Wandruszka - Das leidende Subjekt

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MÖGLICHKEIT UND GRENZE EINER WISSENSCHAFT VOM
LEIDENDEN SUBJEKT
- eine kurze Epistemologie von Psychiatrie und Psychotherapie,
verstanden als dialogische Handlungswissenschaft -
Boris Wandruszka, Stuttgart, 2013
Grußwort: Meine sehr verehrten Damen und Herren,
ich begrüße Sie herzlich zu meinem Vortrag über die Möglichkeiten und Grenzen einer Wissenschaft
vom leidenden Subjekt und danke Herrn X für die freundlichen Einführungsworte. Was nun den Inhalt
meines Referates betrifft, ist mir wohl bewusst, mit dieser explizit wissenschaftstheoretischen
Fragestellung ein eher trockenes und abstraktes Thema gewählt zu haben. Gerade bei einem primär so
subjektiven Gegenstand wie dem leidenden, ja wie dem auf gestörte, auf kranke Weise leidenden
Subjekt schien mir jedoch der Versuch geboten, die Möglichkeit der wissenschaftlichen, d.h.
methodisch begründeten und methodisch durchsichtigen Herangehensweise auszuloten. Darüber
hinaus meine ich, dass gerade bei der Gründung einer wissenschaftlichen Gesellschaft, die im Rahmen
dieses Kongresses stattfindet, die Besinnung auf ihre besondere Weise der Wissenschaftlichkeit nicht
unterbleiben darf. Wie also ist diese beschaffen?
2
1. Einleitung: Leiden und Wissenschaft – ein Widerspruch?
„Wissenschaft vom Leiden“, diese scheinbar so harmlos dastehende Wortfügung – birgt sie nicht,
meine sehr verehrten Damen und Herren, einen eklatanten Selbstwiderspruch? Während wir nämlich
im Leiden ein affektiv-ergreifendes, subjektiv-belastendes und zunächst und zumeist nur intuitiv
verstandenes, ja allzu oft unverstandenes Geschehen sehen, impliziert die wissenschaftliche Tätigkeit –
anscheinend völlig konträr dazu - eine Haltung, die in nüchtern-kühler, distanziert-rationaler, von allen
allzu persönlichen Ambitionen absehender Weise allgemein gültige Erkenntnisse in argumentativdiskursiver Weise zu gewinnen sucht. Trifft diese Gegenüberstellung zu, dann dürfte wohl zu Recht
gefragt werden, ob ein „Phänomen“ wie das Leiden nicht auf der Strecke bleibt, ja bleiben muss, wenn
es auf distanziert-diskursive Weise in abstrakt-allgemeinen Begriffen formuliert wird?
1. Schaubild
Leiderleben und Wissenschaft – eine Disjunktion?
Subjektivität versus Objektivität?
Konkretheit versus Abstraktion?
Affektivität versus Rationalität?
Intuition versus Diskursivität?
Singularität versus Allgemeingültigkeit?
Erleben versus Sprache?
Entgegen diesen Bedenken hoffe ich im Folgenden zeigen zu können, dass
-
auch ein solch individuell-subjektives Phänomen wie das Leiden oder das leidende Subjekt
über Strukturmomente verfügt, die echt allgemein sind und daher sprachlich und begrifflich
fassbar sind;
-
dass Sprache und Wissenschaft, wenn auch in Grenzen, sehr wohl das Subjektive, Individuelle,
Singuläre erfassen können, ja sogar, um überhaupt allgemein verbindliche Aussagen zu treffen,
erfassen müssen. Denn, wie sich zeigen wird, ist das Singuläre die ontologische Basis des
Allgemeinen.
-
Und schließlich möchte ich darlegen, dass das Wesen eines Phänomens, einer Sache, eines
Sachverhaltes erst dann adäquat erfasst ist, wenn seine allgemeinen und seine individuellen
Bestimmungsstücke berücksichtigt und zusammengeschaut werden.
2. Schaubild: der konjunktive Standpunkt
a. Alles Individuelle impliziert allgemeine Strukturmomente.
b. Wissenschaft kann und muss das Singuläre als Basis des Allgemeinen beachten.
c. Das „volle“ Wesen eines Sachverhaltes umfasst individuelle und allgemeine Momente.
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Wissenschaftstheoretisch stellt sich damit die Aufgabe, Methoden der Erkenntnisfindung und sicherung herauszuarbeiten, die in der Lage sind, sowohl das Singulär-Individuelle als auch das
Allgemeine bzw. sowohl das Qualitativ-Existenzielle als auch die begrifflich-unsinnlich bestimmte
Wesensstruktur oder Essenz in den Blick zu nehmen.
3. Schaubild: die Aufgabe
Wissenschaft vom Leiden als Einheit
von Individuell-Subjektivem und Allgemein-Intersubjektiven
von Qualitativ-Existenziellem und Ideell-Essenziellem
therapeutisch relevant:
a. subjektiv-individuell: von leiblich-koenästhetisch-empathischem Verstehen,
psychologischem Verstehen,
interaktionell-szenischem Verstehen
b. allgemein: und sprachlich-logisch-theoretischem Verstehen
Daher werde ich im Folgenden in ständiger gegenseitiger Bezugnahme die spezielle Ontologie des
leidenden Subjektes und die dafür geeignete Epistemologie und Methodologie, soweit das in diesem
Rahmen möglich ist, darzustellen versuchen.
4. Schaubild: der Weg
Spezielle Ontologie des Leidens
(„Was ist Leiden?“)
in korrelativer Wechselbeziehung
zu spezieller Epistemologie/Methodologie des Leidens
(„Wie lässt sich Wesen und Sinn des Leidens erkennen?“)
„Grundsatz der Intentionalität“:
Jedem Was („Gegenstand“) entspricht
ein Wie („subjektiver Vollzug“) und umgekehrt.
4
2. Die drei Wissenschaften des Leidens
Was nun die Wissenschaft vom Leiden selbst betrifft, so zeigt eine erste Besinnung, dass sie alles
andere als monolithisch bzw. als homogen-einfach ist, sondern dass sie sich aus mehreren
Wissenschaften zusammensetzt, die eine komplexe und kritische Einheit bilden. Die Basis dabei bildet
die Phänomenologie bzw. phänomenologische Psychopathologie, die den Gegenstand – das Leiden
bzw. das kranke Leiden – überhaupt erst erscheinen lässt. Ohne sie wären die beiden anderen
Wissenschaften inhaltsleer. So schon die empirische Psychologie zusammen mit der Neurobiologie,
denen es darum geht, die neuronalen, verhaltens- und kognitionspsychologischen Korrelate zu einem
konkret-leidvollen Erleben zu bestimmen. Wüssten sie nicht, was Leiden überhaupt meint und seinem
(phänomenologisch-eidetischen) Wesen nach ist, könnten sie auch die entsprechenden Korrelate nicht
finden. Ich spreche daher im Falle der Neurobiopathologie auch von einer „Korrelationswissenschaft“.
Auf diesen beiden Wissenschaften baut schließlich drittens jene Wissenschaft auf, die über alles
Phänomenologische und Empirische hinausgeht und die psychodynamischen Hinter- oder Untergründe
des Leidens, also seine un- und vorbewussten Motive bzw. Motivverarbeitungen, noch tiefer die
Hemmung, Abwehr und Transformation konfliktuös besetzter Grundbedürfnisse erarbeitet und
bewusst macht. Ihr Name ist bekannt: Es handelt sich um die Tiefenpsychologie bzw. die
Psychoanalyse.
5. Schaubild: die drei Wissenschaften vom Leiden
3. Tiefenpsychologie
2. empirische Psychologie/Soziologie/Neurobiologie
1. Phänomenologie (wissenschaftstheoretische Basis)
So verschieden alle drei Wissenschaften sein mögen, sie zentrieren sich um das Phänomen Leiden und
suchen es, in Sprache umzusetzen. Sprache, verbale wie non-verbale Sprache, wird daher zum
wesentlichen Medium der Leidenserfahrung, des Leidverstehens und der Leidaufarbeitung, also seiner
Transformation. Geraten wir hier jedoch nicht in ein Dilemma, in eine Sackgasse?
5
3. Sprache und Leiden
In der Tat, es scheint so. Denn da Sprache vereinfacht, abstrahiert und verallgemeinert - andernfalls
wäre Verständigung unmöglich -, drängt sich die Frage auf, ob wir überhaupt sinnvoll vom Leiden, ja
vom konkreten Leiden eines ganz bestimmten Individuums reden können. Diese Anfrage gewinnt im
Rahmen psychopathologischer Phänomene dadurch eine Zuspitzung, dass der psychisch kranke
Mensch oft nicht in der Lage ist, sein Leiden zu versprachlichen, sei es, weil es buchstäblich
überwältigend und deswegen „unsäglich“ ist, sei es, weil das Sprach- und Denkvermögen selbst
gehemmt, verwirrt oder beschädigt ist. Eine negative Antwort bedeutete allerdings dann nicht nur,
kaum dass es begann, das Ende dieses Referates, sondern die Nutzlosigkeit aller sprachvermittelten
Therapeutik.
Glücklicherweise führt uns das Leben der Sprache selbst aus dieser drohenden Sackgasse hinaus.
Halten wir nämlich nach jenen Sprach-Schauplätzen Ausschau, auf denen das persönlich-subjektive
Erleben am besten zum Ausdruck kommt, dann ist es zweifellos die Dichtung, die uns hier am
intimsten an die Sache heranführt. Da im Leiden, wie zu zeigen sein wird, eine eminent dramatische
Dynamik am Werk ist, verwundert es nicht, dass nicht wenige Sprachkunstwerke gerade an ihren
Anfang diese Thematik - gleichsam als Urmovens ihres weiten geistig-emotionalen Spannungsbogens
- setzen:
So schon die Ilias, die Gründungsurkunde des Abendlandes, wo es heißt:
„Göttin, singe mir nun des Peleussohnes Achilleus unheilbringenden Zorn, der tausend Leid den
Achäern schuf…“.
und analog die Odyssee, das zweite große Epos des Homer, an dessen Anfang von ihrem Helden
Odysseus gesagt wird:
„Vieler Menschen Siedlungen sah er und lernte ihr Wesen kennen und litt auf dem Meer viel
Schmerzen in seinem Gemüte.“
Denken wir an deutsche Dichter, so fallen uns gleich zwei epochale Dichtungen ein, an deren Anfang
Seufzer und Klage, Schmerz und Verzweiflung stehen:
„Habe nun, ach, Philosophie, Juristerei und Medizin und leider auch Theologie durchaus studiert mit
heißem Bemühn. Da steh ich nun, ich armer Tor und bin so klug als wie zuvor.“ Schon das kleine
Wörtchen „ach“, das vom Faust-Dichter an rhythmisch genialer Stelle plaziert ist, bringt tiefen
seelischen Schmerz zum Ausdruck.
Und keine geringere Verzweiflung vernehmen wir, wenn Rilke in der ersten Duineser Elegie singt:
„Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme einer
mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts als des
Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen
verschmäht, uns zu zerstören.“
Wie diese wenigen Beispiel beweisen, kann Sprache sehr wohl Beides: das Singuläre, Einmalige, hier
in Form persönlichsten Leidens, zur Darstellung bringen und doch auch das Überindividuelle, das
Allgemeine, ja das Abgründige, Geheimnisvolle und Transzendente als umfassenden Horizont
aufreißen. Ob Achill, Odysseus, Faust oder Rilke – sie alle ringen zwar als einzigartige Subjekte in
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einmaliger Weise um ihre Existenz, manchmal sogar bis zum sprachlichen Verstummen, doch sowohl
die Konflikte, in die sie verstrickt sind, als auch die Art und Weise, wie sie leiden, haben alle
Kreaturen, die fühlen und denken, mit ihnen gemeinsam.
Fragen wir doch nur einmal: Wer von uns hätte noch nicht wie Achill um die Anerkennung seiner
Person und die Achtung seiner zu Unrecht verletzten Ansprüche gekämpft? Wer sich nicht wie
Odysseus nach jenem Ort, wo er sich hingehörig, und jenen Menschen, wo er sich zugehörig fühlt,
gesehnt? Wer von uns wäre nicht schon wie Faust an der Unfähigkeit verzweifelt, „zu erkennen, was
die Welt im Innersten zusammenhält“? Und wer würde nicht wie Rilke vor der Hingabe an ein
Größeres, Höheres, in dem wir unser kleines Ich loslassen müssen, angstvoll zurückschrecken?
Zusammengefasst dürfen wir sagen, dass eine Wissenschaft vom Leiden sich nicht formalistisch oder
rationalistisch einengen darf, sondern aus allen Quellen menschlicher Kreativität – aus Alltag, Kunst,
Mythos, Philosophie, Politik, Religion und Spiritualität – schöpfen soll, um gerade so ihrem
Gegenstand, dem „leidenden Subjekt“, gerecht zu werden. Große Psychotherapeuten wie Freud, Jung,
Jaspers und Binswanger bieten für diesen umfassenden Ansatz überzeugende Beispiele.
7
4. Die Wesensfassung des Leidens durch den epistemologischen Dreischritt
Meine sehr verehrten Damen und Herren, gerne würde ich Ihnen noch weitere Beispiele aus der
Literatur beibringen und etwa aus den griechischen Tragikern, aus dem Woyzeck von Büchner oder
aus den Dramen Samuel Becketts vorlesen, Werke, in denen das Leid kongenial in Szene gesetzt ist.
Doch genügen die bisher vorgebrachten Beispiele aus Epos, Drama und Lyrik durchaus, um in einer
ersten Besinnung das Phänomen Leiden, und zwar zunächst diesseits aller Psychopathologie, zu
erhellen. Drei methodologisch-epistemologisch wichtige Stufen sind dabei zu erklimmen, eine
intuitive, dann – darauf aufbauend – eine diskursive und danach erneut eine intuitive:
1.
- Im ersten Schritt gilt es, sich mittels eines unmittelbar ganzheitlichen, perzeptiv-auffassenden und
affektiv-resonierenden, darin allerdings noch weitgehend undifferenzierten Erspürungsaktes mit dem
Phänomen Leiden überhaupt vertraut zu machen, mit ihm in koenästhetische Fühlung zu kommen,
2.
- um dann aus diesem qualitativen Material der konkreten Fülle in einem zweiten Schritt
diskursiv/diakritisch, d.h. betrachtend-rational und analytisch-differenzierend, aufzudecken, was
Leiden – seiner allgemeinen Grund- und Wesensstruktur nach – ist.
3.
- In einem dritten Schritt erfolgt schließlich wiederum eine intuitive, nun aber zugleich differenzierte
Erkenntnisleistung, in der – im Unterschied zur ersten noch undifferenzierten Intuition – die beiden
ersten Erkenntnisschritte ganzheitlich-direkt und differenziert zusammengeschaut werden.
6. Schaubild des epistemologisch-phänomenologischen Dreischrittes
1. Ganzheitlich-undifferenzierte Intuition (Anmutung, „koenästhetische Erspürung“)
2. differenzierend-diskursive Analyse („diakritisches Denken“)
3. ganzheitlich-differenzierte Intuition („versprachlichte Gesamt-Gestalt-Anschauung“)
Nehmen wir etwa das Leid des Faust in seinem Eingangsmonolog, seine schmerzlich-unerträgliche
Not, wissen zu wollen, aber nicht wissen zu können, dann gilt das erste Anliegen der Frage, was sich
von der spezifischen Qualität, der unmittelbaren Seinseigenart und Seinsgefülltheit des Leidens auf der
ersten epistemologischen Stufe, der unmittelbaren Intuition, fühlbar offenbare? Ich kann dreierlei
Qualität darin festmachen:
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1.
-
zum Ersten eine Art „inneres Weh“, einen subjektiv-seelischen Schmerz, ein inneres Zerren
und Reißen, eine seelisch-geistige Wunde;
2.
-
zum Zweiten eine Art Druck, Last, Schwere, Hemmung, Beklemmung.
7. Schaubild: die qualitative Eigenart und Fülle des Leidens:
7.1. des gesunden Leidens:
Leidensweh („innerer Schmerz“, „Weh“) – Leidensdruck („Last“)
3.
-
Kommt zu diesen beiden Momenten drittens noch das spezifische Moment der Ohnmacht
hinzu, das dadurch charakterisiert ist, dass der Betroffene die Grenze seiner
Bewältigungsmöglichkeit erreicht hat, dann haben wir das „Notleiden“ vor uns, das den
Betroffenen droht, zu verletzen, zu beschädigen oder gar zu vernichten.
7.2. des Not- oder Grenzleidens:
(Weh – Druck) – Ohnmacht (Nicht-mehr-Können) – existenzielle Grenzerfahrung –
Beschädigungs-/Vernichtungsangst in der Not
Dieses Notmoment ist der entscheidende existenziell-motivationale Grund, warum der Betroffene um
Hilfe anersucht. Faust liefert sich dem „Therapeuten“ Mephisto aus.
Alle drei Momente, Leidensweh, Leidensdruck und Beschädigungs- oder gar Vernichtungsangst,
lassen sich logisch nicht herleiten, sondern müssen in ihrer besonderen Qualität erlebt, empfunden,
gefühlt werden, und ich meine, dass jeder Leidende mindestens die qualitative Doppelerfahrung von
Schmerz und Last, der Leidende in Not – und das sind unsere Patienten! - sogar die Dreifacherfahrung
von Schmerz, Last und Vernichtungsnot macht. Im Falle neurotischen und psychotischen Leidens tritt
schließlich ein viertes Moment hinzu: der Leidensvollzug selbst ist beschädigt oder wirkt
beschädigend. Während z.B. das Leiden an einer organischen Krankheit meist völlig adäquat,
angemessen, ja „gesund“ ist, ist das Leiden an einer Neurose oder Psychose immer selbst auch krank,
krankhaft verändert und pathogen, also krankheitserzeugend: Pathonoesis.
7.3. des pathologischen Leidens:
beschädigter und beschädigender Leidensvollzug, durch den ein biopsychosozialer Lebensriss erzeugt
wird („Dehiszenz“, „Dissoziation“)
(destruktiver Akt des Leidens, destruktive Selbstkonstitution, Pathonoesis)
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Diese besondere Qualität, diese phänomenal-leidspezifische Seinsgefülltheit des Leidens ist nun aber
keineswegs völlig diffus und strukturlos, sondern im Gegenteil lässt sich darin im zweiten
epistemologischen Schritt ein ganz bestimmter Strukturzusammenhang, eine wesenhafte Ordnung,
jetzt allerdings nicht mehr nur intuitiv, sondern diskursiv-analytisch aufdecken. Denn wer leidet, muss
in einer ganz spezifischen Weise seine Existenz vollziehen, die keineswegs beliebig ist, sondern von
einer besonderen Dynamik, Dialektik und Ambivalenz, sprich von einem dissonanten Aktgefüge
geprägt ist; das sich folgendermaßen ausdifferenzieren lässt:
8. Schaubild: phänomeno-logische (nicht-pathogene) Leidensgrundstruktur
Widerfahrnis – Grenzerfahrung: Passivität
+
Wahrnehmung und Wertung eines Widerfahrnisses als Übel: Perzeption und Wertsetzung
+
Vergebliche kognitiv-emotiv-volitive Negation: Reaktion
+
Ohnmacht und Zerrissenheit: apperzipierter Selbstzustand: „Leiden“
+
Drang der Selbstüberwindung: Selbstranszendierungsimpuls des Leidenden
=
Dynamisch-dialektische Diskrepanz des Leidens
Wer leidet, dem widerfährt etwas, das er wohl wahrnimmt, aber nicht sein will, ja nicht einmal (von
sich her) wirklich sein kann, das er aber doch sein muss. In dieser existenziellen Selbstdissonanz erlebt
sich der Betroffene einerseits passiv-getroffen, ausgeliefert, ohnmächtig, andererseits regt sich ein
dynamischer Impuls in ihm, das Unerträgliche, Widerwärtige, das ihm auferlegt ist, abzuschütteln.
Doch vergeblich: Solange er leidet, gelingt ihm die Befreiung nicht, und er muss in der hilflosen,
frustranen Revolte verbleiben. Das aber bedeutet, dass er hinnehmen muss, was er nicht hinnehmen
kann, dass er Ja sagen (besser noch: Ja sein!) muss, wo sein ganzes Wesen aufbegehrt und gleichsam
ein Nein in die Welt hinausschreit. Ich spreche darum von der dynamisch-dialektischen Diskrepanz
des Leidenden, von einer Leidensdialektik, die eine unfreiwillig-auferlegte Leidhinnahme
(„Leidensposition“) und eine versuchte, aber vergebliche Leidensnegation umfasst. Es ist klar, dass
diese diskrepante Dialektik eine ganz bestimmte Zeitlichkeit, Räumlichkeit, Leiblichkeit und
Intersubjektivität ausgestaltet.
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Gesamtdarstellung des „normalen“ Leidensaktgefüges
Der Grundakt des Leidens
Wahrnehmung des Objekts (Reizes)
Leidverurteilung
(Leidposition)
frustraner Handlungsimpuls
(Leidnegation)
Grenzerfahrung,
Hinderung, Zwang
Ohnmacht
+ fortbestehender Handlungsimpuls oder Sehnsucht nach Leidfreiheit
Leidenszwietracht /Leidensdiskrepanz
Doch welche Dialektik waltet im Leiden genau? Meine Antwort: Die Lebensbewegung im Leiden ist
zugleich blockiert und hochdynamisch antreibend. Das leidende, vor allem aber das notleidende
Subjekt, dem die Vernichtung droht, ist einerseits ohnmächtig gefangen in seinem Leid, will jedoch
andererseits mit aller Macht über sein Leiden hinaus, und also steckt in allem Leiden ein aktiver
Selbsttranszendierungsimpuls, der beweist, dass Leiden, obzwar ohnmächtig, keineswegs total passiv
ist, sondern ein Aufbegehren, einen Widerstand, ein Nein, eine Negationsintentionalität, ja einen
Machtkampf impliziert. Um mit Kierkegaard zu sprechen, ist der Leidende jemand, der verzweifelt –
weil vergeblich – er selbst sein will; bzw. genauer: verzweifelt, aber vergeblich nicht so sein will, wie
er gerade sein muss. Dass sich diese bis zum Zerreißen gespannte, gleichzeitig aber massiv gehemmte
Lebensdynamik in Psyche, Leib und Mitwelt, in Empfindung, Zeit und Raum auswirkt, kann nicht
verwundern, sondern lässt sich im Gegenteil als eine Hauptquelle aller psychischen,
psychosomatischen und psychosozialen Störungen und Krankheiten erweisen.
Und noch einmal: Sowohl die qualitativen Aspekte als auch die essenziell-logische Struktur des
Leidens haben wir durch den epistemologischen Dreischritt gewonnen, der für alle Wissenschaft, erst
recht aber für alle Therapeutik fundamental ist. Er setzt sich zusammen aus
-
der direkten, intuitiv-ganzheitlichen, allerdings noch undifferenzierten Gewahrung und
Erspürung eines Phänomens, hier des Leidens,
-
mit der darauf aufbauenden, immer vermittelnden, diskursiv-differenzierenden Analyse, die im
Falle des Leidens zur dynamisch-dialektischen Leidensstruktur führt
-
und schließlich mit seiner ganzheitlich-differenzierten Zusammenschau, in der wir das Leiden
ganzheitlich-differenziert spüren, verstehen und versprachlichen.
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9. Schaubild (Wiederholung):
1. Ganzheitlich-undifferenzierte Intuition (Anmutung und „koenästhetische Erspürung“)
2. differenzierend-diskursive Analyse („diakritisches Denken“)
3. ganzheitlich-differenzierte Intuition („versprachlichte Gesamt-Gestalt-Anschauung“)
Ohne den ersten Akt würde uns das Leiden gar nicht bekannt bzw. bliebe ein leerer Begriff, eine leere
Theorie; ohne den zweiten Akt wird es zwar erlebt und gefühlt, bliebe aber diffus und unverstanden,
könnte nicht in Sprache umgesetzt und mitgeteilt werden. Und ohne den dritten Akt kämen wir zu
keinem abgerundeten, zu keinem innerlich überzeugenden und beruhigenden Ergebnis. Das gesamte
Wesen des Leidens setzt sich darum aus seinen singulären Qualitäten und seinen verallgemeinerbaren
Essenzialstrukturen zusammen, und zwar so, dass die konkrete qualitative Seinsfülle selbst uns zur
implizit mitgegebenen Struktur, zu Gestalt und Wesen des Leidens führt, das wir dann durch eine
diskursive Analyse explizit machen und begrifflich-unanschaulich fassen, also definieren können.
Gelingt uns schließlich noch eine anschauliche, evtl. sogar bildhaft-imaginative Versprachlichung,
dann haben wir die dritte Stufe der differenziert-intuitiven Gesamtschau erklommen.
Kann auf dieser Basis, so nochmals die Eingangsfrage, eine Wissenschaft, eben die Wissenschaft vom
Leiden entwickelt werden? Ermöglicht die hier zunächst nur skizzierte pathische und strukturelle
Grundfigur des Leidens das, was Wissenschaft leisten soll und zu leisten beansprucht? Nämlich
rational-analytisch, argumentativ-diskursiv, methodisch nachvollziehbar, kritisch reflektiert und
systematisch geordnet ihren Gegenstand zu erhellen? Lässt sich das leidende Subjekt so überhaupt
erreichen, geschweige denn verstehen, aufklären oder sogar erklären und „herleiten“? Im Folgenden
will ich zeigen, dass Wissenschaft so, wie sie sich traditionell versteht, nicht genügen kann, dass sie –
und zwar fundamental – einer intuitiv-evidenten, phänomenologisch zu erringenden Basis bedarf, die
keineswegs vor- oder gar unwissenschaftlich sein muss, sondern im Gegenteil durchaus aufweisbar
ihre eigene Wissenschaftlichkeit besitzt.
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5. Wissenschaft in ihrer traditionellen Form und ihre Ergänzungsbedürftigkeit
Doch zunächst muss, um die Standpunkte klarer zu fassen, die in der abendländischen
Geistesgeschichte wirksam gewordene Auffassung von Wissenschaft in Erinnerung gerufen werden.
Schon nach Aristoteles, der hierfür bekanntlich maßgeblich wurde, sucht der bios theoretikos nicht das
Singuläre, Einmalige, Zufällige, Zeitlich-Bedingte, Veränderliche, Vergängliche, sondern das
Allgemeine, Überindividuelle, Notwendige, Essenzielle, Überzeitliche, das SubstanziellInkorrumpierbare, also die angeblich bleibende, „identische“ Natur einer Sache“ zu erfassen (eidos,
idea, essentia, substantia, hypokeimenon) und gleichsam von oben souverän zu überblicken.
10. Schaubild
Der traditionelle Bios theoretikos sucht
das Allgemeine, Substanzielle, Unveränderliche, Wesenhafte
(Antike: Wesensschau und Wesensanalyse)
bzw. das Gesetzliche, Bleibende, Regelhafte, Objektive
(Neuzeit: induktive Hypothese und deduktive Operation)
Wo bleibt das Individuelle, Einmalige, Pathische, Zufällige bzw.
in welchem Verhältnis stehen Individuelles und Allgemeines zueinander?
Analog war die neuzeitliche Wissenschaft bestrebt, wenn auch nicht wie in der antiken Philosophie
mittels logischen Wesensdefinitionen, dafür aber mittels mathematisch-allgemeinen Formeln (die
induktiv und deduktiv aufgefunden wurden) die Gesetze von Natur, Leben und Geschichte, also
wieder das Allgemeine, Überzeitliche, Unsinnliche, hier nun auch experimentell WiederholbarGesetzliche zu fassen, um es sich als umgrenztes Gegenstandswissen gegenüberzusetzen. Gewiss, die
Methode hatte sich geändert, statt der platonischen Wesensschau bzw. der aristotelischen Urteils- und
Satzanalytik übernahm nun die Mathematik mit ihren quantifizierenden – also messenden, rechnendkalkulatorischen und konstruierenden - Mitteln die Vorherrschaft, aber wieder ging es um das
„Objektive“, das Überindividuelle, Nicht-Subjektive, das allgemein Festsetzbare, das Unveränderliche,
ja – und hier liegt eine bedeutende Differenz zur Antike – es ging nun auch, ja nicht nur auch, sondern
vor allem um das technisch Beherrsch- und Manipulierbare im Verhältnis des Menschen zur Welt.
Nicht vita contemplativa, sondern vita manipulativa. Man lese dazu etwa Descartes, Galilei oder
Francis Bacon.
In beiden Epochen - in Antike wie Neuzeit – geriet aber weitgehend alles bloß Individuelle, Zufällige,
Vergängliche, Sinnliche in den Hintergrund (ohne allerdings zu verschwinden!) oder blieb doch
zumindest unterbelichtet, was nicht von ungefähr so kam, wenn wir bedenken, dass es gerade das
Individuelle, Zufällige, Vergängliche, Sinnliche ist, mit dem unaufhebbar das Fragile, Prekäre,
Verletzliche, Bedrohlich-Ängstigende unserer Existenz verbunden ist.
Hinzu kam ein Zweites: Während alles Allgemeine, Gesetzliche, Wesenhafte nicht einfach auf der
Hand liegt, sondern durch einen komplizierten Abstraktions-, Argumentations- und Reflexionsprozess,
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also wesentlich auf diskursiv-analytischem Wege ins Helle des Bewusstseins gehoben werden muss,
entzieht sich das Singuläre, Individuelle, so schon das Sinnliche dem Beweis, der Argumentation, dem
Diskurs, sondern muss unmittelbar gespürt und geschaut, also intuitiv direkt und ganzheitlich in
seinem Da- und Sosein ergriffen und angeschaut werden. Dieser Gesang einer Amsel, diese Trauer
eines Verlassenen, dieser Schmerz einer Krebskranken müssen unmittelbar gehört, nachgefühlt und
imaginiert werden, andernfalls sind sie einfach nicht da. Analyse, Induktion, Deduktion und Reduktion
vermögen hier gar nichts, sondern allein die „Intuition“ in ihrer erkenntnistheoretischen und
wahrheitsfundierenden Gestalt gibt hier, was zu nehmen ist. Genau sie, die Intuition, war es aber, die
aus der Wissenschaft immer wieder verbannt oder epistemologisch unzureichend gewürdigt wurde. Zu
Recht?
Soviel jedenfalls steht fest: Wäre die bis jetzt skizzierte Wissenschaft die einzig mögliche, dann wäre
eine adäquate Wissenschaft vom leidenden Subjekt weder nötig noch möglich, denn dieses ist –
jedenfalls nach Kierkegaard, aber auch nach Nietzsche, Heidegger, Jaspers, Weizsäcker, Straus, Sartre
und vielen anderen - zunächst und zuvörderst ein individuelles, sinnlich-leibliches, nicht allgemeines
Sein, ist subjektiv und vollzieht sich in nicht verobjektivierbaren Akten, ist nicht zeitlos, sondern
zeitverhaftet, ja zeitgestaltend, ist nicht harmonisch, sondern konfliktbeladen und fragil, ist nicht
gesetzlich-berechenbar, sondern unbestimmt und im Entscheidenden – nämlich in seiner spezifischen
Freiheit! - oft unbestimmbar, ist in vielem nicht einfach anschaulich gegeben, sondern entzieht sich, ist
oft unverständlich, rätselhaft, geheimnisvoll und ganz und gar nicht rational, ist nicht inkorruptibel,
sondern verletzbar und vergänglich, ist vor allem aber nicht notwendig da, sondern kontingent, könnte
also auch anders oder überhaupt nicht sein, ist, wie Heidegger sagt, „vom Sein ins nichtende Seiende
geworfen“. Stimmt dies, dann muss eine Wissenschaft vom leidenden Subjekt, wenn sie möglich sein
soll, all dies berücksichtigen und sich selbst wesentlich anders konzipieren.
11. Schaubild
Intuitiv-analytische Wissenschaft vom Singulären, Individuellen, Pathischen, Zeitlichen, Fragilen?
Es wird überraschen, dass es genau in dieser Hinsicht wieder Aristoteles ist, der uns zum Wegweiser
dient. Denn er betont nachdrücklich, dass jede Realität die ihr je eigene und nur dadurch erst
angemessene Wissenschaft und Methodik besitzt, sodass es mindestens so viele Wissenschaften gibt
wie Seinsarten. Das Verhältnis der Farben untereinander und zu anderen Qualitäten, etwa den
Klängen, muss daher anders erforscht werden als das Verhältnis der Zahlen oder das Verhältnis von
Energiequanten zueinander.
Damit nicht genug, erkannte Aristoteles, dass jedes eidos, also jede allgemeine Wesenheit (deutera
ousia) in einer konkreten, singulären Seiendheit (ousia prote) gründet und anders gar nicht wirklich,
nicht real sein kann.
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12. Schaubild
Einzelding (prote Ousia, tode-ti)
als ontologisches Fundament
der „raumzeitlosen“ Wesenheit („Form“; „Essenz“, ti-en-einai) = deutera Ousia (Antike!)
und der physikalischen, psychologischen, soziokulturellen Gesetzmäßigkeiten in Zeit und Raum
(Neuzeit!)
Dass er bei dieser Erkenntnis stehen blieb und nicht die Konsequenz zog, eine durchdringende
Wissenschaft vom Konkreten, Singulären, vom Tode-Ti („Dieses-da“; „Totik“, vgl. Brandenstein
1965), z.B. eine ausdifferenzierte Wissenschaft der Sinnesqualitäten oder eine Wissenschaft der
Affekte auf den Weg zu bringen, in der Singuläres erst für sich und dann zusammen mit dem
Allgemeinen und Essenziellen vereint untersucht wird, mag man bedauern, auch zu Recht bedauern,
wenn wir an die von Pascal bis Heidegger kritisierten Nebenwirkungen des abendländischen
Intellektualismus denken, aber für uns heute ist es hilfreicher, diesen Prozess, der sicher kein bloßer
Zufall war, in seiner inneren Sinnlogik zu verstehen zu versuchen, um ihn dann, wo möglich und wo
nötig, zu korrigieren - übrigens ein Vorgehen, das typisch für alle gute Therapeutik ist: Erst verstehen,
dann verändern – andernfalls läuft man Gefahr, dem Leben Gewalt anzutun.
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6. Die Basis einer jeden Wissenschaft
Glücklicherweise muss die Korrektur nicht an etwas völlig Neuem ansetzen, sondern sie kann und
muss, wie so oft, nur bewusster aufgreifen, was immer schon da war, aber allzu rasch übergangen oder
verkannt, verdrängt oder verleugnet wurde, wie alles Verdrängte aber im Untergrund fortgärte, um
dann in unverständlicher und oft leidbringender Weise an anderen Orten durchzubrechen. Gerade
Aristoteles ist es, der auf dem Ausgang des Denkens von der konkreten, singulären Erfahrung besteht,
nur übersprang die abendländische Denkdynamik diese Basis allzu rasch und allzu oft, sodass
Gegenbewegungen nötig wurden, die, wie der Nominalismus und die anhebenden Naturwissenschaften
am Ende des Mittelalters, der Positivismus und Historismus im 19. Jahrhundert oder die
Phänomenologie Edmund Husserls „den Rückgang zu den Sachen“ forderten. Denn in der Tat ist eine
Erkenntnis vor aller Erfahrung, wie Kant sein Apriori manchmal umschreibt, sachlich völlig
unmöglich. Nicht nur die Geisteswissenschaften, die Psychologie und die Philosophie, sondern auch
die Physik, ja sogar die Mathematik müssen vom konkreten Erfahrungsmaterial - Husserl sagt: von der
Lebenswelt (1930) - ausgehen, um nach einem ganzheitlich-direkten, meist wenig differenzierten
Hinblick auf analytischem Wege sowohl die Binnenstruktur eines (immer zuerst intuitiv gewonnenen)
Phänomens als auch seinen Zusammenhang mit allem Anderen herauszuarbeiten. Erst Intuition des
Singulären also, dann Analytik des Allgemeinen. Erst ein Aposteriori, dann ein sozusagen sekundäres
Apriori, erst Fühlungnahme, dann gedankliche Aufhellung.
Die fühlungnehmende Ersterfahrung wiederum kann aus drei Quellen schöpfen, erstens aus der
Sinneserfahrung, welche die lebensgeschichtlich erste und übliche ist, zweitens aus der Welt der
kreativen Phantasiebildung und drittens aus der ungegenständlichen Selbstgewahrung,
„Selbstaffektion“ – die Ersterfahrung ist also keineswegs, wie Sensualismus und Empirismus meinen,
gleichsam an die Sinnenwelt gekettet, sondern kann und darf auch imaginative, imaginäre, ideale und
reflexiv erfahrene Sachverhalte zum Ausgangspunkt nehmen. Wenn sich ein Patient im Verlaufe einer
Therapie z.B. seiner Vorlieben, Erwartungen, Ideale, Normen, Empfindlichkeiten, seiner
Verletzungen, Ängste, Prägungen, seiner spontanen Reaktions- und Verarbeitungsweisen usw.
anschaulich bewusst wird, dann handelt es sich in diesen Fällen um Sachverhalte, die nicht aus der
Sinnenwelt stammen und dennoch direkt und konkret, also intuitiv erfahrbar sind.
Wenn eine Wissenschaftstheorie oder Epistemologie von einer solchen Basis ausgeht und nicht allzu
rasch nach den erkenntnistheoretischen, transzendentallogischen oder gar metaphysischen
Bedingungen der Möglichkeit eines Sachverhaltes fragt, dann wird sie Zweierlei feststellen:
- 1. dass jeder Sachverhalt, den wir erfahren, in sich mannigfach strukturiert ist und nicht nur
quantitative und logisch-essenzielle, sondern immer auch qualitative Züge umfasst und über alle diese
drei Seinsaspekte mit der Welt mannigfach vernetzt ist. Was sich hier als Möglichkeit eröffnet, ist eine
anschaulich-trinitarische Ontologie von Qualität, Wesensstruktur („Essenz“) und Quantität (Gestalt).
13. Schaubild: trinitarische Grundstruktur des Seins (gegenstandstheoretisch)
Singulärer qualitativer Gehalt (tode-ti): Qualia des Leidens (Schmerz, Last, Angst, Riss)
Allgemeine Wesensform („Idea“, „Forma“, „Essenz“, „Begriff“): Leidenszusammenhang
Quantitative Gestalt (Vielheit-Zahl, Raum, Zeit, Gestalt): Leidensvollzug, Leidenskontext
16
Und
- 2. dass jeder Sachverhalt, auch etwa ein Widerfahrnis, ein Trauma, nie nur einfach „gegeben“, nie
nur einfach da ist, sondern vom erfahrenden, erleidenden, betrachtenden, untersuchenden Subjekt
immer auch aktiv genommen und schon insofern aktiv mitgestaltet oder – um mit Husserl zu sprechen
– „konstituiert“ wird. Hermeneutik, Psychoanalyse und Phänomenologie, so different sie sonst sein
mögen, stimmen hierin weitgehend überein und könnten sich an dieser Stelle eine gemeinsame Basis
erarbeiten. Alle Ontologie ist eine vom Subjekt eröffnete und vollzogene, insofern immer immanente,
immer aktive, immer subjektiv-erlebte, immer vom Menschen, vom Ich und vom Wir, gestaltete
Ontologie.
14. Schaubild: subjektive Ontologie (subjekttheoretisch)
(Vor-) Gegebenes + Genommenes
Widerfahrnis + subjektive Konstitution
Passivität -+ Rezeptivität + Initiativik
Entsprechend gilt es zunächst, das individuelle Selbsterleben und die Selbstbeschreibungen des
Betroffenen, mögen sie noch so perspektivisch, subjektiv, ja verzerrt sein, ernst zu nehmen. Ja
umgekehrt bedeutete es einen Mangel an Objektivität, an „Lebensgerechtigkeit“, diese Subjektivität zu
überspringen, da es gerade die besonderen Betroffenheiten, der Perspektivismus, die Idiosynkrasien
und die Verzerrungen dieses einmaligen Menschen sind, die uns am meisten über seine Lage und seine
besondere Form der Selbst- und Lebensgestaltung Auskunft geben. Denn sie sagen uns nicht nur
darüber etwas, was dem Leidenden widerfährt oder widerfahren ist, sondern auch darüber, wie er das,
was ihm widerfuhr, aufgenommen, affektiv erlebt und bewertet, kognitiv gedeutet, emotional
verarbeitet, vielleicht auch umgedeutet und umgearbeitet oder eben emotional, kognitiv und praktisch
nicht verarbeitet hat. Was Husserl Konstitution, was Heidegger Entwurf nennt, was C.G. Jung
Konstellierung nennt, was Freud meint, wenn er von „Agieren“ (heute positiver: Enactment),
Widerstand, Abwehr und Übertragung spricht, läuft letztendlich auf die emotionale, kognitive und
volitive Eigenaktivität, Eigenwertung und Eigenselektion des Betroffenen hinaus, die dieser allerdings,
gerade weil er in seinem Leiden befangen ist, oft nicht als seine eigene bzw. nicht in rechter Weise als
seine eigene erkennen kann, sei es, dass er zu sehr die äußeren Ursachen des Widerfahrnisses – den
Arbeitsplatzverlust, den ungerechten Chef usw. - im Blick hat und dabei seinen Eigenanteil übersieht,
sei es, dass er seine Eigenaktivität, etwa aus Angst-, Scham- und Schuldgefühl, aktiv verdrängt und
unbewusst hält, sei es, dass die neurobiologischen Grundlagen seines Leidenkönnens - wie im Falle
von Demenz, Melancholie und Schizophrenie - beschädigt sind.
Wie dem auch immer im Einzelfall sei, eine Wissenschaft vom leidenden Subjekt als
Hilfswissenschaft für die therapeutische Praxis muss für das Einmalige, Konkrete, Individuelle,
Spezifisch-Pathische und Subjektiv-Selbsttätige offen sein und darf nicht zu früh das Selbsterleben, die
Selbstdeutung und die oft unbewusste Selbstdarstellung des Betroffenen unterbrechen oder gar mit
vorgefassten Theorien überfrachten, sondern muss mit dem dritten Ohr die feinsten Nuancen der
therapeutischen Beziehungsinszenierung herauszuhören versuchen, die ganz von selbst zu
überindividuellen und sogar wesenhaft-zeitlosen Strukturzusammenhängen hinführen.
17
7. Die Aufdeckung überindividueller Strukturzusammenhänge
Wie aber und welche? Nun, es gilt, prinzipiell gesprochen, das Überindividuelle im Individuellen, das
Essenzielle im Existenziellen aufzuspüren, das also, was einer Gruppe von Menschen oder gar allen
Menschen gemeinsam ist, im konkreten anschaulichen Fall aufzudecken. Um dies zu leisten, kommen
die klassischen wissenschaftlichen Operationen, letztlich irgendwelche Formen des Abstrahierens und
Ideierens, die sich wiederum argumentativer Diskurse bedienen, ins Spiel – also die abstraktive
Bildung von Begriffen, die Formulierung von Urteilen, die Durchführung von Klassifikationen, die
Aufstellung von Idealtypen, die Formulierung von Regelhaftigkeiten und Gesetzmäßigkeiten, die
Erkenntnis von Wesenszusammenhängen und die Rekonstruktion von bestimmten Genesen und
Kausalitäten. Hierbei dominiert zweifellos nicht mehr die Intuition, die direkte, einfach-ganzheitlichundifferenzierte Anschauung, sondern die differenzielle, indirekt-diskursiv zu leistende Aufdeckung
von in den Sachverhältnissen selbst, aber primär nicht offen am Tage liegenden, sondern nur
impliziten Begründungszusammenhängen. Wir fragen: Was hängt wie und warum womit zusammen?
Wie bedingt ein Moment ein anderes, ein Phänomen ein anderes, eine Tatsache eine andere? Wer oder
was bringt was hervor? Wie gestaltet sich nach welchen Motiven, Regeln, Gesetzen,
Wahrscheinlichkeiten ein Prozess, ein Vorgang, ein Geschehen? Wie formt sich eine Vielheit von
Momenten und Ereignissen zu einem zusammenhängenden Lebensganzen, sei es räumlich, sei es
zeitlich, sei es logisch oder psychologisch, sei es qualitativ oder quantitativ oder alles zusammen?
Kurzum: Wir betreiben - auf dem Boden einer intuitiv gewonnenen Anschauung – eine
„Implikatanalyse“, eine Explikation von etwas, das zwar da, aber verborgen ist. Und eben genau auf
diesem Wege arbeiten wir Allgemeinstrukturen heraus, die in der Lage sind, jene Fragen nach dem
Wie, Wodurch und Wozu zu beantworten. Dabei ist aber zu beachten, dass Allgemeinheit keineswegs
gleich Allgemeinheit, Überindividualität nicht gleich Überindividualität ist, sondern dass etwa
zwischen logischer, biologischer, anthropologischer, psychologischer, gesellschaftlicher und
kultureller Allgemeinheit wohl unterschieden werden muss.
Die erste Schicht des Überindividuellen, die hier erwähnt werden muss, betrifft die uns allen
gemeinsame biologische Basis, die gerade in Medizin, Psychiatrie und Psychosomatik nicht
unberücksichtigt bleiben darf. Im Rückblick dürfen wir heute wohl sagen, dass nicht nur die
Psychoanalyse, sondern auch die Existenzphilosophie die organismische bzw. biologisch-leibliche
Dimension des Menschseins zu sehr abgeblendet hatten und daher von einer neuen Leibphilosophie
und Leibpsychologie ergänzt werden müssen. Die Behauptung, der Mensch sei das instinktbefreite
Tier, war wohl eine Übertreibung und führte zu einer überspitzten Spiritualisierung des Menschen.
Gerade die moderne Neurobiologie, natürlich im Verbund mit Verhaltensbiologie und Biopsychologie,
beweist, dass das menschliche Wahrnehmen, Fühlen, Erinnern, Verarbeiten, Lernen, Planen und
Handeln im hohen Grade biologisch vorgebahnt und getragen wird und dabei weitgehend unbewusst
bleibt. Organismus und Leib haben ihre eigene – vormenschliche, allgemeinbiologische Intentionalität, ja ihre eigene Sinnhaftigkeit, in die die spezifisch humane Intentionalität des Cogito als
des phänomenalen Bewusstseins im Sinne des Embodiement tief eingebettet ist, ohne doch dadurch in
seiner Eigenaktivität und Eigengesetzlichkeit voll festgelegt zu sein. Gerade die psychiatrischen
Krankheiten beweisen, wie sehr der „personale Geist“ einerseits von seinem intakten Leib abhängig ist
und ohne ihn nicht zur Entfaltung kommt, wie er aber andererseits selbst in pathologischen Situationen
Freiräume besitzt, seine Defizite zu gestalten, zu kompensieren, ja überzukompensieren. Man denke
nur an manche schwere neurologische oder psychiatrische Erkrankungen und ihre schöpferische
Bewältigung. Das ist die erste Schicht des Überindividuellen.
Anders liegen die Verhältnisse, wenn wir die in allen konkret-individualen Leiden mitgegebenen
überindividuell-gesellschaftlichen und kollektiv-kulturellen Beziehungsstrukturen, Muster, Denk- und
Sprachgewohnheiten, Gebote und Verbote, Sitten und Rituale herausarbeiten. Auch davon bleibt kein
Individuum verschont, schon allein deswegen, weil es sich von Geburt an in kollektiven
18
Zusammenhängen bewegt. Diese zweite überindividuelle Schicht baut auf der biologischen auf, ja
durchdringt sie und formiert sich im Rahmen von Kollektiven und im Laufe der Geschichte. Von daher
erlegt sich ganz natürlich die Forderung auf, dass in einer Psychotherapie nicht nur die
intrapsychischen und zwischenmenschlichen Verarbeitungsweisen eines Menschen, sondern darüber
hinaus seine individuelle Geschichte, seine sozioökonomische Einbettung und seine spezifische
Kulturprägung Beachtung finden. Dies gilt umso mehr, seit wir wissen, dass viele krank machenden
Erlebnisverarbeitungen über Generationen hinweg, weitgehend unbewusst, tradiert werden.
Eine dritte überindividuelle Determinierung setzt an der Tatsache an, dass alle Krankheiten Prozesse
sind, die gewisse Regelhaftigkeiten – z.B. Umweltbedingungen, Stadien, Episoden, Verläufe aufweisen und nicht völlig zufällig zustande kommen. Schon dem Praktiker fällt auf, dass die
Menschen nicht nur verschieden sind, sondern in vielem ähnlich reagieren und ihr Kranksein in Leib,
Zeit, Raum und Intersubjektivität gleich oder ähnlich gestalten. So weiß der erfahrene Therapeut, dass
depressive Menschen, die einen Verlust ihrer inneren Eigenaktivität, Eigenspannung und vitalen
Initiative aus welchen Gründen auch immer erlitten haben - die „Hauptursache“ kann hier
physikalisch, biologisch, psychologisch, soziologisch, geistig sein! -, ihre Aktivität herunterregeln und
in einen eher passiven Modus übergehen. Das aber hat gesetzmäßige Folgen, die das Leiberleben, das
affektive Durchleben des Umraumes, die Zeitigung, die Arbeits- und die Beziehungsgestaltung mit
Anderen charakteristisch modifizieren: So nehmen schon mit der geschwächten Körperaufrichtung des
Depressiven die Empfindungen des Drückenden, Lastenden, Schweren, Zähen, Widerständigen,
Langsamen zu; durch den Verlust der psychophysischen Vitalität verlangsamt sich die Selbstzeitigung,
bei schweren Depressionen bis zum Stillstand, mit der Folge, dass den Depressiven der Eindruck quält,
stets zurückzubleiben und nicht mehr hinterherzukommen; analog wird sein Umraum nicht mehr
mimisch und gestisch ausdrucksvoll durchstrahlt; der Kontakt zur Welt und zu den Anderen reißt ab
oder wird zurückgenommen; alle Anforderungen, nicht nur die von außen, sondern sogar vom eigenen
Leibe, wie z.B. die Eigenpflege, werden als Zumutung, als Angriff erlebt, dem sich der Depressive
nicht mehr erwehren kann, sodass er sich ohnmächtig, ausgeliefert, hilflos fühlt, was ihn zum Rückzug
veranlasst. Spätestens hier wird ein übergreifender Strukturzusammenhang sichtbar, der den
Depressiven etwa vom Zwangskranken in typischer Weise unterscheidet: Durch das innere Zuwenig
an Kraft, Vitalität, Antrieb, Lust, Freude – dem beim Zwanghaften eher ein Zuviel an Wille und
Kontrolle gegenübersteht - wird für den Depressiven notwendig alles, selbst das Geringste, zu einem
Zuviel, wird aufdringlich, eindringend, übergriffig und bewirkt bei ihm Abwehr, Rückzug, Angst,
Unruhe und Verweigerung. Es leuchtet ein, dass der therapeutische Erst- und Hauptansatz in diesem
Fall darin bestehen muss, die leiblichen, seelischen, sozialen und geistigen Kraft- und Auftriebsquellen
zu befreien, um sich wieder als selbstwirksam, initiativ, selbständig, also überhaupt als
wiederaufgerichtetes Subjekt erleben zu können. Um Unterschied zum Schizophrenen, der eine
„Spaltung“ seiner Person erfährt, erleidet der Depressive den Verlust oder doch die Schwächung der
fundamentalsten Potenz des Menschseins, nämlich sich selbst aktiv und kraftvoll ergreifen und
vollziehen zu können, also dessen, was man für gewöhnlich „Wille“ oder „Wollen“ nennt.
Was hier mit „überindividuell“ gemeint ist, betrifft den modalen Prozess der Konstituierung des im
Kranksein veränderten Selbstseins und Selbstwerdens. Allerdings muss hier vor einer Ontologisierung
der Krankheit gewarnt werden. Krankheiten sind keine einfachen stabilen Einheiten, keine
„Wesenheiten“, wie der Begriff der Krankheitseinheit nahezulegen scheint, vielmehr sind sie, wenn sie
überhaupt Einheiten sind (was oft fragwürdig ist, wie etwa im Falle der Schizophrenie!), diskrepante
und damit wesenhaft labile, prekäre Einheiten, in denen antagonistische Faktoren ineinander
verschränkt sind und dabei eine Schädigung hervorrufen. Schon vornehmlich organische Krankheiten
zeigen dies, erst recht aber psychische Störungen. Solange ein Organismus, ein Lebewesen, ein
Mensch noch lebt, gibt es, wenn er krank ist, Kräfte, die zerstören, und Kräfte, die sich von den
Störfaktoren und ihren Schadenswirkungen befreien, sie begrenzen, ausgleichen, überwinden wollen.
Dieser Grunddissens in aller Krankheit ist es auch, der ihren Verlauf oft so unvorhersehbar sein lässt
19
und nicht selten mit einem Ausgang überrascht, den keiner erwartet hat. Und dennoch ist diese
antagonistische Wechselwirkung in der Krankheit nicht völlig beliebig, sondern weist allgemein
formulierbare Regelmäßigkeiten auf, die es erlauben, charakteristische Krankheitsdiagnosen, Verläufe,
Krankheitsverarbeitungen und Therapiepläne zu erstellen. Schon hier wird ein fundamentaler
Unterschied zwischen Leiden und Krankheit sichtbar: Leiden führt nicht notwendig zu einer
Schädigung, Krankheit dagegen ist immer ein destruktiver Prozess. Oder anders: In beiden
Phänomenen lässt sich zwar eine diskrepant-konfliktive Strukturdynamik herausarbeiten, doch
pathologisch im Sinne von pathogen, von destruktiv ist nur die Krankheit, nicht das Leiden als solches.
Es gibt durchaus „gesundes Leiden“, wie ich noch zeigen werde.
Und schließlich sind allgemein-überindividuelle Strukturen zu erwähnen, die im Sinne von Leibniz,
Kant, Fichte und Husserl die Grundstrukturen unserer Vernunft im weiten Sinne, also unseres
Erlebens, Wahrnehmens, Fühlens, Wollens und Denkens betreffen und die durch das konkrete einzelne
Individuum, wenn auch meist nur implizit, also nur randbewusst, konstituiert, aktiviert und realisiert
werden. Sie explizit zu machen, ist Aufgabe vor allem der Philosophie, aber auch der Psychologie und
aller Geisteswissenschaften. Denn nicht nur das Was und Wie unseres Denkens, Fühlens, Handelns ist
oft dunkel und unbewusst, sondern auch das Warum und Wozu unserer emotional-motivationalen,
kognitiven und volitiven Vollzüge bleiben uns in hohem Maße verhüllt. Doch genau diese
Konstitutionsakte des Subjektes, seine initiativen, rezeptiven und passiven Selbstvollzüge sind es, die
uns erlauben, eine fundamentale und dadurch echt allgemeine, ja zeitlose Wesensstruktur des Leidens
bzw. des leidenden Subjektes aufzudecken, in der sich qualitative, logisch-formale und quantitative
Aspekte, weiter initiative, rezeptive und passive, ja sogar konfliktive, diskrepante und pathogene Akte
in charakteristischer Weise zu einer bestimmten und damit wesenhaft-stabilen Gestaltganzheit
verknüpfen und vereinen.
15. Schaubild
Dimensionen des Allgemeinen
-
pathologisch
-
-
kulturell
transzendental
-
biologisch
20
8. Zugänge, Mittel und Wege zur „Wissenschaft vom Leiden“ und ihre kritische Überprüfung
Wenn Leiden als Phänomen tatsächlich, wie dargelegt, ein ontologisches Kompositum aus singulären
und allgemeinen Wesenszügen ist, dann eröffnet sich die Möglichkeit einer Wissenschaft vom Leiden
als eines Logos vom Pathos, sprich als eines geordneten und dadurch verstehbaren Zusammenhangs
oder „Systems“ von allgemeinen, sich gegenseitig bedingenden Aussagen. Wie von einer jeden
Wissenschaft müssen wir dann allerdings auch von dieser verlangen, dass sie erstens jene Zugänge,
Mittel und Wege erarbeitet, mittels derer in intersubjektiv nachvollziehbarer Weise jene allgemeinen
Aussagen gewonnen werden können, und dass sie zweitens bemüht ist, ihre Aussagen nicht nur
dogmatisch zu behaupten, sondern durch reflektierte und kritische Begründung zu sichern oder – wie
man heute sagt - zu „validieren“. Der umfassende Begriff für diese beiden Leistungen heißt traditionell
„Methodologie“, die Lehre einerseits von den Mitteln und Wegen einer Erkenntnisgewinnung und
andererseits von deren kritischer Überprüfung und womöglich Sicherung.
16. Schaubild: Epistemologie – Methodologie:
Zugänge
Verstehensformen
Methoden
Evidenzkriterien
Möglichkeiten und Grenzen
In aller gebotenen Kürze möchte ich diese Methodologie, durch die eine Wissenschaft erst
Wissenschaft wird, darstellen. Ich gehe dabei von der speziellen Lebenswelt der „Leidenssituation“
aus, wie sie sich im Felde der Therapeutik konstelliert. Das hat den Vorteil, erstens die Spezifität
dieser patho-logischen Methodologie aufzuzeigen und zweitens die Fülle dieser Methodologie zu
wahren, die leicht durch eine falsche Vorentscheidung, etwa im naturalistisch-szientistischen Sinne,
verloren ginge.
Das Besondere des Leidens hebt schon mit dem Umstand an, dass es in seiner lebendigen
Phänomenalität gar kein nur theoretisches, sondern ein eminent affektives und praktisches Phänomen
ist.
„Motor des psychoanalytischen Erkenntnisprozesses ist daher nicht das Interesse an Selbstreflexion,
sondern sinnlich erfahrbares Leiden, das nach Aufhebung verlangt. […] Psychoanalyse als kritischhermeneutisches Verfahren bezieht ihren Impuls aus der unerträglichen realen Lage der Subjekte, sie
lebt vom ‚Widerspruch‘ und zielt auch auf nichts anderes […] als darauf, blind erfahrene
Widerspruchskonsequenzen in bewusste Erfahrung zu verwandeln.“ (Alfred Lorenzer: Über den
Gegenstand der Psychoanalyse oder: Sprache und Interaktion, 1973).
Wer leidet, will, dass dieser Zustand endige. Und wer damit subjektiv nicht mehr zurechtkommt und
sich in diesem Grenz- und Notzustand an einen Helfer wendet, will nicht primär Erkenntnis, sondern
Veränderung, ja genauer Aufhebung dieser seiner existenziellen Grenzsituation: Viktor von
Weizsäcker spricht prägnant von der therapeutischen Grundfigur „Not und Hilfe“. Im Leiden, vor
allem im Notleiden – das ich als Leiden an der Unerträglichkeitsgrenze definiere - liegt also ein
21
praktischer Appell bzw. ein praktischer Auftrag, der letztlich auf den Leidensdruck im Leidenden
zurückgeht, der seinerseits einen Handlungsdruck erzeugt und daher nie wertfrei ist. Ohne die
Wissenschaft einer Pragmatik des Leidens kann es somit keine adäquate Patho-Logie geben. Oder
anders: Alle auf Hilfe bezogene Psychopathologie ist fundamental in eine dialogische
Handlungswissenschaft eingebettet. „Not und Hilfe“ bilden so den fundamentalen Zugang zu Leiden
und psychischer Störung.
22
17. Schaubild: erster Zugang:
Not und Hilfe als fundamental pragmatische Sinndimension
(entsprechende Wissenschaft: dialogische Handlungswissenschaft)
leidvolles Widerfahrnis
+
Leidwahrnehmung und –bewertung
+
Leidensdruck – Not (Leidensgrenze/Unerträglichkeit/Verletzungsdrohung)
+
Appell – therapeutischer Auftrag
+
therapeutische Antwort: Zusage + Erkennen („Diagnostik“) und „Eingriff“
(Durcharbeiten und Verwandeln)
Nun macht es jedoch die fast paradoxale Grundsituation des Arztes bzw. Therapeuten aus, dass er
genau diesem Handlungs- und Veränderungsdruck nicht unreflektiert nachgeben darf – weil nämlich
sonst ein „Agieren“, ein kopfloses Handeln droht -, sondern auf ein Inne- und damit Ansichhalten
bestehen muss, ein Inne- und Ansichhalten, das den Raum für Erspürung, Betrachtung, Analyse,
Verstehen und Erklären, also für „Diagnostik“ = „Durchschauung“ im weitesten Sinne überhaupt erst
eröffnet. Das aber impliziert, dass der Therapeut sowohl dem Patienten als auch sich selbst
Handlungsaufschub, Handlungsverzicht, Geduld und Leidensfähigkeit aufzuerlegen hat. Denn wer im
Leiden helfen will, muss Leiden, um es verstehen zu lernen, erst gelten, ja sich entfalten, sich zeigen
lassen. Kein Leidverstehen ohne Leiderduldung. Das sollte man seinen Patienten explizit mitteilen und
erläutern, andernfalls würden sie dies als therapeutischen Sadismus missverstehen.
18. Schaubild: zweiter Zugang:
pragmatische Sinndimension der Leidenserduldung
Inne- und Ansichhalten
+
Handlungsaufschub, Geduld, Leidensfähigkeit
+
Raumeröffnung für das „Erscheinen des Leidens“
Was folgt? Nun, eine objektivistische Wissenschaft würde mit Feststellungen und Deskriptionen
anheben. Nicht so in unserem Fall. Beschreiben lässt sich ein Leiden nämlich erst, wenn der
Betroffene - und mittelbar der Therapeut durch Mitfühlung und Einfühlung - in einen spürenden
Kontakt mit dem Leid gekommen ist. Was hier geschieht, umschreibt die Lebensphänomenologie
eines Michel Henry als „Selbstaffektion“, was nichts anderes meint, als dass das Subjekt mit seiner
ganz einmaligen Subjektivität bzw. subjektiven Lebendigkeit in Spürung, in Selbstresonanz, in
23
lebendigen Kontakt tritt. Wie bedeutsam und alles andere als selbstverständlich schon dies ist, erhellt,
wenn wir bedenken, dass bei vielen psychischen Störungen genau diese Selbstaffektion, diese affektivemotionale Selbstbegegnung irritiert, verwirrt, beschädigt, verdrängt, verzerrt, verdunkelt ist.
19. Schaubild: dritter Zugang:
spürsam-feinfühlige Wahrnehmung
Leidwahrnehmung, Leiderspürung, Selbstresonanz seitens des Betroffenen
+
Mitfühlung, Einfühlung, „Herausfühlung“, Fremdresonanz seitens des Therapeuten
(„leibliche Koenästhesie“)
+
Psychologisches und szenisches Verstehen von beiden („interaktionelles Verstehen“)
(Übertragung/Gegenübertragungs-Abbau und
Aufbau echter Begegnungs-/Beziehungsfähigkeit)
20. Schaubild: Zusammenschau der drei Zugänge
1. Enactment (Handlungsdialog) von Not und Hilfe
2. Leidenserduldung („Containing“)
3. Leidenswahrnehmung („Spürung“), psychologisches und „szenisches“ Verstehen
24
9. Arten und Weisen, Mittel und Wege der analytischen Erfassung und Durchklärung des Leidens
Hat der Betroffene diesen Selbstkontakt geleistet - und sei es nur in minimalster Weise -, kann er zu
Feststellungen, Aussagen und Beschreibungen übergehen. In aller Regel geschieht dies spontan,
unsystematisch, wenn auch nicht völlig regellos, und natürlich interessegeleitet. Zu diesen meist vorund unbewussten Interessen gehören z.B. die Wünsche und Erwartungen, ernst genommen zu werden,
verstanden zu werden, wichtig zu sein, Hilfe zu erfahren, aber auch allerlei Ängste und Ambivalenzen,
z.B. abgelehnt zu werden, zu dominieren usw. Auch wenn wir solche Deskriptionen
vorwissenschaftlich nennen, haben sie nichtsdestotrotz einen hohen Erkenntniswert, da der Mensch,
der sein Leid beschreibt, nicht über irgendetwas, sondern von sich redet und dabei wie
selbstverständlich sich selbst mit seinen Sichtweisen, Perspektiven, Wertungen und seinem Daseinsstil
inszeniert (Argelander, Lorenzer). Da er sich dabei außerdem in einer Beziehung bewegt, inszeniert er
nicht nur sich, sondern auch seine spezifische Form der Beziehungsaufnahme und
Beziehungsgestaltung. Oft lässt sich schon daraus eine ganze Psychopathologie herauslösen. Was die
Deskription selbst angeht, so hat sie immer analytischen Charakter, denn sie stellt niemals nur
Einzelphänomene, etwa Symptome sinnlos nebeneinander, sondern sucht schon von sich her,
Verbindungen zu stiften und Zusammenhänge aufzudecken.
Methoden – Wege der Leidenserkenntnis
1. vorwissenschaftlich-unsystematische Deskription
(Betroffenenbeschreibung)
Das ändert sich, wenn der Therapeut, etwa durch Nachfragen, Klären, Hinterfragen, Konfrontieren,
Hypothesenbilden, Deuten oder etwa auch mittels Fragebögen und anderer Hilfsmittel die Deskription
zu ordnen, zu strukturieren, ja zu systematisieren sucht. Wir können dann von einer
2. phänomenologisch-systematischen Deskription und Analyse
(Expertenanalyse)
sprechen. Sie lässt sich in zwei Richtungen weitertreiben, nämlich erstens dahingehend, ein Phänomen
in seiner inneren, vor uns in der Anschauung „horizontal“ ausgebreiteten Aspektvielfalt zu
beschreiben, zu analysieren und zu verstehen. Gelingt es hierbei, die gegenseitige Bedingungs- und
Abhängigkeitsstruktur dieser Momente herauszuarbeiten, ja zu zeigen, dass und wie sie sogar
notwendig miteinander zusammenhängen, dann haben wir es mit einer phänomenologischen Eidetik,
einer anschaulichen Wesenslehre zu tun und ihrem Bestreben, sozusagen überzeitliche
Wesensgestalten etwa der Depression, der Angststörung, der Schizophrenie voneinander zu
unterscheiden. Gelingt der Aufweis der Strukturnotwendigkeit nicht, so ist es immerhin möglich,
gewisse Idealtypen zu bestimmen, die es erlauben, das Erfahrungsmaterial – wenn auch nicht objektiv
notwendig, so doch heuristisch – in Ganzheiten zu ordnen. Solche Idealtypologien liefern uns etwa der
ICD-10- und der DSM-IV-Diagnosenschlüssel, aber auch die Neurosenlehre der Psychoanalyse.
2.1. phänomenologisch-horizontale Wesensanalytik bzw. Idealtypologie („statische Phänomenologie“)
Diese gegenstandsimmanente Horizontalanalyse muss nun allerdings um eine horizontale
Kontextanalytik erweitert werden. Hier geht es um den Versuch, ein Leid, eine Störung bzw. eine
25
Krankheit im Kontext der aktuellen Lebenssituation zu verstehen. Es gilt, solche Faktoren wie den
Gesundheitszustand, die soziale Einbettung, die kulturelle Prägung, das Arbeitsverhältnis, die
Freizeitgestaltung, den Freundeskreis, die Wohnungssituation, aktuelle Schicksalsschläge etc.
einzubeziehen und in ihrer Wirkung auf die Störung zu verstehen. Umgekehrt muss aber auch der
Einfluss der Krankheit auf den Lebenskontext untersucht und bestimmt werden. Gelingt es, diese
Wechselbedingungen zu fassen und mit der ersten horizontalen Wesensanalytik zu vereinheitlichen,
verknüpfen sich die Symptome zu Syndromen, also z.B. die vielfältigen Symptome der Depression zur
Ganzheitsgestalt eben dieser Depression mit ihrem gesamten situativen Kontext. Die
Achsensystematik der modernen Diagnoseschlüssel versucht, diese Dimensionen abzubilden.
2.2. phänomenologisch-horizontale Kontext- oder Situationsanalytik
(„situative Phänomenologie“)
Was dabei entsteht, ist ein komplexer Situationskreis, der ungefähr folgende Struktur hat.
2.2.1. Allgemein-lebensweltlicher Situationskreis
Vererbung
ökologische Umwelt
(psychophysische Konstitution/Disposition)
Selbst
Selektion = Entscheidung = Selektion
Welt-Entwurf
Sozialisation
Gesellschaft
Familie
(Konstitution: ererbte oder phylogenetische Anpassung; Disposition: erworbene oder ontogenetische Anpassung)
Ein Sonderfall dieser horizontal-deskriptiven Analytik ist übrigens die therapeutische Situation selbst,
in der sich der Umgang des Patienten mit seinem Leiden abbilden kann. Daher rührt das hohe
diagnostisch-szenische Potential der therapeutischen Situation (Begegnungsart, Beziehungsart und –
gestaltung, Übertragung, Gegenübertragung, Widerstand, Verwirrung etc.), auf das die Psychoanalyse
traditionell so großen Wert legt, sicherlich zu Recht.
2.2.2. therapeutischer Situationskreis – spezifische Wir-Gemeinschaft:
Beziehungsarbeit - „Sprachzerstörung und Rekonstruktion“
26
Doch dabei bleiben wir nicht stehen, vielmehr gilt es, die horizontale Analytik durch eine vertikale
Analytik, die ihrerseits zwei Richtungen aufweist, zu ergänzen: Die Eine geht in die Tiefe der
Lebensgeschichte, die Andere zielt in die Tiefe der Person selbst.
Im ersten Fall arbeiten wir die lebensgeschichtliche „Genese“ eines Leidens heraus und stoßen erneut
auf viele analytisch aufzudeckende Bedingungszusammenhänge, die natürlich nicht als simple
Kausalitäten missverstanden werden dürfen. Denn die entscheidende Kausalität im Falle des Leidens
ist nicht dieses oder jenes Lebensereignis, diese oder jene Beziehung (zur Mutter etc.), dieser oder
jener Konflikt, vielmehr gilt, dass das betroffene Subjekt selbst und seine Art und Kapazität,
Lebensbedingungen, Widerfahrnisse, Konflikte, Defizite und Beziehungserfahrungen zu verarbeiten,
die entscheidende Causa effizienz darstellt.
2.3. vertikal-genetisch-deskriptive Analytik („psychohistorische Phänomenologie“)
Damit berühren wir schon die zweite Vertikalität, die durch die
2.4. vertikal-transzendentale Konstitutionsanalytik,
inklusive Widerstands-, Abwehr-, Coping- und Resilienzanalyse
(„dynamische Phänomenologie“)
aufgearbeitet wird, wie sie von der an Husserls Phänomenologie orientierten Daseinsanalyse gepflegt
wird. Hierbei geht es um die aktiv-dynamischen Konstitutionsleistungen eines Subjektes, einfacher
gesagt darum zu erkennen, wie und in welchem Umfang der Betroffene an seinem Leiden selbst
beteiligt ist. An dieser Stelle kommen unvermeidlich meist rand-, vor- und unbewusste Wert- und
Sinngebungen ins Spiel, ohne die kein Leiden näher bestimmt und verstanden werden kann. Im
Unterschied zur horizontalen Analytik verlangt die vertikale Analytik allerdings eine neue Methodik,
die so genannte phänomenologisch-transzendentale Reduktion. Was meint dieses Wortungetüm? Nun,
nichts anderes als ein Rückfragen und Rückarbeiten (oft gegen Widerstand!) von einem phänomenal
gegebenen Tatbestand zu seinen oft verborgenen konstituierenden Voraussetzungen und Leistungen
seitens des betroffenen Subjektes. Oder als Frage: Was tut das Subjekt, damit dieses Leiden mit diesen
Symptomen, mit dieser Pathogenese und Gestalt überhaupt entstehen kann und dann auch noch
aufrecht erhalten wird? Wir fragen also von der Symptom- und Syndromoberfläche zurück in die
Tiefe; wir fragen nach der subjektiven Kausalität oder Ätiologie, die sich zwar in den Phänomenen
andeutet und ausdrückt, oft aber verstellt, verdrängt, verschoben oder beschädigt sein kann, was die
Notwendigkeit nach sich zieht, an Widerständen, Blockaden, Verwirrungen und Hindernissen zu
arbeiten. So sagen, um ein Beispiel zu geben, nicht wenige Patienten, dass sie entsetzlich darunter
leiden, gewisse selbstschädigende Handlungen tun zu müssen, deren Zustandekommen sie mit bestem
Willen nicht verstehen können. Hier ist gefordert, in kleinen Schritten den Patienten zur
Selbstaufklärung, zur Erweiterung seines Bewusstseinshorizontes zu führen und dem dunklen Meer
des Unbewussten Land abzuringen, wie wir wissen, oft gegen den Widerstand des Patienten. In diesen
Zusammenhang gehört übrigens auch die Frage nach der subjektiven Krankheitstheorie des Patienten,
die für die Krankheit und deren Gestaltung selbst dann wichtig ist, wenn sie falsch ist.
Hier angekommen könnte man meinen, das Ende der „Wissenschaft vom Leiden“ erreicht zu haben.
Das ist aber nicht der Fall. Denn alle Wissenschaft impliziert eine Wissenschaftsgemeinde, und diese
ist nur lebensfähig, wenn sie sich gewisse Regeln auferlegt, beginnend schon mit präzisen
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Sprachkonventionen. Im Falle einer Therapeutik, die auf einer Psychopathologie basiert, bedarf es aber
noch mehr. Denn um etwa die Kommunikation von einem zum anderen Arzt bzw. Therapeuten zu
ermöglichen, braucht es Kriterien, die zu umgrenzen versuchen, was – im Rahmen unserer Kultur krankhaft, was gerade noch gesund, was nicht mehr gesund ist, braucht es Kriterien, die verschiedene
Symptome,
Syndrome,
Krankheitseinheiten,
Krankheitsklassen,
Krankheitsverläufe,
Krankheitsphasen, Pathogenesen und Ätiologien voneinander abgrenzen, braucht es Metatheorien, die
die gesamte Pathologie in einen sinnvollen Bezug zur Psychologie überhaupt, ja zur philosophischen
Anthropologie bringen.
Um das zu erreichen, genügen rein deskriptiv-analytische Analysen nicht mehr, dann müssen induktive
Analytiken zum Einsatz kommen, deren Funktion bekanntlich in der Aufstellung hypothetischer
Allgemeinheiten besteht. Diese werden mittels empirischer Vergleiche ähnlicher Phänomene erreicht.
Eine jede Diagnose- bzw. Krankheitseinheit ist ein solches induktives Gebilde, gleichgültig ob in diese
Verallgemeinerung überindividuelle Symptomkonstellationen, überindividuelle Pathogenesen
(Verlaufsformen) oder überindividuelle Ätiologien oder alles zusammen eingehen.
3. induktiv-hypothetische Verallgemeinerungsanalytik in einer Wissenschaftsgemeinde
(Syndromkonstellation, Pathogenetik, Ätiologie, Klassifikationen)
Wenn es die Induktion, die vom Besonderen zum Allgemeinen übergeht, gibt, fragt sich, ob es auch
die Deduktion gibt, die von allgemeinsten Axiomen ausgeht und davon weniger allgemeine Aussagen
ableitet, „deduziert“? Nun, schauen wir in die Geschichte der Philosophie und Wissenschaftstheorie
müssen wir eine große Verwirrung bezüglich der Deduktion feststellen. So gibt es die am meisten
bekannte mathematische Deduktion, die eine Form der quantitativ-funktiven Abgestaltung darstellt,
mittels derer der Mathematiker von allgemeinen Axiomen ausgehend gewisse weniger allgemeine,
aber stets abstrakte mathematische Folgen deduktiv herbeikonstruiert oder herbeikombiniert. Die
Philosophen der Neuzeit – Descartes, Leibniz, Spinoza, Kant – haben versucht, diese Methode in die
Philosophie einzuführen, in der Hoffnung, damit ähnlich exakte und apodiktische Erkenntnisse
gewinnen zu können. Das war ein großer Missgriff, der sich schwer gerächt hat. Sie haben aber auch
oft, so Descartes schon, eine Erkenntnisform als Deduktion bezeichnet, die gar keine ist, sondern das
pure Gegenteil. Das lässt sich schön an den „Primae Meditationes“ des Descartes oder in der „Kritik
der reinen Vernunft“ Kants aufzeigen. Was dort „Deduktion“ heißt, ist in Wahrheit eine „Reduktion“,
nämlich der rückfragende und rückarbeitende Rückgang von einem Bedingten zu seinem
Bedingungsgrund, von einem Phänomenalen zu seiner oft nicht phänomenal gegebenen
Voraussetzung. Gerade die transzendentale Deduktion Kants ist keine mathematische Ableitung, kein
Übergang vom mathematischen Grund zur abgestalteten mathematischen Folge, sondern ein
Rückschluss bzw. Rückgang von einer Phänomenalität auf die „transzendental-nichtphänomenale“
Bedingung ihrer Möglichkeit seitens der subjektiven Vernunft. Dabei schließt sie – ähnlich, wenn auch
anders als die Induktion – vom Konkretem zum Allgemeineren, eben zum Grundlegenderen zurück,
gewiss jedenfalls nicht – wie die echte, die mathematische Deduktion – vom Allgemein-Abstrakten
zum weniger Allgemein-Abstrakten. Wohl handelt es sich bei der Kantschen Deduktion um eine
diskursive Aktion, doch nicht um eine mathematisch-konstruktive Synthese, sondern um eine
reduktive Analytik, deren Wesen immer darin besteht, zurückzufragen, nicht vorwärtszukonstruieren,
wie das die mathematische Deduktion tut! Die Gleichsetzung von Diskursivität und Deduktion, die bis
heute in den Wissenschaften herumgeistert (und übrigens schon bei Aristoteles begann!), ist also völlig
unhaltbar.
28
Dennoch die Frage: Kann es in der Wissenschaft vom Leiden eine Deduktion im mathematischoperativen Sinne geben? Ich meine ja, aber nur sehr beschränkt. Ich selbst konnte z.B., was die
möglichen Grundgestalten des Leidens angehen, einen Kalkül aufstellen, der, weil als Kreis in sich
geschlossen, deduktiv vollständig abgestaltbar ist und deswegen apodiktisch gilt. Das ist aber ein
seltener Ausnahmefall.
4. operative Deduktion und der Kreis der möglichen Leidensgestalten
Doch selbst damit sind wir nicht am Ende, wie gerade die Psychoanalyse mit ihrer besonderen
tiefenpsychologischen Analytik beweist. Denn bekanntlich geht sie über jede mögliche Empirie hinaus
und erschließt mittels Deutungen solche Seins- und Wirkschichten des Menschen, die gar nicht
anschaulich sind bzw. nicht auf Anhieb angeschaut werden können. Das dynamische Unbewusste lässt
sich in seinem Kern nicht beobachten, sondern nur regressiv aus seinen erfahrbaren Wirkungen –
Symptomen, Fehlleistungen, Träumen, Neurosen - erschließen – es ist also eine echt transzendente
Größe, die durch ein rückwärtiges Rückschlussverfahren – natürlich immer nur hypothetisch – erhellt
wird. Es grenzt schon ans Kuriose, wie sehr auch von den Psychoanalytikern verkannt wird, dass die
psychoanalytische Metapsychologie auf einer Metaphysik aufruht, eben auf einer Metaphysik des
Unbewussten, die ich allerdings für unumgänglich halte (Der Traum und sein Ursprung, Alber, 2008).
Während bei allen bisherigen Methoden die Anschauung und damit die phänomenologische Analyse
möglich sind, erreicht die Phänomenologie hier ihre definitive Grenze. Um über den
Erfahrungshorizont
hinauszukommen,
bedarf
es
daher
eines
Rückschlussbzw.
Rückarbeitungsverfahrens, das die Phänomenologie Husserls bekanntlich ablehnt. Unabhängig von der
Frage, ob diese Ablehnung berechtigt ist, steht jedenfalls fest, dass sie angewandt wird, übrigens nicht
nur in der Psychoanalyse, sondern in jeder Wissenschaft, die sich auf Gegenstände bezieht, die sich der
direkten Anschauung entziehen. Niemand kann den Urknall anschauen, niemand ein Gluon sehen,
niemand kann sich die Größe Wurzel aus 2 oder Pi real vergegenwärtigen, niemand direkt die
Ermordung Cäsars betrachten, niemand um die erste lebende Zelle wissen – und doch bemühen sich
viele Wissenschaften und nicht selten mit großem Erfolg um die Erkenntnis dieser Wirklichkeiten
jenseits der Empirie. Ich meine, dass auch die Aussagen der Psychoanalyse über das dynamische
Unbewusste, wenn leider auch nicht selten recht verstiegen, bei maßvoll-kritischer Anwendung und im
Bewusstsein ihrer unaufhebbaren Hypothetik unverzichtbar sind. Ihr Name ist die
5. regressive transempirische Analytik („Transphänomenologie“/Tiefenpsychologie)
Da sich die Psychoanalyse nicht ausschließlich auf die direkte Anschauung stützen kann, denn das
Unbewusste ist ja gerade durch die Verdrängung vom Bewusstsein ausgeschaltet, besteht ihre größte
Gefahr darin, irgendwelche willkürliche Zusammenhänge herbeizukonstruieren oder zu unterstellen
und vom Patienten zu erwarten, dass er sich ohne echte eigene Nachprüfungsmöglichkeit ihren
Deutungen unterwerfe. Wie kann dem begegnet werden? Nun, wohl nur dadurch, dass es dem
Patienten ermöglicht wird, die erdeuteten Zusammenhänge in Bezug auf seine konkrete
Lebenserfahrung nachzuvollziehen und in einen sinnhaften Bezug zu seinen Leiden zu bringen. Wenn
er sowohl affektiv spüren als auch kognitiv besser verstehen kann, wie, wodurch, wozu seine Leiden
entstehen und sich erhalten, wenn ihm zumindest plausibel wird, was mit ihm geschieht und wogegen
er sich wehrt, so dass er sich neu sehen, besser verstehen, sich neu einstellen und mit seinen Leiden
konstruktiver umgehen kann, wenn er schließlich mittels jener Deutungen sein Leiden überwinden und
sein Leben kongruenter, authentischer, lebendiger und realitätsgerechter führen kann, dann machen
auch hypothetische Deutungen, die zunächst an der Erfahrung nicht validiert werden können, Sinn.
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Letztlich aber muss es das Ziel aller tiefenpsychologischen Verfahren sein, die Notwendigkeit der
Abwehr so zu lockern, sprich vor allem Angst, Scham und Schuld abzubauen, dass das Verdrängte,
Abgespaltene, Verbannte erscheinen darf und direkt angeschaut, erlebt, affektiv gefühlt und kognitiv
integriert werden kann. Genau das wollen das „aufdeckende“ Gespräch und das analytische Verstehen
leisten. Dann in der Tat ist, philosophisch gesprochen, das unerfahrene Transzendente in die erfahrbare
Immanenz übergegangen mit der Möglichkeit, die Richtigkeit der Deutungen zu überprüfen und evtl.
zu korrigieren. Das hatte Freud ja gemeint, wenn er sagte: Wo Es ist, soll Ich werden.
21. Schaubild:
Methoden der Leidensanalytik
1. Vorwissenschaftlich-unsystematische Deskription und Analyse („Laiendeskription“)
2. Phänomenologisch-systematische Deskription („Expertendeskription“)
2.1. Phänomenologisch-horizontale Wesensanalytik bzw. Idealtypologie („statische Phänomenologie“)
2.2. Phänomenologisch-horizontale Kontext- oder Situationsanalytik von Syndromen, Idealtypen oder
Wesensgestalten („situative Phänomenologie“)
2.2.1. Allgemein-lebensweltlicher Situationskreis
2.2.2. Therapeutischer Situationskreis – spezifische Wir-Gemeinschaft: Beziehungsarbeit,
„Sprachzerstörung und Rekonstruktion“
2.3. Vertikal-genetisch-deskriptive Analytik („genetische oder psychohistorische Phänomenologie“)
2.4. Vertikal-transzendentale Konstitutionsanalytik („dynamische Phänomenologie“)
3. Induktiv-hypothetische Verallgemeinerungsanalytik
4. operative Deduktion und der Kreis der möglichen Leidensgestalten
5. regressive transempirische Analytik („Transphänomenologie“/Tiefenpsychologie)
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22. Schaubild:
Verstehensformen in der Erhellung der leidenden Existenz
1. Einleibung, Mitgefühl und empathisches Verstehen (affektive Resonanz, „Einleben“,
psychologisches „Nacherleben“)
2. logisches Verstehen („Satz-, Sprachverstehen“)
3. szenisches Verstehen („Handlungsdialog“, „interaktionelles Verstehen“)
4. motivational-erklärendes Verstehen („Bewusstmachung“ von Motiven, „Gründen“)
5. genetisch-erklärendes Verstehen bzw. psychohistorisches Verstehen: „Rekonstruktion“
der Leidensgeschichte (individuelle Biografik, transgenerationelle Biografik)
6. (meta-) theoretisches, konzeptuelles Verstehen
7. prognostisches Verstehen
8. neurobiologisches Verstehen
(3./4./5./6. bilden zusammen das „hermeneutische Verstehen“)
Erklären (entgegen Dilthey) = keine exklusiv naturwissenschaftliche Methodik, sondern:
= Verstehen aus Gründen,
einem physiologisch-biologischen, logischen, motivationalen, historischen Grund
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10. Wahrheitskriterien und kritische Überprüfung in der Psychopathologie
Damit kommen wir zum letzten Punkt, zur Frage nämlich, wie sich die Erkenntnisse, die mittels der
hier vorstellten Methoden gewonnen werden, überprüfen, validieren und sichern lassen. Denn soviel
ist klar: Eine Erkenntnisleistung darf sich erst dann wissenschaftlich nennen, wenn sie eine
ausgewiesene Selbstkritik mit entsprechenden Überprüfungsmethoden besitzt. Vorher verbleibt sie in
alltäglicher Dogmatik. Zum Zweiten ist aber auch klar, dass jede Wissenschaft – entsprechend ihrem
einmaligen Erkenntnisgegenstand – über ihr je eigenes Überprüfungsinstrumentarium verfügt, das sich
nicht einfach von anderen Wissenschaften ausleihen lässt. Die Mathematik hat da ganz andere
Möglichkeiten als die Physik; die Physik ganz andere als die Biologie; die Biologie ganz andere als die
Geschichtswissenschaft; die Geschichtswissenschaft andere als die Psychologie; die Psychologie
andere als die Psychiatrie und Psychotherapie und die Philosophie wieder ganz andere als alle anderen
zusammen. Grundsätzlich gilt dabei, dass das kritische Instrumentarium umso komplexer und
unsicherer wird, je jünger und komplexer eine Wissenschaft ist. Da unsere Wissenschaft, die
Wissenschaft vom Leiden und seiner adäquaten Behandlung, alle anderen Wissenschaften voraussetzt
und also auf ihnen aufbaut, liegt die Komplexität ihrer kritischen Methodologie schon apriori auf der
Hand.
Die Erkenntnismethode einer Wissenschaft hängt aber nicht nur von der Komplexität des
Gegenstandes ab, sondern vor allem von ihrem Kontext, ihrem Zweck und Ziel. Was aber sind Kontext
und Ziel aller Therapeutik? Erkenntnis? Einsicht? Wahrheit? Die Psychoanalyse glaubte dies
anfänglich, aber schon der Appell des Patienten widerlegt sie. Er will Überwindung seines Leidens,
und eben dazu soll ihm die Einsicht in seine Wahrheit dienen! Dieses praktische Ziel aller Therapeutik
– Veränderung von Wirklichkeit, vor allem der Wirklichkeit des eigenen (krankhaft leidenden)
Selbstseins – wirkt sich nun aber zwangsläufig auf die Auswahl der Evidenzkriterien aus. Das lässt
sich an einem Gedankenexperiment leicht zeigen: Nehmen wir zwei Therapeuten, von denen der eine
ein genialer Diagnostiker ist, der die Verfassung eines Menschen präzise und umfassend erkennen
kann, aber therapeutisch völlig inkompetent ist, und der andere ein genialer Praktiker, der zwar
unfähig ist, eine Diagnose zu stellen, aber dem Patienten zu helfen weiß, sein Leid, seine Krankheit zu
überwinden. Wen würde ein Patient vorziehen? Natürlich den zweiten. Das aber heißt, dass es letztlich
nicht um Erkenntnis und Wahrheit geht, sondern dass Erkenntnis und Wahrheit im Dienst der
Selbstveränderung, konkret im Dienst von Gesundung, Heilung, Nachreifung und Reifung stehen.
Diese Aussage stimmt mit unserer früheren Einsicht überein, dass alle therapeutisch orientierte
Wissenschaft von Leiden und Krankheit, also alle Psychopathologie, eine Hilfswissenschaft für das
praktisch-therapeutische Leben, genauer eine dialogische Handlungs- und Veränderungswissenschaft
auf dem Hintergrund einer Leidens- und Krankheitssituation ist.
Stimmt das, dann hat dies erhebliche epistemologische Konsequenzen. Die Evidenz der Güte einer
therapeutischen Diagnostik, Intervention, eines Verfahrens, einer Technik, ja sogar die Evidenz der
Güte der therapeutischen Beziehung selbst bemisst sich dann primär nicht daran, dass sie Einblick in
die eigene Wahrheit und Geschichte vermittelt, sondern dass die therapeutische Beziehung für den
Patienten und seine Not tragfähig und vertrauenswürdig ist, dass der Therapeut sich verständnisvoll,
mitfühlend, einfühlend, unterstützend, hilfreich zeigt und dass das Verfahren für den Patienten so
maßgeschneidert ist, dass er sich zu mehr Selbstklärung, Selbstkongruenz und Authentizität, zu mehr
Arbeits-, Genuss-, Liebes- und Leidensfähigkeit, kurz zu mehr Lebendigkeit entwickeln kann. Stimmt
dies, dann fragt sich aber, wie und woran all dies soll erkannt werden können? Sicherlich nicht allein
objektiv-szientistisch von außen und aufgrund ausschließlich allgemeiner Kriterien, sondern letztlich
im Rahmen einer konkret-einmaligen Patient-Therapeut-Wir-Gemeinschaft, die mittels der ständigen
Wechselanwendung von Intuition und Diskurs, von Anschauung und Begriffsarbeit, von Anspüren und
Analyse, von Erkenntnis und Erprobung, von Phantasie und Realitätsprüfung herausfindet, wie die Not
zu beheben, wie die lebensfeindlichen Muster aufzulösen und wie die Entwicklung zu mehr
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Selbstkongruenz und Beziehungsfähigkeit zu erreichen ist. Ob sich der Patient in dieser
therapeutischen Beziehung angenommen, gut aufgehoben, verstanden, ernst genommen fühlt, ob er
sich über sich selbst klarer wird, sich annehmen und entwickeln kann, das kann allerdings letztlich nur
er selbst bestimmen, und er wird sich dabei auf eine Mischung aus emotional-intuitiver Intelligenz,
kognitiv-diskursiver Rationalität und praktischer Alltagserprobung stützen. Dagegen ist es die Sache
beider, des Patienten und des Therapeuten, empathisch und dialogisch zu überprüfen, ob die gesteckten
Ziele erreicht wurden, ob der Patient beziehungsfähiger, ausdrucksfähiger, kritikfähiger und freier
geworden ist. Bevor ich aus der Fülle der Evidenz-, Wahrheits- und Wahrscheinlichkeitskriterien
einige wenige detaillierter bespreche – denn alle lassen sich in diesem Rahmen nicht behandeln -, soll
ein Überblick zeigen, was in der Psychopathologie und in der Therapeutik methodologisch überhaupt
relevant sein kann:
33
23. Schaubild: Übersicht über Evidenz-, Wahrheits- und Wahrscheinlichkeitskriterien
1. unmittelbare positive Evidenz („Aha-Erlebnis“):
a. aisthesiologisch-phänomenologische („kognitive“) Evidenz: „Das ist es!“, „So ist es!“
b. affektiv-emotionale Evidenz = Kongruenz (gefühlte Selbsteinheit, Selbststimmigkeit,
Selbstresonanz): „So fühlt es sich stimmig an! So stimmt es.“
c. pragmatische Evidenz = Handlungskohärenz: „So klappt es, so funktioniert es! So will ich es.“
d. intersubjektive Evidenz = spontane intersubjektive Übereinstimmung („Sympathetik“)
2. negative Evidenz = Inkonsistenz-, Inkongruenz-, Inkohärenzerlebnis: „So stimmt es nicht, das fühlt
sich nicht richtig an, das leuchtet mir nicht ein. Das kann ich nicht nachvollziehen.“
(philosophische Sonderform der negativen Evidenz = argumentatio ex contrario = Unmöglichkeit der
Verneinung eines Phänomens, einer Tatsache, einer Einsicht, eines Gefühls, einer
Handlungsnotwendigkeit = negativ-diskursive Evidenz)
3. empirische Evidenz = Übereinstimmung = Korrespondenz zwischen Vorstellung und „Realität“,
zwischen Begriff und „Realität“ (inklusive Objektivität, Validität, Reliabilität)
4. psychogenetische Plausibilitätsevidenz (Selbstverstehen durch biografisch-kausale Erklärung,
psychohistorische Kohärenz): „Biografiearbeit“
5. Evidenz durch Aufklärung der Verarbeitungskausalität oder subjektiv-motivationalen Kausalität
(Selbstverstehen durch motivational-kausale Erklärung; psychomotivationale Kohärenz,
„psychologisches Verstehen“): „kognitive Psychotherapie“
6. diskursiv-intersubjektive Evidenz = Konsensus, Erlebnis einer Gemeinschaftskohärenz (dialogisch
vermittelt; „szenisch-interaktionelles Verstehen“): „Psychoanalyse“
7. logische Konsistenz/Widerspruchsfreiheit bzw. sachliche Kohärenz einer bzw. mehrerer Aussagen
(„logisches Verstehen“, „logische Evidenz“): „Logotherapie“
8. theoretisch-systematische Kohärenz zwischen Einzelaussagen („Hypothese“, Deutung), Kontext
und Metatheorie („hermeneutisches Verstehen“, „hermeneutischer Zirkel“)
9. zukunftsbezogene Übereinstimmung = pragmatisch-wahrscheinliche bzw. später bestätigte richtige
Prognose („prognostische Evidenz“)
10. psychophysische Übereinstimmung (neurobiologisch-psychologische Korrelation, analogische
Heuristik, „neurobiologische Evidenz“)
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An allem Anfange steht wissenschaftstheoretisch das fundamentale Wahrheitskriterium der so
genannten „positiven Evidenz“, also schlicht die Tatsache, dass überhaupt etwas gegeben und direkt
erlebbar, erfahrbar, anschaubar ist. Dass es sich hierbei um ein apodiktisch-fundamentales Kriterium
handelt – den so genannten „Satz des Bewusstseins“ (K.L. Reinhold, 1789) bzw. den „Satz der
Phänomenalität“ -, kann am klarsten durch die so genannte negative Evidenz bewiesen werden. Denn
ihre kritische Funktion besteht darin zu überprüfen, ob die Verneinung einer Aussage möglich ist oder
nicht. Leicht ersichtlich ist aber die Leugnung einer jeglichen positiven Evidenz unmöglich, denn der
Satz: „Mir ist rein gar nichts gegeben.“ widerspricht sich direkt selbst.
Gerade in der Psychotherapie muss es aus Gründen, die sogleich genannt werden, immer das
Bestreben sein, alle noch so komplizierten Diskurse und Operationen letztlich auf positive Evidenzen,
am besten natürlich auch noch solche, deren Leugnung unmöglich oder widersinnig ist,
zurückzuführen. Gelingt dies nicht, bleibt eine Erkenntnis nur oberflächlich, unpersönlich, nicht
subjektiv angeeignet, unverbindlich, nicht existenziell. Eine psychodynamische Deutung z.B., die der
Patient zwar logisch verstehen, die er aber nicht mit sich selbst verbinden kann, wäre für sich
genommen bedeutungslos und muss daher mindestens als Anregung, als Heuristik dafür dienen
können, einem unbekannten Zusammenhang nachzuspüren und nachzugehen. Stellt sich dieser aber
nicht irgendwann einmal als persönliche Evidenz ein, dann muss der Therapeut seine Deutung, die ja
immer nur hypothetischen Charakter hat, zurückstellen, aufgeben oder modifizieren. Löst sie dagegen
im Patienten ein Aha-Erlebnis aus, sodass ihm ein neuer Zusammenhang aufleuchtet, dann kann der
Patient sie verinnerlichen und integrieren, dann ist aus der Vermutung eine subjektive Gewissheit
geworden.
Bei dieser Gewissheit, dieser subjektiven, mit dem Therapeuten geteilten Evidenz handelt es sich in
der Regel um ein Gemisch aus kognitiven und affektiven Evidenzen, die der Patient dann noch
praktisch erproben kann und soll. Gelingt ihm das nicht, dann muss überprüft werden, ob der Transfer
in den Alltag problematisch ist oder ob jene Evidenz nur scheinbar eine war und korrigiert werden
muss.
Je länger eine Therapie dauert, desto mehr Evidenzerlebnisse machen Patient und Therapeut, und zwar
gemeinsam, was zur Folge hat, dass ein regelrechtes Gewebe von Evidenzen entsteht, die sich
gegenseitig beleuchten, stützen, aber auch hinterfragen, korrigieren und weitertreiben. In der
Hauptsache kommen hier „innere“ Wahrheitskriterien wie die logische Evidenz, die affektive Evidenz,
die szenische Evidenz, die psychodynamische, psychogenetische und psychosomatische Evidenz zur
Geltung, aber natürlich auch prognostische und metatheoretische Evidenzen. „Äußere“
Wahrheitskriterien, die etwa von der Psychoanalyse (vgl. Lorenzer 1965) bewusst ausgeklammert
werden, sollten dennoch nicht unterschätzt werden, da der Patient ja gezwungen ist, auch außerhalb
der Therapiesituation zu leben und, wenn möglich, seine neuen Einsichten, Kommunikations- und
Interaktionsfähigkeiten im Alltag zu erproben. Die Rückmeldungen aus der „Welt“ sind darum oft sehr
hilfreich und können gesteigert werden, wenn eine andere Person, z.B. der Partner oder die Mutter
oder der Vater usw. im Rahmen eines Paargespräches, hinzugezogen wird. Aber auch die Erfahrungen,
die ein Kuraufenthalt oder nur die Ferienzeit mit sich bringen, stellen außenempirische Prüfkriterien
dar. In jedem Falle erhält man neue Perspektiven und kann das bisher Bekannte kritisch überprüfen.
Modifikationen sind nach meiner Erfahrung dabei immer die Folge. Die extremste Form einer äußeren
Überprüfung wäre ein psychologisches Experiment oder gar eine neurobiologische Untersuchung –
beides ist durchaus nicht apriori unsinnig, sondern kann in bestimmten Situationen durchaus sehr
hilfreich sein. Schon eine Schlaflaboruntersuchung, die zwischen einem organischen und einem
psychischen Leiden unterscheidet, sollte in einer Psychotherapie nicht ausgeschlossen werden.
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Spätestens an diesem Punkt erweist sich das Diltheysche Konzept der konträren Gegenüberstellung
von geisteswissenschaftlichem Verstehen und naturwissenschaftlichem Erklären als zu undifferenziert
und noch zu sehr am cartesischen Dualismus von sinnlos-mechanischer Natur und sinnhaft-geistiger
Kultur orientiert. Doch, wie schon Heinrich Rickert (1921) zeigte, gibt es bereits innerhalb der
Geisteswissenschaft viele Formen eines erklärenden Verstehens, ohne das keine Biografik und keine
Werkanalyse möglich wären. Denn immer wenn wir für irgendetwas einen Grund angeben, bedienen
wir uns eines erklärenden Verstehens, so im Falle der motivationalen, der psychogenetischen oder
auch der – nie rein psychologischen - psychosomatischen Erklärung. Denn ein Motiv, z.B. eine Angst,
eine Scham, ein Trauma, ein „Triebwunsch“ etc., ist ja ein „bewegender“, ein dynamischer Grund, also
eine echte Wirkursache, nicht nur ein statisch-struktureller Sinnzusammenhang. Das haben Dilthey
und Gadamer nicht beachtet. Gerade das Verstehen von Psychischem aus Psychischem ist ein
Erklären, eben ein Verstehen aus einem seelisch-dynamischen, also wirksamen Grund-FolgeVerhältnis.
Wie solch ein erklärendes Verstehen erkenntniskritisch gesichert werden kann, ist ein anderes
Problem, aber dass wir uns ständig – sowohl im Alltag als auch in der Therapie – dessen bedienen, ist
leicht überprüfbar. Denn wir wollen für alles, was geschieht, aber unverständlich ist, einen
zureichenden Grund finden, und so auch für unsere unverständlichen Leiden. Werden sie durch einen
psychodynamischen oder psychogenetischen Zusammenhang transparent, erhalten also eine innere
Logik, die das aktuelle Leiden auf dem Hintergrund der Persönlichkeitsstruktur und ihrer Beziehungsund Konfliktgeschichte verständlich macht und die Perspektive eröffnet, sich damit konstruktiv
auseinander zu setzen, vielleicht sogar, sich davon zu befreien, dann sind es hier die oben eingeführten
kognitiven, emotionalen und praktischen, weiter logischen, empirischen und intersubjektiven
Wahrheitskriterien, die die Richtigkeit einer therapeutischen Arbeit stützen. Für die Belange einer
gelingenden Therapeutik reicht dies vollkommen, wir müssen und können hier den Maßstab der
mathematischen Präzision und Sicherheit nicht anlegen, das wäre geradezu unwissenschaftlich, weil
sach- bzw. seinsunangemessen. Das Leben, auch das leidende, ja das kranke, ist nie ohne Struktur und
Ordnung, nie ohne Sinn und Bedeutung, nie ohne Zusammenhang, aber es ist eben nicht statisch, nicht
zeitlos, nicht rein funktional, nicht rein quantitativ, sondern höchst dynamisch, wandelbar, qualitativ,
widersprüchlich, konfliktreich, fragil und oft genug gebrochen und verletzt. Im Unterschied zu einer
falschen mathematischen Gleichung kann sich das beschädigte Leben aber selbst heilen, kann
regenerieren, kann schöpferisch-kreativ neue Wege der Selbstkonstitution finden. Gewiss, das mag
alles ungenau und schwer fassbar sein, aber wer feinfühlig-achtsam mitgeht, erfährt eine andere
Genauigkeit, eine lebendige, tiefe, reiche Genauigkeit, die in Hinsicht der Existenz des Menschen,
seines Daseinsinnes und Daseinswillens sicher weitaus präziser ist als alle Mathematik oder Logik.
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11. Möglichkeit und Grenze einer Wissenschaft vom leidenden Subjekt
Auf dem Hintergrund der bisherigen Ergebnisse gibt es keinen vernünftigen Grund, an der Möglichkeit
einer Wissenschaft vom leidenden Subjekt zu zweifeln. Diese Möglichkeit wurzelt zusammengefasst
in den folgenden Tatsachen:
24. Schaubild: Ermöglichung und Grenze der Leidenserkenntnis
1. in der (begrenzten) Selbsterlebbarkeit des Leidens, also in der reflexiv erfahrbaren spezifisch
pathischen Selbstaffektivität
2. in der Selbsterkennbarkeit der individuellen und universalen Struktur des Leidens
3. in der persönlichen Ausdrucksmöglichkeit des Leidens in Leib, Szene und Sprache
4. in der Mitteilbarkeit des Leidens
5. von Seiten des Therapeuten in Einleibung, Mitgefühl (affektiver Resonanz), Empathie, im
imaginativen Sich-in-den-Anderen-Hineinversetzen, im Nacherleben des Leidens
6. in der gemeinsamen Sprache und im gemeinsamen Vorrat an Begriffen und Bildern, den die
Sprache zum Phänomen Leiden vorhält
7. und in der allgemeinen, überindividuellen Grundstruktur a. des normalen Leidens, b. des
Grenzleidens (Notleidens) und c. des pathologischen Leidens (Neurosen, Psychosen,
Psychosomatosen, Perversionen, Beziehungsstörungen, kollektive Leiden und Störungen)
Mit diesen Möglichkeiten sind nun aber auch die Grenzen und Unmöglichkeiten einer Wissenschaft
vom Leiden gegeben. Hierzu ist zu sagen:
1. Die Quellen und (Ab)-gründe des Leidens sind dem Selbstbewusstsein oft nicht zugänglich, etwa
weil die Leidenserfahrung zu intensiv, zu tief, zu total, zu verwirrend, zu diffus und zu komplex ist.
2. Das Leiden kann aber auch aktiv verstellt sein, etwa durch Verdrängung, Verleugnung, Abspaltung,
Verzerrung, Verschiebung (Somatisierung) und Projektion seitens des Betroffenen.
3. Auch die begrenzte sprachliche Mitteilbarkeit kann eine Grenze für die Erkenntnis und Behandlung
eines Leidens sein.
4. Wie im Falle von gewissen Wahnformen kann die intersubjektive Verständlichkeit eingeschränkt
sein.
5. Oder es ist die Bereitschaft und Fähigkeit des Therapeuten nicht gegeben bzw. zu beschränkt, sich
auf das Leid des Anderen mitfühlend, empathisch, verstehend, nachvollziehend einzulassen
(intersubjektive Abwehr: Beschönigung etc.)
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6. Im Falle, dass das Leiden partiell oder total vom Bewusstsein ausgeschlossen ist, kann die
Lesbarkeit des Unbewussten in Spuren, Symptomen, Fehlleistungen, Symbolen etc. für den
Therapeuten mehrdeutig oder unmöglich sein bzw. muss zusammen mit dem Betroffenen erst in einem
mühsam-langen Prozess in Lesbarkeit überführt werden. In diesem Prozess gilt es nicht selten, gegen
innere Widerstände der Leidenswahrnehmung, des Leiderduldens und des Leidverstehens – und zwar
auf beiden Seiten! – anzuarbeiten. Dabei können vielfältige Mittel zum Einsatz kommen, wie das Hinund Nachspüren, die Klärung, die Deutung, die Konfrontation, die Imagination, die kreative
Gestaltung und psychodramatische Inszenierung des Leidens. Immer jedoch sollte die therapeutische
Beziehung als Mini-Inszenierung und Mini-Drama des Leidens und der spezifischen Leidverarbeitung
(oder –nichtverarbeitung) eines Patienten aufgefasst und genutzt werden.
7. Im Letzten darf nie aus dem Blick geraten, dass der Mensch mit seinem Leid ein „individuum
ineffabile“ ist: der innerste individuale Kern des Leidens ist nur fühlbar und bleibt dem
wissenschaftlichen Begriff unzugänglich.
So dürfen wir am Ende dieses Vortrages zusammenfassend feststellen, dass eine Wissenschaft vom
leidenden Subjekt zwar durchaus möglich, also methodisch und kritisch durchführbar ist, dass sie aber
aufgrund der besonderen Struktur und Dynamik des Leidens, seiner Labilität, Widerständigkeit und
Dialektik, seiner Affektivität und Selbsttranszendierungstendenz, und aufgrund seiner schwierigen
Versprachlichung und Mitteilbarkeit und schließlich seiner wesenhaften Gebundenheit an
Subjektivität, Empathie und Sprache immer prekär bleibt und nur in einem letztlich unabschließbaren
Prozess entwickelt und aufgebaut werden kann. Nichtsdestotrotz bleibt es möglich, echt allgemeine
Strukturen und Gestalten des normalen Leidens, des Notleidens (an der Grenze der Erträglichkeit) und
des kranken Leidens, weiter des individualen und kollektiven Leidens, der besonderen pathischen und
pathologischen Beziehungsformen und der besonderen therapeutischen Beziehung, Situation und
Intervention in den bekannten Grundformen von Prävention, Diagnostik, Prognostik, Therapeutik und
Nachsorge auszuarbeiten. Darum sollte eine Wissenschaft vom leidenden Subjekt bzw. von leidenden
Subjekten nie zum bloßen Selbstzweck werden, sondern sollte als Hilfswissenschaft für die
therapeutische Praxis fungieren und damit Bestandteil einer umfassenden dialogisch-helfenden
Handlungswissenschaft, also einer therapeutischen Pragmatik des Leidens, der Not, des Krankseins
und der therapeutischen Hilfe sein.
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