-regelungen oder anderen die Disziplin betreffenden Problemen fühlt sich Renate schnell als "Sündenbock" (1994:3;41). Ihre finanzielle Situation bleibt über die Jahre hinweg unverändert und läßt auf einen konstant gesicherten materiellen sozialen Status schließen. Renate beklagt sich weniger über mangelndes Taschengeld als über die Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter um den Umgang mit Geld. Renate legt mehr und mehr Wert auf modische Kleidung im Stil der Raper: "Manche, die laufen schon so ‘rum, z.B. die Reutlinger Mädchen, wenn man mit denen in die Disco geht, da war ich zum ersten Mal drin, ganz normal angezogen, mit Leggins-Hose und Absatzschuhen, da haben die mich immer so angeschaut. Die gehen mit ganz weiten Hosen weg und High-Tech-Schuhen. Das gefällt mir jetzt auch schon, so laufe ich jetzt ab und zu auch ‘rum." (1994:12;25-33). In diesen Zusammenhang ist auch Renates jugendkulturelle Orientierung einzuordnen, die sich an die Szene der ‘Raper’ anlehnt und sich sowohl auf musikalische, als auch auf modische Aspekte bezieht. Ihre Berufswahl (hauswirtschaftstechnische Angestellte) folgt Renates geschlechtsspezifischen Rollenvorstellungen von der Frau als Versorgerin der Kinder und maximal halbtags berufstätigen Mutter (vgl.1993:35;21-30). Die Hochschätzung dieser Rolle könnte in dem am eigenen Leibe erfahrenen Mangel an Fürsorge durch die eigene Mutter begründet sein. Auch wenn Renates emotionale Beziehung zu den Eltern gleichbleibend von Vertrauen und Akzeptanz geprägt zu sein scheint, sind ihre Beziehungen im sozialen Nahraum als generell inkonstant zu beschreiben. In diesen Kontext ist auch ihre frühe Trennung vom Elternhaus und der Besuch des Internats zu stellen. Renate beschreibt die Bedingungen der Trennung in auffällig rationaler Art, ohne den Eltern Vorwürfe zu machen, dass diese sie alleine gelassen haben. Besonders dem Mangel an verantwortungsbewußten Ansprechpartnern ist es zuzuschreiben, dass Renate sich generell vom Leben ungerecht behandelt fühlt. 3.2.2 Individuelle Kompetenzen bzw. Mechanismen zum Aufbau personaler Identität Renate duldet nur jene Ausländer, von deren Anwesenheit in Deutschland sie sich Vorteile in Bezug auf Freundschaften ("Ich hab’ halt meistens nur ausländische Freunde gehabt." 1994:18;36-37), kulturelle Bereicherung ("...weil alle sind Menschen. Würde es die Ausländer nicht geben, würde es bei uns auch keine Spaghettis oder so was geben ... was würden wir dann überhaupt essen, nur Kartoffeln?" 1994:20;7-12), oder durch ausländische Hilfskräfte weniger und bessere Arbeit tun zu können ("...dass die Deutschen nicht mehr so viel arbeiten müssen, die Ausländer arbeiten ja auch alle mit uns." 1994:18;7-9) erhofft. CLIX Da das Tauschgeschäft ‘Toleranz gegen Leistung’ im Umgang mit Asylbewerbern nicht aufzugehen scheint, bleiben sowohl Renates Verständnis, als auch ihre empathischen Bemühungen begrenzt. Ihr Selbstwertgefühl ist nicht zuletzt aufgrund mangelnder Bestätigung im sozialen Nahraums schwach ausgeprägt. Sie findet sich häßlich (vgl.1993:32;33) und hat Komplexe wegen ihrer Kleidung: "Ich habe immer so Schrottkleidung, vielleicht habe ich auch wegen dem schlechte Laune." (1993:33;6-11). Ihre Frustrationsschwelle ist extrem niedrig (vgl.1994:19-29) und obwohl sie diesbezüglich auch Tendenzen zu reflexiven Überlegungen zeigt ("...dass ich mich nicht wegen jedem Ding bei den Erzieherinnen so aufreg, ich weiß nicht, ich reg’ mich halt immer gleich auf. Sonst würd’ ich eigentlich nichts verändern, ich bleib’ so wie ich bin." 1994:17;13-17), führen die ständigen Auseinandersetzungen mit den Erzieherinnen im Internat dazu, dass sich Renate mehr und mehr als "Sündenbock" (1994:3;41) begreift. In ihren Problemen mit dem Internatsleben spiegelt sich Renates mangelnde Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung sowohl für die eigene Person als auch die ihr im Internat aufgetragenen ‘Sonderarbeiten’ in Form von ‘Diensten’ wieder. In schwierigen Situationen kann sie sich nicht den Auseinandersetungen mit den Erzieherinnen stellen und ist auf ihren Vater angewiesen, der für sie die Konflikte austragen muss. 4. Zusammenfassung Renates Fremdenfeindlichkeit entwickelt sich über anfängliche, durch für sie bedrohliche Erfahrungen mit Asylbewerbern in ihrem Wohnort verursachte Angstgefühle hin zu pauschalen Vorurteilen und Ausgrenzungsforderungen gegenüber den nicht-arbeitenden Asylsuchenden im allgemeinen. Im Gegensatz dazu nimmt ihre Gewaltbereitschaft kontinuierlich ab, wohl deshalb weil ab 1993 durch das gemeinsame Verbringen der Freizeit mit der Freundin, bei der sie zwischenzeitlich wohnt, und 1994 durch den Internatsbesuch und das Erlernen einer gewissen Selbstkontrolle bei eigener Aufgebrachtheit solche Situationen, in denen Renate früher handgreiflich geworden ist (hauptsächlich Auseinandersetzungen unter Freundinnen) sich nicht mehr ergeben. Renate zeigt das Bild einer Jugendlichen, die mit sich selbst und ihrer Umwelt äußerst unzufrieden ist. Diese Verdrossenheit geht über pubertätsspezifische Irritationen weit hinaus und liegt in Renates mangelnder Möglichkeit und Fähigkeit zur eigenen Lebensgestaltung begründet. Ihr Leben ist von permanenter Fremdbestimmung gekennzeichnet, angefangen mit der zeitlichen Einbindung der Eltern in ihre Berufsarbeit als Determinante des familiären Interaktionsmusters bis hin zu ihrer an das Internat gekoppelten Ausbildung. Die einzig verlässlichen Werte, die sie im Elternhaus internalisieren konnte, sind ‘Arbeit’ und ‘Leistung’. Diese Kategorien werden für Renate zum Maß von Anerkennung und sozialer Erwünschtheit. Die für sie früher zentrale Vorstellung, nach der es wichtiger war, dass Arbeit Spaß macht, als viel Geld zu verdienen (vgl.1993:26;2-10), verwirklicht sich mit der Ausbildung zur hauswirtsschaftstechnischen Angestellten nicht. Renate findet sich in einem Ausbildungsalltag wieder, den sie als mühsam und anstrengend empfindet und auf den sie mit Frustration reagiert. Diese Erfahrungen unterstützen Renates durchgängige Antipathie gegenüber Asylbewerbern, die ihrer Norm von Leistungsbereitschaft nicht genügen. Da sie zunächst unter dem zeitaufwendigen Arbeitsalltag ihrer Eltern als auch später unter der eigenen Ausbildung sehr leidet, empfindet sie es als ungerecht, dass Asylbewerber für ihre Daseinsberechtigung in Deutschland und die damit verbundene soziale Unterstützung nicht so hart arbeiten müssen wie sie selbst. Diese Schere wird sich mit Renates Überforderung durch die Internatsstrukturen möglicherweise weiter öffnen und es liegt nahe, dass sie ihre familiären und persönlichen Unzulänglichkeiten mit immer stärker werdenden Ressentiments gegenüber Asylbewerbern kompensieren wird. CLX Robert 1992 - 1994 "Nazi, das ist für mich Hitler, speziell Hitler und die, wo also Ausländer - wenn hier jetzt ein Türke wäre und ich ginge auf ihn zu und der hat mir nichts getan und ging hin mit dem Messer oder was weiß ich und würde ihn umbringen, ohne Grund, das ist für mich ein Nazi. Aber wenn jetzt zu mir einer sagt, ‘Hey, Wichser’ oder so, so mache ich mir eigentlich nichts daraus. Oder es wird rabiat oder so, ‘Hurensohn’ oder so, das betrifft mich ja nicht alleine, das betrifft auch meine Mutter, und dann werde ich rabiat." (1992: 22;1727) "Ja, ich meine gerade noch mal Rechtsradikalismus, die wollen, die meinen, es wären zu viele Ausländer. Okay, es werden immer mehr. Aber warum lassen sie dann ihre Wut an Ausländern heraus und nicht am Staat, an der Regierung? Da ist halt schwer hinzukommen. Das ist es. Also die müssen sich irgendwo abreagieren, und die finden nichts anderes wie Ausländer." (1993: 10;27-34) "Da braucht man nicht auf die Nationalität zu achten, da gibt es - auf der einen Seite gibt es Arschlöcher und auf der anderen Seite auch." (1994: 36;26-28) 1. Objektive Daten zum Lebenskontext im Überblick Robert, geb. 1979, ist katholisch und lebt bei seiner Mutter in einem kleinen, landwirtschaftlich geprägten ehemaligen Dorf (ca. 1.800 Einwohner) auf der Schwäbischen Alb, das seit der Kreisreform in den 70er Jahren ein Stadtteil der 10 km entfernten Stadt A. und zugleich wirtschaftlicher und kultureller Mittelpunkt sowie zentraler Beschulungsort in dem ansonsten schwach strukturierten ländlichen Raum ist. Er hat zwei ältere Halbschwestern, von denen eine zunächst während des Untersuchungszeitraumes noch zu Hause wohnt, aus beruflichen Gründen bald aber ebenfalls auszieht. Die Eltern hatten sich nach seiner Geburt getrennt. Sein Vater arbeitet bei der Bahn und lebt mit seiner neuen Frau ca. 1 1/2 Fahrstunden von ihm entfernt. Seine Mutter arbeitet anfangs als Näherin in einer Textilfabrik in A., verliert jedoch 1994 infolge branchenbedingter Krisenerscheinungen ihren Arbeitsplatz. Robert wohnt mit ihr und zeitweilig auch mit ihrem Freund in einem Eigenheim. Er besucht 1992-93 die Hauptschule und verfügt in dieser Zeit über ein Taschengeld von 100,-DM, das er 1993 noch durch Aushilfsarbeit in einem Zimmerei-Betrieb um 100,-DM erhöht. 1994 schließt er die Hauptschule erfolgreich ab und beginnt eine Ausbildung als Forstwirt in einem Revier, das ca. 10 km von seinem Heimatort entfernt ist. Er erhält 700,DM Ausbildungsvergütung. Bei den Befragungen ist er modisch und zunächst unauffällig gekleidet; sein Outfit entwickelt sich dann während des Untersuchungszeitraumes zu einer Mischung aus Punkund Heavystil: u.a. Springerstiefel mit roten Schnürsenkeln, Irokesenschnitt, der in einem dünnen Pferdeschwanz bis auf die Schultern ausläuft, sechs silberne Ohrringe im linken Ohr. Er ist groß und kräftig gebaut. 2. Politische Orientierungen 2.1 Allgemeine Orientierungen Robert zeigt sich zu Beginn des Untersuchungszeitraumes interessiert an Themen der Tagespolitik, setzt sich mit ihnen auseinander und nimmt im Gespräch des öfteren auf sie Bezug. Er informiert sich u.a. eigenständig über den Nationalsozialismus, noch bevor dieser Bereich in der Schule behandelt wird. Geschichte ist sein Lieblingsfach, in dem er 1994 auch seine Abschlussprüfung über den zweiten Weltkrieg absolviert. CLXI Anfangs ordnet Ro. sich klar einer politischen Richtung zu. Diese Selbsteinordnung verwischt im Laufe der Zeit allerdings und wird von einer mehr individualistischen Politikausrichtung abgelöst. Zunächst gibt er als "eigene Meinung" an: "Ich bin links" (19; 38). Inhaltlich begründet er diese Zuordnung mit der Bevorzugung einer bestimmten Musikrichtung sowie mit der Ablehnung sowohl der Nähe neonazistischer Jugendlicher zur nationalsozialistischen Geschichte (1992:20;16-18) als auch ihrer ungerechtfertigten Gewaltanwendung gegen unschuldige Menschen (1992:20;4-8): "Erstens mal gefällt mir diese Musik, zweitens mal hab ich was gegen Nazis." (1992;20;12) Neben seiner Zuordnung zu den Linken rechnet er sich in diesem Jahr auch den Heavies und den Punkern zu (Fb). Zu seinen Gegnern erklärt er Skinheads, wobei er zwischen ihnen und Neonazis nicht zu unterscheiden weiß, so dass er beide Begriffe synonym verwendet. Im darauffolgenden Jahr zeigt er sich empört über die Geschehnisse in Solingen, die für ihn zu den wichtigsten des Jahres zählen. Weiterhin rechnet er sich zu den Heavies und den linken Jugendlichen (Fb); als Gegner erachtet er, u.a. und vor allem bedingt durch diese Ereignisse, Skinheads, Hooligans und deutschnationale Gruppen. Mit der jüngeren seiner Schwestern führt er in dieser Zeit heftige Streitgespräche, da sie sich einer Clique rechtsradikaler Jugendlicher angeschlossen hat. Sie befürwortet diese Gewaltexzesse, so dass er sich in Debatten "zusammenreißen" muss, damit ihm "nicht" die "Hand ausrutscht" (1993:4;30-32). Im weiteren Verlauf des Untersuchungszeitraumes werden seine politischen Aussagen unbestimmter. So will er sich 1994 "nicht mehr ganz so krass" (1994:32;1) auf eine politische Richtung festlegen, sondern vertritt ein Muster individualisierter Politikausrichtung: "Ja, dass ich jetzt sage, dass ich eher links oder eher rechts bin. Da will ich eigentlich keine Seite an mich ziehen oder so, da will ich auf keiner Seite stehen. Oder ich vertrete meine eigene Meinung, andere dürfen ihre Meinung haben." (1994:32;3-7) Er ordnet sich selbst keiner Gruppe mehr zu, weder politisch, noch jugend- oder subkulturell. Auch gibt es für ihn keine politischen Gegner mehr. Skinheads, rechte Jugendliche und Ökos kann er lediglich ‘nicht so gut leiden’ (Fb). War er anfangs interessiert an Politik, zugleich aber auch verunsichert, weil er nicht den Eindruck hatte, noch zu durchschauen, was eigentlich politisch geschehe, und auf alles gefaßt sein zu müssen, weil die Zukunft ihm unberechenbar erschien (1992:Fb), so steht er der institutionellen Politik 1994 völlig distanziert gegenüber: "Immer große Sprücheklopfer, Versprechungen bis - das Blaue vom Himmel und später, wenn du sie gewählt hast, ein leeres Versprechen." (1994:30;23-25) Für Geschichte allerdings interessiert er sich weiterhin und eignet sich dabei nicht nur historische Kenntnisse an, sondern entwickelt dabei ein historisches Bewußtsein, das ihm hilft, komplizierte Alltagsgeschehnisse einzuordnen und sich zum Beispiel in die Lage Asylsuchender hineinzuversetzen. 2.2 Ungleichheitsvorstellungen/Gleichheitsvorstellungen im Kontext von Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus Ro. zeigt über den Untersuchungszeitraum hinweg konstant eine entschiedene Befürwortung der Gleichwertigkeit aller Menschen und gleichzeitig eine Wahrnehmung problematischer Begleiterscheinungen des Asylrechts und der Lebensbedingungen der hier arbeitenden Migranten. Die Auseinandersetzung mit Asylmißbrauch (1992), mit Arbeitsplatzmangel (1993) und individuell ungerechtfertigten Verhaltensweisen von Ausländern (1994) führt nicht zu einer Untergrabung seiner Gleichwertigkeitsüberzeugungen. Diese Überzeugungen werden vielmehr bestärkt durch seine Kenntnisse über Politik und Geschichte und über das früh entwickelte historische Bewußtsein. CLXII Im einzelnen spricht Ro. sich 1992 unter dem Gesichtspunkt der Menschlichkeit sowohl für die Gleichwertigkeit aller Menschen - "Jeder ist eigentlich gleich" (1992:27;14) - als auch für Hilfe für Kurden - "Ich finde, dass man denen helfen sollte, das sind ja auch Menschen" (1992:27;25-26) - und für das Asylrecht aus: "Das sind Menschen wie wir" (1992:21;2). Zugleich ist er entschieden gegen Asylmißbrauch ("Schweinerei"; 1992:21;7) und gegen eine Haltung von Ausländern, die zur wirtschaftlichen Nutznießung auf Kosten des deutschen Staates führt. Zudem hält er es für "ungeschickt", wenn zukünftig die Anzahl der Ausländer, bei denen er nicht nach jeweiligem Status zu unterscheiden weiß, die Anzahl der Deutschen in der BRD übertreffen sollte (1992:22;13). Nicht aus Furcht vor Überfremdung hält er dies für "ungeschickt", sondern vielmehr aus Sorge vor einer Verarmung der BRD, die diese in eine internationale Ohnmachtsposition führen würde. Er ist stolz auf seine deutsche Nationalität, weil er mit Deutschland ebenso Wohlstand assoziiert wie Wohlbehagen (1992:23). 1993 zeigt Ro. sich emotional aufgewühlt durch die Geschehnisse in Solingen. Er erklärt sich diese Gewalttaten mit politischem Fanatismus, Suche nach Zugehörigkeit und Versuche des Selbstbeweises der Täter (1993:2). Unter dem Gesichtspunkt der prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Menschen - "Ausländer sind auch Menschen, auf das kommt es an." (1993:54;7-8) - befürwortet er die rechtliche Gleichstellung von Migranten in der BRD und spricht sich für Toleranz gegenüber fremden religiösen und kulturellen Gepflogenheiten aus (1993:55). Deutsche haben seines Erachtens in der BRD kein Vorrecht auf einen Arbeitsplatz. Anderseits ist Arbeitslosigkeit für ihn mittlerweile eines der gesellschaftlichen Hauptprobleme neben dem Umgang mit Ausländern in der BRD. Ro. geht hier nicht von einer eigenen potentiellen Betroffenheit aus; denn seine berufliche Zukunftsperspektive erachtet er aufgrund einer mündlichen Zusicherung eines Zimmermannmeisters, ihn zu beschäftigen, als sicher. Er versetzt sich vielmehr in die Lage von Arbeitsplatzsuchenden, denen seines Erachtens Ausländer zwar Arbeitsplätze wegnehmen - "Gerade Ausländer sind viele da, und die nehmen schon Arbeitsplätze weg. Nichts gegen Ausländer, aber das stimmt" (1993:53;8-10) -, die aber lernen müssten, mit dieser Konkurrenz zu leben, weil es wichtig sei, "dass jeder irgendwie arbeiten kann" (54;37). Das Asylrecht sollte seines Erachtens beibehalten, aber verschärft werden, und auch dem `Import` von billigen Arbeitskräften aus Polen sollte ein Riegel vorgeschoben werden. 1994 vertritt Ro. immer noch das Motto der Gleichwertigkeit aller Menschen und meint bezüglich Nichtdeutschen: "Das sind genauso Menschen wie ich." (1994:36;21). Nach wie vor ist er stolz, Deutscher zu sein, wobei er als Begründung die Aufbauleistungen der Deutschen nach dem 2. Weltkrieg anführt (1994:45). Allerdings führt er auch an, dass man sich als Deutscher wegen des Nationalsozialismus und wegen der fremdenfeindlichen Vorkommnisse in jüngster Zeit durchaus schämen kann (1994:44-45). In gewisser Weise entsprechend seiner nunmehr individualisierten Politikausrichtung personalisiert und individualisiert er Verantwortungszuschreibungen für gesellschaftliche Problemlagen: "Da braucht man nicht auf die Nationalität zu achten, da gibt es - auf der einen Seite gibt es Arschlöcher und auf der anderen Seite auch." (1994:36;26-28) Nationalität ist für ihn nach wie vor irrelevant, wie jetzt auch Partei- oder politische Richtungszugehörigkeit. Offenbar zählt für ihn zur Zeit nur, seine Ruhe haben zu wollen: "Solange man mich in Ruhe läßt, laß ich auch den am Leben, wo mich am Leben läßt." (1994:33;34-36). 2.3 Gewaltakzeptanz Ro. ist in seiner Lebensgeschichte und in seinem Alltag mit der Ausübung körperlicher Gewalt vertraut. Er bezeichnet sich selbst als ein Produkt der Vergewaltigung seiner Mutter durch den Vater - "Und meine Mutter hat er vergewaltigt, dabei bin ich dann herausgekommen" (1992: 13;28f.) -, er weiß von einem sexuellen Mißbrauchsversuch CLXIII seines Vaters an seiner älteren Schwester, er erwähnt heftige Schläge als völlig überzogene Sanktionsform seitens eines ehemaligen Freundes seiner Mutter ("zwei Zahnstückchen verloren"; 17;39 ff.), kennt körperliche Strafen in Gestalt von "Ohrfeigen" von seiner Mutter (die ihm aber lieber, weil schneller vorübergehend, sind als Liebesentzug ;1992: 8f.) und führt einen Bekannten seiner Mutter an, der wegen Tötung dreier Ausländer im Gefängnis seine Strafe verbüßt (1992). Hinzu kommt, dass Ro. selbst Erfahrungen mit "Klopfereien" im Cliquenverbund hat (s.u.) Trotzdem läßt Ro. selbst sich nach eigenem Bekunden nicht schnell zu Gewalttätigkeit provozieren - "ich bin nicht der aggressive Typ, das möchte ich auch nie werden" (1994: 15;20f.) - es sei denn, jemand nennt ihn "Hurensohn": "... dann werde ich rabiat!" (1992:22;27). Dieser Ausdruck bedeutet für ihn wohl auch gerade wegen der ihm bekannten Umstände seiner Zeugung eine schwerwiegende Ehrverletzung seiner Mutter und seiner selbst. Während Ro. auf andere Formen der Provokation aufgrund eines sicheren Selbstwertgefühls nicht reagiert und sich sogar von anderen als "Angsthase" und "Hosenscheißer" beschimpfen läßt - "Ich brauche meine Ehre nicht zu beweisen. Ich weiß, wer ich bin, was ich bin." (1994:38;36-37) -, darf ihn selbst ein Freund nicht aus Spaß ungestraft "Hurensohn" nennen: "Der hat das nie wieder zu mir gesagt. Gott sei Dank habe ich ihn nicht besser erwischt." (1994:38;30-32) Zur Ausübung von körperlicher Gewalt braucht Ro. kein Feindbild, das diese Gewalt scheinbar legitimieren würde. Üben Menschen in seinem sozialen Umfeld Gewalt aus, so sind es für ihn gegebenenfalls eher zufällig Ausländer: "Es gibt einige, wo hier also schon der Größenwahn gepackt hat." (1992:37;36-37). Es drängt sich bei seinen Ausführungen der Eindruck auf, dass Ro. konkrete Menschen wegen ihres Verhaltens, nicht aber wegen ihrer Gruppenzugehörigkeit ablehnt. Ebenso ist dies bei der Darstellung einer Schlägerei mit Rapern zu erkennen. Auch hier betont er, nichts grundsätzlich gegen Raper einzuwenden zu haben, sondern nur gegen "spezielle" (1992:30;37) negativ eingestellt zu sein. Notwehr, das Beschützen der Schwächeren und Verantwortungsgefühl gegenüber seinen Freunden sind für Ro. legitime Gründe für eine Schlägerei. Für eine evtl. auftretende Notwehrsituation hat er sich 1992 mit einem Taschenmesser ausgestattet. Seine Bereitschaft, Schwächere auch mittels Gewalt zu schützen, tritt auf, wenn er und seine Freunde Gewalttätigkeit von "Großen" gegenüber "Kleinen" beobachten; d.h. für ihn gilt bei Schlägereien ein klarer Fairneßkodex (1992:30). Dieser zeigt sich auch darin, dass er in Schlägereien andere traktiert, bis sie am Boden liegen, dann allerdings für ihn der Kampf zu Ende ist. Er würde nicht weiterschlagen oder treten, "außer er muckt dann nochmal auf" (1992:31;21). Seinen Freunden hilft er in jedem Fall, auch wenn er selbst in der jeweiligen Situation am liebsten eher keine Gewalt anwenden würde: "Dann habe ich gesagt, ‘Okay, wenn ihr Probleme habt, ich mache mit’, aber sonst, wenn sie mir nichts getan haben, dann mache ich eigentlich nicht mit, außer ich meine jetzt, ich helfe meinen Freunden, das ist egal in welcher Situation." (1992:29;34-38) Bei gewalttätigen Auseinandersetzungen sieht er sich jedoch nicht nur als der heldenhafte Retter in der Not und schon gar nicht als Opfer, sondern er weiß genau, wann er selbst nicht ganz unschuldig am Geschehen war. Bei einer dann erfolgenden entsprechenden Reaktion ist für ihn Gegengewalt fair und begründet: ""Ich meine, wenn ich irgendwie eine blöde Gosch habe und bekomme eine drauf, dann weiß ich, warum." (1993:4;10-11). Neben gelegentlichen Schlägereien läßt er weitere alltägliche Formen von Devianz erkennen. So erwähnt er 1992, beim Ladendiebstahl erwischt worden zu sein und sich nunmehr nur noch an Vandalismusaktionen wie Zerstörung von Blumenkästen und Zweckentfremdung von Mercedessternen zu beteiligen. Ab 1993 treten diese Delinquenzbzw. Gewaltformen nicht mehr auf. In diesem Jahr wird allerdings deutlich, dass sich in einer Ohnmachtssituation seine Wut in Form von Gewalt entladen kann. So schlug er in CLXIV einem Streit mit seiner ehemaligen Freundin die Tür ihres Elternhauses ein. Wie schon bei seinen Wutausbrüchen im Kontext von Ehrverletzungen wird nach seiner Wahrnehmung ein solch destruktiver Einsatz von Körperkraft durchaus durch seinen jeweiligen ‘Erfolg’ nachträglich gerechtfertigt: "Und dann hat mich die Wut gepackt und habe halt schier die Haustür eingeschlagen. Das war alles. (...) Dann war sie aber lammfromm." (1993:45;32-36) 1994 ist er sich darüber im klaren, dass eine solche Ausübung von Gewalt ihn teuer zu stehen kommen kann. Aus diesem Grunde hält er sich mehr zurück. Ro. wendet über den Untersuchungszeitraum kontinuierlich keine politisch motivierte Gewalt an. Ein derartiges Verhalten lehnt er grundsätzlich ab, weil er jegliche Schuldzuschreibung von gesellschaftlichen Problemen an unschuldige Menschen verurteilt. Wenn Ausländer sich wie in Solingen gegen rechtsextremistisch motivierte Gewalt zur Wehr setzen, so versteht er dieses Handeln als einen Ausdruck der Selbstverteidigung: "Ich hätte genau dasselbe gemacht (...) wenn ich nichts gemacht hätte, und einer schlägt mir eine hin, dann haue ich auch zurück. Das ist genau gleich" (1993:4;10-14). Allerdings lehnt er es ab, wenn aus Notwehr Rache wird, unter der dann wieder Unschuldige leiden (1993:7-8). Für Gewaltexzesse wie in Solingen würde er eine Ausweitung institutioneller Gewaltausübungsmöglichkeiten zu `pädagogischen Zwecken` begrüßen: Seines Erachtens sollte man die Täter "auch mal ein bißchen anfackeln (...), dann wissen sie, wie schlimm das ist" (1993:3;12-18). Grundsätzlich befürwortet Ro. darüber hinaus eine weitere Aufrüstung der Polizei zum Zwecke des Kampfes gegen Kriminalität. 3. Zusammenhang von politischer Orientierung und Gewaltakzeptanz mit sozialen Erfahrungen und Erfahrungsstrukturierung 3.1 Erfahrungen und Bearbeitungsressourcen 3.1.1 Problembelastungen und zentrale Interessenlagen Im Laufe des Untersuchungszeitraumes haben sich Ro.`s zentrale Problembelastungen reduziert. 1992 nennt er vor allem Schwierigkeiten mit seinen Eltern (vgl. Kap. 3.1.2). 1993 gibt er an, keine Probleme zu haben. 1994 bleibt er dabei, vermerkt aber doch starke Bedürfnisse nach einer verbesserten Wohnsituation und nach mehr Zeit. 3.1.2 Erfahrungen im sozialen Nahraum und seine sozio-emotionalen Ressourcen Ro. ist im Vergleich mit den belastenden Aspekten der familiären Vergangenheit 1992 mit seinem Leben bei seiner Mutter und seiner Stiefschwester recht zufrieden. Seine alleinerziehende Mutter ist gezwungen, ganztägig zu arbeiten und kann in ihrem engen zeitlichen Rahmen und vor allem auch aufgrund ihrer Stimmungsschwankungen und einer Alkoholismusgefährdung dem Jungen wenig Rückhalt und Unterstützung bieten. Diese Umstände räumen ihm im Vergleich zu anderen Freunden in seinem Alter einen relativ großen Freiraum im Hinblick auf Ausgangsregelungen, Taschengeldverwendung, Kleidungsstil u.ä. ein, bieten ihm auch ein Gefühl von Sicherheit (vgl. 1992: 17;10f.) und Akzeptanz als eigenständiger Persönlichkeit - "Sie nimmt mich schon für voll" (1992; 16,15) -, können aber seinen Bedürfnissen nach Geborgenheit und Kommunikation, auch wenn gilt: "Wir sind eigentlich schon ganz offen, reden soviel untereinander; wenn ich etwas zu sagen habe, kann ich das sagen" (1992: 5;34f.), nur eingeschränkt Erfüllung bieten. Dahingehende sozio-emotionalen Ressourcen findet er mehr bei der neuen Frau seines Vaters. Er selbst fühlt sich für seine labile und "launische" (vgl. 1992; 4;29) Mutter verantwortlich und drängt sie, angemessen mit Alkohol umzugehen. In der Vergangenheit hat er auch versucht, sie gegenüber ihrem gewalttätigen ehemaligen Freund zu beschützen. Im Unterschied zu seiner Kindheit steht er aufgrund seiner mittlerweile bestehenden Kenntnisse über Alkoholmißbrauch und Gewaltausübung gegen seine Mutter und seine Schwester inzwischen dem Vater distanziert und kritisch gegenüber. Insbesondere lehnt er ‘Von-Mann-zu-Mann’-Gespräche über Freundschaften mit Mädchen unter Hinweis auf den CLXV Mißbrauchsversuch ab. Unproblematisch ist das Verhältnis zu ihm keinesfalls, und er besucht ihn deshalb vor allem wegen dessen Ehefrau. Im wesentlichen bleiben diese emotionalen Verhältnisse bis Ende des Untersuchungszeitraumes gleich gelagert. 1994 hat seine Mutter - inzwischen arbeitslos - einen neuen Freund, und Ro. schläft oftmals wegen Blockunterrichts wochenlang nicht mehr zu Hause, sondern bei einem Ausbildungskollegen und Freund. Allerdings unterstützt er sie mittlerweile finanziell. Seinen Vater besucht er seit seiner Trennung von der Ehefrau nur noch, um die Alimente abzuholen, die dieser nicht pünktlich zahlt. Dessen ( inzwischen Ex-)Frau sieht er zu seinem Bedauern nur noch selten. Mit seiner jüngeren Schwester hat er in familiärer Hinsicht die engste Beziehung. Im Verlaufe des Untersuchungszeitraumes zieht diese von zu Hause aus, so dass er sie seltener sieht. Von ihr fühlt er sich durchgängig akzeptiert und unterstützt, er kann sich auf ihre tatkräftige Hilfe und auf ihre Gesprächsbereitschaft verlassen. Unter seinen sonstigen sozialen Kontakten spielen die Mitschüler in seiner Klasse eine eher untergeordnete Rolle. Das Verhältnis zu ihnen ist ebenso oberflächlich wie unkompliziert. Wichtiger sind ihm seine 5-6 z.T. ausländischen Freunde, mit denen er in einer Clique einen großen Teil seiner Freizeit verbringt. Entweder geht er mittags zu ihnen mit nach Hause, weil er nicht weiß, wohin er sich begeben soll, oder er trifft sich mit ihnen im Jugendzentrum. Er kommt erst gegen Abend nach Hause, wenn seine Mutter wieder anwesend ist. Wichtig an dieser Clique ist ihm der bedingungslose Zusammenhalt ("wie Pech und Schwefel"; 1992: 34,13), das gegenseitige "vollste(s) Vertrauen" (1992: 30;5) sowie die Gesprächs- und die selbstverständliche Hilfsbereitschaft untereinander. Letztere bezieht sich auch auf gewalthaltige Solidarität bei (in diesem Fall nur verbalem) Angriff: "...oben am Bahnhof waren mal so Typen, auch rechts, und die haben zu einem Kumpel von mir gesagt.... `Scheiß Ausländer!` und der hatte überhaupt keinen Grund gegeben, der hat nichts gemacht und so, dann haben wir uns zusammengesetzt, dann haben wir darüber geredet, was sollen wir jetzt da tun, dann haben sie gesagt, denen hauen wir eine auf die Schnauze, dann habe ich gesagt: `O.k., wenn ihr Probleme habt, ich mache mit`... ich helfe meinen Freunden, das ist egal in welcher Situation..." (1992: 29;26ff.) Das politische Einstellungsspektrum der Freundesgruppe beschreibt er als seltsame Mischung von "Heavy, Punk, also mehr, wir sind gerade alle mehr links, links, also etwas rechts" (1992: 35;24f.) und fährt dann, in der Absicht zu erläutern, fort: "gerade so zu denen, die wir nicht ausstehen können, wir gehen nicht darauf zu, dass man gleich draufschlägt, man redet dann mit dem, und dann wenn es sich entsprechend ergibt, bekommen sie eine auf die Nuß oder auch wir und dann ziehen wir ab. So sind wir " (ebd.). Mit Beginn der Berufsausbildung sieht er diese Freunde weniger. Im Laufe des Untersuchungszeitraumes hat er gelegentlich Freundinnen, wie seine anderen Freunde auch, aber ohne mit ihnen ernsthaft engere Beziehungen aufzubauen. 3.1.3 Medienrezeption und sonstige Ressourcen politisch relevanter Information Wie erwähnt interessiert sich Ro. stark für Geschichte und besorgt sich eigenständig Bücher zu dem ihn besonders fesselnden Thema "Nationalsozialismus". Diese Informationen, die erweitert werden durch den schulischen Unterricht, bringt Ro. in einen Zusammenhang mit seinen Reflexionen über aktuelle politische Themen und Fragestellungen, so dass bei ihm von der Herausbildung eines historischen Bewußtseins gesprochen werden kann. Informationsträger politischer Informationen sind vor allem Berichte im Fernsehen. Zeitungen liest er selten, hingegen Illustrierte regelmäßig. Mit seiner Mutter redet er eher weniger über politische Tagesthemen, während er sich mit seiner Schwester intensiv auseinandersetzt. Sie bewegt sich seit 1993 in einer rechtsextrem orientierten Clique. Obwohl Ro. dies nicht so wahrnimmt, scheint es doch so, als wenn sie auf seine politische Entwicklung einigen Einfluss ausübt. Hinzu kommt, dass er zeitweilig mit einem Mädchen aus dieser Szene befreundet ist. Lehnt er 1992 rechtsextremistische CLXVI Jugendliche noch entschieden ab, so hat er 1994 auch Bekannte, die sich zwar in einer rechtsextremistischen Szene bewegen, ihm aber menschlich sympathisch sind: "Und seitdem kennt man sich, ja. Und da hat keiner gesagt, ‘Hey, linke Sau’ oder so. Das ist alles friedlich zugegangen, haben zusammen gelacht, haben zusammen Scheiß gebaut, zusammen nach Hause gelaufen im Vollsuff, und das war es."(1994:37;24-29). Zunächst nur über Bekannte seiner Schwester, später auch über "Kumpels" und über seinen Vater kommt Ro. seit 1993 zudem an rechtsradikale Musik. Sein Vater kann ihm entsprechende CDs besorgen, die auf dem Verbotsindex stehen. Ro. reizt dabei nicht der Hauch des Verbotenen, sondern er findet Gefallen an der Musik wie auch an den Texten jener Lieder, die individuelle Gewaltausübung thematisieren - Texte also, die seines Erachtens "ganz neutral sind" (1993:39;7): "Ich meine, so vom Text, ja, es geht. Aber ich meine, ich denke nicht daran, dass ich jetzt da sage, ich höre rechtsradikale Musik, also muss ich auch ein Rechtsradikaler sein. Und mir gefällt die Musik. Und ab und zu sagt halt einer, ‘Was hörst du auch für eine Musik’, dann sage ich, ‘Mir gefällt sie. Und dann werde ich halt auch immer blöd angeschaut." (1993:38;34-40) Hierin ist vermutlich eine der Ursachen dafür zu sehen, dass Ro. sich im Laufe des Untersuchungszeitraumes keiner politischen Richtung mehr zuordnen will. 3.1.4 Erfahrungen mit und Ressourcen von gesellschaftlicher und politischer Teilhabe Ro. zeigt frühestens 1994 zwar eine schwache, durch vermutete geringe Erfolgsaussichten und ein knappes Zeitbudget sogleich eingeschränkte Engagementbereitschaft in Fragen des Umweltschutzes (vgl. 1994: z.B. 31), engagiert sich aber in keinem Verein und in keinerlei Gremien zwecks Erreichung gesellschaftlicher und politischer Ziele, zumal er solche auch nicht als für ihn wirklich bedeutsame Anliegen zu erkennen gibt. In der Schule fühlt er sich weder ohnmächtig, noch zeigt er sich interessiert, an der Gestaltung des Schullebens mitzuwirken. Seine politischen Ansichten sind offenbar für ihn primär eine persönliche Angelegenheit. Institutionelle Politik nimmt für ihn mehr und mehr Züge des Absurden ("alle reden über Kohl, dabei macht er doch gar nichts"; 1994: 28; 31), Verlogenen (vgl. ebd.: 43;27) und des Ausbleibens positiver Ergebnisse an: "Die Politik, was die machen, die kannst Du gleich untern Teppich kehren." (1994: 29;30) 3.2 Kategorien, Kompetenzen und Mechanismen der Erfahrungsstrukturierung 3.2.1 Zentrale Bezugspunkte sozialer Identität Ro. hat kein übersteigertes Nationalempfinden. Er ist wegen der Aufbauleistungen nach dem 2. Weltkrieg, des Wohlstandes und seines Wohlgefühles in diesem Land stolz, ein Deutscher zu sein. Allerdings ist er zugleich durchaus kritisch Deutschen gegenüber, die nach seinem Dafürhalten aus der nationalsozialistischen Geschichte nichts gelernt haben und heute wieder rechtsradikal motivierte Gewalttaten ausüben bzw. befürworten. Bedingt durch seine Geschichtskenntnisse ist er grundsätzlich für das Asylrecht, ohne aber Fälle zu beschönigen, bei denen er dessen Mißbrauch wahrnimmt. Für Ro. zählt nicht die gruppale oder ethnische Zugehörigkeit, sondern der Charakter und die Menschlichkeit von Einzelpersonen. Ro.s regionaler und lokaler Sozialraum ist als Beeinflussungsfaktor seiner politischen Überzeugungen und seiner Gewaltbereitschaft nicht erkennbar. Ein lokales Territorialverhalten z.B. aufgrund mangelnder Angebotsvielfalt oder etwaiger Konkurrenz um Mädchen ist nicht vorhanden. Entscheidend sind vielmehr seine biographischen Erfahrungen und die damit in Verbindung stehenden Beziehungen im sozialen Nahraum. Bedingt durch eigene Erfahrungen ist ihm die Ausübung körperlicher Gewalt weder fremd noch grundsätzlich moralisch bedenklich. Andererseits aber lehnt er aus dem gleichem Grunde unbegründete CLXVII Gewalt gegen Wehrlose und Unschuldige entschieden ab. Er selbst sah in seiner Vergangenheit sich und auch seine Mutter und seine Schwester einer solchen Gewalt ausgeliefert. Diese Opferrolle scheint ihm (noch) so präsent zu sein, dass er aufgrund von Empathie ausdrücklich politisch motivierte Gewalt gegenüber Menschen, die für z.B. Ressourcenknappheit in der BRD nicht persönlich verantwortlich gemacht werden können, verurteilt. Hinzu kommt, dass er ausländische Freunde hat, mit denen er sich aufgrund eines ihm sehr wichtigen Ethos von bedingungslosem freundschaftlichem Zusammenhalt solidarisch fühlt und auch alltagspraktisch in Konfliktsituationen notfalls gewaltsamwehrbereit zeigt. Sein Sozialstatus ist ihm weder explizit wichtig, noch erscheint ihm ein späterer gesicherter Lebensstandard gefährdet. Er ist nicht leistungsorientiert. In der Schule macht er aufgrund seiner Existenz als ‘Schlüsselkind’ fast nie Hausaufgaben, in seinem Beruf interessiert er sich nicht besonders für eine etwaige Karriere. Seine persönliche Zukunft erscheint ihm nie wegen der Ressourcenknappheit in der BRD gefährdet. Für die Arbeitslosigkeit nimmt er die Zahl der Ausländer als eine der Ursachen an, ohne jedoch jene Menschen persönlich dafür verantwortlich zu machen. Ein eher geringes schulisches bzw. berufliches Aspirationsniveau und die Mentalität eines bescheidenen "Über-dieRunden-kommen-Wollens" entfaltet anscheinend eine Schutzwirkung vor übersteigerter Konkurrenzorientierung und daraus abgeleiteten Ausgrenzungsbestrebungen. Die Beachtung der ‘Menschlichkeit’, d.h. für ihn die Beurteilung von Sachlagen und Personen mit Bezug auf den jeweiligen einzelnen Fall, die sich durch all seine Überzeugungen zieht, spiegelt sich auch in seinen jugendkulturellen Orientierungen. Nach Selbstzuordnung Heavy- und Punk-Fan sowie zumindest anfänglich ‘Linker’, beurteilt er andere Menschen weder nach ihrer jeweiligen Gruppenzugehörigkeit, noch nach ihrer Nationalität oder ihrem Status. Wenn er sich mit anderen prügelt, so geschieht dies aus persönlichen Gründen, niemals aber aufgrund jugendkultureller Abgrenzung. Skinheads und Rechtsextremisten lehnt er aufgrund von ihnen nachgewiesenen oder zugeschriebenen fremdenfeindlichen Übergriffen wie in Solingen ab, zugleich aber mag er seine Schwester und findet eine Freundin, die sich beide in einer rechtsextrem orientierten Clique bewegen; freilich nicht, ohne zumindest seine Schwester in heftige Diskussionen zu verwickeln.. Es scheint fast, als eröffnete diese individuumszentrierte Beurteilungsfolie auch gewisse Anfälligkeiten für rechtsextrem konturierte kulturelle Muster und damit auch zumindest für eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber den von ihnen transportierten Inhalten. Angestoßen von Personen, die ihm sympathisch sind, ist er durchaus geneigt, sich trotz eigentlich entgegengesetzter politischer Ausrichtung für "rechte" Musik zu erwärmen und läßt seine ursprünglich explizit "linke" politische Linie verschwimmen. Die Abschwächung seiner "Links"-Verortung scheint auch durch die Auflösung der FreundesBindungen mitbedingt zu sein, die ihn in Kontakt und ggf. Schulterschluss mit Ausländern gebracht hatten. Ein ihm über seine Ausbildung bekannt gewordener neuer Freund steuert allerdings mit seiner "linken" Orientierung einem zu engen Anschluss an "Bekannte im Rechtsradikalenkreis" entgegen. Nur vordergründig betrachtet ist für seine politische Sozialisation die Geschlechtsspezifik ohne Bedeutung. Einerseits bewegt er sich zwar weder in einer ‘Männlichkeit’ oder ‘Härte’ aggressiv-offensiv demonstrierenden Clique, noch können ihn Beleidigungen seiner ‘Männlichkeit’ ("Hosenscheißer", "Angsthase") zu Schlägereien provozieren. Er ist zudem nicht zu stolz, vor seinem Gegner davonzulaufen, wenn er Gewalt entgehen will. Offensichtlich braucht Ro. diese Formen der Selbstgewißheit nicht, da er sich seiner selbst sicher ist. Vermutlich steht er solchen vermeintlichen ‘Männlichkeitsbeweisen’ aufgrund eigener Opfererfahrungen distanziert gegenüber. Andererseits ist er alltäglicher Gewalt `unter Männern bzw. Jungen` auf allerdings niedrigem Eskalationsniveau zum Zwecke der Selbstwertsicherung nicht abgeneigt und tritt als "rabiater" Verteidiger bzw. Rächer seiner Mutter auf den Plan, wenn er sie und damit auch sich sexuell konnotierten Beleidigungen CLXVIII ausgesetzt sieht. In ähnlicher Weise gewaltbereit solidarisiert er sich mit Schwächeren und steht er bedingungslos zu seinen Freunden. Hier scheint einerseits die erlebte Selbstverständlichkeit von Gewaltausübung zu Konfliktregelungszwecken, die er in seinem nahen Umfeld, vor allem in der Familienbiographie, erlebt (hat) und andererseits eine aus der familiären Situation ableitbare besondere Verletzlichkeit seiner Familienehre durchzuschlagen. 3.2.2 Individuelle Kompetenzen bzw. Mechanismen zum Aufbau personaler Identität Ro. verfügt über außerordentlich viel Toleranz gegenüber anderen Menschen und anderen persönlichen Meinungen. Für ihn sind die Mitmenschen allesamt Menschen wie er auch, Personen, die ihren Weg gehen und ihr Auskommen suchen müssen, dabei aber andere Menschen in Ruhe lassen sollten. Dabei fällt es ihm nicht schwer, Empathie mit (ethnischen) Minderheiten zu zeigen. Vermutlich ist dieser Kompetenzkomplex insofern ein Verarbeitungsergebnis seiner Erfahrungen, als Kind eigentlich unerwünscht gewesen und selbst nicht auf Rosen gebettet zu sein, als er darüber Verständnis für Menschen in offenbar unverschuldet schwierigen sozialen Lagen aufbringt. Bei Strafe eines Verlustes der letzten Geborgenheitsquelle, die ihm noch blieb/bleibt, sah er sich zudem gezwungen, als Kind einer alleinerziehenden Mutter deren jeweilige Freunde akzeptieren und außerdem die ihm nahestehende Schwester mit ihren politisch zu ihm entgegengesetzten Meinungen dulden zu müssen. Früh entwickelt Ro. Reflexivität auf persönlicher und auf politischer Ebene. Immer wieder versetzt er sich in andere und argumentiert aus deren Position heraus. Diese Reflexivität führt zur Ablehnung der Beurteilung von Menschen nach unpersönlichen Äußerlichkeiten wie ihrer Nationalität, ihrer politischen Zugehörigkeit oder ihrem Status. Seine Reflexivität scheint dabei auch das Resultat einer Gesprächs-Offenheit in der Restfamilie und der ihm von der Mutter zugestandenen Freiheiten zu sein, die ihm eigene Entscheidungen und viel Selbständigkeit (bei geringen verbindlichen Setzungen, allerdings nicht Vernachlässigung oder gänzlich aufgegebener mütterlicher Kontrolle und Sanktionsmacht) abverlangen. In Auseinandersetzungen zeigt er sich schon früh konfliktfähig. So geht er auch schwierigen Beichten von eigenen Missetaten (kleinere Diebstähle, Vandalismus im Cliquenverbund) gegenüber seiner Mutter im allgemeinen nicht aus dem Weg und streitet sich politisch-inhaltlich mit seiner Schwester, ohne sich deshalb emotional von ihr zu entfernen. Andererseits läßt er sich aus freundschaftlicher Solidarität bzw. Hilfsbereitschaft leicht in Gewalthändel hineinziehen und ist bei ihm die Gefahr nicht gebannt, dass er bei ihn selbstwertrelevant treffenden Provokationen gewalttätig ‘ausrastet’ . Allerdings schützen ihn Fairneßregeln seiner Gewaltmoral davor, die Gewaltsamkeit gänzlich eskalieren zu lassen. Gleichwohl sein Selbstwertgefühl vor allem aufgrund seines Daseins als zumindest ursprünglich ungewolltes Kind, ja als Resultat einer Vergewaltigung ("sie wollte mich ja abtreiben lassen"; 1992: 13;35), aufgrund von Anfeindungen durch den zwischenzeitlichen Freund der Mutter, der ihm sein Recht auf sein Zuhause zu bestreiten schien und auch aufgrund einer zumindest einmal von der Mutter geäußerten Drohung, ihn bei Ungehorsam zum ungeliebten Vater abschieben zu wollen (vgl. 1992: 9; 25ff.), erheblichen Belastungsproben ausgesetzt war, gibt sich Ro. als im ganzen selbstsicherer Jugendlicher zu erkennen, der weiß, was er will. Zu seiner Stabilität trägt zum einen die insgesamt trotz mancher Mankos doch hinreichende Basis-Sicherheit bei ("wenn es hart auf hart kommt, da halten wir zusammen, da kann kommen, was will"; 1994: 25;23), die ihm Mutter und jüngere Schwester sowie seine offenbar nicht zuletzt über den gemeinsamen Besuch des Jugendzentrums zusammengehaltene Freundesgruppe zu vermitteln vermögen. Zum anderen verläuft seine schulische Laufbahn sowie seine berufliche Integration seinem Aspirationsniveau entsprechend ungestört und normal, so dass in diesen Bereichen keine Anerkennungsdefizite erwachsen. CLXIX 4. Zusammenfassung Ro. bietet das Bild eines Jungen, der aufgrund seiner eigenen Sozialisation und aufgrund der frühen Entwicklung eines historischen Bewußtseins Gleichheitsvorstellungen entwickelt, die sich weder durch seine Gewaltakzeptanz, noch durch die Wahrnehmung eigener und/oder gesellschaftlicher Problemlagen oder durch Freundschaft bzw. Bekanntschaft mit rechtsextremistisch orientierten Jugendlichen untergraben lassen. Während er sich zu Beginn des Untersuchungszeitraumes noch als politisch "linken" Jugendlichen einordnet, vertritt er gegen Ende des Untersuchungszeitraumes individualisierte Politikorientierungen, die eine politische Zuordnung auf der Rechts/Links-Skala nicht mehr zulassen. Die Ursachen für diese Entwicklung liegen vor allem in seinen ausgeprägten Kompetenzen zum Aufbau personaler Identität, die ihm trotz äußerst widriger Ausgangsbedingungen Optionen für die Entwicklung von Selbstsicherheit als eigenständige Persönlichkeit bieten, in einer Beeinflussung, wenn auch nicht Verformung durch rechtsextremistisch eingestellte Sympathieträger aus seinem unmittelbaren sozialen Umfeld bei gleichzeitiger Abschwächung der bisherigen Kontakte zu alten, u.a. ausländischen Freunden und in seiner Enttäuschung über institutionelle Politik, die es ihm nicht mehr gestattet, sich politisch zuordnen zu können. Seine Gewaltakzeptanz bleibt über den Untersuchungszeitraum hinweg in ihrem Ausmaß und in ihren Konturen konstant. Sie zeigt sich nicht aggressiv-offensiv, sondern als in eine Moral kämpferischer Verteidigungs-Solidarität eingebundene Gewaltbereitschaft und tätigkeit, die das Handlungsfähig-Bleiben sichern soll. Sie erscheint als eingebettet in eine aufgrund Ro.`s eigener Biographie durchaus funktionale proletarische Selbstauffassung, innerhalb derer ein selbstgenügsames, wenig ambitioniertes und nur von bescheidenen Gestaltungs- und Fluchtmöglichkeiten aufgelockertes "Klarkommen" mit Lebenssituationen des Alltags vorherrscht. In diesem Sinne sind auch wohl die Sprüche zu interpretieren, die Ro. zu Anfang des Untersuchungszeitraums und an seinem Ende als charakteristisch für seine Person entwirft: "Man muss das Leben nehmen wie`s kommt und nicht anders" (1992) und: "Lieber einen Bauch vom Trinken als einen Buckel vom Arbeiten" (1994). Theo 1992 - 1994 "Ja, gerade die älteren Schüler in unserer Schule, welche mitbekommen haben, was ich für einen (ausländischen; d.V.) Namen habe. Dann haben sie eben den Namen ein wenig verunstaltet und mich ein wenig geärgert. Aber da mache ich mir eigentlich nicht viel daraus." (1992: 20;24 ff) "Ich finde, wenn sie (Asylbewerber; d.V.) schon da sind, dann sollten sie zuerst mal zufrieden sein, dass sie überhaupt wo wohnen dürfen und dass sie etwas zum Essen haben. Und wenn sie dann noch da sind und frech ‘s Maul aufreißen, das kann ich nicht verstehen." (1993: 20;3 ff) "Ich habe meine Meinung, es ist nicht (...) links, aber es ist vor allem auch nicht rechts. (...) Ich hab was gegen Nazis, das ist ganz klar, aber ich hab auch was gegen Asylanten, oder auch was gegen Scheinasylanten und auch gegen normale Asylanten, denen es früher auch wirklich schlecht gegangen ist, aber die wirklich, die sich hier drin anstellen, wie, als wenn CLXX sie Rechte hätten, wie was weiß ich was. Die kommen hierher, beanspruchen hier, was weiß ich was, und das sehe ich einfach nicht ein." (1994: 44;36 ff) 1. Objektive Daten zum Lebenskontext im Überblick Theo, geb. 1978, deutsch, griechisch-orthodox, lebt mit seinen Eltern (griechischer Vater mit deutschem Paß, türkische Mutter) und seiner achtjährigen Schwester seit seiner Geburt in der zentralen Kerngemeinde des im schwäbischen Albvorland gelegenen Dorfes T. Die Familie wohnt in einer 3-Zimmer-Mietwohnung in einem Mehrfamilienhaus mit sechs Wohneinheiten. Theo muss sich zunächst ein Zimmer mit seiner Schwester teilen, ab 1993 kann die Familie ein weiteres, von der Wohnung separiertes Zimmer im selben Haus anmieten, so dass er von diesem Zeitpunkt an über ein eigenes Zimmer verfügt. Der Vater arbeitet als "2. Produktionsleiter" (vgl. Fb. 1992) in einer kleinen Elektronikfirma, die Mutter ist Hausfrau und erledigt in Heimarbeit Aufträge für dieselbe Firma. Die Familie ist durchschnittlich gut materiell versorgt. Theo selbst besitzt neben anderem ein Keyboard, ein Schlagzeug und später auch diverse Teile eines MusikbandEquipments. An Taschengeld stehen ihm zunächst 20 DM, dann 30 DM und 1994 schließlich 50 DM zur Verfügung. daneben verdient er sich in den Sommerferien durch Jobs ca. 500 - 1000 DM hinzu. Er besucht durchgängig die örtliche Realschule und ist Mitglied im Musikverein von T. Außerdem nimmt er Angebote einer öffentlichen Musikschule wahr. 1993/94 wird er Mitglied einer von ihm mitinitiierten Rockband. 2. Politische Orientierung 2.1 Allgemeine Orientierung Theo zeigt sich insgesamt interessiert an aktuellen Themen wie Arbeitslosigkeit oder Krieg in Jugoslawien. 1992 rechnet er sich selbst zu den Heavy-Fans, Bikern und Fans von Musikgruppen, während er Fußball-Fans, Skater und Disco-Fans "ganz gut" findet. Skinheads, Hooligans und Grufties bezeichnet er als "Gegner". 1993 fühlt er sich nur noch den Heavies zugehörig und bezeichnet neben den genannten Gruppierungen nunmehr auch rechte Jugendliche als "Gegner". 1994 bewertet er Grufties nicht mehr explizit als "Gegner", bei der Selbstverortung nimmt er neben den Heavies noch linke Jugendliche hinzu (vgl. Fb.). 2.2 Ungleichheitsvorstellungen/Gleichheitsvorstellungen im Kontext von Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus Während Theo 1992 explizit keine Ungleichheitsvorstellungen in bezug auf Ausländer äußert, so ist seine politische Orientierung ab 1993 hauptsächlich von Vorurteilen gegenüber Asylbewerbern durchsetzt. Als Ursache der aktuellen Ausländerfeindlichkeit sieht er Kulturdifferenz - "es reizt irgendwie, wenn man da vielleicht Frauen mit Kopftüchern herumlaufen sieht und total bunt angezogen" (1993:19;18 ff) - und unangepaßtes Verhalten seitens der Einwanderer: "...dann bin ich vorbeigelaufen, dann haben sie dumm herumgetan und ‘pffhrr’ gemacht, dann habe ich mich umgedreht, dann waren sie schnell leise und haben sich umgedreht. Dann habe ich sie eine Weile angeschaut, dann habe ich gedacht, das lasse ich mir das nächste Mal nicht mehr gefallen." (ebd. 26 ff) Nicht nur auf Asylbewerber bezogen, sondern "allgemein eigentlich" (ebd. 20;11) kritisiert er die mangelnde Genügsamkeit und die in seinen Augen unangebrachte Anspruchshaltung der Ausländer: "Ich finde, wenn sie schon da sind, dann sollten sie erst mal zufrieden sein, dass sie überhaupt wo wohnen dürfen und dass sie etwas zum Essen haben. Und wenn sie dann noch da sind und frech `s Maul aufreißen, das kann ich nicht verstehen." (ebd. 3 ff) CLXXI Letztendlich teilt er Ausländer aber doch in die zu akzeptierende - weil schon lange ansässig und sich selbst versorgende - Gruppierung der Arbeitsmigranten und die nicht zu akzeptierende - weil alimentierte - Gruppierung der ("Schein"-) Asylanten ein: "Gerade die, wo schon über 20 Jahre hier sind, sage ich mal, die arbeiten, und Asylanten, die sind ja da, weil es ihnen ziemlich schlecht geht, oder halt die meisten sind, also es gibt ja auch Scheinasylanten, gegen die habe ich allgemein was (...). Das sind ja gerade die Leute, bei denen ist es gar nicht so schlecht gewesen, aber trotzdem hier sein wollen und nichts arbeiten und nichts tun und Hauptsache, den anderen Leuten das Geld aus der Tasche gezogen." (ebd. 20;30 ff) Diese Differenzierung der einzelnen Gruppierungen scheint seinem Status als Ausländer mit deutscher Staatsbürgerschaft geschuldet zu sein, weil er sich und seine Familie so zu den zu akzeptierenden Ausländern rechnen kann. Theo verbindet die Anzahl der Asylbewerber mit der Häufigkeit von auffälligem Verhalten - unter dem er u.a. auch Verstöße gegen hiesige Sauberkeits- und Ordnungsregeln versteht (vgl. 1994: 41;19 ff) -, einem für ihn wesentlichen Grund für Ausländerfeindlichkeit: "dadurch , dass halt viel da sind, ist es halt auch so, dass halt dann auch mehr da sind, wo ein bißchen sich daneben verhalten, und das reizt dann eben für Jugendliche, ‘Mensch, was tun die dann hier, wenn sie so frech sind’ und hauen drauf" (ebd. 21;12 ff). Den Vorwurf der Provokation (von gewalttätigen Auseinandersetzungen) erhebt er auch gegen jugendliche Migranten (vgl. 1994: 47;8 ff). Als Belege für die Ausnutzung des Staates durch bestimmte Asylbewerber führt er selbsterlebte Begebenheiten bzw. Informationen ‘aus zweiter Hand’ an (vgl. 1993: 24; 18 ff). Als Konsequenz des postulierten Mißbrauchs und Fehlverhaltens propagiert er direkte und drastische Sanktionen - "abschieben, dahin schicken, wo sie hergekommen sind" (1993:25;13) und eine strengere und differenziertere Anwendung des Asylrechts: "Wenn man nachweisen kann, dass dem wirklich richtig schlecht gegangen ist (...), oder wenn er auch politisch verfolgt worden ist oder so. Finde ich, sollte man ihm Asyl geben, aber das sollte man halt richtig nachprüfen." (ebd. 21;27 ff) Weitere Gründe für die schärfere Kontrolle des Asylrechts stellen für ihn die Belastung des deutschen Steuerzahlers und die Vorwegnahme evtl. auftauchender Spannungen zwischen deutscher Bevölkerung und Asylbewerbern dar: "Also jetzt gerade in der Wirtschaft, da ist es ja ziemlich schlecht, und ich meine, da sieht man ja nicht jeden Bürger, ich verdiene jetzt sowieso gerade so wenig, und ich muss auch noch das und das zahlen, (...) und das meiste von den Zinsen geht ja für die Ausländer drauf, und dann bekommen die mal (...) einen Haß, später mal, und dass die dann das echt nicht mehr einsehen." (1993: 25;23 ff) Latent schwingt bei Theo dabei auch die Vermutung mit, dass solche Orientierungen in der Familie traditionell weitergegeben werden und immer weitere Kreise ziehen: "Das so langsam der Haß entsteht, schätze ich mal, dann bekommt das der Sohn mit (...), und dann sagt der, da kenne ich eine Clique, die ist so ein bißchen rechts, dann geht man dort hin" (ebd. 30 ff). Obwohl Theo grundsätzlich davon ausgeht, als "Mensch" und nicht als "Rasse" akzeptiert zu werden (vgl. 1993: 32;13 f), zeigt er aus Angst vor ausländerfeindlichen Übergriffen gegen seine Person auch Vermeidungsverhalten. So stimmte er aufgrund solcher Befürchtungen dafür, dass eine geplante Klassenfahrt nach England und nicht nach Berlin unternommen werden sollte (vgl. ebd. 34;8 ff). Darüber hinaus hat er "ein bißchen Schiß, in großen Städten herumzulaufen, weil ich ein bißchen also aussehe, wie praktisch ein Ausländer. Dann meine ich, dass dann mancher vielleicht herkommt und sagt, der sieht ein bißchen komisch aus, und den verprügeln wir jetzt (...). Oder gerade wegen meinem Namen" (1993: 33;37 ff). Zusätzlich zu den o.a. Ungleichheitsvorstellungen erhebt Theo 1994 einen Provokationsvorwurf in Richtung türkische Jugendliche: "ich weiß von einem (türkischen Jugendlichen; d.V.), die haben so eine Schlägertruppe (...), die bestimmen manchmal einen als rechtsradikal, obwohl er gar nicht so ist, der hat CLXXII vielleicht mal eine Kleinigkeit gesagt oder so, oder hat ein Onkelz-T-Shirt an, dann gleich, der ist rechtsradikal, komm und drauf. Das finde ich auch nicht o.k., das ist einfach eine Schweinerei." (1994: 47;13 ff) Das Aufenthaltsrecht in Deutschland würde er eher Asylbewerbern als Aussiedlern zusprechen: "wenn jetzt gerade so Russen kommen und sagen, wir sind deutscher Abstammung, wir wollen wieder nach Deutschland, dann sollte man sagen, nein, ihr habt, in eurem Land geht es euch gar nicht so schlecht, wie Leuten in anderen Ländern, dann nehmen wir die anderen, die wirklich unsere Hilfe brauchen" (ebd. 40;3 ff). Hinsichtlich der Zunahme öffentlich sichtbarer rechtsextremistischer Phänomene vertritt Theo eine Art ‘Ost-Import-Theorie’: "Es ist gut gewesen, dass man vielleicht die Mauer runter getan hat, aber wenn man gewußt hätte, dass so viele Rechtsradikale und was für Probleme dann noch dazu kommen (...), dann glaube ich, dann hätte man es so lassen sollen, wie es gewesen ist" (ebd. 43;37 ff). Obwohl sich Theo von "Nazis" und rechten Jugendlichen distanziert - "ich hab was gegen Nazis, das ist ganz klar" (ebd. 45;3); "Die (rechte Jugendliche; d.V.) sagen, o.k., sie sind keine Nazis, aber sie sind rechts. (...) Dann sag ich, nein, das ist nicht mein Ding" (ebd. 45;23 ff) - differenziert er bei der Beurteilung rechtsorientierter Jugendlicher aus seinem eigenen Umfeld (vgl. Abschnitt ‘Clique’) mit dem Hinweis auf eine mögliche einstellungsverändernde Einflussnahme seinerseits in Rechtsradikale allgemein und persönlich bekannt: "Ich will eigentlich mit dem (rechter Kumpel; d.V.) nichts so zu tun haben, aber ich kann trotzdem mit dem reden und so, das ist noch lange kein Grund, dem irgendwie aus dem Weg zu gehen oder so. Ja, Rechtsradikale allgemein, das kann ich nicht brauchen. (...) Wieso soll ich dann nicht mit ihm reden, das ist vielleicht gerade, wenn ich dann mit ihm rede, dass er dann, das vielleicht wie ein kleiner Anschubser ist, dass er dann vielleicht auch ein wenig anders darüber denkt." (1994: 65;23 ff) 2.3 Gewaltakzeptanz Während Theo Tendenzen zu struktureller Gewaltbefürwortung zeigt, indem er sich wahrscheinlich aufgrund eigener Bedrohtheitsgefühle (s.o.) 1992 eine "straffere Gangart" in Deutschland wünscht (vgl. Fb. 1992), zeigt er durchgängig eine niedrige Gewaltakzeptanz sowohl auf der personalen als auch auf der politischen Ebene. Insgesamt zeigt er z.B. beim Thema ‘Gewalt in der Schule’ eine hohe Sensibilität für subtile Formen von Gewalt. In der Pause sei es keine Seltenheit, dass man kleinere oder jüngere Schüler "mit Tränen in den Augen im Eck hocken sieht" (vgl. Memo 1993). Seine Definition von Gewalt setzt demnach auch eine niedrige Schwelle an: "wenn man vor einem schon dasteht und einen anschreit und ein bißchen anschubst, das ist bei mir schon eindeutig Gewalt" (1993. 29;14 ff). Obwohl Theo sich grundsätzlich nicht alles "gefallen lassen" (vgl. 1993: 26;30) würde, versucht er doch, gewalttätigen Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen: "ich bin nicht gerade so ein Kämpfertyp oder so. Ich bin eher ein wenig ruhig" (1993:28;22 f). Dementsprechend trägt er selbst auch keine Waffen bei sich (vgl. 1994: 50;10 ff). Beim Beispiel Solingen wendet er sich, trotz aller Empörung über die Gewalttat, auch mit dem Hinweis auf eine mögliche Eskalation gegen kollektive Formen von Gegengewalt: "Das war ein wenig falsch, finde ich. (...) die (türkischen Jugendlichen; d.V.) hätten ihren Haß auch anders zeigen können, aber nicht gerade, dass sie so Radau machen. (...) Aber wo ich dann gehört habe, dass sie dann so, die anderen Leute so gehandelt haben, Schaufensterscheiben eingeschlagen, das habe ich auch nicht so ganz verstanden. Ich habe zwar dann auch einen Haß gehabt, aber so was machen, das würde mir eigentlich nicht einfallen. Dann heißt es wieder, dann sagen ein paar Leute, ja jetzt schaut mal die Leute an, was die jetzt machen und so, das gibt es doch nicht, und so geht es halt immer weiter." (1993: 27;5 ff) CLXXIII Allerdings begreift er Gewalt gerade im Hinblick auf die Gegenwehr von Ausländern auch als Sanktionsmittel, wenn Worte versagen: "Man kann nicht alles mit Worten klären, da muss auch ein bißchen was da sein, Gewalt, das meine ich." (1993: 28;22 ff) Im Fall ‘Mölln’ sieht er vor allem einen Sündenbockmechanismus in Verbindung mit Frustrationserfahrungen als auslösendes Moment: "dass da Jugendliche einfach Mist gebaut haben, also die haben gedacht, da gehen wir jetzt hin, werfen Molotowcocktails rein, und dann kommt man cool. (...) Bei denen zu Hause wird es wahrscheinlich auch nicht so besonders sein. (...) Also da muss der schon irgendwie eine Wut haben, dass es bei ihm zu Hause nicht so gut ist und dass er noch irgendwie jemand braucht und seine Wut an irgendwas ausläßt" (ebd. 22;21 ff). Die Schuld an solchen Übergriffen gibt er eindeutig den deutschen Jugendlichen: "Es liegt ja nicht an den Asylanten (...), diese Jugendlichen sind es ja meistens, dass die eben so sind" (ebd. 23;32 ff). Seine Betroffenheit über politisch motivierte Gewalttaten wird 1994 auch an seiner Forderung nach rigoroser Bestrafung der Täter deutlich: "lebenslänglich rein, da muss man gar nicht erst überlegen. (...) das ist einfach eine Sauerei sowas" (1994: 43;22 ff). 3. Zusammenhang von politischer Orientierung und Gewaltakzeptanz mit sozialen Erfahrungen und Erfahrungsstrukturierung 3.1 Erfahrungen und Bearbeitungsressourcen 3.1.1 Problembelastungen und zentrale Interessenlagen 1992 nennt Theo als Problembelastungen "die Wohnsituation" und "die Schwierigkeit, eine(n) Freund(in) zu finden". Ersteres scheint dem Umstand geschuldet zu sein, dass er sich mit seiner jüngeren Schwester ein Zimmer teilen muss, während letzteres vor dem Hintergrund verständlich wird, dass er zu diesem Zeitpunkt weder einen festen Freund oder eine Freundin noch eine enge Cliquenanbindung an Jugendliche aus seinem Wohnort hat (s.u.). Während sich seine Wohnsituation 1993 durch die Anmietung eines weiteren Zimmers für ihn zur Zufriedenheit löst, bleibt das Problem, feste Freundschaften aufzubauen, für ihn bestehen. 1994 hat er "zu wenig Geld" und "zu wenig Zeit", und er ist besorgt über seine "weitere Lebensplanung". Die Mitgliedschaft in einer Band fordert ihm in seiner Freizeit viel Engagement ab. Zudem hat er seit kurzem eine Freundin, die in ihrer Freizeit ebenfalls sehr beschäftigt ist, so dass sich aus Zeitgründen nur selten die Möglichkeit eines Zusammenseins mit ihr ergibt. Die Ausstattung der Band mit einer technischen Ausrüstung ist sehr teuer, und Theo muss das nötige Geld zur Anschaffung von Boxen etc. zusammensparen. Da er in bezug auf die Planung seiner beruflichen Zukunft noch sehr unentschlossen ist, möchte er die Qualifikation zum Wechsel auf ein Gymnasium erreichen. Aufgrund seiner nur durchschnittlichen Leistungen hat er aber die Befürchtung, den benötigten Notendurchschnitt nicht zu erreichen (vgl. 1994: 60;8 ff). 3.1.2 Erfahrungen im sozialen Nahraum und seine sozio-emotionalen Ressourcen Die Familie stellt für Theo durchgängig einen materiellen und emotionalen Rückhalt dar. Zu beiden Elternteilen hat er ein gutes Verhältnis. Er fühlt sich durchgängig von ihnen akzeptiert, meint Geborgenheit und tatkräftige Unterstützung von ihnen zu erhalten und kann mit ihnen über persönliche Probleme reden (vgl. Fb.). Die Eltern selbst lockern zunächst enger gesetzte Grenzen (z.B. Ausgangszeiten) altersentsprechend. Besonders der Vater zeigt sich im Hinblick auf Theos schulische Leistungen leistungsorientiert. Beide Elternteile möchten, dass Theo später einen anspruchsvollen und sicheren Arbeitsplatz bekommt (vgl. 1993: 12;38 ff). Auch mit seiner jüngeren Schwester versteht er sich "ganz gut" (1994: 23;31), wobei er sich für sie "irgendwie verantwortlich" fühlt (ebd. 24;27). Theo zeichnet die Schule als durchaus positiven Lebensbereich und ist den Anpassungsund Leistungsanforderungen dieser Institution durchaus gewachsen. Diese hat er ebenso wie die Vorgaben der Eltern (s.o.) weitgehend als eigene Lernmotivation mit der CLXXIV Perspektive auf eine bessere Zukunft internalisiert. Daraus ergeben sich für ihn 1994 im Hinblick auf die Abschlussprüfungen und den geplanten Wechsel auf ein Gymnasium aber auch ein erhöhter Leistungsdruck und die Angst, evtl. zu versagen. Er erkennt die Notwendigkeit, mehr zu lernen, hat aber Probleme, dies mit seinem angefüllten Terminkalender in Einklang zu bringen. 1992 scheint Theos soziale Verortung im Kreise Gleichaltriger eher lückenhaft zu sein. Er hat keine stabilen Gruppen - bzw. Freundesbeziehungen, Kontakte und daran geknüpfte Aktivitäten erfolgen eher gelegentlich und zufällig. Der eher sporadische Kontakt zu einer losen Freizeitclique (zu der auch Rüdiger gehört; vgl. ‘Rüdiger’) ist zudem mit leicht belastenden Erfahrungen hinsichtlich einiger Provokationen verknüpft, die von einem von ihm als "vorlaut" (1992: 15;8) eingeschätzten Jungen ausgehen. Mit vier anderen Jungen trifft er aufgrund gemeinsamer musikalischer Interessen und dem gemeinsamen Besuch des Instrumentalunterrichtes häufiger zusammen. 1993 verkehrt Theo in Verbindung mit einem neuen informellen Treffpunkt (ein etwas abgelegener Park, vgl. 1993: 37;4 ff) mit einer Gruppe von (ehemaligen) MitschülerInnen, zu denen auch Oswin zu gehören scheint (vgl. ‘Oswin’), die für ihn anscheinend einen festeren sozialen Zusammenhang darstellt (vgl. 1993: 37;18 ff). Sich selbst und die anderen Cliquenmitglieder ordnet er der HeavyRichtung zu, nicht ohne sich von den härteren Ausformungen zu distanzieren (vgl. ebd. 40;4 ff). Von dieser Clique hat er sich 1994 aufgrund seiner Kritik an deren übermäßigem Alkoholkonsum - "es war einfach nicht mein Stil, jedes Wochenende stockbesoffen im Dorf herumzulatschen" (1994: 3;15 ff) - sowie konkreter Auseinandersetzungen und persönlicher Kränkungen bzw. Zurücksetzungserfahrungen wieder getrennt: "entweder akzeptieren sie mich ganz oder gar nicht, aber nicht mal so und dann wieder so" (ebd.). Theo verbringt seine Freizeit durchgängig hauptsächlich mit musikalischen Aktivitäten. Neben regelmäßigen Übungsterminen für Schlagzeug und Keyboard spielt er ab 1993 in einer großen Kapelle des örtlichen Musikvereins, wo er für die Percussion zuständig ist. 1994 kommt noch das Engagement für die von ihm mitinitiierte Rockband hinzu. Zu diesem Zeitpunkt verbringt er die verbleibende Freizeit mit seiner neuen Freundin, von der er Akzeptanz, Geborgenheit und tatkräftige Unterstützung erhält und mit der er sich über persönliche Probleme unterhalten kann (vgl. Fb. 1994). Theo fühlt sich in Nachbarschaft und Wohnumfeld wohl und ist bei seinen Freizeitaktivitäten auf seinen Wohnort hin orientiert. Einziger Verbesserungsvorschlag ist ein "richtiges Schwimmbad" (1992: 16;25). 3.1.3 Medienrezeption und sonstige Ressourcen politisch relevanter Information Die Auswahl der von ihm rezipierten Medien richtet Theo vornehmlich nach deren Unterhaltungswert. Innerhalb der Familie wird über aktuelle Themen gesprochen. Häufiger erzählt die Mutter abends "etwas, weil mein Vater hat nicht viel Zeit zum Zeitunglesen. Und dann erzählt meine Mutter manchmal ein paar interessante Sachen oder zeigt sie uns dann" (1992: 12;11 ff). Insgesamt weiß Theo sich durchgängig im großen und ganzen in Übereinstimmung mit seinen Eltern, wobei er zunehmend aber auch eigene Ansichten vertritt: "Wir haben eigentlich meistens dieselben Meinungen, aber es kommt ab und zu auch vor, dass ich sage, ‘ich finde das jetzt eigentlich weniger’" (1994: 23;19 ff). Der NSUnterricht in der Schule hat ihn grundsätzlich interessiert. Er distanziert sich eindeutig von dem damaligen Geschehen - "da muss man gerade drum schauen, dass es nie wieder vorkommt" (1994: 35;15 f) - und befürwortet im Hinblick auf die Vermeidung einer Wiederholung eine noch früher einsetzende Auseinandersetzung mit diesem Thema: "das sollte man schon viel früher machen, weil da springen z.T., also ich weiß es von ein paar, schon in der siebten Klasse fängt es an, eigentlich sogar in der sechsten Klasse springen die schon so rum. Die haben noch gar keine Ahnung davon, die wissen gar nicht, was das ist" (ebd. 61;38 ff). CLXXV 3.1.4 Erfahrungen mit und Ressourcen von gesellschaftlicher und politischer Teilhabe Theo nutzt die Angebote des örtlichen Musikvereins. Er engagiert sich nicht in Gremien oder Initiativen, findet die Einrichtung des seit einigen Jahren in seinem Ort bestehenden Jugendgemeinderates aber grundsätzlich positiv: "Also dass auch die Jugendlichen etwas dazu sagen können, das finde ich eigentlich in Ordnung" (1992: 30;25 f). Hinsichtlich seiner beruflichen Zukunftsplanung zeigt er sich bis 1994 unsicher. Um einen Zeitaufschub bis zu einer Entscheidung zu erreichen, strebt er einen Wechsel auf das Gymnasium an. Dafür ist er grundsätzlich bereit, mehr Zeit für schulische Aufgaben aufzuwenden. 3.2 Kategorien, Kompetenzen und Mechanismen der Erfahrungsstrukturierung 3.2.1 Zentrale Bezugspunkte sozialer Identität Obwohl Theo aufgrund seines Passes die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt und Deutschland wohl auch als Heimat betrachtet, in der er seine Zukunft verbringen möchte, kann er sich selbst im Hinblick auf seine Nationalität nicht eindeutig zuordnen: "Ich fühle mich generell nicht als ganz deutsch, weil meine Eltern sind ja Ausländer praktisch, und ich finde, ich kann mich nicht zu einem Deutschen zählen, also richtig. Ich bin ja doch ausländischer Abstammung" (1993: 32;4 ff). Dies wird von ihm scheinbar nicht als Nachteil bzw. Belastung empfunden: "Ich finde (es) ganz normal, weil ich glaube, ich werde als Mensch akzeptiert und nicht als Rasse" (ebd. 13f). Sein Status als (deutsches) Gastarbeiterkind scheint einerseits zu Bedrohtheitsgefühlen und einer grundsätzlichen Verurteilung rechtsextremistischer Gruppierungen und Gewalthandlungen zu führen, beugt aber andererseits o.a. Ungleichheitsvorstellungen in bezug auf seiner Ansicht nach unangepaßte Ausländer im allgemeinen und (Schein-)Asylanten im besonderen nicht automatisch vor. Über die Differenzierung in zu akzeptierende Ausländergruppierungen, die sich den hiesigen Verhältnissen angepaßt haben und selber für ihren Unterhalt aufkommen, und nicht zu akzeptierende Asylbewerber und Aussiedler, die vom Staat alimentiert werden und eine seiner Meinung nach ungerechtfertigte Anspruchshaltung zeigen, versucht er sich und seine Familie der Bedrohung durch die allgemeine Ausländerfeindlichkeit zu entziehen und deren Aufenthalt in Deutschland zu legitimieren. Seinen regionalen und lokalen Sozialraum stellt für ihn und seine Familie zudem eine Art ‘Schutzraum’ dar, in dem es seiner Meinung nach im Gegensatz zu Großstädten nicht häufig zu ausländerfeindlichen Übergriffen kommt (vgl. 1993: 16;4 ff). Anders als viele andere männliche Jugendliche in seinem Alter zeigt Theo in seinem geschlechtsspezifischen Verhalten explizit keine Orientierungen an traditionellen Männlichkeitsidealen wie z.B. Wehrhaftigkeit und Dominanz(streben). Aufmerksam nimmt er gruppeninterne Männlichkeitsinszenierungen beim (teilweise vorgetäuschten) Konsum von Alkohol in seiner Clique wahr: "manche, das habe ich irgendwie genau gemerkt, manche, die haben gar nicht so viel getrunken, und die haben so getan, als wären sie stockbesoffen" (1994: 9;3 ff). Er selber distanziert sich von dieser Art der Freizeitgestaltung und kann sich einem vermutlich herrschenden Gruppendruck entziehen (nicht zuletzt auch durch die Trennung von der Clique, s.o.). Abgesehen von Theos ruhigem Naturell scheint diese nicht vorhandene Orientierung an verbreiteten Mustern der Jungen-Sozialisation u.a. ein Grund für seine niedrige Gewaltakzeptanz zu sein, weil er anscheinend nicht auf die Erlangung von Anerkennung von seiten der Clique über die Demonstration von ‘männlichem’ Verhalten angewiesen ist, um sein Selbstwertgefühl aufzubauen. Zudem möchte Theo vermutlich auch als Gastarbeiterkind nirgendwo durch dominantes bzw. auffälliges Verhalten ‘anecken’ - "ich will mit niemandem streiten, ich schaue halt, dass ich mit jedem gut auskomme, egal wie er ist" (1994: 65;7 f) -, um zum einen nicht Opfer von ausländerfeindlichen Ausgrenzungsversuchen oder Übergriffen zu werden und zum anderen nicht die von ihm an anderen Gruppierungen kritisierten unangepaßten Verhaltensweisen zu zeigen, auch weil ein solches Verhalten negative CLXXVI Konsequenzen für seine schulische und berufliche Zukunft nach sich ziehen könnte. Seine jugendkulturelle Orientierung geht tendenziell hin zu linken Positionen und äußert sich vornehmlich über das Hören und Spielen von szenetypischer Musik (Heavy) und dem Tragen gruppenspezifischer (Marken-)Kleidung (vgl. 1993: 17;33 ff). Theos Beziehungen im sozialen Nahraum beeinflussen seine politischen Ansichten in verschiedener Weise: Während er sich mit seinen Eltern in der Verurteilung von ausländerfeindlichen Übergriffen in Übereinstimmung weiß, läßt er sich 1993 von seinen teilweise nach rechts tendierenden Bekannten allenfalls in seinen Vorurteilen gegen Asylbewerber beeinflussen oder stärken. Obwohl er sich von rechten Gruppierungen und Personen distanziert, differenziert er doch zwischen ihm bekannten (latent) rechtsorientierten Personen und Rechtsradikalen allgemein. Dies mag dem Umstand geschuldet sein, dass Theo einerseits die Möglichkeit einer in seinem Sinne positiven Beeinflussung rechter Ansichten im persönlichen Gespräch vermutet (s.o.) und dass er andererseits den Kontakt zu den gleichaltrigen Jugendlichen in seinem Wohnort nicht aufgrund politisch motivierter Konfrontationen verlieren will. 3.2.2 Individuelle Kompetenzen bzw. Mechanismen zum Aufbau personaler Identität Gegenüber Asylbewerbern und Aussiedlern zeigt Theo aufgrund der von ihm vermuteten ungerechtfertigten Leistungserschleichung und Anspruchshaltungen dieser Gruppierungen wenig Toleranz. Im Hinblick auf seine teilweise (latent) rechtsorientierten Bekannten gibt er sich toleranter und versucht, deren Handeln von einer grundsätzlichen Kritik auszunehmen bzw. zu relativieren. Bei der Wahrnehmung gesellschaftlicher (Gewalt-) Phänomene und gruppeninterner Druckmechanismen zeigt er Sensibilität (s.o.) und bei deren Beurteilung Reflexivität und Empathievermögen. Besonders bei der Suche nach möglichen Gründen für ausländerfeindliches (Gewalt-)Verhalten wird deutlich, dass er sich kritisch mit dieser Thematik auseinandergesetzt hat und Einfühlungsvermögen sowohl in die Täter als auch in die Opfer besitzt (s.o.). Theo löst Konflikte auf unterschiedliche Weise. Aufgrund seiner niedrigen Gewaltakzeptanz versucht er Konflikte, die möglicherweise in Gewalt ausarten könnten, durch ‘Aussitzen’ oder Flucht zu lösen (vgl. z.B. 1992: 20;24 ff). Cliqueninternen Problemen geht er zweimal durch Trennung von den jeweiligen Gruppen aus dem Weg (1992 und 1994). In Konfliktsituationen mit Freunden zeigt er aber durchaus auch die Fähigkeit, sich verbal mit ihnen auseinanderzusetzen und seine Interessen wahrzunehmen (vgl. 1994: 5;36 ff). Theo ist bereit, Verantwortung für sich selbst (z.B. in der Schule) und andere (z.B. Initiieren der Rockband und Übernahme einer für Ordnung sorgenden Führungsrolle ebendort) zu tragen. Sein gut ausgebildetes Selbstwertgefühl basiert vornehmlich auf dem Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und der Kompetenz, Sachverhalte reflektiert beurteilen und kritisch hinterfragen zu können. Gepaart mit einer hohen Sensibilität im Hinblick auf gesellschaftliche Phänomene und Mechanismen versetzen ihn diese Fähigkeiten in die Lage, sich eine eigene Meinung zu bilden und - auch wenn er sich nicht in Übereinstimmung mit seinen jeweiligen Bekannten bzw. Freunden befindet - zu vertreten. Seine niedrige Gewaltakzeptanz und das Nichtvorhandensein von Orientierungen an traditionellen Männlichkeitsidealen führen dazu, dass er nicht versucht, über die Demonstration von Wehrhaftigkeit und Dominanz(streben) Anerkennung von seiten seiner Freunde zu erlangen. Anscheinend reicht ihm die Bestätigung und Akzeptanz, die er von seinen Eltern aufgrund schulischer, musikalischer oder sportlicher Leistungen bekommt sowie die 1994 erfolgte Band-Gründung und das Spielen einer jugendkulturell besetzten Musikrichtung aus, um eine tragfähige Identität und somit Selbstbewußtsein aufzubauen. 4. Zusammenfassung Theo präsentiert sich als ein ruhiger und besonnener Junge, dessen generelle Verurteilung von Ausländerfeindlichkeit, die vermutlich hauptsächlich aus seinem Status als CLXXVII Gastarbeiterkind in Deutschland resultiert, durchsetzt ist von Ungleichheitsvorstellungen in bezug auf Asylbewerber und Aussiedler, wobei er anscheinend über die Differenzierung in zu akzeptierende, weil sich selbst versorgende und angepaßte Gastarbeiterfamilien und nicht zu akzeptierende, weil alimentierte und anspruchsvolle Gruppierungen, seinen eigenen Aufenthalt in Deutschland legitimieren und sich und seine Familie aus der allgemeinen Kritik heraushalten zu können meint. Vornehmlich sein ruhiges Naturell und sein vermutlich internalisierter Anpassungswille führen gepaart mit einer hohen Reflexions- und Empathiefähigkeit zu einer niedrigen Gewaltakzeptanz sowohl auf personaler als auch auf politischer Ebene. Seine Vorurteile richten sich im einzelnen hauptsächlich gegen (Schein-)`Asylanten` und Aussiedler, denen er Leistungserschleichung sowie eine in seinen Augen ungerechtfertigte Anspruchshaltung und unangepaßtes, z.T. provokatives und aggressives (auch türkischen Jugendlichen) Verhalten vorwirft. 1992 fordert er wohl im Hinblick auf eigene Ängste vor ausländerfeindlichen Übergriffen gegen seine Person oder seine Familie eine "straffere Gangart" in Deutschland (vgl. Fb. 1992). Er selbst würde sich zwar nach eigenen Angaben nicht alles gefallen lassen, jedoch zeigt er tatsächlich eher Ausweich- oder Vermeidungsverhalten, sobald die Gefahr einer gewalttätigen Auseinandersetzung gegeben scheint. Weiterhin distanziert er sich von Gewaltverhalten jeglicher Couleur. Theo, der wegen seiner ausländischen Abstammung durchaus Ängste vor Übergriffen gegen seine Person hat, zeigt einen stark ausgebildeten, integrativen Anpassungswillen. Da er unangepaßtes und forderndes Verhalten seitens der Ausländer als einen Grund für Ausländerfeindlichkeit in Deutschland ansieht, versucht er selber, möglichst nicht anzuecken oder aufzufallen. Dass er dieses Verhalten gerade Asylbewerbern und Aussiedlern zum Vorwurf macht, läßt die Vermutung zu, dass er diesen Gruppierungen implizit die Schuld an der Ausländerfeindlichkeit in Deutschland gibt. Vor diesem Hintergrund scheint auch seine Forderung nach einer rigoroseren Handhabung von Abschiebungen und einer sorgfältigen Kontrolle der Asylvergabe verständlich. Seine ruhige Art und seine niedrige Gewaltakzeptanz sowie die nicht vorhandene Orientierung an traditionellen Männlichkeitsidealen und die intensive Beschäftigung mit Musik in seiner Freizeit tragen dazu bei, dass er - wenn überhaupt - nur 1993 eine engere Cliquenanbindung an Jugendliche seines Ortes hat. Seine Sensibilität bestimmte Gruppenmechanismen betreffend und seine persönlichen Kompetenzen befähigen ihn dazu, seine Meinung vor der Gruppe z.T. zu behaupten bzw. sich herrschenden Gruppenmeinungen nicht zu unterwerfen und sich den Gruppenmechanismen, z.B. Männlichkeitsinszenierungen, entziehen zu können. 1994 führen u.a. die Mitgliedschaft in einer Rockband und die damit verbundenen Pflichten sowie die Freundschaft mit einem Mädchen dazu, dass Theo in seiner Freizeit nicht mehr mit den z.T. tendenziell rechtsorientierten Mitgliedern der Clique zusammentrifft. Theo selbst sieht als persönlichkeits- bzw. meinungsprägend u.a. alters- und entwicklungsbedingte Erfahrungen an: "Vielleicht ein paar Meinungen, wo ich jetzt z.B. ganz anders darüber denke wie früher, weil ich vielleicht einfach ein bißchen mehr Erfahrung gesammelt habe" (1994: 22;31 ff). Thomas 1992 - 1994 F.: "Da waren ja diese Krawalle in Rostock..." T.: "Da habe ich nur gesagt: `weiter so`...Nur heraus mit dem Zeug" (1992: 26;4ff.); "Ich meine, es könnte sein, dass ich auch ein paar Steine reingeworfen hätte...Klar, wahrscheinlich hätte ich schon mitgemacht(...) Deutschland ist total überfüllt von Ausländern. da muss man was dagegen unternehmen, durch die Grenzdörfer strömen sie nur noch so herein... das ist einfach schlimm, ich weiß auch nicht, ich schätze 30% von Deutschland sind nur noch Deutsche, der Rest alles, ja CLXXVIII 30% vielleicht nicht, aber vielleicht 40% oder so, aber mehr nicht, nur noch Italiener, Jugoslawen, Türken, Rumänen, Polen und Russen." (1992: 28ff.); "Hier gibt's jede Menge von diesem Ungeziefer." (1992: 30;32) F.: "Solingen.. wie erklärst Du Dir das, dass es auf einmal so Junge waren, die das gemacht haben?" T.: "...da kommen jetzt was weiß ich für Leute rein und die hängen uns dann auf der Tasche herum, arbeiten nichts und bekommen Geld und so ist das, haben sich vielleicht auch aufgeregt. Ich meine, mich hat das damals auch aufgeregt wie die Sau, wo die Grenzen aufgemacht worden sind. Da habe ich auch gedacht die Idioten, jetzt machen sie auf, jetzt kommt das ganze Pack zu uns und hängt uns auf der Tasche rum." (1993: 50;12ff.) "...natürlich gibt es eine Grenzlinie zwischen rechts und rechts. Also ich sehe das jedenfalls so. Ich finde, es gibt die Idioten, wo denken, ja, ja, Rechte und Scheiß Ausländer raus und Deutschland, Deutschland so, und halt wirklich halt bloß noch wenn sie einen Ausländer sehen, dass sie ihn so vermöbeln, dass er nicht mehr weiß, wie er heißt. Und es gibt die Rechten, die sagen, wir haben nichts gegen die Ausländer, wo zu uns kommen und arbeiten...die, wo uns nicht auf der Tasche herumliegen." (1994: 63;5ff.) 1. Objektive Daten zum Lebenskontext im Überblick Thomas, zum ersten Erhebungszeitpunkt 13 Jahre alt und katholisch, lebt mit seiner Mutter, deren Freund und seiner 2 Jahre jüngeren Schwester 1992 in der 15.000-Einwohner-Stadt M., 1993 und 1994 nach einem Umzug der Familie in einem einige Kilometer entfernten Dorf. Die vier wohnen zunächst in einer 4-Zimmer-Mietwohnung, später in einer 5Zimmer-Mietwohnung mit Balkon, jeweils in einem kleineren Mehrfamilienhaus. T. hat die ganze Zeit über ein eigenes Zimmer. Der Haushalt ist mit langlebigen Gebrauchsgütern gut ausgestattet; neben 2 Autos besitzt man auch 2 Motorräder. T. selber besitzt im Laufe der Jahre zunehmend verschiedene unterhaltungselektronische Geräte (CDPlayer, Stereoanlage, Walkman, Nintendo usw.) sowie ein mit 500,- DM relativ teures Skateboard und ein Mountainbike. An Taschengeld steht ihm monatlich 25,- DM zur Verfügung; etwa den gleichen Betrag verdient er sich durch Aushilfsarbeiten noch mal hinzu. 1994 kommt ein Betrag von 50,- DM aus einer Ausbildungsvergütung hinzu. Die Mutter und ihr Partner haben Hauptschulabschluss. Erstere arbeitet in einer Druckerei, letzterer ist Dreher. der verstorbene Vater von T. war Kraftfahrer. Thomas besucht 1992 die 8. Klasse der Hauptschule in M., im Folgejahr die Hauptschule in seinem neuen Wohnort. Nach dem Hauptschulabschluss findet er 1994 eine Lehrstelle als Mechaniker in einem Großbetrieb, 8 km vom Wohnort entfernt. Zum Interview erscheint T. jeweils unauffällig in Jeans, T-Shirt und Turnschuh gekleidet. 2. Politische Orientierungen 2.1 Allgemeine Orientierungen Über den Untersuchungszeitraum hinweg stuft sich T. selbst politisch als "ein bißchen mehr rechts als links" - so wörtlich 1992 (42;23) - ein. Nach Definitionselementen seiner persönlichen Rechts-links-Topographie befragt, läßt er schon 1992 durchblicken, dass der Umgang mit dem "Ausländerproblem" für ihn das entscheidende Kriterium bildet: "Die (Linken; d.V.) sagen eben auch, das finde ich, das ist doch mir egal, ob jetzt die Ausländer oder was weiß ich da sind oder nicht, das ist denen eigentlich egal, Hauptsache ich habe meine Arbeit und so und kümmern sich gar nicht um Deutschland und so. Aber rechts, finde ich, die kümmern sich um ihr Land, die finden, wir sollten eine Gemeinschaft bleiben, ganz, ein Volk" (42; 29ff.) Jugendkulturell ordnet er sich keiner Stilrichtung eindeutig zu. Während er sich 1992 als "Heavy und Skin, das ist alles und ein wenig Skater" (41,34) bezeichnet, bleibt in den CLXXIX Folgejahren am ehesten eine Zuordnung zu den Heavy-Fans bestehen - heavy bedeutet für ihn (nicht nur?) musikalisch "alles Harte" (1992: 41;36) - und verblaßt allmählich die Orientierung an Skatern und Skins, auch wenn er weiterhin Sympathie mit diesen Stilen wie auch u.a. mit rechten Jugendlichen, Wehrsportgruppen und Streetfightern bekundet. Die in den ersten beiden Jahren spontan eindeutige parteipolitische Zuordnung zu den "Republikanern", von denen er 1992 weiß "die sind ja gegen Ausländer" (1992: 32;12) und denen er 1993 zutraut, die Kriminalität in Deutschland zu reduzieren (1993:62;1ff.), wird mit der Zeit diffuser. Seine diesbezügliche Ignoranz 1994 durchaus eingestehend (vgl. 1994:28ff.), könnte er sich jetzt genauso gut vorstellen, Bündnis 90 zu wählen, möglicherweise eine Folge seiner nun weniger fremdenfeindlichen, dafür aber umweltkritischeren Einstellungen (s.u.). 2.2 Ungleichheitsvorstellungen/Gleichheitsvorstellungen im Kontext von Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus T. äußert über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg z.T. erhebliche, besonders 1992 mit rassistischen Versatzstücken versehene, gleichwohl zwischenzeitlich sich leicht abschwächende Ungleichheitsvorstellungen gegenüber Migranten. Sie münden, vor allem 1992 in Verbindung mit offener eigener Gewaltbereitschaft, in Ungleichbehandlungsvorstellungen. Dabei zieht sich ein Ablehnungsmotiv wie ein roter Faden durch alle drei Interviews: die Befürchtung, von Migranten materiell ausgenutzt zu werden. Immer wieder kramt er das Bild des "Auf-der-Tasche-Herumliegens" hervor. 1992 bezieht er es noch nahezu völlig undifferenziert auf alle Gruppierungen von Migranten: "...das ist einfach schlimm mit diesen Ausländern, Aussiedlern und Asylanten und so" (26;15f.); "...man sollte irgendwie eine Grenze bauen..., dass jeder in seinem Land bleibt, außer sie kommen nach Deutschland und arbeiten wenigstens etwas für ihr Geld und sitzen nicht nur Tag und Nacht herum und bekommen das Geld auch noch nachgeworfen, und wir müssen sie auch noch bezahlen" (26;34ff.) Über Asylmotive von Flüchtlingen mutmaßt er: "Vielleicht denken die auch, da muss ich ja nichts arbeiten... als ob hier das Paradies wäre" (30;10ff.) und beschwert sich über eine augenscheinliche Ungleichverteilung der Lasten: "Es gibt noch so viele andere Länder, aber wieso kommen die alle nach Deutschland?" (30;22ff.) Entsprechend dramatische Ver-, ja Entfremdungsgefühle empfindet er: "...ich schätze 30% von Deutschland sind nur noch Deutsche, der Rest alles, ja 30% vielleicht nicht, aber vielleicht 40% oder so, aber mehr nicht, nur noch Italiener, Jugoslawen, Türken, Rumänen, Polen und Russen." (1992: 28ff.) Und bezogen auf den eigenen Wohnort bemängelt er in nicht nur in dieser Sequenz verwendeter (s.u.) rassistischer Wortwahl: "Hier gibt es jede Menge von diesem Ungeziefer." (1992: 30;31); "...in Übermaßen..."(ebd.;37) Es verwundert deshalb nicht, wenn T. im 1994er Interview erzählt (vgl.66;2), er sei noch zu seiner Hauptschulzeit zusammen mit einem Freund schon einmal unablässig und laut "Sieg heil" rufend über die Hauptstraße seines Heimatortes gezogen - übrigens ohne sich dafür in irgendeiner Weise Kritik bspw. von Passanten eingehandelt zu haben. Zusätzlich kritisiert er die Kriminalität von Ausländern. Dabei verweist er auf die Eigenerfahrung eines Mofa-Diebstahls durch einen "Russen" (wahrscheinlich Aussiedler aus Rußland). "Von dem her finde(t)" T. - diese Einzelerfahrung pauschal auf alle Migranten ("die") hochrechnend - "das voll die Sauerei", "dass die herkommen und gleich damit anfangen, Stunk zu machen..."(31;12ff.). CLXXX Ansätze zu einer wenn auch nicht gleichheitsorientierten, so doch differenzierteren Sichtweise werden durch die pauschalisierende und dramatisierende Sichtweise im Keim erstickt: "Okay wenn jetzt ein paar Italiener und was weiß ich was, andere da sind, das ist ja kein Weltuntergang, aber wenn zu viele kommen, so wie jetzt, das ist einfach nichts." (27;34); "Ich habe ja gar nichts gegen Italiener und so, aber hauptsächlich gegen Asylanten." (29;15) 1993 hat sich an den Ablehnungsgründen von Migranten nichts geändert. Kriminalität "seit die Grenzen offen sind, da nimmt die Kriminalität in Deutschland echt rapide zu" (58;27f.) - und - besonders vehement - unlautere Bereicherungsabsichten zum Nachteil der Deutschen sind die zentralen Vorwürfe, die er ihnen entgegenbringt und die er mit dem "Scheiß Ausländerproblem" (58;23) verbindet: "...da kommen jetzt was weiß ich für Leute rein und die hängen uns dann auf der Tasche herum, arbeiten nichts und bekommen Geld ...Ich meine, mich hat das damals auch aufgeregt wie die Sau, wo die Grenzen aufgemacht worden sind. Da habe ich auch gedacht die Idioten, jetzt machen sie auf, jetzt kommt das ganze Pack zu uns und hängt uns auf der Tasche rum." (1993: 50;12ff.) Inzwischen differenziert T. aber deutlicher zwischen unterschiedlichen Migrantengruppen. Angeregt von einer auf den Solinger Brandanschlag bezogenen Frage des Interviewers, ob es für ihn einen Unterschied zwischen Gewalt gegen Bewohner von Asylbewerberheimen und Anschläge auf von Ausländern bewohnte Privathäuser gebe, sieht T. "einen großen Unterschied" (51;6): "Weil die wo das Privathaus haben...die haben gearbeitet, für das, was sie erreicht haben. Also das finde ich irgendwo eine Sauerei, dass die das denen wieder zerstören. Und bei denen im Asylantenheim, das ist also meine Meinung, die kommen her, bekommen da ihr Heim, dürfen da rein, bekommen Fernsehen und solche Scheiße, bekommen ihr Geld zugeschickt und tun nichts dafür. Sowas finde ich auch, also das dürfen wir uns nicht gefallen lassen. Wir arbeiten uns krumm und buckelig und die bekommen es in den Schoß, also..."(51;8ff.) Bezogen auf "Gastarbeiter" ist er deshalb mittlerweile der Meinung: "Gegen die hat ja niemand etwas. Also ich habe gegen die persönlich nichts...Ich habe nur gegen die etwas, die rüberkommen und halt nichts tun und trotzdem Geld verdienen. gegen die habe ich was." (52;36ff.) In Deutschland geborene Ausländer sieht er sogar als Deutsche an, "jedenfalls auf der einen Seite" (69;19f.). Insoweit distanziert er sich jetzt auch ausdrücklich von seiner ehemaligen Ansicht, verwendet keine rassistischen Abwertungen mehr und entwickelt Ansätze von Gleichheitsvorstellungen mit freilich rassenpluralistischen Anklängen: "...früher war ich da wahrscheinlich anderer Meinung, aber jetzt finde ich auch, das sind doch eigentlich auch nur Menschen, oder? Alles sind Menschen wie wir auch, also die haben nur eine andere Hautfarbe und sind halt eine andere Rasse. Von dem her..." (57;19) Inzwischen findet er "hochkriminell, was die mit den Ausländern alles anstellen" (ebd;35f.). "Häuser anzünden oder Autobomben legen" (ebd;38) hält er jetzt für "brutale Kriminalität" (58;2), den "Scheiß Ausländerhaß" für "echt übermäßig" (53;31f.). Der Kern seiner nunmehr vorherrschenden Auffassung schlägt sich in dem Satz nieder: "Mir ist das scheißegal, was das für Leute sind, aber die sollten was arbeiten für ihr Geld." (57;28ff.) 1994 tauchen genau die gleichen Grundmotive für T.s Fremdenfeindlichkeit wieder - nicht zufällig (s.o.) im Zusammenhang seiner Selbsteinstufung als "rechts" (vgl. 54) - auf, wenn er trotz einer "einzigsten" eigenen diesbezüglichen Erfahrung (vgl. 1994: 34f.) pauschalisierend moniert "Die klauen wie die Raben" (33;36) und wenn er "radikalen Ausländern" das Verhalten vorwirft: CLXXXI "Schlägereien machen wie die Sau und halt auch uns auf unserer Tasche herumliegen" (55;6f.) Für die Rep-Wahlparole "Asylbetrüger raus!" ist er "voll dafür": "Da würde ich meinen Namen rot darunterschreiben. das in der größten Farbe, rot und ganz dick, also für das bin ich also schon. da wäre ich also voll dafür. Asylbetrüger raus, das ist gut." (31;33ff.) Nach seiner Definition von "Asylbetrügern" gefragt, erklärt er - seine schon früher verwendete rassistische Diktion aufgreifend: "Das, was hier an Ungeziefer herumrennt. die ganzen Polacken und Russen und was weiß ich und Kroaten, wo da von unserem Geld leben, das sind für mich Asylbetrüger... hocken ewig lange zu Hause herum und leben von unserm Geld, das sind für mich Asylbetrüger. das sind vor meinen Augen also wirklich die Letzten." (31;37ff.) Damit meint er offensichtlich auch Aussiedler, denn er weiß nicht darum, dass sie Deutsche sind (vgl. 1994: 36;34f.). Immer wieder wird auch in diesem Jahr der Vorwurf von Schmarotzertum lanciert: "Auf jeden Fall kommen die rüber, weil die irgendwie mitbekommen haben, ja, hier ist ein besseres Leben und was weiß ich, und dann liegen sie halt auf unserer Tasche herum und arbeiten halt nichts."(32;31ff.); "Ich kann auch nicht die ganze Zeit auf der faulen Haut herumliegen und mich, was weiß ich, vom Staat bezahlen lassen..."(33;8ff.) Die deutsch-nationale Einbettung kommt dabei wie 1992 wieder zum Vorschein. Wenn Rechtssein für T. schon 1992 hieß, "sich um Deutschland zu kümmern" (vgl. oben), so ist es auch jetzt noch für ihn mit einem Eintreten "klar für Deutschland" (55;23) und "dass man halt für sein Land steht" (56;27) verbunden. Darunter versteht er - die für ein rechtsextremes Politikverständnis typische Metapher von nationaler Reinheit aufgreifend: "Man läßt halt nichts auf sein Land kommen und man verteidigt halt sein Land, egal für was, wenn irgendeiner das Land beschmutzen will oder beschmutzen will, dass man halt für sein Land steht und da halt dagegenspricht und so." (56;29ff.) Selber setzt er diese Forderung im Interview um, wo er Deutschland gegen den Vorwurf vergleichsweise zugespitzter Fremdenfeindlichkeit in geradezu apodiktischer Weise in Schutz nehmen zu müssen meint: "Ich mache mit Dir eine Wette, dass es in der Türkei genauso viel Leute gibt, die sagen `hey, raus mit den, was weiß ich, Gastarbeitern... Ich möchte das Land sehen, wo das nicht so ist. Sag ich bloß noch Klu-Klux-Klan...da will ich keinen Ton hören, weil da kann mir keiner was weißmachen, dass Deutschland das schlimmste Land wäre, wegen, gerade wegen der Rechtsradikalität oder sowas." (57;4ff.) Seine eigenen deutsch-nationalen Töne gelten T. zwar als Ausweis von Rechtssein. Er will sie aber nicht als Indiz für "Rechtsradikalität" verstanden wissen. Er glaubt, sich genügend von jenen zwei Auffassungssyndromen abgrenzen zu können, die ihm diesbezüglich entscheidend vorkommen: Anleihen an nationalsozialistischen Vorbildern und Befürwortungen der aktuellen rechtsextremen Gewaltexzesse (die er 1992 noch unumwunden kundtat (s.u.)). Der Nationalsozialismus ist in seinen Augen "halt Scheiße gewesen" (57;35). Er erscheint ihm sogar als Grund zu Scham (vgl. 73;23ff.). wobei er in erster Linie auf "Judenvergasung" und Krieg hinweist. Insofern andererseits "alles super organisiert" gewesen sei, sei dies auch "der einzigste Fehler" gewesen, denn es "wäre alles ganz gut gekommen normalerweise, denn das hat er (Hitler; d.V.) nämlich echt spitze organisiert" (60;19ff.). Er knüpft damit an eine Seite seiner ambivalenten Einschätzung des Nationalsozialismus` von 1992 an, wo er noch meinte: "jetzt gerade im Moment bin ich auch dafür, es sollte wieder so werden, dass er für eine Weile wieder da wäre, dann wäre Deutschland vielleicht wieder Deutschland, aber es kann nicht mehr so werden und ich hoffe das wird auch nicht mehr so. das hoffe ich auf gar keinen Fall." (1992: 43;18ff.) CLXXXII Von aktuellen Ausprägungen des Rechtsextremismus sucht T. sich abzusetzen, indem er "eine Grenzlinie zwischen rechts und rechts", also zwischen den von ihm abgelehnten "Rechtsradikalen" und der Position, der er sich selber zurechnet, zieht: "Ich finde, es gibt die Idioten, wo denken, ja, ja, Rechte und Scheiß Ausländer raus und Deutschland, Deutschland so, und halt wirklich halt bloß noch wenn sie einen Ausländer sehen, dass sie ihn so vermöbeln, dass er nicht mehr weiß, wie er heißt. Und es gibt die Rechten, die sagen, wir haben nichts gegen die Ausländer, wo zu uns kommen und arbeiten...die, wo uns nicht auf der Tasche herumliegen." (1994: 63;5ff.) Was diese Positionen beide "rechts" sein läßt, ist aus der Sicht T.s das ihnen gemeinsame nationale Denken, wie er in direktem Anschluss an die obigen Sequenz klarlegt: "Und beide Rechte, also die einen Rechten und die anderen Rechten, stehen dann halt beide zu ihrem Land, nur dass die einen im Gehirn nicht ganz normal sind, meiner Meinung nach." (ebd.) Trotz seiner drastischen Wortwahl ("Ungeziefer") will er sich nicht als Rassist (miß)verstanden wissen. In bezug auf die ihm verhaßten "Asylbetrüger" stellt er immerhin klar: Die sind auch nichts Besseres und nichts Schlechteres wie wir." (33;12f.) und: "Hauptsache, solange sie mir nicht auf der Tasche liegen, können sie dableiben, solange sie wollen" (37;28ff.) Er geht inzwischen sogar so weit, sich von (Rep-)Parolen wie "Deutsche zuerst" ("Blödsinn"; 70;31) zu distanzieren und, z.B. bei der Arbeitsplatzvergabe, Leistungsfähigkeit und nicht nationale Zugehörigkeit als Entscheidungskriterium zu propagieren. In Widerspruch zu seinem Bemühen, "auf Deutschland nichts kommen" zu lassen, sieht er die Bewohner seines Heimatlands mittlerweile sogar kritisch: "teilweise total ausländerfeindlich, geizig und ein wenig blöd im Kopf" (72;12f.) Die Annahme angeblich typisch deutscher Tugenden weist er weit von sich: "Pünktlichkeit, Sauberkeit, Ordentlichkeit, wenn das deutsche Eigenschaften sind, typisch deutsche Eigenschaften, dann will ich hier sofort tot umfallen." (72;27ff.) Als Beleg führt er an: "Deutschland ist bald irgendwann nur noch ein einziger Müllhaufen... Das, was mit der Umweltverschmutzung gerade... (72;31ff.) Und er resümiert für sich: "Auf sein Land kann man nicht stolz sein, weil was da passiert ist..." (73;10) Nur die "steinharte" Deutsche Mark ist ihm für Nationalstolz noch Grund genug (vgl. 74;19ff.). 2.3 Gewaltakzeptanz Thomas läßt über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg eine erhebliche psychische und physische Gewaltakzeptanz erkennen. Sie läßt im Vergleich der Jahre 1992 und 1993 möglicherweise umzugsbedingt (Wechsel des Freundeskreises) - zwar auf der Ebene der körperlichen Gewaltanwendung anscheinend etwas nach, tritt aber 1994 wieder deutlich hervor. Vor allem im ersten Jahr ist sie stark mit der Bereitschaft zur persönlichen Durchsetzung von politisch motivierten Ungleichbehandlungsforderungen gegenüber Migranten verbunden. Später verblaßt diese Zuspitzung und wird von der erstarkenden Forderung nach einer allgemeinen Ausweitung des institutionellen Gewaltpotentials abgelöst, eine Forderung, die freilich mit seinem eigenen, auch unabhängig vom "Ausländerproblem" bestehenden, gewaltnahen Verhalten konfligiert. 1992 sind T.s Folgerungen aus seinem Ausländer- und Aussiedlerhaß rigoros. In großer emotionaler Erregung und unter Verwendung rassistischer, menschenverachtender Vokabeln postuliert er: CLXXXIII "Nur heraus mit dem Zeug... Die sollen einfach zack weg, wieso kommen die alle nach Deutschland? Das ist einfach das letzte... Bloß raus mit den Viechern, Ungeziefer" (26;12ff.) Dabei begnügt er sich nicht damit, radikale politische Lösungen einzufordern (s. seine Präferenz für die "Republikaner"), sondern kann sich auch vorstellen, sich selbst an Gewaltaktionen wie in Rostock zu beteiligen: "Ich meine, es könnte sein, dass ich auch ein paar Steine reingeworfen hätte, so wäre es ja nicht. Klar: Wahrscheinlich hätte ich schon mitgemacht" (28; 23ff.) Er leitet diese Bereitschaft auch aus seinem deutsch-nationalen Denken ab, wie aus der Fortführung der gerade zitierten Sequenz hervorgeht: F.: "Und wenn jemand zu Dir gesagt hätte: Das ist ja Gewalt, was Du da machst, was hättest Du dem dann gesagt?" T.: "Zu dem hätte ich gesagt, wenn Du echt ein richtiger Deutscher bist, dann würde ich an Deiner Stelle mal ganz still sein, weil Deutschland ist total überfüllt von Ausländern und Asylanten, da muss man etwas dagegen unternehmen...Ja wenn es nur ein Deutscher wäre, der nur für Deutschland ist, der würde da mitmachen, der würde überall hingehen und mitmachen, wie in Rostock." (28;27ff.) Andererseits scheint er zwischen seiner Bereitschaft zum Steinwurf und dem Einsatz von Molotow-Cocktails durch die Randalierer (s. auch unten) einen Unterschied zu machen. Er hält ihn aber nicht davon ab, sich mit dem ihnen zugeschriebenen deutsch-nationalen Denken zu solidarisieren: "Ja irgendwo haben sie schon recht, aber auf der anderen Seite ist es schon ein wenig hart, was sie da tun, das ist schon ein wenig zu hart. Ich kann es ja schon verstehen, die welche das machen, die wissen genauso, dass es in Deutschland keine Nationalität mehr gibt. Also in ganz Deutschland gibt es jede Nationalität und das wollen die eben auch nicht. Die wollen eben auch, die denken: Deutschland ist Deutschland und Deutschland soll Deutschland bleiben..." (27;25ff.) 1993 hat er auf der Basis der im vorhergehenden Abschnitt zu Ungleichheitsvorstellungen ausgebreiteten Überlegungen im Nachgang zum Solinger Brandanschlag seine politische Gewaltbereitschaft reduziert. Dass er sie, weil er nunmehr ja nur "Gastarbeiter" aus seinen Ablehnungen ausklammert, jetzt nicht noch gegenüber "Asylanten" kundtut, hängt offensichtlich damit zusammen, dass er aufgrund seines Umzugs in ein "in Maßen" (55;30) von Ausländern bewohntes Dorf seine Überfremdungsängste überwinden konnte. Mit bezug darauf urteilt er "Es ist ruhiger hier unten, weil da oben war es echt schlimm" und schätzt den Ausländeranteil nur noch auf ein knappes Zehntel seines vormaligen Eindrucks: "so 3%" (56;38): "Es ist schon ein wenig gemütlicher zum Auf-der-Straße-Herumrennen und so. Da musst Du nicht denken, wah, da kommt schon wieder einer, los, hau ihm die Fresse ein." (56;4f.) Im übrigen wäre ihm die Beteiligung an einer ausländerfeindlich orientierten und mit Gewalt vorgehenden Clique "zu gefährlich", weniger wegen den "Bullen" als "wegen den Ausländern", denn: "Da holen die kurz F.er und E.er oder was weiß ich für Gruppen zusammen und dann sind wir nur ein paar Hansele da, keine Chance mehr." (56;21ff.) 1994 kann er sich zum einen durch die oben erwähnte "Grenzlinie" zwischen "idiotischen" gewaltorientierten Rechten und Rechten, die denken wie er, bzw. durch deutschlandkritische Äußerungen noch klarer absetzen. Zum anderen assoziiert er die multikulturelle Gesellschaft inzwischen auch mit Vorteilen ("in richtigen italienischen Restaurants Pizza essen gehen... Kebab-Läden"; 71;16f.), so dass er zusammenfaßt: "Also gut, ich meine es ist vielleicht ein Nachteil, weil irgendwann ist mal Deutschland total überbevölkert, aber auf der anderen Seite, finde ich, ist das voll okay, wieso auch nicht? Ich habe da nichts dagegen." (71;25ff.) Ein reflektierter Orientierungswechsel kann darin aber kaum erblickt werden. Trotz aller Distanz zum historischen Nationalsozialismus, kann er ihm nämlich auch positive Seiten CLXXXIV gerade darin abgewinnen, ein minderheitenfeindliches Klima, das seiner Einstellung entgegengekommen wäre, geboten zu haben: "Na ja, also ich möchte da echt nicht gelebt haben. War auch eine Scheiß Zeit irgendwie. Irgendwie wäre es vielleicht sogar anders gewesen wie heute. Da hast Du wahrscheinlich nicht so viele Probleme gehabt, wie, wenn Du Deutscher warst, dann hast Du sagen, über Ausländer halt sagen können, was Du hast wollen, ohne dass es hat Probleme gegeben, weil wenn Du heute noch bloß sagst `Du dummer Türke` oder so, dann bist Du halt gleich untendurch, dann bist Du überall untendurch.... Das war vielleicht damals das einzig Gute." (65;4ff.) Entsprechend fühlt er sich zu einer Vorsicht hinsichtlich der Äußerung seiner wirklichen Meinung gemahnt, von der nicht ausgeschlossen werden kann, dass sie auch im Interview durchschlägt: "ich bin der Beziehung... schon brutal vorsichtig, was ich sage. Da musst Du vorsichtig sein..." (65;31ff. ähnlich lautend vgl. 66;29f.) Nicht nur Meinungsäußerung, sondern auch noch vorhandene eigene Gewaltgelüste scheinen von der so motivierten Zurückhaltung betroffen zu sein, denn bezogen auf die Solinger Täter äußert er: "die haben Scheiße gebaut... und die haben ihre Strafe bekommen dafür, also, und ich meine, dass es mir nicht mal so geht, drum muss ich ein bißchen cool tun, mit dem was ich sage." (66;10f.) Wenn also einerseits tiefsitzende, ihn emotional aufwühlende Überfremdungsempfindungen sowie Gefühle materieller Benachteiligung im Zusammenhang mit der Anwesenheit von Migranten in Deutschland und deutsch-nationale Denkweisen als Versuche zu ihrer Bearbeitung Thomas rechtsextrem anfällig werden lassen, so macht sich andererseits in dieser Hinsicht auch seine allgemeine, ebenso in unpolitischen Kontexten auf den Plan tretende Gewaltakzeptanz bemerkbar. Sie kann im Kontext der Suche nach geschlechtsspezifischer Identität gedeutet werden. Obwohl T. permanent beteuert, er sei gegen Gewalt (vgl. 1992: 45;18f.; 1994:41;19), ist er doch immer wieder in Gewaltsituationen verwickelt. Dieser Widerspruch ist damit erklärbar, dass für ihn "Gewalt" i.e.S. begrifflich erst auf relativ hohem Niveau physischer Auseinandersetzung anfängt. 1992 beginnt sie für ihn "sobald es irgendwie etwas mit Waffen zu tun hat" (45;27). Auseinandersetzungslevels unterhalb dieser Ebene normalisiert er: "okay Gewalt ist auch, wenn man sich mal prügelt, aber das ist dann für mich noch eher normal" (ebd.;28) Er gesteht zu, am Entstehen von Gewaltsituationen auch selber durchaus nicht unbeteiligt zu sein, ja geradezu Lust an der Provokation zu verspüren: "Das einzige Problem bei mir ist eigentlich meine große Klappe...In der Grundschule habe ich immer gegen die Großen eine große Klappe gehabt, da habe ich mindestens jeden Tag auf das Maul bekommen... da haben sie mir immer einen verpaßt, puh, aber in der vierten Klasse, das waren alles Pimpfe, solche Magermilchkrüppel...da musste ich nur blasen, da haben sie schon Angst bekommen. ..Am meisten Spaß macht mir, kleine Kinder zu ärgern." (19;15ff.) Zur Illustration des Letzteren erzählt er nicht ohne Stolz folgende Begebenheit seiner Machtdemonstration, wobei auffällt, dass es sich bei dem Schickanierten um einen Ausländer (im Kindesalter) handelt, sie also als nicht zufällige Druckausübung eines ausländerfeindlich eingestellten Deutschen gegenüber einem Ausländer und eines die Kindheitsphase hinter sich lassen wollenden 13Jährigen gegenüber einem Grundschüler gedeutet werden kann: "Als Beispiel jetzt mal: Ich habe mittags keine Schule gehabt, dann bin ich an die Schule gegangen, aus der Italienerschule ist so ein kleiner Italiener gekommen und wollte CLXXXV eigentlich auf das Klo gehen, dann habe ich ihn gefragt, wo er hin will, dann hat er gesagt `Auf das Klo`. Na ja, dann habe ich gesagt: `Habe ich Dir das erlaubt?` Dann sagt er: `Nein`. Also eine andere Italienerin hat zu ihm gesagt, er soll gehen. Dann laufe ich in diese Richtung,. Dann kommt er mir entgegen vom Klo. Dann sage ich: "Wo warst Du jetzt? Auf dem Klo? Habe ich Dir das erlaubt?` `Nein, aber ich habe den Lehrer gefragt, der hat gesagt, ich darf gehen` `Das nächste mal fragst Du aber mich, ist das klar? habe ich zu ihm gesagt. Dann sagt er: `Ja, Entschuldigung.` `Und wenn Du mich nicht gefragt hast, dann machst Du in die Hose, ist das klar?` `Ja.` Dann ist er abgehauen. Solche Sachen eben. Ich weiß auch nicht, das gefällt mir eben." (19;33ff.) Mit seinem Freund zusammen ist er "immer unterwegs" (39;25). Die beiden "gehen dann eben auch überall hin und spielen voll die Coolen...,aber wenn es dann mal brenzlig wird, machen wir schnell eine Fliege... Dann machen wir die Leute dumm an: `Hey, Du Depp, mach mal `ne Fliege` oder so" (39;38) In seiner ironischen Selbstkritik solchen Verhaltens -"wir sind eben auch noch nicht die Herrscher von M." (39,29ff.) - tritt der Versuch von Machtdemonstration als Motivgrundlage deutlich hervor. Auch im Rahmen seiner Clique (s.u.) sind gewalthaltige Auseinandersetzung unterhalb des Einsatzes von Waffen, der explizit abgelehnt wird - "Buschmesser, Schlagstock und solche Dinge, also, wer das mal dabei hat, der fliegt in hohem Bogen raus" (45;12ff.) -, an der Tagesordnung: "Das kommt eben mal vor, dass man sich prügelt.. dann bekommen die einen eben eine aufs Maul und irgendwann sind die mal wieder überlegen und dann ist es wieder anders rum und das sagt nichts." (45;30ff.) Wer solche Violenz nicht mitmacht oder sich zumindest eher zurückhält, wird "verarscht" und - nolens volens die maskulinistische Struktur gewaltsamer Interaktionspräferenzen decouvrierend - als "softiemäßig" abgestempelt (vgl. 48;32ff.). Mutproben passen in dieses Bild:: "Also Mutproben haben wir ganz schlimme gemacht: Ausgestreckte Hand und dann mit dem Messer, aber wirklich voll schnell.... vom Daumen immer einen Finger weiter und dann voll schnell durch." (47;27) Doch auch bei größeren Auseinandersetzungen zwischen verfeindeten Cliquen war T. schon dabei, wobei er nicht klarlegt, wie weit seine eigene aktive Beteiligung ging. Zumindest aber rechnet er sich zu einer der beiden Seiten, wurde immerhin ein Dosenöffner als Waffe eingesetzt und waren die Folgen nicht gering: "einer von uns hat das Nasenbein gebrochen gehabt, der andere hatte voll eine Macke im Hirn, voll eine Narbe und so."(35;11ff.) Und auch diesmal waren die Gegner - "eine reine Raper-Gruppe"- "nur Ausländer, hauptsächlich Türken" (36;20), die das Ziel hatten, Skinheads anzugreifen, von denen zwei in der Gruppe standen, mit denen T. sich gerade unterhielt, als der Angriff der Raper erfolgte (vgl. 35f.). Wenn auch die Verstrickungen in Gewalt unter Jugendlichen, insbesondere die Streitigkeiten mit Ausländern, aufgrund des Umzugs 1993 abnehmen, heißt dies nicht, dass physische Gewaltsamkeit dadurch gänzlich aus dem Alltag von T. verschwunden wäre. Er erzählt, dass es in der neuen Schule "am Anfang" "schon schlimm" war (4;8): "Da sind halt alle gegen mich gestanden am Anfang... dann ist dann eine Schlägerei im Gange gewesen. Das ist aber öfters so." (4;11ff.) Auch hier kommt die Normalität von Gewalt in Jungenbeziehungen - die Mädchen in der Klasse sind allesamt "brave Engelein" (4;33) - zum Ausdruck. In der folgenden Sequenz kommt sie eher in Projektion auf Mitschüler, zur Sprache: "Wir haben so einen in der Klasse, der läßt sich auch von jedem alles gefallen... der bekommt auch jeden Tag aufs Maul oder so, einfach nur so. Und das wollten sie mit mir auch machen, das haben sie das erste mal bei mir auch gemacht, dann...."(3;31ff.) CLXXXVI 1994 sind jene Mitschüler, die ihn vorher trietzten, seine "besten Kumpels" (25;12). Seine Gewaltakzeptanz scheint wieder gestiegen zu sein. Voller Begeisterung erzählt er u.a. von einer "Klopferei" mit einem Konfliktgegner, die im Zuge von Rachefeldzügen später in eine Massenprügelei ausartete. Anlass war ein Ereignis, dass er als Auslösezwang und Rechtfertigungsgrund für Gewalthandeln begreift: "Freundin anmachen" (41;24). Er berichtet, dass in seiner Abwesenheit ein Junge aus einem Nachbarort seine Freundin auf einem Volksfest nach Auskunft seiner Freunde, die Zeugen waren, "Voll immer begrapscht" (42;2) habe. T. hat darauf "...gesagt `Der soll nur mal kommen`, dann habe ich das irgendwie mitbekommen, dass er an dem Tag nach T. kommt, dann habe ich auf ihn gewartet. Dann habe ich ihm ein paar zentriert, ich habe auch ein paar abbekommen, dann haben wir gleich eine Schlägerei gehabt und so...dann haben wir ein bißchen herumgeprügelt. ich ein paar draufbekommen, er ein paar draufbekommen, dann hat er halt ein bißchen geblutet, er, und ich auch von der Lippe, auf jeden Fall habe ich ihm dann noch vollends den Rest gegeben ...Ich habe ihn noch zusammengestiefelt vollends, habe ihn hingelegt, voll rein, aber volle Kanne." F.: "Mit dem Schuh oder was?" T.:"(LACHEN) Ja. Voll zusammengestiefelt." (42,3ff.) Folge dessen war ein paar Tage später der Rachefeldzug seines Gegners und seiner Kumpels. Zu zwölft seien sie in das "Kneiple", den Treffpunkt von T.s Clique, die zu diesem Zeitpunkt nur zu fünft war, gekommen. Einem Freund gelang es dann aber, Freunde seines Bruders aufzutreiben, deren Solidarität mit ihm ihn mit Bewunderung und einem gewissen Stolz erfüllt: "Wir gedacht, der wird schon mit fünf, sechs Leuten kommen, dann ist der gekommen, Auto proppevoll (BETONUNG), das nächste Auto proppevoll (BETONUNG)... nur Ältere, drei Autos proppevoll, dann ist der G. noch gekommen auf seinem 8oerle (Kleinkraftrad; d.V.) und noch mal zwei Mann drauf, also zu dritt auf einem 8oerle gefahren, und voll denen nachgestochen dann sind sie aber ab... und wir scheißegal hinterher.... dann ich gerade noch den einen Typ, wo meine damalige Freundin kurz vorher halt so rumgemacht hat, dem habe ich noch ein paar gegeben, den habe ich voll zusammengedroschen. ... Da war so ein Neger dabei, so zwei Kopf größer wie ich...voll in die Fresse geknallt dem Schwarzen, dem Schwarzen voll in die Fresse, voll auf die Schnauze bekommen, alles kaputt und weg war er. Ja und dann haben wir die halt noch ein bißchen vermöbelt und dann war die Sache gegessen." (44;4ff.) Die Diktion der Erzählung verrät die Faszination, die T. Gewalttätigkeit abnötigt. Insofern muss er eingestehen "anbrennen lasse ich nichts..", meint aber insgesamt, wenn schon nicht die moralische Verwerflichkeit, so doch im direkten Anschluss an diese Äußerung zumindest die Dysfunktionalität von Gewaltanwendung im Sinne eines Instruments der Interessendurchsetzung feststellen zu müssen: "Aber so im großen und ganzen, ich habe mitbekommen, Gewalt anwenden, das ist meistens die falsche Wahl, also es bringt meistens nichts..." (45;19f.) Eben dies illustriert er - fast paradoxerweise - mit einem Beispiel, bei dem ein Konfliktgegner - ausgerechnet im Kampf um ein Mädchen ("wegen einem Weib", "wegen der dummen Fotz`") ihn angriff: "Dann sage ich: `Du bist doch echt blöd, wegen so einem Weib sich schlägern, gerade noch wegen so einer Blöden, das verstehe ich nicht.` Dann hat er gemeint, er muss mir ein paar geben, dann habe ich ihm ein paar zurückgegeben, aber dann hat er mir die ganze Zeit ein paar gegeben und ich habe gesagt `Komm, laß das, das bringt eh nichts.` Dann hat er gemeint: `Komm, schlag doch mal zurück!` `Àch was, wegen dem?` Dann hat er mir wieder ein paar gegeben und alle drumrumgestanden:`Jetzt gib` ihm eine!` Dann habe ich ihm, eine, zwei zurückgegeben. Na ja, dann hat er zuerst dumm geschaut, wollte mir noch eine geben, ich abgewehrt, habe ihn in Würgegriff genommen, `Jetzt is Ruhe, tschüß`, gegangen. Alles klar, dann war die Sache gegessen." (46;2) CLXXXVII Angesichts der zum Ausdruck gelangenden Selbstverständlichkeit körperlicher Gewaltanwendung - man "gibt sich" gegenseitig "eine", zumal wenn Freunde zuschauen, und dann ist die Angelegenheit irgendwann "gegessen" -, kann T. gar nicht anders als seine Einlassung "Ich will gar keine Schlägereien. Ich bin voll gegen Gewalt" sofort zu relativieren: "ja okay, nicht ganz, immer mal wieder musst Du ein paaren aufs Maul hauen." (41;18ff.) Andererseits hält er für das dringendste Problem in Deutschland "gerade das mit der Gewalt... Ich finde, das ist echt teilweise brutal" (76;8f.) und fordert einen Ausbau institutioneller Gewalt: "mehr Polizeistreifen und die Polizei sollte mehr dürfen... einfach mal durchgreifen dürfen." (76;17ff.) Mit seinen kleineren Übertretungen von Recht und Ordnung (obige Schlägereien, Mofafrisieren, Haschischkonsum) könne er dann trotzdem weitermachen, nur "irgendwo in der Bude drin" und: "dann musst Du halt cool tun" (vgl. 76,17ff.) 3. Zusammenhang von politischer Orientierung und Gewaltakzeptanz mit sozialen Erfahrungen und Erfahrungsstrukturierung 3.1. Erfahrungen und Bearbeitungsressourcen 3.1.1 Problembelastungen und zentrale Interessenlagen Neben der `Ausländerproblematik`, die T. 1992 belastet (s.o.), bedrücken ihn auch andere Schwierigkeiten. Nachdem T. nach der Scheidung seiner Eltern beim Vater gewohnt hatte und dort eine für ihn harte Phase voller Gefühle der Ablehnung und der Benachteiligung bei der Stiefmutter durchgemacht hatte ("war schon sehr schlimm"; 1992:18,18f.), haben sich zwar diese Probleme nach dem Tode seines Vaters 1990 mit dem Umzug zu seiner Mutter erledigt, sind seine familiären Verhältnisse aber dennoch nicht unproblematisch geworden. Die in seinen Augen zu strengen Vorgaben seiner Mutter bzgl. Ausgehzeiten sowie Zigarettenund Alkoholkonsum ("Meine Mutter behandelt mich sowieso noch wie ein kleines Baby:" 1;20f.), findet er "so ätzend, echt so ätzend (BETONUNG)". Sie demonstrieren ihm erneut seine Abhängigkeit von der Macht der Erwachsenen, die er auf der Schattenseite der Scheidung seiner Eltern schon vorher deutlich zu spüren bekam. Der Freund seiner Mutter dagegen kümmert sich um die Erziehung der Kinder seiner Freundin wenig (vgl. z.B. 1994:13;6ff.) und führt mit T. eher `Männergespräche` über Motorräder und "über Weiber" (1992:15;20). Zudem gibt er 1992 an, das Problem zu haben, keine Freundin zu finden (Fb.). 1993 hat er eine Freundin, doch die Probleme im Elternhaus bleiben. Sie hängen jetzt offenbar damit zusammen, dass er in der Schule wenig Pflichtbewußtsein zeigt, nur noch schwache Noten einfährt (vgl. 1992: 10ff.) und sich dadurch auch von ihm selbst erkannte schulische Probleme (vgl. auch Fb.) einhandelt, ergänzend dazu aber auch damit, dass er in erheblichem Maße dem Alkohol, auch `Hartem`, zuspricht, und er nicht selten "total besoffen, stinkezu" (24; 34; vgl. auch 29ff.) nach Hause kommt. Er weiß um die Befürchtung seiner Mutter, "ich werde mal zum Alkoholiker, wenn ich so weiter mache" (32;27f.). Sie sieht seine weitere Lebensplanung (Mittlere Reife über das 9+1-Modell machen) gefährdet. Doch auch ihn selber bedrückt dieses Problem (vgl. Fb.). 1994 bleibt das Verhältnis zu den Eltern problembelastet, ja ist zur Mutter eher noch schlechter geworden (vgl. 14). Trotz Schulwechsels (Berufsschule) bleiben auch die schulischen Probleme. Hinzu kommen neu, vermutlich aufgrund der stärkeren zeitlichen Beanspruchung durch die Berufsausbildung und das gestiegene Anspruchsniveau in Hinsicht auf Konsum, die Probleme, zu wenig Zeit zu haben, zu wenig Freizeitmöglichkeiten zu besitzen und zu wenig Geld zur Verfügung zu haben (vgl. Fb.). Geldknappheit ist für ihn allerdings auch schon in den Vorjahren durchgängig ein Problem. Häufig ist er "blank" und muss sich Geld "pumpen". Unentscheidbar ist, ob auch die CLXXXVIII kleineren Diebstähle, von denen er 1992 berichtet, damit in Verbindung stehen. Deutlich hingegen scheint die Vehemenz seines Vorwurfs an Migranten, "uns" "auf der Tasche zu liegen", mit seiner eigenen finanziellen Knappheit zusammenzuhängen. Die Herausbildung von konkreten sachlich-inhaltlichen Interessen nach einer spezifischen Form von Lebensgestaltung ist bei T. über den Untersuchungszeitraum hinweg nicht erkennbar. "Abhängen", mit dem (frisierten) Mofa herumfahren, Grenzübertretungen, Gewalt, Alkohol, später (1994) auch Haschischkonsum bilden seine primären Zeitverwendungen. 3.1.2 Erfahrungen im sozialen Nahraum und seine sozio-emotionalen Ressourcen Die familiären Beziehungen von T. sind schwierig. Durch eine Fehlentscheidung des Vaters ("Er hat gesagt, das war eigentlich der größte Fehler, wo sie sich getrennt haben, meine Mutter und mein Vater"; 1992:9;28f.) mit "Drecks-Stiefgeschwistern" und vor allem einer Stiefmutter konfrontiert, von der er "Schläge bekommen (hat), mehr als sonst etwas" (1992:9;15f.), ist er aufgrund des Todes des Vaters gemeinsam mit seiner Schwester notgedrungen wieder zur Mutter gekommen. Bei ihr und ihrem Partner fühlt er sich zwar akzeptiert, kann sie aber über die Jahre hinweg nicht als Ansprechpartner bei Problemen erleben (vgl. Fb.), sodass er mit ihnen "alleine fertigwerden" muss (1992: 6;24f.). 1992 würde er auch gerne noch mehr gemeinsame Unternehmungen im Familienkreis machen (21;13ff.). Seine Mutter erscheint ihm vorrangig als Kontrollinstanz, die ihn einengt ("gibt mir zu wenig Freiheit"; 1992:10;38), mit Strafen wie Hausarrest und Fernsehverbot belegt und "vielleicht zwei mal im Jahr oder so" (1992:16;32f.) auch mit Schlägen bestraft (vgl. auch 1992:9). Später (1994) geschieht dies nicht mehr, zumal er ihr droht, zurückzuschlagen (vgl. 12;8ff.). Dessen ungeachtet ist er über den Einsatz seiner Mutter an seine jetzige berufliche Ausbildungsstelle gekommen. 1992 gibt es auch noch handgreifliche Auseinandersetzungen mit der Schwester ("Die bekommt jeden Tag die Schnauze voll"; 16;13), die 1994 allerdings, nunmehr selber im Jugendalter und damit mit gleichen Entwicklungsaufgaben und innerfamiliären Auseinandersetzungen konfrontiert wie er (vgl. 1994:7), seine nächste Bezugsperson ist. Insofern ist es wenig verwunderlich, wenn T. sowohl Gelegenheiten zum Verbringen seiner Freizeit als auch seine Bezugspunkte für die Problembesprechung eher außerhäusig bei gleichaltrigen Freunden sucht. In diesem Lebensbereich wiederum erfährt er Konflikte, die für ihn, vor allem anfänglich, ethnische Ursachen haben und deshalb entsprechenden Bearbeitungsversuchen zugeführt werden. Dabei kann er sich auf einen Deutungshintergrund stützen, der auch im Elternhaus vorhanden ist. Ganz offensichtlich bezieht er Argumente für seine rigoros fremdenfeindlichen Haltungen und ihre Zuspitzungen zu gewalthaltigen Ungleichbehandlungsforderungen, vor allem 1992, von seiner Mutter und - wie es scheint vorrangig - von ihrem Freund. Im Zusammenhang mit seinen bereits oben wiedergegebenen Äußerungen bezieht er sich immer wieder auf sie: "Nur heraus mit dem Zeug. meine ganze Familie, meine Mutter, der ihr Freund, alle haben gesagt, okay ich finde das nicht so gut mit den Molotow-Cocktails, aber... Die sollen einfach zack weg." (1992:26;12ff.) und: "Denen stinkt es eben auch, weil wir müssen ja die Steuern eigentlich bezahlen für die, wir zahlen ja nur für die und das stinkt denen auch, weil wir müssen immer mehr bezahlen und mehr bezahlen und die tun nichts dafür, für das Geld, und das stinkt denen eben echt, das ist schweinisch, darum war meiner Mutter ihr Freund wahrscheinlich auch so dafür, dass sie (die Krawallmacher von Rostock-Lichtenhagen; d.V.) so weitermachen." (29;23ff.) und mit bezug auf die Maueröffnung, die T. ja für einen entscheidenden Akt für die Auslösung des Migrantenzustroms nach Deutschland hält (s.o.),: "Bei uns zu Hause haben wir alle gesagt: Von uns aus könnte man ruhig die Mauer wieder rauftun, die Mauer wieder hinbauen" (26;27ff.) CLXXXIX 1993 berichtet T. von einem nach seiner Einschätzung zwar "eher lustigen, aber..." (49;34) wohl im Wissen um die politische Haltung auch nicht bloß als makaber einstufbaren Kommentar seinen Stiefvaters zum Solinger Brandanschlag: "...meiner Mutter ihr Freund schaut Nachrichten halt an: Deutsche verletzen Türken..., dann meint er auch halt dazu: `super, wieso sind die nicht ganz he gegangen. Oder: Die sind auch nicht so, die haben das auch nicht mehr drauf, die schaffen das nicht mal, die richtig umzubringen und so." (49;22ff.) Sowohl Gewalt als Konfliktregelungsmittel als auch Fremdenfeindlichkeit kann damit T. aufgrund seiner familiären Sozialisation als "normal" erscheinen. Angesichts dessen, dass die Eltern aber ansonsten kaum effektiv orientierungsstiftend zu wirken vermögen, ist es unwahrscheinlich, anzunehmen, die entsprechenden Haltungen T.s hätten (allein) hier ihren Ursprung. Bedeutsam scheinen vor allem die Freunde, 1992 insbesondere sein Freund S, zu sein, den er in ihrer Beziehung als "Chef" (40;21) akzeptiert. Dabei handelt es sich um einen Jugendlichen, der 1992 noch zum Sample gehörte, dann wegen seines Umzugs herausfiel, und durch eine eindeutig rechtsextremistische Orientierung auffiel. Mit ihm ist T. "immer unterwegs" (1992:39;25f.). Über ihn ist er auch in die o.e. Clique eingebunden (vgl. 41; 12f.). 1993 geht sowohl die Freundschaft, als auch die Cliquenbindung in Folge des Umzugs von T. auseinander. Damit geht eine Abschwächung sowohl von Ungleichheitsvorstellungen, als auch von der Häufigkeit der Verwicklung in Gewaltsituationen einher. Alkoholkonsum gewinnt gleichzeitig an Bedeutung. Die neue Clique, der T. 1994 angehört, ist insgesamt in ihrer Struktur loser als die vorherige. Sie ist außerdem stärker mit Mädchen durchmischt. Auch jugend-/subkulturell gibt sie sich unspezifischer: "Techno-Freaks dabei und Heavy-Metal-Typen und Kiffer und Säufer und was weiß ich, so alles halt" (1994:49;16f.). Zwar sind auch welche dabei, die von sich glauben, "sie seien die rechtischsten Typen, die es auf der ganzen Welt gibt" (50;34), doch insgesamt gebe es "halt von jedem etwas" (ebd.). Eher verhält es sich jetzt so, dass man sich vor "Rechten" in Acht nimmt; dies weniger aus politischen Gründen, denn um sie sich nicht zu ernsten Gegnern zu machen, antwortet man auf deren "Sieg heil!" schon mal mit demselben Gruß (vgl. 1994:52). Man hat jedoch Angst vor ihnen, weil sie T.er sind und T.er aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen als Feinde gelten und sie zudem als "Glatzen" den Ruf haben, leicht reizbar und sehr gewaltbereit zu sein (vgl. ebd.;49ff.). Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass diese Gegnerkonstruktion auch zur o.e. Grenzlinienziehung zwischen rechts und rechts beiträgt, vielleicht sogar die Idee dazu angestoßen hat. Eine Freundin hat T. über den Untersuchungszeitraum hinweg allenfalls sporadisch. Partnerschaftsbeziehungen haben für ihn nie die Bedeutung, die er Jungenfreundschaften beimißt. Die Schule stellt für T. über den gesamten Zeitraum der Studie hinweg einen Ort erheblichen Ärgernisses dar. "Abbrennen", "Zeitverschwendung", "häufige Unterrichtsstörung" und "gegen die Schulordnungsregeln verstoßen" sind seine ersten Assoziationen 1992 (vgl. 50 und 3). Er zieht "Spaß" daraus, Lehrer "fertigzumachen", auch solche, die er an sich mag (vgl. 4) Die soziale Anerkennung, die er dadurch von Klassenkameraden genießt, ist ihm wichtig: "Da haben mir alle gratuliert, wie ich das geschafft habe." (1992:4;6f.) Auch nach dem Wechsel auf eine andere Schule 1993 bleibt es bei der Einschätzung "Scheiß Schule. Wir machen, was wir wollen" (3;25f.). Sind seine Leistungen 1992 noch in einem Bereich, der die Aspiration `Mittlere Reife` bzw. Berufsfachschule entstehen läßt (vgl.1992:51f) und zeigt er sich für die Aussicht auf einen "richtigen Job" noch leistungsmotiviert (vgl.ebd.; auch sein Lehrer bezeichnet ihn als einen "pfiffigen Typ, der für die Hauptschule eigentlich schon zu weit ist"), so fallen sie danach rapide ab, können sich dann zum Hauptschulabschluss allerdings noch wieder ein wenig verbessern ("im CXC Durchschnitt 3,2, das ist eigentlich okay"; 1994:3;39), so dass der Übergang in eine berufliche Ausbildung relativ leicht möglich wird. Auf der Berufsschule 1994 handelt er sich, obwohl er sie zum Befragungszeitpunkt erst wenige Monate besucht hat, sofort Probleme ein. Er schwänzt sie gleich zweieinhalb Wochen lang (vgl. 1994: 25;34ff.). In seiner Freizeit spielt T. im Verein Fußball und nimmt gerne an den wenigen zur Verfügung stehenden Freizeitangeboten der Jugendarbeit teil. Dominiert wird seine Zeitverwendung aber durch "Herumhängen auf der Straße", kleine Grenzübertretungen ("öfter mal geklaut"; vgl. 1992:6;34ff. vgl. auch 1992:42,1ff.)), die o.e. gewaltförmigen Provokationen, Cliquenkontakte sowie Drogenkonsum (vor allem 1993 Alkohol, 1994: Haschisch). 1992 ist T. stark auf sein Wohnumfeld bezogen. Entsprechend stark leidet er unter der angeblich "übermäßigen" Präsenz von Migranten dort. 1993 ist in seiner nunmehr dörflichen, neuen Wohngegend a) "weniger los" (vgl. z.B. 18 und 20) und b) zu seiner Freude ein deutlich geringerer Migrantenanteil festzustellen (s.o.). Damit geht eine Reduktion von Gewaltsituationen und seiner fremdenfeindlichen Haltung einher. 3.1.3 Medienrezeption und sonstige Ressourcen politisch relevanter Information Soweit erkennbar rezipiert T. keine medialen Produkte, die der Verbreitung rechtsextremer Propaganda dienen. Allenfalls sein Musikkonsum könnte als in dieser Hinsicht prekär eingestuft werden. Rechtsrock gehört neben Heavy Metal zu den von ihm bevorzugten Genres. Er mag "den Inhalt von den Texten". Zwar findet er "voll den Nazi-Trip" "nicht so gut", mag aber, wenn es "schon ein bißchen gegen die Ausländer" geht (1992: 42;9ff.). Allerdings setzt er sich von "zu extremen" Texten ab und gibt generell zu erkennen, dass eher das Musikalische ("das Harte") als das Textliche für seine Vorlieben ausschlaggebend ist. Es handelt sich mithin eher um Stil- als um politisch-inhaltliche Präferenzen (vgl. auch 1992: 42;1ff.). Nicht ohne Auswirkungen auf sein Denken blieb der schulische Geschichtsunterricht, den er entgegen seiner sonstigen Einstellungen gegenüber allem Schulischen als "interessant" empfand und ein Besuch, den er im Klassenverband im KZ Dachau "voll interessiert" (1994:62;9) absolviert hat. Habe man sich auf der Hinfahrt und selbst auf dem Gelände noch Judenwitze erzählt (61;14), sei er anschließend beeindruckt gewesen: "Wenn Du da rüber läufst ins Krematorium, da stehst Du drinnen und denkst so `lauter Tote` und da kommt es Dir dann ganz anders..." (61;37ff.) Er resümiert für sich: "Manche meinen sie wären voll die Neonazis und voll die rechten Typen und wissen sie nicht einmal was Hitlerjugend war...dann denken die halt, ja, alles, was keine Arier sind, sind Ausländer und ich möchte wissen, wer von den Nazis dann Arier ist. Ich wette, das sind gerade mal 4 Prozent davon..." (62;23ff.) Dass T. diese Deutung nun vornimmt, hängt aber wohl auch damit zusammen, dass sie für ihn jetzt deshalb subjektiv funktional ist, weil sie eine selbstaufwertende Absetzungsmöglichkeit von den bedrohlichen gegnerischen T.er Glatzen beeinhaltet und auch sonst zu seiner Grenzziehungsidee zwischen rechts und rechts paßt: Er kann sich vom Rassismus des Nationalsozialismus politisch korrekt absetzen, ohne sein in seinen Augen gemäßigtes Rechtssein aufgeben zu müssen. 3.1.4 Erfahrungen mit und Ressourcen von gesellschaftlicher und politischer Teilhabe T. hat keine Erfahrungen mit aktiver politischer Teilhabe. Verantwortlich dafür scheint weniger ein Mangel an Gelegenheit zu sein. Weder z.B. an einem vorgezogenen Wahlrecht, noch an einer durchaus möglichen Beteiligung am örtlichen Jugendgemeinderat hat er Interesse. (vgl. 1994er Int.). Auch über die Zukunft macht er sich noch keine Gedanken. Eher ist eine diesbezügliche Interessenlosigkeit zu konstatieren. Zu fragen ist allerdings, CXCI wieso diese sich aufbaut. Ausdrücklich führt T. sie darauf zurück, sich die Gegenwart nicht verdüstern lassen zu wollen: "...da mache ich mir jetzt noch keine Gedanken. da würde ich mir jetzt nur alles versauen... ich würde mir gleich meine ganze Jugend, meine ganze Freizeit versauen dadurch." (64;2ff.) Wenn er 1993 positive Erfahrungen von einer im Rahmen von Jugendarbeit zustandegekommenen gemeinsamen Urlaubsfahrt mit Körperbehinderten berichtet, sogar den Zivildienst in diesem Bereich anpeilt und spontan gegenüber dem Hinweis auf die mögliche Durchsetzung einer eugenisch orientierten Politik nachdrücklich äußert. "Dann gehe ich in die Politik, dann gehe ich in die Politik!" (67;1), deutet sich an, dass ihm ob dieser Gegenwarts- und Genußorientierung generell keine Engagementbereitschaft abgeschrieben werden darf. Vermutlich ist er am ehesten dann zu Interessenbekundung und -verfolgung bereit, wenn er sich persönlich von politisch induzierten Umständen betroffen sieht. In eben diesem Zusammenhang ist wohl auch sein Rechtssein zu verstehen: Durch die Anwesenheit von Migranten und das ihnen unterstellte "Auf-der-Tasche-Liegen" sieht er sich, selbst ohnehin finanziell nicht auf Rosen gebettet, vor allem materiell schlechtergestellt und damit im Hinblick auf gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten benachteiligt; eine Empfindung, die sich in ihrer Bedrückung für ihn 1994 auch deshalb verringern kann, weil er durch den Beginn der Berufsausbildung fürs erste eine Option für die Zukunft erwerben konnte. Sie gibt seinem bislang wechselreichen Leben eine gewisse Stabilität. Insofern erscheint es nachvollziehbar, wenn er die Sorgen seiner Mutter um seine Zukunft ("Meine Mutter meint halt immer,...sie muss mir stundenlange Vorträge über die Zukunft und die jetzige Situation, die Arbeitssituation in Deutschland erzählen und wie es mal in 2 oder 3 Jahren ist und da habe ich echt keinen Bock drauf, das jeden Tag..."; 1994: 25;22ff.) abwehrt: "Also das hängt mir also langsam echt schon zum Hals raus." (ebd;30f.). 3.2 Kategorien, Kompetenzen und Mechanismen der Erfahrungsstrukturierung 3.2.1 Zentrale Bezugspunkte sozialer Identität Nationalempfinden ist für T. durchgängig, jedoch mit abnehmender Stärke und mit (1994) zunehmender Widersprüchlichkeit, ein zentraler Bezugspunkt seiner Entwicklung von sozialer Identität. Dies kann darüber erklärt werden, dass andere denkbare Bezugspunkte von Realitätskontrolle im sozialen Zusammenhang bis auf Gewaltförmigkeit im Freundeskontext für ihn zunächst weitestgehend ausfallen: Emotionales Aufgehobensein in der Familie, Beweis von Leistungsfähigkeit (in der Schule), besondere Interessenverfolgungen und positive Rückmeldungen durch Freizeitbetätigungen oder Vergleichbares. Das Zusammensein mit gleichgesinnten Gleichaltrigen in ähnlichen Lebenskonstellationen und gleichsinnige Denkweisen im Elternhaus, die sich an den öffentlichen Diskurs über das "Ausländer- und Asylantenproblem", wie er sich vor allem im Vorfeld der Asylrechtsreform abspielte, anbinden, wirken zusätzlich bestärkend. Erst später kann der im neunten Schuljahr stattfindende schulische Geschichtsunterricht über den Nationalsozialismus Gegenkräfte entwickeln. Es ist davon auszugehen, dass sie aber auch nur deshalb Wirkung entfalten können, weil der lokale Bezugsrahmen von T. sich durch Umzug geändert hat, die Präsenz von Migranten, für ihn gleichbedeutend mit interethnischen Konfliktlagen, im Lebensumfeld von T. subjektiv - und übrigens auch objektiv - erheblich geringer wird und die Mitgliedschaft in der Clique bzw. die Freundschaft mit S. abbricht. Geschlechtsspezifisch betrachtet ist die Bezugnahme T.s auf traditionale Elemente maskuliner Selbstinszenierung und interpersonaler Dominanz offensichtlich. Dabei scheint es, als würden 1992 außenaggressive, 1993 autoaggressive (Saufen bis zum Umfallen) und 1994 Mischformen von beidem (extensiver Drogenkonsum - "in letzter Zeit habe ich echtvoll Drogen genommen" ;1994:20;18f. - und exzessive Gewalt) vorherrschen. Ob jedoch eine Aufladung solcher Gewaltakzeptanz mit rechtem Gedankengut erfolgt, scheint CXCII für T. davon abzuhängen, in welchen sozialen Freundschaftsbezügen er sich gerade befindet. Dass diese wiederum überhaupt so orientierungskräftig sein können, ist vermutlich eine Folge der mangelnden Orientierungsfähigkeit der anderen Sozialisationsinstanzen in Hinsicht auf die Ausbildung einer tragfähigen und dabei gewaltfreien männlichen Identität. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch sein größter Wunsch: dass er seinen Vater noch hätte (1994:38f.). Jugendkulturell ordnet T. sich über die Jahre hinweg nie eindeutig zu. Festzuhalten bleibt aber, dass ihn Elemente einer sich politisch rechts ansiedelnden Kultur permanent begleiten. Vor allem ist hier der Rechtsrock zu nennen. Dieser hat für ihn jenseits aller Stilund Geschmackfragen offenbar auch erheblichen Provokationswert. Charakteristisch ist die Szene, die er 1994 beschreibt: "Da (vor einer Hütte neben einem Kindergarten) sind wir neulich gehockt, da haben wir Musik gehört und was getrunken und so, gerade astreine Musik, Störkraft, laufen lassen, dann ist der Kindergarten gekommen... dann haben wir voll mitgesungen, so ein Lied, wie heißt das? Schwarzwälder Brot. Dann haben wir wieder zurückgespult und immer wieder laufen lassen. Irgendwann sind so ein paar türkische Kerle gekommen, haben sich ganz groß vor uns hingestellt, wir singen, dann hören wir auf, schauen die so an und die: `schwarz, weiß rot` und waren weg. Ich hab gedacht, ich spinne, ich musste so lachen, mich hat es schier von der Bank heruntergeschlagen. Das musst Du Dir mal vorstellen, Du singst die ganze Zeit voll die rechten Lieder und voll für Deutschland und dann kommen so ein paar kleine Türken her `schwarz, weiß, rot` und hauen wieder ab. Ja, das war schon lustig." (1994:40;10ff.) Deutlich wird, dass er nicht nur die Provokation gegenüber den Kindergärtnerinnen genießt, sondern auch über die Ignoranz der "kleinen Türken" amüsiert ist, die Lieder (an)singen, von denen er weiß, dass sie ausländerfeindlich gemeint sind. Der soziale Nahraum der Familie ist zwar politisch gleichgestimmt, bietet aber keine Basis für eine eigenständige Identitätsentwicklung. Die ohnehin schon durch schwierige Ausgangsbedingungen belasteten Beziehungen sind zunehmend von Kommunikationslosigkeit bzw. "Zoff" bestimmt. Ein familiäres Wir-Gefühl kommt so nicht auf. Bezeichend ist, dass der 15jährige T. mit seiner 13jährigen Schwester 1994 alleine (auf einem Bauernhof) Ferien machen will und macht, während die Eltern mit dem Motorrad nach Italien fahren, noch bezeichnender, dass er alltags "bloß noch weg " ist (1994:9;27). Entsprechend stark pflegt er Gleichaltrigenkontakte; allerdings - wie erwähnt - von nicht unproblematischem Zuschnitt. 3.2.2 Individuelle Kompetenzen bzw. Mechanismen zum Aufbau personaler Identität Reflexivität tritt bei T. innerhalb der Interviews mit ihm nur stellenweise zu Tage. Während er das Verhalten anderer bisweilen sehr kritisch wertet (etwa das seiner Mutter), äußert er wenig Selbstkritik. Wo er dies doch tut, bezieht sie sich nachvollziehbar realistisch zwar darauf, "ein wenig frech" zu sein und - bei einem "guten Charakter" - "eine ziemlich große Klappe" zu besitzen (1992:19;2ff.), doch Konsequenzen in Hinsicht auf eine Veränderung seines Verhaltens zieht er nicht. Vielmehr gefällt er sich in der Rolle des Provokateurs und harten Burschen, der "nichts anbrennen" läßt. Dies gilt ersichtlich, besonders deutlich1992, auch für die Sphäre des Politischen. Es deutet sich an, dass u.a. gerade seine geringe politische Kenntnis und Reflektiertheit (vgl. auch 1994: 64) für die Rigorosität seiner Lösungsvorschläge für interethnische Konfliktlagen verantwortlich gemacht werden kann. Auf die Frage des Interviewers, wie man das "Problem in den Griff" bekommen könne, erwidert er nämlich: "Darüber habe ich mir bis jetzt noch keine richtigen Gedanken gemacht, so über das, wie man das lösen könnte. Ich habe auch immer gedacht, raus mit dem Zeug, immer raus mit CXCIII denen, haben wir keinen Ärger mehr, sie sollen dahingehen, woher sie kommen, aber sonst habe ich mir noch eigentlich keine Gedanken darüber gemacht." (1992: 31;21) 1993 und 1994 sieht er die Sachlage zwar differenzierter, ist jedoch nicht in der Lage, Widersprüchlichkeiten seiner Orientierung aufzulösen (z.B. einerseits für die multikulturelle Gesellschaft zu optieren, andereseits das "Ungeziefer" möglichst des Landes verwiesen zu wünschen, einerseits den Nationalsozialismus abzulehnen, andererseits dessen Klima der Minderheitenfeindlichkeit positiv zu finden). Noch weniger als im politischen Orientierungsbereich kommt Reflexivität hinsichtlich seiner allgemeinen Gewaltakzeptanz zum Tragen. Es scheint, als sei die Faszination an der Demonstration von Macht, der Fähigkeit, anderen seinen Willen aufzuzwingen, das entscheidende Hindernis dafür. Anzunehmen ist, dass sein Suchen nach solchen Erlebensweisen Kompensationsfunktion für seine sozialisatorische Erfahrung innehaben kann, selbst im Laufe seines Lebens häufig ohnmächtig den Entscheidungen anderer ausgeliefert und hin- und hergeschoben worden zu sein. Möglicherweise ist er in Folge des letzteren hochsensibel gegenüber jeglichen Anforderungen der Erwachsenengesellschaft an ihn (z.B. von Schule und Mutter) und interpretiert sie leicht als Zumutungen. Vielleicht ist er auch daher nicht imstande, Empathie für die Sorgen seiner Mutter um seinen Werdegang ("Ich will später mal einen anständigen Jungen und keinen Tagedieb";1992:14;2ff.) aufzubringen. Für ihn bedeuten sie in ihrer Konsequenz Herumkommandieren und Einengung. Würde er gegenüber seinen Gewaltopfern Empathie aufbringen, sähe er sich mit seinen eigenen Auslieferungsgefühlen konfrontiert und könnte er sie nicht mehr mittels ostentativer Machtdemonstration und die positiven Emotionen dabei zu kompensieren versuchen. Aus seiner Sicht handelte er sich damit Verunsicherungen ein, weil doch die einzige Selbstbestätigung, die für ihn übrigbleibt, nämlich die als "echter Macker" im Kreis der Gleichaltrigen, damit Gefahr liefe, verloren zu gehen. Deshalb kann er eigentlich auch subjektiv kein Interesse daran haben, Konflikte verbal zu regeln. Zu seinem Image gehört Kompromißlosigkeit, Unnachgiebigkeit und Härte. Dort, wo sie als Violenz nicht opportun ist, in Schule und Elternhaus, reduziert er sie auf Widerstandshaltungen und Zumutungsvermeidung. Verantwortung für sein eigenes Leben zu übernehmen, ist er kaum bereit: Immer wieder fällt er in der Schule disziplinarisch auf, ein Betriebspraktikum im neunten Schuljahr besorgte er sich erst nach zahlreichen Erinnerungen der Lehrerin ohne das Interesse an der Verfolgung sachlich-inhaltlicher Arbeitsinteressen erst "auf den letzten Drücker", nur durch die Tatkraft und die Beharrlichkeit seiner Mutter, die ihren Sohn ins Auto setzte und mit ihm potentielle Ausbildungsbetriebe "abklapperte", kommt er an seine Berufsausbildung. Suff und Drogenkonsum erreichen - auch nach seinem eigenen Eindruck - bei ihm erhebliche Ausmaße etc.. Er scheint eine entsprechende Unbotmäßigkeit und Gegenwartswie Genußorientierung als Vorrecht der Jugend zu sehen (vgl. 1994:64;1ff.); angesichts seiner recht freudlosen Kindheit nachvollziehbar, im Hinblick auf eine bewußte Lebensführung und -planung jedoch eher prekär. Da T. Selbstwertgefühl weder über kontinuierlich gewährte familiale Basis-Sicherheiten noch vermittels Leistungserbringung in den zentralen gesellschaftlichen Bereichen (für ihn vor allem in der Schule) aufbauen konnte, nimmt es wenig Wunder, wenn er seinen Wunsch nach Akzeptanz und persönlicher Bestätigung eher in der Gesellschaft der peers sucht. Hier kann er das Gefühl von persönlicher Stärke erfahren, das ihm durch die Widernisse seines bisherigen Familienlebens und in anderen gesellschaftlichen Bereichen versagt geblieben ist. Hier muss er nicht das Gefühl haben, Spielball der Erwachsenen zu sein, hier ist er selber ein geachteter `Player`. 4. Zusammenfassung CXCIV T. ist ein Jugendlicher, dessen hohe Gewaltakzeptanz vor dem Hintergrund schwieriger und selbst gewaltbestimmter Sozialisationsbedingungen verstanden werden muss. Aufgrund des häufigen Wechsels seiner familialen Bezugspersonen und damit wahrscheinlich verbundener Erfahrungen von Ablehnung, jedenfalls von mangelnder Akzeptanz (die Mutter beließ nach der Scheidung die Kinder beim Vater, dessen neue Frau ging alles andere als liebevoll, ja augenscheinlich selbst mit dem Erziehungsmittel der Gewalt mit den ihr `fremden` Kindern um), von Verlust und von Alleinaufsichgestelltsein (nach dem Tod des Vaters), kann sich eine emotional tragfähige, von gegenseitigem Verständnis geprägte kontinuierliche Beziehung zu den Eltern, nach dem Tode dann zur Mutter nicht aufbauen. Deren Freund kommt, weil er sich kaum um die Kinder kümmert, als vaterähnliches Vorbild nicht in Frage. Die Mutter scheint zwar über eine kontrollierende Erziehung, die sich an dem Wunsch nach Optionssicherung für ihren Sohn ausrichtet, um dessen Wohl bemüht zu sein. T. jedoch empfindet ihre Vorgaben und Eingriffe in die von ihm präferierte Lebensführung als altersunangemessene Bevormundungen. In ähnlicher Weise erscheint ihm die Schule, verschärft nach dem ersten Schulwechsel 1993 als eine Instanz, die seine Freizügigkeit beschneidet. Entsprechend widerständig zeigt er sich hier. Da er andererseits um ihre Plazierungsfunktion für das Beschäftigtensystem weiß, sucht er zunehmend mit möglichst geringem Kraftaufwand ohne größere Aspirationen irgendwie durchzukommen, ohne gänzlich aussteigen zu müssen. Sind ihm solchermaßen Bestätigungserlebnisse in Schule und Familie für den Erwerb persönlicher Anerkennung und den Aufbau eines darauf basierenden Selbstwertgefühls verbaut, sucht er, seine Identitätsentwicklung eher außerhäusig und außerschulisch voranzutreiben. Das Peer-Milieu bietet ihm Gelegenheit, Erfahrungen von Akzeptanz und Selbständigkeit zu machen, die ihm anderenorts verwehrt bleiben. In diesem Umfeld kann er sich als jemand in Szene setzen, der nicht machtlos von außen kommenden Zumutungen ausgesetzt ist, sondern umgekehrt selbst über Gewaltanwendung Macht ausüben oder zumindest Wehrhaftigkeit demonstrieren kann. Faszination und Lust, die er dabei empfindet, bilden wohl die emotionale Kehrseite der jedenfalls subjektiv so gewerteten Opfererfahrungen von Auslieferung an äußere Mächte, die er ansonsten durchmacht. Hier kann er sich außerdem über den Cliquenverband in emotional bewegenden Situationen, wie Gewaltsituationen es nun einmal sind, Erfahrungen von selbstverständlichem Eingebundensein und Solidarität holen, die er innerhalb der Familie vermißt. Hier kann er sich zudem als jemand erleben., der im wahrsten Sinne des Wortes in Erstsituationen seinen "Mann" steht und sich nicht als Kind behandelt fühlen muss. Zigaretten- und Drogenkonsum als Insignien des Erwachsenenlebens, insbesondere auch der männlich konnotierte Alkohol, unterstreichen dies. Wenn sich die Gewaltakzeptanz mit Ungleichheitsvorstellungen verbindet, so scheint dafür zum einen seine aus o.a. Gründen starke Orientierung anfangs deutlich, später zumindest teilweise jugendkulturell rechts gestimmten peer-Milieu, zum anderen sein Aufgreifen von Auffassungen des Elternhauses verantwortlich zu sein. In beiderlei Hinsicht ist das Vorhandensein bzw. die Konstruktion interethnischer Konfliktlinien zwischen Einheimischen und Migranten für die Rechtsorientierung auschlaggebend. Bezeichnenderweise ist für den über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg finanziell eher schlechtgestellten T. dabei ein verspürter materieller Konflikt, zugespitzt auf die Wahrnehmung, als Deutscher (zumindest über die Abgabenlast seiner erwachsenen arbeitenden Familienangehörigen) arbeitsunwillige Migranten ungerechtfertigterweise aushalten zu müssen, durchgängig der entscheidende Punkt. Darauf dass letztlich wohl weniger der Familieneinfluss als der der peers ausschlaggebend ist, verweist der Umstand, dass nach dem Umzug in eine erheblich weniger von Ausländern bewohnte Gegend und nach dem damit verbundenen nahezu vollständigen Abbruch der alten Freundschaftskontakte seine politischen Äußerungen, genauer: seine Feindbilder, differenzierter werden und die Rigorosität seiner Ungleichbehandlungsforderungen nachläßt, obwohl im Elternhaus nachweislich noch immer dieselbe Haltung vorherrscht (s. CXCV die Reaktion des Freundes der Mutter auf den Solinger Anschlag). Nachdem T. 1994 Anschluss an eine neue, jetzt aber jugendkulturell und politisch heterogenere Clique gefunden hat, treten Ungleichheitsvorstellungen wieder eruptiv, einmal wieder unter Verwendung der früheren Vokabel "Ungeziefer", insgesamt aber unter Beibehaltung der schon im Vorjahr genannten Feindbildeingrenzung auf "Asylanten", nunmehr "Republikaner-Propaganda" aufgreifend - noch schärfer formulierend auf "Asylbetrüger", auf. Jetzt gehen sie allerdings eine in sich widersprüchliche Verbindung mit teilweisen Befürwortungen der multikulturellen Gesellschaft und expliziten Ablehnungen von Ausländerfeindlichkeit ein; eine Position, die als eine Art Spiegelbild der Heterogenität der in der Clique verbreiteten Auffassungen gedeutet werden kann. Seine Ablehnung von "Asylbetrügern" kann sich jetzt zudem nicht nur die durch Arbeitsplatzbesitz unter Beweis gestellte Normalität seiner Familie, sondern auch die seiner eigenen Person als arbeitender Mensch insofern zugutehalten, als er glaubt, nichts Unbilliges zu fordern, wenn er das Aufkommen für die eigene Subsistenz zur zentralen Bedingungen einer Anwesenheitstolerierung von Migranten erhebt. Auch das Rechtssein bzw. seine Inszenierung (u.a. durch drastische Sprüche, die mit der Beobachtung seines ehemaligen Lehrers in Einklang stehen, dass T. "jemand ist, der gerne herumproletet") besitzen für T. willkommenen Provokationswert. Auch darüber kann er sich als eine Person verstehen, die wahr- und ernstgenommen wird und der man, notfalls unfreiwillig, Respekt zu zollen hat. Volker 1992 - 1994 "(wir) sind auch halt so gerad gegen Nazis oder so... dann haben wir sie halt ein bißle geklopft" (1992: 15;6-9) " (ich bin) Mitte, eigentlich kann man sagen, also schon links, aber nicht ganz so, schon ein bißchen. Also ja schon Docs und solche Sachen und höre Punk-Musik und so Sachen. Aber nicht so ganz, also ein bißchen Iro und solche Sachen" (1993: 41;9-13) "Destroy Fascism" (Aufnäher auf V.`s Jacke 1994) 1. Objektive Daten zum Lebenskontext im Überblick Volker, geb. 1979, lebt mit seiner Mutter, deren Freund und späterem Ehemann und seinem vier Jahre jüngeren Bruder zunächst in der Kleinstadt A., dem wirtschaftlichen und kulturellen Mittelpunkt und zugleich zentralen Beschulungsort in einem ansonsten schwach strukturierten ländlichen Raum auf der Schwäbischen Alb. Die Familie ist vor wenigen Jahren nach der Scheidung seiner Eltern in diese Stadt gezogen und bewohnt bis 1993 eine 4-Zimmer-Mietwohnung im Stadtzentrum, in der V. über ein eigenes Zimmer verfügt. Nach der Wiederheirat seiner Mutter und der Geburt einer Schwester zieht die Familie in eine 6-Zimmer-Mietwohnung in den Vorort B. der Stadt A. um. V.s leiblicher Vater wohnt ca. 50 km entfernt und arbeitet als LKW-Fahrer. Seine Mutter arbeitete bis sie ihr drittes Kind bekam als Näherin in einer Trikotfabrik. Beide verfügen über einen Hauptschulabschluss. Auch V. besucht bis 1993 die Hauptschule und anschließend das BVJ. Sein Berufswunsch ist, Zweiradmechaniker zu werden. Er ist kontinuierlich (1992-1994) Mitglied im Jugend-Rot-Kreuz. Als Taschengeld erhält er 1992 50 DM im Monat, zu dem er sich zwischen 50 und 100 DM pro Monat durch das CXCVI Austragen des örtlichen Nachrichtenblattes hinzuverdient. Bis 1994 wird sein Taschengeld um 30 DM erhöht. Bei den Befragungen ist er eher ‘flippig’ gekleidet; seine Frisur und seine Kleidung (anfänglich `Kutte` mit aufgemalten Namen von Heavy-Bands) entsprechen über die beiden ersten Jahre der Studie hinweg einem Heavy-, später eher einem Rap-Stil. Zwischenzeitlich trug er einmal Doc Martens mit roten (d.h. anti-rechte Gesinnung symbolisierenden) Schnürsenkeln. Er ist klein, aber nicht schmächtig gebaut. 2. Politische Orientierungen 2.1 Allgemeine Orientierungen V. zeigt gewisses Interesse gegenüber alltagspolitischen Themen, die in den aktuellen Medien verhandelt werden, ist aber bis 1994 ganz froh, noch nicht zur Wahl gehen zu müssen. Zwar würde er sich zu diesem Zeitpunkt eher mit den ‘Grünen’ oder der ‘PDS’ sympathisieren, doch im wesentlichen ist ihm die institutionelle Politik zu undurchschaubar, als dass er sich bei einer Wahl entscheiden könnte: "Ja, ich finde, also, wenn jetzt so viele Parteien zur Wahl stehen, dann weiß man nicht, dann meine ich halt, wenn man 16 ist, weiß man auch nicht so genau, was man wählen soll, weil es gibt eigentlich schon viele linke Parteien und rechte und christliche so, ja, und dann und Wahlspots und so, da weiß man auch nicht so genau, was man wählen soll." (1994:20;20-26) Mit seinen Äußerungen nimmt V. zwar politisch einen Standort ein, doch kann er diesen sprachlich nicht genau umreißen oder politisch begründen: "Ja, Mitte eigentlich, kann man sagen, also schon links, aber nicht ganz so, schon ein bißchen, also, ja schon Docs und solche Sachen und höre Punk-Musik und so Sachen, aber nicht so ganz, also ein bißchen Iro und solche Sachen, rumlaufen also nicht." (1993:41;613) Seine politische Selbstverortung begründet er primär mit seinen musikalischen Vorlieben. Dabei zeigt er eine Affinität zum deutschen, ‘nicht-rechten’ Punk, der sich inhaltlich nach seiner Wahrnehmung "immer gegen Nazis meistens" (1992:16;28) richtet. Er rechnet sich außerdem anfangs des Untersuchungszeitraums zu den Heavies sowie ein bißchen zu Punkern, Rockern und Discofans und wendet sich erst 1994 aus nicht weiter erklärten Gründen eines neuen Musikgeschmacks dem auch nach seiner Wahrnehmung gerade bei ausländischen Jugendlichen häufig favorisierten HipHop zu. An Geschichte und Geschichtsunterricht hat V. mäßiges Interesse. Es erscheint eher so, als wenn er ein solches Themengebiet wie auch andere Unterrichtsfächer einerseits als Muss hinnimmt, andererseits aber auch nicht ablehnt. 2.2 Ungleichheitsvorstellungen/Gleichheitsvorstellungen im Kontext von Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus V. zeigt über den Untersuchungszeitraum hinweg kontinuierlich eine Ablehnung rechtsextremistischer Haltungen und Gewalttaten. Offenbar verurteilt er es, wenn Menschen in ihrem Recht auf Unversehrbarkeit nicht respektiert werden und meint in Bezug auf von Rechten angegriffene Ausländer: "die haben auch ihr Recht." (1993:42;5). Genauer indes kann er diese beständige und unverrückbare Sichtweise nicht begründen. Gleichwohl befürwortet er nicht die politische Gleichberechtigung von Ausländern, zwischen denen er nicht näher nach jeweiligem Status unterscheidet. So wäre es ihm zwar "eigentlich egal, wer wählen dürfte", doch ein freies Wahlrecht für Ausländer gefiele ihm nicht so recht, weil dies sich "gerade zu ihrem Vorteil und so" auswirken könnte. Sicher ist sich V. allerdings nicht: "also schlimm wäre es eigentlich nicht." (1994:20;33-40) V. kann sich erklären, warum Menschen ausländerfeindliche Anschauungen vertreten. Als Ursachen nennt er elterliche Beeinflussung - "dass es vielleicht von den Eltern her auch kommt" 1993: 10;9) -, Schuldzuweisungen für die Ressourcenverknappung in der BRD - CXCVII "die denken, die nehmen alles uns weg und so" (1992:25;3) - und Abschottungsbestrebungen aus Angst vor Überfremdung - "die wollen hier Deutschland zumachen" (1992:25;6). Auch in seiner Nachbarschaft beobachtet V. ausländerfeindliche Haltungen (1992). Er selbst sieht sich explizit nicht unter solchem Einfluss und nimmt keine einfachen Schuldzuweisungen für die Arbeitslosigkeit in der BRD vor. Vielmehr weiß er, dass Waren vielfach im Ausland billiger produziert werden können, wodurch im Inland Arbeitsplätze wegfallen. Auch geht er grundsätzlich davon aus, dass es zu wenig Arbeit überhaupt gibt (1993). Längerfristig könnte er sich finanzielle Engpässe als potentielle Konfliktpunkte vorstellen. Keineswegs aber würde er sich gegen das grundsätzliche Asylrecht aussprechen: "Solange Krieg in Bosnien ist, geht’s auch mit Asyl weiter." (1993: Memo). V. konturiert seinen eigenen politischen Standort vor allem über die Abgrenzung von Selbststilisierungen rechtsextrem orientierter Jugendlicher in A. im Alter von 14 bis 17 Jahren. An ihrem äußeren Erscheinungsbild - "auf den Jacken so Deutschlandflaggen drauf und das Eiserne Kreuz" (1993: 40;20) - und Verhalten orientiert sich seine Definition von Rechtsextremisten: V.: "Die haben so Aufkleber, so mit Uhu gemacht, ‘Scheiß Türken’ und so halt draufgeklebt. Da haben wir halt mal ein paar gesehen, wo das gemacht haben. Und dann hört man’s halt auch, dass sie’s sind. I.: Ja, was sagen sie dann zum Beispiel? V.: Grad ‘Scheiß Ausländer’, ‘Scheiß Türken’ und so." (1992:16;2-8) Dieselben Jugendlichen produzieren auch Graffitis mit dem Schriftzug "Scheiß Heavies" (1992: 18;5ff.), von denen er sich aufgrund seiner jugendkulturellen Selbstzuordnung besonders getroffen fühlt. 2.3 Gewaltakzeptanz Für V. ist die Ausübung körperlicher Gewalt vor allem im Cliquenkontext normal. Allerdings erachtet er das Gewaltniveau in seinem Lebensumfeld als eher niedrig: "Also bei uns ist es eigentlich nicht so mit der Gewalt, also bloß manchmal ein Streit, aber sonst auch nicht irgendwie mit Messer oder so Gewalt." (1993:34;6-8) Vor allem in den Jahren 1992 bis 1993 kommt es zu "Klopfereien" mit gegnerischen Jugendlichen, die er vor allem dem politisch rechten Spektrum zuordnet: "Nazis oder so, da hat`s halt auch ein paar hier, also nicht gerad so mit Glatze oder so, dann haben wir sie halt ein bißle geklopft" (1992: 15;6ff.) Diese Gegnerschaft scheint allerdings letztlich weniger politisch begründet zu sein, als mit jungenspezifischen Ausrichtungen hinsichtlich Territorialverhalten, Provokationen und Stärkeerfahrungen im ansonsten gleichförmigen und zum Teil oft als unausgefüllt erlebten Alltag sowie mit der jugendkulturellen Einbettung solcher Konkurrenzkämpfe im Zusammenhang zu stehen. Insbesondere am Bahnhof kommt es zu derartiger, ganz offenbar von allen Seiten aktiv gesuchter Territorialkonkurrenz unter Jungen: "... da sind halt zwei Bushaltestellen: da eine und da. Und da sind meistens die anderen und da sind wir." (1992: 22;31f.) "Also grad nach der Mittagsschule am Bahnhof, und da gehen wir halt hin.... Und am Dienstag waren sie wieder da, dann haben wir sie verdroschen..." (1992:15;18-21) Als Anlass dienen Provokationen gegen die "Gruppenehre" (1992: 21;32) wie "Scheiß Heavy oder so" (1992:18;8) und "Scheiß Linke und so" (1993:40;4) . Eine erfolgende Stärkedemonstration wird ´pädagogisch` begründet: "Sollt’ man sie halt mal so verschlagen, dass sie nächstes Mal anders sind." (1992:16;1516) Zu härteren Schlägereien kommt es in seinen Augen eher "selten, ja halt schon, aber vielleicht alle zwei Monate oder so" (1993:34;13-14). Der Grund für eine gewisse CXCVIII Begrenzung der Gewalttätigkeit liegt seines Ermessens in der Kenntnis der Jugendlichen um die Bereitschaft beider Gruppen, jeweils wechselseitig gewaltsam Rache zu nehmen (1993:40). 1994 scheinen bedingt durch seinen Umzug in das Dorf B. die Auseinandersetzungen an Quantität zu verlieren. Allerdings fühlt V. sich in seiner Sicherheit gefährdet. Er hat den Eindruck, dass ihn im örtlichen Jugendclub "die meisten" aus politischen Gründen "nicht leiden" können: "Weil sie, die sind, die sind alle, kann man sagen, eigentlich so rechts eingestellt." (1994:6;40-7;1). Offenbar haben andere Jugendliche ihm nicht direkt, sondern über eine Freundin mitteilen lassen, es müsse sich als Träger eines Aufnähers "Destroy Fascism" vorsehen und "aufpassen" (1994:7;31-33). Diese Einschüchterungsversuche beschäftigen ihn, doch fühlt er sich einer potentiellen Schlägerei durchaus gewachsen und glaubt, sich "selber helfen" zu können (1994:9). Darüber hinaus gehende Gewaltakzeptanzen äußert V. lediglich in Form von Befürwortung einer Ausweitung institutioneller Gewalt gegenüber rechtsradikalen Jugendlichen (1993). 3. Zusammenhang von politischer Orientierung und Gewaltakzeptanz mit sozialen Erfahrungen und Erfahrungsstrukturierung 3.1 Erfahrungen und Bearbeitungsressourcen 3.1.1 Problembelastungen und zentrale Interessenlagen Im Laufe des Untersuchungszeitraumes wandeln sich V.s zentrale Problembelastungen. Schon zu Beginn des Untersuchungszeitraumes hat er immer wieder Schwierigkeiten in der Schule, sei es, weil er institutionelle Regelungen verletzt und beispielsweise eine Ratte mit in den Unterricht bringt, sei es, weil er sich von unfairen oder zu strengen Lehrern angegriffen fühlt und mit Widerstandshaltungen reagiert. Durch sein Verhalten handelt er sich etliche von ihm als ungerecht empfundene Sanktionsmaßnahmen ein (1992-93). Seine Leistungen demgegenüber hält er 1992 für "so gut eigentlich" (28;38). 1993 nennt er erstmals die Sorge um die weitere Lebensplanung. Von seinem Traumberuf "Masseur" musste er aufgrund der für die entsprechende Ausbildung notwendigen größeren finanziellen Investitionen Abstand nehmen. Inwieweit er als Zweiradmechaniker eine Lehrstelle finden kann, erscheint ihm ungewiß (1993). Die schulischen Schwierigkeiten, nun auch offen zugegebene Leistungsprobleme, werden seit 1993 immer mehr zu einer Belastung. Als er in diesem Jahr seinen Schulabschluss nicht erreicht, weist er dafür den LehrerInnen die Schuld zu. 1994 belastet ihn der Besuch des BVJs zur Erlangung des Hauptschulabschlusses ebenso wie die neuerliche Wohnsituation in dem abgelegenen Dorf B. Außerdem wünscht er sich "schon eine feste Freundin" (41;28). 3.1.2 Erfahrungen im sozialen Nahraum und seine sozio-emotionalen Ressourcen V.`s Familiensituation ist zunächst gekennzeichnet durch die Berufstätigkeit seiner alleinerziehenden Mutter. Obwohl sich seine Mutter um ihn und seinen Bruder zu kümmern versucht, ist er doch aufgrund ihrer ganztägigen Abwesenheit weitgehend auf sich allein gestellt, was sich erst mit der Geburt seiner Schwester ändert. Früh werden ihm relativ große Freiräume gewährt, die er zum Teil auch über die ihm gesetzten Grenzen ausnutzt. Während der Berufstätigkeit seiner Mutter kommt er mittags nach der Schule nach Hause, macht für sich und seinen Bruder das am Vorabend vorbereitete Essen warm, erledigt seine Hausaufgaben und die ihm aufgetragenen Aufgaben im Haushalt und geht dann schnell zu seinen Freunden oder zu seiner Kusine, die in einem Vorort von A. wohnt. Der einzige Zeitpunkt für ein kurzes Beisammensein der gesamten Familie ist das Abendessen. Trotz relativ wenig gemeinsam verbrachter Zeit fühlt V. sich bei seiner Mutter geborgen und von ihr in seiner Persönlichkeit akzeptiert. Auch hat er das Gefühl, sich auf sie verlassen und sie jederzeit bei Schwierigkeiten ansprechen zu können (1992). An seiner Mutter schätzt er besonders die Großzügigkeit und die Lebenstüchtigkeit. Lediglich an ihrer gelegentlichen Willkür bei Erlaubnissen und Verboten übt er Kritik. Gleichwohl CXCIX schätzt er an ihr, sich bei Streitigkeiten zwischen ihm und seinem Bruder fair und um Gerechtigkeit bemüht zu verhalten (1992).Vor der erneuten Heirat besprechen seine Mutter und ihr Freund dieses Vorhaben mit den Kindern. V. akzeptiert ihre Entscheidung und genießt es auch, als seine Mutter wegen des Mutterschutzes verstärkt zu Hause ist. Insbesondere findet er es gut, jemanden zu haben, den er bei Hausaufgabenschwierigkeiten ansprechen kann (1993). Auch braucht er nun keine Versorgungsaufgaben für seinen Bruder mehr zu übernehmen. Insgesamt und kontinuierlich versteht er sich mit seiner Mutter gut, auch wenn es gelegentlich wegen seiner Überschreitungen von Regeln zu Hause oder in der Schule zu Ärger und Maßregelungen kommt. Schläge oder sonstige Formen der Gewalt kennt er als Erziehungsmethode bei seiner Mutter nicht. Seinen leiblichen Vater sieht er wegen dessen Berufstätigkeit als LKW-Fahrer unregelmäßig etwa ein- bis zweimal pro Monat. Mit ihm scheint er sich auch zu verstehen. Allerdings gibt er an, sich weder bei ihm geborgen, noch von ihm akzeptiert zu fühlen und auch mit Hilfe bei ihm nicht rechnen zu können (Fb). Sein Stiefvater ist für ihn wie ein "Onkel", "halt nicht so gerade wie ein richtiger Vater, aber das ist schon gut" (1993:2;11-13). Mit seiner Mutter und ihm bespricht er schulische und berufliche Fragen. Nach seinem Umzug aufs Dorf verbringt er wegen der schlechten Verkehrsanbindung und seiner eigenen fehlenden Mobilität die Abende in der Regel zu Hause. Allerdings möchte er sich verstärkt von seinen Eltern loslösen und ist mit dieser Wohnsituation keineswegs zufrieden (1994). Mit seinem jüngeren Bruder versteht sich V. nicht besonders gut. Insbesondere während der Zeit, als er für ihn noch verstärkt verantwortlich ist, wird dies deutlich. Wenn er sich von ihm zu sehr genervt fühlt, zeigt er ihm die Grenzen auch durch körperliche Gewalt auf : "Dann hau’ ich ihm halt eine ‘rein" (1992:11;4-5). Unter seinen sonstigen sozialen Kontakten spielen die Mitschüler in seiner Klasse, nach seiner Einschätzung zu einem Viertel Ausländer, - "die meisten sind auch Heavies so, keine Nazis und so" (1992: 26; 4f.) - eine eher untergeordnete Rolle. Durch die Aufteilung seiner Klasse in der Hauptschule verändert sich ihre Zusammensetzung 1993, und 1994 ist er erneut mit anderen SchülerInnen in einer Klasse im BVJ. Das Verhältnis zu ihnen ist stets unkompliziert. Der Freundes- und Bekanntenkreis von V. ist teils bestimmt durch seine Clique; diese überschneidet sich aber immer wieder mit weiteren Bekanntschaften und Freundschaften u.a. aus dem stilistisch ebenfalls eher heavyorientierten Jugendhaus in A. und seinen Verwandtschaftsbeziehungen. Insbesondere mit seinem Freund Robert (siehe Interpretation "Robert") bespricht er anfangs eher persönliche Dinge als mit einem anderen Menschen (1992), später allerdings entwickeln sich beide auseinander. In seiner Clique sind zunächst etwa 5 bis 9 Jungen, ab 1993 gehören auch zwei bis drei Mädchen dazu, alle deutscher Nationalität. Verbindendes Element zwischen den Jugendlichen ist neben der Musik "halt die Freundschaft" (1992:19;21). Stilistisch ordnet er seine Clique der Heavy- und PunkMusik zu, was auch durch entsprechende Kleidung und Haarfrisur signalisiert wird. Teils bewegen sich die Freundschaften in der Clique auf oberflächlichem Niveau. Zwar unternimmt man etwas zusammen, aber man erzählt sich und weiß wenig voneinander und wahrt eine ‘typische Distanz unter Männern’ (1992). Ganz wichtig ist für V. das Füreinander-Einstehen in Notsituationen: "Bei uns ist’s halt die Mutprobe so, dass man, egal bei was, bei allem zueinander hält, egal, wenn’s eine Schlägerei ist, dass man halt hilft und nicht daneben steht." (1992:21;32-35) Dieser Zusammenhalt ist funktional für das Behaupten von Stärke gegenüber rechtsextremistischen Jugendlichen, aber auch in den beiden ersten Jahren der Studie gegenüber einer vor allem durch ausländische Jugendliche gebildeten Raper-Szene, die im Jugendhaus in A. dominiert. Treffpunkt der Clique in der Freizeit ist der Bahnhof, wenn das Jugendhaus geschlossen hat, zeitweilig auch ein selbst ausgebautes altes Haus, bis es abgerissen wird (1993). Ab 1993 zeigt sich deutlich eine Lockerung seiner Clique; 1994 CC kann er wegen seines Umzuges vielfach an gemeinsamen Unternehmungen nicht mehr teilnehmen. V. bewegt sich zu diesem Zeitpunkt in einem eher losen Verbund von "Kumpels", mit denen gemeinsame Unternehmungen möglich sind und die ebenfalls eher `linke` Stilvorlieben pflegen. Eine Freundin hat V. während des Untersuchungszeitraums nicht. 3.1.4 Medienrezeption und sonstige Ressourcen politisch relevanter Information V. ist ein Jugendlicher, dem es schwerfällt, seine Meinungen sprachlich zu formulieren und über viele Fragen zur Politik noch nicht genau nachgedacht zu haben scheint. Eigenständig informiert er sich außer mittels der Nachrichten im Fernsehen nicht über Politik. Wichtige Bezugspunkte seiner politischen Haltungen sind zunächst seine Freunde. Insbesondere sein bester Freund im Jahre 1992 (Robert) spricht sich entschieden für die Gleichwertigkeit aller Menschen aus. Seine politischen Haltungen werden zudem mitbeeinflusst durch jene Jugendliche, mit denen er sich im Zuge gemeinsamer Musik- und sonstiger Stilvorlieben zusammenfindet und sich gegen andere Jugendszenen abgrenzt. Auch sein Elternhaus scheint auf seine politischen Haltungen Einfluss zu nehmen. Seine Mutter befürwortet eine andere politische Richtung als er selber (1994: CDU) und sucht das ernsthafte Gespräch mit ihm, als sie aufgrund ihrer Unkenntnis über die feinen Unterschiede zwischen weißen und roten Schnürsenkeln in Springerstiefeln ihn unter Rechtsradikalen wähnt. Offenbar würde sie eine solche Haltung nicht akzeptieren. Gemeinsam mit ihr und seinem Stiefvater bespricht er alltagspolitische Geschehnisse, u. auch die Anschläge in Mölln und Solingen, wobei sie alle einer Meinung sind: "Dass das halt falsch wäre, so eigentlich, ja. Dass man das nicht machen soll oder so, in der Art halt." (1993:9;20) Schule scheint für seine politische Entwicklung ohne Bedeutung zu sein. 3.1.4 Erfahrungen mit und Ressourcen von gesellschaftlicher und politischer Teilhabe V. engagiert sich kontinuierlich beim Roten Kreuz. Er besucht regelmäßig die Treffen und hilft auch gerne bei Sonderaktivitäten wie z.B. dem Weihnachtsmarkt (1993). Für ihn ist dies ein Angebot in einer ansonsten trotz regelmäßigen Jugendzentrumsbesuchs eher erlebnisarmen Freizeitsituation. Noch zu Hauptschulzeiten war er zwar Klassensprecher bzw. dessen Vertreter, hat diese Rollen aber mehr als solche der Organisation von Festen etc. denn als Hebel zur Mitwirkung an einer Gestaltung und Veränderung von Schule, auch nicht in eigener Angelegenheit, begriffen. Darüber hinaus engagiert V. sich weder in seinem Wohnort noch etwa im Jugendzentrum. Seine Form der politischen Teilnahme sind - teils gewalttätige Einschüchterungsmaßnahmen gegenüber rechtsextremistisch orientierten Jugendlichen. Diese Aktivitäten sind aber - wie erwähnt - nicht nur politischer Motivation zuzuschreiben, sondern mindestens ebenso sehr jugendkulturellen Abgrenzungsbestrebungen wie auch jugendkultur- und jungenspezifischen Ausrichtungen von Territorialverhalten und Stärkepräsenz. 3.2 Kategorien, Kompetenzen und Mechanismen der Erfahrungsstrukturierung 3.2.1 Zentrale Bezugspunkte sozialer Identität V. zeigt während des Untersuchungszeitraumes kein auffälliges Nationalbewußtsein. Es ist zudem nicht erkennbar, inwiefern V. durch seinen regionalen und lokalen Sozialraum in seinen politischen Überzeugungen beeinflusst wird. Offenbar aber ist er für die Entwicklung seiner Gewaltbereitschaft durchaus von Bedeutung. So begünstigt die mangelnde Angebotsvielfalt für Jugendliche vor Ort, der V. und seine Clique vorübergehend mit dem Ausbau einer `Bude` selbst begegneten (1993), die Suche nach Action und Abwechslung über Territorialkämpfe. Weiterhin beeinflussen ihn seine CCI sonstigen Beziehungen im sozialen Nahraum hinsichtlich seiner politischen Haltungen (s.o.). Sein Sozialstatus wird ihm 1994 wichtiger, da ihm in Folge des fehlenden Hauptschulabschlusses ein späterer gesicherter Lebensstandard gefährdet erscheint. Er wünscht sich, irgendwann ein Eigenheim zu besitzen. Trotzdem läßt er keine besondere Leistungsorientierung erkennen. Seine persönliche Zukunft erscheint ihm nicht wegen der Ressourcenknappheit und Arbeitslosigkeit in der BRD gefährdet (1994). V. hat vielmehr sein nächstes Ziel vor Augen, den Hauptschulabschluss. Das Weitere wird er erst danach zum Gegenstand von Überlegungen machen. Besonders wichtig sind ihm seine jugendkulturellen Orientierungen. Als Heavy- und Punk- bzw. später Rap-Fan sowie als ‘Linker’ verurteilt er Menschen politisch rechtsorientierter Szenen- und Cliquenzugehörigkeit. Auch Technos zählt er 1994 zu seinen Gegnern. Diese jugendkulturellen Abgrenzungen dienen offenbar der Gewinnung eigener Selbstvergewisserung, zumal er inhaltlich wenig zu diesen Gruppen bzw. zu dem Kern des Dissenses mit ihnen sagen kann. Sein gewaltförmiges Abgrenzungsverhalten scheint im engen Zusammenhang mit seiner geschlechtsspezifischen Sozialisation zu stehen. Er bewegt sich in einer ‘Männlichkeit’ und Widerständigkeit im Sinne von Wehrbereitschaft demonstrierenden Clique und lehnt sich dabei unreflektiert an traditionelle Muster von Maskulinität an, bei denen Aspekte ‘männlicher Autonomie’ im Sinne von Unabhängigkeit und Abwehr von Schwäche, Einsatz körperlicher Stärke zur Selbstbehauptung und -durchsetzung sowie Dominanzund Territorialverhalten im Vordergrund stehen. 3.2.2 Individuelle Kompetenzen bzw. Mechanismen zum Aufbau personaler Identität V. verfügt über wenig Toleranz gegenüber anderen Menschen und anderen persönlichen Meinungen, sofern diese Gruppen angehören, die er ablehnt. Er setzt sich mit deren Sichtweisen inhaltlich kaum auseinander. Ebensowenig zeigt er die Tendenz zur Reflexivität, weder auf persönlicher noch auf politischer Ebene. Es fällt ihm sichtlich schwer, zu argumentieren. Auch reflektiert er nie über eigenes Mitverschulden zum Beispiel an seiner schulischen Laufbahn. Stets sind es in seinen Augen die anderen, die in negativer Hinsicht Verantwortung für ihn tragen, auch wenn es darüber hinaus stolz darauf ist, wie eigenständig er ist. Zudem läßt er wenig Empathie erkennen und fühlt sich kaum in seine Freunde und Bekannte ein. So ist es auch nicht Empathie mit Ausländern, die seine anti-rechte Orientierung bedingt. Seine Konfliktfähigkeit beschränkt sich eher auf eine z.T. gewaltsame Wehrbereitschaft gegenüber gegnerischen Gruppen, als dass sie sich im Eingehen von argumentativ strukturierten Diskursen zeigt. Familiären Auseinandersetzungen entzieht er sich möglichst durch Verschweigen oder Aus-dem-WegGehen. Sein Selbstwertgefühl ist trotz seines Wissens um seine Wehrhaftigkeit bei Einschüchterungsversuchen oder tätlichen Angriffen eher gering. Zwar glaubt er, dass er selbständig ist und einige gute Seiten hat, doch glaubt er nicht, seine Angelegenheiten so gut wie andere regeln zu können (Fb.). 1993 hat er zwischenzeitlich zudem das Problem, als ‘Mann’ nicht nur klein, sondern auch übergewichtig zu sein. Die Zentralstellung jugendkultureller Verortung bei seinem Versuch, eine eigenständige Identität aufzubauen, erlaubt ihm so zwar bis zu einem gewissen Grade eine gesamt-gesellschaftliche Positionierung und Selbstvergewisserung, ermöglicht ihm aber nicht die Entwicklung einer Selbstsicherheit, für die eine in sich geschlossene und begründbare Haltung die Basis bildet. 4. Zusammenfassung V. bietet das Bild eines Jungen, der bei seiner Suche nach Handlungs- und Selbstsicherheit und aufgrund seiner geringen Kompetenzen zum Aufbau einer personalen Identität stark durch Orientierungen in seinem unmittelbaren sozialen Umfeld beeinflusst zu sein scheint. CCII Er erkennt selbst als Ursache seiner `linken` Orientierung`: "gerade durch hier, durch die Umgebung hier, also gerade A., da hat es fast keinen Rechten gehabt, also nie. Also auch durch die vielen Türken, also gerade so und durch die Freunde" (1994: 39;4-8) Seine Ablehnung von rechtsextremistisch orientierten Jugendlichen hat weniger mit Vorstellungen von Gleichwertigkeit aller Menschen zu tun als vielmehr mit jugendkultureller Cliquenorientierung sowie mit darin ausagiertem Territorial- und Dominanzverhalten, das einmal eingegangene Gegnerschaften über lange Zeit am Leben erhält.. Hinsichtlich seiner Gewaltorientierung lehnt sich V. an traditionelle Muster geschlechtsspezifischer Sozialisation von Jungen an. Über den Einsatz von Körperlichkeit in Auseinandersetzungen versucht er an Stärke zu gewinnen. Er entwickelt statt politischinhaltlich von ihm begründbarer Orientierungen eher politische Stimmungen, die er in etwa dem Spektrum der ‘Grünen’ oder der ‘PDS’ zuordnet. Explizite Gleichheitsvorstellungen finden sich bei ihm (fast) nicht. Sollte sich seine jugendkulturelle Orientierung im Verlaufe seines weiteren Lebens auflösen oder verschieben, kann insofern ein Schwenk nach rechts nicht ausgeschlossen werden. CCIII