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BEHINDERUNG UND POLITIK
Erscheint 4 x jährlich – 59. Jahrgang
Ausgabe 3/10 – September 2010
Schwerpunkt:
IV-Revisionen
Leistungsabbau um jeden Preis
verpackt als heilbringende Botschaft
herausgegeben von
Behinderung und Politik 3/10
Inhaltsverzeichnis
Editorial
Auf Gedeih und Verderb ............................................................................................. 3
Von Angie Hagmann
Schwerpunkt
Die 6. IVG-Revision im Parlament und in der Vernehmlassung ................................. 4
Von Ursula Schaffner
«IV behindert Ärzte und Fachpersonen oft bei deren Arbeit» ..................................... 6
Von Marie Baumann*
Die Arbeitgeber und die 6. IV-Revision ....................................................................... 9
Von Mélanie Sauvain
Eingliederung als sakrales IV-Reformprojekt ............................................................ 11
Von Ursula Schaffner
Sozialwerk mit altväterischem Namen ...................................................................... 13
Von Maria Gessler
Sozialpolitik
Sozialpolitische Rundschau ...................................................................................... 17
Von Mélanie Sauvain
26.9.2010: NEIN zum Abbau bei der Arbeitslosenversicherung! .............................. 22
Von Vania Alleva
Gleichstellung
Gleichstellung im Alltag «Hautnah erlebt»: Einkaufserlebnis der besonderen Art .... 25
Von Simone Leuenberger
Learning Center – wenn Design über Sein bestimmt ............................................... 27
Von Mélanie Sauvain
Der 3. Dezember im Zeichen der schulischen Integration ........................................ 29
Von Mélanie Sauvain
Arbeit
Wiedereingliederung … schon, aber wie? ................................................................ 31
Von Catherine Corbaz
Verkehr
Mitteilungen der Fachstelle Behinderung und öffentlicher Verkehr........................... 34
Bildung
Beratungsstelle mit Pionier-Charakter ...................................................................... 35
Von Olga Meier Popa
Behindertenszene
AGILE-Mitglieder lassen Korken knallen .................................................................. 37
Von Eva Aeschimann
Medien
Gleichheit ist Glück ................................................................................................... 39
Von Bettina Gruber
Impressum .............................................................................................................. 41
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Behinderung und Politik 3/10
Editorial
Auf Gedeih und Verderb
Die Europäische Union hat 2010 zum Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer
Ausgrenzung erklärt. Auch in der Schweiz leben 500’000 bis 700’000 Nach-TransferArme. So nennen Ökonomen Menschen, die nach Erhalt einer finanziellen Unterstützungsleistung (zum Beispiel eine Rente) immer noch arm sind.
Länger dauernde Krankheit und Behinderung erhöhen erwiesenermassen das Risiko
für Armut und Ausgrenzung. Umgekehrt können Ausgrenzung und anhaltende Armut
krank machen. Ludwig Gärtner, Vizedirektor des Bundesamtes für Sozialversicherung und Leiter des Geschäftsfeldes «Familie, Generationen und Gesellschaft» urteilt
denn auch im spectra des Bundesamtes für Gesundheit: «Armut in der Schweiz ist
ein Problem, für die Betroffenen wie auch für die Gesellschaft. Man muss es angehen, egal, wie gross das Ausmass ist.» Und wie? Richtig: «Schwerpunktmässig engagiert sich der Bund für die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt von Leuten,
die ihre Stelle verloren haben.»
Auf die gleiche Karte setzt auch ein anderes Geschäftsfeld des BSV, die Invalidenversicherung. Diese wurde vom Parlament bekanntlich zur Sanierung ihrer Rechnung verpflichtet, koste es, was es wolle. Vor dem Eingliedern – über das die Arbeitgeber entscheiden – ist bei der IV darum erst mal das grosse Um- und Ausgliedern
angesagt: 50 Millionen Franken weniger Rentenleistungen pro Monat schlägt der
Bundesrat als zweites Massnahmenpaket der 6. IVG-Revision vor, erreichbar durch
Rentenabbau oder gänzlichen Verlust des Rentenanspruchs bei bestimmten psychosomatischen Leiden und Schmerzkrankheiten. Näheres dazu in dieser Ausgabe von
«agile – Behinderung und Politik». Im Zusammenhang mit der Armutsfrage ist wichtig: Gekürzt werden soll unabhängig davon, wie die Betroffenen finanziell gestellt
sind und ob sie eine Stelle in Aussicht haben oder nicht. Entscheidend ist die so genannte «Rest-Arbeitsfähigkeit», und diese soll in Zukunft allein vom Urteil der IVGutachter abhängen.
Ob das der Weg ist, um Armut in der Schweiz zu verringern und die (Rest-)Gesundheit von bereits angeschlagenen Menschen zu stärken? Vielleicht tauschen sich die
Leiter der diversen BSV-Geschäftsfelder ja einmal beim Lunch über diese Frage aus.
In diesem Fall sollten sie auch Dr. A. einladen. Was der Spezialarzt für Psychiatrie
nämlich über die Erfahrungen seiner KlientInnen berichtet (Seite 6), gibt ebenso zu
denken wie die Ergebnisse unserer Umfrage bei Arbeitgebern zu den Chancen einer
Eingliederung im grossen Stil (Seite 9). Der Lunch könnte definitiv länger dauern.
Angie Hagmann
Präsidentin AGILE Behinderten-Selbsthilfe Schweiz
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Behinderung und Politik 3/10
Schwerpunkt
Die 6. IVG-Revision im Parlament und in der Vernehmlassung
Die beiden Teile der 6. IVG-Revision stehen zur Zeit auf der politischen Agenda.
Der erste Teil wird vom Parlament beraten, der zweite Teil ist in der Vernehmlassung. Beides sind massive Abbauvorlagen.
Von Ursula Schaffner, Bereichsleiterin Sozialpolitik und Interessenvertretung
In der letzten Nummer von «agile – Behinderung und Politik » haben wir über die
Debatte im Ständerat zum ersten Teil der 6. IVG-Revision berichtet. Anfang September wird die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates
(SGK-NR) verschiedene Interessengruppen zum Thema anhören. Im Oktober will die
SGK-NR die Vorlage dann im Detail beraten. Die Behinderten und ihre Organisationen werden ihre Anliegen im Zweitrat nochmals einbringen. Insbesondere setzen sie
sich für folgende Punkte ein:
Der Zugang zum Assistenzbeitrag soll allen Menschen mit Behinderung offen stehen,
die in der Lage sind, zu Hause zu leben. Mindestens setzen wir uns aber dafür ein,
dass der Nationalrat dem Vorschlag des Ständerates folgt. Dieser sieht einerseits
vor, dass die Handlungsfähigkeit nicht mehr Zugangsvoraussetzung zum Assistenzbeitrag ist; andererseits kann der Bundesrat Ausnahmen für Minderjährige formulieren.
Ebenfalls wiederholen wir unsere Forderung, dass die freie Vertragswahl beim Einkauf der Assistenzdienstleistungen gewährt sein muss. Das heisst, es darf beim Bezug von Assistenzleistungen keine Einschränkung auf den Arbeitsvertrag und das
sogenannte Arbeitgebermodell geben.
Im Kapitel über die Wiedereingliederung von bisherigen RentnerInnen fordern wir,
dass der Bundesrat die Einführung eines Bonus-Malus-Systems prüft. Denn ohne
zusätzliche Anreize werden Arbeitgeber kaum mehr Menschen anstellen, welche
teilleistungsfähig sind. Weiter schlagen wir einen neuen Gesetzesartikel vor. Gemäss
diesem Artikel müssen IV-Stellen in Zukunft nachweisen, dass konkrete Arbeitsstellen für bisherige IV-RentnerInnen vorhanden sind, bevor die Renten gekürzt oder
herabgesetzt werden.
Bei den Rentenaufhebungen von SchmerzpatientInnen halten wir an der Forderung
nach Besitzstand für Menschen über 50 Jahre fest. Der Ständerat ist hier dem Bundesrat gefolgt und findet, der Besitzstand für über 55jährige genüge.
Der neue Finanzierungsmechanismus zu Gunsten der IV soll nach Meinung der Behindertenorganisationen auf 2012 und nicht erst auf 2014 in Kraft treten.
Und schliesslich soll der Bund die Möglichkeit erhalten, Hilfsmittel auch über Vergabeverfahren zu beschaffen.
Mit dem ersten Teil der 6. IVG-Revision will der Bundesrat die Rechnung der IV bis
ins Jahr 2027 um 348 Millionen Franken pro Jahr verbessern. Davon sind 197 Millionen Franken Einsparungen.
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Behinderung und Politik 3/10
Der grosse Schnitt der 6b
Mit dem zweiten Teil der 6. IVG-Revision (6b) sollen schliesslich die ganz grossen
Einsparungen gemacht werden, nämlich 600 bis 800 Millionen Franken pro Jahr.
Damit soll in Zukunft nicht nur das jährliche Defizit von 1,2 Milliarden Franken verhindert werden, sondern es sollen auch die Schulden beim AHV-Fonds von heute rund
14 Milliarden Franken abbezahlt werden.
Kernpunkt der 6b ist die Einführung eines stufenlosen Rentensystems. Statt der bisherigen Viertels-, halben, Dreiviertels- und ganzen Renten sollen in Zukunft Renten
in Einprozentschritten ausbezahlt werden. Wie bisher entsteht der Anspruch auf eine
25-prozentige Rente ab einem Invaliditätsgrad von 40 Prozent. Mit jedem zusätzlichen Prozent Invalidität steigen die Renten um 1,25 Prozent. Ab 80 Prozent Invalidität soll der Anspruch auf eine volle Rente entstehen (heute ab 70 Prozent). Der Bundesrat meint, dass RentnerInnen mit dem neuen Rentensystem einen grösseren Anreiz haben, zumindest noch Teilzeit zu arbeiten. Mit einem kontinuierlich ansteigenden Einkommen würden sich die Renten mit dem neuen Rentensystem nämlich nicht
mehr abrupt verändern, sondern nur noch in kleinen Prozentschritten – jedenfalls
theoretisch. Damit würde sich auch das Gesamteinkommen aus Arbeit, der IV-Rente
aus der Invalidenversicherung und der Pensionskasse erhöhen.
Das neue Rentensystem soll sowohl für neue wie für bisherige RentenbezügerInnen
gelten. Dazu sollen innerhalb von drei Jahren alle bisherigen Renten von Personen
unter 55 Jahren und ab einem IV-Grad von 50 Prozent überprüft und in das neue
Rentensystem überführt werden. Anlässlich der Revisionen prüfen die IV-Stellen
ebenfalls, ob sich der Gesundheitszustand oder «die erwerbliche Situation» einer
betroffenen Person verändert haben. Je nach Prüfungsresultat wird der IV-Grad angepasst.
Insgesamt soll die Umstellung auf das neue Rentensystem pro Jahr Einsparungen
von rund 400 Millionen Franken bringen! Diesen Leistungsabbau bekommen vor allem jene Personen markant im Portemonnaie zu spüren, welche heute einen Invaliditätsgrad zwischen 50 und 69 Prozent haben.
Mit weiteren Massnahmen wie der Kürzung der Kinderrenten von 40 auf 30 Prozent,
einem Leistungsabbau bei den Reisekosten und bei den Ausbildungskosten von
schwerbehinderten Jugendlichen sowie dem Einfrieren der Leistungen für Organisationen der privaten Behindertenhilfe sollen weitere 300 Millionen Franken gespart
werden. Zusätzliche Eingliederungsmassnahmen führen angeblich zu einer weiteren
Kostensenkung von 100 Millionen Franken.
Bundesrat Burkhalter hat die Vernehmlassung zur 6b am 23. Juni eröffnet. Auffallend
wenige Parteien und Wirtschaftsverbände haben sich bis jetzt dazu geäussert. Einzig
die SP und Burkhalters Partei, die FDP.DieLiberalen haben ein Mediencommuniqué
veröffentlicht.
Umso deutlicher haben sich die Organisationen der Behindertenhilfe wie auch der
Schweizerische Gewerkschaftsbund zu Wort gemeldet. Die Referendumsdrohung
liegt bereits auf dem Tisch.
Die Vernehmlassungsfrist läuft bis am 15. Oktober. Der Bundesrat wird die Botschaft
voraussichtlich erst im Januar 2011 ans Parlament verabschieden, um den armen
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Behinderung und Politik 3/10
Behinderten die Freude am weihnächtlichen Lichterfest nicht allzu sehr zu vergällen.
Ob das bürgerlich dominierte Parlament den Sparhammer dann im Wahljahr 2011
wirklich voll durchzieht, werden wir sehen. Unsererseits ist klar, wir werden dezidiert
auf die Pauke hauen!
«IV behindert Ärzte und Fachpersonen oft bei deren Arbeit»
Mit der 6.-IV-Revision kommen IV-RentnerInnen mit einer psychischen Erkrankung unter besonders starken Druck. Der Ostschweizer Psychiater Z. A.* berichtet im Interview mit «agile – Behinderung und Politik» über seine eigenen
und die Erfahrungen seiner KlientInnen mit der aktuellen 5. und der kommenden 6. IV-Revision.
Von Marie Baumann*
«agile»: Ist die 6. IV-Revision ein Thema bei Ihren Klienten?
A: Für die meisten sind die IV-Revisionen kein Thema, bis sie schmerzhafte Erfahrungen damit machen. Vorher ist ihr Vertrauen in die Gesundheitspolitik unerschüttert. Die Patienten sind überzeugt, dass die gegenwärtigen Sanierungs- und Sparmassnahmen notwendig und richtig sind und alles korrekt abläuft. Die meisten glauben auch, dass es Missbrauch gibt. Einige glauben, Betrüger in der eigenen Umgebung zu kennen, manchmal persönlich, manchmal nur vom Hörensagen. Patienten
hingegen, die bereits von der IV unterstützt werden, den «Abklärungsprozess»
durchlebt haben und weiterhin auf Leistungen angewiesen sind, sorgen sich häufig
über die Auswirkungen der 6. IV-Revision auf ihr Leben.
«agile»: Welche Befürchtungen und Gefühle äussern Ihre Patienten?
A: Patienten, die bereits IV-Leistungen beziehen, machen sich Sorgen, diese zu verlieren. Dann gibt es Patienten, die in vorherigen Abklärungen lange hingehalten, xfach neu begutachtet und/oder demütigend behandelt worden sind. Neben der existenziellen Sorge kommt die Angst vor neuen Demütigungen hinzu, die Angst vor
Entwertungen bei vertrauensärztlichen Untersuchungen oder vor Besuchen von IVSachberatern (zur Kontrolle der Haushaltstätigkeit). Die Patienten äussern Gefühle
des Ausgeliefertseins, Misstrauen, Ängste und Hilflosigkeit.
«agile»: Wirken sich diese Ängste auf den Gesundheitszustand und den Behandlungserfolg von Menschen mit psychischen Erkrankungen aus?
A: Selbstverständlich! Die aktuelle 5. IV-Revision und der mit der 6. Revision bevorstehende, verschärfte Abklärungsprozess erhöhen den Druck auf die psychisch
kranken Menschen hochgradig. Dieser Druck behindert die ärztliche Arbeit massiv,
zusätzlich zur bestehenden Krankheit. Er verschlechtert systematisch die Prognose
psychischer Leiden.
Deshalb fordere ich, dass die Beurteilungs-Kompetenzen, die den behandelnden
Ärzten bei den IV-Revisionen entzogen und auf den IV-Apparat übertragen werden,
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Behinderung und Politik 3/10
mit der Übernahme der Therapieverantwortung gekoppelt werden. Es ist inakzeptabel, dass die IV Entscheide treffen darf, die der Expertenmeinung vor Ort unter Umständen diametral entgegen stehen, ohne gleichzeitig auch die Verantwortung für die
Folgen dieser Entscheide übernehmen zu müssen.
«agile»: Warum zielt die 6. IV-Revision insbesondere auf Menschen mit einer
psychischen Erkrankung?
A: Psychische Leiden führen besonders schnell zu einer Beeinträchtigung der gesamten Leistungsfähigkeit. Deshalb sind psychisch kranke Menschen schneller als
somatisch kranke Menschen erheblich oder vollständig in ihrer Arbeitsfähigkeit eingeschränkt. Und deshalb lösen psychische Leiden auch hohe volkswirtschaftliche
Kosten aus. Es ist nachvollziehbar, dass die Sparbemühungen der IV-Revision auf
die psychisch Kranken abzielen, weil psychische Leiden in den letzten Jahren zugenommen haben und verhältnismässig hohe Behandlungs- und Folgekosten verursachen. Diese Revision ist in dieser Art trotzdem falsch und wird die Kosten nicht senken, sondern erhöhen, respektive an andere Stellen verschieben, zum Beispiel zu
den Sozialämtern.
«agile»: Was heisst das konkret?
Die Sozialämter sind für den Umgang mit psychisch kranken Menschen weder ausgebildet, noch gerüstet. Deshalb erleben psychisch Kranke nach der Demütigung
durch den ablehnenden IV-Abklärungsprozess schon jetzt beim Sozialamt meist die
nächste Traumatisierung. Meine Erfahrung zeigt: Betroffene Patienten, deren Krankheit von der IV nicht anerkannt wurde, geraten besonders rasch in Verbitterung. Gerade auch, wenn sie regelmässig beim Sozialamt vorsprechen, immer wieder ihre
gesamte Situation ausbreiten und um Verständnis für ihre Erkrankung kämpfen müssen. Depressionen, gepaart mit dieser Verbitterung, sind kaum noch zu therapieren.
Der Abstieg in die Fürsorgeabhängigkeit wegen einer IV-Ablehnung ist deshalb oft
der entscheidende Schritt in die Chronifizierung des Leidens.
«agile»: Wie sind allgemein die Erfahrungen Ihrer Patienten mit der Invalidenversicherung?
A: Bei der Erstabklärung begegnet die überwiegende Mehrheit der Patienten dem IVApparat offen und vertrauensvoll. Danach sind Patienten – mit IV-Erfahrung – fast
durchwegs ernüchtert, eingeschüchtert, misstrauisch und oft auch verbittert. Einzelne
mussten bis zu fünf Jahre auf einen IV-Entscheid warten – ohne jegliche Information.
Andere haben wegen der Verschleppung von IV-Bescheiden, ohne erkennbaren
Grund, erst das Vermögen aufbrauchen müssen. Zwischenzeitlich waren sie sogar
von der Fürsorge abhängig. Weitere wurden vom Sozialamt wegen fehlender IV-Anerkennung als Simulanten behandelt. Andere erleben IV-Vertrauensärzte ohne jede
Empathie, berichten von groben, abwertenden und verletzenden Befragungen und
Untersuchungen. Insbesondere Patienten mit Traumatisierungen, z. B. Frauen mit
sexuellem Missbrauch in der Vorgeschichte berichten von rücksichtslosen Vorgehensweisen. Andere erzählen von Besuchen zudringlicher IV-Kontrolleure und respektlosen Verhörmethoden.
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Behinderung und Politik 3/10
«agile»: Wird die Invalidenversicherung als Unterstützung wahrgenommen,
beispielsweise im Eingliederungsprozess?
Meine Klienten berichten überwiegend von negativen Erfahrungen mit der IV. Die IV
hat sich zu einer Black Box entwickelt, die Informationen anfordert, sie frisst und
nach einer beliebigen Zeit und einem völlig unbekannten Verdauungsprozess in
Form einer Entscheidung wieder ausspuckt. So erleben Patienten etwa, dass die IV
im Falle einer Arbeitsunfähigkeit rasch einen Kontakt herstellt (Frühintervention),
dass aber oft nichts Konkretes passiert. Nur wenn kein relevantes psychisches Leiden vorliegt, sondern es sich um eigentlich gesunde Menschen mit einer Arbeitsplatzkrise handelt, habe ich in einigen Fällen Wiedereingliederungshilfe als positiv
erlebt. Einige IV-Sachbearbeiter wirken übermotiviert, indem sie Keile in die Patienten-Arzt-Beziehung treiben, Zweifel an der Seriosität der ärztlichen Beurteilung äussern, den Patienten mit «positiven Gedanken» zu puschen versuchen etc.
Insgesamt erlebe ich den IV-Betrieb als behäbig und wenig kreativ, wenn es um die
Wiedereingliederung psychisch kranker Menschen geht.
«agile»: Was wären für Sie als Psychiater erfolgsversprechende Massnahmen,
um Menschen mit psychischen Erkrankungen besser in die Arbeitswelt eingliedern zu können?
A: Die Integration psychisch kranker Menschen gelingt nach Massgabe ihrer Erkrankung und der vorherrschenden Arbeitsmarktsituation. Ich meine, der gesunde Menschenverstand gibt die Leitlinie vor: Für die Arbeitsmarktsituation sind nicht die Ärzte
verantwortlich. Je flexibler sich das Arbeitsmarktangebot den eingeschränkten Bedingungen psychisch kranker Menschen anzupassen vermag, umso besser gelingt
Eingliederung. Zur Zeit ist das Angebot wenig flexibel, Tendenz negativ.
Die psychische Erkrankung ist ein Faktum, welches Grenzen vorgibt. Sicher ist: Mit
rhetorischen Tricks und mit Druck ist psychisches Leiden nicht mit positivem Ergebnis zu beeinflussen. Die individuelle, berufliche Eingliederung gelingt umso besser, je
gesünder und belastbarer der Patient bereits ist oder im Heilungsprozess wird. Zur
Einschätzung der Situation und auch zur Heilung braucht es die Fachkräfte vor Ort.
Die Wiedereingliederungsergebnisse verbessern sich insgesamt, wenn man der
fachkompetenten Arbeit der behandelnden Ärzte Vertrauen schenkt, statt sie in ihrer
Arbeit zu behindern.
Folgende Kriterien sind meiner Ansicht nach wichtig:
 Tatsachen anerkennen: Psychisches Leiden wirkt verhältnismässig rasch
invalidisierend und invalide oder teilinvalide Menschen finden in der Arbeitswelt oft
keinen Platz. Die Leugnung dieser Tatsache durch Politik, Medien, Gesellschaft
und die damit verbundene Stigmatisierung verstärkt das Leiden der Betroffenen
und die resultierenden Defizite. Es gilt, die Realität anzuerkennen als Voraussetzung für möglichst gute Heilergebnisse und Rehabilitationserfolge.
 Vertrauen statt Misstrauen: Behandelnden Ärzten und anderen professionellen
Helfern vor Ort das Vertrauen schenken und ihre Arbeit stützen. (Welches Interesse sollen die behandelnden Ärzte daran haben, arbeits- und vermittlungsfähige
Patienten in die IV-Abhängigkeit zu schicken, statt sie zu heilen und zu rehabilitieren?)
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Behinderung und Politik 3/10
 Patienten entlasten, Betriebe und Arbeitsklima kontrollieren: Der Umgang in der
Arbeitswelt ist nicht selten verletzend oder sogar menschenverachtend. Arbeitgeber, die ihre Mitarbeiter demütigend behandeln, versündigen sich am Volk. Sie lösen bei manchen Menschen Traumatisierungen aus, für die später die Allgemeinheit aufkommen muss.
 Vorbeugen: Die Zunahme psychischen Leidens verweist auf Überforderungen an
anderen Orten, die zu identifizieren und möglichst zu beheben sind. Wirksames
Vorbeugen wiederum setzt Anerkennen voraus, womit sich der Kreis schliesst.
«agile»: Herr A., besten Dank für dieses Interview
*Z. A. Name der Redaktion bekannt. Marie Baumann absolviert die AGILE-Weiterbildung «Politische Selbstvertretung von Menschen mit Behinderung» und schreibt im
Blog http://ivinfo.wordpress.com über die Invalidenversicherung, Behinderung und
gesellschaftliche Themen.
Die Arbeitgeber und die 6. IV-Revision
In erster Linie hängt es von den Arbeitgebern ab, ob die berufliche Eingliederung von 16'800 derzeitigen BezügerInnen von IV-Renten Realität wird. Im Zusammenhang mit der 6. IV-Revision hört man aber wenig von ihnen. AGILE hat
deshalb verschiedene Arbeitgeber ausdrücklich um ihre Meinung gebeten.
Von Mélanie Sauvain, Secrétaire romande, AGILE
23 Unternehmen, Behörden, Organisationen oder öffentliche Einrichtungen in der
Schweiz (nicht repräsentative Auswahl) haben in diesem Sommer unseren Fragebogen erhalten. 15 haben geantwortet, drei davon lehnten eine Teilnahme an unserer
Umfrage ab.
Zweifelhaftes Ziel
Die Arbeitgeber äussern sich zurückhaltend zum Ziel des Bundesrates, innerhalb von
sieben Jahren 16'800 BezügerInnen von IV-Renten in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Verschiedene Befragte, z.B. Novartis, Swica oder die Gemeinde Lancy (GE),
erachten sich als nicht genügend kompetent, diese Frage zu beantworten und lassen
die Frage offen.
Sechs Befragte bezeichnen das Ziel als «ehrgeizig», als «zu hoch gesteckt» oder
als «unrealistisch», dies vor allem hinsichtlich des aktuellen Arbeitsmarkts. Für die
SBB «ist dieses Ziel schwierig zu erreichen ohne eine klare gesetzliche Verpflichtung
der Arbeitgeber oder – noch besser – ohne eine deutliche Entlastung bei den Kosten
im Zusammenhang mit dem Rückfallrisiko». Für psychisch kranke IV-BezügerInnen
ist die Situation besonders problematisch: «Sie können kaum mehr in den Arbeitsmarkt integriert werden und leiden stark unter der Krise, den erhöhten Anforderungen
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Behinderung und Politik 3/10
des Arbeitsmarkts und dem höheren Druck», schreibt der ehemalige Regiebetrieb
des Bundes.
Auch Coop ist skeptisch und hält die Wiedereingliederung von Personen mit einer
langfristigen gesundheitlichen Beeinträchtigung für eine «sehr anspruchsvolle Aufgabe, die Mittel, Sensibilität und Professionalität erfordert». Ein anspruchsvolles
Programm also, das die Arbeitgeber einiges kosten würde – die Arbeitgeber, die wenig bereit sind, die finanziellen Risiken allein zu tragen.
Für die Migros wiederum ist das angestrebte Ziel realistisch. Aber nur, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind: Die Unterstützung durch die IV muss garantiert
sein, das Unternehmen muss dadurch einen Nutzen erzielen (beispielsweise über
ein Bonus/Malus-System) und die geringere Arbeitsleistung der eingestellten Mitarbeiter muss kompensiert werden.
Eigene Angestellte haben Vorrang
Wie die meisten Arbeitgeber unterstreicht auch Die Post, dass es oft schwierig ist,
ein ausgewogenes Verhältnis zu finden zwischen sozialer Verantwortung, die sie anerkennt, und wirtschaftlichen Anforderungen. Bei diesem Balanceakt räumt sie ihren
eigenen MitarbeiterInnen mit gesundheitlicher Beeinträchtigung Vorrang ein. Viele
Unternehmen (SBB, Novartis, Swica, Coop etc.) haben ein «Case Management
System» eingerichtet mit dem Ziel, Probleme aufzuspüren (indem beispielsweise auf
häufige und längere Absenzen geachtet wird), kranke oder verunfallte Angestellte zu
begleiten und ihre Rückkehr an den Arbeitsplatz sicherzustellen.
Angesichts dieser Situation gibt es wenig Spielraum für die Anstellung unternehmensexterner Menschen mit Behinderung - «Rentabilität verpflichtet», erklären die
meisten Arbeitgeber. «Wenn man geeignete Stellen schaffen will, ist eine finanzielle
Unterstützung nötig», meint die Stadt Aarau und unterstreicht den politischen Charakter eines solchen Entscheids. Für die Metalor SA in Neuenburg könnte nur ein
Gesetz, das Firmen ab einer bestimmten Grösse zur Beschäftigung von Menschen
mit Behinderung verpflichtet, Druck zugunsten der Wiedereingliederung schaffen. Die
Firma Wyss Samen und Pflanzen AG in Zuchwil (SO) schreibt, dass sie zur Wiedereingliederung von IV-RentnerInnen beitragen könnte, indem sie mit diesen Arbeitsstellen besetze, die nicht zwingend ein grosses Fachwissen und Eigenverantwortung
erforderten. Eine schöne Absicht. Aber unterstreicht sie nicht gerade auch das hartnäckige Klischee des armen Behinderten ohne Ausbildung?
Andere wünschten, dass die IV-Stellen ihre Arbeitsweise in einigen Punkten überdenken und ihre Entscheide rascher fällen würden. «Es läge im Interesse der IV, flexibler und weniger kompliziert zu werden», bemerken die SBB: «Der Arbeitgeber und
die betroffene Person sollten mehr als ‹Kunden›’ angesehen werden». Coop würde
landesweit einheitliche Verfahren schätzen. Für einen nationalen Arbeitgeber sei es
«sehr schwierig», die verschiedenen kantonalen Vorgehensweisen und Verfahren zu
handhaben und für jeden Fall andere Ansprechpartner zu haben.
Mehr oder weniger bekannte Problematik
Alle Teilnehmer der Umfrage haben gegenwärtig BezügerInnen von IV-Teilrenten
angestellt. Aus den Antworten geht aber hervor, dass nur die schweizweit tätigen,
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Behinderung und Politik 3/10
grossen Unternehmen die Problematik der 6. IV-Revision wirklich kennen. Sie haben
auch umfassendere Erfahrung im Bereich Wiedereingliederung mit Instrumenten wie
etwa dem Case Management. Die KMU – zu denen die meisten Schweizer Unternehmen gehören und welche die meisten Arbeitsplätze bereitstellen – scheinen nicht
in jedem Fall über die von der IV vorgesehenen Verfahren und Unterstützungsmassnahmen im Bild zu sein.
Einige Unternehmen und Behörden fühlten sich von unseren Fragen zur beruflichen
Eingliederung von IV-RentenbezügerInnen zudem gar nicht betroffen und verwiesen
direkt auf die örtlichen IV-Stellen oder den Arbeitgeberverband. So, als ob sie als
Arbeitgeber bei diesem Thema keine aktive Rolle zu spielen hätten.
Weitere Sensibilisierung ist deshalb notwendig. Aber wie zahlreiche Befragte betonten, reicht dies allein nicht, um über 16'800 Menschen mit Behinderung wiedereinzugliedern, die oft seit Jahren nicht mehr erwerbstätig waren. Wie sich gezeigt hat,
konzentrieren sich die Unternehmen überdies lieber auf die Wiedereingliederung ihrer eigenen Angestellten mit gesundheitlicher Beeinträchtigung, deren Zahl ebenfalls
immer weiter ansteigt!
Herzlichen Dank an meine Kollegin Eva Aeschimann, die die Befragung in der
Deutschschweiz durchgeführt hat!
Übersetzung: Susanne Alpiger
Eingliederung als sakrales IV-Reformprojekt
Am 1. Januar 2008 ist die 5. IVG-Revision in Kraft getreten. Seither rezitieren
die Sozialsparer «Eingliederung vor Rente» als heilbringendes Mantra zu Gunsten von Menschen mit Behinderung.
Von Ursula Schaffner, Bereichsleiterin Sozialpolitik und Interessenvertretung
Mit der 5. IVG-Revision habe die Volksversicherung IV einen Kulturwandel vollzogen,
predigen der IV-Chef beim Bundesamt für Sozialversicherungen und seine Verantwortlichen in den IV-Stellen unermüdlich. Heute sei das oberste Ziel der IV wieder
die berufliche Eingliederung von Menschen mit Behinderung statt deren Berentung.
Die Pflicht zur Mitwirkung und damit der Zwang, sich beruflich einzugliedern, haben
sich in den letzten Jahren für die Versicherten zweifellos deutlich verstärkt. Mit einem
Rückgang der Neurenten und dem Abbau von weiteren Leistungen spart die IV inzwischen fast 460 Millionen Franken pro Jahr. Eine wahre Erfolgsgeschichte in den
Augen der IV-Stellen und der bürgerlichen Mehrheit des Parlaments.
Die Zielvorgabe des Bundesrates für die 5. IVG-Revision, bis ins Jahr 2025 die Zahl
der neuen RentnerInnen um 20 Prozent zu senken, ist bereits letztes Jahr um das
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Behinderung und Politik 3/10
Doppelte übertroffen worden. Im Vergleich zu 2003 hat die Zahl der neuen RentnerInnen 2009 um 40 Prozent abgenommen.
Wie die vielen Menschen heute leben, die entweder weniger oder gar keine IV-Leistungen mehr bekommen, wissen wir nicht. Auch ist nicht bekannt, wie viele von ihnen
tatsächlich eine Arbeitsstelle gefunden haben und diese behalten können. Für eine
fast ausschliesslich von ökonomischen Überlegungen dominierte Politik zählt nur die
Statistik. Und die spricht von Erfolg, wenn die Ausgaben der IV sinken.
Ausgaben weiter senken mit der 6. IVG-Revision (6a)
Der Erfolg der IV-Reform spricht also für sich und drängt zur Fortsetzung. Das IVSanierungsgesetz aus dem Jahr 2008 sieht denn auch vor, dass der Bundesrat bis
Ende 2010 dem Parlament eine weitere Sparvorlage präsentieren muss. In Erfüllung
dieses parlamentarischen Auftrags führt die Landesregierung deshalb das Bekenntnis «Eingliederung vor Rente» mit der 6a konsequent weiter zum Dogma: «Eingliederung aus Rente»! Dank der beruflichen Wiedereingliederung von gut 16'500 bisherigen IV-RentnerInnen innerhalb von sieben Jahren soll die IV pro Jahr weitere 231
Millionen Franken einsparen. Mit den übrigen Sparmassnahmen der 6a sollen zusätzlich 180 Millionen Franken in den Opferstock kommen.
Die Verwaltung und bürgerliche PolitikerInnen begleiten den Opfergang im vielstimmigen Chor. Sie beschwören unermüdlich den Eingliederungsgedanken und glauben, dass bald unzählige Arbeitgeber im freien Wettbewerb auf dem Marktplatz der
Barmherzigkeit mit ihren Arbeitsplätzen um Menschen mit Behinderung buhlen!
Und dann die wahre Erlösung mit 6b
Den eigentlichen Quantensprung und damit die wahre Erlösung aus der Schuld der
vergangenen Jahre wird die IV aber mit der zweiten Tranche der 6. IVG-Revision
(6b) vollziehen. Ein neues stufenloses Rentensystem verheisst Einsparungen in der
Grössenordnung von 400 Millionen Franken pro Jahr. Und es verspricht, dass bisherige und künftige IV-RentnerInnen ihre «Restarbeitsfähigkeit» gewinnbringender als
bisher verwerten können! «Arbeit soll sich lohnen» ist die Glücksformel des Bundesrates.
Eine minimale volle IV-Rente beträgt heute 1140 Franken, eine maximale 2280
Franken. Damit leben bereits viele Menschen mehr als bescheiden. Mit dem neuen
Rentensystem werden die individuellen Renten von vielen Personen stark gekürzt.
Das heisst, viele von ihnen werden noch weniger Geld in der Tasche haben als bisher. Und dies, obwohl die Bundesverfassung Existenz sichernde Renten vorsieht.
Und obwohl kaum Arbeitgebende bereit sind, Menschen mit gesundheitlicher Beeinträchtigung zu zehn, zwanzig, dreissig, vierzig Prozent anzustellen.
Reform an Haupt und Gliedern
Die IV-Reformer scheinen sich kaum mehr an der Bundesverfassung zu orientieren,
sondern eher an Luthers religiöser Reformbewegung zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Deren Ziel war die Reform der Kirche an Haupt und Gliedern. An Stelle der
sakralen Verwaltung der Kirche sollte die Heilsbotschaft der Bibel treten.
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Behinderung und Politik 3/10
Ganz in diesem Sinne soll die Verwaltung als Haupt der IV weg von ihrem Verfassungsauftrag geführt werden hin zu ihrer angeblich ursprünglichen Bestimmung, das
heisst zurück zur beruflichen Eingliederung von Menschen mit Behinderung oder
chronischer Krankheit. Die RentnerInnen als Glieder der Versichertengemeinschaft
werden ihrerseits zur Arbeit geleitet. Eingliederung als heilbringende Botschaft eben,
ungeachtet der wirtschaftlichen Realitäten.
Hinter der frohen Botschaft der IV-Reformer verbirgt sich allerdings ausschliesslich
ein massiver Leistungsabbau, ohne dass die berufliche Eingliederung der zwangsweise Reformierten und ungefragt Beglückten erwiesen wäre.
Sozialwerk mit altväterischem Namen
1960 wurde die Invalidenversicherung ins Leben gerufen. Demnach feiern wir
heute ihr fünfzigjähriges Bestehen. Einblicke, Ausblicke und fünfzig Fragen.
Essay von Maria Gessler, Vorstandsmitglied AGILE
50 Jahre IV. Als Mensch hätte sie noch bis vor Kurzem als «in den besten Jahren
stehend» gegolten. In der Arbeitswelt heisst 50jährig heute: alt. Als Organisation dagegen ist die IV noch ziemlich jung mit allem, was zum Jungsein gehört.
Vor 50 Jahren – Erinnerungen
Sie kam auf einem feuerwehrroten Dreirad zur Schule. Im Behälter mit hübsch bemaltem Deckel zwischen den Hinterrädern führte sie ihre Schulsachen mit. Ein für ihr
Alter eher klein gewachsenes Mädchen mit grossen braunen Kulleraugen und ungebärdigen Locken. Energisch unterstützte sie ihr linkes Bein beim Treten des Pedals.
Ein «verkrüppeltes» Bein, wie man das in den Fünfziger Jahren noch ganz ungeniert
nannte. Es hiess, ihre Eltern seien reich, was immer das damals bedeuten mochte.
Deshalb wohl das aussergewöhnliche Dreirad. Und diese Eltern versteckten nicht
schamvoll ihr Kind. Andernfalls wäre sie wohl gar nicht zur Schule gegangen oder
hätte in einer «Anstalt» gewohnt. «Bewahranstalt», ein unheilverkündendes Wort für
uns Kinder. – Sie muss jetzt im AHV-Alter sein. Wie ist wohl ihr Leben verlaufen?
Und das sahen wir Kinder im Alltag: Stark hervorstehende Zähne, rachitisch verformte Gliedmassen, ein «Klumpfuss» in einem Schuh, der eher wie ein Folterwerkzeug aussah. Kaum Frauen mit sichtbaren Behinderungen auf der Strasse. Vielleicht
eine Blinde mit einem Pudel, unverkennbar mit Führgeschirr. Behinderte Männer trugen links eine Armbinde mit den entsprechenden Zeichen für «blind», «taub», «taubstumm». Querschnittgelähmte überlebten damals häufig nicht sehr lange, erst als
Mitte der Fünfziger neue Therapiemethoden aus Amerika herüber kamen, gab es
eine Zukunft für Betroffene.
In nicht einmal einem halben Tag wird heute bei Strassenarbeiten das Trottoirgefälle
sorgsam ausgeglichen – für die Autos. Weshalb wird nach all diesen Jahrzehnten
noch immer diskutiert, verhindert oder oft nur notdürftig gehandelt, wenn es um dien13
Behinderung und Politik 3/10
liche Abgänge für Rollstühle geht? Einkaufswagen, Rollkoffer oder -werkzeugkiste,
Kinderwagen, Rollator für Betagte – viele Menschen würden zusätzlich davon profitieren.
Für uns Kinder war «Behinderung» zwar kein besonderes Thema, aber als Tatsache
gegenwärtig. Der Knecht mit einfachem Geist auf dem Bauernhof, dem für ihn tragbare Pflichten übertragen wurden. Die Angst schwangerer Frauen vor Röteln. Die
Schulkameradin, welche an Kinderlähmung erkrankte. Der Nachbarsbub, bei dem
schwerer Diabetes diagnostiziert wurde. Die «Ölsoldaten», denen im Aktivdienst
durch nicht genussfähiges Öl schwere körperliche Schäden zugefügt wurden. Und
weltweit immer wieder Kriege.
Invalid – ein veralteter Begriff
Als die Regenten früherer Jahrhunderte ihre Streitereien mit stehenden Heeren auszutragen begannen, mussten sie auch für ihre nicht mehr kampffähigen Soldaten
sorgen. In einem Brief beschwert sich Friedrich II. darüber, dass seinen versehrten
Soldaten die ihnen zusätzlich zu einer bescheidenen Rente aus seiner Privatschatulle zugeschanzten Stellen als Wächter, Lehrer oder Schreiber von Zivilisten einfach
weggenommen würden. Der versehrte Soldat war zwar nicht mehr kriegstauglich,
doch tatsächlich «invalidiert» wurden sein Dienstbüchlein samt Treuschwur, und damit auch die Pflicht oder das Recht, «im Namen des Königs» zu töten.
Von diesem militärischen Hintergrund aus und aus dem Französischen fand übrigens
der Begriff «Invalide», zuerst nur für kriegsversehrte Soldaten verwendet, allgemein
Eingang in den Sprachgebrauch. Heutzutage also noch immer von «Invaliden» zu
sprechen, ist im allerbesten Fall als altväterisch zu bezeichnen. Doch Sprache ist
immer mehrdeutig, so auch in diesem Fall, und das nutzen Populisten weidlich und
missbräuchlich aus. Die Diskussionen um weitere Bedeutungen wie «gebrechlich,
schwach, wertlos», dieses Mal direkt aus dem Lateinischen abgeleitet, wollen kein
Ende nehmen. Vor allem das «wertlos» wiegt schwer in unserer Zeit, in der von allem der Preis interessiert, jedoch nicht der Wert. Wieso sollen sich Politiker für offiziell als «wertlos» bezeichnete und damit auch als so wahrgenommene Mitbürgerinnen und Mitbürger einsetzen? Wieso sollen von Arbeitnehmenden Abgaben geleistet
werden für eine «Wertlosenversicherung»? Wieso tun sie es trotzdem, ohne je vom
Gedanken gestreift zu werden, selber einmal Leistungen der IV beziehen zu müssen?
Spitzfindig, zugegeben, doch gewisse Formulierungen gewisser Leute lassen aktuell
keinen Deutungsspielraum offen: Wer invalid wird, ist irgendwie selber schuld, womöglich arbeitsscheu und ganz allgemein mit Misstrauen zu betrachten. Dies entspricht noch der Haltung des eher frömmlerischen 19. Jahrhunderts, das Krankheit
und Gebrechen einerseits als Folge von Glaubensschwäche und Gottesstrafe auffasste, und andererseits eigene Tugend und Gottesfürchtigkeit mit Wohltätigkeit zur
Schau stellte. Wie lange soll diese Haltung noch unsere Gegenwart bestimmen?
Bis vor fünfzig Jahren waren behinderte Menschen auf die Solidarität ihrer Familien
und entsprechende kirchliche und wohltätige Institutionen angewiesen. Als nach viel
Hin und Her und mehreren Anläufen die IV gegründet wurde, schienen fast alle
Probleme gelöst. Mehrere Nachbesserungen in den folgenden Jahren erledigten
14
Behinderung und Politik 3/10
auch noch den Rest, und man konnte sich erleichtert zurücklehnen. Bis vor einiger
Zeit jedenfalls. Massive wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen führen
wieder zu Hin und Her und vor allem zu einem beträchtlichen Abbau. Benötigen
heute behinderte Menschen tatsächlich weniger Hilfsmittel, weniger Lebensunterhalt,
weniger Therapie als früher? Ist es richtig und rechtschaffen, zum Beispiel den Futterbeitrag für die Blindenhunde abzuschaffen, während riesige Geldströme schamlos
zu sonst schon beträchtlichen Monetenhaufen geleitet werden?
Eingliederung – vor-aus-mit-ohne Rente
Mit dem Motto «Eingliederung vor Rente» wurde damals die IV gestartet. Das funktionierte ganz ordentlich bei wirtschaftlicher Schönwetterlage. So gut sogar, dass über
recht lange Zeit bei wirtschaftlich bewölkten Verhältnissen Personalabbau via IV betrieben wurde. Zu alt. Zu oft krank. Mangel an «turbulenztauglicher Agilität». «Langzeitdefizitzustand». Ist das nicht als Missbrauch anzusehen? Und nun verlangen
Vertreter der gleichen Wirtschaft, dass diese ausgegrenzten Menschen wieder zu
arbeiten hätten, aber dalli. Und woher sollen diese geeigneten Arbeitsstellen denn
kommen? Tatsache ist, dass weltweit zwei Drittel aller geleisteten Arbeit nicht entlöhnt wird, dass aber ohne diese das übrige Drittel gar nicht funktionieren könnte.
Wie steht es also mit dem Realitätsbewusstsein von Leuten, die Erfolg bloss am erzielten Einkommen messen? Als wie erfolgreich wird ein behinderter Mensch wahrgenommen, der gelernt hat, mit seinen Einschränkungen zu leben? Warum lachen
so viele Menschen mit Behinderung und so viele ohne nicht? Muss ein Mensch, der
unfreiwillig ausgegliedert wurde, sich freiwillig um jeden Preis wieder eingliedern lassen? Wer hat dafür zu sorgen, dass beweisbar krankmachende Faktoren aus der
Arbeitswelt ausgegliedert werden müssen? Sind Krankheit und Behinderung per se
wirtschaftsfeindliche Befindlichkeiten?
Fragen über Fragen. Grundsätzliche Fragen. Warum werden sie nicht zuerst beantwortet, bevor eine weitere IV-Revision aufs Tapet kommt? Und à propos: Als wie gescheit sind Leute einzustufen, die eine nächste aus der Schublade zaubern, bevor
die Umsetzung der letzten überhaupt in Gang gekommen ist?
Eine Länder vergleichende Studie hat kürzlich gezeigt: Wir Schweizer sind ständig in
Eile. Unterwegs wohin? Haben wir eigentlich ein Ziel? Wenn nicht, weshalb die Eile?
Wohin soll es insbesondere gehen mit der IV? Wie steht es in zwanzig Jahren um
sie? Robert Lembke meinte zwar: «Prognosen sind schwierig, vor allem, wenn sie
die Zukunft betreffen», doch wenn die Gegenwart noch schwieriger erscheint, mögen
Ausblicke nach vorn ihre Berechtigung haben.
Rentenalter – auch für die IV?
Schlimmstenfalls gibt es in zwanzig Jahren keine IV mehr. Almosen, betteln, verjagen. Subkultur, Elend, geringe Überlebenschancen. – Bestenfalls gibt es in zwanzig
Jahren die IV nicht mehr. Krankheit und Behinderung werden als etwas angesehen,
das alle betrifft und Teil des Lebens ist. Die ehemalige IV koordiniert als Expertin die
gemeinschaftlichen Aktivitäten zum Wohl Betroffener. Diese gelten als Expertinnen
und Experten in eigener Sache. – Beide Szenarien sind gleichermassen unrealistisch. Vermutlich gibt es in zwanzig Jahren, wie immer in der Schweiz, eine mittlere
Lösung. Die IV wird dann siebzig sein und ist vielleicht ein wenig weise geworden.
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Behinderung und Politik 3/10
Und die letzte Frage, welche angesichts ihres Gewichtes die Fünfzig voll macht. In
der Bundesverfassung steht: «Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der
Schwächsten.» Gilt das eigentlich noch?
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Behinderung und Politik 3/10
Sozialpolitik
Sozialpolitische Rundschau
Hinsichtlich des Wetters war der diesjährige Sommer heiss – der Herbst wird
es auch. Auf politischer Ebene mit der 11. AHV-Revision, der ALV-Abstimmung
oder der Ankündigung der Krankenkassenprämien 2011. Zudem werden zwei
neue Bundesräte – oder Bundesrätinnen – gewählt. Vorerst aber einmal die sozialpolitische Rundschau über die vergangenen Monate.
Von Mélanie Sauvain, Secrétaire romande, und Ursula Schaffner, Bereichsleiterin
Sozialpolitik und Interessenvertretung, AGILE
Sowohl bei den Einnahmen und Ausgaben als auch bei den Vermögensanlagen der
Sozialversicherungen der Schweiz habe die Krise deutliche Spuren hinterlassen,
schreibt der Bundesrat in seinem Ende Juni veröffentlichten Bericht «Sozialversicherungen 2009». Spürbar wurde die Konjunkturschwäche vor allem bei der Arbeitslosenversicherung, die das Rechnungsjahr 2009 mit einem Defizit von 1,5 Milliarden
Franken abgeschlossen hat.
Bei der Entwicklung der Löhne der Manager der 30 grössten an der Börse kotierten
Schweizer Unternehmen ist hingegen kaum eine Spur der Krise erkennbar. Die
Löhne wurden Mitte Juni bekannt gegeben. So stiegen die Löhne der Manager von
UBS und Credit Suisse um 454 Prozent bzw. 45 Prozent (ja, Sie haben richtig gelesen!).
An der Abstimmung vom 26. September muss auch deshalb ein Abbau der Leistungen der Arbeitslosenversicherung verhindert werden (vgl. unseren Artikel zu diesem
Thema). Über die im April 2008 zustande gekommene Volksinitiative gegen die Abzockerei (Initiative Minder) dagegen werden wir ziemlich sicher nie abstimmen.
Invalidenversicherung
Aus der druckfrischen IV-Statistik 2009 erfährt man, dass im vergangenen Jahr in der
Schweiz 420‘000 Personen IV-Leistungen bezogen haben. Davon erhielten 244’000
(59 Prozent) eine Rente, und 194‘000 (47 Prozent) wurden mit einer Eingliederungsmassnahme unterstützt; zudem wurde 39’000 Personen eine Hilflosenentschädigung ausbezahlt. Zu diesen Zahlen hinzu kommen rund 40‘000 im Ausland wohnhafte IV-BezügerInnen (9 Prozent sämtlicher Begünstigten).
Insgesamt erhielten Ende 2009 also 284‘000 Personen eine IV-Rente. Gegenüber
2008 bedeutet dies einen Rückgang von 1,3 Prozent. Im laufenden Jahr verzeichnete die IV 18‘400 Neueintritte gegenüber 22‘100 Austritten. Der Grossteil der Austritte (15‘500) sind auf den Übertritt in die AHV zurückzuführen: Dieser Trend dürfte
sich in den nächsten Jahren aufgrund der Altersstruktur der Bevölkerung noch beschleunigen. 4000 Austritte sind Todesfällen zuzuschreiben.
Für 2600 Austritte gibt es keine Angabe der Gründe. Eine Statistik zur Wirksamkeit
der Wiedereingliederungsmassnahmen und Zahlen zu den Menschen mit Behinderung, die tatsächlich wiedereingegliedert werden, fehlen noch immer. Ebenso gibt es
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Behinderung und Politik 3/10
immer noch keine Statistik zu der Anzahl IV-RentnerInnen, die nach der Revision
ihres IV-Dossiers bei der Arbeitslosenversicherung oder der Sozialhilfe gelandet
sind.
In zwei Studien, die das BSV im Juni veröffentlicht hat, beantwortet das Amt eine
Frage, die regelmässig kontrovers diskutiert wird. Weshalb erhalten bestimmte
Gruppen der ausländischen Bevölkerung eine IV-Rente verhältnismässig häufiger als
beispielsweise Schweizerinnen und Schweizer?
Zu den Fakten: 2007 lag die Neuberentungsquote bei den türkischen Staatsangehörigen bei 0,83 Prozent, dicht gefolgt von den Personen aus Nachfolgestaaten Jugoslawiens. Bei Zugewanderten aus den traditionelleren Gastarbeiterländern (Italien,
Spanien und Portugal) wurden Quoten zwischen 0,37 und 0,53 Prozent verzeichnet.
Für Schweizerinnen und Schweizer lag die Neuberentungsquote bei 0,29 Prozent
und für Personen aus Frankreich, Deutschland, Österreich oder Grossbritannien
noch tiefer.
Die Forscher schliessen daraus, dass die Ursache höherer IV-Neuberentungsquoten
vor allem in einer erhöhten Vulnerabilität und einem schlechteren Gesundheitszustand dieser Bevölkerungsgruppen zu suchen ist. Eine weitere Ursache ist die berufliche und soziale Unterschichtung. Die Gründe, die zu einer Rente der IV führen, liegen somit in der Regel bereits in den «vorgelagerten» Systemen und Situationen wie
Bildung, Gesundheitswesen, Arbeitsmarkt und soziale Integration.
2008 führte das BSV das Nationale Programm Migration und Gesundheit ein, um
den Gesundheitszustand der eingewanderten Bevölkerung zu verbessern. Es umfasst Massnahmen und Projekte in den Bereichen Prävention, Gesundheitsversorgung, Bildung und Forschung. Das Programm dauert noch bis 2013.
AHV
Unabhängig von der Vorlage, die das Parlament schliesslich verabschiedet, zeichnet
sich schon jetzt eine Volksabstimmung über die 11. AHV-Revision ab. Die Linke hat
angekündigt, sie ergreife das Referendum, wenn ihre Vorschläge nicht berücksichtigt
würden. Und bereits jetzt steht fest, dass sie keine Berücksichtigung finden.
Einige glaubten zeitweilig, der Kompromissvorschlag von Didier Burkhalter könnte
allen Seiten genehm sein. Mit der Erhöhung des Frauenrentenalters von 64 auf 65
Jahre sollen 800 Millionen eingespart werden. Diese sollen gemäss Vorschlag des
Bundesrates wie folgt verwendet werden: eine Hälfte zur Sanierung der AHV, die andere zur Abfederung von Frühpensionierungen für einkommensschwache Personen.
Der Ständerat und die zuständige Kommission des Nationalrats (mit 9 gegen 8
Stimmen bei 8 Enthaltungen!) sind diesem Vorschlag im Juni gefolgt. Die SP und die
SVP haben bereits angekündigt, dass sie diesen Kompromiss – aus genau entgegen
gesetzten Gründen – ablehnen: Die Linke möchte, dass die 800 Millionen Franken
nur zur Finanzierung des flexiblen Rentenalters eingesetzt werden, während die SVP
nur die AHV-Ausgaben entlasten möchte. Der Nationalrat dürfte diese Frage in der
September-Session diskutieren.
18
Behinderung und Politik 3/10
BVG
Zwei verschiedene Sozialversicherungen feiern dieses Jahr gewichtige Geburtstage.
Die IV wird fünfzig Jahre alt. Halb so alt ist die zweite Säule der Altersvorsorge, also
das BVG. Seit 1985 sparen die meisten Schweizerinnen und Schweizer zwangsweise für das Alter. Gemäss der ursprünglichen Idee bei der Einführung des BVG
und gemäss heutiger Bundesverfassung sollten es die AHV- und die Pensionskassen-Renten zusammen möglich machen, dass jede Person nach der Pensionierung
den bisherigen Lebensstandard weiterführen kann. Dies sei machbar, so meinen
PolitikerInnen und ExpertInnen, wenn man nach der Pensionierung 60 Prozent des
letzten Lohnes erhalte. Bei wie vielen Personen dieser verfassungsmässige Anspruch heute gedeckt ist, kann an dieser Stelle nicht gesagt werden. Immerhin wissen wir, dass im vorletzten Jahr 11,8 Prozent der AHV-RentnerInnen auf Ergänzungsleistungen angewiesen waren. Das sind immerhin 162'125 Personen, die ihr
Leben weit entfernt vom Verfassungsziel leben müssen.
In den kommenden Jahren müssen die Pensionskassen verschiedene Probleme lösen. So müssen sie für die Finanzierung der Renten ihrer immer älter werdenden
Versicherten längerfristig neue Lösungen finden. Auch muss das Milizsystem überdacht werden, welches bei vielen Kassen nach wie vor das gängige Verwaltungsmodell ist. Die heutigen Laien sind angesichts der komplexer werdenden Fragen zunehmend überfordert. So müssen sie etwa finanzielle Anlageprodukte beurteilen, die
kaum ein Normalsterblicher wirklich versteht. Dies ist umso bedenklicher, als diese
Produkte sehr hohe Risiken in sich bergen. Schwer verständliche gesetzliche Regelungen tragen nicht unbedingt dazu bei, dass die engagierten Milizverwalter ihre Aufgabe zufriedenstellend lösen können.
Vergessen wir dabei nicht, dass es um sehr grosse Geldsummen geht. Heute verwalten die Pensionskassen rund 660 Milliarden Franken (zum Vergleich: 1987 waren
es 160 Milliarden). Und wo viel Geld liegt, ist ebenfalls viel Geld mit dessen Verwaltung und Anlage zu verdienen. Nicht immer stimmen dabei die Interessen von den
Personen überein, denen das Geld gehört mit jenen, die damit arbeiten. – Wer in einer Pensionskasse versichert ist, sollte sich also auch mit Finanzfragen beschäftigen, sofern er oder sie mitbestimmen will, was mit dem Alterskapital geschieht. Vielleicht dient dies sogar dazu, sich im Kampf gegen die exorbitanten Entschädigungen
von Bankern mit Argumenten und Kompetenzen auszurüsten?
KVG
In der Sommersession hat sich der Nationalrat mit der Gesundheitsreform beschäftigt. Er ist dabei mehrheitlich seiner vorberatenden Kommission gefolgt (vgl. «agileBehinderung und Politik 2/10») und hat das sogenannte Managed Care Modell
gutgeheissen. Wer in Zukunft medizinische Leistungen benötigt, soll diese vor allem
innerhalb von Netzwerken beziehen. Das heisst, der behandelnde Arzt oder die Ärztin begleitet in Zukunft ihre PatientInnen von Anfang an bis zum Schluss mit einer
festgelegten Auswahl an SpezialistInnen und TherapeutInnen. Wer seinen Arzt oder
seine Ärztin dennoch frei wählen will, muss dafür mehr bezahlen; nämlich 20 Prozent
Selbstbehalt im Gegensatz zu 10 Prozent im Managed Care Modell. Maximal soll der
Selbstbehalt im Managed Care Modell 500 Franken pro Jahr betragen und bei der
freien Arztwahl 1000 Franken. Die Krankenkassen werden verpflichtet, entspre19
Behinderung und Politik 3/10
chende Modelle anzubieten und können ihrerseits von den Versicherten verlangen,
dass sie bis zu drei Jahren vertraglich gebunden bleiben. Nur jene Netzwerke werden von den Krankenkassen anerkannt, welche auch Budgetverantwortung haben.
Was dieser zuletzt genannte Punkt genau bedeutet, wird sich erst in der Praxis erweisen.
Ab 2012 darf in allen Spitälern der Schweiz nur noch mit Fallpauschalen gerechnet
werden, den sogenannten DRG (Diagnose bezogene Fallgruppen). Damit sollen die
Leistungen vergleichbarer und der Wettbewerb unter den Spitälern gefördert werden.
PolitikerInnen hoffen, dass längerfristig nur noch jene Spitäler überleben, welche
gute und günstige Leistungen anbieten. Ob und wie dabei die PatientInnen überleben, ist eine andere Frage. Eine Studie der Uni Bern zeigt auf, dass PatientInnen
nach einer Behandlung häufiger wegen Komplikationen in Spitäler mit DRG zurückkehren müssen als in Spitäler mit herkömmlicher Finanzierung. Interessant ist aber,
dass PatientInnen aus DRG-Spitälern nach einer Behandlung im Durchschnitt nicht
früher heimkehren als solche aus andern Spitälern. Damit auch nach Einführung des
DRG-Abrechnungsmodells die Behandlungsqualität möglichst hoch bleibt, haben die
Spitäler eine systematische Kontrolle ihrer Leistungen und Kosten aufgebaut.
Der Jahresbericht 2009 des Ombudsman der Krankenversicherung ist auch dieses
Jahr wieder äusserst spannend. Er widerspiegelt verschiedene gesellschaftliche und
wirtschaftliche Entwicklungen. Wir stellen hier einige wenige Beobachtungen aus der
Tätigkeit dieser Stiftung vor.
Relativ aufwändig ist für die Ombudsstelle die Bearbeitung von Taggeldversicherungsfällen, obwohl die Zahl der Ratsuchenden aus diesem Bereich eher gering ist.
Grund: die vielen Schnittstellen mit andern Sozialversicherungen. Diesen Missstand
beklagen die verschiedenen Sozialversicherungen zwar mit notorischer Regelmässigkeit. Der Wille zu einer Veränderung in Richtung einer einzigen Versicherung für
alle Konstellationen des Erwerbsausfalls ist bisher jedoch nur an den Rändern der
Gesellschaft wahrzunehmen.
Versicherte haben die Wirtschaftskrise im vergangenen Jahr persönlich gespürt. Sie
«sind nicht länger bereit, dem Frieden zuliebe auf kleinere Forderungen zu verzichten.» (Zitat Jahresbericht, S. 6) Die Ombudsstelle musste sich deshalb vermehrt mit
Anfragen befassen, deren Streitwert gering ist. Spürbar wurde weiter, dass die Krankenversicherer in der Leistungskontrolle strenger wurden. Dieser Trend drückte sich
darin aus, dass der Ombudsman sogar bei geschuldeten Leistungen längere Diskussionen mit Krankenkassen führen musste. Allgemein stellt man auf der Geschäftsstelle fest, dass der Umgangston härter und fordernder wird. Der gesamte Bericht ist
unter www.ombudsman-kv.ch abrufbar.
Erhöhung der Beiträge
2011, das Jahr, in dem fast alles teurer wird …
Unabhängig vom Ausgang der Abstimmung über die Revision der Arbeitslosenversicherung vom 26. September werden die ALV-Beiträge ab dem 1. Januar ansteigen.
Bei einem Ja werden sie von heute 2 auf 2,2 Prozent, bei einem Nein auf 2,5 Prozent
erhöht. Diese zusätzliche Erhöhung ist im Übrigen ein Hauptargument in der Kampagne für die ALV-Revision geworden.
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Behinderung und Politik 3/10
Auch für die Erwerbsersatzversicherung werden Arbeitnehmer und Arbeitgeber mehr
bezahlen müssen. Zur Wiederherstellung der Reserven und Sicherstellung der Finanzierung der Leistungen wird der Beitragssatz bis Ende 2015 von 0,3 auf 0,5 Prozent heraufgesetzt. Im Übrigen hat santésuisse bereits angekündigt, dass die Krankenkassenprämien durchschnittlich um weitere 7 bis 10 Prozent ansteigen. Hinzu
kommt die MWST-Erhöhung zugunsten der IV von 7,6 auf 8 Prozent.
Hingegen sinken die Suva-Versicherungsprämien für die Arbeitgeber um 3 Prozent.
Die von der Unfallversicherung ausbezahlten Invaliditätsrenten sind um 7,3 Prozent
zurückgegangen, die Kosten um insgesamt 9,8 Prozent. Die Rechnung der Unfallversicherung weist 2009 einen Gewinn von 188 Millionen Franken aus.
Verschiedenes
MWST
Gegen grossen Widerstand kämpfend hat Hans-Rudolf Merz diesen Sommer dem
Parlament seinen Entwurf für einen MWST-Einheitssatz (6,1 Prozent) präsentiert.
Diese Gesetzesreform unterliegt dem obligatorischen Referendum. Sie dürfte vom
Nachfolger des aktuellen Finanzministers nur mit grosser Schwierigkeit unverändert
durchgebracht werden. Nur economiesuisse und die FDP.Die Liberalen – die Partei
des aktuellen Finanzministers – sind nicht gegen die Aufhebung von 21 der 29 Ausnahmen. Gemäss dem Entwurf des Bundesrats werden die Branchen Gesundheit,
Bildung und Kultur neu der Mehrwertsteuer unterstellt. Bestimmte gemeinnützige
Organisationen, darunter Verbände im Behindertenbereich, werden ebenfalls steuerpflichtig. Für Nahrungsmittel, Zeitungen und Bücher gilt im Übrigen nicht mehr der
reduzierte Satz von 2,4 Prozent. Angesichts der Verteuerung der Lebensmittel (+4
Prozent) oder Krankenversicherungsprämien (+3,1 Prozent) durch die Einführung
des Einheitssatzes von 6,1 Prozent schlägt der Bundesrat ein sozialpolitisches Korrektiv für 40 Prozent der Haushalte in bescheidenen Verhältnissen vor.
Bei der Vernehmlassung hatten sich die DOK und AGILE gegen diese Revision ausgesprochen.
Präimplantationsdiagnostik
Der Bundesrat hat den Entwurf für die Änderung des Gesetzes zur Fortpflanzungsmedizin überarbeitet. Er will die Präimplantationsdiagnostik (PID) – Untersuchung
des Embryos vor dem Einpflanzen in den Uterus der Frau – unter sehr strengen Voraussetzungen zulassen. Nur Paare, bei denen aufgrund ihrer Erbanlagen eine
grosse Gefahr besteht, dass sie ihren Kindern die Veranlagung für eine schwere
Krankheit übertragen, dürfen eine PID in Anspruch nehmen. Zu diesen Krankheiten
gehören solche, die mit hoher Wahrscheinlichkeit vor dem fünfzigsten Lebensjahr
ausbrechen und für die keine wirksame und zweckmässige Therapie zur Verfügung
steht. Die PID darf nicht im Rahmen von allgemeinen Vorsorgeuntersuchungen zur
Vermeidung von genetischen Anomalien angewendet werden. Ebenso ist es verboten, mittels PID einen Embryo mit einem bestimmten Gewebetyp zum Zweck einer
späteren Gewebe- oder Organspende für ein krankes Geschwister auszuwählen (so
genanntes Retter-Baby). Für Didier Burkhalter muss der Embryo gegen missbräuchliche Selektionen geschützt werden. Und die «Stellung von Menschen mit Behinde21
Behinderung und Politik 3/10
rung in unserer Gesellschaft verteidigt werden», wie er bei der Präsentation des
Entwurfs erklärte. Der Weg bis zur Zulassung der Präimplantationsdiagnostik ist
noch lang und schwierig. Am Ende entscheiden Volk und Kantone.
In Kürze
Gemäss einer Hochrechnung des Eidgenössischen Finanzdepartements (EFD)
rechnet der Bund für 2010 anstatt des budgetierten Defizits von 2 Milliarden mit einem Überschuss von 600 Millionen Franken. Hans-Rudolf Merz bleibt jedoch vorsichtig: Er ist der Meinung, dass trotz dieser Zahlen die durch den Finanzplan 20122014 geforderten Sanierungsmassnahmen durchgeführt werden müssen.
Quellen (27. April bis 10. August): Medienmitteilungen und Statistiken der Bundesbehörden, «Le Temps», «La Liberté», «24 Heures», «Tages-Anzeiger», «NZZ»,
«Der Bund»
Übersetzung: Susanne Alpiger
26.9.2010: NEIN zum Abbau bei der Arbeitslosenversicherung!
Die rechten Parteien starten derzeit einen Angriff nach dem anderen auf die
soziale Sicherheit. Nach dem erfolgreich abgewehrten Rentenklau bei der zweiten Säule, müssen wir uns nun in der Abstimmung vom 26. September gegen
den unfairen und unsinnigen Leistungsabbau bei der Arbeitslosenversicherung wehren. Auch Menschen mit Behinderungen sind von der AVIG-Revision
bedroht.
Von Vania Alleva, Mitglied der Geschäftsleitung der Gewerkschaft Unia
Ausgerechnet mitten in einer schweren Wirtschaftskrise mit Zehntausenden von Arbeitslosen kürzen die rechten Parteien die Leistungen bei der Arbeitslosenversicherung (AVIG). Insgesamt rund 600 Millionen Franken wollen sie mit der Revision einsparen und gleichzeitig die Arbeitnehmenden stärker zur Kasse bitten. Mehr bezahlen für weniger Leistung – das ist inakzeptabel.
Topverdiener werden geschont
Die unsoziale Abbau-Vorlage geht auf Kosten der Arbeitnehmenden, welche auf eine
gute Arbeitslosenversicherung angewiesen sind. Die Abzocker und Topverdiener
hingegen werden geschont. Denn nicht alle Arbeitnehmenden würden gleich viel an
die Versicherung bezahlen: Bis zu einem jährlichen Einkommen von 126'000 Franken beträgt der Beitrag zukünftig 2,2 Lohnprozente. Für Einkommensteile zwischen
126'000 und 315'000 Franken wird aber nur noch 1 Prozent abgezogen. Und Einkommensteile ab 315 000 Franken sind vom AVIG-Beitrag sogar ganz befreit.
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Behinderung und Politik 3/10
Auch Spitzenverdiener bezahlen heute jährlich nicht mehr als maximal 2'520 Franken
in die Arbeitslosenversicherung ein. Das ist höchst ungerecht, denn normalverdienende Arbeitnehmende müssen so mehr als viermal so viel Lohnprozente bezahlen,
als beispielsweise jemand, der eine Million verdient. Die Manager und Topverdiener,
welche in den vergangenen Jahren die Wirtschaft an die Wand gefahren haben und
für Tausende von Entlassungen verantwortlich sind, werden so auch noch mit tieferen Beiträgen belohnt. Die Opfer der Krise hingegen, welche unverschuldet ihren Job
verloren haben, werden mit höheren Beiträgen und schlechteren Leistungen bestraft.
Das kann doch nicht sein!
Fairer Schuldenabbau statt Arbeitslose bestrafen
Das akutelle Defizit der Arbeitslosenversicherung könnte einfach behoben werden,
wenn die Versicherungsbeiträge – wie bei der AHV – auf den ganzen Lohn erhoben
würden. ETH-Ökonomen haben berechnet, dass mit dieser Massnahme jährlich rund
550 Millionen Franken Mehreinnahmen generiert werden könnten. Die geplanten
Leistungskürzungen für die Arbeitnehmenden würden damit hinfällig.
Werden die Sparmassnahmen dennoch durchgedrückt, hat dies happige Konsequenzen. Sie treffen ausgerechnet diejenigen Arbeitnehmenden, welche von der Arbeitslosigkeit besonders betroffen sind oder grosse Schwierigkeiten haben, eine
neue Arbeitsstelle zu finden: Junge und ältere Arbeitnehmende und solche, welche
wegen Unfall, Krankheit, Mutterschaft oder einer Ausbildung von den Beiträgen befreit sind. Viele Arbeitslose erhalten weniger Taggelder, die Mehrheit der Arbeitslosen muss mehr Wartetage in Kauf nehmen (bis zu einem Monat). Neu werden unter
30-Jährige dazu gezwungen, jegliche Arbeit anzunehmen, egal über welche Ausbildung sie verfügen. Ein Überblick über den AVIG-Leistungsabbau findet sich unter
www.abzocker-belohnen-nein.ch.
Auch Menschen mit Behinderungen sind von der Revision bedroht. IV-Rentner sind
gemäss AVIG von der Beitragspflicht an die Arbeitslosenversicherung befreit (Beitragsbefreite). Wird einem IV-Rentner die Rente gestrichen, so hat er gemäss heutigem Recht während 260 Tagen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung. Neu beträgt dieser Anspruch nur noch 90 Tage. Danach wird die Person ausgesteuert – und
der Gang auf das Sozialamt unausweichlich. Dieselbe Leistungskürzung gilt auch für
Personen, die wegen Unfall oder Krankheit in den letzten zwei Jahren vor der Arbeitslosigkeit weniger als 12 Monate lang in einem Arbeitsverhältnis standen.
Zudem wird das Taggeld für Teilinvalide gekürzt. Gemäss bisherigem Recht beträgt
das Taggeld für IV-Rentner oder Antragsteller auf eine IV-Rente 80 Prozent des versicherten Verdienstes. Neu erhalten IV-Rentner mit einem Invaliditätsgrad von unter
40 Prozent nur noch 70 Prozent des versicherten Verdienstes. Dieselbe Regelung
gilt generell auch für Personen, deren Antrag auf Invalidenrente noch nicht abschliessend behandelt worden ist.
Arbeitslosigkeit bekämpfen statt Kosten abwälzen
Mit den Leistungskürzungen bei der Arbeitslosenversicherung wird kein einziges
Problem gelöst, im Gegenteil: Die AVIG-Revision schafft neue Probleme. Arbeitslose
und ihre Familien werden in die Sozialhilfe getrieben. Kantone, Gemeinden und
Städte rechnen deshalb mit Mehrausgaben von bis zu 240 Millionen Franken, sollte
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Behinderung und Politik 3/10
die AVIG-Revision angenommen werden. Statt die Arbeitslosen zu bestrafen und die
Kosten auf die Gemeinden abzuwälzen, sollten die Politiker die Arbeitslosigkeit bekämpfen.
Die Schweiz hat einen im europäischen Vergleich schwachen Kündigungsschutz.
Umso wichtiger ist eine gute Arbeitslosenversicherung, insbesondere in Krisenzeiten.
Dass die Arbeitslosenversicherung in der Krise rote Zahlen schreibt, ist normal.
Wenn die Wirtschaft wieder anzieht, die Zahl der Arbeitslosen zurückgeht und die
Löhne steigen, dann macht die Arbeitslosenversicherung Überschüsse und die
Schulden werden abgebaut. Werden dennoch zusätzliche Mittel benötigt, müssen
zuerst bei den Topverdienern faire Beiträge erhoben werden. Deshalb: Nein zum
AVIG-Abbau am 26. September 2010.
Auch AGILE Behinderten-Selbsthilfe Schweiz hat für die Abstimmung am 26. September 2010 über die AVIG-Revision die NEIN-Parole gefasst (Anm. d. Red.)
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Behinderung und Politik 3/10
Gleichstellung
Gleichstellung im Alltag «Hautnah erlebt»:
Einkaufserlebnis der besonderen Art
Von Simone Leuenberger, wissenschaftliche Assistentin von AGILE
Mit der Rubrik Gleichstellung im Alltag «Hautnah erlebt» will AGILE an konkreten
Beispielen zeigen, wie Gleichstellung geglückt ist oder wie sie verpasst wurde. Es
sollen verschiedene Autoren und Autorinnen zu Wort kommen. Haben Sie etwas erlebt, das Sie gerne mit einer interessierten Leserschaft teilen möchten? Wenden Sie
sich an Eva Aeschimann ([email protected])!
Erste Barriere: Schranke
Einkaufszentren sind out, Erlebniscenter sind in. Nicht nur shoppen, sondern auch
essen, baden und ins Kino gehen kann man unter einem Dach. Was man aus Amerika kennt, schiesst neuerdings auch in der Schweiz an allen Ecken und Enden aus
dem Boden. Neue Bauten und deshalb bestimmt vollständig behindertengerecht,
oder? Ich probiere es aus! Mit dem Auto fahre ich ins neu eröffnete Erlebniscenter.
Da ich mein Auto parkieren will, folge ich dem Parkplatzsignet. Bevor ich es mir richtig bewusst bin – vor lauter Ausschau halten nach dem richtigen Schild – fahre ich in
eine Tiefgarage. Der Gang schlängelt sich lange um diverse Kurven. Das Ende ist
vom Eingang her nicht ersichtlich. Hoppla, plötzlich stehe ich mit dem Auto vor einer
Schranke. Aha, hier sollte man ein Ticket nehmen. Die Schranke wird mir zur Barriere. Ich kann zwar das Fenster meines Autos herunterlassen, doch bin ich zu klein
und zu wenig gelenkig, als dass meine Hand das Ticket vom Automaten in Empfang
nehmen könnte. Das weiss ich eigentlich schon lange. Deshalb meide ich Tiefgaragen peinlichst. Hier bin ich allerdings in die Falle getappt. Ich überlege: Rückwärts
wieder hinaus fahren, ist zu gefährlich. Es könnte jederzeit ein Auto heranfahren. Die
Anlage ist zu wenig übersichtlich und die Fahrbahn zudem äusserst eng. Dies ist der
Grund, weshalb auch meine zweite Idee scheitert: Ich kann nicht aussteigen und jemanden suchen, der mir das Ticket gibt. Ich bräuchte mit dem Rollstuhl dafür seitlich
viel mehr Platz. In weiter Ferne erspähe ich eine Person, die einzige weit und breit.
Meine Rettung? Ich hupe, obwohl hupen zu Rufzwecken verboten ist. Aber ich bin ja
in einer Notsituation! Natürlich merkt die Person nicht sofort, dass mein Gehupe ihr
gilt. Ich versuche deshalb zusätzlich, mit aller Kraft zu winken und zu rufen, um die
Person zum Näherkommen zu bewegen. Es klappt, und der Mann drückt mir das Ticket etwas verdutzt in die Hand. Die Barriere hebt sich und ich bin drin. Jede Menge
Behindertenparkplätze, ich kann richtig auswählen. Doch wie ich da wohl wieder raus
komme?
Sternguckerblick
Irgendwo finde ich einen Eingang. Alles ist fremd, kaum ein rechter Winkel. Dafür
überall Touchscreen-Bildschirme zur Information. Eine Katastrophe für Blinde, denke
ich mir. Doch auch für mich als Rollstuhlfahrerin ist eine Barriere eingebaut: Vor jedem Bildschirm hat es eine Ablagefläche für die Einkäufe. Logisch, oder? Ich kann
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Behinderung und Politik 3/10
also nicht nahe genug heran fahren. Zusätzlich wäre mein Arm viel zu kurz, um auf
dem in Stehhöhe befestigten Bildschirm irgendetwas zu drücken. Wenn ich Glück
habe, finde ich einen Bildschirm, der vor kurzem von jemand anderem bedient wurde
und kann dort einige Informationen mit Sternguckerblick (Kopf nach hinten werfen,
Augen nach oben drehen) erhaschen.
Es ist wirklich ein Einkaufserlebnis der besonderen Art. Man darf sich nicht zu fest
auf die Schaufenster konzentrieren, sonst landet man bestimmt in irgendeiner vorstehenden, schrägen Ecke. Die Architektur ist hier halt so…
Hilfe per Funk
Ich will meinem Einkaufserlebnis möglichst schnell ein Ende setzen. Nun habe ich
nur noch ein Problem: Wie bringe ich mein Auto durch die Schranke wieder aus der
Garage hinaus? Bei der Information (ja, ich habe auch Leute gefunden, die man fragen kann!) erkundige ich mich, ob es denn keine Rollstuhlparkplätze gebe, die ohne
Schranke zugänglich sind. Die nette Frau holt einen Plan und markiert mir alle Rollstuhlparkplätze gelb. Es sind wirklich viele, doch alle innerhalb der Schranke! Ausserhalb der Schranke? Ja, doch, da sollte es einen haben hinter dem Hotel, bei der
Tankstelle, meint sie achselzuckend. Angeschrieben war er allerdings zuvor nirgends. Immerhin hat die Frau für mein aktuelles Schrankenproblem eine Lösung in
petto. Per Funk ruft sie zwei Angestellte, die mir helfen sollen. Ich bedanke mich und
warte. Mit meiner Eskorte, die ich kurzerhand auf die Hälfte reduziere (ich brauche ja
nicht zwei Männer, die mir das Ticket zur richtigen Zeit in den richtigen Schlitz stecken), mache ich mich auf den Weg Richtung Auto. Ob ich wohl wirklich bereits das
letzte Mal hier war?
Zweiter Besuch: Badge gegen Ausweis
Der Film, den wir uns unbedingt anschauen wollen, läuft nur dort, im Erlebniscenter.
Also überwinde ich mich und nehme einen zweiten Anlauf. Nun weiss ich ja, wo parkieren und hätte im Notfall sogar einige Freundinnen dabei. Insider sind wir dennoch
nicht. Mit den über zehn Kinosälen sind wir ziemlich überfordert. Die Kinobillette haben wir rasch gelöst. Damit aber auch ich mit dem Rollstuhl zu den Kinosälen
komme, brauche ich einen Badge (moderner Schlüssel) für den Lift. Diesen erhalte
ich aber nur, wenn ich einen Ausweis als Pfand abgebe. Nach dem Kinoerlebnis geht
es deshalb mit dem Lift zurück zur Kinokasse. Dort tausche ich wiederum Badge gegen Ausweis und fahre mit einem weiteren Lift zum Ausgang. Allen anderen Kinobesucherinnen und -besuchern bleibt dieser Umweg erspart.
Ich weiss nicht so recht, was ich von dieser Erfahrung im Erlebniscenter halten soll.
Diskriminierung oder ein immerhin zugängliches Kino? Was ich weiss: Anders als die
Erlebniscenter selbst, wurde diese Art von «Zugänglichkeit» jedenfalls nicht von
Amerika kopiert. Denn dort sind sogar ältere Einkaufs- und Erlebniscenter vollständig
behindertengerecht.
26
Behinderung und Politik 3/10
Learning Center – wenn Design über Sein bestimmt
Von weit her reisen die Leute an, um sich das Learning Center anzusehen, den
Ende Mai eingeweihten neuen EPFL-Flaggschiff in Lausanne. Zu Recht, denn
er ist architektonisch aussergewöhnlich. War das aber das Ziel? Ein Kurzbesuch im Studienzentrum, wo Form wichtiger ist als Funktion – zum Leidwesen
der Menschen mit Behinderung.
Von Mélanie Sauvain, Secrétaire romande, AGILE
Als er das Learning Center mit einem neuen Babel verglich, wusste Bundesrat Didier
Burkhalter nicht, wie wahr seine Aussage war. Seine Metapher zu diesem Ort der
Wissenschaft passt nämlich auch in architektonischer Hinsicht bestens: Das Learning Center ist zwar kein Turm mit einer Spitze bis zum Himmel, für bestimmte Personen mit Behinderung aber fühlt es sich so an.
Behinderung stigmatisiert
«Es ist anstrengend», so der Kommentar der EPFL-Physikerin und Rollstuhlfahrerin
Anne Possoz. Sie hat gerade mit viel Körpereinsatz eine erste Steigung überwunden
und steht nun vor dem rundlichen Gebäude aus Beton und Glas. Das ursprüngliche
Projekt wurde in vielerlei Hinsicht angepasst, um die Zugänglichkeit zu verbessern,
«aber es gibt noch einiges zu tun, und Ungleichheiten werden immer bestehen»,
unterstreicht Mira Goldschmidt, die das Learning Center zusammen mit blinden oder
sehbehinderten Personen regelmässig besucht.
Zu den Verbesserungen gehören etwa der Bodenbelag ausserhalb des Gebäudes,
die Induktionsanlagen für hörbehinderte Studierende, die Führungslinien und multisensorischen Pläne für sehbehinderte Personen. Oder der Schräglift, mit dessen
Hilfe RollstuhlfahrerInnen die Steigung bis zu 20 Prozent bewältigen können.
Aus Sicht der Bauverantwortlichen des Learning Centers ermöglichen diese elektrischen Einrichtungen, dass das Gebäude den Anforderungen des Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG) entspricht. Dieses verlangt, dass alle neuen öffentlichen
Bauten zugänglich sein müssen. Anne Possoz sieht in den Einrichtungen allerdings
vor allem einen «Faktor zur Stigmatisierung von Behinderung».
Und man muss ihr zustimmen. Wo man hinschaut, sieht man nicht den versprochenen Ort der Integration – wo sich alle, Junge und Ältere, treffen können – , sondern
einen Ort, der insbesondere für Menschen mit Behinderung angepasst wird, mit
Lastenaufzügen, Schrägliften, weissen Linien und zusätzliche Zick-zack-Wegen mit
«nur» 6 Prozent Steigung, um die Hügellandschaft besser bewältigen zu können etc.
«Es wäre viel besser gewesen, schon von Anfang an ein wirklich geeignetes und für
alle offenes Projekt auszuwählen», meint die Physikerin. So hätte man den Behinderten auch nicht vorwerfen können, sie verursachten Zusatzkosten, wie es insbesondere das Wirtschaftsmagazin «PME Magazine» in seinem Editorial vom 1. Juli tat
(siehe Auszug). Der Autor dieses Artikels scheint zu vergessen, dass das BehiG exakt für eine verbesserte Integration von Menschen mit Behinderung geschaffen
wurde. Und dass es dafür auch Mehrkosten vorsieht.
27
Behinderung und Politik 3/10
Steigung um Steigung
Im Innern des Gebäudes tut der Besucher gut daran, das Überwinden von Steigungen zu mögen: Die Architekten haben an verschiedenen Orten Hügel mit Neigungen
von meist über 6 Prozent aber auch bis zu 20 Prozent geplant. Um den Lärm aufzufangen, wurde Spannteppich verlegt. Für Personen mit eingeschränkter Mobilität
ohne elektrischen Rollstuhl, ist der Zugang zur Bibliothek oder zum Restaurant durch
einen Schräglift oder eine kleine Seilbahn gewährleistet.
Dieser Zugang wäre auch durch den Entscheid für ein flaches Gebäude sichergestellt worden, ohne spezielle Wege für Behinderte. Genau da drückt der Schuh: Bewegungsbehinderte Personen müssen jedes Mal ein Hilfsmittel finden und benutzen,
wo nicht behinderte Menschen, die sie begleiten, einfach weitergehen können. Ausgrenzung ist nicht weit.
In manchen Fällen unpraktisch, zuweilen sogar gefährlich
Mira Goldschmidt, Orientierungs-, Mobilitäts- und Low-Vision-Trainerin für Sehbehinderte, weist auf bestimmte unpraktische oder sogar gefährliche Stellen hin. Eine Führungslinie grenzt an die Treppen, die einen Stock tiefer führen: Wenn eine sehbehinderte Person einem Hindernis ausweichen möchte, fällt sie die Stufen hinunter.
Dasselbe gilt für die Niveauunterschiede zwischen ebenen Flächen und Rampen:
Mira Goldschmidt hat verlangt, dass weisse Linien angebracht werden, um auf die
kleinen Tritte hinzuweisen. Dies wurde auch getan. «Wir gehen mit kleinen Schritten
vorwärts», erklärt sie eher optimistisch. «Die Gestalter sind für unsere Wünsche
ziemlich empfänglich, von denen auch die übrigen NutzerInnen des Gebäudes profitieren. Das muss man auch sagen». Eric Maïno, Verantwortlicher des Bauunternehmens Losinger für das Learning Center, begleitet den Kurzbesuch. Er notiert sich die
Probleme, auf die Mira Goldschmidt und Anne Possoz hinweisen. Er versichert, dass
er tut, was er kann. Gemäss Auskunft der beiden Frauen hat er sein Versprechen
bisher gehalten.
Für Sehbehinderte gebe es allerdings immer Risiken, da der Faktor Mensch unkontrollierbar sei, sagt Bewegungstrainerin Goldschmidt. Wie könne man etwa sicher
sein, dass niemand aus irgendeinem Grund einen Tisch auf eine Führungslinie verschiebt und vergisst, ihn wieder zurückzustellen? Es sei kaum vermeidbar, dass eine
blinde Person, die der Linie folge, dagegen stosse. Dieses Problem gebe es aber
nicht nur im Learning Center, es sei eine grundsätzliche Frage der Sensibilisierung,
fügt sie hinzu.
Die Beschriftung im Learning Center könnte dagegen ohne weiteres verbessert werden. Sie ist entweder winzig oder weist keinen Kontrast auf. Dies betrifft beispielsweise gepunktete rote Pfeile auf den Fenstern, die den Weg zur Bibliothek, zu den
Toiletten oder zu den Räumen anzeigen sollen. Wer nur leicht kurzsichtig ist, oder
wenn die Sonne scheint, sieht man diese Pfeile nicht mehr.
Keine Referenz
Für die Organisationen, die gegen das ursprüngliche Bauprojekt opponiert hatten
(AGILE und die Schweizerische Fachstelle für behindertengerechtes Bauen), ist es
wichtig, dass das Learning Center nicht zur Referenz für künftige Projekte wird. Trotz
28
Behinderung und Politik 3/10
aller möglichen Anpassungen bleibt das Grundkonzept problematisch. «Man kann
alle gesetzlichen Normen im Bereich der Zugänglichkeit einhalten und den Menschen mit Behinderung das Leben trotzdem erschweren», meint Anne Possoz.
Mit der Auflistung der Kritikpunkte am Lausanner Projekt hatte die Schweizerische
Fachstelle für behindertengerechtes Bauen an verschiedene «Wahrheiten» erinnert.
Diese wurden aber von den Medien bei der Eröffnung des neuen Campus grosszügig übergangen. Darf Architektur diskriminieren? Rechtfertigt Ästhetik die Ausgrenzung einer Personengruppe? Selbstverständlich nicht – und insbesondere nicht,
wenn es um ein Gebäude geht, das der Bildung gewidmet ist und gesellschaftliche
Partizipation ermöglichen soll. Und durch den Bund mitfinanziert wurde.
Auszug aus dem «PME Magazine», 1. Juli 2010, zum Bau Learning Center
(…)
Beschwerden. Diese Baustelle zeigt, dass bestimmte Lobby-Gruppen eine riesige
Verhinderungsmacht besitzen, eine Macht, die diese sich dank der (zu) zahlreichen
Beschwerdewege, die das Gesetz bietet, anmassen. Im Fall der EPFL gehen Behindertenverbände noch einen Schritt weiter und fordern eine buchstabengetreue Anwendung des Behindertengleichstellungsgesetzes.
Diese Verbände setzen sich zu Recht für die Interessen ihrer Mitglieder ein. Das Gesetz lässt dies zu, aber einmal mehr handelt es sich um eine Diktatur der Minderheiten, welche die Kosten solcher Beschwerden vergessen. Und sie vergessen sie
umso eher, als dass sie sie nicht direkt zu tragen haben. Die Gemeinschaft bezahlt
mit Steuergeldern. Was endgültig bestätigt, dass die öffentliche Hand in der Schweiz
so viel Geld hat, dass es den Leuten egal ist, wenn man dieses verschleudert.
(…)
Übersetzung: Susanne Alpiger
Der 3. Dezember im Zeichen der schulischen Integration
Dieses Jahr steht die schulische Integration im Zentrum des Internationalen
Tags der Menschen mit Behinderung vom 3. Dezember. Unter dem Slogan
«Gleiche Rechte – hier und jetzt!» sind die Organisationen eingeladen, daran
zu erinnern, dass Integration und Gleichstellung in der Schule beginnen.
Von Mélanie Sauvain, Secrétaire romande, AGILE
Viele Kinder mit Behinderung besuchen in der Schweiz eine Sonderschule oder sind
lediglich teilweise in Regelklassen integriert. Im Vergleich zu unseren Nachbarländern Frankreich, Deutschland, Österreich oder Italien gibt es noch wenig Integration
in die Regelklassen. Die genannten Länder haben allerdings bereits die UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ratifiziert. Diese sieht ins29
Behinderung und Politik 3/10
besondere vor, dass die schulische Integration die Regel und der Besuch von Sonderschulen die Ausnahme sein soll.
Eine Schule für alle
Trotz der erzielten Fortschritte ist der Weg bis zu «einer Schule für alle» noch lang
und kompliziert. In der Deutschschweiz ist seit einigen Monaten eine Diskussion Pro
und Kontra Integration von Kindern mit Behinderung im Gang – insbesondere im Zusammenhang mit dem umfassenden sonderpädagogischen Konzept in Zürich, das
nun doch nicht umgesetzt wird. Dabei wurde vor allem festgestellt, dass bei Eltern,
Lehrpersonen und Schulbehörden ein erhöhter Informations- und Beratungsbedarf
besteht. Auch die breite Öffentlichkeit muss für das Anliegen sensibilisiert werden,
um Ängste und Vorurteile zu überwinden.
Neben Unsicherheiten und Befürchtungen im Umgang mit behinderten Schülerinnen
und Schülern erschweren oder verhindern in manchen Fällen auch bauliche Probleme den Zugang zur Regelschule. Eine grosse Rolle spielt zudem die Kostenfrage,
vor allem seit dem Inkrafttreten des Neuen Finanzausgleichs. Die einzelnen Fälle
werden je nach Wohngemeinde ganz unterschiedlich gehandhabt: Entsprechend
besteht die Forderung nach einer schweizweiten Vereinheitlichung der Rahmenbedingungen für die schulische Integration.
Der 3. Dezember bietet eine ausgezeichnete Gelegenheit, um unsere Forderungen
in Medien und Öffentlichkeit zum Thema zu machen. Deshalb sind alle Organisationen eingeladen, diesen Tag mit Leben zu füllen, indem sie beispielsweise lokalen
Medien Reportagethemen im Zusammenhang mit schulischer Integration vorschlagen. Auf der Website www.3dezember.ch finden Sie nicht nur Ideen für Aktionen,
sondern können Ihre Veranstaltungen auch ankündigen.
Gemeinsames Logo
Erstmals wurde für den Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung ein gemeinsames Logo gestaltet. Es kann auf Programmen, Websites, Medienmitteilungen
usw. verwendet werden. Es ist als blaues Banner gestaltet und kann neben den Logos der Organisationen erscheinen, ohne diese zu konkurrenzieren. Dieses grafische
Element soll das Konzept und die Wahrnehmbarkeit des Aktionstags verstärken .
Übersetzung: Susanne Alpiger
30
Behinderung und Politik 3/10
Arbeit
Wiedereingliederung … schon, aber wie?
Die 6. IV-Revision ist im Gange. Der Bundesrat hofft, in den nächsten 7 Jahren
rund 16'800 IV-RentnerInnen in den Arbeitsmarkt wiedereingliedern zu können.
Die berufliche Integration ist ein Teil der vorgeschlagenen Massnahmen für die
Sanierung der IV. Obwohl ein Grossteil der Menschen mit Behinderung arbeiten möchte, ist es illusorisch zu glauben, dass die Arbeitgeber ihnen von sich
aus Arbeitsplätze anbieten.
Von Catherine Corbaz, Bereichsleiterin Arbeit, AGILE
Ende 2009 betrug die Arbeitslosenquote 3,8 Prozent, und 4,1Prozent der Erwerbsbevölkerung suchten eine neue Stelle. Der Sozialwissenschafter Daniel Aeppli
schätzt die tatsächliche Arbeitslosenquote auf 5 bis 6 Prozent. Wie soll es also für
den Arbeitsmarkt und die Unternehmen möglich sein, Tausende von Personen wiedereinzugliedern, die heute eine IV-Rente beziehen?
2004 verfasste eine Arbeitsgruppe der Dachorganisationenkonferenz der privaten
Behindertenhilfe (DOK) einen Bericht über die verschiedenen Anreize für Arbeitgeber und ihre mögliche Umsetzung in der Schweiz (Link zum Bericht der DOK). Mit
der 5. IV-Revision wurde ein Teil der vorgeschlagenen Massnahmen umgesetzt: Job
Coaching, Supported Employment, Sensibilisierungskampagnen, bessere Informationen für die Arbeitgeber, Einarbeitungszuschüsse etc. Bis heute ist aber keine der
damals vorgeschlagenen Massnahmen für die Arbeitgeber obligatorisch.
Die Einführung von Quoten scheint eine mögliche Lösung zu sein. Um was geht es
dabei, und welche Erfahrungen wurden bisher mit Quoten gemacht?
Das Quotensystem
Bei diesem Modell wird eine Quote (Mindestanzahl) von Personen mit Behinderung
festgelegt, die in einem Unternehmen beschäftigt werden müssen. Wird die Quote
nicht erfüllt, muss das Unternehmen eine Ausgleichsabgabe (Malus) bezahlen, die
der Anzahl nicht angestellter behinderter Personen entspricht.
Obwohl die Quoten in den meisten Ländern selten erreicht werden und die Umsetzung dieses Systems komplex ist, ermöglichen sie dennoch:
-
Einnahmen zu generieren, welche die Finanzierung von Projekten für die
berufliche Integration erlauben
-
die Arbeitgeber zu sensibilisieren
-
die Erwerbsquote der Menschen mit Behinderung zu erhöhen
In vielen Ländern der Europäischen Union werden Quoten eingesetzt: Italien, Frankreich, Spanien, Österreich, Deutschland, Polen.
31
Behinderung und Politik 3/10
Bonus-Malus-System
Bei diesem System werden Quoten und Boni kombiniert. Stellt ein Unternehmen
mehr als die geforderte Anzahl Personen mit Behinderung an, erhält es einen Bonus.
Unternehmen, die die geforderte Quote nicht erfüllen, müssen eine Ausgleichsabgabe (Malus) bezahlen.
In diesem Modell wirkt der Anreiz direkt und hat auf jeden Fall positive oder negative
finanzielle Auswirkungen auf das Budget des Unternehmens. Dieses 1996 in der
Schweiz von Pro Mente Sana entwickelte System ist noch nirgends erprobt worden.
Drei Beispiele in Europa
In Frankreich beträgt die Quote für Unternehmen mit über 20 Beschäftigten 6 Prozent. 2009 erreichten schätzungsweise 48 Prozent der Unternehmen (2003 46 Prozent) diese Einstellungsquote. 21 Prozent, darunter vor allem kleine Unternehmen,
hatten nichts unternommen, um eine Person mit Behinderung zu beschäftigen. Seit
dem 1. Juli 2010 sind die Sanktionen für Unternehmen verschärft worden, welche die
Quote nicht erfüllen. Die Ausgleichsabgabe wurde verdreifacht und beträgt nun
1500-mal den Mindeststundenlohn pro nicht angestellte Person mit Behinderung.
Beispielsweise muss ein Unternehmen mit 50 Mitarbeitenden, das keinen Behinderten beschäftigt, neu fast 39'000 Euro (1500 × 8.83 Euro × 3 Beschäftigte) bezahlen,
vorher waren es 10'500 Euro.
Im Übrigen stehen den Unternehmen verschiedene Begleitmassnahmen für die Einstellung von Personen mit Behinderung zur Verfügung. Dies wirkt sich positiv aus,
denn der Anteil der Unternehmen, die ihre Quote nicht erfüllen, ist in den vergangenen Jahren zurückgegangen. Gemäss Agefiph (Einzugsstelle) ist die Höhe der Ausgleichsabgabe zwischen 2006 und 2008 um 5 Prozent gesunken.
In Deutschland müssen öffentliche und private Unternehmen mit mindestens 20 Beschäftigten 5 Prozent der Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen besetzen.
Erfüllen sie diese Quote nicht, müssen sie monatlich eine Abgabe in Höhe von 105
Euro bezahlen, zusätzlich zu den 180 Euro für jeden nicht besetzten Pflichtplatz (die
Skala wird mit zunehmender Grösse des Unternehmens komplizierter). 2007 waren
gemäss Statistik der deutschen Bundesagentur für Arbeit 4,2 Prozent der Beschäftigten in Deutschland behindert (3,7 Prozent in privaten Unternehmen und 6 Prozent
im öffentlichen Sektor). Bis 2008 sank die Arbeitslosenquote der Menschen mit Behinderung. Die Krise hat das Blatt gewendet. Seit dem Jahr 2008 haben die AbgabeZahlungen stark zugenommen, nachdem sie zuvor mehr oder weniger stabil waren.
Ein weiteres Beispiel ist das österreichische Modell: Alle Unternehmen mit über 25
Mitarbeitenden müssen eine Person mit Behinderung einstellen. Diese hat den Status eines «begünstigten Behinderten». Dieser Status wird allen BürgerInnen der EU
gewährt, die in Österreich leben und einen Behinderungsgrad von mindestens 50
Prozent aufweisen. Um diesen Status zu erlangen, muss ein Antrag gestellt werden,
über den eine Kommission entscheidet. Unternehmen, welche die geforderte Quote
nicht erfüllen, müssen eine monatliche Ausgleichsabgabe von 223 Euro (2010) bezahlen. Beschäftigte mit Status «begünstigter Behinderter» verfügen über einen im
Vergleich zu den übrigen Angestellten erhöhten Kündigungsschutz. Der Anteil der
32
Behinderung und Politik 3/10
beschäftigten Personen mit einer schweren Behinderung ist von 1,2 Prozent im Jahr
1990 auf 2,5 Prozent im Jahr 2005 angestiegen.
In allen drei Ländern gibt es Begleitmassnahmen und Ausbildungsangebote für Arbeitnehmer und Unternehmen. In den USA, wo keine solchen Massnahmen existieren, sind die Auswirkungen von Quoten auf die Einstellung von Menschen mit Behinderung geringer oder fehlen gänzlich.
Quoten: eine wirksame Massnahme?
Bisher sind nur wenige empirische Studien durchgeführt worden, die den Einfluss
von Quoten auf die Einstellung von Menschen mit Behinderung messen. Der Wissenschaftler Jean-Philippe Wüllrich hat die Situation in Österreich auf Basis von statistischen Daten der Österreichischen Sozialversicherung und des Bundessozialamtes analysiert. Seine Studie zeigt Folgendes:
-
Die Ausgleichsabgabe (Malus) für Unternehmen, welche die Quote nicht erfüllen, beeinflusst stark die Einstellung von Menschen mit Behinderung.
-
Durch die Erhöhung der monatlichen Abgabe um 30 Prozent im Jahr 2001 hat
die Zahl der in den Unternehmen beschäftigten Behinderten stark zugenommen.
Politischen Entscheidungsträgern, die Personen mit Behinderung eingliedern möchten, empfiehlt Jean-Philippe Wüllrich in seiner Studie dringend, die Einführung von
Quoten zu prüfen. Diese sollten von Massnahmen begleitet werden, welche die
durch die Einstellung von behinderten Beschäftigten verursachten Kosten ausgleichen.
Die Entscheidungsträger in unserem Land sollten diese Ergebnisse interessieren, da
Österreich durch sein föderalistisches System und das wirtschaftliche Gefüge (hoher
KMU-Anteil) viele Ähnlichkeiten mit der Schweiz aufweist.
Kein Zauberstab, aber Mittel
Mit einer Ausgleichsabgabe und Begleitmassnahmen für die Arbeitgeber und die
künftigen Beschäftigten bieten Quoten einen Weg zur Schaffung von Arbeitsplätzen
für Menschen mit Behinderung. Eine Kombination dieser Massnahmen würde es
dem Bundesrat ermöglichen, seine ehrgeizigen Ziele zu erreichen. Auch die Erwartungen der Menschen mit Behinderung, die arbeiten wollen und können, würden erfüllt. Von der IV ausgeschlossene Personen wären nicht zwingend auf Sozialhilfe
angewiesen, und der Bundesrat würde das Problem nicht nur verlagern. Das Modell
würde auch die Wirksamkeit der bestehenden Massnahmen erhöhen, und die Abgabe wäre eine willkommene Einnahmequelle für die Finanzierung und Entwicklung
dieses Projekts.
Dennoch wirft das Quoten-Modell grundlegende Fragen auf:
-
Wie kann sichergestellt werden, dass es sich beim behinderten Beschäftigten
nicht um einen Alibi-Behinderten handelt?
-
Wie wird Behinderung definiert? Was ist ausschlaggebend dafür, dass eine
Person als behindert betrachtet wird?
33
Behinderung und Politik 3/10
-
Ab welcher Grösse soll das Unternehmen Quoten erfüllen?
-
Wie hoch sind Malus und Bonus? etc.
Es ist Zeit, dass der Staat die Frage von obligatorischen Anreizen prüft. Denn er
muss sicherstellen, dass die Einkommen der Personen, deren Rente gestrichen oder
gekürzt wird, für ihren Lebensunterhalt ausreichen und sie Zugang zum ersten Arbeitsmarkt haben. Dank den Erfahrungen unserer Nachbarländer und der durchgeführten empirischen Studien sind die Voraussetzungen vorhanden, die Quotenfrage
anzugehen.
Referenzen:
Aeppli, Daniel C.: Arbeitslos in der Gesellschaft, Sozialalmanach, Caritas, 2009
DOK: Anreize für Arbeitgeber zur Beschäftigung von Menschen mit Behinderung,
Bericht der Arbeitsgruppe, 2004
Wüllrich, Jean-Philippe: The effects of increasing financial incentives for firms to
promote employment of disabled workers, in Economics Letters 107, 2010, S. 173176
Übersetzung: Susanne Alpiger
Verkehr
Mitteilungen der Fachstelle Behinderung und öffentlicher Verkehr
Die Fachstelle Behinderung und öffentlicher Verkehr (BöV) gibt vierteljährlich ihre
Nachrichten heraus. Sie berichtet darin über die neusten Entwicklungen im Bereich
behindertengerechter öffentlicher Verkehr.
http://www.boev.ch/news/index.htm
34
Behinderung und Politik 3/10
Bildung
Beratungsstelle mit Pionier-Charakter
Die Beratungsstelle Studium und Behinderung (BSB) der Universität Zürich
stellt mit ihrer langjährigen Geschichte eine einzigartige Erfahrungsquelle dar.
Sie versteht sich als Drehscheibe zwischen den Bedürfnissen und Anforderungen der Menschen mit Behinderung und den Anforderungen des Studiums an
der Universität Zürich.
Von Olga Meier Popa, Leiterin Beratungsstelle Studium und Behinderung der Universität Zürich
Die tertiäre Bildung findet in der Schweiz, wie in vielen anderen Ländern auch, ausschliesslich in integrativen/inklusiven (auf Deutsch: einschliessenden) Settings statt.
Dabei stellt sich die Frage, ob die Hochschulen tatsächlich benachteiligungsfreie und
echt einschliessende Studienbedingungen für Studierende mit Behinderung anbieten.
Die bisher einzige umfassende Untersuchung diesbezüglich ist das NationalfondsForschungsprojekt Menschen mit Behinderungen an Schweizer Hochschulen von
Prof. Judith Hollenweger und Mitarbeitenden (Hollenweger 2005). Dieses Projekt hat
u.a. festgestellt, wie schwierig ist es, Daten und Informationen über die Situation der
Studierenden mit Behinderung zu erfassen und wie wenig Fach- und Praxiswissen
an den zuständigen hochschulinternen und -externen Stellen existiert. Dies lässt sich
grundsätzlich durch die Kontext- bzw. Perspektivenabhängigkeit des Begriffs Behinderung erklären.
In diesem Zusammenhang stellt die Beratungsstelle Studium und Behinderung BSB
der Universität Zürich mit ihrer langjährigen Geschichte und breitem Aktivitätsspektrum eine einzigartige Erfahrungsquelle dar.
Beispielhafte Dienstleistung im deutschsprachigen Raum
Der 1976 vom damaligen Leiter des Instituts für Sonderpädagogik der Universität
Zürich, Prof. Gerhard Heese, gegründete Beratungsdienst für behinderte Studenten
war die erste Dienstleistung dieser Art im deutschsprachigen Raum. Im Laufe der
Jahre haben verschiedene Assistierende des oben genannten Instituts, darunter
auch Menschen mit Behinderung, an diesem Dienst gearbeitet. Zu den Hauptaufgaben des Beratungsdienstes gehörten die Unterstützung von Studierenden mit Behinderung mit Rat und Tat nach dem Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe und die Erfassung
ihrer Bedürfnisse sowie die Vermittlung von Informationen und die Öffentlichkeitsarbeit. 1980 wurde der erste Universitätsführer für Behinderte veröffentlicht, damals im
Buchformat, später Online als Schweizerische Plattform «Studieren mit Behinderung» www.uniability.ch
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Behinderung und Politik 3/10
Namensänderung und Kommission Studium und Behinderung
Die Aufnahme des Beratungsdienstes in die Akademischen Dienste der Universität
Zürich im Frühjahr 2003 führte zu einer Steigerung seiner Bekanntheit und Erreichbarkeit, auch wenn er weiterhin als Angebot fungierte. Immerhin wurde der Auftrag
des – von jetzt an Beratungsstelle Studium und Behinderung BSB genannten –
Dienstes folgendermassen formuliert: der Aufbau einer Dienstleistung für die Ermöglichung des Zugangs von Menschen mit Behinderung zur Universität Zürich. Als Unterstützung wurde Ende 2003 eine Kommission Studium und Behinderung gegründet, welche u.a. Vertreter/-innen von Studierenden und Assistierenden mit Behinderung umfasste.
Die Namensänderung zeigt, dass sich die BSB als Drehscheibe zwischen den Bedürfnissen und Anforderungen der Menschen mit Behinderung und den Anforderungen des Studiums an der Universität Zürich versteht. Dabei orientiert sie sich an der
Definition von Behinderung und Benachteiligung im Behindertengleichstellungsgesetz BehiG (Art. 2). Wie im Disability Statement festgehalten, können nebst Studierenden mit Mobilitäts-, Hör- und Sehbehinderung auch Studierende mit einer chronischen Krankheit, Aspergersyndrom, Dyslexie, ADS oder einer psychischen Erkrankung einer Benachteiligung ausgesetzt sein (Disability Statement
www.disabilityoffice.uzh.ch).
Vielseitiges Aktionsfeld der Beratungsstelle
Um den Zugang von Menschen mit Behinderung zur Universität Zürich zu ermöglichen, bietet die BSB sowohl den betroffenen Studieninteressierten und Studierenden
mit Behinderung als auch den Dozierenden und weiteren Mitarbeitenden der Universität ihre Dienste an. Das Tätigkeitsspektrum der Beratungsstelle ist breit: individuelle
Abklärungen und Anpassungen der Studien-/ Prüfungsbedingungen, Vermittlung von
behinderungsbezogenen Leistungen (z.B. Studienliteratur in angepasstem Digitalformat) und die Organisation von Assistenz für studienrelevante Aktivitäten – für die
Betroffenen – bis zur Initiierung von Anpassungen in der baulich-technischen und
digitalen Umwelt. Die Behindertengerechtigkeit erstreckt sich über alle Bereiche einer
Hochschule, wobei die Bestimmungen der Kantonsverfassung des Kantons Zürich,
insbesondere Art. 11, 12, 14 und 138, direkte Folgen auf die Bedingungen an der
Universität Zürich haben, da diese eine kantonale (Aus-)Bildungsinstitution ist.
Die Anzahl der Anfragen an der BSB wächst stetig: von 20 Anfragen im 2003 zu 120
Anfragen im 2009. Parallel damit steigt auch die Zahl der Studierenden, die eine Behinderung oder chronische Krankheit bei der Immatrikulation deklarieren: von 11
Studierenden im 2004 zu 164 Studierenden im 2009. Nota bene: Nicht alle ratsuchenden Studierenden geben eine Behinderung bei der Immatrikulation an und nicht
alle deklarierten Studierenden nehmen die Angebote der BSB in Anspruch, d.h. die
Zahlen pro Jahr sind nicht deckungsgleich.
Neue Perspektiven mit Gleichstellungsparagraph
Um die Realisierung der tatsächlichen Gleichstellung von Menschen mit Behinderung
an der Universität Zürich als Ausbildungsinstitution und als Arbeitgeberin voranzutreiben, hat die Universitätsleitung im Februar 2009 die Einfügung eines Gleichstellungsparagraphen in die Universitätsordnung bewilligt. Das Inkrafttreten dieses Pa36
Behinderung und Politik 3/10
ragraphen wird neue Perspektiven erschliessen, wobei die BSB mit der Realisierung
der oben genannten Gleichstellung betraut wird. Dies wird die grundlegende Netzwerkarbeit (sowohl universitätsintern als auch -extern) und die Koordination der Bemühungen verbessern.
Die vermehrten Möglichkeiten für ein Austauschsemester, die sogenannte Mobilität
der Studierenden im Rahmen der Bachelor-Master-Studiengänge erfordern eine Angleichung der Studienbedingungen für die potenziell benachteiligten Studieninteressierten, darunter auch Menschen mit Behinderung, zwischen den Hochschulen. Der
Bedeutung von Informationen für ein benachteiligungsfreies Studium Rechnung tragend, wurde 2009 eine Online-Informationsplattform aufgeschaltet (Higher Education
Accessibility Guide – Datenbank mit Informationen zum Studieren mit Behinderung in
28 Ländern Europas www.european-agency.org/projects/heag)
Literatur:
Hollenweger, Judith/Gürber, Susan/Keck, Andrea: Menschen mit Behinderungen an
Schweizer Hochschulen. Befunde und Empfehlungen. Chur: Rüegger, 2005
Behindertenszene
AGILE-Mitglieder lassen Korken knallen
Im nächsten Jahr feiert AGILE Behinderten-Selbsthilfe Schweiz ihr 60jähriges
Bestehen. Einzelne Mitgliedorganisationen jubilieren schon dieses Jahr.
Von Eva Aeschimann, Bereichsleiterin Öffentlichkeitsarbeit bei AGILE
Die meisten Mitgliedorganisationen engagieren sich seit Jahrzehnten in der Selbsthilfe. Etwa FRAGILE Suisse und die Federazione Ticinese Integrazione Andicap
(FTIA). Beide feiern 2010 runde Geburtstage. Zwei andere Mitgliedorganisationen
freuen sich dagegen über halbrunde Geburtstage.
20-Jahr-Jubiläum von FRAGILE Suisse
FRAGILE Suisse, die Schweizerische Vereinigung für hirnverletzte Menschen und
Angehörige feierte ihren runden Geburtstag im Juni mit einem Symposium und einem Fest in Zürich. Beim Jubiläumssymposium wurden zukunftsweisende Perspektiven aus Grundlagenforschung und Neurorehabilitation präsentiert. Beispielsweise
wurden Forschungsergebnisse vorgestellt, welche auf die Bildung neuer Nervenfasern nach Rückenmarksverletzungen abzielen. In einer abschliessenden Podiumsdiskussion debattierten Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Gesundheitswesen über
Chancen und Risiken bei der Wiedereingliederung hirnverletzter Menschen.
37
Behinderung und Politik 3/10
In der Schweiz leben über 100’000 Menschen mit einer Hirnverletzung. Ursachen
dafür sind unter anderem Hirnschlag, Hirnblutung, Kopfverletzung oder Tumor.
30 Jahre Sekretariat FTIA und 20 Jahre Sektor Formazione FTIA
Gleich doppelten Grund zum Feiern gab es bei der Federazione Ticinese Integrazione Andicap (FTIA). Im April feierte die FTIA ihr 30jähriges Bestehen unter anderem
mit einem Rückblick der beiden ehemaligen und des aktuellen Präsidenten auf das
Engagement der Organisation im Tessin seit 1980. Ein spezieller Programmteil des
Festtags war das Treffen mit rund hundert Schülerinnen und Schülern aus Giubiasco
am Sitz der FTIA. Diese hatten sich zuvor in der Schule mit Fragen rund um das
Thema Behinderung auseinandergesetzt.
Im Juni feierte die FTIA den 20. Geburtstag des Sektors Formazione. Mit der Eröffnung der Abteilung Bildung verfolgte die FTIA 1990 das Ziel, ein Ausbildungsangebot
in der Informatik im Bereich Behinderung zu schaffen. Bis heute haben weit über 300
Personen von diesem Engagement in der Berufsbildung profitieren können.
Halbrunde Geburtstage bei der SHG und dem VKM
Die Schweizerische Hämophilie-Gesellschaft (SHG) wurde 1965 gegründet. Sie ist
eine Selbsthilfeorganisation, die sich seit 45 Jahren für Hämophile und Betroffene mit
anderen angeborenen Gerinnungsstörungen sowie deren Angehörige einsetzt. Die
SHG vertritt die Interessen der Betroffenen in der Öffentlichkeit sowie gegenüber den
Kostenträgern und den Medikamentenherstellern. Der Verein fördert als Hauptziel
die Kontakte unter den Mitgliedern und deren Information über die neusten Entwicklungen und Erkenntnisse im Zusammenhang mit der Hämophilie.
Der Verein kleinwüchsiger Menschen der Schweiz (VKM) wird dieses Jahr ebenfalls
45 Jahre alt. Er setzt sich damit seit bald fünf Jahrzehnten für die Überwindung von
gesellschaftlichen, finanziellen, baulichen und medizinischen Hürden für kleinwüchsige Menschen ein. Insbesondere ist dem Verein wichtig, Vorurteile in der Öffentlichkeit abzubauen.
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Behinderung und Politik 3/10
Medien
Gleichheit ist Glück
Untertitel: Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind. Selten hat mich
das Vorwort eines Buches so gefesselt und mich neugierig auf den folgenden
Text gemacht. Und es hat sich gelohnt, die rund 330 Seiten zu lesen, obwohl
das Wort Behinderung kein einziges Mal vorkommt.
Für Sie gelesen von Bettina Gruber
Die beiden britischen EpidemiologInnen Richard Wilkinson und Kate Pickett suchten
seit Jahren nach den Gründen für die Häufung bestimmter Krankheiten bei konkreten
Bevölkerungsgruppen. Als sie begannen, die Gesundheitsdaten mit Einkommensdaten zu vergleichen, ergaben sich Korrelationen zum Grad von Gleichheit oder Ungleichheit in einer Gesellschaft. Als sie dann verschiedenste Gesundheitsaspekte
einzeln prüften, ergab sich immer wieder das gleiche Bild: Es besteht eine Beziehung
zwischen Gesundheit und Wohlstand und dem Grad der Einkommensgleichheit. Ihre
These, die sie darum heute mit Überzeugung, ja fast prophetischem Eifer vertreten:
Gleichheit macht gesünder und zufriedener.
Dass einiges für diese Formel spricht, belegen zahlreiche Grafiken. Wer eine vehemente Ablehnung für solche empfindet, ist mit diesem Buch folglich schlecht bedient.
Für alle andern lohnt sich der Aufwand, denn die Grafiken sind meist einfach zu verstehen. Kleiner Tipp: zuerst die fünf Seiten «Erläuterungen zu den Schaubildern» im
Anhang lesen.
Ausgangspunkt des Autorenteams ist die Feststellung, dass wirtschaftlicher Aufschwung zu höherer Lebenserwartung führt. Bei den entwickelten Ländern scheint
nun aber ein Niveau erreicht, bei dem sich ein noch höheres Pro-Kopf-Einkommen
nicht mehr weiter auswirkt. Ähnliches gilt für das Wohlbefinden der Menschen. Eine
spannende erste Erkenntnis aus den Datenvergleichen: Nicht das durchschnittliche
Einkommen eines Landes erklärt den Grad an Gesundheit und Wohlbefinden, sondern das innergesellschaftliche Einkommensgefälle.
Dass bei mehr Gleichheit vorab die unteren Einkommensgruppen profitieren, leuchtet
dabei wohl jedem ein. Dass es dabei aber auch den Wohlhabenden besser geht, ist
dann doch eine Überraschung. (Ausser für jene, die das Mani Matter-Lied «Dene
wos guet geit, giengs besser, giengs dene besser, wos weniger guet geit…» für mehr
als eine gelungene Wortspielerei gehalten haben.)
Um die Beobachtungen im Einzelnen auszuführen, bedienen sich Wilkinson und Pickett statistischer Daten von 23 der reichsten Länder und parallel dazu als Vergleichszahlen Daten der 50 amerikanischen Bundesstaaten. Um den Grad an
Gleichheit in einem Land zu ermessen, wurden die Einkommen der reichsten und der
ärmsten 20 Prozent der Bevölkerung miteinander verglichen. Nach einer Beschreibung des Status quo, bei dem trotz hoher Durchschnittseinkommen soziale Defizite
immer offensichtlicher zu werden scheinen, werden verschiedene gesundheitliche
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und soziale Aspekte detaillierter unter die Lupe genommen. Im Einzelnen werden
dabei z.B. soziale Beziehungen, seelische Gesundheit und Drogenkonsum, Fettleibigkeit, schulische Leistungen, Teenagerschwangerschaften, Gewalt oder Gefängnisse genauer betrachtet. Und da ergibt sich stets ein ähnliches Bild: Bei grösserer
Ungleichheit sind auch die Probleme grösser. Als Extreme in verschiedenen Vergleichen erwiesen sich dabei auf der Positivseite, also mit verhältnismässig grosser
Gleichheit, die skandinavischen Länder und Japan, auf der anderen die USA, Grossbritannien und Portugal. Manchmal ist allerdings die Streubreite bei Ländern gleicher
Einkommensverteilung so gross, dass die Frage nach weiteren Faktoren unausweichlich wird, hier aber keine Beachtung findet. Trotz dieser Einschränkung: Eine
solche Häufung von Korrelationen kann kein Zufall sein.
Was also nun? Da sieht mancher Amerikaner oder Westeuropäer rot und denkt an
Revolution. Diesem Kurzschluss begegnen die AutorInnen mit dem Argument, dass
sie eben gerade Demokratien miteinander verglichen haben um aufzuzeigen, dass in
ähnlichen politischen Konstellationen durchaus verschiedene Wege beschritten wurden und es darum auch heute Möglichkeiten gibt, auf ein höheres Mass an Gleichheit hinzuwirken. Gerade wenn man bedenkt, dass die Entwicklung inklusive politischer Massnahmen in den letzten Jahrzehnten in vielen der beobachteten Ländern
zu mehr Ungleichheit geführt hat, müsste sich dieser Trend doch auch umkehren
lassen.
Dazu gibt es zwei Ansatzpunkte: mit steuerlichen Massnahmen Ungleichheit verkleinern oder sozusagen vorgelagert in den Betrieben auf kleinere Lohnunterschiede
hinwirken. Als gangbare Wege werden dabei Eignerbeteiligungen der Mitarbeitenden
erwähnt. Bei der öffentlichen Hand und im Nonprofit-Sektor sieht das Autorenteam
auch schon vielversprechende Ansätze, die Einkommensschere in den Griff zu bekommen.
Als Motivationsspritze, die unseren Willen stärken soll, auf mehr Gleichheit hinzuarbeiten – denn die AutorInnen gehen davon aus, dass nur eine breite Volksbewegung
wirklich etwas verändern kann –, nehmen sie uns mit auf einen Streifzug durch die
menschliche Geschichte und erläutern Experimente, die über unser Sozialverhalten
Aufschluss geben können. Schliesslich sehen sie im technischen Fortschritt, der
Neuerungen hervorbringt, die mit immer weniger Materie auskommen, eine Chance
zu grösserer Zugänglichkeit für alle und somit zu mehr (Chancen-)Gleichheit. Und als
letztes verbinden sie mit erhöhter Gleichheit auch einen Ansatzpunkt für die Lösung
der anstehenden ökologischen Probleme, weil Menschen, die nicht in permanentem
Vergleichsstress stehen, weniger konsumieren.
Das klingt wirklich fast zu schön um wahr zu werden. Trotzdem hat das Buch etwas
Bestechendes, schon fast ein amerikanisches «We can!» Jedenfalls hat es das Zeug
dazu, viele Menschen – nicht aus rein ethischer Motivation, sondern aus der Einsicht
heraus, dass es uns besser gehen würde – zu VerfechterInnen von mehr Gleichheit
zu machen. Das kann uns Behinderten nur recht sein.
Richard Wilkinson und Kate Pickett, Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind, Haffmans & Tolkemitt (bei Zweitausendeins), Dez.
2009; ISBN: 978-3-942048-09-5; Preis: CHF: 46.90. In der Schweiz erhältlich bei:
buch 2000, Postfach 89, CH-8910 Affoltern a.A.
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Mélanie Sauvain, Redaktionsverantwortliche französische Ausgabe
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