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Die verrückte Hibbeltante Alex
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Folge 2 ..................................................................................................................................................... 6
Folge 3 ..................................................................................................................................................... 8
Folge 4 ................................................................................................................................................... 10
Folge 5 ................................................................................................................................................... 12
Folge 6 ................................................................................................................................................... 14
Folge 7 ................................................................................................................................................... 16
Folge 8 ................................................................................................................................................... 19
Folge 9 ................................................................................................................................................... 21
Folge 10 ................................................................................................................................................. 23
Folge 11 ................................................................................................................................................. 25
Folge 12 ................................................................................................................................................. 27
Folge 13 ................................................................................................................................................. 29
Folge 14 ................................................................................................................................................. 31
Folge 15 ................................................................................................................................................. 33
Folge 16 ................................................................................................................................................. 35
Folge 17 ................................................................................................................................................. 37
Folge 18 ................................................................................................................................................. 39
Folge 19 ................................................................................................................................................. 41
Folge 20 ................................................................................................................................................. 43
Folge 21 ................................................................................................................................................. 45
Folge 22 ................................................................................................................................................. 47
Folge 23 ................................................................................................................................................. 49
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Folge 27 ................................................................................................................................................. 57
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Folge 68 ............................................................................................................................................... 134
Folge 69 ............................................................................................................................................... 136
Folge 70 ............................................................................................................................................... 138
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Folge 72 ............................................................................................................................................... 142
Folge 73 ............................................................................................................................................... 144
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Folge 75 ............................................................................................................................................... 148
Folge 76 ............................................................................................................................................... 150
Folge 77 ............................................................................................................................................... 152
Folge 78 ............................................................................................................................................... 154
Folge 79 ............................................................................................................................................... 155
Folge 80 ............................................................................................................................................... 157
Folge 81 ............................................................................................................................................... 160
Folge 82 ............................................................................................................................................... 162
Folge 83 ............................................................................................................................................... 164
Folge 84 ............................................................................................................................................... 166
Folge 85 ............................................................................................................................................... 169
Folge 86 ............................................................................................................................................... 171
Folge 87 ............................................................................................................................................... 174
Folge 88 ............................................................................................................................................... 177
Folge 89 ............................................................................................................................................... 179
Folge 90 ............................................................................................................................................... 181
Folge 91 ............................................................................................................................................... 183
Folge 92 ............................................................................................................................................... 185
Folge 93 ............................................................................................................................................... 187
Folge 94 ............................................................................................................................................... 189
Folge 95 ............................................................................................................................................... 190
Folge 96 ............................................................................................................................................... 192
Folge 97 ............................................................................................................................................... 194
Folge 98 ............................................................................................................................................... 196
Folge 99 ............................................................................................................................................... 198
Folge 100 ............................................................................................................................................. 200
Folge 101 ............................................................................................................................................. 202
Folge 102 ............................................................................................................................................. 204
Folge 103 ............................................................................................................................................. 206
Folge 104 ............................................................................................................................................. 209
Folge 105 ............................................................................................................................................. 211
Folge 106 ............................................................................................................................................. 213
Folge 107 ............................................................................................................................................. 215
Folge 1
Gemütlich auf dem Sofa ausgestreckt, die Beine unter der Decke und Phoebe, ihre Katze, gemütlich
auf dem Bauch, las Alex in einer Zeitschrift, die sie sonst natürlich nie las – natürlich nicht!
„Hoffentlich sieht mich keiner mit dem Blatt,“ dachte sie mit zufriedenem Gesicht und rutschte noch
ein wenig tiefer auf dem Sofa. Phoebe quittierte dies mit unwilligem Räkeln und kletterte
entsprechend etwas höher, um nicht gänzlich den Halt zu verlieren. Ihr Gesicht drückte Empörung
aus, doch Alex nahm gar keine Notiz davon. Sie war gerade bei ihrem Horoskop angelangt, und
während sie unbewusst ihre Katze zur Seite schob, weil sie mit den Pfote auf eine empfindliche Stelle
drückte und sich anschickte, dies durch Milchtreten zu verstärken, vergrub sie sich weiter in die
Lektüre. „Na siehste, mal wieder schwarz auf Weiss: Ein lang gehegter Wunsch wird in Erfüllung
gehen.“
Nun war die Liste von Alex Wünschen ungefähr so lang wie die Strecke zwischen Wuppertal und
Aachen, aber eigentlich beschäftigte sie der Wunsch nach einem Kind ganz besonders. Überall
schienen ihr schwangere Frauen mit glückverklärtem Blick entgegen zu kommen, im Supermarkt
kaufte jeder Kunde einzig und allein Babynahrung und im Möbelgeschäft standen die Möbel für das
Kinderzimmer natürlich unsensibel neben genau der Sitzgarnitur, die Alex sich für das Wohnzimmer
ausgesucht hatte. Nur mit Mühe hatte sie sich bei der Bestellung im Geschäft auf dieses Möbel
konzentrieren können, und die gesamte Freude über den Kauf war wie weggeblasen, weil in
unmittelbarer Nähe ein Kinderbett zum Kauf angeboten wurde. Matthias, ihr Mann, hatte sich war
ein wenig gewundert, dass seine sonst so lustige Frau nicht vor guter Laune sprühte, aber er hatte es
nicht näher beachtet. Das konnte ja mal vorkommen.
Von aussen betrachtet hätte ja auch niemand überhaupt gedacht, dass es irgendetwas gab, das Alex
nicht erreichen konnte: Sie war nicht schön aber ausgesprochen gutaussehend, intelligent mit guter
Ausbildung und einem verantwortungsvollen Beruf, in jeder Gesellschaft gern gesehen und
erfolgreich. Zudem hatte sie ein schönes Zuhause und einen wunderbaren normalerweise
einfühlsamen Mann. Einfach perfekt, oder?
Wenn es nicht diesen wunden Punkt bei ihr geben würde, der ihr ganzes Leben zu bestimmen
begann: Sie wollte schlichtweg ein Kind. Nun hatte sie immer gedacht, dass das die natürlichste
Sache der Welt sein würde, nach dem Motto gesagt, getan. Denn immerhin kam sie aus einer
kinderreichen Familie, in der es nie Probleme mit dem Kinderwunsch gegeben hatte, ihre
Geschwister hatten zahlreiche Kinder zur Welt gebracht, nur sie hatte zunächst warten wollen, bis
ihre Ausbildung abgeschlossen war und sie ein paar Jahre gearbeitet hatte. Und bis sie den
Traummann für sich gefunden hatte.
Zugegebenermassen hatte das ein wenig gedauert, sie war nun 37, Matthias ein halbes Jahr jünger,
aber es war doch rechtzeitig für den Wunsch nach einem Kind. Vor einem Jahr hatte sie aufgehört,
die Pille zu nehmen, in der festen Ansicht, sofort schwanger zu werden. Selbst nach einem halben
Jahr war sie noch voller Enthusiasmus, dass es klappen würde. Doch bis heute hatte sich nichts getan.
Und der Wunsch nach einem Kind hatte sich von Monat zu Monat verstärkt, es war wie eine fixe Idee
geworden. Ihr inneres Leben war eingeteilt in 14-Tage-Rhythmen, vom Eisprung mit all seiner
Hoffnung zur Menstruation mit dem grauenhaften ersten Tag des Zyklus. Ihre Laune schwankte
genauso wie der Hormonspiegel: völlig geknickt am ersten Tag des Zyklus, immer besser gelaunt kurz
vor dem Eisprung und dann in der Zeit bis zur nächsten Mens zunächst hoffnungsvoll, mit dem ersten
Anzeichen der „Roten Pest“ immer schlechter gelaunt usw. Nie hätte Alex gedacht, dass der Körper
für sie einmal diese Rolle spielen würde. Und dass ihre Gedanken beherrscht würden nur durch die
Beschäftigung mit sich selbst.
Und mit ihren Freundinnen darüber reden, das ging schon gar nicht. Während die einen einfach
keinen Kinderwunsch hegten, hatten ihn sich die anderen kurzerhand einfach erfüllt. Und genau
diejenigen waren es, die dann vor Glück sprühend Alex’ Fassade der Gleichmut, die sie nach aussen
immer gerne zeigte, zum Bersten brachten.
„Jaja, mein Horoskop,“ dachte Alex versonnen und kraulte Phoebe. „Wer sich diesen Mist immer
ausdenkt, das kann doch alles bedeuten. Aber vielleicht klappt es ja diesen Monat.“ Alex hatte es sich
nämlich angewöhnt, aus allen Dingen ein gutes oder schlechtes Zeichen in dieser Hinsicht zu lesen.
Wenn Phoebe mehr als sonst zu ihr kam, dann fragte sie sich, ob sie vielleicht schon schwanger sei,
ohne es zu merken, denn Katzen sind ja besonders sensibel für die körperliche Verfassung ihrer
Menschen. Letztens hatte sie sogar aus dem Wuchs einer Pflanze ein schlechtes Zeichen für diesen
Monat gelesen, was sich auch prompt bestätigte. Kurz und gut, sie hatte sich auf den Kinderwunsch
gedanklich reduziert, wie sie bedauernd immer wieder feststellen musste.
In diesen Gedanken versunken schreckte das Telefon sie auf. „Oh, hallo Bea, alles klar bei dir?“ Bea
war eine ihrer besten Freundinnen, sie hatte gerade einen neuen Freund und daher immer etwas
Neues zu erzählen.
„Sag’ mal Alex, wollen wir uns heute mal auf einen Kaffee treffen?“
“Klar, gute Idee, wann und wo?“ fragte Alex, die über jede Abwechslung froh war. Nur raus aus den
Gedanken.
„Schaffst du es in 20 Minuten zum Ciao Ciao?“ Das Ciao Ciao war ein italienisches Restaurant gleich
bei Alex um die Ecke, in dem die beiden recht häufig einen Kaffee tranken.
„Okay, ich bin da, bis dann, ich freue mich. Gibt’s was Besonderes oder nur so?“
„Och, nur so.“
„Aha, Ärger mit Peter“, dachte Alex, während sie den Hörer auflegte.
Folge 2
Zwanzig Minuten reichten bei Alex immer, um noch schnell unter die Dusche springen zu können.
Also wurde Phoebe sanft aber bestimmt zu Boden gesetzt, was sie zu einem Seufzer der Empörung
und einem kurzen Strecken aller Pfoten mit Ausfahren der Krallen veranlasste, bevor sie erschöpft
auf dem Teppich zusammensackte. „Die hat ein Leben“, dachte Alex etwas neidisch bei sich. Kein
Gedanke an unsinnige Dinge, das Wichtigste war, den Menschen als Dosenöffner zu missbrauchen
und pünktlich das Fressen zu bekommen. „Sie hätte zum Mann getaugt,“ schmunzelte Alex dann
schon wieder vor sich hin, als sie unter die Dusche stieg.
Das Badezimmer hatte eine grosse offene Dusche, so dass der gesamte Raum einbezogen schien und
genug Platz war, sich richtig wohlzufühlen. Ein bisschen Luxus gönnte sich Alex schon, sie bevorzugte
Duschgels mit Orangenduft, hatte die Dusche permanent auf knappe 40 Grad gestellt und zündete
sich normalerweise sogar eine Kerze im Bad an, aber darauf verzichtete sie heute, denn die Zeit
drängte doch.
Während sie nun so unter der Dusche stand und den warmen Strahl genoss, fiel ihr Blick auf den
Spiegel, der der Dusche gegenüber hing, ein Geburtstagsgeschenk eines Verflossenen. Und während
er – also Jochen – ihr gänzlich gleichgültig geworden war, hing sie doch sehr an diesem Spiegel. Er
war recht klein aber in gedunkeltem Birkenholz gefasst und fast 200 Jahre alt. Ihn betrachtete sie
gern, Jochen weniger, denn er hatte die Beziehung mit der Begründung aus heiterem Himmel
beendet, dass ihre Energiepotentiale auf verschiedenen Ebenen seien. Den Umfang dieser Worte
hatte Alex aber erst erfasst, als sie sah, dass eine Woche nach ihrem Auszug Ina, seine Ex, bei ihm
wieder eingezogen war, gute 10 Jahre älter als sie und so spannend, wie Farbe trocknen sehen. Es
war ein ständiger Witz zwischen Matthias und ihr, dass sie den Kampf um einen Mann dieser
Langweilerin – klein, dick und nichtssagend - gegenüber verloren hatte.
Im Spiegel nun sah sie sich und war natürlich mit sich unzufrieden. Seit sie diesen verdammten
Kinderwunsch hatte, hatte sie stetig zugenommen. Nicht, dass sie mehr ass, sie gönnte sich zwar
schon mal öfter aus Frustration abends einen Wein (Rotwein, weil Rotwein statistisch gesehen
schneller schwanger macht als Bier oder Weisswein und ihr im Übrigen auch besser schmeckte), aber
sie hatte kontinuierlich an Gewicht zugelegt. Wenn doch nur der Bauch, den sie dort im Spiegel
untrüglich erkennen konnte, ein echter Babybauch wäre, ja, dann wäre das zu ertragen, aber so?
Bauch ohne Kind? Sie wusste zwar, dass das typisch für Frauen mit Kinderwunsch ist, aber gefallen
musste es ihr deshalb noch lange nicht.
Den Unterkiefer leicht vorgeschoben entscheid sie, ab sofort weniger zu essen, gesünder zu leben
und mehr Sport zu treiben. Und mit diesen Gedanken stellte sie die Dusche ab und begann, sich
abzutrocknen. Waren ihre Brüste heute nicht ein wenig empfindlicher als sonst? Sie war kurz nach
der Zeit des Einsprungs, und bereits 3 Tage nach der Befruchtung machte sich, wie sie im Intenet
nachgelesen hatte, die befruchtete Eizelle ja in Richtung Gebärmutter zur Einnistung auf. Hmmm…
bei ganz günstiger Entwicklung könnte sich das Ei schon eingenistet haben. Sollte sie vielleicht heute
auf den üblich Prosecco im Ciao Ciao verzichten? Aber wenn der Einsprung nun etwas später war,
dann konnte das Glas Sekt auch nicht schaden. Und ausserdem war ohnehin fraglich, ob es diesen
Monat geklappt hatte, denn Matthias war genau an den wichtigsten zwei Tagen auf Dienstreise
gewesen, und somit konnten sie nur drei Tage vor dem Einsprung die Grundlage für ein Kind legen…
Alex riss sich am Riemen, „Es ist wie eine Textschleife…“ murmelte sie vor sich hin, als sie sich die
Unterwäsche anzog. Vielleicht lieber weiss, damit sie die Einnistungsblutung nicht verpassen würde,
oder schwarz, damit diese keine Flecken geben konnte, mit oder ohne Slipeinlage? Derartige Tage
waren doch nicht auszuhalten.
Alex straffte die Schulter, zog sich Hose und Pullover an (nicht ohne sich zu fragen, ob der BH nicht
doch ein wenig knapper sass als sonst?), nahm Jacke und Handtasche und stürmte zum Ciao Ciao.
Etwas atemlos kam sie dort an. Bea sass wie gewohnt lässig in der Ecke, vor sich zwei Glas Prosecco
und zwei Cafe latte.
Folge 3
Bea schaute von ihrem Cafe auf und ein Strahlen ging über ihr Gesicht. „Hi Süsse, gut siehst du aus,
und gut riechen tust du… hmmmm… Orange“, sagte sie, als sie Alex umarmte und ihr einen leichten
Kuss auf die Wange gab.
„Prosecco?“ Alex zögerte nicht mehr, mit der Einnistung hatte sie gerade für heute abgeschlossen.
„Klar, gern…“ lachte sie und fragte gleichzeitig: “Na, was gibt es?“ wobei sie sich ebenfalls gemütlich
in den Sessel lümmelte. Bea langte zu ihr rüber, so dass ihr Gesicht näher an Alex Ohr war.
„Ich habe Hanna wiedergesehen.“ Alex war sprachlos. Hanna war ihrer beider Freundin gewesen und
hatte sich dann ganz ohne Grund von ihnen zurückgezogen, einfach den Kontakt abgebrochen.
„Und, was sagt sie? Hast du sie gesprochen?“
„Nee, so tief bin ich nicht gesunken, die hat uns doch links liegen lassen“, schnaubte Bea verächtlich.
„mit mir nicht, das sag’ ich dir…“ und schaute Alex in dieser bestimmten Art und Weise an, die
Frauen zeigen, wenn sie wissen, dass die andere weiss, was sie nicht aussprechen will.
„Wie sah sie aus?“
„Willst du eine ehrliche Antwort: Wie es sich gehört, ich fand: nicht so gut. Hat sie ja auch verdient,
oder?“ Nun wusste Alex aber auch, dass Bea eigentlich ein Herz aus Gold hatte und ihr die Trennung
von Hanna sehr weh getan hat. Aber leicht würde sie es Hanna nicht machen, soviel stand schon mal
fest.
„Warum hast du sie nicht angesprochen?“
„Nö.“ War die einfache aber aussagekräftige Antwort von Bea, und dabei guckte sie sehr
entschlossen. Und während sich Alex über ihren Cafelatte beugte, um ihn gebührend umzurühren –
wobei sie noch flüchtig dachte, dass eine Frau mit Kinderwunsch nicht mehr als 2 Tassen Kaffee am
Tag trinken solle und dies ihr dritter war -, fügte Bea hinzu .“Ist mir auch egal…“
„Was?“ entfuhr es Alex.
„Sag’ mal, ist dir dein Kaffee eigentlich wichtiger als das, was ich dir erzähle oder bekommst du Geld
für’s Rühren. Ich rede mit dir.“ Wobei sie das Wort „rede“ so stark betonte, wie Alex Mutter es in
deren Kindheit immer gemacht hatte, so dass Alex immer sofort und umgehend ein schlechtes
Gewissen bekam.
„Sagte gerade, dass mir Hanna egal ist, und das es mir egal ist, ob sie noch mit Thomas zusammen ist
und ob sie noch in diesem kleinen Haus zusammen hausen und so.“
„Ist klar,“ kommentierte Alex diese Litanei nur, sie kannte Bea zu gut und wusste, dass sie am
heftigsten reagierte, wenn sie sich betroffen fühlte. „Aber fehlen tut sie mir doch.“
„Mir nicht.“ Dennoch, Bea war wenig überzeugend, jahrelange Freundschaft warf man nicht so
schnell über Bord.
„Lass uns über etwas anderes reden. Was macht der Garten?“ Bea war leidenschaftliche
Hobbygärtnerin, und kein Thema konnte sie schneller besänftigen als die Erzählung über die
wunderbare Blüte der Sternmagnolie im zeitigen Frühjahr, die Zierde der einzelnen Tulpensorten
oder die Debatten, die sie mit ihren Freunden über die Häufigkeit des Rasenmähens führte.
Natürlich waren Cafe und Prosecco bald vor lauter Plauderei über dies und das schnell getrunken und
beide bestellten nach. Wenige Minuten später kam die Bedienung mit der Bestellung zurück.
„Die sollte nicht mehr so schwer heben“, sagte Bea mit bedeutungsvoller Stimme.
Alex hatte gar nicht hingesehen und fragte entgeistert: „Wieso?“ Irgendwie war sie heute etwas
unkonzentriert.
„Naja, hast du nicht gesehen, wie die Schürze schon hochgerutscht ist? Damit es nicht am Bauch
kneift. Zweiter Monat, ich sag’s dir, da soll’s ganz besonders drücken. Muss ja furchtbar sein. Also ich
möchte das nicht mitmachen.“ Diesmal zeigte Beas Gesicht echte Entschiedenheit, und wie
weggeputzt war Alex’ gute Laune. Genau das war der Punkt, warum sie mit ihrer besten Freundin
nicht über das, was sie am meisten belastete, sprechen konnte: Bea wollte keine Kinder, um nichts in
der Welt, und Kinderwunsch im Allgemeinen und von Freundinnen im Besonderen erschein ihr als
Inbegriff der Unterjochung der Frau unter den Mann. Da war auch nicht mit ihr drüber zu reden.
Alex schluckte und sagte nichts. Allerdings schaute sie nun doch kritisch zur Bedienung, die etwas
erschöpft in der Nähe der Theke stand und tatsächlich ein leichtes Bäuchlein zeigte. Genau das, was
Alex sich so wünschte. Eigentlich hätte sie eine flammende Rede für Kinder in unserer Zeit halten
mögen, aber sie fühlte sich plötzlich einfach nur getroffen, getroffen durch die Schwangerschaft der
Fremden und die Ablehnung der Freundin. Sie gönnte es der netten Blonden an der Theke, während
sie gleichzeitig einen starken Neid und ein Empfinden der Ungerechtigkeit hatte. Wie gerne hätte sie
das Gefühl gehabt, dass die Hose über dem Bauch spannt, den ständigen Druck gespürt, der einer
Frau zeigt, dass sich dort etwas Neues entwickelt.
Sie hätte einfach hier im Restaurant in Tränen ausbrechen können, stattdessen sagte sie nur so cool
wie möglich: „Naja, vielleicht hat sie einen netten Mann und freut sich auf das Kind.“
Bea schnaubte verächtlich. „Du hast aber auch immer Verständnis für alle, vermutlich sagst du von
einem Muttermörder noch, er hätte aber ein schönes Klavier zuhause. Ein Kind in dieser kranken
Gesellschaft… aber zum Glück sind wir jetzt ja auch zu alt dazu. Alte Mütter finde ich ganz schlimm,
entweder gleich mit 25 oder nie, stimmt’s?“ Zack, das sass. Manchmal konnte Bea treffen, ohne es zu
wissen.
Alex hatte das Gefühl, als hätte ihr jemand all ihre Kraft entzogen.
„Nein, da bin ich anderer Meinung, es hängt von der Lebenssituation eines jeden ab, und sowohl
jüngere als auch ältere Mütter können wunderbare Mütter oder eben auch nicht sein.“ Irgendwie
wollte sie nur noch nach Hause, ins Bett oder in die Wanne. Nicht nur, dass die Schwangerschaft der
Bedienung ihr einmal mehr gezeigt hatte, dass sie unfähig (!) war, das Natürlichste der Welt zu
bewältigen, nein, Bea musste ihr dann auch noch erklären, dass der Gedanke einer Schwangerschaft
mit über 30 sozusagen unsittlich war.
Folge 4
Alex Gesicht zeigte wohl, dass sie nicht weiter über dieses Thema sprechen wollte, also schnitt Bea es
nicht mehr an, sondern fragte nur: „Und wohin geht’s bei euch in den Urlaub? Wieder Sylt?“
„Jap, am 8. August geht es los…“ was sie nicht sagte, war, dass sie bis dahin unbedingt schwanger
sein wollte, weil Sylt nun einmal die Insel der Schwangeren und Kinder ist. Der Anblick der
glücklichen Eltern hatte sie im letzten Jahr schon genug mitgenommen, aber da hatte sie ja noch
gedacht, ihnen schnell folgen zu können und diesen Urlaub schon zu dritt vorzunehmen. „Wenn ich
bis dahin nicht schwanger bin, laufe ich bei Gosch Amok, sprenge Sandburgen in die Luft oder klaue
dicken Touristinnen das Korsett, wenn sie mich anstarren, weil ich nicht schwanger bin“, dachte sie
bei sich.
Bea plapperte weiter: „ Also, Peter und ich, na ja, deshalb wollte ich dich ja auch eigentlich hier mal
so sprechen, also Peter, du, der meint es ernst…“ Bea hatte sich wieder vorgebeugt und schaute Alex
bedeutungsschwanger an, wie Alex fand (wobei sie merkte, dass bei ihr derzeit alles schwanger
aussah und sie sich fast schon wunderte, dass das Symbol an der Damentoilette nicht auch noch eine
Schwangere zeigte).
„Oh Gott, ich ahne, was kommt. Bisher hast du jeden Typen ohne Umschweife abgeschossen, der
begann, es ernst zu meine.“
Bea grinste: “Das ist es ja gerade, ich weiss gar nicht, wie ich damit umgehen soll, aber ihn
abschiessen? Peter ist sooo süüüss,“ und verdrehte verliebt die Augen. Alex hingegen bewertete
diese Bemerkung nicht so positiv: „Also, wenn du einen Mann als „soooo süüüss“ bezeichnest, dann
ist das eigentlich sein Todesurteil. Wenn ich früher einen Mann als „sehr nett“ bezeichnet habe, dann
war er schon unten durch. Mädel, sag’, was ist los? Da ist doch noch was?“ Bea wurde ein wenig rot,
vertiefte sich aber in den Caffe und fragte:“ Trinkst du noch einen mit?“
„Lenk nicht ab… Mensch looohoos, was ist?“
„Wusstest du, dass er zur Hälfte Italiener ist?“
„Und, gehört er zur Mafia? Immerhin haben die immer genügend Knete…“ Alex stellte sich Peter
gerade als Mafioso mit eine richtigen Knarre vor, wie er seine lockigen Haare mit Pomade nach
hinten schmierte, um zum Paten zu gehen, und zeigte ein breites Grinsen.
„Haha, sehr witzig, ich versuche mich hier an ein für mich ernstes Thema heranzutasten, und du
lachst mich aus.“
„Okay, jetzt ernsthaft, er hat gemerkt, dass du die Nudeln nie al dente kochst oder? DAS ist in der Tat
bedenklich.“ Alex merkte, wie der kleine Racheteufel in ihr wuchs, weil sie sich vorhin so über Bea
geärgert hatte. „Das mögen diese Italiener gar nicht, und dann haben sie auch noch eine dominante
Mama, die ganz viele Bambini will, oder?“
„Genau das befürchte ich auch…“ brachte Bea trocken hervor.
Ehe sich Alex versah, lachte sie aus vollem Halse los und brachte mit Mühe hervor: “Echt dumm
gelaufen, Bea, oder?“ Das war zwar nicht nett, aber es kam von ganz tief unten aus Alex heraus, Bea
in der Vorstellung einer Mutter von zahlreichen Kindern… und das bei ihrer Allergie auf alle Kinder,
die im Umkreis von 3 Kilometern zu finden waren. Schon bei Pampersreklame bekam Bea EkelPusteln.
Bea war nun sauer. „Tolle Freundin habe ich. Kannst du mir mal sagen, was ich jetzt tun soll?“
„Ist doch klar, lass’ den Typen sausen, oder setz’ die Pille ab, mehr Möglichkeiten gibt es doch nicht.
Oder sprich mit ihm wie mit einem vernünftigen Menschen. Allerdings ist er ein Mann… das muss ich
zu bedenken geben.“
„Ich will Peter und ich will keine Kinder. Auf keinen Fall.“
„Ehrlich, da kann ich dir nur raten, überdenk deine Situation. Berater würden dir sagen, du sollst eine
Liste von Pro und Contra machen und diese ganz objektiv betrachten. Wenn dein Märchenprinz die
Beziehung zu dir vom Kinderwunsch abhängig macht, dann ist er sicher nicht der Richtige für dich.
Umgekehrt wäre es ja genauso, angenommen, du wolltest unbedingt Kinder, er nicht, dann wäre
eine Trennung auch das Beste. Für beide übrigens.“
Bea schaute nun doch sehr bedröppelt. „Das weiss ich ja alles. Und ich zermartere mir ja schon das
Gehirn, was ich tun soll. Ich war sogar schon so weit, die Pille ins Klo zu spülen, war aber nur ein
Affekt, denn nur so zum Probieren, ob ich im Ernstfall schwanger werden würde, dafür ist es denn
doch zu ernst. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, mein Leben auf so ein kleines Teil einzustellen,
alles zu ändern, ewig besabbelt zu werden und Kinderpopos zu säubern. Eklig. Und wenn die Dinger
älter werden, dann soll es ja noch schlimmer werden… nur fürchte ich, dass Peter das ganz anders
sieht, und dass er mich mit meinen 36 auch noch nicht zu alt für ein Kind findet. Stell dir das mal vor,
„Hey, da kommt die Oma mit ihrem Enkel…“ nee du, mit mir nicht. Dass ausgerechnet mir das
passieren muss. Ein Italiener!“
„Also Bea, du musst mit ihm sprechen und das klären, das ist dir ja wohl klar, oder?“ Alex wechselte
von ihrem Platz auf den neben Bea und nahm sie liebevoll in den Arm. „Hey du, das wird schon,
vielleicht will er ja auch keine Kinder, er ist ja nur halber Italiener, oder ist impotent, dann erledigt
sich die Sache. Hmmm…?“ Versonnen sassen nun beide dort und hingen ihren Gedanken nach.
Folge 5
„Möchten Sie noch etwas bestellen?“ Die blonde Bedienung stand am Rande des Tisches und schaute
beide erwartungsvoll an. „Hoffnungsschwanger“, fuhr es Alex durch den Kopf, den sie dann auch
schüttelte. „Nein danke, das ist nett, aber es ist schon spät und ich denke, wir möchten lieber zahlen,
oder, Bea?“ Bea nickte nur, sie war noch den Anblick der Schwangeren versunken und stellte sich das
Unmögliche vor – sie selbst schwanger. „Grauenhafte Vorstellung“, schüttelte es sie innerlich.
Obwohl, eine gute Haut bekommt man davon ja, wie sie neidvoll feststellen musste, während Alex
für sie beide bezahlte. So machten sie es immer, eine lud die andere abwechselnd ein, das gab immer
ein Gefühl der Grosszügigkeit und des Willkommenseins dem anderen gegenüber, und sie liebten
diese Spielerei.
Vor dem Restaurant gaben sie sich eine feste Umarmung zum Abschied; ernste Gespräche führten
meist dazu, dass sie etwas wortkarger wurden und sich beim nächsten Treffen überlegter an die
Sache herantasten.
Eingemummelt in ihre Jacke, die Arme um den Körper geschlungen, machte sich Alex auf den Weg
nach Hause. Sie zog nach dem Eisprung grundsätzlich keine hochhackigen Schuhe mehr an, weil man
- wie jede weiss - damit doch schneller zu Fall kommt, und sie wollte auf keinen Fall die Einnistung
ihres zukünftigen Kindes gefährden. Und dass sie die Arme um den Körper geschlungen hatte,
machte ihr auch Sorgen, beim Straucheln konnte sie sich im Zweifel viel schlechter Abfangen. Und
dann? Auch Radfahren verbot sie sich an solchen Tagen, denn sie wusste nicht genau, ob das
Geruckel auf schlechter Wegstrecke nicht auch schadete oder der Druck des Fahrradsattel vielleicht
die Gebärmutter unglücklich eindrücken würde. Auch der Muttermund könnte ja Schaden nehmen
durch den Druck. Und ausserdem stellte sie es sich für diesen kleine Wurm ausserordentlich
unangenehm vor, so durchgeschüttelt zu werden. Was ist eigentlich, wenn ihnen schwindelig wird,
können die sich dann ablösen, weil irgendwelche Stoffe gebildet werden? „Frau weiss ja nie“, dachte
sie bei sich und kam sich schon ein wenig dumm dabei vor. Zuhause würde sie in den nächsten Tagen
ein wenig recherchieren, um Hinweise auf schwangerschaftsfördernde Bewegungsarten zu finden,
nicht, dass ihr da ein Fehler unterlief. Immerhin wartete sie jetzt schon so lange auf eine
Schwangerschaft, da musste man ja auf Nummer Sicher gehen, oder?
Zuhause angekommen tat sie das, was sie immer tat, wenn sie nach Hause kam: Katze streicheln, die
ungeduldig um ihre Biene strich, um austesten, ob es nicht neues Futter gibt „Hallo meine Schöne“
zu ihr sagen, Schuhe von den Füssen und erster Test im Bad: Hatte sie eine auch noch so leichte
Blutung gehabt? Leider fand sich nur blütenweisse Baumwolle in dem Bereich, der eine Einnistung
verraten hätte, wieder eine Enttäuschung. Aber sie wusste ja, dass Einnistungsblutungen nur recht
selten vorkamen, daher war ja noch alles drin. Neben ihr lag ein Persona –Teststäbchen, also öffnete
Alex fast mechanisch den Zyklus-Computer, um zu überprüfen, wo im Zyklus sie stand: 18!, also ES+4,
es blinkte bereits rot, was etwas enttäuschend war, weil es zeigte, dass in dieser Zeit aber auch gar
keine Gefahr einer Schwangerschaft bestand, und welche Frau mit Kinderwunsch wollte das schon
sehen, und es blinkte auch kein gelbes Licht.
„Egal“, sagte sich Alex,“ ich orakele. EIN Persona-Stäbchen lässt sich ja opfern, morgen teste ich
natürlich nicht, wenn sich heute nichts zeigt.“
Natürlich zeigte das Teststäbchen genau das, was es um diese Zeit zeigen soll: eine schöne blaue
linke Linie, und rechts? Ha, ein Hauch, im Gegenlicht betrachtet wusste Alex sofort, wo die zweite
Linie erscheinen muss. Natürlich nur ganz zart, denn es war ja kein Morgenurin. Aber immerhin, sie
meinte etwas zu erkennen. Ein positives Orakel? Natürlich ein ganz frühes? Für eine ganz frühe
Einnistung? Dann muss morgen ja mit Morgenurin ein noch deutlicheres Ergebnis da sein. Eine frühe
Einnistung wäre ja toll, denn dann ist die Gefahr der Fehlgeburt viel geringer! Alex war frohgemut, es
tat sich was!
Matthias würde gleich kommen, und normalerweise würden sie gemeinsam ganz gemütlich ein Glas
Rotwein trinken und den Tag besprechen, aber das ging heute nicht. Alkohol, undenkbar, schliesslich
konnte sie ja schwanger sein. Alex hatte zwischenzeitlich begonnen, ihre Schuhe wegzustellen, aber
nun ging sie doch wieder ins Badezimmer und schaute sich den Test an. Naja, je mehr er trocknete,
desto weniger war die Linie zu erahnen, aber schliesslich wertet der Computer ja auch in feuchtem
Zustand aus, und überall auf den Tests stand zu lesen, dass ein Ablesen nach mehr als soundsoviel
Minuten kein aussagekräftiges Ergebnis mehr zeigen würde. Und sie hatte die gaaanz schwache Linie
ja gesehen, nur, dass sie jetzt einfach nicht mehr zu sehen war. Morgen, da würde sie sie ganz
bestimmt besser sehen.
Und es war ja auch noch früh nach dem Eisprung, ob die Einnistung überhaupt schon gewesen sein
konnte? Aber hatte sie nicht ein kleines Stechen in der Gebärmutter heute früh gespürt? Und von
einem Baby hatte sie auch geträumt. Sie hatte gelesen, dass werdende Mütter oft derartige Träume
hatten, bevor eine Schwangerschaft überhaupt nachzuweisen war.
Alex Laune hob sich gewaltig, und als Matthias von seinem Termin nach Hause kam, stand da ein Glas
Rotwein für ihn auf dem Tisch und ein wenig frischer Parmesan in kleinen Würfeln, zudem
Mozzarella und Tomaten mit Balsamico und Öl. Sie wusste schon, wie sie ihn verwöhnen konnte. Und
immerhin war heute vielleicht ein besonderer Tag.
Folge 6
Der Abend war dann allerdings doch etwas anders verlaufen, als Alex es sich so vorgestellt hatte.
Schon während sie gemütlich Abendessen genossen, rief ihre innere Unruhe sie immer wieder zum
Teststäbchen im Bad, bis Matthias sie besorgt fragte, ob sie sich eine Blasenentzündung eingefangen
hätte. Allein diese Bemerkung hatte Alex gereizt, denn offensichtlich merkte ihr Märchenprinz
überhaupt nicht, im welcher Verfassung sie sich gerade befand, sozusagen in der PräSchwangerschaft, und die äussert sich dann ja doch untrüglich anders als eine schnöde
Blasenentzündung. Und dann bot er ihr auch noch Rotwein an, und Alex lehnte dieses Angebot
immerhin zweimal tapfer ab, bis sie ihm beim dritten Mal den Gefallen tat, ein oder zwei Gläser
mitzutrinken, es war ja auch zu gemütlich. Anders sah es beim Mozzarella aus: Während sie sich
sicher war, dass Parmesan keine Listeriose-Gefahr beinhaltete, wusste sie es bei diesem Büffelkäse
(wieso geben eigentlich Büffel Milch für Käse ab, fragte sie sich irritiert?) eben nicht so genau, und
verzichtete schweren Herzens.
Gutes Essen und guter Wein lockern nun bekanntlich die Sitten, und mit Hilfe von ein paar Kerzen
fanden sich beide innig umarmt im Bett wieder, wo es beinahe zum Äussersten gekommen wäre,
hätte Alex Verstand nicht im letzten Augenblick noch gewonnen. Was wäre, wenn durch die
bekanntermassen starken Kontraktionen der Gebärmutter beim Orgasmus die Einnistung entweder
verhindert oder eine schon vorgenommene Einnistung zur Lösung der Frucht führen würde?
Matthias wurde also an dem gehindert, was Männer eigentlich doch recht gerne im
Fortpflanzungsprozess tun, und war prompt beleidigt. Nun weiss ja jede vernünftige Frau, dass
Männer recht häufig in derartigen Dingen beleidigt sind, so dass Alex dies nicht weiter beachtete,
und da das Angebot ihrerseits, seine Interessen anderweitig zu ihrem Recht kommen zu lassen,
ebenso beleidigt abgelehnt wurde, hatte sie genügend Zeit, aus dem Bett zu steigen und in der Küche
den restlichen Rotwein, der ihr nämlich doch schon beträchtlich schlechtes Gewissen machte, im
Ausguss zu vernichten. So, nun noch ein Gang ins Bad, wo sich der verheissungsvolle zweite rechte
Strich dem Hintergrund so völlig angepasst hatte, dass sie froh war, ihn zumindest im feuchten
Zustand gesehen zu haben.
Und ausserdem: Es war ja auch noch super-früh für eine Einnistung, wieder ging sie im Geiste die
Stufen der Entwicklung durch, nach der der Hauptanteil der Einnistungen erst zwischen dem 6. und
11. Tag nach dem Eisprung vonstatten gingen, und sie war ja erst am Tage 5 danach. Allerdings wenige Einnistungen waren mit hCG schon am 6. Tag nachweisbar, dazu hatte sie Studien gelesen.
Dennoch, eigentlich schade um den schönen Wein, wo sie doch nun vielleicht die nächsten 37,3
Wochen darauf würde verzichten müssen.
Nun wieder recht wohlgemut ging sie zurück ins Bett. Matthias war mittlerweile eingeschlafen, und
sie konnte den Tag noch einmal Revue passieren lassen. Mensch, wenn das jetzt geklappt hat, dann
würde der errechnete Geburtstermin (das hatte sie bereits vorsichtshalber ausgerechnet) genau am
Geburtstag ihres Schwagers liegen. Und den mochte sie nun gar nicht, aber in ihrer Familie kamen
Kinder ja meist zu früh, warum also nicht auch ihres früher kommen? Nur einpaar Tage, das würde ja
reichen. Und ihre Schwester, die würde gucken... Über diese Gedanken fiel sie in einen unruhigen
Schlaf, aus dem sie noch deutlich vor Tagesanbruch aufwachte. Da hatte sie nämlich ein deutliches
Ziehen in der Gebärmutter gespürt, nur ganz kurz, aber so deutlich, dass sie davon aufgewacht war.
Die Einnistung!!! Eigentlich spürte man die ja nicht, das wusste sie, aber es gab auch Aussagen von
Frauen, die das Gegenteil beschrieben. Und bei der Heftigkeit mussten es Zwillinge werden.
Zwillinge, wie ihre Mutter immer dozierte, überspringen eine Generation, und ihre Grossmutter
hatte ja auch Zwillinge bekommen, also lag es im Bereich des Möglichen. Und ausserdem sagen die
Statistiken, dass Zwillinge mit höherem Alter der Mutter häufiger werden. Übrigens sind Zwillinge am
häufigsten bei Finnen, am seltensten bei Chinesen, oder war es umgekehrt. Egal, sie war weder das
eine noch das andere. Und Matthias? Alex warf noch einmal einen prüfenden Blick auf Matthias, der
ihr heute irgendwie anders erschien. Finnisch? Nein, sie wurde schon irre im Kopf.
Kurz vor 5 stand Alex ganz leise auf. Schon geraume Zeit hatte sie wach gelegen, weil sie eigentlich
auf die Toilette hatte gehen müssen, aber sie war sich nicht sicher, ob sie genügend konzentriertes
Morgenurin für den Test hatte, also blieb sie noch im Bett, die Decke bis zur Nasenspitze
hochgezogen. Natürlich schwitzte sie wie beim Marathon, aber genau dadurch wollte sie ja die
Konzentration des Urins erhöhen. Doch dann war ihre Kraft erschöpft, sie schlug die Bettdecke
zurück, spürte erleichtert die Kühle der Zimmerluft und ging ins Bad.
Dummerweise hatte sie das Glas für den Test nicht mehr ins Bad gestellt, und nun in der Küche zu
hantieren war ihr zu gefährlich. Nicht, dass sie etwas zu verbergen hatte, Matthias und sie hatten vor
einander keine Geheimnisse, aber in die Tiefen der Testerei hatte sie ihn nun doch nicht eingeführt in
der festen und sicher richtigen Überzeugung, dass er dafür wenig Verständnis zeigen würde.
„Wenig?“, dachte sie bei sich . „Gar keines. Männer wissen eben nicht, was wichtig ist.“
In der festen Erkenntnis, als einzige von beiden ihrer beider Familienzukunft konsequent in die Hand
zu nehmen, sass sie nun im Bad und versuchte, im Schummerlicht korrekt zu testen. Umhüllung auf,
irgendwie musste sie immer das Stäbchen herauspuhlen, weil der vorgegebene Riss nicht so recht
funktionierte, Kappe ab und los. Wieder fragte sie sich, warum bisher kein Elektriker auf die Idee
gekommen ist, die Kloschüssel mit einem Extra-Spot für zielgerichtetes Pullern auszustatten, nicht
aus Spass wie bei Männern, sondern lediglich, um unbeschadet dieses winzig erscheinende Test-Ende
richtig zu treffen. Einundzwanzig-zweiundzwanzig-dreiundzwanzig. Geschafft, drei Sekunden, nun
hiess es Warten. Wie immer. Warten war ihr Leben geworden- und sie hasste es.
Sorgfältig parallel zum gestrigen Stäbchen gelegt, das nun rechts persilneiderblassend weiss war,
suchte sie im Licht des Strahlers nach der rechten Linie. Und siehe, wieder gaaaanz schwach war sie
zu sehen, oder? Gegen das Licht sah man den Schatten, und wenn man das Stäbchen vom
geschlossenen Ende aus beschaute, wusste man auch sofort, wo sie erschien, nur beim direkten
Blick, sozusagen frontal, war die Linie weniger sichtbar, sozusagen praktisch gar nicht. Dennoch, sie
hatte sie gesehen.
Alex kuschelte sich wieder ins Bett, diesmal an den nochschlafenden Matthias heran, und murmelte
nur noch „ach Schatz,“ bevor sie wieder einschlief.
Folge 7
Alex träumte einen zunächst zufriedenen Traum, in dem ein Storch friedlich seine Kreise über ihrem
Hause zog. Sie war im Garten und lag bequem auf der Liege, die merkwürdigerweise einen babyrosa
Bezug hatte. Dann liess sich der Storch langsam weiter herunter, um in ihrem Garten zu landen, nur
wenige Meter von ihr entfernt. Eigentlich hatte sie diesen Garten ja gar nicht, aber im Traum wusste
sie, dass es ihrer war.
Sie ging zur Fensterbank, wo sie nach alter Sitte den Zucker für den Storch bei Kinderwunsch liegen
hatte und nahm ihn in die Hand. Mit dieser Hand ausgestreckt ging sie auf den Storch zu, um ihn zu
fangen und damit ihrem Kinderwunsch deutlich näher zu kommen. Doch der Storch schaute sie an
und sagte: „Ich brauche dich gar nicht zu zwicken, denn du bist schon schwanger.“ Und genau als
Alex sich zu freuen begann, verwandelte sich der Weissstorch in einen Schwarzstorch, der dann
fortfuhr: „Aber, Missi, ich bin nur die Vertretung aus Afrika, und bei uns sind Babys schwarz.“ Mit
einem eleganten Flügelschlag erhob es sich vom Boden und lächelte ihr verschmitzt zu: „Aber Alex,
du wolltest doch ein Kind, egal wie es aussieht, Hauptsache gesund, oder?“ „Mutti hat immer gesagt,
wenn du dir etwas wünschst, dann überlege dir genau, was dabei herauskommen könnte, es könnte
ja wahr werden...“, schoss es der entsetzten Alex durch den Kopf. „Oh Gott, und dann auch noch
Zwillinge!“
Zum Glück wachte Alex genau in diesem Augenblick auf, und sie war sich nun fast ganz sicher, dass
sie mit Zwillingen schwanger war, aber an die Hautfarbe mochte sie im Moment nicht denken. DAS
war nun doch Unsinn. Matthias räkelte sich neben ihr im Bett, und kein Zug an ihm war negroid. Alex
war beruhigt bis in ihr Innerstes, es hatte vielleicht jetzt geklappt.
Äusserst zufrieden mit sich und der Welt stand sie auf und ging ins Bad. Ihr erster kritischer Blick galt
den beiden Teststäbchen, die nun schön ordentlich nebeneinander aufgereiht waren. Leider waren
die Linien nicht mehr zu sehen, aber Alex wusste jetzt ja, dass sie in Kürze richtig gut sichtbar sein
würden, also konnte auch das sie nicht enttäuschen. Und ausserdem, sie musste eh’ auf Toilette, und
die anderen Tests waren aus einer anderen Charge und somit ohnehin eigentlich nicht mehr zu
gebrauchen, also nutzte sie die Gunst der Blase und fügte ihrer Testreihe noch ein blütenweisses
Exemplar hinzu. Natürlich, immerhin kein Morgenurin und ZT 6, da kann ja noch nicht viel zu sehen
sein. Noch einmal richtete sie die Stäbchen soldatenmässig aus, immerhin müssen sie ja sofort
vergleichbar sein. Sollte sie die nun heute schon beschriften so für ihre Schwangerschaftsanalen
festhalten oder würde sie sich die Reihenfolge merken können? Klar, das konnte sie sich merken, bei
drei Tests? Und heute müsste sie ja auch keinen mehr machen, und morgen auch nicht, übermorgen
bei Es+8 würde es spannend werden, zumindest bei früher Einnistung. „Okay, heute bleibe ich cool,
kein Test mehr...“ dachte sie sich und zählte im Geiste die verbleibenden Stäbchen. Vielleicht sollte
sie nachher noch einmal im Internet neue ordern, und eine Packung Schwangerschaftstests, obwohl
sie sich die ja sparen konnte, aber man weiss ja nie...
Beschwingt ging Alex in die Küche, setzte dort mit leichtem schlechtem Gewissen den Morgenkaffee
auf, kochte Wasser für den Kräutertee für die zweite Zyklushälfte, den sie dann aufgoss und für den
Tag stehen liess („Viel hilft viel“, dachte sie und nahm einen Esslöffel mehr an Kräutern,
wohlwissend, dass dieser dann enorm an Schmackhaftigkeit verliert.) Egal, der Tag war gerettet.
Auch das Bryophyllum verdiente verstärkte Beachtung, 3 x 5 Tropfen nahm sie immer in der zweiten
Zyklushälfte, aber heute gönnte sie sich schon vormittags 10 Tropfen. „Moment, und der Alkohol in
den Tropfen? Ach, egal, ist ja homöopathisch oder anthroposophisch oder so, auf jeden Fall kann es
nicht schaden.“ Sie liess alles in der Küche unaufgeräumt stehen und kehrte gut gelaunt mit einem
Morgenkaffee zu Matthias ins Schlafzimmer zurück.
„Guten Morgen mein lieber Schatz, der Kaffee ist fertig!“ flötete sie und gab ihm ein paar sanfte
Küsse auf die etwas stoppelige Wange. Diese Stoppeln gaben ihr dann doch etwas zu denken, denn
Männer, bei denen der Hormonhaushalt durch Sex angekurbelt wurde, haben bekanntermassen
einen stärkeren Bart- und Haarwuchs. Und bei ihnen war doch seit dem Eisprung Ebbe im Bett. Naja,
zumindest nicht Sturmflut. „Unsinn,“ murmelte sie und beruhigte sich selbst. Dafür hatte Matthias
keine Zeit. „Hast du mich noch lieb?“ „Ja, sehr.“ War seine kurze aber ausreichende Antwort. Alex
hätte zwar eine romantischere Antwort mit offenen Augen bevorzugt, aber immerhin, man soll nicht
pingelig sein.
„Schaatz? Was würdest du sagen, wenn es diesen Monat geklappt hätte?“ „Womit? Hast du Lotto
gespielt?“ Okay, Männer können sich nicht auf wichtige Dinge konzentrieren, das hatte Alex im Laufe
der Zeit gelernt, aber diese Antwort zeigte ihr wieder, wie unterschiedlich Männer und Frauen nun
doch denken. Aber da sie vom Grunde auf gut gelaunt war, überging sie den Beitrag zum Tag durch
ihren Auserwählten, und beschloss, sich nicht zu ärgern. “Quatsch, mit einem Kind...“ „Hast du
getestet?“ Immer schlug Matthias die Augen auf. „Nein, aber ich hab’ so ein Gefühl...“ „Alex, sei mir
nicht böse, aber deine Gefühle spiegeln in der Regel nicht die Wirklichkeit wider.“ Seine Worte trafen
wie ein Hammerschlag, dabei waren sie gar nicht böse gemeint. „Aber diesmal ist es anders...“ Alex
Laune war mit einem Mal im Bereich des absoluten Nullpunktes angelangt. Zudem musste sie
erkennen, dass Matthias nicht in allen Bereichen der Märchenprinz war, den sie sich erträumt hatte.
Kurz gesagt, sie musste sich mit den Tränen kämpfend eingestehen, dass sie sich in diesem Punkt
schlichtweg unverstanden und alleingelassen fühlte.
Diese Erkenntnis führte zur Einsilbigkeit am Frühstückstisch, Alex trank den mittlerweile eklig
bitteren Zweite-Zyklus-Hälfte-Tee und kaute an ihrer Laugenstange. Ihr war nicht gut, oder anders,
sie hatte keinen Appetit. Und ein kleines bisschen schlecht war ihr auch. Matthias hingegen
beachtete seine Prinzessin am anderen Ende des Tisches gar nicht weiter und biss beherzt in seine
Brötchen, belegt mit Käse und Rübensaft. Schon der Anblick dessen rief bei Alex eine Art Brechreiz
hervor.
„Und was machst du heute“, fragte Matthais beiläufig. Allerdings gab er Alex irgendwie nicht das
Gefühl, an einer Antwort innerlich interessiert zu sein.
“Ich treffe mich mit Bea...“
„Ja, schön.“ Nach diesem Kommentar erstarb das Gespräch.
„Was machst du?“ konterte Alex nach einer Weile.
„Schrauben, muss die Maschine in Ordnung bringen, die läuft nicht rund.“ Matthias war
Motorradfan, und wenn seine Maschinen nicht in Ordnung waren, war er nicht glücklich.
„Das Arbeitszimmer müsste mal aufgeräumt und dann ausgeräumt und gestrichen werden.“ Im
geheimen hoffte Alex nun, dass er fragen würde, wozu dieser Aufwand getrieben werden sollte, aber
Matthias liess nur ein „hehem...“ hören und vertiefte sich wieder in sein Brötchen.
Alex holte Luft und wollte gerade ein paar Worte dazu sagen, wie sie sich das Zusammenleben
vorstellte, als es klingelte, und gleichzeitig ertönte eine laute Stimme mit „Hallöchen, Ihr Lieben seid
Ihr da?“ Untrüglich gehörte diese Stimme zu Ilse, Matthias Mutter und somit zu Alex
Schwiegermutter in Lauerstellung gehörte. Alex mochte Ilse sehr und freute sich immer, sie zu sehen.
Nur war der Augenblick jetzt vielleicht etwas unpassend... Dennoch, Alex stand auf und öffnete Ilse
die Tür. Matthias Mutter nahm sie liebevoll in die Arme, sie war froh, dass ihr Junge eine so nette
Freundin gefunden hatte. Kritisch mit ihrem Sohn war ihr bewusst, dass er nicht gerade leicht zu
vermitteln war.
Und Alex wurde genau in diesem Augenblick etwas anderes bewusst: die schön parallel zueinander
aufgereihten Persona-Teststäbchen im Bad und die Teetüten und das Bryophyllum in der Küche.
„Mädchen, du siehst ja gar nicht gut aus, ich mache erst mal einen Tee, aber zuerst muss ich mal für
kleine Mädchen, ich war in der Stadt unterwegs und Ihr seid meine Rettung...“ flötete Ilse.
Folge 8
Alex hatte schon als Kind gerne Sagen gelesen, und die Szene, in der sich Odysseus mit seinem Schiff
zwischen Scylla und Charybdis befand, wurde ihr nun schlagartig vom Inneren her bewusst und
nachvollziehbar.
„Moment, auf Toilette ist kein Papier mehr...“
„Macht nichts, reich es mir rein, es pressiert“, bot sich Ilse an, und vom Esstisch her hörte sie eine
Stimme „Nee nee, da ist noch genug“, und schwups war Ilse an Alex vorbei im Bad verschwunden.
Kurz notierte sie im Geiste, dass sie im Strafgesetzbuch nachsehen wollte, was auf Mord im Affekt
steht, und überlegte, ob eine Richterin Strafmilderung wegen der Stresssituation – und dann noch
bei einer Schwangeren – anerkennen würde; denn Matthias hatte sich nun eben als völliger Versager
in Sachen „einer Frau in schweren Stunden Beistehen“ entpuppt, als sie schnell in die Küche ging und
Tee und Bryophyllum verstaute. Immerhin, das war gelungen.
Doch da kam Ilse schon mit irritierter Miene aus dem Bad. „Sag’ mal, ich will ja nicht neugierig sein,
aber was haben diese Plastikstäbchen im Bad zu bedeuten?“ Ilse war nie sehr zurückhaltend, wenn
es um das Leben ihrer Kinder ging. Alex lachte etwas verlegen und sagte dann: „Ach, ein Freund von
mir schreibt seine Doktorarbeit über Diabetes, und er suchte nun Testpersonen, die zu bestimmten
Zeiten Urintests durchführen und dann wird das ausgewertet.“ Innerlich sagte sie sich, dass Stress
den Kind bestimmt nicht gut tut, und dass Gott eine solche Lüge ebenso bestimmt verzeihen wird.
„Aber die sind ja gar nicht beschriftet. Ist ja nicht sehr wissenschaftlich, finde ich. Musst du die Dinger
nicht sofort ins Labor bringen, wenn sie benutzt sind? Ich meine, das verfälscht doch sonst das
Ergebnis?“ Matthias hatte inzwischen sein Frühstück kurz unterbrochen und fügte hinzu: „Und ich
dachte immer, die Dinger haben was mit deinem Zyklus zu tun...“
Alex dachte wieder an die Richterin und war sich nun sicher, keine Strafe, sondern zusätzlich eine
Entschädigung zu bekommen, ergänzte aber tapfer: “Das Insulin in Relation zum weiblichen Zyklus,
genau.“ Sowohl Ilse als auch Matthias waren nun zufrieden und sassen mittlerweile am Tisch. Alex
holte Ilse eine Tasse und fragte: “Was kann ich dir anbieten? Magst du einen Kaffee? Oder schwarzen
Tee?“
„Was hast du denn hier für einen Tee? Kräuter? Gib’ mir doch davon etwas, er ist ja fertig.“ „Ich
glaube nicht, dass er dir schmecken wird, er steht schon recht lange und ist bitter.“ Natürlich fügte
sie nicht hinzu, dass er immer bitter war und scheusslich schmeckte, und dass sie ihn eigentlich auch
nicht mochte.
„Ich koche uns einen neuen, okay?“ bot sie an und war erleichtert, als Ilse zustimmte. Alex setzte also
neues Teewasser auf und suchte in ihren Schrank nach einem unverdächtigen Kräutertee, doch die
einzige Alternative zum Zweite-Zyklus-Hälfte-Tee war leider der Erste-Zyklus-Hälfte-Tee. Egal, er war
weniger bitter und erzeugte eher den Anschein, aus Freude als aus Not heraus getrunken zu werden.
Und bei Ilse war es bestimmt egal, sie war durch die Wechseljahre durch...
Kurz darauf sassen alle drei einträchtig um den Kräutertee, den auch Matthias mittrinken musste, da
seine Mutter behauptete, er müsse sich gesünder ernähren. Alex hoffte dabei, dass der Tee bei
Matthias keine Folgen hinterlassen würde, immerhin hatte sie den positiven Test zwar so gut wie
sicher, aber noch nicht in der Hand, und jeder wusste, dass Fehlgeburten in den ersten Wochen
möglich sind. Und dann wäre sie doch auf die Männlichkeit von Matthias angewiesen. Ausserdem
hatte Ilse sich geweigert, Tee zu trinken, wenn keiner mittränke, und so vergrösserte sich gerade die
Angst in Alex, dass diese Tasse, die sie anschaute, als wäre es der Schierlingsbecher, die frische
Frucht in ihrem Körper einfach resorbieren lassen würde. Sie kannte das von Mäusen und Pferden,
warum sollten Menschen da anders sein. Also nippte sie nur an dem Tee, trank aber nicht.
„Sabine hat die erste Hormonbehandlung hinter sich.“ Sabine war Matthias Schwester, seit einigen
Jahren mit einem Banker verheiratet und mit einer süssen Dreijährigen namens Henriette gesegnet,
aber das zweite wollte nicht so einfach klappen, offensichtlich hatte Sabine Schwierigkeiten mit dem
Eisprung, denn Ilse hatte bereits zuvor von Stimulieren gesprochen, wobei man eher das Gefühl
hatte, sie etwas anderes und durchaus Unanständiges meinte. „Dabei ist bei denen alles so perfekt,
und immerhin sind sie ja auch verheiratet...“ wobei der Unterton nicht zu überhören war und die
Betonung auf „SIE“ lag. Für Ilse war dies die Legitimation, Kinder in die Welt setzen zu dürfen und zu
müssen. „Also ich glaube ja nicht, dass man mit Hormonen was machen kann, aber an ihm kann es ja
nicht liegen, das hat er ja gezeigt. Arme Sabine, auf ein Kind warten zu müssen. Sie probieren es jetzt
schon fast ein Jahr.“ Alex hörte dem Geplapper gar nicht mehr zu, sie dachte nur bei sich, dass sie
immerhin mindestens so lange probierte, aber Mitleid hätte niemand mit ihr, und immerhin hat
Sabine ja schon das erste Kind und bastelte am zweiten, während sie nicht einmal das erste zustande
brachte. Falls es jetzt nicht geklappt hat... „Aber Carola, bei der hat es sofort geklappt, dabei wollten
die gar kein Kind...“ hörte sie auf einmal. Carola war Matthias Cousine, die einen neuen Freund hatte
und nun nach dem Motto Ich-versuch-mal-ob-ich-das-auch-hinkriege-ups-schon-schwanger
offensichtlich ein Kind erwartete.
„Naja, und jetzt ist sie sich gar nicht mehr sicher, ob sie es wirklich will...“
Alex war schlecht. Carola war für sie der Inbegriff des kleinen Dummchens, das erst handelte, und
dann nachdachte, und das Kind passte genau in dieses Schema. Und genau solche Frauen brauchten
bloss barfuss über den Flur zu gehen und bekamen dann Kinder, die man in der Kneipe im
Kinderwagen beobachten kann, die Mutter mit der Zigarette im Mund und das Bier in der Hand,
während die Kinder schliefen, und Frauen wie sie, die alles taten, um schwanger zu werden,
schafften es nicht. Das war nicht gerecht. Immer, wenn sie derartige Mitteilungen erhielt, fühlte sie
sich minderwertig und als Versager, weil alle anderen schafften, woran sie scheiterte. Sie musste zu
dumm dafür sein. Es fiel ihr ohnehin schwer, diese Tatsache, dass es nicht so schnell klappte wie
erwartet, zu akzeptieren, und solche Geschichten wie die von Carola machten ihr ihre
Unzulänglichkeit jedes Mal mit solcher Deutlichkeit klar, dass sie es immer weniger ertragen konnte.
Alex stand auf, schaute demonstrativ auf die Uhr und verkündete, sie müsse jetzt los, da sie
verabredet sei. Sie hatte genug und musste einfach raus, egal wohin. Und wenn es war, um „ihrem
Doktoranden die Tests zu bringen“.
Folge 9
Alex warf die Tür hinter sich ein wenig schwunghaft zu, aber das entsprach nun auch ihrer Laune.
„Warum können die Menschen um mich herum nicht ein wenig sensibler sein,“ dachte sie, während
sie durch den Nieselregen stapfte. Immer wieder fingen sie an, von anderen zu reden, die schon
Kinder hatten, ergingen sich in endlosen Reden über das süsse Baby der Nichte von Frau
Zimmermann oder über die schwierige Schwangerschaft der Kundin neben ihr im Geschäft. Und sie?
Sie stand dann da wie ein begossener Pudel, lächelte freundlich, fragte auch mal nach, aber im
Grunde des Herzens war sie dann nicht bei der Sache, sondern eher bei ihren eigenen Kind, das so
gar nicht kommen wollte. Nicht mal ansatzweise. Und während sie gestern noch ganz froh dachte,
dass dieser Monat vielleicht die Wende bringen würde, war sie sich heute gar nicht mehr so sicher.
Ihre Stimmung schwankte wie ihre Hormone. Es war zum Heulen. Im Prinzip wusste sie ja auch, dass
sie ihren Mitmenschen Unrecht tat, aber sie nahm eben alles krumm in der Hinsicht, als wolle man
ihr ständig unter die Nase reiben, was für ein Versager sie war. Ja, Versager, das war das richtige
Wort, alle anderen bekamen das doch hin, nur sie nicht.
„Du bist ein Versager, finde dich damit ab“, kreiste es in ihrem Kopf. Alex kannte dieses
Gedankenkarussel, immer zwischen Aufgabe des Kinderwunsches und der trotzigen
Entschlossenheit, sich durchzukämpfen. Vielleicht ging es ihr schon gar nicht mehr nur um das Kind,
sondern auch darum sich zu beweisen, dass sie es zustande bringen konnte? Wäre das eine gute
Grundlage für eine Schwangerschaft?
Und dann war da ja auch noch Matthias, den sie eigentlich wirklich liebte, und diese Einschränkung
des „Eigentlichs“ bezog sich auch seine unglaubliche Ignoranz dessen, was sie im Innersten bewegte.
Immer wieder zog er durch Sätze oder Taten den Boden unter ihren Füssen weg, und es kostete
Kraft, ihn dann darauf anzusprechen, um sein verwundertes Gesicht zu sehen und zu hören: „Das
wird schon klappen, wir haben ja noch Zeit.“ Ja, er hatte Zeit, er war ja auch ein Mann, aber sie?
Jeden Tag hörte sie förmlich ihre biologische Uhr ticken, und das kam dann zu den zahlreichen
negativen Schwangerschaftstests noch hinzu. Tick-tack-tick-tack.
Alex fühlte sich irgendwie klein und hässlich, sie zog die Schultern hoch und fröstelte. Und das, wo
ihre Temperatur doch bei einer erfolgten Einnistung steigen sollte, wie sie beiläufig bemerkte. „Also
wieder nichts…“, dachte sie und schluckte. Aber es war ja noch früh, noch musste sie den Zyklus nicht
aufgeben.
Ihr Weg führte sie an einigen Geschäften vorbei in die Innenstadt, klein, aber immerhin so, dass Alex
etwas Ablenkung fand. Im Schuhgeschäft sah sie wunderschöne hochhackige Schuhe, die genau zu
ihrem neuen Kleid passen würden. „Wenn es eh’ nicht geklappt hat, dann kann ich ja auch
hochhackige Schuhe tragen“, sinnierte sie vor sich hin, als sie den Laden betrat, und kurze Zeit später
hatte sie diese wunderbaren Teile an den Füssen (okay, ihre Strümpfe hatten leichte Fehlstellen und
die dicken Botten, die sie anhatte, waren auch etwas peinlich gewesen, aber egal, jetzt hatte sie die
schönsten Schuhe an den Füssen, die sie seit langer Zeit gesehen hatte). Und sie sassen perfekt. „Die
nehme ich, geben Sie mir bitte gleich das passende Pflegemittel mit.“ Ha, eine nicht erfolgte
Einnistung hatte doch etwas Gutes. Alex ging es spontan besser, sie freute sich, bei der Hochzeit
eines Freundes von Matthias zwei Wochenenden später damit erscheinen zu können. „Und trinken
kann ich dann auch, ätsch.“ Gedanklich streckte sie die Zunge ihrem imaginären Gesprächspartner
heraus.
Deutlich besser gelaunt und mit einer Tüte des Schuhladens bewaffnet schlenderte Alex weiter; mit
Bea wollte sie sich ja gar nicht treffen, das hatte sie nur so gesagt, und sie wollte sie heute auch nicht
unbedingt sehen, denn eine Diskussion über Peter und den Kinderwunsch ja oder nein hätte sie in
der Verfassung kaum ertragen.
Vor einem Tchibo-Laden blieb sie stehen. „Gott sei Dank, keine Babyklamotten“, dachte sie
erleichtert, als sie die Auslage sah. Segeln war angesagt. Alex war Hobbyseglerin, und hatte auch den
Schein für küstennahe Gewässer, also konnte sie hier doch das eine oder andere finden. Wie immer
zog ein solcher Laden sie magisch an und keine Minute später stand sie im Gewirr der Menschen, die
die Regale und deren Inhalt betrachteten, und inmitten des Kaffeeduftes. Segelhandschuhe, Schuhe
mit hellen Sohlen, Segelhosen, Inlets für Schlafsäcke, hier gab es alles. Und neben dem
Funktionsunterhemd- na prima, Babysachen! Lätzchen mit Klettverschluss zur einfachen
Handhabung, Wärmflaschen in süssen Kuscheltieren, die Charge von der vorvorletzten Woche war
noch da. Und die tolle Kinderkarre, an sich der Alex schon mehrfach festgebissen hatte.
„Also gut, vielleicht brauche ich es ja noch einmal, sonst verschenke ich es an Carola“, dachte Alex,
als sie an der Kasse die Lätzchen und die Wärmflasche bezahlte.
„Och, Alex, wer hat denn ein Kind bekommen?“ von hinten umarmte Andrea sie, eine alte Freundin.
„Hi Andrea, schön dich zu sehen, die Cousine von Matthias ist schwanger, und da dachte ich, ich
sorge schon mal vor…“ verteidigte sich Alex sofort, während sie sich schon wieder ärgerte, warum die
anderen nie dachten, sie selbst sei schwanger.
„Hast du ein wenig Zeit für einen Kaffee?“ fragte Andrea einladend.
„Tut mir leid, ich bin knapp in der Zeit, ich muss noch in die Apotheke, bevor sie zumacht.“ Im
Grunde hatte Alex einfach von Gesellschaft genug.
„Schade, aber wir sehen uns…“ Andrea hauchte ihr noch einen leichten Kuss auf die Wange und
rauschte aus dem Laden. Und Alex nahm ihre blau-gelbe Tüte und machte sich auf den Weg zur
Apotheke.
„Einmal Rescue-Tropfen von Bachblüten, wenn’s geht in Grosspackung…“ bestellte sie dort.
Folge 10
Mit ihrem Gepäck und einem gemischten Gefühl, was sie zuhause zu erwarten hat, und was sie
überhaupt erwartet, machte sich Alex zurück auf den Rückweg. Im Geiste ging sie die Situation im
Laden nochmals durch. Klar, sie war albern. Warum hatte sie nicht mit Andrea den Kaffee getrunken,
sondern fühlte sich einmal mehr angegriffen? Wenn Andrea gefragt hätte, ob sie selbst schwanger
sei, wäre das nicht viel schöner gewesen? Zu wissen, dass ihr jemand das zutraute, was sie sich selbst
schon nicht mehr zutraute? Aber Alex war immer ehrlich mit sich selbst, und sie wusste, dass es für
sie noch schwerer gewesen wäre, dann eine Antwort zu finden.
Natürlich gab es dazu die Routineantworten:„ Oh, stimmt, darüber sollte ich langsam mal
nachdenken.“ Oder “Dazu hatten wir noch keine Zeit, aber jetzt ist die Wohnung bald fertig, dann
fangen wir an zu üben.“ Und und und. Aber die Wahrheit würde ihr wohl nicht über die Lippen
kommen, eben dass fast 70% aller Paare mit Kinderwunsch innerhalb von 6 Monaten ein Kind
erwarten, nach 12 Monaten sind es fast 95%, nur 2% müssen deutlich länger warten. Und
ausgerechnet sie gehörte zu diesen 2 %. Warum war die Welt so ungerecht, von Gott ganz zu
schweigen, mit dem hatte sie seit dem 8. Übungszyklus ziemliche Probleme.
Sie hatte sogar in Kirchen Kerzen angezündet, Stossgebete zum Himmel geschickt, Yoga gelernt, Folio
und diverse Vitamine regelmässig genommen, alles hatte sie getan, aber ein Kind wollte sich nicht
zeigen. Nicht einmal der leiseste Schimmer einer zweiten Linie auf den Schwangerschaftstests. Sie
empfand sich als unglaublich ungerecht behandelt.
Und wenn sie ihrer Mutter, die ja nichts von ihren Schwierigkeiten wusste, gegenüber auch nur
anklingen liess, dass sie selbst doch viel Pech hätte, dann kam bestimmt: “Aber Kerstin (ihre
Schwester) hat gerade ein Fohlen verloren, siehst du, auch andere haben Pech.“ Ein Fohlen zu
verlieren war bestimmt schlimm, aber was war das gegen den unerfüllten Kinderwunsch, der
langsam das gesamte Leben infiltrierte und bestimmte?
Sie konnte nicht mehr auf Toilette gehen, ohne einen prüfenden Blick wonach auch immer auf das
Toilettenpapier zu werfen, eben je nach Stand des Zyklus, Blutungen während des Eisprungs, nach
dem Eisprung, Zervixschleim, Zwischenblutungen... Alex kannte alle Stichworte und versuchte, sie
korrekt einzuordnen. Am meisten Schwierigkeiten hatte sie mit dem Zervixschleim, wobei ihr schon
dieses Wort suspekt war. Sie hatte immer gedacht, man müsse den direkt am Muttermund prüfen,
den sie nach langem Probieren dann auch gefunden hatte, aber nun hatte sie eine neue Studie
gelesen, nach der das gar nicht nötig war. Hühnereiweiss-klar, vermutlich hatte man hier im Norden
andere Hüphner, oder die Legebatterien veränderten das Material, denn so hatte ihr Zervixschleim
nie ausgesehen. Aber spinnbar hatte sie ihn nur ganz selten gefunden, nur, wenn er sozusagen am
Toilettenpapier hing, aber nie dann, wenn sie ihn direkt prüfen wollte. Nicht mal das gelang ihr.
Hmmm… Hühnereiweiss in der Scheide. Vielleicht sollte sie mal etwas Hühnereiweiss dort einführen,
um dann merken zu können, wie es eigentlich sein soll. Und ausserdem, ihr Körper könnte sich das
dann ja wohl besser merken und es nachmachen. Weisses Ei oder braunes? Alex spann oft so
assoziierend vor sich hin, um sich zu entspannen, dann konnte sie doch wieder über sich selbst
lachen.
Im Prinzip blieb ihr nicht mehr viel zu tun, um dem Kinderwunsch näher zu kommen, es sei denn, sie
wollte noch ein paar Jahre mit ungewissem Erfolg herumprobieren. Und es sei denn, sie war nicht
gerade jetzt schwanger. Die Tüte mit den Schuhen schwenkend bemerkte Alex genau bei diesem
Gedanken, dass ihr BH irgendwie kniff und dass ihre Brustwarze unter der Kleidung fest war. Dabei
war da nur ein alter Mann, von dem sie ganz sicher war, dass er sie in keiner Weise erregte.
Normalerweise hasste Alex den Gedanken, dass ihre Brustwarzen nun durch die Bluse hindurch gut
sichtbar sein würden, aber dieses Mal konnte es auch ein frühes Schwangerschaftsanzeichen sein. Sie
bewegte sich extra schwungvoll und bemerkte dabei, dass ihre Brust fest und irgendwie grösser zu
sein schien. Vielleicht hatte es ja doch geklappt? Gerade diesen Monat? Da hatte sie eben ihre Rede
an Matthias gedanklich vorbereitet, er möge sich mit ihr in eine Kinderwunschbehandlung begeben,
und dann ist sie schwanger? Das soll ja gar nicht so selten vorkommen...
Alex Gesicht hellte sich zunehmend auf, und sie nutzte die verlängerte Ladenöffnungszeit am
Samstag, um noch schnell im Feinkostladen ein paar Leckereien für den Abend zu holen. Und einen
guten Sekt… sie würde nämlich trotzdem mit Matthias sprechen, das Ergebnis des
Schwangerschaftstests war einfach zu ungewiss und in ferner Zukunft (wobei 8 Tage dabei sehr fern
waren…)
Nun doch wieder gut gelaunt kam Alex zuhause an und öffnete die Tür. Phoebe galoppierte ihr dem
Hungertod anscheinend nahe – ein Blick auf den Fressnapf zeigte, dass sie wohl eher das Futter
verschmähte – entgegen und rieb sich freundschaftlich an ihrem Bein. Die Wohnung war angenehm
ruhig. Wie zufällig schlenderte Alex zunächst ins Bad, um die Teststäbchen erneut zu examinieren.
Okay, die LH-Linie war weg, wenn man es realistisch betrachtet, aber sie hatte ja noch ein wenig Zeit
bis zum nächsten Mens-Termin, und bis dahin konnte noch so viel passieren.
Folge 11
Entgegen aller Vorsätze nahm sich Alex eines ihrer schönsten Gläser, öffnete den Sekt, goss sich ein,
klaubte den Krimi, den sie gerade las, aus dem Regal und machte es sich auf dem Sofa gemütlich.
Natürlich nahm auch Phoebe sofort ihren Lieblingsplatz auf Alex’ Bauch ein.
Alex las am liebsten Krimis, weil sie dabei sicher sein konnte, dass niemand beim ersten Rendezvous
schwanger wurde und sich daraus eine tragische Liebesgeschichte mit Happyend entwickelte. Zu
Filmen wie Rosamunde Pilcher hatte sie in dieser Hinsicht schon ein gespaltenes Verhältnis
entwickelt, und neuerdings wurden auch in Krimis im Fernsehen Mitarbeiterinnen der Kripo
schwanger. Es reichte ihr… Kathy Reichs war ihre neueste Errungenschaft, eine knallharte
Anthropologin, die an Leichen oder deren Teilen herausfindet, wann und wie diese gestorben sind.
So eine Art weiblicher Quincy, aber härter. Und ihre Tochter ist schon erwachsen, sie ist geschieden,
also nicht nur heile Welt. Nur bei Grabgeflüster, da hatte sie sich doch glatt einmal verkauft, denn da
ging es um Stammzellen, also wieder Schwangere. Zum Glück waren diese auch tot und somit
tolerabel.
So richtig schön eingenudelt liess sie die Tage und ihr Leben Revue passieren. Das Glas Sekt war noch
in Ordnung, denn die Einnistung fand ja, wenn sie stattfand, eine gute Woche nach dem Eisprung
statt, ein Andocken an den weiblichen Blutkreislauf konnte somit noch nicht stattgefunden haben.
Folgerichtig konnte auch kein hCG im Blut sein. Okay, das beruhigte sie. Selbst der beste Test musste
nun noch negativ sein.
Da fiel ihr ein, dass sie dringend noch Tests bestellen wollte, man muss davon ja immer einen
Zentner von im Hause haben, wie ihr Vater sagen würde. „Ja, Papa, der würde sich freuen…“,
sinnierte Alex vor sich hin. Und die anderen? Wie viele würden sie für ungeeignet oder zu alt halten?
Ihr Chef würde sagen „Na, Frau Manthei, dann wissen Sie jetzt ja auch endlich, wie das geht.“ Und
dabei würde er dieses männliche Grinsen im Gesicht haben eines Mannes, der meint, etwas ganz
Tolles oder Intelligentes gesagt zu haben. Ihr gruselte jetzt schon.
Phoebe streckte sich nun auch aus, allerdings so, dass ihr Schwanz in Alex Nase kitzelte und ihre
Füsse unsanft in der Bauchgegend Löcher stampften. Da war doch was, was sonst nicht war? Alex
war sich ganz sicher, dass dieses Gefühl nicht normal war, es tat einfach mehr weh als sonst. Und
auch ihr Busen war empfindlicher, sie hatte sich bestimmt nicht getäuscht.
Alle guten Vorsätze in den Wind schreibend setzte Alex die widerstrebende Katze zu Boden und ging
ins Bad. Vielleicht hatte sie ja doch noch einen Test da? Sie wühlte den ganzen Schrank um, und
schliesslich fand sie in der hintersten Ecke doch noch so ein flaches Paketchen mit einem letzten
verbleibenden Test. Alex drehte ihn zwischen den Händen, um herauszufinden, ob es eine Frühtest
oder ein normaler war, aber das liess sich nicht erraten. Okay, morgen früh, mit Morgenurin, oder
besser übermorgen, dann konnte schon was zu sehen sein.
Alex schaute sich im Spiegel von der Seite her an und examinierte ihren Bauch, ob sich eine Wölbung
zeigt. „Hmmm, sieht auch nicht anders aus als sonst…“, musste sie sich eingestehen. Probeweise
streckte sie den Bauch ein wenig raus und machte ein Hohlkreuz, dann watschelte sie so eine Weile
durchs Bad. „Also bequem ist das nicht,“ dachte sie und stellte sich probeweise auf die Waage.
Zugenommen! Das ist ja wieder typisch, dabei sollte man doch in den ersten Wochen nicht unbedingt
zunehmen. Alex angelte gedankenverloren nach ihrer Wärmflasche. Da sie ein wenig Bauchdrücken
hatte, wollte sie es sich jetzt so richtig gemütlich machen, deshalb füllte sie Elchi – denn ihre
Wärmflasche hatte einen Bezug in Form eines Elches mit wunderbaren Plüschohren und
Plüschschaufelgeweih, an dem Phoe-be ab und zu herumspielte – und steckte ihn mit den Füssen
nach unten in den Hosenbund. „Das ist definitiv gemütlich“, dachte sie vorsichhinlächelnd, während
sie mit Elchi gemeinsam ins Wohnzimmer zurückging. „Prost Elchi…“ erhob sie ihr Glas.
Probeweise stand sie noch einmal auf und watschelte mit Elchi schwanger durch die Gegend. Und da
sie kein Hohlkreuz mehr machen musste, fiel ihr das Laufen nun auch viel einfacher. Und sie fühlte
sich nun doch schon ein wenig schwanger, nur dass durch Elchis Gewicht der Hosenbund
hinuntergezogen wurde. Also ging Alex in das Schlafzimmer und suchte in Matthias Kleiderschrank
nach den lustigen Hosenträgern mit dem Winni Puh-Motiv, um damit ihre Konstruktion zu
stabilisieren. Das sah wirklich prima aus, wie sie fand. Elchis Ohren und Geweihschaufeln schlappten
lustig auf und ab, als Alex einen kleinen Tanz vor dem Spiegel vollführte. Und dazu noch fetzige
Musik, Phil Collins, I can’t walk.
Alex bewegte sich mit Elchi rhythmisch zur Musik und ahmte dabei den Sänger nach, natürlich hatte
sie eines der Ohren von Elchi als Mikrophon vor dem Mund und sang aus vollem Halse den Song mit.
Leider hatte sie dabei Matthais überhört, die zur Tür hereinkam, und mit ihm Jürgen, sein
Siamesischer Zwilling, wie Alex immer sagt, denn sie trafen sich oder telefonierten täglich. Und
während Matthias fassungslos erst Alex, dann Elchi und danach die Flasche Sekt ansah, brach Jürgen
in hemmungsloses Gelächter aus. Und genau dies liess Alex jäh inmitten des Songs abbrechen – und
sie wusste genau, wie sie in diesem Augenblick wirkte…
Folge 12
Ein völlig losgelöste Frau mit einem Elch in der Hose und Winni Puh-Hosenträger, hier schieden sich
die Geister des Humors. Während Jürgen sich vor Lachen noch immer kaum halten konnte und ihm
sogar schon die Tränen in den Augen standen, holte Matthias Luft und hob demonstrativ die
Sektflasche.
„Sag mal, was ist denn da drin?“ fragte er, aber der Unterton in seiner Stimme liess erraten, dass er
sich blossgestellt fühlte.
„Wieso eigentlich?„ fragte sich Alex und stellte den CD-Player leise. „Ich entspanne bei Luna-Yoga,
damit du es weisst, und das Gewicht der Wärmflasche (und dabei zog sie die Ohren von Elchi
malerisch auseinander) hilft mir, die Haltung korrekt zu finden. Nämlich mit leichtem Hohlkreuz, die
Fussspitzen etwas nach aussen, und dann rhythmische Bewegungen nach vorne.“ Ihre Stimme war
dabei etwas kämpferisch, weil sie es hasste, wenn Matthias sich ihretwegen schämte, obwohl die
Situation ja eigentlich nur lustig war und nicht peinlich sein musste.
„Ich mach `mal `nen Kaffee, okay?“ mit diesen Worten verzog sich Jürgen in die Küche und begann
dort, lautstark zu hantieren.
„Hast du eigentlich eine Ahnung, wie du gerade aussiehst?“
„Vermutlich wie eine Frau mit einem Plüschelch in der Hose und Hosenträgern… “ Alex fand nun
gerade den Humor wieder und ärgerte sich über Matthias, dass er so gar kein Format zeigte. „Nun
hör schon auf, ich dachte ja auch, du wärest schrauben.“
„Ach, und wenn ich nicht zuhause bin, läufst du so rum?“
Alex würdigte den Spielverderber einfach keines Blickes mehr und ging in die Küche zu Jürgen, der
einerseits sichtlich gut gelaunt, andererseits ein wenig peinlich berührt war, weil er gemerkt hatte,
dass sein alter Kumpel mit dem Aussehen seiner Freundin arge Probleme hatte. „Also Alex, ich finde
ja, dass du in allen Klamotten nett aussiehst…“ hob er an, doch Alex sagte nur „Netter Versuch…“ und
wurde rot und dann fügte sie an. „Wenn Elchi kopfüber in der Hose gehangen hätte, dann würde ich
Matthias ja verstehen…“ und gluckste nun ihrerseits vor Lachen. Kurzum, beide standen mit frischem
Kaffee in der Küche und lachten. Darauf, dass Matthias sich zu ihnen gesellte, musste sie aber
vergeblich warten, er hatte inzwischen eher schmollend Phoebe von Sofa geschubst und sich eine
Motorradzeitung genommen, in der er demonstrativ herumblätterte.
„Möchtest du einen Kaffee?“ bot Alex als Versuch zur Güte an. Sie selbst stand noch mit Jürgen an
der Küchentür.
„Danke.“ Alex schluckte die Frage, „…danke ja oder danke nein?“.., herunter und goss Kaffee ein.
Matthias nahm den Kaffee mit Zucker, aber nun wollte sie ihn besonders ärgern, und stellte ihn
ihrem Freund schwarz hin.
„Ist schon Zucker drin?“
„Nein. Der liegt auf der Fensterbank,“ und vor den Augen zweier verständnisloser Männer ging Alex
hoch erhobenen Hauptes zum Fenster, öffnete es, langte auf die Aussenfensterbank und nahm zwei
Stück Würfelzucker, die sie dort für den Storch hingelegt hatte. Und noch ehe Matthias etwas sagen
konnte, liess sie die leicht angegrauten Zuckerstücke in seine Tasse fallen.
„Bitte, dein Zucker.“ Mit diesen Worten verschwand Alex zunächst im Bad. Trotzig nahm sie den
verbliebenen Schwangerschaftstest, öffnete die Verpackung und benässte den dafür vorgesehenen
Abschnitt mit Urin. Egal, dass es jetzt Nachmittag war, sie wollte handeln. So ziemlich ohne das
Ergebnis eines Blickes zu würdigen, denn sie wusste ja, dass es nur negativ sein konnte (es war ein
25-Einheiten-Test, es war Nachmittag und es war erst ES+6) ging sie von dort aus direkt in das
Schlafzimmer und liess sich auf ihr Bett fallen.
„Wie blöd kann man eigentlich sein? Einen Test für eine Euro zu verschleudern?“ Aber eigentlich
fühlte sie sich nun etwas besser. „Vermutlich haben die Dinger auf der Verpackung eine Art
Handlungsmuster, das durch die Poren in das Gehirn infiltriert wird, so wie Kartoffelchips
Geschmacksverstärker haben, so dass man nicht mehr aufhören kann, sie zu essen.“ Leicht resigniert
schaute sie in die Augen ihres Lieblingsbären. Es war ein klassischer Bussi-Bär mit seinem grossen
Kopf, dem kleinen Körper und der kleinen Kette mit dem Herzen. „Na Bussi, was sagst du dazu?
Eigentlich will ich gar kein Kind mehr, nicht von dem Typen. Soll er doch sehen, wie er allein zurande
kommt.“ In Gedanken sah sie Matthias vor dem leeren Kühlschrank oder bei Ilse am Esstisch.
Es waren bisher wenige Augenblicke gewesen, an denen sie leise Zweifel plagten, ob Matthias der
richtige Vater für ihre Kinder sein würde, aber heute war ein solcher Augenblick gekommen. Sie
hasste seine Humorlosigkeit, oder besser, seine andere Form von Humor, die sie nicht verstand, und
die meisten ihrer Freunde auch nicht.
Bussi schaute sie noch immer an. „Ja, ich weiss.“ Was sie wusste, wusste sie zwar selbst nicht, aber
dass Bussi es wusste, daran bestand für sie kein Zweifel. Das Kult-Bärchen der 60er und frühen 70er
Jahre hatte sie damals von Hanna bekommen, und während ihrer noch die Originalkette besass - sie
war (obwohl sie selbst damals schon über 30 war) fuchsteufelswild geworden, als ihre Mutter ihrer
Nichte den Bären zum Spielen gegeben hatte und die Kette vermeintlich verloren war- hatte Hannas
diese nicht mehr, dafür aber noch die kleine rote Filzzunge, die ihrer schon lange nicht mehr besass.
Hanna, ihre Freundin aus Kindertagen. Vor ihrem Augen entstand das Bild eines Photos, dass in
ihrem Album war, zwei etwa 6 Jahre alte Mädchen, eine etwas pummelig mit kurzen Haaren und
herabgerutschten Strümpfen, eine mit langen Zöpfen, deren Strümpfe vor dem Photo noch
ordentlich hochgezogen wurden. Und bei denen das Gummi etwas ausgeleiert war, aber dafür hatte
Hanna, eben die ordentliche von den beiden, ein extra Gummiband gehabt und den Rand der
Strümpfe zweimal herumgefaltet. Irgendwie vermisste sie diese Freundschaft schon, und es wäre
doch schön, sich einmal wieder bei ihr zu melden, oder? Denn gerade jetzt konnte sie eine gute
Freundin gebrauchen, vielleicht konnte das ja wieder Hanna werden?
Folge 13
Den Teddy im Arm schlief Alex ein. Sie sah eine bunte Wiese mit vielen Blumen und einem hellblauen
Himmel mit leichten Wölkchen. Am Horizont stand ein alter Baum und die Vögel zwitscherten. Es war
ein Frühsommertag, so ein wunderbarer Tag, den man einfach geniessen muss.
Sie sah Kinder fangen spielen, doch so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte keine Gesichter sehen,
und dann entfernten sich die Kinder auch von ihr und ihr Lachen wurde leiser. Eine grosse Traurigkeit
und das Gefühl, einsam zu sein, kam über sie, doch genau in dem Augenblick, als sie sich diesen
Gefühlen hingeben wollte, nahm jemand sie an die Hand und drehte sie in eine andere Richtung, und
da erkannte sie, dass sie eigentlich inmitten von Menschen in einer lustigen Feier stand, ohne es
auch nur zu bemerken. Gerade als das Gefühl der Einsamkeit dem des Aufgehobenseins wich, das sie
begann zu geniessen, wachte sie auf. Der Traum stand noch völlig präsent vor ihren Augen und sie
hatte das Gefühl, das er ihr durchaus mehr sagen wollte als nur ein unbedeutender Traum. Schaute
sie vielleicht einfach in die falsche Richtung? Standen ihre Freunde hinter ihr, ohne dass sie es
merkte?
Bussibär neben ihr wusste offensichtlich auch keinen Rat, denn er schaute ihr nur treu in die Augen
und sagte keinen Ton. „Vermutlich bist du der Freund, der hinter mir steht.“ Sagte sich Alex mit
traurigem Lächeln. Manchmal kam sie sich wirklich sehr allein vor, denn sie hatte niemanden, mit
dem sie über ihren Kinderwunsch sprechen konnte. Der Spiegel war ihr einziger Gesprächspartner.
Immer öfter dachte sie, der Wunsch nach einem Kind mache einsam, und genau so fühlte sie sich
auch.
Zu Einladungen ging sie mittlerweile erst, wenn sie sicher sein konnte, dass die Kinder im Bett waren,
zumindest die kleinen, die sie ganz besonders an ihre eigene vermeintliche Unzulänglichkeit
erinnerten. Beider Frauenärztin versuchte sie ebenfalls zu Zeiten Termine wahrzunehmen, an denen
sie weniger Mütter mit kleineren Kindern vermutete, zum Beispiel um die Mittagszeit. Samstags zu
IKEA, undenkbar. „Der kleine Sönke möchte aus dem Smalland abgeholt werden“. Wo sie nur konnte,
mied sie den Kontakt zu Schwangeren oder jungen Müttern, um nicht das sehen zu müssen, was sie
nicht imstande war ihr eigen zu nennen – Kinder.
Nun wäre es ja einfach gewesen, wenn sie sich deshalb mit Freundinnen wie Bea stärker
solidarisieren könnte, aber Bea mit ihrer ausgesprochenen Antipathie gegen Kinder war auch kaum
zu ertragen, da Alex sich dann ja wieder selbst verbiegen musste, um nicht die Wahrheit zu gestehen.
Ja, sie würde liebend gerne eine schmutzige Windel waschen und nicht nur für ihre Katze sondern
auch für Kindern mitten in der Nacht aufstehen.
„Okay Alex, hör auf mit dem Gejammer…“ sagte sich Alex und stand entschieden auf. Im
Nebenzimmer herrschte Ruhe, offensichtlich war Matthias nun doch wieder zum Schrauben
gegangen. Sie ging daher schnurstracks ins Bad und kramte aus dem Abfallbehälter den
Schwangerschaftstest hervor. Vielleicht war da ja doch noch eine leichte Linie entstanden? Nein,
reinweiss, weder mit noch gegen das Licht gehalten änderte sich die Aussage. Aber morgen!
Alex schaltete im Arbeitszimmer den Computer an, wobei sie trotzig ein neues Glas Sekt neben sich
stellte. Der Test musste doch etwas Gutes haben. Okay, jetzt Firma Diaprax, den Tipp hatte sie aus
dem Internet, dort gab es Schwangerschaftstests für ca. 20 € 20 Stück, das sollte für diesen und den
nächsten Zyklus reichen. Falls sie dann noch welche brachen würde. Alex suchte sich die
Telefonnummer der Firma heraus und bestellte per Telefon die Tests. Übermorgen würden sie da
sein. Übermorgen, und was war morgen! Sonntag, und sie hatte keinen Test mehr da. Egal, sie würde
ohnehin nicht mehr testen bis 14 Tage nach dem Eisprung, das versprach sie sich. Kurze Zeit später
ging allerdings in das Schlafzimmer zurück und öffnete einen grossen Karton in ihrem Schrank, der so
ziemlich alles enthielt, was eine Frau brauchte, um einem Mann eventuell das positive Ergebnis eines
Schwangerschaftstests nahezubringen: Schnuller, Babyschuhe, eine Windel in „super-klein“, ein
Schnuffeltuch, ein alter Beissring mit silbernem Hasen, ein Strampler, ein Steiff-Storch und und und –
und eine Packung Schwangerschaftstests, sozusagen die eiserne Reserve. Ha, hatte sie sich doch
noch recht erinnert.
Und da es auch eine 20er Packung war, probierte sie gleich einen aus. Weniger erstaunlich war die
Tatsache als solche, dass auch dieser Test nur den Kontrollstrich aufwies. Aber es hätte ja anders sein
können, vielleicht war er sensibler? Aber morgen, da würde sie bestimmt ein besseres Ergebnis,
nämlich einen hauchzarten Strich, sehen können.
Alex war sehr wohl bewusst, wie dumm, kindisch, irrational sie sich benahm, aber sie folgte einem
inneren Zwang, und der war eben irrational.
Und dann setzte sie sich mit dem Glas in der Hand auf den Teppich und sagte mit halblauter Stimme
„Ich bin bereit, ich bin bereit, ich bin bereit“, denn sie hatte gelesen, dass der Körper sich bei
Kinderwunsch darauf einstellt, dass er schon schwanger ist, was eine echte Schwangerschaft
verhindern würde. Und Negationen kann er nicht erkennen, wenn eine Frau sich also immer wieder
sagt „ich bin nicht schwanger,“ dann denkt der Körper, sie sagt, „ich bin schwanger“ und verhindert
eine weitere Einnistung.
So in sich versunken sass Alex im Wohnzimmer, Bussi Bär im übrigens aus der Hosentasche
schauend, als jemand an das Terrassenfenster klopfte.
Folge 14
Manchmal, allerdings nur selten im Leben, geschieht es, dass plötzlich Freunde auf unerklärliche Art
merken, dass man selbst in Nöten ist, und von sich aus Kontakt aufnehmen. Und genau dies war
geschehen: Schon als Kind hatte Hanna bei Alex’ Eltern nie den Haupteingang genommen, sondern
sie hatte an Alex’ Kinderzimmerfenster geklopft, und genauso hatte sie es nun getan.
Hanna, da stand sie nun mit leicht verlegenen Gesicht, aber innerlich entschlossen, sich nicht
abwimmeln oder verletzen zu lassen. Und Alex machte vermutlich mit denselben Gefühlen die Tür
auf.
„Hallo Alex, ich dachte, ich …“, hob sie an, bis ihr Blick auf Bussi fiel, der mit seinem freundlichen
Lächeln aus der Hosentasche lugte. „Hey, du hast ihn ja immer noch. Ich meinen auch…“ Und mit
diesen Worten nahm sie Alex ganz fest in den Arm und sagte „Ich hab’ dich echt vermisst.“
Alex wurde nun ganz warm um’s Herz und sie erwiderte die Umarmung ebenso fest, aber zumindest
sagte sie: „Naja, DU hast dich ja nicht mehr gemeldet, ich dachte, dich gibt’s nicht mehr für mich.“
Aber die Umarmung löste sie nicht so schnell.
„Mensch, was war denn los, ich fühlte mich ganz schön enttäuscht von dir. Und allein gelassen.“ Uff,
das war raus, das hatte sie noch nie jemandem gesagt. Hanna machte ein geknicktes Gesicht.
„Ich weiss ja, aber es brach einiges über mir zusammen, und Bea und du, ihr ward einfach so eng
zusammen, und ihr habt mich unwissentlich so verletzt, das konnte ich euch nicht erklären, na ja, und
dann habe ich mich eben zurückgezogen.“ So ganz einen Reim auf diese etwas
unzusammenhängende Rede konnte sich Alex nicht machen, und wieso sie Hanna verletzt haben
sollte und nicht umgekehrt, das verstand sie auch nicht, aber immerhin zog sie nun Hanna in ihr
Wohnzimmer und sagte – wie üblich unter Freundinnen –: „Ich mach erst einmal einen Kaffee, und
ein Glas Sekt trinken wir auch, ich freu mich so, dass du hier bist.“
Bis der Kaffee fertig war, hatten sie bei einem Glas Sekt auf ihre doch nicht ganz zerstörte
Freundschaft angestossen. Und Hanna erzählte, nachdem sie tief Luft geholt hatte.
„Weisst du, Alex, wir sassen so oft zusammen, wir drei, und Bea und du, ihr habt mir immer erzählt,
wie furchtbar Kinder sind, und dass es nichts Schrecklicheres geben könnte, als ein Kind, aber das war
nur eure Meinung. Ich habe mich nie dazu geäussert, weil ihr so überzeugt von dem Ganzen ward,
aber ich wollte gerne Kinder. Und beim letzten Mal, als wir uns trafen, da war wieder so eine
Diskussion, und eine Schwangere kam rein, und ihr habt euch den Mund zerrissen darüber, dass ihr
Leben nun sozusagen verfrüht zu Ende gegangen sei, und gerade an dem Tag wollte ich euch sagen…
„sie holte noch einmal tief Luft „… dass ich ein Kind erwartete. Aber dann hatte ich keinen Mut mehr,
ich dachte, ihr würdet mich eh nicht verstehen. Und ich war tief enttäuscht, dass ich diese schöne
Nachricht nicht bei euch loswerden konnte, da erschien mir unsere Freundschaft nichts mehr wert.
Und deshalb ging ich. So, jetzt ist es raus.“
Alex war wie vor den Kopf geschlagen, heute verstand sie, wie verletzend das gewesen sein musste,
und eigentlich benahm sie sich Bea gegenüber auch nicht viel anders als Hanna ihr gegenüber, sie
sagte auch nicht die Wahrheit und zog sich langsam zurück.
Früher hätte sie nun gefragt: „Und, wo ist dein Kind? Es muss doch schon ein paar Monate alt sein…“
doch die letzten Monate hatten auch sie sensibler werden lassen. Daher nahm sie Hanna erneut in
den Arm und fragte sie: „Na erzähl mal, wie ging es denn dann weiter?“ Und dann erzählte Hanna,
von der Zeit, in der sie gar nicht gemerkt hatte, dass sie ein Kind erwartete, und vom Test, den sie
dann schliesslich machte.
„Ich sass auf dem Klodeckel im Bad und starrte auf diesen Test, auf dem langsam der zweite Streifen
deutlich wurde. Glaubst du das, ich habe mir die Gebrauchsanweisung immer wieder durchlesen
müssen, um zu kapieren, dass ich tatsächlich schwanger war. Aber freuen konnte ich mich zunächst
nicht, meine erste Worte waren „Oh Schitte…“ weil ich gar nicht darauf vorbereitet war. Thomas
habe ich es zunächst gar nicht gesagt, ich wusste nicht, wie er es aufnehmen würde, denn wir lagen
gerade ziemlich im Streit, aber als ich in der 7. Woche war, sagte er aus heiterem Himmel zu mir:
„Sag mal, bist du schwanger?“ und da bin ich in Tränen ausgebrochen und habe nur genickt. Und er
nahm mich nur in den Arm. Und dann fingen wir an, uns zu freuen. Und wir machten Pläne für unser
Kind. Zwei Tage später ging es mir nicht gut, ich hatte so ein ungutes Gefühl, und in der Nacht setzten
Blutungen sein. Am nächsten Tag bei der Frauenärztin war schon nichts mehr an Fruchthöhle zu
sehen. Zwei Tage später ging ich ins Krankenhaus zur Ausschabung. Ich konnte es nicht fassen, dass
mir so was passierte, ich war wie vor den Kopf geschlagen. Aber du siehst, das Leben geht weiter.“
Und da lachte Hanna schon wieder auf ihre typische Art, nur in ihren Augen konnte Alex etwas
sehen, was sie früher nie gesehen hatte, so eine Art Traurigkeit, oder das Wissen, dass das Leben
nicht immer nur Spass bringt. Sie war eben reifer geworden.
„Mensch Hanna, das tut mir so leid. Das muss ja furchtbar sein. Wollt ihr es denn noch einmal
versuchen?“
„Das tun wir ja, aber es klappt irgendwie nicht… seitdem will ich unbedingt ein Kind, aber je mehr ich
es will, desto schwieriger scheint es zu werden. Kinder kann man sich nicht erarbeiten, das ist eine
ganz neue Erfahrung für mich… Und gestern war schon wieder so ein deprimierender Tag, ich habe
meine Mens und bei Tchibo gibt es Klamotten für Schwangere und Babies.“ Hanna zog ihren rechten
Mundwinkel etwas hoch und schaute bedauernd.
„Weisst du was? Ich mache dir jetzt mal einen Tee: Himbeerblätter, Rosmarin, Beifuss,
Holunderblüten und Salbei, der wird dir gut tun. Und dann erzähle ich…“, sagte sie und schaute
verschwörerisch.
Folge 15
Kaum war der Tee gezogen und Alex, wie üblich mit Phoebe auf dem Schoss, auf dem Sofa gemütlich
placiert, begann sie wie versprochen zu erzählen.
Sie erzählte Hanna, wie langsam der Wunsch nach einem Kind in ihr gewachsen war, dass sie aber
niemanden hatte, mit dem sie sich darüber austauschen konnte, wie sie nach und nach
Informationen aus dem Internet gesucht hatte und so auch zu diesem Zyklus-Tee gekommen war;
wie es ihr ging, wenn sie kleine Kinder oder Schwangere sah oder mit welcher Wucht sie der
Zyklustag 1 immer traf. Zum ersten Mal konnte sie einfach frei weg von Leber erzählen, wie es ihr
ging, ohne befürchten zu müssen, Reaktionen zu erfahren, die sie weniger gut ertragen konnte oder
Ratschläge zu bekommen, die ihr dumm oder lästig erschienen.
Hanna war eine gute Zuhörerin, sie unterbrach nicht, bestätigte aber und ergänzte die Erzählung
durch eigene Erfahrungen.
„Kannst du dir vorstellen, dass ich sogar schon während der Mens getestet habe, weil ich gerade
gelesen hatte, dass eine Frau eine Eileiterschwangerschaft hatte und trotzdem ihre Regel bekommen
hatte? Und ich bin mir sicher, dass ich es wieder tun werde…“ beide bogen sich nun vor Lachen, weil
sie genau wussten, wie komisch das für andere sein würde, wenn sie es denn wüssten.
„Bei jeder Tablette überlege ich mir, an welchem Zyklustag ich bin, Aspirin ist aus dem Schrank
verbannt, dafür nehme ich Paracetamol, weil das ja in der Schwangerschaft, so ich sie denn jemals
erreiche“, Alex erhob theatralisch die Hände bittend zum Himmel „auch erlaubt ist. Und wenn die
Füsse jucken, weil ich mir vor Jahren mal einen Fusspilz geholt habe, dann bekomme ich
Schweissausbrüche, weil ich Angst habe, dass die pilzhemmenden Cremes ein Embryo schädigen
könnten.“ Alex schüttelte leicht den Kopf.
„Nimmst du auch in der Sauna Tampons, die in Olivenöl getränkt sind, um Pilzinfektionen
vorzubeugen?“ fragte Hanna.
„Nee du, den Tipp kenne ich ja gar nicht. Aber ich nehme nur Öko-Tampons, um keine
genmanipulierte Baumwolle in mir zu tragen, wer weiss, ob sonst ein Kind mit BaumwollFlaumhaaren zur Welt kommt… “grinste nun auch schon Alex. Hach, es war einfach schön, endlich
jemanden zu haben, der genauso dachte wie sie. Beide fühlten sich sichtlich wohl.
Natürlich gab es auch Themen, an die sich Alex nur vorsichtig herantasten musste, um Hanna nicht zu
verletzen. Das Thema Fehlgeburt hatte sie schon lange beschäftigt, aber auch dazu konnte sie
natürlich niemanden fragen.
„Hanna, kann ich dich mal zu der Fehlgeburt fragen? Ich meine, wie merkt man das, und wie ist es
denn wirklich danach?“
„ Klar kannst du mich fragen, es ist viel schlimmer, wenn Leute es wissen, und nichts fragen, sondern
nur bedrückt gucken. Ich meine, ich bin ja nicht debil oder dement deshalb. Ich habe auch schon
gehört, dass Leute sagen „Stell dich nicht so an, es war ja nur ein Punkt auf dem Ultraschall, kein
Kind.“ Und damit haben sie ja auch irgendwie Recht, aber es waren die Hoffnungen, und die Freude,
die verloren gingen, das Bild, das man sich von seinen Kind gemacht hat. Ich habe es ja in Gedanken
neben mir an meiner Hand gespürt, wenn du weisst, was ich meine, oder seine Stimme gehört, die
„Mama“ zu mir sagte, und das alles ist weg.
Ich habe die Fehlgeburt erst gemerkt, als es zu spät war, aber ich hätte auch nichts tun können
ausser genau diese Hilflosigkeit zu akzeptieren. Das war hart. Ich war dann bei der Frauenärztin, die
nur noch sagte „Tja, die Gebärmutter ist leer, da sehe ich nichts.“ Die ganzen Stunden vorher hofft
man noch, dass etwas anderes gesagt wird, und dann kommt genau das, wovor man am meisten
Angst hat. Ich habe da nur gesessen und gesagt „okay, und wie geht es weiter?“ Zwei Tage später
war ich in der Klinik und hatte unter Vollnarkose die Ausschabung, heute bin ich mir nicht mal sicher,
ob die nötig gewesen wäre, so viele Frauen warten einfach ab. Schliesslich war das früher auch nicht
anders. Und danach ist erst einmal totale Leere, man funktioniert nur noch. „Du musst zur Normalität
zurückkehren“ ist ein Spruch, den man dann hört. Ja, gerne, nur hat sich meine Normalität verändert,
meine Hoffnungen sind weg. Meine Welt ist eingestürzt und wartet darauf, anders aufgebaut zu
werden.“ Hanna erzählte alles ganz ruhig, wie jemand, der diese Gedanken tausend Mal durchdacht
und formuliert hat. Doch ihre Trauer war noch da, zudem eine Stärke, die Alex früher nie bemerkt
hat, als sie aufsah und sagte: „ Und ich versuche es genau wie du noch einmal, nicht mehr so
verzweifelt wie noch vor ein paar Monaten, sondern mit der Gewissheit, dass es bald klappt.
Dennoch kann da jeder Monat lang werden…“ Nun lachte sie wieder und fügte an: “Und ich geniesse
jetzt jeden Schluck Sekt, glaub’ mir, es könnte der letzte sein.“
Fast beneidete Alex ihre Freundin darum, dass sie wusste, wie sich eine Schwangerschaft anfühlte,
und die feste Gewissheit, dass sie bald wieder schwanger sein würde, denn sie hatte diese Hürde
selbst ja noch nie nehmen können. Aber tauschen wollte sie mit ihr nicht, oder doch? Sie konnte
selbst das nicht mehr entscheiden.
Nach diesem kurzen ernsten Exkurs sprachen die beiden wieder über alles, was sie so an Unsinn tun,
wobei sie merkten, wie gut sie immer noch zusammenpassten und wie tief ihr gegenseitiges
Vertrauen doch war. Und als Matthias nach Hause kam, sah zwei innig kichernde Frauen auf der
Sitzgruppe, die ihn vor lauter Gespräch ignorierten, er hörte nur das typische „Männer!“ als sie in
lautes Gelächter ausbrachen.
Folge 16
Wie immer stand Alex auch am nächsten Tag – es war Sonntag – früh auf, denn ihre „Persona-Zeit“
lag zwischen 6 und 12 Uhr, und sie konnte es kaum erwarten, zu orakeln. Die Gespräche mit Hanna
hatten sie beflügelt und motiviert, es gab also noch andere Frauen, denen es so ging wie ihr, oder
sogar noch schlimmer.
Wieder zeigte das Teststäbchen eine schwächelnde linke Linie für den Östrogengehalt des Urins,
rechts aber, hmmm… ja, eben wieder nichts. Alex kramte die Tests der Vortage hervor und verglich.
Der einzige Unterscheid bestand eigentlich in der Feuchte des Testfeldes, das musste sie sich
eingestehen. So sass sie auf dem Klodeckel, der irgendwie schon ein belastbarer Freund in der Not
geworden war. „Bin ich froh, dass ich keinen Klodeckel mit Rosenmusterrelief genommen habe,“
dachte Alex beiläufig, während sie noch immer die Tests miteinander verglich. Vielleicht kam ja doch
noch eine Verdunstungslinie… Nach etwa 15 Minuten gab sie auf und warf die Stäbchen in den
Mülleimer (wobei sie sich zuvor vergewisserte, ob dieser voll war, denn sie argwöhnte, dass sie die
Tests nun doch später wieder hervorholen würde).
Etwas enttäuscht und die Einnistungstheorie herunterbetend verzog sich Alex wieder ins Bett. Also,
sie war nun ES + 7, nur bei ganz wenigen Schwangerschaften war um diese Zeit schon ein Hauch von
hCG nachzuweisen. Und im Grunde wusste sie auch gar nicht, bei welcher Konzentration die PersonaStäbchen anzeigten.
Alex stand nun wieder auf und öffnete im Nebenzimmer den Laptop. Dazu muss es doch Infos geben
im Internet! Natürlich fand sie in Kürze unter dem Stichwort „Einnistung“ alle die Theorien, die sie
zuvor schon zigmal gelesen oder besser „studiert“ hatte. „Ab Tag 3 nach dem Eisprung macht sich
das – hoffentlich, wie Alex anfügte - befruchtete Ei auf den Weg in die Gebärmutter, wo es am 5. Tag
ankommt, so dass ab diesen Zeitpunkt bis sogar noch zum 11. Tag nach dem Eisprung eine Einnistung
möglich ist, allerdings mit einem deutlich erhöhten Fehlgeburtsrisiko.“ Alex konnte das alles schon
auswendig, allerdings fand sie nun noch einen Hinweis, wie diese klitzekleinen Spermien das Ei
überhaupt finden können. Und wenn Matthias Spermien gar nicht bis dahin kamen? Oder wenn er zu
wenige hatte? Vielleicht war ihr Muttermund auch so fest zu, dass die Schwimmer nicht
durchdrangen? Oder der Zervixschleim vertrug sich nicht mit den Spermien?
Darüber fand Alex im Internet nur unzureichend Informationen, allerdings wusste sie nun, wie viele
Spermien pro Milliliter Ejakulat im Rahmen lagen. Alex seufzte. Sie musste unbedingt mit Matthias
sprechen, sie war es leid, als diejenige in der Beziehung zu gelten, an der es lag, dass sich noch kein
Nachwuchs angekündigt hatte. Vielleicht lag es gar nicht an ihr? Dieser Gedanke beschäftigte sie von
Monat zu Monat stärker, und sie empfand es als zunehmend ungerecht, dass Matthias sich in dieser
Hinsicht nicht anbot, etwas zu unternehmen. Sie musste sogar zugeben, dass sie das Gefühl hatte,
das sich langsam immer mehr aufbaute, dass ihr die Schuld für dieses Unvermögen, ein Kind zu
bekommen, ungerechtfertigterweise in die Schuhe geschoben wurde. „Da gehören immer noch zwei
zu“, knirschte sie mit den Zähnen.
Allerdings gestand sie sich auch selbst zu, dass auch sie den Dreh nie bekommen hatte, mit Matthias
ein absolut klares Wort zu sprechen. Männer sind ja so empfindlich, wenn es um ihre Männlichkeit
geht, und ihre zarte Seele sollte durch ein eventuell schlechtes Spermiogramm nicht noch weiter
gebeutelt werden, wo Matthias doch ohnehin schon an der Kinderlosigkeit der Ehe litt. „Das kann ich
ihm nicht zumuten“, dachte Alex, und dann “Wieso eigentlich nicht? Wieso soll ich alles tun, um so
ein Kind zu produzieren, und er macht gar nichts???“
Draussen sangen die Vögel ihren morgendlichen Gesang, als Alex leicht fröstelig aber wild
entschlossen, mit ihrem Mann zu sprechen, wieder ins Bett krabbelte. Anders als den Tag zuvor
drehte sie ihm aber demonstrativ den Rücken zu. Auch wenn er es jetzt nicht sah, so war dennoch
fühlbar: Alex war innerlich sauer auf ihren Mann, und dieses Gefühl liess sich nur durch ein
Spermiogramm abstellen, wie sie eindeutig konstatierte.
Folge 17
Zwei Stunden später räkelte sie sich im Bett, Matthias war schon aufgestanden, um Phoebe zu
füttern und Kaffee zu machen. Er hatte gute Laune, das hörte Alex schon aus dem Schlafzimmer.
Denn er produzierte die Töne, die er ansonsten erst unter der Dusche von sich gab:
Motorengeräusche wie auf dem Nürburgring. Ennennnennnn- brrrrrr- ennnennnnnen. Alex
verdrehte die Augen und musste schmunzeln. Er würde sich nie ändern, und schliesslich mochte sie
genau das ja auch an Matthias. Kurz darauf ein lautes Fragen aus dem Bad „Alex, wann gibst du die
Insulin-Tests ab? Die liegen hier immer noch rum, ich dachte, du hättest sie gestern mitgenommen.“
Komisch, Alex Laune sank in den Keller. Da war noch was… und zwar was zu klären! Durch seine
unbedachte Bemerkung hatte Matthias sich nun völlig geoutet, dass er keinerlei Ahnung hatte, was
in Alex vor sich ging, und allein das empfand sie als Angriff auf ihre weibliche Psyche. Konnte er sich
nicht mal ein wenig Mühe geben?
Zum Glück erwartete er offenbar gar keine Antwort auf seine Frage, und so drehte sich seine Frau
gemütlich noch einmal im Bett herum. Sie wachte erst auf, als Matthias ihr den Kaffee ans Bett
brachte: “Ich dachte, ich mache dir mal eine Freude“, sagte er und gab ihr einen frischen
Zahnpastakuss auf die Wange. Und After shave hatte er auch schon benutzt, er hatte offensichtlich
etwas vor…
„Was hältst du davon, wenn wir heute zu einem dieser Countrylife & Garden-Dinger fahren, am
Schloss findet eines statt?“ Alex hätte sich bald am Kaffee verschluckt, von dem sie sicher war, dass
er der letzte für diesen Tag sein würde (auch wenn der Test noch negativ war), und jeder Tropfen
musste gerettet werden.
„Aber du findest diese Veranstaltungen doch doof?“
„Ja, aber ich weiss, dass du sie liebst.“ Matthias schaute Alex nun mit seinem treuesten Hundeblick
an. Konnte sie in dieser Atmosphäre ein Thema wie ein Spermiogramm anschneiden? Mit Sicherheit
nicht, das stand fest. Und die Ausstellung wollte sie sich auch nicht entgehen lassen. Also wischte sie
alles, was mit ihrem Angriff auf seine Zeugungsfähigkeit verbunden war, kurzerhand aus ihrem
Gedächtnis und strahlte ihn an. „Ach Schatz, das ist nun wirklich eine liebe Idee, das machen wir.“
Der Tag fing verheissungsvoll harmonisch an (wobei Alex natürlich wusste, dass der Abend um so
harmonischer sein würde, da sie solche Tage kannte), Matthias machte das Frühstück, während sie
im Bad war, natürlich nicht ohne die Tests aus dem Mülleimer zu fischen und noch einmal
genauestens zu untersuchen. Aber da sie nun auch so guter Laune war, tat sie das Ergebnis erneut als
wissenschaftliche Testreihe ab, Fragestellung: wie lange ein Test negativ sein kann, auch wenn man
potentiell schwanger ist. Ein Tritt auf die Waage – und die Laune sank kurzfristig. Wieder ein Kilo
mehr, aber sie war ja auch etwa eine Woche vor der Mens, also war das entschuldbar. Die Laune von
Alex war unerschütterlich.
Bereits vom Auto aus konnten sie erste Besucher des Events sehen, die in langen Reihen zum Eingang
gingen. Matthias entschied daher, einen kostenlosen Shuttle zu nehmen, in dem es an
Bequemlichkeit nicht fehlte. Mehrere VW-Autohäuser hatten Phaetons und T4-Busse in
ausreichender Anzahl zur Verfügung gestellt, um Besucher mitsamt ihrer neu-rostigen Rosenstangen
und Clematis vom Parkplatz und zurück zu kutschieren. Natürlich wurde bei der Fahrt der Vorzug
jedes Autos anpriesen. Alex hörte dabei Satzfetzen wie „für bis zu vier Kinder“ oder „genügend Platz
für die ganze Familie“, da sie in einem VW-Bus gelandet waren, dessen Sitze in alle Richtungen
verstellbar waren und sogar Spielflächen für den potentiellen Nachwuchs boten. Matthias vertiefte
sich ganz ins Gespräch und drehte sich dann unvermittelt zu ihr um: „Den holen wir uns auch, wenn
Nachwuchs da ist, ja Liebes.“ Ups, der Stachel sass, denn es war ja eben kein Nachwuchs da, nicht
einmal in Sichtweite. Und das morgendlich erfolgreich verdrängte Gespräch mit Matthias stand auch
wieder vor ihren geistigen Augen. „Es ist wie ein notwendiger Zahnarztbesuch, schon der Anblick der
Zahnpastareklame ruft ein flaues Gefühl in der Magengrube hervor“, räsonierte Alex in Gedanken.
Am Eingang angelangt konnte Alex wieder einmal lesen, dass Familien weniger bezahlen müssen (wie
ungerecht, denn sie fühlte sich ja ohnehin schon bestraft genug) und dass die lieben Kleinen im
Kinderparadies abgegeben werden konnten.
„Schau mal Alex, ist die Kleine nicht süss“, machte Matthias Alex auf ein etwa 5 jähriges Mädchen mit
Kleidchen und blonden Zöpfchen aufmerksam. „Ein echter Wonneproppen“, schwärmte er weiter.
„Also ich würde nie Kinder zu einer solche Ausstellung mitnehmen, die können hier doch gar nichts
anfassen, und dann ist ihnen langweilig, sie fangen an zu quengeln und die Eltern streiten sich über
die Erziehung und gehen beide wortlos miteinander hier lang.“ Basta.
„Naja, wenn wir erst Kinder haben, dann nimmst du Bea mit zu so einer Veranstaltung und ich passe
zuhause auf die Kleinen auf.“ Matthias strahlte sie an mit dem Blick eines Mannes, der etwas ganz
Tolles gesagt hat. Alex schmolz dahin, er war wirklich ein lieber…. Und verschob wieder einmal das
notwendige Gespräch auf den nächsten Tag. Dieser Tag hier sollte ungetrübt bleiben.
Folge 18
Das Vergnügen auf der Veranstaltung blieb ungetrübt; Alex genoss die ungeteilte Aufmerksamkeit
ihres Mannes, der sie mit Erdbeerbowle, Ananasstückchen auf Sahnequark und anderen Leckereien
versorgte. Auch er wusste offensichtlich: Liebe geht durch den Magen. Ausserdem hatte er schon zu
Beginn ihrer Beziehung festgestellt, dass Alex zu den Menschen gehört, die bei Absinken des
Zuckerspiegels schlechte Laune bekommen, deshalb forderte er nie Entscheidungen vor einem Essen,
sondern immer danach.
Hand in Hand schlenderten die beiden die Wege entlang und blieben immer wieder an Pflanzen,
Rankgerüsten und Hutläden stehen. Alex schwärmte nämlich für Hüte und sie besass auch zwei sehr
ausladende Teile, die sie gerne aufsetzte, sich allerdings immer bewusst seiend, dass sie damit doch
sehr auffiel. Aber Matthias gefiel es, wenn seine Frau sich elegant und vielleicht etwas auffällig
kleidete.
Ein wunderbares Exemplar in Schwarz und Weiss hatte es Alex nun besonders angetan, er sass wie
für sie gemacht auf ihren dunklen Locken, die breite Krempe tauchte ihr Gesicht in leichten Schatten
und ihre Augen funkelten vor Freude. Allerdings war der Preis dieses handgearbeiteten
Schmuckstücks ebenso funkelnd, fast 300 € sollte er kosten.
„Er ist wirklich sehr schön“, sagte sie, als sie den Hut auf den Ständer zurücklegte.
„Willst du ihn denn nicht haben?“ fragte Matthias. Spätestens ab diesen Zeitpunkt hätte Alex wissen
müssen, dass ihr Mann mehr für diesen Abend geplant hatte als nur eine heisse Liebesnacht, aber sie
war zu sehr in die Hutauswahl vertieft.
„Aber er ist doch so teuer…“, klagte Alex und dachte auch an die Schuhe, die sie Matthias noch nicht
gebeichtet hatte.
„Ich schenk ihn dir, du siehst toll aus damit. Basta.“ Kurzerhand nahm Matthias den Hut, spazierte
damit zur Verkäuferin, wechselte ein paar scherzende Worte mit ihr und zahlte. Alex war perplex,
normalerweise tat sich ihr Mann mit derartigen Geschenken doch etwas schwerer, weil das Geld
auch bei ihnen beiden nicht mehr ganz so locker sitzen konnte. Da war gerade die Anschaffung der
Sitzgruppe gewesen, und es stand noch eine ganze Menge auf dem Programm, was dringend gekauft
werden musste. Aber egal, Alex zog ihren Herzallerliebsten an sich und küsste ihn liebevoll auf die
Lippen. „Doch nicht hier in aller Öffentlichkeit“, lachte Matthias. „Setz ihn doch gleich auf.“ Gesagt,
getan. Ganz beschwingt gingen die beiden von Stand zu Stand, und Alex war ganz furchtbar stolz auf
ihren neuen Hut. Und sie wusste, dass sie darin gut aussah, keine Frage.
Matthias wusste genau, wie er seiner Frau Freude bereiten konnte, und schon beim Aufstehen hatte
er gemerkt, dass irgend etwas nicht in Ordnung war. Ihm war zum Beispiel aufgefallen, dass sie sich –
nachdem sie aus dem Bad kam – nicht wie sonst an ihn angekuschelt hatte, sonst eher auf Abstand
ging. Nicht, das ihm das sofort aufgefallen wäre, nur wurde sein Rücken etwas kühl, und als er sich zu
seiner Liebsten umdrehte, merkte er, dass sie eben nicht zu ihm gewandt und die gemeinsame
Bettdecke straff zwischen ihnen gespannt war. In diesem Augenblick erschien ihm dies symbolisch,
die straffe Spannung zwischen ihnen.
Vermutlich hatte er es auch nur gemerkt, weil er seit Tagen bei Alex die Gelegenheit abzupassen
suchte, ihr eine ganz grosse Neuigkeit mitzuteilen, eine, die auch Einfluss auf ihr gemeinsames Leben
haben würde: Er würde befördert werden, was bedeutete, dass er in den Raum Frankfurt ziehen
muss, und er hatte quasi schon zugesagt. Und das würde bedeuten, dass Alex ihre Stellung aufgeben
müsse und sie sich eine vielleicht etwas kleinere Wohnung dort würden suchen müssen. Frankfurt ist
etwas teuerer, das wusste er, und deshalb müsste die Wohnung eben etwas kleiner sein. Aber was
sollte dagegen sprechen, sich ein wenig einzuschränken, sie waren jung und ungebunden. Und Alex
könnte ja ihren Kinderwunsch noch ein paar Jahre verschieben, schliesslich bekamen auch andere
Frauen erst mit 40 ihre Kinder. Das würde sie ja einsehen müssen.
„Schatzi, lass uns den Tag geniessen, wer weiss, wann wir wieder so harmonisch irgendwo entlang
schlendern können.“
„Da hast du recht“, strahlte Alex, die von einem Kinderwagen träumte, den sie dann schieben würde
und aus dessen Tiefen ein leichtes Babygeschrei die Stille stören würde.
„Das machen wir“, sinnierte Matthias, der in Gedanken seine Krawatten durchstöberte und einen
Drink am Main mit seinen Geschäftspartnern trank.
Folge 19
„Weisst du, Schatz, wenn wir später einmal einen Garten haben, dann möchte ich auch gerne
Lavendel und Rosen haben; vielleicht nähe ich dann sogar kleine Säckchen und fülle sie
Lavendelblättern, und die kommen dann in die Schränke. Kannst du dir vorstellen, wie schön die
Kinderwäsche dann riechen wird? Und gegen Mottenfrass ist das auch gut, wenn wir dann das erste
haben und die Babysachen für das zweite lagern, dann kann nichts passieren. Habt Ihr eigentlich ein
Taufkleid in der Familie? Ich frage ja nur so für alle Fälle…“, plapperte Alex glücklich vor sich hin.
Schon lange hatte sie sich nicht mehr so wohl und gelöst gefühlt, und endlich hatte sie Zeit und
Musse, mit Matthias ihre Träume vom Kind zu teilen. Sie genoss dieses Auf- und Ablaufen vor den
Ständen, und heute machte es ihr auch gar nichts aus, Kinder zu sehen, denn irgendwie hatte sie das
Gefühl, dass sich bald alles zum Guten wenden wird.
Und als sie dann die süsse Kleine vom Eingang sah, die gelangweilt durch die Gänge lief, Vater und
Mutter jeweils mit grimmiger Miene ohne Körperkontakt oder Gespräch hinterher gehend, da wusste
sie, dass es mit Matthias ganz anders sein würde. Er war eben doch der Richtige, auch wenn sie
manchmal und gerade in der letzten Zeit ihre Zweifel gehabt hatte: Er hatte gemerkt, dass es ihr
nicht so gut ging, und ihr deshalb diesen schönen Tag bereitet.
Alex schmiegte sich im Gehen an ihren Mann an, drückte seinen Arm und stellte sich auf die
Zehenspitzen, um ihm eine Kuss auf die Wange zu geben. Glücklich schaute sie zu ihm auf – denn er
war eben 10 Zentimeter grösser als sie – und sagte: “ Schatz, ich habe dir lange nicht mehr gesagt,
wie lieb ich dich eigentlich habe.“
Matthias seinerseits genoss den Tag ebenfalls. Auch er liebte solche Tage voller Harmonie, an denen
er seiner Frau durch kleine Dinge Freude machte. Und er liebte die Art, wie sie zu ihm aufschaute,
ihre glücklichen Augen und ihre leicht gespitzten Lippen, wenn sie ihm einen Kuss gab. „Ich habe dich
auch sehr lieb, Herzchen.“ An einem teuren Stand mit Winzersekt erster Güte erstanden beide einen
guten Tropfen für den Abend, und Alex schob ihre Bedenken wegen des Alkohols am ES+7 zurück.
Vermutlich gab es ja noch keine Verbindung der beiden Blutkreisläufe, aber ab morgen musste sie
vorsichtig sein. Auf Toilette hatte sie einen Hauch von bräunlicher Farbe in der Slipeinlage entdeckt,
und das konnte ja zu dem Zeitpunkt schon die Ankündigung einer Einnistungsblutung sein. Fast hätte
sie Matthias davon erzählt, weil sie beide heute so vertraulich miteinander umgehen konnten, aber
dann hatte sie doch nicht gewagt, ihn einzuweihen. Denn wer weiss, ob es klappte, und sie
vermutete, dass Matthias trotz aller Zurückhaltung, wenn es um das Thema Kinder ging, unter ihrer
beider Kinderlosigkeit doch mehr litt, als sie manchmal dachte.
Zurück ging es im Phaeton, Matthias wieder vorne mit dem Fahrer plaudern, Alex hinten in
Gedanken. „Ist ja ganz schön, aber der T 4 hatte mir besser gefallen“, hob Alex mit unterschwelligem
Hinweis auf das Gespräch der Hinfahrt an. „Na, das kannst du aber nicht ernst meinen, was meinst
du, wie der abgeht auf der Autobahn…“ Matthias erklärte weiter die Vorzüge des Phaeton vor dem
VW-Bus. Seine Frau wurde immer stiller, sie war enttäuscht. Er hatte den Hinweis auf ihre
gemeinsame Zukunft nicht verstanden, dabei hatte sie doch den ganzen Tag nur davon gesprochen.
Aber sie nahm es ihm nicht krumm, immerhin war er ein Mann. „Ich mein ja nur, weil…“ begann Alex
erneut und verstummte, als sie die abschätzige Handbewegung ihres Mannes sah. Er sprach weiter
mit dem Fahrer, Alex existierte in diesem Augenblick für ihn nicht.
Wie leicht ein schöner Tag durch verminderte Aufmerksamkeit eines Partners verschwinden kann,
das merkte Alex nun deutlich. Dieser Tag war so wunderschön gewesen, und sie hatte sich Matthias
seit langer Zeit nicht mehr so nahe gefühlt, und nun erschein ihr das alles als Lug und Trug. Sicher, sie
übertrieb, bloss weil er ein Fahrzeug mit x PS (Matthias hatte es mehrfach begeistert gesagt, aber sie
hatte eigentlich gar nicht zugehört) besser fand als das familientaugliche, in dem sie ein paar Stunden
zuvor gesessen hatte, brach ihre Ehe nicht auseinander. Es war auch etwas anderes: Den ganzen Tag
über hatte sie das Gefühl genossen, im Mittelpunkt von Matthias zu stehen, eine Gemeinsamkeit zu
entwickeln und eine gemeinsame Zukunftsperspektive zu haben, und dieses teure Auto passte so gar
nicht in diese Zukunftsperspektive. Sie hätte sich jetzt erwarte, dass ihr Mann ihr zumindest
signalisierte, dass er wusste, warum sie den Bus lieber hatte. Aber dieses Signal der Gemeinsamkeit
kam nicht, statt dessen entwickelte er gerade seine eigene Perspektive an ihr vorbei, als er meinte:
„Den Wagen werde ich mir bestimmt zulegen, wenn ich das Geld habe.“ Alex hatte das Gefühl, einen
Schlag ins Gesicht erhalten zu haben.
Folge 20
Doch diese Verstimmtheit hielt nicht lange an, denn Matthias erklärte Alex auf Nachfrage im eigenen
Autos, dass er sich natürlich nie ein solches Auto kaufen würde, sondern dass er nur dem Verkäufer
eine Freude machen wollte, und natürlich fand auch er den Bus viel schöner, der hätte ja auch
genügend PS und wäre so bequem, und er würde auch viel weniger verbrauchen, und der
Wiederverkaufswert sei ja auch viel besser. Alex war besänftigt, sie hatte sich in Matthias doch
getäuscht, und es war ja ihre Schuld, dass sie so dünnhäutig war in der letzten Zeit.
Kurzum, keine 10 Minuten nach Tieflage in ihrer Laune strahlte Alex schon wieder, und als sie die
gemeinsame Wohnungstür hinter sich verschlossen hatten, nutzten beide die Gunst der Stunde und
begaben sich schnurstracks ins Schlafzimmer; allerdings bemühte sich Alex, keinen so starken
Orgasmus zu haben, um die Kontraktionen in der Gebärmutter möglichst gering zu halten. Die
Einnistungsblutung hatte sich zwar nicht weiter gezeigt, aber egal.
Eng angekuschelt an ihre Mann, lauschte sie seinen Worten als er anhob: “Alex, ich wollte dir noch
sagen, dass ich mich in der letzten Zeit ein wenig aus unserer Zukunft herausgehalten habe, und ich
habe dir die ganze Last dafür übertragen. Das war nicht in Ordnung von mir, das weiss ich jetzt.
Zukunft ist etwas Gemeinsames, mein Schatz, findest du nicht auch?“ Zärtlich massierte Matthias in
der von ihr geliebten Art der Fruchtbarkeitsmassage über ihren Bauch, immer von unten nach oben
und sanft von rechts nach links. Das sollte die Eierstöcke anregen und die Arbeit der Gebärmutter
beim Aufbau der Gebärmutterschleimhaut unterstützen. Und ausserdem war es noch hochgradig
angenehm. Alex begann förmlich zu schnurren, und sie pflichtete ihm bei: „Du glaubst gar nicht, wie
erleichtert ich bin, dass du das gemerkt hast. Es war wirklich zu viel für mich, und ich möchte auch
nicht die gesamte Last für alles tragen. Ich wollte mit dir ohnehin schon lange darüber sprechen…“
„Ich auch, Schatz. Weisst du, wenn du dann ein Kind hast, dann möchte ich auch, dass du die
Möglichkeit hast, frei von finanziellen Schwierigkeiten zunächst zuhause zu bleiben, das ist doch auch
in deinem Sinne, oder?“ Matthias strahlte, er stellte sich gerade vor, wie seine hübsche Frau in ein
paar Jahren mit einem schönen Kinderwagen durch die Gegend schob, und wenn er nach Hause kam,
wurde ihm sein Sprössling – für ihn stand eigentlich fest, dass das erste Kind ein Junge sein würde –
so gut riechend gereicht. Hach, er freute sich schon darauf, seinen Sohn auf dem Arm zu halten und
ihm PS-Zahlen ins Ohr zu wispern.
„Ach Matthias, ich freue mich schon so sehr darauf, und ich sehe an deinen Augen, dass es dir auch
Freude machen wird.“ Alex schwebte im siebten Himmel. ENDLICH war die gemeinsame Perspektive
wieder da, so lange Monate war sie ihr aus den Händen geglitten, und jetzt merkte sie, wie sie
darunter gelitten hatte, mehr, als sie sich hatte eingestehen wollen, denn sie war ja mit sich und
ihrem Körper durchaus ganztags beschäftigt gewesen.
„Ich würde gerne dann für zwei oder drei Jahre zuhause bleiben und dann auf halbtags gehen, wenn
dann nicht ein zweites da ist.“
„Dann sollte ich auf jeden Fall jede Chance nutzen, mehr Geld zu verdienen, meinst du nicht, Alex?“
„Klar“, lachte Alex, „ jeder Cent wird dann wichtig, damit ich gaaanz viele süsse Strampler kaufen
kann.“
„Ich wusste ja, dass wir am gleichen Strang ziehen.“ Matthias gab Alex einen zärtlichen Kuss auf die
Nase. „Ich hole uns mal die Flasche Sekt, das müssen wir feiern.“ Summend vor Glück verliess
Matthias das Bett, summend vor Glück lag Alex noch darin und kuschelte sich ein. Vielleicht würde es
ja schon in ein paar Tagen so sein, wie sie es sich vorgestellt hatte, und sie konnte die kleinen
Babyschuhe oder den süssen Teddy oder irgend etwas aus ihrer Kiste gemeinsam mit dem positiven
Test dort deponieren, wo Matthias es auf jeden Fall finden würde! Die Augen fest zu kuschelte sie
sich noch ein wenig tiefer, im Hintergrund hörte sie ihren Mann, der Frank Sinatras New York im CDPlayer eingelegt hatte. Das passte doch zu Frankfurt, oder? A number One!!! ER würde A number
One werden! Und dass Alex so einfach mitziehen würde, das hätte er nicht gedacht, aber wie oft
schon hatte er sich getäuscht!
„Naja, die karrieregeile Meier werden sie mir nicht vorziehen, die ist 34 und kann ja auch noch Kinder
bekommen, der werden sie so einen Posten nicht geben… Stell dir mal vor, eine Marketingdirektorin
mit Kleinkind!“ Matthias kicherte vor sich hin.
„Wieso die Meier, was hast du denn mit der zu tun?“ fragte Alex aus den Tiefen der Kissen und
richtete sich müde auf, um das Glas Sekt zu trinken. So ganz klar war ihr nicht geworden, was ihr
Mann gerade meinte, aber es interessierte sie auch nicht so recht, denn sie wollte jetzt nicht an den
Job denken, weder an ihren noch an seinen. Ihre Priorität waren die Kinder, und sie liebte sie jetzt
schon und sah sich mit einem neuen Kinderwagen durch die Gegend schieben. Nur die Organisation
des Arbeitsplatzes würde schwierig werden, aber da musste Matthias eben seinen Beitrag leisten.
„Und Frankfurt hat ja auch sehr schöne Ecken…“ sagte Matthias in diesen Augenblick.
Folge 21
„Wieso Frankfurt? Was ist denn damit?“
„Habe ich dir doch gesagt, die neue Stelle ist in Frankfurt.“
„Moment mal, welche neue Stelle?“ Alex hatte sich abrupt im Bett aufgesetzt und versuchte ziemlich
verzweifelt, Ordnung in die Bruchstücke von Sätzen, die sie aufnahm, zu bringen. Matthias hatte
definitiv nichts von Frankfurt gesagt, das hätte sie gewusst, denn sie hasste grosse Städte wie diese
Metropole, und die Möglichkeit des Appelwoi-Trinkens machte es nicht richtig besser. „Kannst du mir
mal erklären, wovon du redest?“ Ihr war flau im Magen, der Sekt schmeckte schal und die Schönheit
des Tages war wieder wie weggeblasen.
Schon früher hatte Matthias manche Entscheidung ohne sie getroffen, und sie hatten danach
erbitterte Kämpfe darum geführt, wie Entscheidungen in einer Partnerschaft zustande kommen.
Immer hatte Matthias hinterher gesagt, er würde das nie wieder tun, und immer war alles unter dem
Deckmäntelchen des „Ich tue es doch nur für uns beide“ geschehen, aber ebenso regelmässig war sie
zutiefst verletzt gewesen, und der Riss, der durch ihre Ehe ging, war nur schwer zu kitten gewesen.
Im Prinzip war er nur gekittet worden, weil sie es so wollte.
„Aber ich tue das doch nur für uns beide, mein Schatz“, fügte Matthias an. Da war es wieder, er hatte
etwas entschieden, ohne sie zu fragen. Sie wusste zwar immer noch nicht genau, was es war, aber sie
kannte ja diesen verlogenen Satz, denn Matthias Zukunft wäre ja genauso verlaufen, wenn es sie
nicht gäbe, er hätte genauso eifrig nach der nächsten Möglichkeit zur Beförderung gegriffen. Auch
alleine. Und dass das Mehr an Geld für sie beide positiv war, das war ja klar. Alex fiel ins Bodenlose,
sie war so tief verletzt, dass sie mit Mühe die Fassung beheilt. Es war dieses absolute Gefühl der
Ohnmacht, das Gefühl, dass sie sich gegen ihren Willen zu etwas entscheiden musste, vielleicht auch
das Gefühl, einfach keinen Wert für ihren Mann zu haben und benutzt zu werden. Leise sagte sie:
„Erklär mir mal, wovon du redest, aber überleg dir gut, was du mir da auftischst.“ Das Glas mit dem
Sekt stellte sie zur Seite, und die Bettdecke zog sie bis zur Schulter, um ihre Blösse zu bedecken, die
ihr in diesen Augenblick irgendwie peinlich war.
Matthias setzte sich vertraulich auf ihren Bettrand und erzählte: „Hab’ ich doch gerade erzählt, die
Stelle des Marketingdirektors wird frei, und ich bin ganz oben im Rennen. Das Büro ist in Frankfurt,
zunächst muss ich mir da ein Zimmer nehmen, und dann nehmen wir uns eine kleine Wohnung, die
sind ja so teuer da, und du suchst dir da was Neues. Du findest bestimmt was, bist ja `ne Supergute in
deinem Job.“ „Hast du nicht gerade in bezug auf die Meier gesagt, die bekommt den Job nicht, weil
sie noch Kinder kriegen kann? Meinst du, das wäre bei mir anders? Und ich will ja auch sofort Kinder,
das ist dir klar, oder? Und deinen Chauvi-Spruch von vorhin mit der Meier, den hättest du dich auch
sparen können…“
Alex war nun wutentbrannt, sie riss die Decke zur Seite und wühlte sich aus dem Bett an Matthias
vorbei. In der Tür zum Bad drehte sie sich noch einmal um: „Denk’ `mal darüber nach, was du gerade
gesagt und getan hast, du hast eine Entscheidung getroffen, ohne mich zu fragen, weil du wusstest,
dass ich nein sage, aber nicht mit mir! So funktioniert das mit mir nicht, ist dir das klar? Wir können
über alles reden, und vielleicht ist es sogar die beste Lösung, gemeinsam nach Frankfurt zu gehen,
aber du hast mich ja gar nicht gefragt. Du wolltest meine Meinung dazu gar nicht. Und ich habe
schon verstanden, was du mir sagen willst: Kinder ja, aber nicht gegen meine Karriere, also nicht
jetzt, sonst stimmt die Kohle nicht, weil deine süsse Frau ja mitverdienen muss, damit der Standard
stimmt. Und wenn die sich erst einen Job suchen muss, dann heisst das Geldverlust, und danach
kann sie ja nicht sofort wieder schwanger werden, stimmt’s? Weil man Frauen ja eigentlich sowieso
keinen guten Jobs geben darf, denn die werden ja schwanger und fallen dann aus, oder?“
Das war zwar etwas unzusammenhängend, aber ihre Fassung war erschöpft, und sie rauschte ins
Badezimmer, schloss die Tür und fing auf dem Klodeckel sitzend an, haltlos zu weinen. Beiläufig aber
entschlossen warf sie alle Utensilien weg, die auch nur im Entferntesten an den Kinderwunsch
erinnerten, den Persona, die Teststäbchen, die Packung Schwangerschaftstests, das Thermometer,
das Paracetamol, einfach alles. Matthias klopfte ein paar Mal zaghaft an die Tür, aber sie brüllte ihn
nur – und wie sie fand verdientermassen – an, er solle sie in Ruhe lassen. „Und von dem wollte ich
Kinder!“ schrie sie innerlich und heulte erneut laut auf.
Folge 22
Wie das immer so ist, beruhigt auch die aufgebrachteste Frau sich irgendwann einmal. Vor der Tür
hörte Alex nur ein leises Kratzen, aber das konnte unmöglich Matthias sein, eher war es Phoebe, die
noch kein abendliches Futter bekommen hatte. Alex schloss also die Tür zum Bad auf und horchte in
die Wohnung. Nichts war zu hören ausser dem Atmen ihrer Katze und deren Krallen auf dem Parkett.
Matthias hatte sich entweder zurückgezogen, vermutlich schraubte er gänzlich sauer an einer seiner
Maschinen.
Das liess Alex zuhause freie Bahn. Sie würde ihrem Mann – von dem sie noch nicht wusste, ob bzw.
wie lange er noch ihr Mann bleiben würde – nicht so leicht vergeben. Entschlossen marschierte sie
zunächst in den Anschlussraum, in dem Waschmaschine und Trockner standen. Dort wurde ihre
Wäsche von der männlichen säuberlich getrennt. Waschen würde sie für ihn nicht mehr, das war
klar. Dann ging sie zur Graderobe und legte die Zettel der Reinigung auf den kleinen
Garderobentisch: Sachen von der Reinigung abholen konnte er selbst. Den Zettel, auf dem er ihr
aufgeschrieben hatte, was er alles aus der Stadt benötigte, legte sie feinsäuberlich zerrissen neben
seine Unterlagen für den morgigen Tag. Dann öffnete sie ihren Laptop und kopierte seine Dateien –
ups, da waren auch ein paar wichtige – auf CD und löschte das Original auf der Festplatte. So ging sie
von Zimmer zu Zimmer und trennte ihre Sachen von denen ihres Mannes. Innerhalb von kurzer Zeit
waren ihre Bilder im Arbeitsraum, der sich immer mehr zu einem Alex-Raum verwandelte, und je
mehr sie umräumte, desto besser gefiel es ihr. Kurzum, sie zog aus dem gemeinsamen Schlafzimmer
aus und richtete sich ihr eigenes ein. Ebenso brachte sie seine alten Sachen – zum Teil aus Kisten und
Kästen im Keller - im Schlafzimmer schön arrangiert unter. Zu guter Letzt schrieb sie sich noch einen
Zettel, der sie am nächsten Morgen daran erinnern sollte, ihm die Vollmacht für ihr Bankkonto zu
entziehen. Alle notwendigen Papiere hatte sie schon zu sich ins Zimmer geholt, um im Zweifel die
Scheidung einreichen zu können.
„So, sieh zu, wie du ohne mich klar kommst“, dachte sie erbost. Und um ihm sein Alleinsein noch
deutlicher zu machen, räumte sie zudem den Kühlschrank aus (im Keller gab es eine zweiten, aber an
den würde er bestimmt nicht denken) und nahm das Telefon in ihr Zimmer. Und dann wollte sie in
aller Ruhe einen Schlachtplan für die nächsten Wochen entwerfen.
Als Matthias nach hause kam, fand er trügerische Ruhe vor. Nur Phoebe schnurrte um ihn herum,
Alex war nicht zu hören. „Zum Glück ist die Schlafzimmertür nicht abgeschlossen“, dachte er
erleichtert, als er die Klinke heruntergedrückt hatte und sich die Tür öffnete.
“Schatzi?“ fragte er, als er über einen Karton stolperte. Er konnte sich in der Dunkelheit gerade noch
abfangen und machte schnell das Licht an. Was er dann sah, war kaum zu fassen. Alex hatte alle
Dinge aus seiner Junggesellenbude genauso aufgebaut, wie er es etliche Jahre zuvor
zusammengestellt hatte, nur wirkte es nun doch recht unwirklich, denn das Bett war eben
unverkennbar das Ehebett, und das war leer, zumindest auf der einen Seite, auf seiner Seite fanden
sich all die Dinge, deren Existenz er über Jahre zu vergessen gesucht hatte, das Plüschkissen im
Schalke-Motiv, die Gabel einer seltenen Kawa über dem Bett (allerdings nur notdürftig befestigt, sie
würde ihm unweigerlich bei der ersten starken Bewegung im Bett auf den Kopf fallen), ein
Elefantenzahn, den sein Onkel ihm einmal geschenkt hatte, und den er heute wegen der rigiden
Artenschutzbestimmungen nicht mehr loswerden konnte, ohne sich strafbar zu machen, diverse alte
kultige Cola Dosen und sogar eine Reihe alter Jeans, in die er bestimmt nun nicht mehr passte. Und
auch seine Daumendecke war AufSchalke!
Alex war also weg! Mit dieser Reaktion hatte er überhaupt nicht gerechnet, bisher hatten sie doch an
einem Strang gezogen, und der Tag war so perfekt gewesen. Was war denn verkehrt gelaufen?
Matthias kramte in seinem Schrank und holte sich das männliche Allheilmittel Nr. 1 heraus: Whisky,
eine alte Flasche, die er dort für harte Zeiten gebunkert hatte. Er musste seine Situation genau
durchdenken. Doch je mehr er trank, desto stärker wurde das Gefühl, dass Alex, seine Alex, ihn im
Stich gelassen hatte. Oder hatte er was Falsches gesagt? Ja, okay, er hatte ihr das mit Frankfurt nicht
so recht sensibel gesagt, aber sie wollte doch abgesichert sein, oder? Obwohl er das kleine
Teufelchen „Gewissen“ durch Alkohol zu betäuben suchte, gelang es ihm nicht, im Gegenteil, je mehr
er trank, desto deutlicher wurde das Gefühl, dass er das Ganze ziemlich verpatzt hatte. Aber er
konnte nicht sagen, was genau er anders hätte machen sollen. Aber ohne Alex Leben, das wollte er
doch auch nicht… in Selbstmitleid und schlechtem Gewissen versunken schlief auch Matthias
irgendwann ein, während Alex die ganze Zeit gelauscht hatte, ob er vielleicht zumindest den Versuch
machen würde, zu ihr zu kommen. Und sich vielleicht sogar zu entschuldigen, auch wenn sie die
Entschuldigung natürlich auf keine Fall angenommen hätte.
Folge 23
Alex hatte letztendlich in der Nacht ihre Tür geöffnet, um zumindest Phoebe die Möglichkeit zu
geben, in ihr Bett zu kriechen; sie sehnte sich nach Zuspruch, und der einer Katze war im Prinzip
besser als der des eigenen Mannes – zumindest derzeit. Ziemlich pünktlich um 5 Uhr warf Phoebe
dann ihren kleinen Schnurrmotor an und schaute ihrer Dosenöffnerin tief in die geschlossenen
Augen. Das hatte bisher nie die Wirkung verfehlt, im Zweifel wurde es durch Verkürzung der
Entfernung und Einsatz der Schnurrhaare an Alex Gesicht verstärkt. Aber Alex war ohnehin schnell
wach, oder zumindest öffnete sie die Augen und murmelte „Na, meine Schöne“, um dann
mechanisch Phoebe zu kraulen. Schon mancher Mann hatte zu Alex gesagt, dass er bei ihr Katze sein
wollte, aber der Hinweis, dass das unweigerlich mit einer Kastration verbunden sei, liess sie dann
doch zurückschrecken „Obwohl, das wäre jetzt genau richtig für Matthias, er will ja eh nur rein
theoretisch Kinder.“ Der Ärger war nicht verraucht, Matthias hatte heute keine Chance.
„Feigling“, schnaubte Alex, als sie ins Bad ging und dabei das Alkoholschnarchen ihres NochEhemannes hörte oder besser hören musste. Nach dem ersten Blick in den Spiegel (nicht so richtig
erbaulich, fand Alex) folgte ein Pieseln ohne LH-Test, Alex war bockig. Dennoch sammelte sie alle
Utensilien aus dem Mülleimer feinsäuberlich wieder heraus, den Persona würde sie jetzt ja zur
Verhütung nehmen. Aber nicht mit Matthias, das stand fest. „Jawoll ja“, sprach Alex in Gedanken mit
sich selbst. Weiterer Gedanken war sie noch nicht fähig, aber wie ferngesteuert konnte sie zumindest
in der Küche einen Kaffee aufsetzen. Und zwar genau soviel, dass Matthias später denken würde, er
hätte noch eine ganze Tasse, und dann war es eben nur eine Dritteltasse. Sie kannte ihn, er würde
sich ärgern. Und genau diese kleinen Gehässigkeiten gefielen Alex heute. Zur Vorsicht versteckte sie
aber noch den Zucker; zwei Stückchen lagen ja noch auf der Fensterbank, sollte er die doch nehmen,
der Storch brauchte sie ja nicht mehr.
Ganz leise, denn sie wollte Matthias auf keinen Fall über den Weg laufen, machte sich Alex fertig und
fuhr viel zu früh ins Büro. Immerhin konnte sie ab 6 Uhr einstempeln, das kam schon hin. Und dort
würde sie zunächst den Schlachtplan vom Vorabend weiterentwickeln.
Matthias hingegen wurde durch ein Geräusch geweckt, das ihn an Big Ben erinnerte, und das ebenso
dröhnte: sein Wecker. Als er die Augen ansatzweise – jede Bewegung fiel ihm massiv schwer –
öffnete, blieb sein Blick an Fussballutensilien hängen. Oh Gott, bestimmt kommt gleich Ilse durch die
Tür und er ist wieder 16 und er träumt das Ganze nur. Aber er war schon wach, das merkte er am
bohrenden Kopfschmerz. Die Hände an die Schläfen gedrückt wankte Matthias ins Bad, um sich die
Misere im Spiegel anzusehen. Der Anblick war erschreckend, und so langsam kam die Erinnerung
zurück, dass er einen heftigen Streit mit Alex gehabt hatte. Und Alex war weg.
Matthias sank auf dem Klodeckel, der sonst Alex als seelische und körperliche Stütze diente,
zusammen und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Er musste was tun, und gestern mit Hilfe von
Jack Daniels war das auch alles klar gewesen, aber heute? Was musste er tun? Wie spät war es
überhaupt. Ein Blick auf die Uhr beruhigte ihn, er konnte aber nicht ahnen, dass Alex diese Uhr, dieweil Matthias Zeiten immer bis zum Ende ausreizte – immer 30 Minuten vorging, auf Normalzeit
gestellt hatte, und so war es eigentlich zwar die richtige Zeit, die angezeigt wurde, für Matthias aber
eine halbe Stunde später als sonst. Okay, noch Zeit für einen Kaffee, den hatte er dringend nötig.
Erfreut stellte er fest, dass Alex doch dagewesen sein musste, denn es war frischer Kaffee in der
Thermoskanne, doch als er sich beherzt den üblichen Becher eingiessen wollte, tröpfelte dieser
gerade bis zur Drittelmarke ins Porzellan. Auch die Suche nach seinem lebensnotwendig Zucker war
wenig erfolgreich, und da Matthias Kaffee ohne Zucker hasste, er ihn aber heute zwangsläufig
benötigte, schleppte er sich doch tatsächlich zum Fenster und nahm den Zucker von der Fensterbank.
„Ist ja krank“, murmelte er und liess die grauen Teilchen in die Kaffeebrühe plumpsen. Dann
inspizierte er die Wohnung: Das Arbeitszimmer war verschlossen, aber ein Blick durch das
Schlüsselloch liess ihn erahnen, dass Alex hier Zuflucht genommen hatte. Das war ein gutes Zeichen,
immerhin wohnte sie weiter in der gemeinsamen Wohnung! Irgendwie war er darüber erleichtert,
auch wenn er gleichzeitig dachte, dass sie sich doch allzu sehr anstellte.
Wäsche, Reinigungszettel und Einkaufsschnipsel ignorierend machte sich Matthias auf ins Büro,
nachdem er mehr Zeit als sonst für das Aufbereiten seiner Selbst gebraucht hatte. Und gut war seine
Laune auch nicht. Im Büro erwartete ihn dann auch noch der Kampf gegen Frau Meier, und genau
dazu hatte er nun am heutigen Tag gar keine Lust. Der Wortwechsel diesbezüglich hatte ihm
zumindest etwas zu denken gegeben, und wenn er fair war, so musste er zugeben, dass Frau Meier
nicht nur attraktiv, sondern auch noch auffallend gut in ihrem Job war, ohne dies irgend jemanden
unangenehm merken zu lassen. Und eine nette Kollegin war sie auch, seine Beschreibung von ihr war
demnach völlig ungerecht gewesen.
Matthias war mit seinen Gedanken also bei verschiedenen Frauen, als sein Blick auf die grosse Uhr an
einer Apotheke fiel. Er war eine halbe Stunde zu spät, und das, wo er ein wichtiges Meeting hatte.
Hektisch versuchte er, inmitten des recht starken Verkehrs durch Überholen Zeit aufzuholen, als ein
Wagen vor ihm abrupt stoppen musste.
Folge 24
Alex hingegen hatte den Morgen recht entspannt verbracht. Im Büro angekommen, wo sie ihre 150
kg schwere männliche Vorzimmerelfe beim Lesen der Lisa zutiefst erschreckte (Chefs dürfen generell
nicht vor 8 Uhr erscheinen, aber diese Regel hatte Alex heute aus gegebenem Anlass gebrochen),
hatte sie die Tür hinter sich zugezogen – so immerhin hatten beide Ruhe – und im Internet zunächst
nützliche Seiten gesucht. Als ersten Suchbegriff hatte sie das Wort „Scheidung“ eingegeben und
neben zahlreichen Anwalts-Homepages auch eine psychologische Betreuung einer Klinik gefunden:
„Während die Scheidung selbst - juristisch gesehen - nur ein Ereignis ist, ist sie aus
sozialwissenschaftlicher oder therapeutischer Sicht Teil eines komplexen, mehrdimensionalen und
dynamischen Veränderungsprozesses. Dieser Prozess kann zwei und mehr Jahre dauern.
Nach Textor … gliedert sich dieser Prozess in mehrere Phasen: nämlich
die Vorscheidungsphase,
die Scheidungsphase und
die Nachscheidungsphase.
Die Vorscheidungsphase wiederum lässt sich in eine Phase der wachsenden Unzufriedenheit und
eine Phase des Entscheidungskonfliktes einteilen. Sie kann zwischen einigen Wochen und 5 oder
mehr Jahren dauern.“ „Aha, dachte Alex, in 5 Wochen bin ich also doch ein ganzes Stück weiter!“
Immer noch grimmig las sie alle Informationen. „Der erste Teil dieser Phase ist der Zeitraum der
Verschlechterung der Ehebeziehung. ..Positive Gefühle wie Liebe, Zuneigung, Vertrauen und Achtung
schwinden und die Ehegatten sehen ihre Beziehung zunehmend in einem schlechten Licht. ...In der
eigenen Ehe wird in der Hauptsache das Negative und bei den anderen Ehen das Positive gesehen. In
dieser Phase nimmt die Zahl der ungelösten Konflikte zu; entweder durch Vermeidung – man spricht
nicht mehr miteinander – oder man streitet, aber die Kompromissbereitschaft nimmt rapide ab. Statt
dessen sind die vorherrschenden Gefühle inzwischen Unzufriedenheit, Ärger, Enttäuschung,
Resignation.“
Bei den typischen Konfliktthemen fand sich Alex erneut wieder: “Da geht es um die Beteiligung an
der Hausarbeit, um das Ausfüllen der Elternrolle, um die Präsenz als Gesprächs- Freizeit- und
Sexualpartner. Unerwartete finanzielle und berufliche Probleme können erschwerend
hinzukommen… Verfügt das Paar über gute Möglichkeiten miteinander zu kommunizieren und gute
Konfliktlösungsstrategien, so lässt sich eine Entwicklung, die unter Umständen in Scheidung endet,
vermeiden.“
Alex sank das Herz; so ganz war sie von der Scheidung nicht überzeugt, und dass sie keine
kommunikativen Fähigkeiten haben sollte, wollte sie auch nicht eingestehen. Dennoch war eines
klar: Sie würde das Gespräch mit Matthias nicht beginnen, soviel stand fest, er war am Zuge.
Nie war er so richtig für sie da, und die Verantwortung für die Beziehung hatte er ihr schon lange
überlassen. Siedendheiss fiel Alex ein, dass sie nun so lange versucht hatte, schwanger zu werden,
nun aber eine Schwangerschaft für sie nicht infrage kam, wo das Ende ihrer Ehe bevorstand. Und was
wäre wenn? Wie angestochen nahm sie ihre Tasche, raunte ihrem Vorzimmermann zu „Ich bring mal
eben Tee weg“ und verschwand. Sie hatte vor zwei Tagen einen Schwangerschaftstest in die
Handtasche getan, und den nutzte sie nun auf der Damentoilette des Bürogebäudes.
Gott sei Dank, negativ! Aber sie wusste genau, dass es noch ein Wende der Dinge geben konnte, und
zum ersten Mal seit Monaten wünschte sie, sie hätte diesen Monat verhütet. Innerlich schüttelte sie
den Kopf, „Bestimmt sind es die Hormone, die mich so durcheinander bringen. Natürlich würde ich
auch alleine ein Kind gross bekommen.“ beruhigte sie sich, aber dann: “Welche Hormone?!“. So ganz
wohl war ihr in ihrer Haut nicht, und die Unsicherheit, nicht schwanger zu sein, es aber zu wollen,
hatte sich wirklich über Nacht in eine Unsicherheit, eventuell schwanger zu sein, und es nicht zu
wollen, geändert.
Als sie in ihr Büro zurückgekehrt war, hörte sie, wie ihr Vorzimmermann offensichtlich mit Matthias
sprach. Schon aus der Ferne schüttelte sie den Kopf, sie wollte ihn nicht sprechen. „Nein, tut mir leid,
Ihre Frau ist gerade nicht am Platz…. Ja, das kann sein, okay, ich sage es ihr.“ Kurze Zeit später war
Matthias wieder in der Leitung, doch diesmal nahm Alex den Hörer auf: „Manthei, guten Tag.“
Matthias erzählte etwas von einem Unfall und dass er nun von ihr abgeholt werden wollte, aber da
er sie in derselben Situation vor drei Jahren im Stich gelassen hatte, weil seine Büromöbel kommen
sollten, reagierte Alex nur folgendermassen: “Matthias, bist du es? Hallo…. Krrrrrrr….tssssse…. die
Verbindung ist so schl… hallo, bist du tsssse….krrrrrrrrrr….hallo? Hallo?“ und legte befriedigt auf.
Sollte er doch sehen, wie er ohne sie zurecht kam, verletzt war er offensichtlich ja nicht.
Folge 25
Matthias rief nicht wieder an, allerdings hätte er seine Frau auch gar nicht erreicht, denn diese hatte
nun endlich die Wartezeit beendet, bis sie Hanna würde anrufen können. Wie in alten Zeiten erzählte
Alex ihrer Freundin in epischer weiblicher Breite und brühwarm alle Details der Auseinandersetzung
mit ihrem Mann, und solidarisch wie Freundinnen nun mal sind oder zumindest sein sollen, fand
Hanna die richtigen Worte zur Unterstützung wie „So ein Schuft“ oder „Genau“ oder „ Das gibt es ja
wohl nicht, das hat er gesagt?“ Alex fühlte sich nun wieder wohler. Das kleine Detail ihrer
Überlegung, ob sie nun dennoch Kinder haben wollte mit dem „was wäre wenn ausgerechnet jetzt“
unterliess sie zu erzählen.
Nach dem Gespräch vertiefte sich Alex halbherzig in ihre Arbeit, stapelweise lagen die Vorgänge vor
ihr auf dem Schreibtisch, doch so recht wollte ihr nichts gelingen. Eigentlich hatte sie für alles ihre
eigenen Routinen entwickelt, so dass sie sichere und schnelle Entscheidungen vorbereiten oder
treffen konnte. Gedanklich schlug sie im Wörterbuch nach: „Rou|ti|ne [ru– f. –nur Sg.] Übung, durch
Übung und Erfahrung gewonnene Fertigkeit; R. in etwas haben [frz., urspr. ”Gewohnheit, sich auf
gebahnten Wegen zu halten“, dann auch ”Wegekundigkeit, Wissen um den richtigen Weg“, zu
Route]“. „Wunderbar, das Wissen um den richtigen weg, ja, das fehlt mir gerade“, dachte Alex.
Im Prinzip war es in ihrer Ehe auch nichts anderes, für alle Reaktion eines Partners hat der andere
eine immer gleich bleibende Art der Entgegnung. Das Wörterbuch hatte es gesagt, es war
Gewohnheit geworden. Wenn sie sich stritten, ging Matthias schrauben usw. Und so ändert sich
nichts, es wird aber auch nicht hinterfragt, weil das System ja funktioniert. „Vermutlich ist das für
Matthias auch so, wenn ich sauer bin, weiss er, dass ich das nicht lange aushalte, und irgendwann
lenke ich ein, und er ist damit durchgekommen. Aber ich fühle mich dann weiter unwohl“, sinnierte
sie vor sich hin. Vor Jahren hatte sie bei einem Seminar einmal gehört „Man ändert ein System nur,
indem man sich selbst ändert“. Sie hatte das zunächst nicht verstanden, sie meinte ja, dass ihre
Reaktionen korrekt sind, doch jetzt verstand sie es. Solange sie im System mitmachte, würde sich nie
etwas ändern. Schon gar nicht Matthias.
Sie war noch in Gedanken versunken und trank beiläufig ihren Tee der zweiten Zyklushälfte. Auch das
war eine ihrer Routinen geworden. Manchmal fragte sich Alex, wie ihr Leben vor dem Kinderwunsch
ausgesehen hatte? Was hatte da ihren Tag bestimmt? Heute war es der Gedanke an den Zyklustag,
der Gedanke an die Tests zuhause, die Tees oder die Tropfen und Globuli, der Verzicht auf die zweite
Tasse Kaffee an den Tagen nach dem Eisprung, alles drehte sich um das Thema Kinderwunsch. Und
die Zeit eine Woche nach dem Eisprung war besonders anstrengend, schwebend zwischen Hoffnung
und Verzweifelung.
Auch ihr Verhalten zu Frauen hatte sich geändert: Frauen wurden von ihr oft kategorisiert in Frauen,
die Kinder hatten, und solche, von denen sie meinte, sie wollten eventuell noch Kinder, dies waren
potentielle Rivalinnen um die ungeborenen Kinder. Obwohl sie wusste, dass es völliger Unsinn war,
hatte sie manchmal das Gefühl, dass mit jeder Schwangerschaft, von der sie Kenntnis bekam, der
„Fundus“ an potentiellen Kindern kleiner wurde, als sei es ein nicht nachwachsendes Gut, und damit
schwände ihre Chance auf ein Kind auch jedes Mal. Am einfachsten waren für sie die Frauen, die
jenseits der Wechseljahre waren, mit ihnen konnte sie ungezwungen umgehen, weil sie mit keiner
unangenehmen Überraschung zu rechnen hatte. Diese Frauen waren ja genauso unfähig, wie sie sich
oft fühlte, und sie war ihnen einerseits näher, andererseits hatte sie ab und zu ein kleines Gefühl der
Überlegenheit ihnen gegenüber, denn sie selbst würde ja noch Kinder bekommen-. Oder musste sie
sich irgendwann damit abfinden, selbst kinderlos zu bleiben?
Sie sehnte die Zeit zurück, in der diese Überlegungen für sie keine Rolle gespielt hatten, und sie
empfand sich selbst als schlecht. Sie wusste genau, dass ihre Gedanken über die Frauen, denen es
letztendlich nicht anders gegangen war als es ihr vielleicht gehen konnte, bitter ungerecht waren, sie
wusste, dass sie genauso war, aber den eigenen Spiegel vorgehalten zu bekommen war eben nie
angenehm, und Alex liess es auch nur selten zu. Und wenn sie dies tat, dann bewunderte sie diese
Frauen, denen das eigene Schicksal ihren Kinderwunsch nicht erfüllte, die aber nach vielen Jahren mit
einer so grossartigen Gelassenheit mit dem Thema Kind umgehen konnten, von der sie nur Träumen
konnte. „Was für eine Kraft in diesen Frauen steckt!“ dachte sie häufig bewundernd und hielt sich
ihre eigene Tante Ingeborg vor Augen, die immer gerne Kinder gehabt hätte, dies aber nie erleben
durfte, und durch ihre innere Weisheit der Ansprechpartner aller ihrer Nichten und später
Grossnichten geworden war.
Alex schüttelte unbewusst den Kopf, sie hätte nie gedacht, dass ihr das auch passieren könnte. Aber
derzeit machte sie sich über ihr Leben Gedanken, und sie war sich ziemlich sicher, dass der Weg, den
sie derzeit einschlug – nämlich diese Abhängigkeit ihrer selbst vom Kinderwunsch – langfristig nicht
der richtige war.
„Macht aber nichts“, richtete sie sich schnell wieder auf wandte den Blick zur Zukunft. Und mit einem
beherzten Schluck Zyklustee entschied sie, diesen Monat schwanger geworden zu sein – mit oder
ohne Matthias.
Folge 26
Nachdem Alex den Tee zum berühmten Örtchen gebracht hatte – nicht ohne eine Einnistungsblutung
zu prüfen – klopfte es an ihre Bürotür. „Frau Manthei? Kann ich kurz stören?“ Eine ihrer
Mitarbeiterinnen bat um ein kurzes Gespräch, und an ihrem Gesichtausdruck merkte Alex, dass es ihr
nicht leicht viel, das Thema anzuschneiden. Sie holte tief Luft: „Ich muss Ihnen mitteilen, dass ich
schwanger bin…“ Alex spürte einen Klumpen in ihrem Bauch, aber sie wusste, dass Frau Berthold sich
schon lange ein Kind gewünscht hatte, insbesondere, da ihre Mutter erst kürzlich schwer erkrankt
war, und deshalb konnte sie sich trotz ihres eigenen Kinderwunsches für sie freuen : “Das ist ja
wunderbar, Frau Berthold, ich freue mich für Sie. Wie weit sind Sie denn?“ Und zu ihrer Erleichterung
merkte sie, dass sie sich wirklich freuen konnte, und dass die negativen Gedanken der letzten Stunde
wohl nur Ausfluss der fast schlaflosen Nacht gewesen waren. „13. Woche, ich wollte mir ganz sicher
sein, so einfach ist das ja manchmal nicht“, sagte Frau Berthold, und bei den letzten Worten wurde
ihre Stimme etwas leiser. „Nein, da haben Sie recht, es scheint immer einfach, aber das ist es oft
nicht“, entgegnete Alex und schaute Frau Berthold in die Augen, und beide wussten, dass jede von
ihnen mehr bei diesem Blick von der anderen verstand als je zuvor.
„Haben Sie sich schon Gedanken gemacht, ob Sie danach wieder mit dem Arbeiten anfangen wollen?
Und wenn ja, wann? Sie haben doch gerade ein Haus gekauft, oder? Haben Sie sich schon über das
Erziehungsgeld Informationen eingeholt? Ich meine, wissen Sie, ob Sie mit dem Geld hinkommen,
wenn Sie zuhause bleiben? Ich jedenfalls würde mich freuen, wenn Sie wieder kommen, und
vielleicht können wir frühzeitig anleiern, dass Sie einen Telearbeitsplatz bekommen können, wenn
Sie wollen?“ Alex war ganz Feuer und Flamme, sie hatte sich immer geärgert, dass viele Chefs es
ihren Mitarbeiterinnen schwer machten, mit einem Kind zu arbeiten, dabei war doch alles nur ein
Frage der Organisation. Beide Frauen diskutierten noch eine Weile die Möglichkeiten, die sich in
Zukunft in bezug auf den Arbeitsplatz von Frau Berthold ergeben könnten, und Frau Berthold verliess
das Zimmer sichtlich erleichtert.
„Und in ein paar Monaten sage ich es meinem Chef.“ Wie es ihre Art war, schob sie den Kiefer
entschlossen etwas vor. Und dann machte sie Pläne für die nächste Zeit: Sie schlief ja nicht mehr mit
im Schlafzimmer, aber sie hatte ja fast drei Wochen bis zum nächsten Eisprung Zeit, das zu regeln.
Und einen Heimtrainer würde sie sich holen, denn da sie in der Zeit nach dem Eisprung keinen
regelmässigen Sport mehr machte, lohnte es sich eigentlich nicht, weiter im Sportverein zu bleiben.
Allerdings boten die Kinderturnen an. Naja, vielleicht sollte sie zunächst einmal schauen, wo
Elefantenturnen für Schwangere angeboten wird, denn das musste sie ja wissen, wenn es soweit
wäre, und anmelden muss sie sich dann ja auch. „Ob ich Matthias dazu bekommen kann,
mitzukommen?“ dachte sie bei sich, um sich schnell zu korrigieren „Quatsch. Matthias, wer ist
eigentlich Matthias?“ Und sie schnaubte dabei wie in der Reklame von „Du darfst“ mit Paul.
Sie würde ihr Leben ändern, das stand für sie fest. Zunächst würde sie ein Wellness-Wochenende
einlegen, am besten mit Hanna. Sie hatte bereits gesehen, dass einige Kurbäder Moorbäder anboten,
die bei Kinderwunsch Abhilfe schaffen konnten, da die Moorsubstanz den Hormonhaushalt
ankurbeln soll. Hmmm… Karlsbad? Soll ja toll sein, und von Preis her ging das auch. Alex studierte
ihren Kalender. Sollte es diesen Monat nicht geklappt haben, so war dann die Zeit um den nächsten
Eisprung ja am besten, aber es musste so getimed werden, dass sie zum Eisprung selbst zuhause sein
würde. Auf Gefriersperma von Matthias wollte sie dann doch nicht zurückgreifen. Leider lag ihr
nächster Eisprung ungünstig an einem Samstag, und wenn sie ein Wochenende in Karlsbad bleiben
würde, dann konnte das schon ungünstig sein, entweder zu früh oder zu spät. Also auf nächsten
Monat geschaut – und natürlich abchecken, ob man solche Bäder auch als Schwangere in der
Frühschwangerschaft machen durfte.
Nach kurzer Rücksprache mit Hanna buchte sie tatsächlich in 6 Wochen ein Wellness-Wochenende,
aber sie nahm nicht das Rundumsorglospaket mit Champagner auf dem Zimmer, sonder sie buchte
Fruchtsäfte und Moorbäder. Nur für alle Fälle…
Alex merkte, dass sie Matthias immer noch in ihre Zukunft einbezog, und auch wenn ihre Schwäche
sie ärgerte, beruhigte es sie doch ein wenig. Sie würde mit ihm sprechen, wenn er den ersten Schritt
tat, sie würde ihn nicht tun. Und dabei wollte sie bleiben.
Folge 27
Die Aussicht auf ein Wellness-Wochenende, an dem sie ungeniert mit Hanna über den Kinderwunsch
würde sprechen können, verbesserte ihre Laune unglaublich. Diese Geheimnistuerei ging ihr auch
manchmal auf die Nerven, die einstudierten Antworten auf neugierige Fragen oder der Blick des
Apothekers, wenn sie Medikamente wie Bryophyllum kaufte.
Hatte sich irgend jemand, der dieses Medikament wegen des Kinderwunsches nahm, einmal die
Mühe gemacht, den sogenannten Waschzettel zu lesen? Da bekam man nämlich das Gefühl, völlig
verblödet oder hysterisch zu sein, das half ja sogar bei Depressionen, und dabei wollte sie lediglich
ihre Einnistung stabilisieren. Und der Apotheker in ihrer Apotheke schob ihr das Zeug immer ganz
verschämt über den Tresen und hatte dann diesen tieftraurigen verständnisvollen Blick. Bei der
Bestellung ihrer Zyklustees hatte er sie beim ersten Mal sogar in ein kleines Hinterzimmer gebeten,
das vermutlich eine umgenutzte Besenkammer gewesen war, und hatte ihr dann mit gedämpfter
Stimme zu jeder Ingredienz die Wirkung vorgebetet.
„Und dass Sie bitte Ihren Mann davon abhalten, diesen Tee zu trinken, Sie wissen ja, Himbeerblätter
und Salbei enthalten östrogenartige Substanzen…“ Sein verschwörerischer Blick liess sie daran
zweifeln, ob er nicht gerne eine Frau hatte sein wollen.
„Also dann kein Saltimbocca für meinen Mann?“ Er schaute sie diesmal verständnislos an, daher
fügte sie nur schnell „Keine Angst, war ein Scherz“ und nahm die Teebeutel. Seitdem sah sie eher zu,
dass sie von einer Frau bedient wurde, die sie als deutlich verschwiegener kannte. Und in ihrer
Apotheke vor Ort kaufte sie das ganze ohnehin nicht, da holte sie höchstens Folsäure, und auch das
ungern, denn es konnte sie ja verraten.
Einfach den ganzen Tag darüber Philosophieren, was eine befruchtete Eizelle am Tag 4 nach dem
Eisprung macht, oder ob vormittags oder nachmittags vorwiegend „geeisprungt“ wird, mit wem
konnte man denn diese Dinge, die eine Frau doch interessierten, ansprechen? Bestimmt nicht mit
einem Mann, das stand fest. Und dennoch war das doch bedauerlich, oder? Hatte Matthias auch nur
ein einziges Mal gefragt, wie ihr Persona funktionierte oder gemerkt, dass es kein Insulingerät war?
Aber ehrlicherweise musste sie zugeben, dass sie keinen Mann kannte, der sich für die monatlichen
Wandlungen, die mit seiner Frau vonstatten gingen, mehr als notwendig interessierte, und dieses
„Notwendig“ bezog sich zumeist eher auf die Tage der Tage, die dann zu tolerieren waren.
Alex besann sich auf ihren Körper. Sandte er heute gar keine Zeichen aus? Acht Tage nach dem
Eisprung hatte sie sonst schon erstes Kribbeln hier und Ziehen da, und ein Spannen im gesamten
Unterbauch und diesmal? Sie horchte in sich hinein. War das nun wie immer, oder war es nicht
rechts ein wenig stärker als sonst? Und warm war ihr auch, bestimmt hatte sich die Temperatur
schon erhöht. Vielleicht hätte sie das Temperaturmessen doch nicht aufgeben sollen, sinnierte sie.
Aber morgens als erstes statt an Kaffee an das Thermometer zu denken, das war ihr dann doch zu
viel gewesen.
Irgendwie wurde sie immer um diese Zeit im Zyklus unruhig, am ersten Zyklustag war sie ja nur
schlecht gelaunt, aber das war dann fast nichts gegen die Phase eine Woche vor der Regel, in der sie
alle möglichen Anzeichen, von der Farbe des Urins bis zum Jucken am rechten Bein bewertete und
sich fragte, ob es denn endlich geklappt hatte. Und alle Anzeichen, die auf die Mens hindeuteten,
wurden mit einem „war ja klar, das konnte ja nicht gutgehen“ kommentiert, alles andere ungläubig
gespeichert. Alex hatte mittlerweile das Gefühl, dass sie selbst schon gar nicht mehr an den positiven
Test glaubte, sondern dass sie an einen lang angelegten Spiel mitmachte, an dessen glücklichen
Ausgang sie nicht glaubte, bei dem sie aber die Teilnahme zugesagt hatte. Wie würde es bloss sein,
wenn es tatsächlich noch klappte? An Tagen wie heute konnte sie sich kaum vorstellen, dass das
jemals eintreten würde.
Alex beschloss, eine lange Mittagspause zu machen, sie musste sich die Beine vertreten und etwas
anderes sehen. Vielleicht sollte sie auch wieder einen Termin beim Frisör machen? Ihre Haare
konnten einen neuen Schnitt und ein wenig Farbauffrischung gebrauchen. Aber jetzt? So kurz vor der
Mens, die hoffentlich ausblieb? Spontan war da gar nichts zu machen, Montag oder Dienstag in einer
Woche wäre gut….
Den Kopf in den Nacken verliess Alex erhobenen Hauptes das Büro. Wenn es ihr nicht gut ging, dann
musste das ja die anderen noch lange nicht sehen! „Hallo Alex, na, siehst ja so erholt aus nach dem
Wochenende!“ „Danke, Klaus, es geht mir auch super!“ strahlte Alex und nahm wieder einmal zur
Kenntnis, dass auch enge Kollegen sie doch überhaupt nicht kannten.
Folge 28
Draussen sog sie die kühle Luft bewusst ein. Ein-Aus-Ein-Aus, besonders in den Unterbauch, um die
Gebärmutter besser zu durchbluten. Das hatte sie irgendwo gelesen, und es sollte helfen, eine
Einnistung zu verbessern.
Recht entschlossen ging sie in Richtung der kleinen Markthalle in der Stadt, ein Glasgebäude der 90er
Jahre. Ihr Entschluss, etwas für ihre Figur zu tun, stand noch immer fest, und deshalb sollte es wieder
ein Salat sein. Wie etwa 2-3 Mal in der Woche, geholfen hatte es zwar bisher nicht, aber es beruhigte
die Nerven ungemein, wenn man sich nicht auch noch mittags kulinarischer Sünden hingab. Abends
war es schon schlimm genug…
„Junge Frau?“ hörte sie mit muffligem Ton sagen. Der gesamte Satz sollte heissen „Junge Dame, was
kann ich Ihnen geben?“, aber das brachte der unfreundliche Mann hinter dem Tresen nicht zwischen
seinen Zähnen heraus. Und Alex war sauer; sie war ohnehin nicht sonnigster Laune gewesen, doch
dass sie seit nunmehr vier Jahren fast jeden Mittag hierher kam, und er dennoch so lustlos fragte,
obwohl sie immer dasselbe bestellte, brachte ihr Blut in Wallung.
„Einen gemischten Salat mit Thunfisch und Joghurtsosse zum Mitnehmen.“
„Knoblauch?“ Das nun wieder sollte heissen „Möchten Sie Knoblauchsosse?“, und sie hatte noch nie
Knoblauchsosse genommen, da sie zahlreiche Termine hatte, und sie den Geruch dem jeweiligen
Gegenüber nicht zumuten wollte.
„Joghurt, wie ich bereits sagte“, zischte sie, da ihr nun endgültig die Galle hochkochte, und fügte im
entsprechenden Ton an. „A: Ich bin keine junge Frau, wobei der Begriff „Frau“ allein schon –
abgeleitet aus dem mittelhochdeutschen – unzulässig wäre, zudem entspricht es nicht meinem Alter
und ist somit schlichtweg falsch. B: Ich nehme NIE Knoblauchsosse, sondern seit mehr als vier Jahren
Joghurt, den Grund dafür habe ich Ihnen mehrfach gesagt.“ Alex lächelte den verständnislosen Mann
grimmig an.
„Zwei Euro siebzig“, und reichte den eingepackten Salat herüber. Nur seine Frau im Hintergrund
konnte sich ein verständnisvolles Grinsen nicht verkneifen und verdrehte mit Deutung auf ihren
Mann die Augen.
Alex schnappte sich den Salat und ging mit mahlendem Unterkiefer davon. Das war auch so eine
ungute Eigenschaft, sie gehörte zu den Stressbeissern, und je nach Stärke des Stresses taten ihr
morgens die Kiefergelenke weh. Jeder Biss wurde zur Tortur, und ihre Zähne waren
dementsprechend empfindlich, zum Teil zogen sie den ganzen Tag, als hätte sie kariöse Zähne. „Ich
muss viel ruhiger werden“, sagte sich Alex und entspannte den Kiefer. Diese Übung hatte sie von
ihrer chinesischen Ärztin bekommen, und er half in der Regel sehr gut. Nur dieser Tage war es
erhöhter Aufwand oder eine zusätzliche Anstrengung, sich zu entspannen. Aber einen Termin beim
Zahnarzt sollte sie dennoch vereinbaren, sicher ist sicher. Allerdings würde sie zuvor erst einmal den
Terminkalender studieren, um im Falle einer Schwangerschaft nicht leichtsinnig zu sein.
Sie suchte sich einen sonnigen Platz auf einer Parkbank, um dort in Ruhe den Salat zu essen. Es war
ein kleiner Park mit Buchsbaum umstandenen Rasenkompartimenten, die im Sommer durch
Sommerblumen und Kübelpflanzen ergänzt wurden. Alex freute sich schon auf den Sommer,
vielleicht würde sie dann hier mit dickem Bauch sitzen und alles ganz anders geniessen können.
„Immer den Blick in die Zukunft, es kann nur besser werden“, beschwor sie sich selbst.
In der Mitte der Anlage stand ein alter Pavillon, in dem ein Geiger musizierte. Alex entspannte sich
und nahm die Lieder in sich auf. Sie liebte derartige Stimmungen, und gerade heute konnte sie
Schönes gut gebrauchen. Denn der Streit mit Matthias nahm sie natürlich sehr mit, das war ja
selbstverständlich. Auch wenn sie nicht nachgeben wollte, dachte sie schon den ganzen Tag darüber
nach, wie es nun weitergehen sollte. Und die vorwiegend barocken Klänge stimmten sie
versöhnlicher, und fast war es so, als würde sie das „TzzzzeeeeeeKrrrrrr“ von heute Morgen bereuen.
Vor dem Geiger baute sich ein älteres Ehepaar auf, und während er versonnen der Musik lauschte,
wurde sie unruhig.
„Nun gib’ ihm schon einen Euro und komm’ endlich.“ Mit diesen Worten ging sie entschlossen los, ihr
Mann blieb stehen, sichtlich hin- und hergerissen zwischen Musikgenuss und ehelicher
Verantwortung.
Alex beobachtete die Szene: Schönes gemeinsam geniessen zu können, das war offensichtlich ein
Schlüssel unter mehreren, um eine gute Partnerschaft zu führen, und das hatten Matthias und sie
eigentlich immer gekonnt. „Eigentlich“, wiederholte sie unsicher. Vielleicht war es nur zeitlich
begrenzt, dass sie verschiedener Wege gingen, vielleicht auch nicht, das war die Chance. Und das
kleine partnerschaftliche Spektakel, das sie eben hatte erleben dürfen, hatte ihr eines deutlich
werden lassen: Ihre Ehe würde nur erfolgreich sein, wenn Matthias und sie sich grundsätzlich wieder
finden würden, denn so wie diese beiden dort wollte sie ihr gemeinsames Leben nicht führen. Denn
es erschien ihr geradezu symptomatisch für ihre Zukunft: Einer wollte verweilen, der andere sagt
unwirsch „nun komm schon…“ und ging, ohne sich umzublicken, weiter…
Folge 29
Angenehm gestärkt machte sich Alex auf den Weg in ihr kleines Café, um sich dort noch einen
Milchkaffee zu gönnen. Manchmal waren dies ihre kleinen Aus-Zeiten, die sie sich nahm, wenn der
Druck zu gross wurde. Aber jetzt war sie deutlich gelassener als am Morgen, denn ihre Gedanken
hatten sich geklärt.
Leider war das Café zu dieser Zeit recht voll, und sie konnte gerade noch einen Platz an einem Tisch
bekommen, den sie nun mit einem Ehepaar an der Rentenaltersgrenze teilten. Beiden vertieften ihre
Köpfe in eine Zeitschrift, er braungebrannt und gutaussehend, sie eher der zurückhaltende
unscheinbare Typ, aber mit wachen Augen und wissenden Lachfalten um die Augen. „Einfach ein
süsses Paar“, dachte Alex neidisch. Neugierig versuchte sie, den offensichtlich interessanten Inhalt
der Zeitschrift zu lesen. Die Astro-Woche! Alex war Schütze, und genau das Horoskop war sichtbar,
nur konnte sie die Erläuterungen nicht lesen.
„Wollen Sie auch mal reinschauen“, schaute da der ältere Herr belustigt auf.
„Ich bin schon immer dabei, mir den Hals zu verdrehen…“, lachte Alex und nahm gerne die Zeitung.
Alle drei versenkten nun ihre Köpfe über dem Inhalt.
„Was sind Sie denn für ein Sternzeichen“, begann der Herr.
„Schütze.“
„Hmm…. Das ist gut. Und Aszendent.“
Zögernd sagte Alex „Ich weiss nicht genau, Zwilling oder Löwe.“
„Naja, ist ja nicht so wichtig. Hier, schauen Sie mal zwei Seiten Schütze.“ Und er fügte sinnierend an
„ein gutes Sternzeichen, stark, unbeugsam, zuverlässig…“
„Und heissblütig, was?“ Alex hatte gute Laune …“Jetzt merke ich das erst, wieso kennen Sie sich denn
mit der Schützenfrau so gut aus?“
Auch er lachte, und seine Frau hob ab und zu sichtlich amüsiert ihren Kopf aus der Lektüre. „Ich hatte
da mal eine, lange her, die war Dozentin an der Uni, tolle Frau…“ und er versank in offensichtlich
überaus angenehme Gedanken.
„Ging wohl länger, oder?“
„Ja, und war schon schön.“ Noch immer lächelte seine Frau wissend vor sich hin, sie war ganz die
Ruhe und sich seiner Liebe sicher. Alex fragte sich zurecht, welches Sternzeichen sie wohl hatte…
„Eigentlich brauche ich nur den Montag, da entscheidet sich was für mich.“ Die Zeitschrift ging
nämlich von Montag bis Sonntag, und am Montag würde der erste Tag des nächsten Zyklus sein, in
Fachkreisen des Kinderwunsches, wie sie wusste, NMT genannt, also Nicht-Mens-Termin. „Die Sterne
stehen günstig, am Montag bekommen sie eine gute Nachricht, aber Vorsicht: Diese Nachricht wird
Konsequenzen für ihr weiteres Leben haben.“ Alex las nun laut und genoss jedes Wort.
„Na, da haben Sie ja einen schönen Wochenanfang!“ freute sich die ältere Dame mit ihr. Ihre Augen
waren dabei von einem freundlichen Kranz von kleinen Falten umzogen.
„Ja, am Montag brauche ich auch Glück!“ Ja, am Montag brauchte sie Glück. Nun lächelte Alex
versonnen.
„Und Sie, was ist bei Ihnen nächste Woche los?“
Er las sich den für ihn bestimmten Text durch und lachend brach es aus ihm heraus: „Ich sollte
nächste Woche gleich im Bett bleiben, nur schlechte Nachrichten, aber am Mittwochabend gibt es
einen magischen Abend, bei dem ich mich vorsehen muss.“ Mit diesen Worten drehte er sich zu
seiner Frau um und fragte “Schatz, hast du da schon was vor oder können wir die Magie gemeinsam
nutzen?“
„Wie bei „Schlaflos in Seattle“…“ dachte Alex und war mit ihnen glücklich.
Folge 30
„Montag wird definitiv mein Tag“, dachte sie beschwingt, als sie zurück ins Büro ging. Jeder Frau, die
ihr auf dem Weg entgegenkam, schaute sie instinktiv zunächst auf den Bauch und versuchte sich
auszumachen, ob sie schwanger war oder nicht. Das war seit langer Zeit so eine Angewohnheit von
ihr geworden, der allerdings in kühlen Monaten nur etwas eingeschränkt nachzugehen war. Dennoch
konnte sie auch auf diesem Weg wieder eine Schwangere entdecken, und während sie
normalerweise ein kleines Teufelchen auf der Schulter sitzen hatte, das immer sagte „Warum die,
warum nicht du???“ raunte ihr nun scheinbar ein kleines Engelchen zu „Wie schön für sie, und ab
Montag gehöre auch ich dazu.“ Ja, dazugehören wollte sie auch unbedingt, nicht eine der
Aussenstehenden sein, der niemand etwas zutraute, schon gar nicht Meinungen über
Schwangerschaft oder Kindererziehung „Du hast ja keine Ahnung, du hast ja keine Kinder!“ diesen
Satz hatte sie schon zu oft gehört, aber bei dem Gedanken daran dachte sie diesmal, das sie einfach
lächeln wird und dann sagt „Naja, wer weiss, was nicht ist, das kann ja noch werden“… und dann
wird sie die anderen einfach rätselnd stehen lassen. Und sie nahm sich fest vor, wenn sie einmal
Mutter sein würde, nie so mit anderen zu sprechen, denn sie wusste dann ja, wie sehr derartige
Sprüche treffen. Und die anderen, die sich bisher das Maul zerrissen hatten, dass ihre Ehe noch
kinderlos geblieben war, die würden staunen. Besonders der angeheiratete Mann ihrer Cousine, der
war besonders eklig zu ihr gewesen, selbst mit fast 55 später Vater hatte er letztens doch glatt eine
Bemerkung gemacht, sie müsse sich nun einmal etwas beeilen, sonst wäre sie zu alt. Das war eine
Unverschämtheit gewesen, für die sich dann ihre Cousine noch entschuldigt hatte, aber der Stachel
sass tief.
Die nächste Frau, die ihr mit einem kleinen Kind entgegenkam, wurde sowohl auf Schwangerschaft
als auch auf ihr Alter überprüft. Leider war sie blutjung, hübsch und ohne Zweifel auch noch gepflegt,
also konnte sich Alex nicht einmal dem Klischee der jungen abgewrackten Mutter mit Zigarette im
Mund und quietschenden Kinderwagenrädern hingeben. Nein, diese Mutter war einfach nur zu
beneiden, und sie freute sich sichtlich an ihrem Sprössling.
„Ist ja auch egal, Montag sage ich nur“, sprach Alex nun laut mit sich. “Und wenn es Montag nicht
geklappt hat, erschiesse ich mich. Oder den Frauenarzt oder wen auch immer…“ brabbelte sie wie
eine Frau mit enormen Kinderwunschstress vor sich hin. Immerhin musste sie selbst schon über sich
lachen. Der Tag war doch eigentlich schön gewesen, also sollte er auch weiter so gehen.
Im Büro schloss sie erneut die Zimmertür, war Ihren Vorzimmermann dazu veranlasste, sie wieder zu
öffnen und mitleidig zu fragen: „Ist was los?“ Möchten Sie einen Tee?“ Alex lächelte befreit und sagte
„Nein, alles wunderbar. Danke, Tee wäre klasse. Machen Sie die Tür wieder zu? Ich muss etwa
konzentriert arbeiten.“
Die Tür schloss sich, und Alex suchte im Internet Mutterschutzbestimmungen. Ihren
voraussichtlichen Entbindungstermin hatte sie bereits ausgerechnet, dafür gab es ja praktische
Rechner im Netz, und Bilder der Schwangerschaft in 3D konnte man sich da auch ansehen. „Einfach
toll, wie das so geht!“ freute sich Alex und schaute zu, wie sich ihre Gebärmutter durch einen
winzigen Punkt durchlöchert darstellte. „Soweit bin ich jetzt - wenn es geklappt hat“, setzte sie
reumütig hinzu, sie wollte ihr fragiles Glück ja nicht aufs Spiel setzen. Und 6 Wochen vor dem Termin
würde sie aufhören zu arbeiten, und wenn sie jetzt keinen Urlaub mehr nahm, dann könnte sie den
dann hinten dranhängen und länger von der Arbeit fernbleiben. Oder sollte sie Matthias dann für alle
drei arbeiten lassen? Schön wäre das schon, wenn sie 3 Jahre zuhause bleiben könnte, aber was
würde dann ihr Arbeitgeber sagen? Und wann sollte sie es ihm sagen? Im 4. Monat? Stand da
irgendwo was drüber, wann man es sagen musste? Alex stöberte noch im Netz, als ihr Telefon
klingelte.
Folge 31
Matthias Tag hatte entschieden schlecht angefangen. Beim Aufprall auf den vor ihm bremsenden
Wagen war der Airbag so, wie er es sollte, aufgegangen und hatte den Stoss abgefangen, aber da er
das Handy in der linken Brustasche hatte, hatte sich dieses schmerzhaft unter dem Gurt an seinen
Brustkorb gedrückt. Das Ergebnis war eine schöne Prellung an seiner Heldenbrust. Ansonsten war
recht wenig passiert, die Stossstange des Puntos vor ihm war zwar stark eingedrückt, aber der
Rahmen schien auf den ersten Blick unerklärlicherweise nicht beschädigt zu sein. Und bei seinem
Auto hinderte ihn nun der Airbag und ein platter Reifen am weiterfahren.
Und Glück hatte er auch gehabt, weil die Fahrerin des Puntos, eine Studentin, die Angelegenheit in
aller Ruhe mit ihm regelte. Die Sachlage war ja klar, Matthias war aufgefahren, und somit musste er
die Kosten übernehmen. Und ein handfester Grund für das abrupte Bremsen lag auch vor: Ein Ball
war über die Strasse gerollt, und die Studentin sah einen etwa Sechsjährigen, der schon Anstalten
machte, hinterherzulaufen. Dass nichts Ernsthaftes passiert war, war also ihrer Umsicht zu
verdanken. Der Junge hatte sich auch schnell verzogen, so dass seine Eltern gar nicht mehr
benachrichtigt werden konnten.
Natürlich hatte sich Matthias tüchtig über das Telefonat geärgert, das er mit Alex geführt hatte, bis er
merkte, dass sein Handy tatsächlich defekt war, denn er konnte Alex kaum verstehen, und auch ein
Anruf bei Jürgen blieb erfolglos.
Und genau, als Matthias sich schlecht gelaunt zu Fuss zum nächsten Taxenstand hatte auf machen
wollen, hielt ein Golf neben ihm an.
„Hallo Herr Manthei, kann ich Sie mitnehmen? Ich habe gerade gesehen, dass Sie mit Ihren Wagen
nicht mehr fahren können, und da dachte ich, Sie könnten Hilfe gebrauchen.“ Die Frau seines
Kollegen Ralph Krüger sass im Auto, und zwar auf dem Weg zum Kindergarten. Dankbar stieg
Matthias ein.
„Guten Morgen Frau Krüger, das ist ja wirklich nett von Ihnen, ich hatte eben wirklich Pech. Manche
Tage haben es eben in sich… könnten Sie mich ins Büro fahren?“
„Kein Problem, ich bringe Max dann eben etwas später hin, zum Glück bin ich heute recht früh dran.
Das ist auch selten…“, sagte Frau Krüger mit einem bedeutungsvollen Blick auf ihre beiden Kinder.
Max, der ältere der beiden, war etwa 3 Jahren und schaute nun ganz interessiert Matthias an. Und
Meike schlief in ihrem Sitz, sie war erst ein Jahr und nur zur Begleitung mitgekommen.
„Guten Morgen“, begann Matthias etwas unsicher das Gespräch mit Max. „Und du gehst schon in
den Kindergarten?“
„Hallo“, brachte Max hervor, beäugte Matthias intensiv und hob seinen Hasen, an dessen Ohr er
verlegen spielte.
„Das ist sein Felix“, fügte seine Mutter lächelnd an.
„Hallo Felix“, begrüsse Matthias nun den Hasen, der ihn ebenso anzustarren schien wie sein junger
Besitzer. „Wie alt ist Ihr Sohn denn?“
„Max ist 3 Jahre und 2 Monate, und Meike ist 13 Monate.“
Max überlegte, das konnte Matthias sehen. Ihn belustigte dieser Gesichtsausdruck, den Kinder vor
eine Frage oft haben, allerdings einer Frage, die wohlüberlegt ist. „Hat Auto Aua?“
Matthias schmunzelte. Der Kleine hatte alles wohl gut beobachtet. „Ja, das Auto hat Aua, aber das
geht schnell wieder weg.“
Max Augen wurden noch grösser. Er war rothaarig mit ganz vielen Locken und Sommersprossen, und
eigentlich mochte Matthais Rothaarige nicht so gern, aber der Blick dieses Kleinen war etwas
anderes. Er war ganz auf diesen unbekannten Fahrgast konzentriert.
„Sagen Sie, schaut Ihr Sohn immer so interessiert?“
„Ja, leider“, lachte sie, „er ist recht aufgeweckt und nimmt an allem doppelt Anteil.“
„Du auch Aua?“ fragte Max in diesem Augenblick.
„Ja, ich auch, aber nur gaaanz wenig“, erwiderte Matthias wahrheitsgemäss. Max Augen füllten sich
leicht mit Tränen und er kramte in seiner Umhängetasche, bis er etwas in Alufolie Eingepacktes
erleichtert hervorbrachte. Die ganze Zeit schaute Matthias ihn fasziniert an, denn auf dem Gesicht
des Kleinen spiegelte sich die gesamte Palette der Gefühle wider, das Mitgefühl, der Wille zum
Helfen, die Idee, wie geholfen werden kann, die Konzentration auf die Suche und der Triumph, das
Gesuchte gefunden zu haben.
„Da…“ war Max Statement und bot Matthias ein eingewickeltes Schokoladenosterei an.
Seine Mutter erklärte: „Wenn meine Kinder sich etwas aufgeratscht haben und sie weinen, dann lege
ich immer ein Stück Schokolade auf die Stelle, an der es wehtut, und wenn es nicht mehr wehtut,
dann dürfen sie es essen. Komischerweise tut es dann ganz schnell nicht mehr weh. Das hat schon
meine Mutter mit uns so gemacht, und es funktioniert prima.
„Danke Max, das ist aber lieb, da tut es gar gleich nicht mehr weh“, strahlte Matthias den Kleine an,
der erwartungsvoll ob der Wirkung, die er erzielte, in sein Gesicht blickte und dann ein glasreines
Kinderstrahlen aufsetzte.
„Na, da haben Sie aber bei ihm einen Stein im Brett, seine Schokolade leibt er nämlich über alles.
Meike hätte er das Ei nicht gegeben.“ Unter Max’ kritisch prüfendem Blick wickelte Matthias nun
notgedrungen, aber ganz gerührt das etwas angematschte Osterei aus und schob es sich in den
Mund.
„Hmmm…. ah….. das hat geholfen. Mensch Max, du wirst bestimmt mal Arzt, was?“
Max schüttelte den Kopf: „Bus...“ und zeigte auf einen schönen roten Bus, der gerade vorbeifuhr.
Seine Mutter lachte: „Ein Glück, dass nicht gerade ein Müllfahrzeug vorbei kam, sonst hätte er das
fahren wollen als Berufswunsch.“
Matthias war nun dicke befreundet mit Max, und die Beschäftigung mit dem Knirps machte ihm
immer mehr Spass. Bis zum Büro hatten sie sich beide im Rahmen ihrer Möglichkeiten ausgetauscht,
während Meike immer noch schlief. Matthias wusste nun, dass der Papa von Max immer erst spät
nach Hause kam, dass er gerne Pommes ass, dass er ausser Felix noch einen Delphin namens „Willi
Welle“ für die Badewanne besass und dass er gerne in den Kindergarten ging. Die wichtigsten Fakten
dieses Kinderlebens waren also ausgetauscht. Und Frau Krüger freute sich, dass ihr Sohn so schön
beschäftigt war, und liess die beiden Herren miteinander philosophieren.
Zum Abschied sagte sie: „ Sie mögen Kinder sehr, Herr Manthei, oder? Dann drücke ich Ihnen die
Daumen, dass es klappt, wenn Sie einmal wollen. Bis bald.“ Mit diesen Worten fuhr sie mit ihren
beiden süssen in Richtung Kindergarten. Doch obwohl sie Max mit sich nahm, blieb er doch eine
Weile bei Matthias.
Folge 32
Bevor Matthias aber über die Worte von Frau Krüger nachdenken konnte, holte ihn auch schon der
Alltag ein: Bereits im Flur kam ihm sein Chef entgegen.
„Ja Herr Manthei, um Gottes willen, wo waren Sie denn?“ Sein Ton klang mehr besorgt als
vorwurfsvoll.
„Entschuldigen Sie, dass ich jetzt erst komme, ich hatte einen kleinen Autounfall, und dabei wurde
mein Handy beschädigt.“
„Ja, das hatten wir schon vermutet, nur gut, dass Ihnen nichts Ernsthaftes passiert ist, oder? Und Ihre
Präsentation war grosse Klasse, Ihr Glück, dass wir an die Dateien herankamen.“
„Oh.... danke....dann scheint ja alles gutgegangen zu sein.“ Matthias lächelte etwas verwirrt.
„Zum Glück! Als Sie nicht rechtzeitig hier waren und Sie auch zu hause nicht erreichbar waren, hat
Herr Krüger die Unterlagen schon vorbereitet, und Frau Meyer hat dann in Ihrem Namen die
Präsentation vorgestellt. Sie hat – das muss ich fairerweise zugeben – gleich vermutet, dass Ihnen
etwas zugestossen sein musste, denn anders kennen wir Sie ja auch nicht. Ja, und Ihre Arbeit ist gut
angekommen. Aber für mich war es fast erfreulicher zu sehen, wie Ihr gesamtes Team
zusammengearbeitet hat. DAS sind echte Qualitäten, grosses Lob an Sie, Herr Manthei.“ Mit diesen
Worten liess er Matthias stehen und stürmte davon. Herr Rossberg war immer in Eile und erledigte
fast alle Angelegenheiten im Sturmschritt.
Im Büro wartete Ralph Krüger schon auf ihn. „Mensch Matthias, alles okay? Wir haben die
Präsentation rechtzeitig vorgenommen, aber du hast ganz schön gefehlt. Kathrin hat alles veranlasst
und dann bis auf den letzten Drücker auf dich gewartet, und als du nicht kamst, hat sie dich
entschuldigt, du wärest ernsthaft aufgehalten worden, und hat in deinem Namen die Präsentation
vorgestellt. Sie war wirklich gut. Und falls du fragen willst: nein, sie hat sich nicht deine Lorbeeren an
das Revers geheftet, sondern auf dich verwiesen.“
Matthias hatte nun einiges zu verdauen. Die Handlungsweise seiner konkurrierenden Kollegin hatte
ihm nun zusätzliches Lob eingebracht. Vielleicht hatte sie ihm damit zur Stelle in Frankfurt verholfen,
die sie selbst doch so gerne haben wollte.
„Was will sie denn damit bezwecken?“ fragte sich Matthias, dem das Verhalten von Frauen nur zu oft
ein Rätsel war.
„Herr Manthei?“ Frau Meyer steckte in diesem Augenblick den Kopf zur Tür herein. „Ist mit Ihnen
alles in Ordnung? Wir haben uns schon Sorgen gemacht. Aber zum Glück war ja alles so vorbereitet,
dass jeder Idiot die Präsentation hätte vorführen können. Und in diesem Fall war ich der Idiot. Aber,
um es kurz zu machen, Sie haben vermutlich schon gehört, dass alles gut verlaufen ist.“ Frau Meyer
schaute ihn mit offenem Blick an.
„Ja, und ich habe schon ein dickes Lob dafür bekommen, und auch für mein Team. Ich glaube, ich
muss mich bei Ihnen bedanken, dass Sie den Karren aus dem Dreck gezogen haben, ich hatte
tatsächlich einen Autounfall. Aber nichts Ernstes, nur so, dass ich nicht rechtzeitig kommen konnte
und auch nicht telefonieren konnte.“ Und mit einem Blick auf seinen Kollegen Ralph setzte er hinzu:
“Aber ich hatte dann ganz viel Hilfe beim Verdauen der Situation...“ schmunzelte er vor sich hin. Alles
schien ja ohne ihn gut gelaufen zu sein, und Abbruch hatte es seiner Karriere nicht getan.
Matthias machte eine einladende Handbewegung, mit der er Frau Meyer und Ralph Krüger zum
Hinsetzen aufforderte. Dann begann er eine kleine Zusammenfassung des Morgens, allerdings unter
Auslassung seines vorabendlichen Alkoholkonsums und des Streites mit Alex. Das gehörte nicht
hierher, wohl aber die Beschreibung der diversen Schäden am Auto und des Aussehens der
Studentin.
„Ja, Ralph, und dann lernte ich jemanden kennen, von dessen Familie ich jetzt eine Menge weiss,
nämlich dass der Papa immer erst so spät nach Hause kommt, dass der Sohn schon im Bett liegt, und
dass der Kleine so gerne mal mit dem Papa in den Zoo gehen will, aber Papa dazu kaum Zeit hat.“
Ralph schaute verständnislos, während Frau Meyer trocken fragte: „Wie alt ist denn dein Sohn,
Ralph?“, was Herrn Krüger völlig aus der Fassung brachte. „Wieso Max, was hat der denn damit zu
tun?“
„Weil ich ihn heute zufällig kennengelernt habe, und er mir schon fast Felix leihen wollte – Felix ist
nämlich der Stoffhase von Max“, erklärte er Frau Meyer, „wir sind nämlich jetzt ganz dicke Freunde.“
Aus seiner Stimme war so etwas wie Stolz zu herauszuhören. Und dann erzählte er endlich, auch für
Ralph nachvollziehbar, wie er Max kennengelernt hatte und wieso er nun alles über ihn wusste.
„Ja, Max ist schon ein toller Bursche“, kommentierte sein Vater mit Vaterstolz und schlechtem
Gewissen. „Ich habe nur leider so wenig Zeit für ihn.“
„Zeit hat man, man muss sie sich nur nehmen“, hörte sich Matthias plötzlich sagen. Innerlich musste
er schon fast selbst den Kopf über sich schütteln.
„Du hast gut reden, du hast ja keine Kinder“, maulte Ralph vorwurfsvoll, und zum ersten Mal im
Leben spürte Matthias diesen kleinen Stich der Eifersucht.
„Nein, habe ich nicht, aber denken kann ich trotzdem,“ entgegnete er leicht pikiert.
Frau Meyer hatte sich diesen Schlagabtausch leicht amüsiert aber kommentarlos angehört. Um die
Situation aufzulösen, bot sie nun an: „Wie wäre es, wenn wir jetzt gemeinsam einen Kaffee trinken
und wir dabei über unser Team einmal sprächen? Offensichtlich haben wir ja alle mehr gemeinsam,
als wir bisher dachten.“
Und beide Männer nahmen erleichtert die Ablenkung von einem jeweils unbehaglichen Thema an.
Folge 33
„Manthei, Guten Tag,“ sagte Alex mehr mechanisch als anteilnehmend, denn sie war gerade auf eine
interessante Seite im Internet gestossen und hatte Mühe, ihre Gedanken auf eine Anruf zu
konzentrieren.
„Hi Alex, ich bin’s schon wieder, Bea. Störe ich oder hast du Zeit.“
„Nö, geht.“
„Ich muss mit dir sprechen… ich habe mit Peter gesprochen.“
„Und? Will er oder will er nicht? Kinder meine ich.“
„Das ist es ja… ich will dir das persönlich sagen. Um halb fünf beim Italiener, also wie immer?“
Alex verdrehte die Augen, sagte aber „Ja klar, bis gleich…“ und legte auf. Bea hatte irgendwie
aufgewühlt geklungen, und es war typisch, dass sie am Telefon nicht sagte, wo der Schuh drückte.
Daran hatte sich Alex im Laufe der Jahre nur ungenügend gewöhnt, aber da war bei Bea nichts zu
machen, wenn sie Dinge nur persönlich sagen wollte, schwieg sie wie ein Grab.
„Wenn die mir jetzt sagt, dass sie für Peter nun doch ans Kinderkriegen denkt, bringe ich sie um“,
dachte Alex und vollführte mit dem Kugelschreiber wilde Verrenkungen, als würde sie jemanden
erstechen. Dabei machte sie das Geräusch, das jeder Fan klassischer Filme aus der Mordszene des
Filmes Psycho kennt. Dass in diesem Augenblick die schwergewichtige Vorzimmerzofe die Tür öffnete
und verdutzt guckte, hielt sie in ihrem Tun nicht ab. Statt dessen fragte sie ungerührt mit als Messer
erhobenem Kugelschreiber.
„’was Wichtiges? Bin gerade dabei, meine beste Freundin zu erstechen…“
„Das sehe ich, aber ich sollte Ihnen lieber einen Brieföffner geben, der liegt besser in der Hand.“ Herr
Münstermann liess sich durch seine Chefin nicht beirren, er gehörte zu der mitfühlenden erfahrenen
Sorte, die schon zahlreiche Chefs unterstützt hatte. Alex hielt inne.
„Haben Sie auch einen mit Blut? So wie bei dem Gartenzwerg „Nachbars Rache“?“
Nun schaute er doch verständnislos und schüttelte den Kopf. „Nee, höchstens ein Messer mit
Marmelade, wenn das hilft“, meinte er grinsend.
„Na gut, dann bleibt sie eben am Leben.“ Pathetisch steckte Alex den Kugelschreiber in die nicht
vorhandene Lederhülle zurück und schaute tief bedauernd. „Musste mal raus…“ war ihre Erklärung.
Anstatt einer Antwort stellte ihr Herr Münstermann einen frischen Kaffee hin und legte ein Fax auf
den Tisch. Es war die Bestätigung der Buchung für das Wellness-Hotel.
„Tut Ihnen dann bestimmt gut…“ sagte der Vorzimmermann bedeutungsvoll und verkniff sich ein „in
Ihrem seelischen Zustand“.
Seine Chefin schaute das Papier kurz an und nickte. Alles ging klar, Hanna und sie und vielleicht ihr
kleiner Krümel würden Spass haben. Oder zwei Krümel, oder drei, oder sogar vier, wenn sie beide
Zwillinge bekommen würden. Ein gemütliches Strahlen ging über Alex Gesicht, sie liebte mittlerweile
solche Gedankenspiele.
Die Zeit bis zur Verabredung verging wie im Fluge, denn zu tun hatte Alex im Büro eigentlich
reichlich, und da sie den über Vormittag abgelenkt war, war doch viel liegen geblieben.
Pünktlich wie immer war sie im Bistro und bestellte sich zunächst ein Wasser. „Heute bestimmt kein
Alkohol, basta,“ sagte sie sich. „Und kein Kaffee, denn auch das ist ein Gift, sagt das Internet.“ Bis Bea
kam, sprach sie noch eins Weile mit sich und mit ihrem noch ungeborenen, sozusagen frisch
eingenisteten Kind und kommentierte ihr Tun in Hinblick auf ihre potentielle Schwangerschaft
„Hey du, halt dich fest, gleich kribbelt es, wenn die Kohlesäure kommt.“ Ab und zu schaute sie an sich
herunter, ob man schon etwas sehen konnte. Konnte man, wie sie feststellen musste, nämlich ein
paar Kilo zu viel.
„Huhu Süsse, ich bin da!“ flötete Bea auch schon und schmatzte ihr einen Kuss auf die Wange.
Und zur Bedienung.“ Ein Wasser bitte!“
Alex zuckte fast zusammen. Bea trank Wasser! Das hatte sie noch nie erlebt, normalerweise war es
mindestens ein Milchkaffee. Wasser war doch etwas für Schwangere. Ihr wurde heiss, das konnte
nicht ihr Ernst sein!
„Und, was ist denn nun …“ insistierte Alex und zog ihre Freundin unsanft in den Sessel.
„Peter will keine Kinder…“
„Mensch super, dann ist ja alles geritzt! Freu dich doch…!“
„Eben nicht! Kannst du dir vorstellen, wie verletzend es ist, wenn der Typ deiner Träume dir sagt, er
will keine Kinder von dir? Er habe ja auch noch Zeit, es sei zu früh für ihn, er könne sich nicht
festlegen, und er bezweifelt, dass ich Kinder erziehen könne, wo ich sie ohnehin nicht mag. Du, der
will kein Kind von MIR!“ Beas Stimme überschlug sich fast.
„Mensch Bea, du willst doch auch keine Kinder, noch vor drei Tagen hast du gejammert, du
vermutest, er will, aber du erklärtermassen nicht, und nun jammerst du mir vor, er will keine. Das
wäre doch perfekt für dich.“
„Nee, er hat mich echt vor den Kopf gestossen. Er traut es mir gar nicht zu, oder besser: Er
verschmäht die Frucht meines Liebes.“ Bea schaute triumphierend, ihr gefiel der Ausdruck.
„Naja, den Spruch kenne ich aus einem anderen Zusammenhang“, entgegnete Alex trocken. Zum
ersten Mal wurde ihr so richtig bewusst, dass Frauen auch komplizierte Wesen sein können.
„Er will das Einzigartigste, was ich potentiell zu geben habe, mein grösstes Geschenk, nicht haben.“
„Einziger als Einzigartig gibt es nicht, sagt die Grammatik. Und bisher hast du es doch immer als eine
Belastung angesehen, als potentielle Mutter angesehen zu werden. Mensch Bea, ich kann dich da
echt nicht verstehen. Er kann es dir aber auch nicht recht machen.“ Alex war innerlich ziemlich sauer,
für Bea schien das alles ein Spiel zu sein.
„Aber ich fühle mich so zurückgestossen. Er lehnt dadurch mich doch ab und hat gar keine
gemeinsame Zukunft mit mir.“ Nun standen Tränen in ihren Augen.
„Wie soll er denn, wo du nicht einmal selbst weisst, wie diese Zukunft aussehen soll.“ Alex war nun
doch ungehalten, ihre mitfühlende Ader war versiegt. Bea benahm sich wie eine pubertierende
Sechzehnjährige, die ein Kind haben wollte, weil der Kuschelbär nicht mehr altersgemäss ist.
„Nee Bea, tut mir leid, da kann ich dir nicht folgen. Und wenn du dir im Klaren bist, was du wirklich
willst, dann musst du darüber mit ihm sprechen, aber du darfst ihm nicht vorwerfen, dass er das, was
du nicht willst, selbst nicht mit dir will. Da steigt ja kein Mensch mehr durch.“ Am liebsten wäre sie
nun gegangen, aber ein wenig solidarisch wollte sie mit Bea nun doch sein, die so ganz bedröppelt
neben ihr sass.
„Und was mache ich jetzt?“ fragte Bea kleinlaut.
„Mit dir selbst ins Reine kommen, schlage ich vor…“ meinte Alex sarkastisch. Aber irgendwie war es
ihr, als wollte Bea mit der Frage mehr sagen, nur kam in diesem Augenblick die Bedienung und wollte
kassieren, da Schichtwechsel bevorstand. Und danach sassen beide nur noch versunken in den
Sesseln, tranken ihr Wasser und beäugten sich gegenseitig.
„Wieso trinkst du eigentlich Wasser?“ fragte Alex misstrauisch.
„Und du?“
„Weil ich vielleicht schwanger bin“ ,dachten beide, aber sprachen es nicht aus.
Folge 34
Bea holte tief Luft. „Also ich… bestelle mir jetzt einen Milchkaffee, und du?“ Alex guckte irritiert, sie
war gedanklich ganz bei ihren potentiellen Krümel gewesen, aber sie wollte Bea keine Chance für
falsche Gedanken geben.
„Ich auch, da hast du auch recht, wieso eigentlich nicht.“
„Genau.“ Beide versanken wieder ins Schweigen. Alex und Bea waren beide mit sich selbst
beschäftigt, und erst nach einer Weile wurde es Alex bewusst, dass auch Bea schwieg, was so gar
nicht ihre Art war. Sie beobachtete ihre Freundin seit langer Zeit einmal wieder genau.
Normalerweise konnte sie in Beas Augen lesen wie in einem Buch, alle Gefühle spiegelten sich darin
wider. Schon oft hatte sie Antworten auf ihre Fragen schon vor der Frage gesehen, und heute
schaute sie sich Bea als Person an: Sie war gross, schlank und muskulös, ihre Haare waren
dunkelblond mit Strähnen, und durch viel Gel standen sie nun modern nach oben ab, obwohl Bea
normalerweise eher konservativ ausgesehen hätte. Noch vor wenigen Jahren hatte sie lange blonde –
naturblonde – Haare gehabt, aber das erschien ihr zu brav. Auch ihre Kleidung war nun betont lässig,
so als wolle sie ein Bild von sich abstreifen, das dennoch in ihr tief verankert war.
Heute hatte Bea mehr Make-up als sonst aufgetragen, was Alex den unvermeidlichen Fleck auf dem
Blusenkragen verschafft hatte, aber was tut man nicht alles für die Freundin. Und sie hatte tiefe
Augenringe, und wenige kleine Pickel, die sie immer kurz vor der Mens bekam. Fast beruhigten diese
Pickel Alex, so als wollten sie anzeigen: „Keine Gefahr für dich, sie ist nicht schwanger, du brauchst
nicht eifersüchtig zu sein“, doch diesen Gedanken registrierte Alex nur ganz im Unterbewusstsein.
Alex suchte den Blickkontakt, sie wollte wissen, was los ist. Beas dunkelblauen Augen - Alex dachte
oft, dass es Augen zum Verlieben seien, wenn sie ein Mann wäre – schauten irgendwie unglücklich
drein.
„Ist noch was ausser dem Spruch von Peter?“
„Nö.“ Sagte Bea, aber ihre Augen sagten etwas ganz anderes.
„Bea, das ist doch Unsinn, da ist doch noch was“, insistierte Alex.
Bea rutschte unbehaglich auf dem Sessel hin und her und sagte unwirsch: „Wo bleibt eigentlich diese
Bedienungstrulla, ich will meinen Milchkaffee.“ Mit diesen Worten hob sie die Hand und wedelte
damit in der Luft.
„Zwei Milchkaffee!“
„Also Bea, was ist noch los, oder bist du wegen Peter so traurig? Ist doch noch alles zu klären, dann
bleibt ihr eben kinderlos zusammen und könnt immer noch entscheiden, was Ihr wollt. Und das dann
gemeinsam, Meinungen ändern sich doch auch im Laufe der Zeit.“
„Naja, was hättest du denn gemacht, wenn Matthias nun Kinder hätte haben wollen?“
Genau dahin hatte sich Alex nicht manövrieren lassen wollen, aber nun musste sie sich entscheiden:
weiter lügen, sich herauslavieren oder die Wahrheit musste raus.
„Na endlich, der Kaffee“, sagte sie erleichtert, denn in diesem Augenblick gab es nichts Schöneres für
sie. „Hmmm… der tut gut, eigentlich wollte ich ja nicht mehr so viel Kaffee trinken, aber er schmeckt
einfach zu gut.“
„Ja, man wird nicht jünger“, lachte nun auch Bea, ebenso erleichtert, den glitschigen Boden des
Gespräches verlassen zu können.
„Nee, leider nicht. Nur leider muss ich ihn ja mit Zucker trinken, sonst schmeckt er mir nicht, und
dann sind das schon ganz schön viele Kalorien, und das, wo ich sowieso schon so zugenommen
habe.“
„Ja, du siehst richtig schwanger aus!“ machte sich Bea über sie lustig, nur blieb Alex das Lachen im
Halse stecken.
Und dann nahm Bea eine tiefen Schluck Kaffee und sagte: „Habe gerade in einer Frauenzeitschrift
gelesen, dass Frauen, die schwanger werden wollen, keinen Kaffee trinken dürfen.“ Sie zitierte mit
verstellter Stimme: „Genussmittel wie Alkohol und Zigaretten wirken sich ungünstig auf die
Fruchtbarkeit aus und können für die Entwicklung eines Kindes katastrophale Folgen haben. Kaffee
und schwarzer Tee sollten nur in Massen genossen werden: Schon mehr als drei Tassen täglich
besitzen einen negativen Einfluss auf die Fruchtbarkeit. Während der Schwangerschaft erhöht
exzessiver Kaffee- oder Teekonsum das Risiko einer Fehl-, Früh- oder Totgeburt.“ Und fügte an: „Na
denn Prost.“
Nur Alex nahm nur einen kleinen Schluck und stellte die Tasse wieder zurück, Sie wurde aus ihrer
Freundin heute nicht so richtig schlau.
Folge 35
Während Alex recht unbehaglich versuchte, ihrer Freundin ihr innerstes Denken zu entlocken –
woran sie übrigens diesmal scheiterte – erfuhr Matthias im Gespräch mit Rolf und Frau Meyer
seinerseits sehr wohl überraschende Dinge.
Das Dreiergespann, das sich eigentlich erst durch den Notfall von Matthias in der Form
zusammengefunden hatte, sass in einer ungestörten Ecke eines firmennahen Cafes und hatte ebenso
Milchkaffee bestellt, nur sollte das Gespräch weniger intim sein als bei Alex und Bea.
Alle drei hatten sich entspannt im Sessel zurückgelehnt und genossen den ersten Schluck, niemand
wollte den ersten Schritt machen, nämlich das Gespräch beenden. Und die beiden Herren hatten
ohnehin mit sich zu tun, nämlich damit, diesen unangenehmen Beigeschmack der letzten Sätze
erfolgreich zu verdrängen, was ihnen aus alter Gewohnheit aber dennoch gelang.
Frau Meyer behielt währenddessen zunächst den beobachtenden Posten, bis sie das Wort ergriff.
„Ich wollte mit Ihnen beiden schon lange ein klärendes Gespräch führen.“ Beide Herren sahen nun
auf, die Einleitung entsprach aus ihrer Sicht bereits einer zukünftigen Chefin, genauso hätten sie es
vermutlich formuliert, um dann ein wenig Luft für das Weitere, sicher unangenehme zu haben. Sie
setzten sich auf und stellten die Kaffeetassen weg. Leicht vorgebeugt und in der Haltung ablehnend
entgegnete Matthias äusserlich lässig: „Na, dann bin ich aber gespannt…“ um sich dann betont
langsam zurückzulehnen und mit der rechten Hand den Velour des Clubsessels zu einem
grossflächigen Muster, das er ständig vergrösserte, zu streichen. Rolf sagte nichts, sondern schaute
von einem zum anderen.
Frau Meyer hingegen liess sich durch dieses Verhalten nicht beeindrucken, sie arbeitete schon zu
lange in der Männerwelt, um sich von solchen Tricks der Körpersprache aus dem Konzept bringen zu
lassen. Ihr Lächeln war nach wie vor offen und sicher.
„Ich kann mir vorstellen, dass es überraschend für Sie kommt, Herr Manthei, und dass Sie sich fragen,
warum eine potentielle Konkurrentin um eine Stellung mit Ihnen von einem Team spricht.“ Hier
machte sie eine kleine Pause, so, wie ein Mann dies machen würde, um seinen Gesprächpartner
entweder zu verunsichern oder ihn zur Offensive zu drängen. Und Matthias reagierte wie bestellt.
„Und?“ fragte er. Frau Meyers Lächeln vertiefte sich, irgendwie waren Männer ja leichter zu
durchschauen als Frauen, wenn sie Profis sind, und das machte sie oft sympathisch. Herr Manthei
zum Beispiel war gar nicht so hart, wie er immer tat, er hatte nur Verlustängste, und das lähmte
seine Kreativität.
„Es ist mir klar, dass Sie sich über mich wundern. Vermutlich denken Sie insgeheim: „Verdammt, will
die mich reinlegen?“ Ich kann es Ihnen nicht verdenken, doch die Situation ist ganz anders als Sie
denken, denn: Ich will gar nicht nach Frankfurt.“ Matthias atmete hörbar ein, und auch Ralf liess
einen erstaunten Atmer hören.
„Aber ich dachte…“ „Ja, ich weiss, und ich sage Ihnen auch, warum ich nicht möchte.“
vervollständigte Frau Meyer freundlich Matthias Gedanken.
Folge 36
Während Matthias nun Informationen bekam, von denen er gar nicht wusste, dass es sie gab, hatte
Alex das Bohren bei Bea aufgegeben und sich schliesslich unbefriedigt verabschiedet. Noch den
gesamten Nachhauseweg beschäftigte sie sich mit ihrer Freundin. Diese rätselhafte Art war ihr gar
nicht geheuer. Oder war es so, dass sie schon Gespenster sah? Sie hatte sich ertappt, wie sie Bea
ständig auf den Bauch schaute, in ihrem Gesicht nach Pickeln, die sie sonst vor der Mens hatte,
forschte und jedes anders abstehende Haar bewertete. Denn sie vermutete, dass Bea schwanger
war, und diese Vermutung vergällte ihr die Laune. Bildete sie sich das alles jetzt schon ein? War sie so
auf den Kinderwunsch reduziert, dass sie an gar nichts anderes mehr denken konnte? Und wieso war
da diese bohrende Eifersucht auf Bea, dass sie etwas geschafft haben könnte, was sie vielleicht nicht
erreichen würde? Warum konnte sie sich nicht einfach freuen, wenn Bea diese Entscheidung
getroffen hatte, und sie dabei unterstützen, wie gute Freundinnen das tun? Sie fand sich selbst
ekelhaft in diesem Gedankenkarussell. Doch zum Schluss blieb nur ein kläglich „Ich will auch endlich
schwanger sein…“ wobei sie sich das „Bea ist noch gar nicht dran, sie hat kein Recht dazu, vor mir
schwanger zu werden“ mühsam verkniff und ein paar aufsteigende Tränen des Selbstmitleids
unterdrückte.
„Hoppla, ich bin heute ja sehr sensibel, wenn mir einfach so die Tränen kommen. Ob das die
Hormone sind?“ und schwupps ging es ihr schon ein paar Grade besser, denn das konnte ja auf eine
erfolgte Einnistung hinweisen. „Ach, ich gönne es Bea ja, und dann sind wir eben gleichzeitig
schwanger, und Hanna nehmen wir auch noch mit…“.
So beruhigt, dass sie nun wieder gönnen konnte, lenkte Alex ihre Gedanken in eine andere Richtung,
nämlich Matthias. Im Verlaufe der Erzählung von Bea war ihr etwas aufgefallen: Bea wollte nie
Kinder, aber nun war sie tödlich getroffen, dass Peter keine von ihr wollte. Das war doch paradox,
oder? Nun wusste Alex ja, dass gerade männliche Tiere auf ihre Generhaltung aus sind, dass z.B.
Löwen oder Affen bei Übernahme eines Rudels im Zweifelsfalls die Jungtiere des Widersachers töten.
Alex vermutete, dass etwas Ähnliches hinter der Reaktion von Bea – allerdings in umgekehrter Weise
– steckt. Und wenn das so ist, dann wäre doch auch Matthias ganz betroffen, wenn Alex von ihm kein
Kind möchte, oder? Wie würde er reagieren, wenn sie ihm genau das anbot, was er immer wollte?
Und das in allen Teilen?
Alex Laune war auf einem neuen Hochpunkt angelangt, als sie nach Hause kam. Sie hatte eine
Strategie entwickelt, wie sie ihren Mann mit sich selbst konfrontieren würde. Sie würde alle Insignien
des Kinderwunsches entfernen, als deutliches Zeichen für Matthias, dass nun andere Zeiten
anbrächen. Wild entschlossen marschierte Alex ins Badezimmer, um als erstes den Persona und die
LH-Tests an einen sicheren Ort zu bringen. Einen LH-Test in der Hand wiegend zögerte sie nur kurz
und mit einem „Och, schaden kann es ja nicht“ hielt sie ihn in ihren nachmittäglichen Urinstrahl.
Immerhin konnte man nachmittags auch besser im Bad gucken, am Morgen war das ja immer
äusserst mühsam.
Den üblichen Platz auf dem Klodeckel einnehmend – kurze Zeit überlegte sie sich, ob sie diesem
einem persönlichen Namen geben sollte, um hier nicht so allein zu sein, und entscheid sich für
Klothilde, mit der sie von nun an im Bad sprechen konnte (nebenbei bemerkt hatte sie ihren Persona
Parsifal getauft, weil Persi sie so an diesen Namen erinnerte und auch er ein Held war) – sinnierte sie
über dem verschwendeten Teststäbchen, als untrüglich eine rechte Linie im Sichtfenster auftrat. Alex
hielt den Atem an. Das konnte doch nicht sein, das hatte sie ja noch nie! Sie brauchte kein
zusätzliches Licht, keinen hellblauen Buntstift, der Strich war da! Sie war auf dem Weg zu einem
positiven Orakel!
Mit wackligen Beinen versteckte sie nun Parsifal, der erst von Klothilde Abschied nahm, die Tests, das
kleine Schnapsglas, füllte den Tee mit leicht zitternden Händen in unverdächtige Zip-Lock-Tüten, auf
die sie nur I bzw. II schrieb für 1. und 2. Zyklushälfte und setzte sich schliesslich schwer atmend auf
das Sofa, Dieser zweite Strich auf dem Test hatte sie aus dem Gleichgewicht gebracht, zu lange hatte
sie auf ihn gewartet, als dass sie nun, wo sie ihn sah, begreifen konnte, was er sagte, nämlich dass
hCG im Blut nachweisbar war. Oder eben LH, das war ja klar, denn dafür waren die Tests ja gemacht.
„Ich bin vielleicht schwanger“, kaute sie die Worte ungläubig vor sich. Und in Gedanken fragte sie
sich, ob ihr Kind tatsächlich Anspruch auf Bussi haben könnte oder nicht. Aber das würde sich finden.
Folge 37
„Nun denken Sie bestimmt in eine falsche Richtung, und das nur, weil ich eine Frau bin“, sagte Frau
Meyer ganz ruhig und ein wenig amüsiert. „Ich möchte aus zwei Gründen nicht nach Frankfurt: Zum
einen sagte mein Vater immer: „Lieber der erste Im Dorf als der zweite im Land“, und das wäre in
Frankfurt so. Nein, ich möchte lieber eine kleine Niederlassung alleinverantwortlich aufbauen und
führen, und Frankfurt ist ohnehin nicht mein Traum, aber es gibt da noch etwas anderes: Die Zukunft
der Stelle in Frankfurt ist mir mittelfristig zu ungewiss, denn es gibt durchaus Überlegungen, dort
umzustrukturieren und eventuell den Marketingbereich gänzlich nach aussen zu geben. Outsourcen
ist die Devise. Und dann kann es sein, dass die schöne Stelle, die wir uns beide vorstellen,
irgendwann ins Nirwana verschwindet.“ Frau Meyer lehnte sich etwas männlich und sichtlich
befriedigt über die Mienen der beiden Gesprächspartner im Sessel zurück. Beide Männer dachten so
laut, dass sie es bald fühlen konnte.
„Und jetzt fragen Sie sich, warum ich ausgerechnet Ihnen das sage, oder? Es wäre doch eine elegante
Lösung gewesen, Sie loszuwerden… Und sie möchten bestimmt gerne wissen, woher ich das weiss.“
Wieder machte sie diese lange Pause, die Matthias so irritierte, weil das eigentlich seine Masche war,
den Gesprächspartner aus der Reserve zu locken. In diesem Augenblick hätte es ihn nicht gewundert,
wenn Frau Meyer ihm eine schwarze Kohiba angeboten und diese dann kunstvoll mit einem
silbernen Schneider abgekniffen hätte.
„Okay, ertappt. Geben Sie mir die Auflösung des Rätsels?“ Mit diesem lockeren Spruch hatte er das
Eis gebrochen, und Frau Meyer lachte aufatmend. Sie nahm die virtuelle Hand, die er ihr dadurch
gereicht hatte.
„Also, ich weiss es von Herr Ludwig, aber nicht, was Sie denken, seine Ehe und damit Ehre ist
unangetastet – zumindest durch mich“, den letzten Satz sagte sie mit einem belustigten und leicht
ironischen Lachen. „Unsere Eltern waren schon Freunde, als wir noch Kinder waren, und deshalb hat
er mir diesen Tipp gegeben. Allerdings nicht ganz ohne Hintergedanken, denn er hat mir eine Idee
präsentiert, die mir seitdem nicht aus dem Kopf ging, und heute, nachdem unsere
zugegebenermassen zunächst erzwungene Zusammenarbeit so reibungslos geklappt hat, schien mir
die Zeit reif, es mit Ihnen zu besprechen.“
Matthias war nun äusserst gespannt, und auch Ralph hatte sich im Sitz nach vorne geschoben, um
bei dieser annähernd konspirativen Sitzung kein Wort zu verpassen.
„Die Firmenspitze erwägt eine Ausweitung ins europäische Ausland, und zwar nach London. Und
dazu soll eine Arbeitsgruppe zunächst für 5 Jahre gebildet werden, die dies vorbereitet, mit
weitgehenden Vollmachten ausgestattet und eigenverantwortlich tätig. Es soll eine Gruppe von ca. 7
Mitarbeitern sein, von denen jeweils einer federführend hier und in London die Möglichkeiten,
Probleme und so weiter der Firmengründung abklärt, und das in kooperativer Zusammenarbeit: Man
verspricht sich dadurch eine Art Probelauf einer internationalen Zweierspitze. Klappt es, wird die
Firmengründung, die bis dahin nur Low Level erfolgt, mit allem, was dazu gehört durchgezogen und
ausgeweitet und das Zweiergespann, wenn es denn gut zusammenarbeitet, was die grösste
Schwierigkeit und grösste Chance ist, für seine Mühen belohnt, klappt es nicht, kommen wir hierher
zurück, allerdings ist dann ungewiss, was mit uns passiert. Ein lukrativer und interessanter
Feuerstuhl, aber phantastisch in der Aufgabe, wenn es klappt… Wenn Sie mich fragen Ich würde es
für diese 5 Jahre tun, Frage ist, ob es mit uns beiden klappen kann, und wer nach London geht.
Derjenige, der nicht geht, muss etwa alle 10 Tage dorthin kommen, das muss ihm klar sein.“
Diese Worte hingen noch in der Luft, als Frau Meyer Matthias erwartungsvoll ansah. Eine lange Pause
entstand und Matthias atmete erneut hörbar aus. „Wow, das ist harter Tobak. Das hatte ich nicht
erwartet…“ Er lehnte sich im Sessel zurück und schaute Frau Meyer entspannt an. „Naja“, meinte er
nun seinerseits lächelnd, “wir müssen es ja nicht sofort entscheiden, wir könnten ja gemeinsam ein
Strategiepapier entwickeln und dabei bereits sehen, wie sich die Zusammenarbeit gestaltet….“ Dass
er das ebenso mit Alex würde absprechen müssen, daran dachte er nicht, denn für ihn war zumindest
eines klar: Das Problem Alex- Frankfurt hatte sich gelöst.
Folge 38
Als Matthias nach Hause kam, war Alex bereits bestens für das bevorstehende Gespräch präpariert.
Alle Insignien des Kinderwunsches waren verschwunden, in ihrem Kleiderschrank waren die weiten
„Erwarte-baldige-Schwangerschaftskleider“ nach hinten gerückt und die eher eng geschnittenen
Röcke und Kleider auffällig in vorderer Reihe aufgehängt, ebenso war sie mit den Blusen und
Pullovern verfahren. „Wäre doch gelacht, wenn ich den nicht kriege“, dachte Alex in Erwartung der
Reaktionen von Matthias. Dem Gedanken, dass sie ja wohl schon schwanger war, hatte sie insofern
Rechnung getragen, als sie die dafür geeigneten Kleidungsstücke in einem gesonderten Fach leicht
zugänglich aufbewahrte. Die mit ihrer Reaktion verbundene Inkonsequenz, gerade jetzt, wo sie den
positiven LH-Test in der Hand hatte, die engeren Kleider herausgeholt zu haben, hatte sie in
Gedanken schnell als notwendige Handlung abgetan.
Und so sass Alex äusserlich entspannt auf dem Sofa, die Versöhnungssektgläser auf dem Beistelltisch
neben sich, eines davon scheinbar schon halb geleert (nur dass Alex wegen des Testes nicht einen
Schluck getrunken hatte, aber der Lippenstift war an der richtigen Stelle und das Glas innen einseitig
korrekt benetzt), das zweite noch leer. Sollte Matthias doch selbst entscheiden, ob er sich zu ihr
setzen wollte.
Im Recorder lief das Video ihrer Hochzeit, minutenlang hatte Alex vor- und zurückgespult, um die
Szene des schönsten Kusses zu dem Zeitpunkt laufenzulassen, in dem Matthias ins Wohnzimmer
kommen und sie begrüssen würde.
„Der perfekte Mord wäre leichter inszeniert“, dachte Alex und lächelte grimmig.
Endlich hörte sie den Schlüssel im Schloss und kurz darauf kam ihr Mann auch schon am
Wohnzimmer vorbei, unsicher durch den Spalt schauend, welche Szene sich dahinter verbarg. Und
diese hätte kein besseres Regiebuch haben können, denn Alex hatte die Gläser so gestellt, dass sie
durch den Türspalt zu sehen waren. Leichte Orientierung dazu hatte sie bei Loriot gefunden, als er
sagt „das Bild hängt schief“, der Betrachter aber durch den Türspalt nur eine scheinbar intakte
Möblierung sieht, nicht aber das Chaos, das sich dahinter verbirgt. Und genauso hatte es sich Alex
vorgestellt, die perfekte Fassade, und Matthias sah nicht, was sich dahinter verbarg. Für derartigen
Hintersinn hatte sie schon immer ein Faible gehabt.
Wie vorauszusehen kam Matthias sichtlich erfreut, dass sich die unangenehme Stimmung des
Vorabends so schnell verflüchtigt hatte, und mit dem reinen Gewissen, gar nicht nach Frankfurt zu
gehen, ins Zimmer.
„Hi, sieht gemütlich aus hier…“ begann er zögerlich tastend den Dialog und warf dabei erst einen
Blick auf die Gläser und dann auf den Fernseher, wo er als Bräutigam im Frack innig seine
wunderschöne Braut küsste. Alex schaute ihn nur an und schwieg.
„Ach Mensch, unser Hochzeitsvideo…. wir sind ganz schön glücklich, was?“ redete er weiter die Stille
überbrückend.
„Ja, waren wir, wer hätte da gedacht was noch alles vor uns liegt, was…“ half Alex ihrem Mann nun
und fuhr fort. „Matthias, ich habe noch einmal über Frankfurt nachgedacht, und über meinen
Kinderwunsch. Und im Prinzip hast du ja auch recht, ich bin doch sehr auf den Job fixiert, ist schon
richtig, dass du das immer wieder bemängelt hast.“
Matthias strahlte. Genau das hatte er ihr immer wieder gesagt, sie reibe sich ja auf, und als Frau mit
einem gut verdienenden Mann müsse sie eigentlich ja nicht ihr eigenes Geld nach Hause bringen.
„Ich habe mich immer gefragt, warum du so darauf pochst, zu arbeiten, es reicht doch, wenn ich von
morgens bis abends aus dem Haus bin“, unterstützte er sie nun. Und vergass dabei die eine
Kleinigkeit: dass es für Frauen vielleicht ebenso viel Spass bedeutet, sich beruflich zu beweisen, wie
für Männer. Matthias strahlte, seine Frau war doch die Beste. „Ich habe dir ja immer gesagt, du
könntest auch schönere Dinge tun.“
Sichtlich erleichtert, dass Matthias so schön mitmachte, Alex fuhr fort: “Ich habe auch darüber
nachgedacht, dass du dich noch nicht als reif für ein Kind ansiehst, und vermutlich hast du auch darin
recht. Es wäre falsch, wenn ausgerechnet du ein Kind zeugen würdest, Kinder brauchen Liebe und
unbedingte Zuwendung, und das kannst du noch nicht geben, das sehe ich ein.“ Sie holte kurz Luft
und fuhr fort. „…und dabei musste ich mir eingestehen, dass ich der Auffassung bin, dass Männer, die
dem Kinderwunsch ablehnend gegenüberstehen, auch keine Kinder zeugen sollten. Vermutlich
werden sie – ähem, also du .- nie dazu in der Lage sein, ein Kind liebevoll anzunehmen.“ So, nun war
es raus. „Aber vielleicht ändert sich das ja noch…“ fügte sie versöhnlich hinzu. Und dann „Also habe
ich mich entschlossen, den Kinderwunsch aufzugeben, und um mich den schönen Dingen des Lebens
zuwenden zu können, habe ich mich gleichzeitig aus der Firma beurlauben lassen, denn ohne Kind
reicht dein Verdienst dann ja für uns beide.“
Matthias starrte sie an. Das waren zwei schwer verdauliche Informationen für ihn, und während er
im Unterbewusstsein ungemütlich speicherte, dass, wenn sein Job in London nicht erfolgreich sein
würde, auch Alex keinen Verdienst haben würde, fand er die Information, seine Gene wären es nicht
wert, weitergereicht zu werden, einfach unglaublich. Denn das war die reduzierte Aussage, die bei
ihm ankam.
„Wie meinst du das, ich sei nicht reif dazu? Meinst du, andere Eltern wären reifer als wir?“ Mit
Genuss registrierte Alex das „Wir“, das zum ersten Mal seit langer Zeit in Hinblick auf den
Kinderwunsch auftauchte, und die Tatsache, wie echauffiert Matthais nun war. Wo war jetzt der
coole Geschäftsmann?
„Naja, aber wir haben ja noch Zeit. Und wenn ich dann zu alt sein sollte, dann bleiben wir eben
kinderlos, das ist ja auch nicht schlimm. Du weisst ja, allein die Häufigkeit des Einsprunges schon wird
mit jedem Jahr ungewisser, und sogar der männliche Sperma kann qualitativ schlechter werden. Aber
darüber müssen wir uns ja zum Glück keine Gedanken mehr machen. Und über das Muss des Sex
auch nicht mehr.“ Alex hatte diese Sätze vorher reichlich üben müssen, aber nun konnte sie über das
gesamte Gesicht strahlen. „Prost, mein Schatz!“ und goss Matthias den Sekt ein, wohlwissend, dass
ihr Mann nun lieber einen kräftigen Schnaps hätte haben wollen.
Folge 39
Der weitere Abend verlief äusserlich harmonisch, Matthias war irgendwie geistig abwesend und
reagierte nur recht mechanisch, als sie fragte, ob sie gemeinsam einen Film sehen wollten. Im
Fernsehen gab es einen Krimi, in dem die Ehefrau des Kriminalisten diesen völlig entnervt, weil sie
ständig neue Rezepte ausprobierte und nie Hausmannskost auf den Tisch kam. Alex registrierte dies
als gute Idee für den nächsten Tag und nahm sich vor, sich die essen & trinken zu holen. Immerhin
würden die nächsten Tage anstrengend für sie werden.
Matthias hatte sich mit seinem Sektglas neben Alex auf die Couch gesetzt und diese lag nach einer
Weile in seinem Arm eingekuschelt, Phoebe zu seinen Füssen. Eigentlich war also alles wie immer,
doch Matthias fühlte sich nicht so recht wohl in seiner Haut. Irgend etwas lief falsch, aber er konnte
seine Gedanken nicht so recht sortieren. Und dass er gar nicht mehr nach Frankfurt gehen würde,
hatte er bisher gar nicht zum Besten geben können!
„Übrigens, Schatz, diese Idee mit Frankfurt, du weisst schon, dass wir dort hinziehen. Ich habe mir
gedacht, dass ich das nicht annehme, eigentlich mag ich Frankfurt ebenso wenig wie du. Was sagst
du jetzt?“ Er schaute Alex ganz stolz an und glaubte sich in dem Augenblick selbst, dass es seine
eigene Entscheidung war. So war er eben!
„Hmm… toll Schatz, dann kann ich ja in den nächsten Wochen die Wohnung renovieren!“ war die
einzige Entgegnung von Alex, die allerdings innerlich einen Freudensprung machte, aber das hätte
jetzt nicht ihrer Rolle gepasst.
Matthias war empört und in seiner männlichen Eitelkeit gekränkt. Da machte er ihr das Geschenk,
auf ihre Wünsche eingegangen zu sein und entsprach ihrem Willen, nicht zu gehen, und sie reagierte
gar nicht!
„Freust du dich denn gar nicht?“ Dieses Nachbohren hatte er Alex schon oft zum Vorwurf gemacht,
aber in diesem Augenblick fiel ihm nicht auf, dass er es genauso tat.
„Doch, klar“, sagte Alex betont schläfrig und kuschelte sich noch tiefer an ihn, wobei sie wie zufällig
eine recht empfindliche Stelle an ihm berührte. „Aber für dich hätte es ich den Umzug in Kauf
genommen, und da gibt es bestimmt auch ganz tolle Angebote, Kurse zu belegen oder so. Aber so ist
es natürlich besser.“ In Gedanken klopfte sich Alex auf die Schulter, sie benahm sich wie eine
Gummiwand und bot Matthias aber auch gar keinen Angriffspunkt. Bisher hatte sie die Fortbildungen
in Gesprächsführung immer als langweilig abgetan, aber nun war sie froh, einige davon hinter sich
gebracht zu haben. Das Lächeln auf ihrem Gesicht war insofern echt.
Zum Glück wurde in diesem Augenblick der Krimi wirklich spannend und Matthias war abgelenkt von
Gespräch mit seiner Frau, die sich wieder ein wenig räkelte und ihn erneut wie un-beabsichtigt
unsittlich berührte.
Eine Dreiviertelstunde später war der Krimi vorbei, der Mörder war wie immer durch die Genialität
des Detektivs gefasst und die Hauptfigur konnte sich an einem Imbiss mit Fish’n Chips ungesund den
Magen füllen, ehe er zu seiner Frau nach Hause ging - Zeit zum Insbett gehen also.
Alex stand umständlich auf, nicht ohne erneut Matthias ein wenig an seine innersten und äusserst
männlichen Bedürfnisse zu erinnern, und gähnte.
„So, Schatz, ich gehe jetzt ins Bett“, und gab ihm einen zärtlichen Kuss.
„Hmmm… Alex, hast du Lust… also, willst du nicht ins Schlafzimmer mitkommen?“ war sein leiser
Versuch, den Abend völlig harmonisch ausklingen zu lassen.
„Schatz, das ist ganz lieb von dir, aber das Gute ist: Wir müssen jetzt keinen Sex mehr auf Bestellung
haben, und eine Pause wird mir gut tun. Sonst war es doch immer so, dass wir die fünf Tage vor dem
Eisprung Dauerkopulieren geübt haben, und das zehrt. Ich denke, wir sollten mal wieder ein wenig
relaxen.“ Und dann, in der Tür zu „ihrem“ Zimmer stehend drehte sie sich noch einmal zu ihm um –
auf diesen Augenblick hatte sie den ganzen Abend schon gewartet - und schenkte ihm ihr
strahlendstes Lächeln: „Weisst du, Matthias, irgendwie bin ich auch froh, dass wir mit dem
Kinderwunsch erst einmal abgeschlossen hatten. Denn bei mir ist ja alles in Ordnung, hat mir die
Frauenärztin bestätigt, und den Druck eines schlechten Spermiogramms … na ja, ich hatte immer
Angst, dass du das nicht so gut verkraften würdest, aber nun musst du mir ja nichts mehr beweisen“,
drehte sich um und zog die Tür hinter sich zu.
Folge 40
Matthias war mit der Türklinke in der Hand abrupt stehen geblieben. Was sollte denn das heissen?
Schlechtes Spermiogramm? Wovon redete sie denn, sein Samenerguss war doch vorbildlich! Und er
konnte sich rühmen, mit der Genauigkeit einer Schweizer Uhr zu ejakulieren! War Alex jetzt völlig
von Sinnen? Und was hiess das, bei ihr sei alles in Ordnung? Sie wollte doch nicht allen Ernstes
behaupten, dass bei ihm etwas nicht stimmte. Das war ja völlig absurd!
Den Kopf schüttelnd ging er in sein Fussballzimmer und besah sich das Chaos, das er zu-rückgelassen
hatte. Egal, jetzt wurde geschlafen, morgen war ein neuer und anstrengender Tag. Und er musste
Alex noch fragen, ob er ihren Wagen morgen… ob er noch einmal zu ihr gehen sollte? Aber das
Schliessen ihrer Tür war doch so deutlich – nicht in der Lautstärke, sondern in der Art der Aussage
gewesen, dass er das nicht wagte.
Matthias gehörte immer zu den Menschen, die sich nur im Bett umzudrehen brauchten, um schon zu
schlafen. Doch heute wollte ihm das nicht so recht gelingen, zu viele Gedanken gingen ihm durch den
Kopf. Alex hatte ihren Job aufgegeben, ohne ihn davon zu informieren. Das war aber doch etwas, was
man gemeinsam besprach! Immerhin betraf es ja ihrer beider Zukunft.
„Naja, okay, ich habe ihr das ja doch öfter angeboten“, dachte Matthias, aber er hatte ja nie damit
gerechnet, dass sie das auch tun würde. Er war empört, wie konnte sie eine solche Entscheidung
ohne ihn treffen und ihn vor vollendete Tatsachen stellen! Und dann diese Unterstellung, er sei nicht
reif für ein Kind. Hatte er sich nicht ganz prima mit Max unterhalten? Und Spass gemacht hatte es
auch, das musste er zugeben. Ehrlicherweise musste er allerdings eingestehen, dass er selbst von sich
überrascht war, wie viel Spass er daran gehabt hatte. So einen kleinen Max hatte er sich in diesem
Augenblick schon gut vorstellen können. Aber er hatte ja noch Zeit, mit Mitte 30 musste er ja noch
nicht in Panik verfallen.
„Was hatte Alex gesagt? Sie hatten ja noch Zeit, und wenn es dann nicht klappen würde, wäre es ja
auch egal“, sinnierte Matthias vor sich hin. Das hiesse aber, dass sie mit ihrer Entscheidung wieder
einmal ihrer beider Zukunft in die Hand nahm, denn wenn es dann wegen Alex’ Alter nicht mehr
klappen sollte, dann wäre er ja auch Leidtragender. Auf der anderen Seite, jetzt schon ein Kind,
warum eigentlich? Oder auch, warum eigentlich nicht?
Wenn er allerdings nach London gehen sollte, dann könnte Alex ohnehin nicht arbeiten (wobei er
den Gedanken, dass sie es schon jetzt nicht mehr tat, zunächst verdrängte). Und ein Kind könnte
zweisprachig aufwachsen. Er wäre dann „Daddy“. Matthias gefiel sich plötzlich in dem Gedanken,
einen englisch-brabbelnden Max an der Hand zu haben. Was für ein nettes Bild er abgeben würde! Er
mit seinem Sohn im Regent’s Park! Aber nicht jetzt. Und ausserdem wollte Alex ja nicht mehr.
Mit diesen und anderen Gedanken verfiel er in einen ungewohnt unruhigen Schlaf, er träumte von
Ilse, die ihm vorwurfsvoll Dinge sagte wie „Siehste Junge, ich hab’ es dir immer gesagt…“ und von
Alex, die mit Lockenwicklern am Frühstückstisch sass. Und in einer andern Szene sah er sich in einer
langen Schlange bei der Agentur für Arbeit stundenlang anstehen, vor ihm Ralph und hinter ihm Frau
Meyer, mit denen er sich die ganze Zeit stritt, was sie bei ihrem Projekt besser hätten machen
können. Kein Wunder also, dass er schlecht schlief…
Alex hingegen hatte Phoebe noch in ihr Zimmer gelassen und dachte über den Abend nach. Fast
schon hatte Matthias ihr leid getan, wie er so von ihr überrumpelt wurde, aber sie war bis ins Mark
von ihm getroffen mit seiner Art, ihr Leben zu bestimmen, und dafür sollte er büssen! Klar war dabei
ja, dass sie eigentlich damit ihre Ehe retten wollte, auch wenn ihre Strategie etwas ungewöhnlich
war. Ihre Katze im Arm schlief sie tief und fest ein.
Leider fand dieser Schlaf um etwa 3 Uhr ein jähes aber typisches Ende, sie musste die diversen Tees
ins Bad bringen. Zuvor kramte sie allerdings das dafür bestimmte Schnapsglas heraus, denn es war ja
früher Morgenurin. Oder sollte sie dann den vom Morgen nehmen? Egal, sie würde beides tun und
beide Tests benutzen. Allerdings war bei beiden der Zeitraum zum letzten Wasserlassen recht kurz,
und sie hoffte, dass das ausreichen würde.
Phoebe vorsichtig zur Seite stupsend begab sie sich also ins Bad. „Guten Morgen Klothilde“, sagte sie
im Tran. Sie hatte zur Vorsicht auch ein Teststäbchen mitgenommen, besser ist besser, und entschied
kurzfristig, unter Umgehung des Glases einen Direkttest zu machen. Minutenlang starrte sie auf den
Test, der sich im Vergleich zum Vortag nur ganz leicht rechts verfärbte. Alex war enttäuscht. Kein
positives Orakel mehr? Ihr kamen fast die Tränen, aber sie deutete es so, dass der Zeitraum zur
Anreicherung des Urins eben doch zu kurz war. Und mit dieser Erklärung begab sie sich
einigermassen getröstet wieder ins Bett, Phoebe eng an sich ziehend.
Folge 41
Pünktlich um 6 Uhr setzte Phoebe ihre hypnotischen Kräfte ein, um ihre Dosenöffnerin zu wecken:
Die Katze sass auf dem Schreibtisch, wie so häufig in diesem Zimmer bequem auf Unterlagen für die
Steuer plaziert und starrte Alex unverwandt an. Und Alex’ innere Uhr war schon so ausgeprägt, dass
sie prompt die Augen aufschlug, oder dies zumindest ernsthaft versuchte. „Na du kleine Ratte“,
schmunzelte sie und räkelte sich. Wieder einmal beglückwünschte sie sich zu ihrem Entschluss, das
Temperaturmessen aufgegeben zu haben, weil vermutlich schon ihr morgendliches Räkeln das
Ergebnis verfälscht hätte. Zumindest meinte sie das. Und heiss war ihr heute, was sie mit Freude
feststellte. Also ganz subjektiv betrachtet konnte sie sich schon vorstellen, bei der Körperwärme
schwanger zu sein.
Mit einem zielgerichteten Schlenker zum Katzenfutter ging Alex ins Bad, um einen neuen LH-Test zu
machen. Natürlich fiel auch dieser negativ aus, aber Alex hatte schon gar nicht mit einem positiven
Orakel gerechnet aufgrund der zwiegespaltenen Nacht und dessen Morgenurins.
Für diesen ersten Tag ihrer angebrochenen neuen Lebensphase hatte sie sich etwas sehr Schönes
ausgedacht. Übrigens hatte sie sich sehr wohl beurlauben lassen, aber anders, als sie Matthias hatte
glauben lassen. Tatsache war, dass ihr Chef sie gebeten hatte, ihren restlichen Urlaub aus dem
Vorjahr in dieser Zeit zu nehmen, weil im Büro erfahrungsgemäss saisonal derzeit etwas weniger zu
tun war, und genau das hatte sie getan. Vier Wochen frei! Allerdings mit der Bitte, bei Fragen
umgehend zur Verfügung zu stehen und im Zweifelsfall auch ins Büro zu kommen. Aber das musste
Matthias ja noch nicht wissen.
Phoebe umkreiselte schnurrend ihre Beine und stand ständig im Weg, als Alex das Frühstück
vorbereitete. Und dabei sang sie lauthals. Mit einer Tasse heissen Kaffee – mit sauberem Zucker
übrigens- klopfte sie an die Schlafzimmertür und öffnete sie mit den Worten: “Guten Morgen, mein
Schatz, hast du gut geschlafen?“ Matthias Versuch, sich tot zu stellen, half nichts, unbarmherzig gab
seine Frau ihm einen Kuss auf die unrasierte Wange, um dann die Vorhänge zu öffnen. „Aufstehen,
das Frühstück ist fertig!“ Und damit rauschte sie aus dem Zimmer.
Vor der Tür musste sie fast laut loslachen, denn Matthais war absoluter Morgenmuffel, und nichts
war für ihn schwerer zu verdauen als eine fröhlich schmetternde Ehefrau am Morgen. Beschwingt
stimmte sie erneut ein Lied an und suchte im Radio den Küchensender ihrer Mutter. „Ha, das ist er!“
dachte sie triumphierend, als Helmut Lotti aus dem Äther schallte.
Als Matthias sich unter körperlicher Zuhilfenahme des Kaffees aus dem Bett geschält hatte, prangte
auf dem Frühstückstisch bereits ein vollständiges Frühstück mit frisch gebackenen Brötchen, Rührei,
Speck, Butter und Marmelade und sogar seiner geliebten Nutella. Alex hatte an alles gedacht, sie sass
am Tisch, neben sich einen Kaffee und las eine Frauenzeitschrift (die sie extra für diesen Zweck von
einer Bekannten erbeten hatte, weil der Inhalt so gut zu ihrer Strategie passte). Ihrem Mann warf sie
einen aufmunternden Blick zu und sagte: “Kommst du? Das Rührei wird kalt. Ich dachte, ich mache
jetzt jeden Morgen gemeinsames Frühstück. Ist bestimmt gut für unsere Beziehung, oder?“
Matthias war sich da gar nicht so sicher. Einerseits hatte er noch schwer an den Informationen des
Vorabends zu knabbern, andererseits war er eben Morgenmuffel, und das schloss bisher ein, dass
Alex seine morgendliche Zeit respektierte und damit ebenso, dass er nie ausgiebig zuhause
frühstückte. Aber auch er musste in diesem Augenblick einsehen, dass er nichts, was seine Ehe
verbessern würde, ablehnen durfte, wenn er Alex halten wollte, und sie gab sich ja besonders Mühe.
Also unterdrückte er ein Knurren und presste ein „Ich putze mir nur schnell die Zähne und wasche
mich“, heraus, um erleichtert in die Ruhe des Bades zu verschwinden.
Während Matthias mit einem äusserst unguten Gefühl im Bad werkelte, sass Alex wie die Spinne im
Netz, die auf die Fliege wartete. Die Zeitschrift neben ihr interessierte sie eigentlich nur wenig, hier
stand nur, dass Prinzessin Letizia nun doch endlich schwanger geworden war.
„Wie hat die dünne Trulla das bloss geschafft?“ fragte sich Alex neidisch.
Endlich kam Ihr Mann aus dem Bad und setzte sich auf seinen angestammten Platz. Alex reichte ihm
ungefragt alles, was er brauchte und strahlte ihn an. „Möchtest du etwas Rührei? Ist es dir genug
gewürzt?“ plapperte sie vor sich hin. Wie oft hatte er sich beklagt, dass mit der Berufstätigkeit seiner
Frau die häusliche Gemütlichkeit zu kurz kam, und das hatte er nun davon.
„Danke, Alex, ich habe alles, es ist ja doch ganz schön viel und du weisst, dass ich…“
Alex liess ihn gar nicht ausreden und sagte genau das, was Ilse gesagt hätte (wobei sie das Wort
„Junge“ natürlich aussparte): „ Aber du musst dich doch vernünftig ernähren. Und morgen probiere
ich dann einmal frisches Obst und Müsli, okay?“ Und setzte dabei ihr umwerfendstes Lächeln auf, so
dass sich Matthias nicht traute, etwas dagegen zu sagen. Aber ihm schwante in diesem Augenblick,
dass eine Alex ohne konkrete Aufgabe für den Tag, wie es die Arbeit gewesen war, eine ganz andere
als seine geliebte Ehefrau war…
„Sag’ einmal, ich brauche deinen Wagen, weil meiner in der Werkstatt ist…“
„Tut mir leid, Schatz, ich brauche ihn auch, ich wollte mich bei der VHS für ein paar Kurse anmelden.
Ich dachte, ich fange mit etwas in Richtung Handarbeit an, so Makramee oder Klöppeln, was meinst
du?“
Matthias fiel nun fast der Unterkiefer runter und murmelte nur ein „Wenn du meinst…“, fügte dann
leicht ergeben an: “Kann du mich denn ins Büro bringen?“ Worauf Alex enthusiastisch entgegnete:
„Gerne, und abholen kann ich dich auch, ich habe dann ja Zeit für dich.“
Dass dieses Verhalten für Matthias ungewohnt war, sollte klar sein, er fühlte sich schlichtweg
äusserst unwohl in seiner Haut mit einer frisch gebackenen Hausfrau, wie er sie sich früher immer
erträumt hatte. Was hatte seine Mutter immer gesagt? „Wünsch dir nichts unbesonnen, es könnte
wahr werden.“
„Ich suche mir eben eine passende Krawatte“, mit diesen Worten wollte er Reissaus nehmen, doch in
diesem Augenblick blickte Alex von ihrer Zeitschrift auf und fragte: „ Zeig mal deine Hände, hier steht
etwas über Zeugungsfähigkeit und Fingerlänge: „…dass Männer besonders zeugungsfähig sind, deren
Zeigefinger in Relation zum Ringfinger extrem kurz sind. Bei Frauen verhält es sich genau
andersherum: Sie sind fruchtbarer, wenn ihr Ringfinger nicht oder kaum länger ist als der
Zeigefinger.““ Und fügte mit einem Blick auf seine Hand an: „Ach, musst nicht traurig sein, ist ja nicht
so wichtig.“
Folge 42
Völlig entspannt brachte Alex Matthias zu seiner Firma, und teilte ihrem Mann bei dessen Aussteigen
beiläufig mit, dass sie nun shoppen ginge und dazu Geld vom gemeinsamen Konto abheben wolle.
„Du hast doch nichts dagegen, oder, Schatz?“ Alex strahlte ihr neues befreites Lachen, und das
Blitzen in ihren Augen war echt. Schon immer hatte sie es sich gewünscht, einfach einmal so durch
die Läden zu gehen und nach Herzenslust einzukaufen, doch bisher hatte sie immer Gründe
gefunden, warum das nicht ging, das eine Mal fand sie sich selbst zu moppelig und wollte mit der
Figur nichts Neues kaufen, das andere Mal war sie zu geizig.
„Männer denken immer, es gibt tausend Gründe, Geld auszugeben, dabei gibt es tausend Gründe,
kein Geld auszugeben.“ Und mit diesen Gedanken holte sie zunächst die Maximalsumme an Bargeld
aus dem Automaten und zog los. Sie hatte einen etwas zu eng gewordenen Pullover an, und leider
zeichnete sich darunter ihr Kinderwunschbauch deutlich ab. Wie oft hatte sie ihn nur zum Spass
herausgestreckt, doch heute störte er sie schon. Ihr schien sich fast die Jacke ein wenig nach vorne zu
wölben.
„Naja, es kann ja auch sein, das das ein echter Kugelbauch ist. So in Anfängen…“ kommentierte sie ihr
Spiegelbild im Schaufenster.
Zielstrebig steuerte sie auf einen kleinen Laden zu, der ihr schon lange durch seine farblich
aufeinander abgestimmte und liebevoll gestaltete Dekoration im Schaufenster aufgefallen war. Ein
Blick auf die Preisschilder bestätigte ihr, dass dies durchaus ein Laden war, in dem sie kaufen konnte.
„Mittleres Preissegment würde der Fachmann sagen“, murmelte sie vor sich hin und wunderte sich
schon gar nicht mehr, dass sie mit sich selbst sprach. Oder war das ein Signal des Körpers, dass sie
gar nicht mehr alleine war?
Frühjahrs- und Sommermode war ausgestellt in freundlichen Orange-Gelbtönen mit Dunkelbraun
und frechem Grün. Und zu allem waren passende Taschen, Tücher oder Schuhe drapiert.
Beschwingt betrat Alex das kleine Lädchen, in dem eine Verkäuferin umsichtig versuchte, einer
Käuferin grösseren Ausmasses den Kauf eines zu engen Oberteils auszureden.
„Wir haben hier noch ein entzückendes anderes Stück, wenn Sie das vielleicht noch einmal probieren
möchten? Es passt so wunderbar zu ihrem Teint und würde den Rock so gut ergänzen.“
Keine Frage, hier war ein Profi am Werk. Alex ging versonnen an den Ständern mit Kleidern vorbei
auf die Oberteile zu. Eine in leuchtenden Orange- und Rottönen gemusterte Bluse aus
weichfliessendem Stoff hatte es ihr besonders angetan, das ab und zu auftauchende Dunkelbraun
passte genau zu ihren Augen und zu ihrem Haar, das sie ja wieder mit einem Rotton tönen würde.
Nach der Mens, versteht sich. Und fröhliche Farben für heisse Tage hatte sie bisher auch nicht, sie
war eher der klassische Typ, der den Sommer in Weiss oder Blau verbrachte. „Dazu eine
kaffeebraune Leinenhose wie die da drüben“ sinnierte Alex und liess sich den Stoff durch die Finger
gleiten. Ein prüfender Blick auf die Pflegehinweise beruhigte sie weiter. “Klasse da kann die Kleine
dann auch mal ein feuchtes Bäuerchen machen, wenn … ist ja gut waschbar.“ Alex nahm die Bluse
vom Ständer und schritt in Richtung Umkleidekabine, in der die dralle Käuferin umständlich
versuchte, aus dem engen Oberteil zu kommen. Im Gegensatz zu Alex hatte sie ein Teil Marke
„Kittelschürze“ erwischt, von dem sich Alex nicht hätte träumen lassen, dass es das überhaupt in
diesem Laden gab, es war bläulich gemustert und hatte einen runden Ausschnitt, keine Ärmel und
fiel figurschonend über alle Rundungen des weiblichen Körpers. Dennoch hörte sie ein
triumphierendes „Nehm ich!“ aus der Nachbarkabine. Ebenso hörte sie einen ergebenen Seufzer vor
der Kabine, das durch ein anschliessendes „Dann tippe ich es Ihnen schon mal ein…“ beendet wurde.
Mit leichtem Lachen zog Alex die von ihr auserkorene Bluse an, die über dem Busen, den sie heute
etwas praller fand als sonst, etwas locker sass. Vielleicht etwas zu locker? Sie drehte sich vor dem
Spiegel, als eine zweite Verkäuferin sie ansprach. „Kann ich Ihnen helfen?“ Eigentlich mochte es Alex
nicht so, wenn sie durch das diskrete Nachfragen von Verkäuferinnen das Gefühl bekam, sich
drängen zu lassen oder ihr Geheimnisse wie Kleidergrösse oder BH-Körbchen anzuvertrauen, doch
diese bot recht selbstverständlich ihre Hilfe an.
„Siehst perfekt bei Ihnen aus, und die Farbe passt sehr gut zu ihren Haaren, und bei dem Schnitt
können Sie es auch nachher noch tragen.“
Alex nickte, ja, die Bluse konnte sie auch im Herbst noch tragen, der Schnitt war fast zeitlos und die
Farben passten auch zur kühleren Jahreszeit. Doch der Blick der Verkäuferin irritierte sie schon.
Dennoch, die Bluse gefiel ihr gut.
„Ich habe da auch noch etwas, was Ihnen bestimmt gut stehen wird, und das ist dann verstellbar.
Wenn Sie es probieren, können wir gleich sehen, ob es langfristig passen wird.“ Die Dame hielt ihr
eine schlichte und sehr schön geschnittene Wickelbluse hin, an deren Ausschnitt zusätzliche
Schlaufen waren, um auf unterschiedliche Fülle der Trägerin Rücksicht zu nehmen.
Und da Alex an weissen Blusen praktisch immer Gefallen fand, ging sie bereitwillig in die Kabine
zurück und versuchte sich an dem Wickelteil. Kaum hatte sie den schützenden Vorhang vorgezogen,
hörte sie im Hintergrund Getuschel der beiden Verkäuferinnen, von denen die zweite nun arbeitslos
war, da die dickliche Dame das Geschäft unter Mitnahme des bläulichen Modeundings verlassen
hatte.
„Man darf auch nicht vergessen, dass der Bauch in der Schwangerschaft dann ziemlich oben sitzt!“
Alex hielt den Atem an, ganz sicher meinten sie die eben gegangene Kundin, doch ein prüfender Blick
auf das Etikett der Bluse wies deutlich aus: „Glücklich durch die Schwangerschaft, ungezwungen gut
angezogen.“ Fassungslos setzte sie sich auf den Schemel. Sah man es schon? Dabei hatte sie noch
nicht einmal einen positiven Test in der Hand! Sie schaute an sich herunter und musste erneut
zugeben, dass ihre Figur sich schwangerschaftsmässig wölbte. „Vermutlich denken die, ich sei schon
im 4. Monat!“ dachte sie entsetzt, doch dann brach ihr Sinn für Komik wieder durch. Okay, wenn
schon, denn schon.
„Haben Sie auch eine passende Hose dazu, Sie wissen schon…“ Alex bedachte die Verkäuferin mit
einem wissenden Blick.
„Oh, tut mir leid, die führen wir normalerweise nicht, aber wir können Ihnen gerne eine bestellen.
Mit Bindelösung oder Verstellteinschub? Die trägt meine Schweigertochter derzeit auch, sie ist im
Mai so weit, und die Hosen sitzen noch prima.“
“Danke, das ist nett, aber ich möchte sie wenn dann gleich mitnehmen. So viel passt mir ja bald nicht
mehr…“ setzte Alex drauf, ganz siegersicher, als sie ein fröhlich geschmettertes „Hallo Alex!“ hörte,
das klang, als hätte ein Vögelchen gezwitschert.
Folge 43
Während Alex sich recht elegant in eine Sackgasse manövriert hatte, sass Matthias erschöpft am
Schreibtisch. Dieser Morgen lag ihm wie das Rührei im
Magen, und dazu noch das Gespräch vom Vortag, das er kaum verdaut hatte. Nicht einmal der
morgendliche Kaffee, den ihm seine Assistentin
gewohnheitsmässig auf den Tisch gestellt hatte, schmeckte ihm. Vor sich hin sinnierend schaute er
auf seine Hände. Was hatte Alex gesagt? Meinte sie
etwa wirklich, er sei an der Kinderlosigkeit schuld?
"Quatsch, das kann ja gar nicht sein," wehrte er innerlich ab. Dennoch begann diese Unterstellung
hinterhältig an seinem männlichen Ego zu kratzen.
Allein die Tatsache, dass ER an der Kinderlosigkeit in irgendeiner Form beteiligt sein sollte, irritierte
ihn. Er war doch immer parat, wenn diese
Tage bei Alex herannahten. Und Spass hatten sie beide ja auch daran gehabt. Matthias schüttelte
den Kopf. "Und hatte sie nicht immer lachend gesagt, er
könnte problemlos ein Schnapsglas füllen. Na eben." Damit schloss er ganz männlich überzeugt das
Thema für sich ab. Dachte er zumindest.
Mittags traf er zufällig Ralph in der Herrentoilette.
"Mahlzeit", grüsste er ihn. "Mahlzeit", schallte es fröhlich zurück und Seite an Seite versuchten sie
synchron die emaillierte Fliege im Becken zu treffen, die schlaue Menschen dort eingebaut hatten,
um weiträumige Spritzer zu vermeiden. Der Jagdinstinkt des Mannes funktionierte eben bis ins letzte
Glied.
Wie immer wurde dabei ein prüfender Blick auf das edelste Teil des Kollegen geworfen, und diesmal
musste sich Matthias neidvoll eingestehen seltsamerweise war ihm dies zuvor gar nicht aufgefallen - dass Ralph über mehr Männlichkeit über
dem Becken verfügte als er. Und Ralph hatte Max und
Meike...
Ja, Max, der süsse Knirps, irgendwann wollte Matthias auch einen Max. "Na Ralph, alles klar?"
begann Matthias sein Gespräch. "Klar", entgegnete sein Kollege zuversichtlich. Eine innere Ruhe ging
beneidenswerterweise von ihm aus. "Mann, schon fast Mitte der Woche", fuhr Matthias fort und
schüttelte ein
paar Tropfen ab. "Ja, irre wie die Zeit vergeht, was? Und weisst du was? Es ist doof und ich habe das
als Kind immer gehasst, wenn meine Tante sagte "Ach, bist du aber wieder gross geworden!", aber
mir geht es jetzt auch so, an den Kindern sehe ich, wie die Zeit vergeht. Man kann auch sagen: Wie
ich älter werde." Ralph
lachte amüsiert, als hätte er einen tiefgründigen Witz gemacht, aber Matthias blieb das Lachen ein
wenig im Halse stecken. "Wie ich älter werde",
hallte ihm in Kopf. Er war doch noch super zupasse, oder? Naja, ein wenig Fitness wäre gut, aber
eigentlich hatte er das doch gar nicht nötig. Was
hatte Alex da gesagt? Sowas von wegen sie wird nicht jünger, aber wenn es nicht klappte, wäre das ja
nicht so schlimm.
"Ja, eure beiden, die sind wirklich niedlich." Dabei bewegten sie sich unter Umgehung des
Waschbeckens zur Tür.
"Wollen wir zusammen Mittag machen?"
"Gerne, ich hole nur eben schnell mein Geld", sagte Ralph erfreut und verschwand noch leicht an der
Hose zuppelnd in seinem Büro. Matthias musste
ebenso noch Geld holen und rief nur kurz "ich hole dich gleich ab", und verschwand seinerseits im
Büro. Keine drei Minuten später stand Matthias vor
Ralphs Bürotür und stiess diese schwungvoll auf. "Na, fertig?" "Na klar, ich bin es gewohnt, alles
schnell zu erledigen." Ralph lachte und wieder einmal beneidete Matthias ihn um seine Gelassenheit.
"Na, denn komm. Ins Bistro? Kleinen Snack?" Und so zogen beide los.
Folge 44
Geistesgegenwärtig brachte Alex heraus : „Oh, hallo Ilse“ und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange
„schön, dich zu treffen.“ Und zur Verkäuferin gewandt „Danke, ich hol’s mir dann ab, wenn’s dann
mal so weit ist…“ und schaute ihr mit einem beschwörenden Blick auf ihre Schwiegermutter direkt in
die Augen. In diesem Augenblick beglückwünschte sich Alex, in diesen Laden gegangen zu sein, denn
hier stand geschultes Personal. Ohne mit der Wimper zu zucken verstand die Verkäuferin – zwar
falsch, aber mit dem richtigen Ergebnis – und entgegnete: „na ja, man kann ja nie wissen…“ nahm die
weisse Bluse zurück und fragte: „Soll’s die bunte sein?“
„Ich komm noch mal zurück“, entgegnete Alex und wandte sich Ilse zu, die zum Glück nichts von der
Misere mitbekommen hatte. „Und wir gehen jetzt einen schönen Milchkaffee trinken, oder?“ Mit
diesen Worten zog sie die willige Schweigermutter aus der Gefahrenzone.
„Man kann ja nie wissen“, hallte es ihr noch im Ohr, so dass sie den Erzählungen von Ilse, die gerade
an einer entzückenden Handtasche für sündhaftteures Geld verzweifelte, nur mit halbem Ohr
lauschte. Immerhin war das gemeinsame Kaffeetrinken ausserordentlich kurzweilig, denn sie waren
im Stammcafe von Ilse gelandet, die nun von allen Seiten gegrüsst und mit Gesprächen belegt wurde.
In kurzer Zeit wusste Alex über alles Unwichtige und manches Wichtige in ihrer Stadt Bescheid, eine
neue und durchaus angenehme Erfahrung.
„Und was machst du um diese Zeit in der Stadt“, drehte sich Ilse nun endgültig zu ihr um.
„Ich habe Urlaub, ganz spontan.“
„Das ist gut, Alex, immer nur arbeiten ist auch gar nicht gesund. Ich finde ja auch, dass Matthias
zuviel arbeitet. Immer dieses Wegbleiben bis nach acht, das ist doch nicht normal. Gut, dass du dir
sicher sein kannst, dass da keine andere ist, sonst müsste man sich glatt Gedanken machen.“
Ups, daran hatte Alex noch gar nicht gedacht. Was denn, wenn Matthias kein Kind von ihr wollte,
weil er mit einer anderen ein Doppelleben führte. „Ach, Unsinn, ist ja völlige Quatsch“, schalt sie sich,
doch der kleine Stachel sass.
„Also der Mann einer Arbeitskollegin von mir, der hat ja auch immer gesagt, er müsse lange arbeiten.
Und weisst du was? Irgendwann wollte sie ihm mal sein Handy bringen, das er vergessen hatte, und
er war nicht im Büro. Er hatte frei genommen. So war das. Tja, ist jetzt auch schon etliche Jahre her,
das war noch so ein grosses Handy mit herausziehbarer Antenne. Aber geschieden sind die nicht, nur
leben sie nebeneinander her. Traurige Geschichte. Ich glaube, die haben aber auch keine Kinder…“
Ilse versuchte, sich genau zu erinnern, aber so ganz gelang das nicht.
„Ach, und etwas wollte ich dich schon lange mal fragen: Ich habe doch noch die alten Bilderalben der
Kinder, wollt Ihr die nicht haben, zumindest die von Matthias. Ich habe sie letztens von Boden geholt
und schön sauber gemacht, sie waren ja ganz eingestaubt, aber eigentlich gehören sie ja zu den
Kindern, nicht zu uns. Und wenn ihr mal Kinder habt, dann könnt ihr ihnen zeigen, wie der Papa mal
ausgesehen hat. Ich habe natürlich ein wenig darin gestöbert, war schon putzig, der Kleine, da waren
aber auch lustige Photos drin. Wie er mit dem Tuch um den Kopf in seinem Zimmer spielte, als er
Mumps hatte. Wie ein süsser Engel, dabei ging es ihm gar nicht gut damals…“
Den Rest der Erzählung bekam Alex nur annäherungsweise mit. „Mumps! Das kann doch nicht wahr
sein!“ dachte sie und liess ihre Gedanken kreisen.
Folge 45
„Ich nehme ein Hefeweizen.“
„Ich auch, gute Idee.“ Beide Herren sassen gemütlich im Bistro studierten die Karte.
„Eigentlich würde mir ja ein halbes Schwein auf Toast gut tun“, sinnierte Ralph. „Heute Morgen war
es so hektisch, Max wollte nicht in den Kindergarten, weil eine der Betreuerinnen ihn gestern
ausgeschimpft hat, weil er einem Kind das Spielauto weggenommen habe. Naja, ich kann das
verstehen, es muss wohl ein Sportwagen gewesen sein“, schmunzelte Ralph.
„Bei mir war es ganz das Gegenteil, Alex bleibt für’s erste zuhause und hatte alle Zeit der Welt.“
„Hey, super, kommt Nachwuchs?“
Matthias wurde heiss am Kragen. „Nein, wirklich nicht. Sie will sich Zeit für sich selbst und für mich
nehmen.“
„Du Glücklicher, wenn Katja so richtig Zeit für mich hätte, oh Mann, dann hätten wir bestimmt schon
vier oder fünf Kinder.“
„Naja, Alex will kochen und so komische Kurse an der VHS machen…“ Matthias liess den Rest seiner
Gedanken offen.
„Also weisst du, du bist echt ein Glückspilz. Deine Frau hat Zeit für dich, da könnte ich echt ins
Schwärmen kommen. Gemütliche Abende am Ofen – habt Ihr einen? – Kerzenlicht, leckeres Essen,
alles fertig, wenn du von der Arbeit kommst, und das Beste: Wenn sie Kinder haben will, und es
klappt nicht, dann ist dir ein erfülltes Leben zuhause – du weisst schon…“ ganz verstohlen machte
Ralph eine eindeutige Handbewegung und ein schwärmerisches Gesicht, „…für die nächsten Monate
sicher. Nichts ist toller als eine Frau, die Kinder haben will, bei der es aber nicht sofort klappt. Also
wenn du mich fragst, ich hätte mir das gewünscht.“
Ralph seufzte etwas gottergeben. „Leider hat es bei uns mit Max schon in den Flitterwochen
geklappt. Ehrlich, der Traum schlechthin, nur nicht für mich, denn dann war erst mal Sense. Und bei
Meike haben wir auch nur zwei Monate geübt.“ Sein Gesicht hellte sich auf. „Dabei hatte ich mich
schon gefreut, als Katja sagte, sie wolle noch ein Kind. Kann ja kein Mensch ahnen, dass das so
schnell geht…“ Ralph hing ebenso wie Matthais seinen Gedanken nach.
„Haben Sie schon gewählt?“ fragte in diesem Augenblick die Bedienung. Sie trug eine weisse Bluse,
die leicht durchscheinend war, und dazu einen kurzen schwarzen Rock.
„Ein Salami-Baguette und ein Hefeweizen.“
„Für mich ein Käse-Baguette und auch ein Hefeweizen.“
„Gerne.“ Die Bedienung warf den beiden einen schmachtenden Blick zu. Beide Herren guckten ihr
bedeutungsvoll hinterher, als sie zur Theke zurückging.
„Sahneschnittchen, was?“ grinste Ralph.
„Hehem… aber unsere Frauen sind ja auch nicht zu verachten“, holte Matthias beide aus den
Wolken. Im gingen noch Ralphs Worte durch den Kopf.
„Hast ja Recht. Und, wollt Ihr Kinder?“
„Ja, so in zwei, drei Jahren, denke ich.“
„Und bis dahin? Ich meine, worauf wartet Ihr?“
Diese Frage brachte Matthias aus dem Konzept, er empfand sie fast als indiskret. Vielleicht lag es
aber auch daran, dass selbst ihm seine Antworten nicht stichhaltig erschienen.
„Naja, Alex hat jetzt Zeit, und dann wollen wir erst mal die Zweisamkeit geniessen.“
„Aber Ihr seid doch beide Ende 30, oder? Also ich habe es nicht bereut, schon Kinder zu haben; und
Gründe, warum es gerade nicht passt, gibt es ja viele. Ich selbst hatte nur Angst, dass es aus
irgendwelchen Gründen nicht klappen würde. Ich weiss, das hört sich jetzt blöd an, aber es gibt so
viele Paare, bei denen es nicht so einfach klappt wie bei uns, glaub mir. Bei meinem Bruder und
meiner Schwägerin zum Beispiel, die hätten unglaublich gerne ein Kind, aber es klappt irgendwie
nicht. Und ich hatte irgendwie Angst, dass mir das auch passieren könnte, weil ich es da gesehen
habe. Natürlich habe ich mir auch immer gesagt, dass bei mir alles in Ordnung ist, aber – wie gesagt –
man weiss ja nie.“
Inzwischen hatte das leckere Sahneschnittchen ebenso leckere Baguettes gebracht und ein perlendes
Weizen für jeden. Und beide stiessen ordnungsgemäss mit dem dicken Ende der Weizenbiergläser
an: „Auf alle Sahneschnittchen!“ lachte Ralph.
„Übrigens, mein Bruder hat dann gar kein Bier mehr getrunken, weil Alkohol die Du-weisst-schonQualität verschlechtern soll. Furchtbar, was? Was dem entging…“ Ralph liess sich das Bier auf der
Zunge zergehen und genoss den Schluck in der Kehle.
„Ha, ein Genuss, was?“ Nur irgendwie schmeckte das Bier Matthias gar nicht mehr… dafür biss er
beherzt in das Baguette.
„Und Umweltgifte sollen ja auch zur Kinderlosigkeit beitragen, sagt er immer.“
Matthias blickte zweifelnd auf das Salatblatt und die Gurke auf dem Baguette.
„Na nun hör aber mal auf, du kannst einem ja das Essen ganz vermiesen.“
Ralph lachte: „Quatsch, das ist nur, was mein Bruder immer sagte. Ich fand das auch immer doof, und
geschadet hat es mir ja offensichtlich nicht. Ausserdem kann man ja wohl nicht sein ganzes Leben
umkrempeln, wenn es nicht sofort klappt, oder?“ Und mit diesen Worten prostete er seinem Freund
augenzwinkernd zu, den Rest seines Salatblattes im Mundwinkel.
Folge 46
Obwohl Alex brennend gerne bei Ilse nachgebohrt hätte, in welchem Alter Matthais denn Mumps
gehabt hatte, fühlte sie sich doch mit ihm insofern solidarisch, als sie immer abgemacht hatten, dass
niemand von ihrem Kinderwunsch wissen sollte. Zumindest niemand in der Familie, Hanna als
ehemals oder wieder beste Freundin war da etwas anderes. Absprache war, Stillschwiegen zu
bewahren, allerdings mit der Ausnahme, dass jeder von beiden bei Bedarf einen Freund bzw. eine
Freundin einweihen dürfe. Sie wusste daher auch nicht, ob Matthias vielleicht Jürgen eingeweiht
hatte, so wie sie ihren Mann aber kannte, war das eher unwahrscheinlich. Er war typisch männlich
verschwiegen, zumindest in diesen Dingen.
Ein gezieltes Nachfragen bei Ilse verbot sich daher, denn Ilse hatte sehr häufig und genau bei solchen
Dingen einen guten Riecher für den wahren Grund einer Frage.
„Wir hätten die Alben wirklich gerne, ich würde auch zu Matthias Geburtstag eventuell darauf etwas
scannen. Weisst du was? Ich komme gleich mit und nehme sie mit nach hause. Dann bist du sei los,
ich weiss ja, dass du es nicht magst, wenn bei dir solche Sachen herumliegen.“
Ilse schaute sie dankbar an. Sie mochte ihre Schwiegertochter sehr gerne, und sie schätzte ihr
Einfühlungsvermögen.
„Na, dann lass uns mal von dannen ziehen“, sagte sie fröhlich und bedeutete der Bedienung, dass sie
zahlen wollte.
Kurz darauf marschierten beide wohlgemut und innig untergeärmelt durch die Stadt, schauten sich
Schaufenster an und blieben hier und dort stehen.
„Guck mal, ist das nicht süss? Das wäre doch etwas für Henriette, unsere süsse Maus?“ Verliebt
lächelnd blickte die Grossmutter eine Auslage an, in der eine Schaufensterpuppe in Henriettes Alter
ein niedliches rosa Sweatshirt mit passend abgesetzter blauer Hose zeigte. Auch Alex schaute mit
verliebtem Lächeln die Puppe an. „So eine Süsse hätte ich auch gerne, und vielleicht…“ dachte sie
und sagte: „Komm, wir gehen rein und holen es. Sie sieht bestimmt süss darin aus.“ Und im Kopf
hatte sie, dass ihre eigene Tochter in etwas mehr als drei Jahren diese Kleidung übernehmen würde,
und sie sah sie direkt darin.
Nachdem Alex die Alben abgeholt und für das Abendessen eingekauft hatte, kam sie fast atemlos
zuhause an. Sie musste jetzt endlich wissen, wie alt Matthias war, als er Mumps hatte! Allerdings
orderte Phoebe erst ihr Recht und ihr Futter, und die Tiefkühlware musste erst verstaut werden.
Ungeduldig wieselte Alex durch die Küche und erledigte angespannt alles Notwendige. Dann setzte
sie sich an den Tisch und forstete die Alben durch, wobei ihr Blick nur auf eines gerichtet war: Ein
Kind mit Tuch um den Kopf.
Im zweiten Album wurde sie fündig: Matthias im Wohnzimmer, ein Tannenbaum im Hintergrund,
und er mit Tuch um den Kopf. Aus der Unterschrift war zu erkennen, das er acht Jahre war.
„Okay, Mumps mit acht, lass mal sehen…“ mit fahrigen Bewegungen machte Alex den PC an und gab
die Suchfunktion ein: „Mumps“.
Da stand es… Mumps kann zur Hodenentzündung und somit zur Sterilität führen, allerdings
vorwiegend bei Patienten, die im Männeralter daran erkranken.
Alex war erleichtert. Natürlich machte sie sich Gedanken darüber, ob es an ihr lag, dass sie nicht
schwanger war, oder ob bei Matthias irgend etwas nicht stimmte. Dieses Thema hatte sie ja in den
letzten Wochen ab und zu vorsichtig angesprochen, aber keine Resonanz erhalten. Und sie ärgerte
sich immer darüber, dass Matthias diesen Punkt immer abtat. Sie selbst zermarterte sich das Hirn,
woran es liegen kann, schluckte Tropfen, Pillen oder Globuli, verformte ihr ganzes Leben, um ja
nichts falsch zu machen, und er nahm das nicht mal wahr.
„Aber egal, er wird es schon merken“, dachte sie grimmig und suchte noch ein paar weitere Themen
im Internet. Und eines davon war „scharfe Gerichte für scharfe Männer“.
Folge 47
Während Alex nun wohlgemut das Abendessen zusammenstellte, wobei sie ja auf die bereits
eingekauften Lebensmittel in gewissem Sinne beschränkt war (allerdings war das nur eine geringe
Einschränkung, denn sie hatte den Kühlschrank in der Tat mit vielen gesunden Leckerbissen gefüllt),
sass Matthias ebenfalls am Computer, nur dass sein Suchwort „Spermienqualität“ lautete. Und
irgendwie machte ihn das, was er dort las, nicht froher als die warnenden Worte von Ralphs Zitaten
seines Bruders.
Nun hatte Matthias zwar nie geraucht, aber das eine oder andere Glas hatte er sich im Laufe der
Jahre schon genehmigt. Doch er verwarf diesen Gesichtspunkt sofort wieder, er trank weder
regelmässig noch viel. Mehr Kopfzerbrechen machten ihm Stichworte wie „Umweltgifte“, „Abgase“
und Krampfadern an den Hoden.
„Wie zum Teufel merkt man das denn?“ fragte er sich beunruhigt und begab sich ungehend auf
Toilette, um dort zu sehen, ob es etwas zu sehen gab. Fehlanzeige, der Blickwinkel war aber auch
unglaublich ungünstig. Zum ersten Mal wusste er Taschenspiegel zu schätzen, die Frauen so gerne in
der Handtasche mit sich herum trugen.
„Das muss doch gehen!“ Matthias versuchte, durch Verdrehen und Verrenken etwas zu sehen, doch
die Untersuchung scheiterte naturgemäss. Er wog rechts und links seine Männlichkeit in der Hand
und versuchte nun, eine Änderung der Temperatur festzustellen, doch auch dies gelang ihm nicht.
Ihm wurde warm „Oh Gott, Wärme ist ganz schlecht“, versuchte er sich zu beruhigen und packte sich
wieder ein.
Inzwischen war er auch nicht mehr allein auf der Herrentoilette, und als er leicht verschwitzt aus der
Kabine trat, grinste ihn ein Kollege aus einer anderen Abteilung an und sagte: “Na, schwere Sitzung
gehabt?“
„Wie’s denn dann so kommt…“ Matthias liess sich nichts anmerken.
Zurück im Büro öffnete er die Datei erneut. Was hatte er da gelesen? Er wiederholte den Text:
„…führt fast regelmässig zu einer Störung der Spermienproduktion, denn zum ungehinderten Ablauf
der Hodenfunktion ist eine Temperatur nötig (idealerweise ca. 32°C), die sich unterhalb der inneren
Körpertemperatur befindet und nur im Hodensack erreicht wird…. Eine ähnliche Problematik kann
durch eine Krampfader am Hoden hervorgerufen werden. Man nimmt an, dass diese verdickte Ader
die Temperatur des Hodens ebenfalls erhöht und die Spermienproduktion negativ beeinflussen kann.
Zur Beseitigung einer solchen Krampfader gibt es verschiedene operative Techniken. Manche
Urologen spritzen ein Medikament in die Ader, welches zu einem Verschluss führen soll.“ Matthias
verzog das Gesicht vor imaginärem Schmerz. Spritzen in dieses edle Teil?
In Themen wie Immunologie oder genetisch bedingte Einschränkung der Spermienqualität mochte er
sich schon gar nicht einlesen, das hörte sich ja noch furchtbarer an. Doch ein paar Tipps merkte er
sich schon: Also übermässig Sport treiben solle er nicht, weil man dabei leicht überhitzt, und das
wäre schon wieder schlecht für die Schwimmer. „Naja, so ein bisschen geht ja trotzdem noch“, sagte
sich Matthias und schaute weiter. „Vitamin C und D Kalzium und Zink…. hmmm… Zink, wo kriege ich
das denn her?„ Er machte sich einen Zettel, dass er sich ein Vitaminpräparat mit Mineralien und
Spurenelementen in der Apotheke besorgen wolle. Und was stand da (Matthias begann laut zu
lesen): „Halten Sie die Hoden kühl. Achten Sie darauf, weite Unterhosen und Hosen zu tragen, damit
die Hoden in ihrer natürlichen Entfernung vom Körper kühl bleiben können. In enge Unterhosen und
Hosen gequetscht, erwärmen sie sich auf Körperkerntemperatur und reagieren mit einer
verminderten Spermienproduktion. – ach du Schreck, also wieder Boxershorts, na Prost Mahlzeit, wo
ich die so hasse…“ Matthias sprach nun ganz losgelöst mit sich selbst. Also selbst wenn, was ja gar
nicht sein konnte, seine Spermienqualität eingeschränkt sein sollte, konnte er doch eine Menge tun.
„Und schaden kann es nicht,“ sagte er gerade, als seine Assistentin die Tür öffnete und ihn irritiert
fragte, er ob sie gerufen habe.
Mit etwas Bedauern musste er die beiden letzten Hinweise aufnehmen: Keine heissen Bäder mehr,
wenig Sauna und nur alle 4-5 Tage Sex. „Na toll, dann liegen wir beiden ja voll im Trend“, sprach er
mit Blick zwischen seine Beine, zwinkerte seinem Gesprächspartner zu und fuhr fort: „Aber das
kriegen wir schon in den Griff, was?“
Folge 48
Matthias kam den ganzen Nachmittag praktisch nicht zum Arbeiten, weil er intensiv mit der Suche
nach Informationen über Spermienqualitäten, Vitamine, Spurenelemente und Verhalten bei
Kinderwunsch beschäftigt war. Und je mehr er las, desto unsicherer wurde er.
Um 16.00 Uhr klingelte das Telefon, das Display zeigte, dass Alex am Apparat war.
„Hallo Matthias, wann soll ich dich abholen? Ich warte auf dich.“
Matthias war perplex, das hatte er noch nicht erlebt. Bisher war es so gewesen, dass Alex seine
Arbeitszeit immer gut genutzt hatte – oder sogar selbst noch arbeitete um diese Zeit; das war ja auch
ganz normal. Aber gut, heute hatte er sowieso keine Lust mehr zum Arbeiten.
„Kannst du in einer Stunde da sein? Ich warte dann unten auf dich. Lieb, dass du mich abholst.“
„Ist doch klar, das mache ich doch gerne für dich. Ich habe jetzt ja auch richtig Zeit für dich. Schön,
oder?“
„Super, Schatz.“ Letzteres klang nicht so recht überzeugend, deshalb setzte er hinzu: “Ich freue mich
riesig auf heute Abend.“ Wobei er dachte „Uff, gerade noch die Kurve gekratzt.“
Bereits ein halbe Stunde später stand Alex in seiner Bürotür, perfekt gekleidet in ihren schmal
geschnittenen schwarzen Mantel mit dem Webpelzkragen, ihren dazu passenden Hut tief ins Gesicht
gezogen und offensichtlich in Rock oder Kleid, denn an den Füssen trug sie Lederstiefel. So zog sie
sich normalerweise nur sonntags an, wenn die beiden bummeln gehen wollten. Matthias war so
verwundert und angenehm überrascht, dass er fast vergass, rechtzeitig die Dateien der
Kinderwunschseiten zu schliessen.
„Hallo mein Schatz, ich dachte, ich komme ein wenig früher, du freust dich doch bestimmt, mich jetzt
schon zu sehen. Und zuhause wartet schon das Essen auf uns, ich muss nur noch ein paar winzige
Dinge hinzufügen.“ Woran Alex dabei dachte, eröffnete sie ihm lieber nicht. „Wir machen uns jetzt
jeden Tag eine schönen Abend, oder?“ Alex strahlte ihren Mann hingebungsvoll an.
„Tolle Idee… ich muss nur noch…“
„Ich kann warten…“ mit diesen Worten setzte sie sich auf den Besucherstuhl im Büro und schaute ihn
erwartungsvoll an. Dass er so nicht weiterarbeiten konnte, war ihr wohl klar, und genau das
bezweckte sie ja auch.
„Hattest du einen schönen Tag?“
Matthias blicke von seinen Unterlagen auf, in die er sich gerade erfolglos zur Beruhigung vertiefen
wollte.
„Äh… ja.“ Er wurde ein wenig rot, weil er sich an den Mumpsprüfstand in der Herrentoilette
erinnerte. So ganz wohl fühlte er sich nicht in seiner Haut, ihm wurde warm, was nun gar nicht sein
durfte, und anders als früher hatte er auch das Gefühl, dass seine Hose nicht perfekt sass und im
Schritt etwas kniff. Das beunruhigte ihn, und diese Unruhe brachte seinen Wärmehaushalt wiederum
weiter in Schwung.
„Komm, wir fahren nach hause, ich habe hier keine Ruhe mehr…“ mit diesen Worten ordnete er
halbherzig seine Unterlagen und stand auf.
„Warm hier drinnen, findest du nicht?“ fragte Alex mit Blick auf den Heizkörper.
„Wirklich? Ich dachte, es läge an mir, ich drehe die Heizung weiter runter, bei der Arbeit soll man ja
eine kühlen Kopf bewahren.“ Dass er ein anderes Körperteil meinte, lag auf der Hand.
Zuhause wartete eine ebenso warme, dazu aber köstlich duftende Wohnung auf beide.
„Ich habe es schön muschelig gemacht, damit es gemütlich ist...“, erklärte Alex und verzog sich in die
Küche. Matthias dagegen ging ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen.
„Diese Hose kneift aber auch wirklich an der falschen Stelle. Das kann ja nicht gesund sein,“ dachte er
bei sich und suchte im Schrank nach etwas Bequemen.
„Alex? Hast du meine Bundfaltenhose gesehen? Die graue aus Wollstoff?“
„Die ist im Altkleidersack, wieso fragst du? Du wolltest sie nicht mehr anziehen, weil sie dir zu
pluderig war.“ Das war die Antwort, die aus der Küche kam. Matthias setzte sich entnervt auf sein
Bett. Auch seine Suche nach den Boxershorts war erfolglos geblieben und tief im Innern meinte er
sich zu erinnern, dass auch die Unterwäsche den Weg in östliche Länder angetreten hatte.
„Vermutlich ist dort die Geburtenrate jetzt stabil“, dachte er grimmig. Also suchte er aus dem
Schrank eine alte ausgeleierte Unterhose, die er schnell anzog, bevor er von Alex dabei erwischt
wurde. Er hoffte nur, sie würde das Exemplar nach der Wäsche nicht kurzfristig zum Putzlappen
umfunktionieren. Und wenn es heute Abend zu intimen Äussersten kommen sollte, musste er die
Hose auch schnell verschwinden lassen. Unförmige Hosen hatten Alex schon immer zum Lachen
gereizt und waren daher nicht gerade libidofördernd.
Kurze Zeit später erschien Matthias in einer alten, etwas ausgeleierten Hose, die er getragen hatte,
als er ein paar Kilo mehr an Gewicht hatte und die er nun mit Hilfe des Gürtels am Körper halten
musste. Selbst er musste zugeben, dass ihn das nicht begehrenswerter machte.
Alex schaute kurz auf und lachte ihn an. „Na, du hast es dir ja schon schön bequem gemacht, setz’
dich doch, das Essen ist gleich fertig.“ Sie selbst hatte ein knackig sitzendes dunkelrotes Kleid an und
sah nach Matthias Meinung zum Anbeissen aus. Und genau das hatte Alex ja auch beabsichtigt, denn
nichts ist für einen Mann schwerer zu ertragen als eine perfekte Frau zuhause.
Folge 49
Die Zeit, die Alex zur Vorbereitung des Abendessens am Computer verbracht hatte, hatte
unglaubliche Erkenntnisse zutage gefördert. Ziel des Essens sollte es ja sein, Matthias die Vorzüge
seiner Frau einmal mehr vor Augen zu führen. Denn sie hatte schon seit längerem das Gefühl, dass
ihr Mann sie eigentlich nicht mehr so recht zu schätzen wusste.
Natürlich kannte sie die Antwort aller Eheerfahrenen dazu: „Das ist eben so mit der Zeit.“ Doch Alex
konnte das nicht einfach so akzeptieren, denn sie hatte, auch wenn es ihr manchmal schwer fiel,
immerhin geschworen, zu Matthias zu halten. Und im Grunde liebte sie ihn ja auch sehr, wenn er
eben doch nur an einem Strang mit ihr ziehen würde. Und das hiess, keine einsamen Entscheidungen
zu treffen und eine gemeinsame Zukunftsperspektive zu entwickeln. Deshalb hatte sie ihren
Stufenplan entwickelt, den sie nun mit der ihr eigenen Konsequenz durchzuführen gedachte.
Zunächst wollte sie Matthias klar machen, dass eine gute Ehe auch darauf basiert, dass beide Partner
gleichberechtigt sind. Und da sie davon überzeugt war, dass das nicht durch harte Worte geschehen
würde, musste sie den Weg wählen, scheinbar nicht mehr gleichberechtigt zu sein. Den ersten Schritt
dazu hatte sie getan, eigentlich tat sie jetzt immer genau das Gegenteil von dem, was sie erreichen
wollte. Die scheinbare Aufgabe des Berufes, die Hingebung zu ihrem Mann und die Verweigerung des
Kinderwunsches, das waren zunächst ihre Mittel. Und bisher hatte alles nach Plan geklappt, Matthias
war verunsichert, das merkte sie.
Natürlich gab es da auch ein „Aber“, und das lag darin, dass Matthias eventuell darauf eingehen
würde, dass sie so war, wie sie sich jetzt gab – was sie aber nicht glaubte – oder dass er sein Inneres
nun anders kanalisierte, zum Beispiel Trost bei einer anderen Frau oder zum Beispiel wie viele
Männer am PC suchen würde. Spätestens dann würde sie umgehend wieder normal sein, und sie war
auf der Hut. Dass es ein gefährliches Spiel war, wusste sie.
Und genau aus diesem Grunde hatte sie sich entschlossen, ein nicht ganz legales Mittel zur
Verbesserung ihrer Beziehung zu ergreifen: Hexenkunst.
Als ihr Mann im ungewohnt unordentlichen Outfit zu Tisch kam, war sie recht beunruhigt, denn er
legte immer viel Wert auf sein Äusseres. Auch wenn ihr nun seine Blicke folgten und immer wieder
auf ihrer Figur ruhten, beschlich sie das Gefühl, dass sie unbedingt verhindern müsse, dass eine
andere Frau die Lage ausnutzen würde.
Und so setzte sie das Mittel ein: In der Küche hatte sie den eigentlich nicht so recht zum leichten
Essen passenden dunklen Rotwein in die grossen Kelche geschenkt, eine Messerspitze feinen Staub
vom Feilen ihrer Nägel hinzugefügt und mit geschlossenen Augen – wie sie es gelesen hatte –
rezitiert:
"Kochen sollst du vor Leidenschaft,
Venus leite mich heut Nacht.
In meinen Armen liegt dein Glück,
heute führt kein Weg zurück!"
Und nun musste sie darauf achten, dass er das Glas bis zum Grund ausleerte, dann stand der
Liebesnacht nichts mehr im Wege, zumindest soweit sie es zulassen würde. Eigentlich war ihr Plan,
genau das nicht zuzulassen, doch sie vermutete selbstkritisch, dass das schwer werden würde.
Und so ging sie mit den beiden Gläsern, die sie tunlichst nicht verwechseln sollte, zu ihrem Mann, sah
ihm liebevoll in die Augen und sagte: „Auf uns und unsere gemeinsame Zukunft!“ Matthias war
erleichtert, er begann gerade, den Abend zu geniessen: Er hatte seine objektiv betrachtet knackige
Ehefrau in bester Laune vor sich stehen, einen guten Rotwein in der Hand und die Aussicht auf ein
harmonisches Essen. Nur die Wärme störte ihn nach wie vor ein wenig, aber die Hose würde Kühlung
bringen.
„Auf uns und unsere gemeinsame Zukunft“, entgegnete er, schaute Alex in die Augen und trank
gleichzeitig mit ihr.
Und dann begann Alex, den ersten Gang aus der Küche zu holen. Liebe ging bei Matthias immer
durch den Magen, und schon der Blick auf den Vorspeisenteller liess sein Herz höher hüpfen:
Avocado. Er hatte ja gerade heute gelesen, dass Avocado eine wahre Wunderfrucht war, die schon
von den Azteken hoch geschätzt wurde: Sie enthielt ein Paket aus allen Vitaminen und Mineralien,
die seine kleinen Schwimmer, die selbstverständlich auch ohne Mithilfe von Gemüse millionenfach
mobil produziert wurden, noch mobiler machen würden. „Natürlich nur so zur Vorsicht, eigentlich
brauche ich das ja nicht,“ sprach Matthias in Gedanken mit sich.
Alex hingegen hatte die Avocado deshalb ausgesucht, weil sie einen überdurchschnittlich hohen
Anteil an Leucin und Isoleucin enthalten, und die unterstützen die Produktion des Gute-LauneHormones Serotonin. Frisch aufgeschnitten, gepfeffert und gesalzen, mit einem kleinen Spritzer
Zitronensaft, einem Löffel voll cremig gerührter Creme fraiche und zum Schluss (zumindest bei
Matthias) etwas gestossenen roten Pfefferbeeren empfand sie sie als Genuss. Und am Gesicht ihres
Mannes konnte sie sehen, dass auch er das Essen genoss.
„Hmmm…. Lecker, damit machst du mir aber eine Freude,“ sagte er anerkennend und dachte an die
Vitamine.
„Man sagt, sie heben die Potenz“, sagte Alex lächelnd und beobachtete, wie Matthias noch dunkler
im Gesicht wurde.
„Wäre ja nicht schlimm, oder?“ sagte er, bevor ihm auffiel, dass seine Hitzewallungen zunahmen.
Dass das vielleicht an den Pfefferbeeren liegen konnte, denen aphrodisierende Wirkung
zugeschrieben wird, davon wusste er glücklicherweise nichts, als er leicht beunruhigt mit den Worten
„Entschuldige mich mal eben“, ins Bad ging. Und hier suchte er zunächst nach etwas Kühlenden für
seine Männlichkeit.
Folge 50
Während Matthias mit Hilfe eines Waschlappens und kalten Wassers seinem Problem näher rückte,
werkelte Alex in der Küche. Sie hatte schon vorher eine leicht scharfe Garnelenpfanne mit Paprika,
Safran, Knoblauch, Pfeffer und Petersilie so weit vorbereitet, dass nur noch ein wenig Arbeit
notwendig war. Die Gewürze waren alle von der Art, dass sie beim Manne Begehrlichkeiten wecken
sollten, die Meeresfrüchte würden durch ihren Eiweissgehalt Matthias bestimmt gut tun. Alex hatte
sich in der Tat viel Mühe gegeben, Matthias aus der Reserve zu locken. Zum Nachtisch würde es dann
die Vitaminbombe Ananas mit frischem Quark und in Minze zerstossenem Rohrzucker geben. Und
dann würde sie ja sehen.
Matthias brauchte nicht lange im Bad und kam deutlich erfrischt zurück. Und auch der Rotwein
zeigte seine Wirkung, ihr Mann liess am Blick deutlich erkennen, dass er diesen Abend gerne
verlängern wollte. Alex hingegen zeigte sich zwar nicht gerade abweisend, liess aber alle
Möglichkeiten offen. Sie unterhielten sich angeregt und fühlten sich beide sichtlich wohl, wobei sie
bewusst heikle Themen wie Beruf, Kinder oder Zukunft ausklammerten. Zu tief sass bei Alex der
Zorn, bei Matthias die Unsicherheit.
„Also, mir hat Kochen ja schon immer Spass gemacht, aber so in Ruhe ist es doch etwas ganz
anderes. Endlich kann ich mich ganz auf dich konzentrieren“, fing Alex wieder an. Matthias erhielt
prompt eine weitere Hitzewelle.
„Morgen probiere ich was anderes aus, was hältst du von einem schicken italienischen Nudelgericht?
So mit leichten Vorspeisen oder so? Oder lieber spanisch?“
„Ja, hört sich gut an“, antwortete ihr Mann ausweichend. Er hatte nur mit halbem Ohr zugehört.
„Spanisch hört sich feuriger an, findest du nicht?“ Alex strahlte ihr neues Lächeln.
„Oh Gott, nee, nicht feurig!“ brach es aus Matthias heraus, dem schon wieder ganz heiss war. „Ich
muss nur mal“… verliess er fluchtartig das Zimmer in Richtung Bad. Erneut hörte Alex das Wasser
rauschen.
„Was hat er bloss, so schlecht war das Essen doch auch nun wieder nicht. Also mir hat es
geschmeckt“, dachte sie bei sich und räumte schon einmal den Tisch ab. „Geht’s dir nicht gut?“ rief
sie hinter ihm her.
„Doch, alles okay“, schallte es voller Überzeugung zurück. Kurz darauf erschien Matthias wieder im
Wohnzimmer, allerdings trug er jetzt eine Jogginghose.
„Willst du noch Sport machen? Das ist mit vollem Magen gar nicht gut“, witzelte Alex. Sie konnte
nicht ahnen, dass Matthias den Waschlappen etwas unvorsichtig benutzt hatte, mit dem Erfolg, dass
seine Hose deutlich Zeichen von Inkontinenz aufwies. Und so wollte er sich seiner Frau nicht
präsentieren.
„Nein, ich habe auf die andere gekleckert, ich bringe sie morgen in die Reinigung.“
„Oh. Lass mal sehen, vielleicht können wir das auswaschen.“
Matthias schlug sich innerlich vor die Stirn. „Ich Idiot, das wäre die perfekte Lösung gewesen!“, statt
dessen sagte er nur „Nein, lass nur, ich bringe sie weg, ich möchte jetzt hier mit dir gemütlich sitzen.“
Doch das sollte beiden nicht lange vergönnt sein.
Kurz darauf sassen die beiden auf dem Sofa und schauten sich die Bilderalben an. Verwundert stellte
Matthias fest, dass ein recht frühes Bild von ihm im Krankenhaus aufgenommen worden war, er
musste so ungefähr anderthalb bis zwei Jahre gewesen sein. „Komisch, das wusste ich gar nicht, man
sieht auch gar nicht, warum ich da war…“ wunderte er sich laut. „Ich frage mal Mama, wenn ich sie
sehe.“
In diesem Augenblick klingelte das Telefon. „Ich gehe schon“, sagte Alex und stand auf. Und während
Matthias auf die Idee kam, das Bild herauszunehmen, um die Beschriftung der Rückseite zu sehen,
hörte er in der Diele Alex sagen: „Hi Bea, was ist denn…. Was hast du… bist du verrückt? Das glaub
ich nicht. Ja, morgen um 10 Uhr. Ciao.“ Danach folgte eine lange Pause ohne Reaktion – und das
spiegelte genau seinen eigenen Zustand wider, als er die Worte auf der Bilderrückseite las:
„Matthias, 1970, Kreiskrankenhaus, nach OP HodHSt.“
Folge 51
Mit ausdruckslosem Gesicht und hölzernen Bewegungen kam Alex zurück. Doch Matthias hatte in
diesem Augenblick kein Auge für sie, er war ganz von Kinderbild in seiner Hand gefangen und
versuchte, sich zu erinnern, ob seine Mutter jemals Näheres über diese Operation gesagt hatte und
vor allem, wie alt er genau war. Denn aus der Recherche im Internet hatte er noch im Ohr, dass eine
solche OP tunlichst früh und unbedingt vor dem zweiten Lebensjahr vorgenommen werden sollte,
um langfristige Schäden zu vermeiden.
In den wenigen Monaten – Matthias hätte auf Anfrage auf etwa 6 Monate anstatt etwa 14 getippt
und Alex dadurch sicher verletzt – hatte er sich nie ernsthaft mit dem Gedanken befasst, dass auch er
verantwortlich für den Kinderwunsch sein könnte, und zwar im Positiven wie im Negativen. Für ihn
war es eher ein Vergnügen ohne Anstrengung gewesen, und diese Gefühlsschwankungen von Alex
hatte er eigentlich nie nachvollziehen können. Er hatte ja immer auf dem Standpunkt gestanden,
dass es schon irgendwann klappen würde. Denn dass er generell Kinder haben wollte, das stand auch
für ihn fest, besonders nach dem Intermezzo mit Max.
Die kleinen Spitzen von Seiten seiner Frau, auch er habe, da sie nun schon so lange warten mussten,
etwas zu unternehmen, und zwar sich checken zu lassen, hatte er achselzuckend abgetan. Wieso
denn auch, meinte sie etwa, es läge an ihm? Es war doch eher eine Frage der Zeit, und man durfte
bloss nicht zu verkrampft an die Angelegenheit herangehen. Im Grunde hatte er gedacht, dass es an
Alex lag, weil sie sich so auf diesen Kinderwunsch versteift hatte. Das hatte mit Schuld nichts zu tun,
denn er hatte ja nie ernsthaft daran gezweifelt, dass sie bald schwanger werden würde. Und im
Prinzip hatte er ja auch noch Zeit.
Nur war dieses Gedankengebäude heute mit Macht zusammengebrochen, plötzlich sah Matthias sich
in einer ganz anderen Situation: War es vielleicht seine Schuld, dass Alex noch nicht schwanger war?
Er konnte diesen Gedanken nun nicht mehr leichtfertig zur Seite schieben, denn es gab
unübersehbare Zeichen dafür, dass er in einer ganz anderen Verantwortung stand als bisher gedacht.
Und schliesslich sollte es nicht seine Schuld sein, wenn seine Frau unglücklich war. „Schuld“, dieses
Wort hallte in seinem Kopf nach. Und wie würde sie reagieren, wenn es tatsächlich an ihm lag?
Würde sie sich vielleicht sogar von ihm trennen, weil er ihren Herzenswunsch nicht erfüllen konnte?
„Quatsch, Alex doch nicht, in guten wie in schlechten Zeiten haben wir uns geschworen“, dachte
Matthias mit deutlichem Gefühl des Unwohlseins.
Wie ein Häufchen Elend sass er neben Alex auf dem Sofa, das Bild in seinen schwitzigen Händen.
Alex ihrerseits hatte das Verhalten ihres Mannes nicht bemerkt, weil sie völlig in Gedanken bei den
Informationen war, die Bea ihr gerade mitgeteilt hatte: Bea hatte diesen Monat, weil sie Peter
unbedingt halten wollte, und weil sie ihm oder sich etwas beweisen wollte, Roulette gespielt und die
Pille so ein-zweimal weggelassen. Nun war ihre Regel überfällig - und ein Schwangerschaftstest war
positiv.
Alex kämpfte mit sich und mit den Tränen. Da liess sie nur einmal so die Pille weg und wurde sofort
schwanger, und sie selbst? Das war so ungerecht!
„Diese gemeine Ziege“, schrie es in ihr, „da weiss sie nicht mal, was sie will, und lässt sich ein Kind
machen. Nur um mir zu zeigen, wie einfach das geht!“ Natürlich wusste sie, dass sie ungerecht war,
aber das zählte derzeit nicht. Sie war tief getroffen, dass ausgerechnet Bea ihr Unvermögen so
deutlich zeigte.
Und sie hatte wenig Mitleid mit ihr, dass ihre Freundin nicht wusste, wie sie es Peter beibringen
sollte, denn der hatte sich ja letzthin eindeutig dazu geäussert. Aber darüber würde sie morgen mit
ihr sprechen, und sie hoffte nur, dass sie sich bis dahin einigermassen beruhigt hatte.
Folge 52
Etwas geistesabwesend legte Matthias aus alter Gewohnheit den Arm um seine Frau, vielleicht nur
zunächst, um selbst ihre Wärme zu spüren, die er in diesem Augenblick doch nötig hatte. Doch
anstatt ihn zu fragen, was denn los sein, warf sich Alex schluchzend in seine Arme und brachte unter
Tränen hervor: „Bea, ist schwanger… das ist so gemein… die will doch eigentlich gar nicht ...Peter
auch nicht, ..einmal Pille weg… und bei mir? Ich tue alles und dann das. Das hätte mein Baby sein
sollen…“ Matthias hatte einige Mühe, ihrem von Aufheulen und Schluchzern immer wieder
unterbrochenen Wortfluss zu folgen, doch zumindest erschlossen sich die grundsätzlichen Tatsachen.
„Och Schatz, nun beruhige dich erst einmal“, sagte er und streichelte ihr über die Haare.
Normalerweise funktionierte das immer, aber er hatte den Ernst der Lage unterschätzt, denn keine
Frau wird in der tiefsten inneren Not diese Worte gerne hören. Aus weiblicher Logik heraus sind sie
einfach schlichtweg falsch und daher fehl am Platze. Entsprechend heftig reagierte Alex. Sie heulte
erneut vehement auf und versuchte sich aufzusetzen.
„Du verstehst das nicht“, warf sie ihm empört an den Kopf. In der Tat konnte Matthias nicht im
Mindesten erahnen, wie tief diese Nachricht Alex getroffen hatte, denn alle Wunden des
Kinderwunsches waren innerhalb einer Sekunde bei ihr aufgerissen, ihre Unfähigkeit, Kinder zu
bekommen, die Angst, bald ihre beste Freundin mit Kugelbauch sehen zu müssen, die tiefe
Enttäuschung, dass Matthias so gar nicht mitzog und ihre Empörung über die Ungerechtigkeit der
Welt. Heulend erklärte sie weiter: “Seit Jahren versuchen wir, ein Kind zu bekommen, und Bea – Bea,
meine sogenannte beste Freundin! – hintergeht mich einfach, erzählt mir, wie
verabscheuungswürdig sie Kinder findet und wird –schwups- schwanger. Dieses Kind steht mir zu,
nicht ihr. Ich warte schon viel länger und ich will das Kind auch!“ Alex hatte sich nun aufgesetzt und
schaute ihren Mann erwartungsvoll an. Wenn er jetzt das Falsche sagen würde, wäre das ein
Scheidungsgrund, das war ihr klar. Sie zog geräuschvoll ihre feuchte Nase sauber.
Matthias befand sich nun in der Zwickmühle, eigentlich musste er ihr seine Entdeckung aus dem
Album mitteilen, doch sollte er ausgerechnet jetzt sagen „Ach Schatz, und ich habe gerade gemerkt,
dass es ohnehin vielleicht nicht klappt, weil ich zeugungsunfähig bin“, denn so fühlte er sich gerade.
Immerhin war er ja vielleicht mittelbar schuld am Gefühlsausbruch von Alex hier in seinem Arm.
Obwohl er nicht sich bisher nicht als der Feinfühligste gezeigt hatte, konnte er jetzt aus tiefer innerer
Überzeugung sagen: „Du hast recht, die Welt ist ungerecht.“ Bevor er weitersprechen konnte, was
ihm schwer gefallen wäre, warf sich Alex erneut in seine Arme und schluchzte wieder: „Halt mich mal
ganz fest“, wobei sie deutlich hörbar aufheulte. Und zum ersten Mal in der Zeit des Kinderwunsches
fühlte sich Matthais ebenso elend wie seine Frau und konnte ihr Gefühl der Unzulänglichkeit
nachvollziehen. Auch er empfand die Welt als ungerecht.
Abrupt setzte sich Alex auf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Komme gleich wieder…“
sagte sie, ging ins Arbeitszimmer und von dort aus ins Bad. Sie würde jetzt, am Abend des 9. Tages
nach ihrem Eisprung, den ultimativen Schwangerschaftstest machen. Und wenn der nun negativ war,
würde sie eigenhändig die Rotweinflasche leeren. „Jawoll ja“, bestätigte sie sich kopfnickend, als sie
den Teststreifen befeuchtete. Sekunden und Minuten vergingen, doch der Streifen zeigte nicht
einmal das leiseste Zögern bis zum Kontrollstreifen. Negativ. Sie hatte nicht einmal mehr Tränen für
sich und ihre Situation, sie sass einfach nur resigniert mit dem Test in der Hand auf Klothilde und
schaute auf das Ergebnis.
„War ja klar, dann eben nicht“, sagte sie laut zu sich und warf den test angewidert in den Mülleimer.
Langsam stand sie auf und ging wieder zu Matthias, der unruhig auf sie gewartet hatte.
„Ich habe keine Lust mehr“, sagte sie zusammenhanglos zu ihm und schaute ihn emotionslos an. „Ich
will einfach nicht mehr. Ich will nicht mehr im Vier-Wochenrhythmus leben, ich will nicht mehr jeden
Monat enttäuscht werden, ich will nicht mehr die ganze Kraft für uns beide aufbringen müssen, ich
will auch nicht mehr gegen dich dabei arbeiten. Ich will das alles ganz einfach nicht mehr.“
Matthias hatte tief betroffen den Worten seiner Frau zugehört. Und in diesem Augenblick wurde ihn
seine Verantwortung für das Projekt „Kind“ klar, wie sie es einmal scherzhaft genannt hatten –
damals, als sie noch dachten, es würde nur ein halbes Jahr dauern. Liebevoll nahm er sie in den Arm
und sagte „Hey Älchen, wir machen das ab jetzt gemeinsam, okay?“ Und dabei kamen ihm selbst die
Tränen.
Folge 53
Alex schaute ihn mit tränenverschwommenem Blick und murmelte nur: “Ist mir jetzt auch egal, ich
will nicht mehr,“ und fiel wenig später erschöpft vom Weinen und von der Intensität ihrer Gefühle in
einen leichten Schlaf. Matthias schaute sich seine Frau genau an: Sie sah müde aus, und das war ihm
bisher nicht einmal aufgefallen. Tiefe Augenringe zeichneten sich ab, und ein paar deutliche Falten an
der Nasenwurzel und auf der Stirn zeigten ihm, dass sie sich vieles mehr zu Herzen genommen hatte,
als er gedacht hatte. Er hatte sie lange nicht mehr so intensiv angesehen.
Vorsichtig fädelte er sich unter ihr vom Sofa, wobei sie einen unwilligen Ton von sich gab; dann hob
er sie auf, trug sie in das ehemals gemeinsame Schlafzimmer und legte sie – bedacht darauf, sie nicht
zu wecken – auf das Bett und deckte sie zu. Und obwohl er die Katze nicht so recht mochte, holte er
Phoebe aus dem Wohnzimmer, wo sie sich eingekuschelt hatte und legte sie Alex in den Arm. „Sie
liebt es doch so, wenn sie aufwacht, Phoebe im Arm zu haben“, dachte er bei sich.
Er war unschlüssig, was er nun tun sollte. Einerseits war er müde und hätte sich gerne zu Alex gelegt,
sich vielleicht sogar ein wenig an sie gekuschelt, andererseits wusste er genau, dass er noch nicht
würde einschlafen können.
Dieser Tag hatte ihm in gewisser Weise den Boden unter den Füssen weggezogen. Bisher war es ihm
völlig klar gewesen, dass Alex und er innerhalb der nächsten Monate Nachwuchs erwarten würden,
deshalb konnte er die Eile seiner Frau auch schlecht nachvollziehen. Wenn es denn so klar war, dass
es kurz bis mittelfristig klappen würde, dann machte doch ein Monat früher oder später gar nichts
aus. Erst heute wurde er massiv und schmerzlich von der Erkenntnis getroffen, dass sie die Erfüllung
dieses Wunsches vielleicht gar nicht selbst und alleine in der Hand hatten, dass sie vielleicht nie oder
wenn, dann nur mit der Hilfe anderer ein Kind würden haben können, und dass es dorthin ein Weg
sein würde, der steinig und vielleicht auch gar nicht gradlinig sein würde. Und dass nicht klar war, ob
sie ihn überhaupt gemeinsam gehen würden.
Seine Zukunftsperspektive hatte er nie infrage gestellt, er hatte sich immer als Herr seines Schicksal
und der Erfüllung seiner Wünsche gesehen, früher oder später würde es schon so geschehen, wie er
es geplant hatte. Und nun das…
Matthias sass auf dem Sofa, nahm von Schluck des dunklen Rotweins und war von tiefen Zweifeln
erfüllt. Er hatte auf einmal Furcht vor der Zukunft, die ihm unwägbar erschien. Als er heute im
Internet googelte, hatte er viele Dinge über Spermienqualität gelesen, aber er hatte sich nur mehr
oder weniger spasshaft dadurch angesprochen gefühlt. Bis heute hatte er über Männer, deren
Spermienqualität unterdurchschnittlich war, Witze gemacht, hatte sich gesagt, er als feuriger
Liebhaber weit über ihnen stünde, und nun musste er feststellen, dass er zumindest in deutlicher
Gefahr war, zu ihnen zu gehören. Zu denen, über die er hinter ihrem Rücken so gerne getuschelt
hatte. Zu denen, von denen er immer gedacht hatte, sie würden „keinen hoch bekommen“; erst
heute hatte er lernen müssen, dass zwischen ihm und Männern mit schlechten Spermien erst ein
Unterschied zutage trat, wenn es um die Zeugung von Kindern ging. Und vielleicht gab es auch gar
keinen Unterschied.
Er konnte sich bildlich vorstellen, wie seine Freunde über ihn Witze reissen würden und wie er
mitleidige Blicke ernten würde. Aber er konnte sich noch nicht vorstellen, mit Alex darüber zu reden.
Zumindest nicht, bevor er wusste, was los war. „Vermutlich male ich mir das jetzt viel zu negativ aus
und es ist nichts. Ich hätte das doch bestimmt jetzt schon gemerkt“, beruhigte sich Matthias und
schaute noch einmal auf das auslösende Kinderbild, das er langsam in das Album zurücksteckte.
Er atmete tief durch und sagte sich: „Okay, und morgen mache ich einen Termin“. Er wusste zwar
noch nicht, wo, aber er wusste, dass er irgendwann eine Klärung würde herbeiführen müssen. „Je
her, desto besser…“ fügte er an, doch er spürte eine deutliche Abneigung gegen das anstehende
Telefonat. Leise schlich er sich zu Alex ins Bett.
In der Nacht schlief er unruhig. Weniger lag es am Rotwein, der vermutlich zumindest seine Gefühle
verstärkte, als an all dem, was ihm durch den Kopf ging. Er träumte von einer Geburtstagsfeier, auf
der Alex und er erschienen, und als er eintrat, drehten sich alle zu ihm um und schwiegen. Dann kam
ein Freund – war es Jürgen? – auf ihn zu und sagte: “Mensch, ist doch kein Beinbruch, mit ein wenig
Schmiere kriegen wir jeden Motor wieder in Gang“, und alle brachen in lautes Gelächter aus. Es war
eine furchtbare Nacht, die von derlei Reprisen gefüllt war, und Erholung fand er bis zum frühen
Morgen nicht.
Folge 54
Anders als am Vortag war diesmal Matthais der erste, der wach wurde und aufstand, um Kaffee zu
kochen. Phoebe streckte sich mit Katzenbuckel und trabte hinter ihm her in die Küche, um ihr Futter
zu erbetteln.
„Na Phoebe, hast du wenigstens gut geschlafen“, fragte Matthias die Katze, als er sich
herunterbeugte, um sie beiläufig zu streicheln. Das kam bei ihm selten vor, aber heute brauchte er
das weiche Fell als eine Art Trost. Und als Phoebe dann auch noch um seine Beine strich, kauerte er
sich sogar eine Weile hin und genoss ihr Zuneigung, die allerdings von Futterwillen gesteuert war.
Aber egal, sie gönnte ihm ihre gesamte Zuwendung.
Kurz darauf hielt Matthias Alex einen dampfenden rehbraunen Kaffee unter die Nase, die sie
zumindest leicht rümpfte. Alex sah ziemlich erbärmlich aus, ihre Augen waren von Weinen
geschwollen und ihre Lider durch die Tränen verklebt. Dabei trug sie noch das rote Kleid vom
Vorabend, der so verheissungsvoll begonnen hatte. Zögernd, ob er sie wecken sollte, gab er ihr
schliesslich eine zarten Kuss auf die Wange und sagte leise: „Guten Morgen mein Schatz, der Kaffee
ist fertig.“ Mit diesen Worten verliess er das Zimmer in Richtung Bad.
Im Spiegel konnte er feststellen, dass auch sein Aussehen etwas gelitten hatte, er hatte tiefe
Augenringe und sah irgendwie eingefallen aus. „Was für ein grässlicher Abend gestern!“ dachte
Matthias und die Erkenntnis der letzten Stunden erweckte ein flaues Gefühl im Magen. Heute würde
er in einer Praxis anrufen. Das war er sich und Alex schuldig.
Unter der Dusche ertastete er zum ersten Mal bewusst die fadenartige Narbe unterhalb seines
rechten Hodens, auf die ihn Alex einmal angesprochen hatte und die er für ein falsches
Zusammenwachsen irgendwelcher Hälften gehalten hatte. Eben wie bei einem Pfirsich, bei dem man
ja auch noch die Längsachse markiert sieht. Jetzt war ihm klar, dass dieser Strich wohl etwas anderes
zu bedeuten hatte.
Langsam und innerlich kraftlos zog er sich an und deckte den Frühstückstisch, so wie Alex es am
Vortag gemacht hatte. Als alles an seinem Platz stand, ging er erneut in das Schlafzimmer und weckte
Alex. „Komm, Schatz, das Frühstück ist fertig.“ Irgendwie hatte er das Gefühl, dass er besonders nett
zu ihr sein musste. Zwar konnte er ihre offensichtliche Wut auf Bea nicht so ganz nachvollziehen,
denn was hatte Bea mit ihnen zu tun, aber das Gefühl der Ungerechtigkeit des Lebens hatte auch ihn
mit voller Wucht getroffen, und das konnte er bei seiner Frau verstehen.
Alex öffnete gequält die Augen und rieb sich Mengen von Schlaf aus den Winkeln. „Moin“, sagte sie
niedergeschlagen, “hab’ keinen Hunger.“
„Ach komm, hier ist ein schon fast kalter Kaffee - ich hole dir aber auch schnell eine frischen, wenn
du willst – und dann frühstücken wir, okay?“ Matthias schaute Alex aufmunternd an. Allerdings
fühlte auch er sich nur halb so munter wie er vorgab, und der Anblick seiner Frau dämpfte seine
Stimmung noch mehr.
„Okay, ein frischer Kaffe und ich stehe auf.“ Alex versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nur schwer.
„In der Zwischenzeit gehe ich ins Bad…“, mit diesen Worten stand sie auf und ging an ihm vorbei. Im
Bad setzte sie sich erschöpft auf das Klo. „Bea ist schwanger, und ich?“ dachte sie noch, und nur
wenige Sekunden später sah sie diese verdächtigen bräunlichen Anzeichen auf dem Papier, die ihre
gesamte Selbstbeherrschung wieder wegfegte. Neue Tränen flossen, als sie sich eingestehen musste,
dass sie bereits jetzt Schmierblutungen hatte. 10 Tage nach dem Eisprung, das hatte sie noch nie!
Die Tränen mühsam getrocknet kehrte sie mit geputztem Zähnen, kalt gewaschenem Gesicht aber
strubbeligen Haaren zu Matthias zurück, der sie wortlos in den Arm nahm. Eine ganze Sturzflut von
Tränen waren der Dank und die Worte: „Bea ist schwanger und ich kriege meine Tage.“ Und wieder
blieb ihm der Satz „Alex, ich muss dir was sagen“, im Halse stecken. Statt dessen zog er Alex fester
und streichelte ihr den Kopf.
Folge 55
Nach einem eher einsilbigen Frühstück, bei dem sich Alex mit Mühe Bissen um Bissen in den Mund
schob und Matthias sie ab und zu durch belanglose Fragen aus ihrem Grübeln aufschreckte, rückte
das Treffen mit Bea immer näher. Wie immer, wenn sich Alex unwohl fühlte, zog sie sich besonders
gut an, sie zog einen engen fast langen Rock an, der ihre gerundete aber wohlgeformte Figur gut zur
Geltung brachte und suchte dazu eine ihrer unvermeidlichen weissen Blusen aus. Heute waren
wieder ohne Zweifel hochhackige Schuhe angesagt, die Schmierblutungen machten jede
Rücksichtnahme auf eine Einnistung unsinnig. Über die Schulter knotete sie einen leichten
Wollpullover, sonst fand sie ihr Outfit doch zu bieder. Aber so mochte es gehen. Bevor sie losging,
wollte sie sich selbst eine Art Rechenschaft über ihre Gefühle abgeben. Was war mit ihr los? Gönne
sie ihrer besten Freundin das Glück nicht, Mutter zu werden. Nein, genau das war der Punkt, sie
gönnte es ihr nicht. Sie hätte es Hannah gegönnt, die ernsthaft versuchte, wieder schwanger zu
werden und deren Denken und Sehnen dem ihren gleich zusein schien, aber nicht Bea. Das musste
sie zugeben. Selbst bei Hannah wäre der Eifersuchtsstachel da gewesen, auch wenn sie ihr vollen
Herzens Glück gewünscht hätte, aber nicht bei Bea, da stellte sich keine Herzlichkeit ein. Alex war
sich relativ schnell darüber im Klaren, warum das so war: Hannah wollte ein Kind, und zwar aus
reinen Motiven, sie bezweckte damit nichts als das Kind. Und sie war ihr gegenüber, wenn auch nach
einigen Monaten, offen gewesen. Die war genau wie Alex in der Kinderwunschmühle gefangen
zwischen erstem Zyklustag, Eisprung und Mens, zwischen Bangen, Hoffen und bitterer Enttäuschung.
Und sie versuchte es jetzt auch schon monatelang. Das waren Gründe genug, es ihr zu gönnen. Und
all diese Dinge trafen für Bea eben gerade nicht zu: Sie hatte keinen edlen Motive, sondern die
Schwangerschaft – Alex vermied hier, an „das Kind“ zu denken, sollte entweder Peter an sie binden
oder eine Rache für seine Zurückweisung sein, eben wie man es sah; Bea hatte noch vor ein paar
Tagen laut getönt, sie wolle nie und auf keine Fall Kinder, obwohl sie die Pille einfach mal so
weggelassen hatte – und sie war einfach so ohne wie ein Hamster im Käfig im 14-Tage-Rhythmus zu
leben schwanger geworden. Das konnte Alex ihr nicht verzeihen, auch wenn objektiv betrachtet, wie
Matthias sagen würde, das eine mit dem andern natürlich nichts zu tun hatte. „Das weiss ich auch,
du Idiot“, sagte sie laut zu ihm, der bereits im Büro angekommen sein
musste; doch Alex’ Gesprächspartner jeder zweiten Zyklushälfte, also der Gesprächspartner im
Bauch, war ja nun nicht mehr ansprechbar (eben wegen der
Schmierblutungen) und so musste Matthias herhalten. Und der schwieg dazu. „Feigling, hätte ich mir
ja denken können“, raunte Alex ihrem nicht anwesenden Mann zu und ertappte sich bei der
Überlegung, dass sie vermutlich das Bild einer absonderlichen Alten abgeben würde, wenn sie so
weitermachen würde. „Okay, dann eben nicht mehr...“ sagte sie vage und musste etwas bitter
lächeln. Pünktlich um 10 Uhr klingelte sie bei Bea an der Tür, im Magen einen steinschweren Knoten.
Fast bevor die den Klingelknopf losgelassen hatte, wurde die Tür aufgerissen und Bea fiel ihr
Theatralisch um den Hals. „Alex!“ schluchzte sie. Alex machte sich steif, als sie ihre Freundin
umarmte, Tränen standen ihr selbst zu, nicht Bea. Sie riss sich zusammen und drückte Bea fest,
wobei sie damit eher ihr schlechtes Gewissen beruhigte, eben vielleicht doch nicht so ein schlechter
Mensch zu sein, als Bea Zuneigung zukommen lassen zu wollen. Sie traf in die Wohnung und schloss
die Tür. Dann fragte sie leise „Ist Peter da?“. Die Antwort war ein noch viel heftigeres Aufheulen von
Bea, die inzwischen die Schulter von Alex Jacke mit Wimpertusche verziert hatte. „Nahein!“
„Na dann komm, wir setzen und erst einmal und dann erzählst du, okay?“ Alex zog Bea mehr oder
weniger ins Wohnzimmer, wobei sie sich gleichzeitig die Jacke auszog und versuchte, Bea von der
weissen Bluse fernzuhalten. „Ich hätte es wissen müssen, niemals weiss bei Bea“, dachte sie noch,
bevor sie den ersten Fleck sah. Bea hatte nämlich schon unzählige Blusen von ihr mit Make-up oder
anderer Schminke verziert, und jedes Mal sagte sich Alex, dass ihr das nicht wieder passieren würde,
und ebenso folgerichtig passierte es dann doch, genau wie die Folgerichtigkeit, etwas Helles
anzuziehen, wenn es Spaghetti mit Tomatensosse gab. „Warum heulst du denn so? Okay, du wolltest
eigentlich kein Kind, aber jetzt ist es nun einmal passiert, und das ist doch das Tollste der Welt...“
begann sie unsicher ein Gespräch. „Aber das ist so überraschend!“
Beinahe hätte Alex dazu gesagt, dass es ja nicht ganz so überraschend hatte sein können, da sie ja
selbst die Pille weggelassen hatte, aber sie schwieg. „Was ist denn so schlimm daran, ein Kind zu
bekommen? Natürlich, dein Leben ändert sich, aber du wirst sehen, dass es viel schöner und reicher
sein wird als jetzt.“ Tausend Mal hatte sich Alex diese Worte selbst gesagt, hatte sich dabei vor
Augen geführt, was sie eben nicht haben konnte. „Und andere Frauen wünschen sich ein Kind, und
du heulst, weil du eines bekommst. Och Mensch Bea, freu dich doch, Du wirst sehen, das sind jetzt
nur die Hormone.“
„Du hast ja keine Ahnung, wie das ist...“herrschte Bea sie. „Nein, da hast du recht, habe ich auch
nicht, ich habe ja bekanntlich kein Kind und ich bin auch nicht schwanger“, antwortete Alex, und der
Ton in ihrer Stimme hätte Bea zu denken geben müssen, aber die fuhr ungehindert
fort: „Mir ist morgens übel, und über dem Bauch spannt es, und heiss ist mir auch ständig, und...und
Peter sagt auch, wir hätten uns doch auch ohne Kind gut verstanden.“ „Das hättest du dir aber früher
überlegen müssen, Bea“, sagte Alex mit einer gewissen Härte in der Stimme. „Bei einer Kind kann
man eben nicht immer „in in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln“, da hat man sich für entschieden
und basta.“ Sie konnte es kaum glauben, dass sie so etwas überhaupt zu Bea sagen musste. Doch Bea
schaute sie nur an und entgegnete: „Da hast du wahrscheinlich recht.“ Und dabei hatte sie so einen
merkwürdigen Unterton in der Stimme.
Folge 56
Alex hielt es nicht lange bei ihrer Freundin aus, sie empfand die Situation ungemütlich und sah sich
einer Fremden gegenüber. Konnte Bea denn überhaupt nicht erkennen, was für ein grosses Glück sie
hatte? Sie hatte sogar die Möglichkeit einer Adoption angesprochen, doch Bea hatte nur geschnaubt
und gesagt, sie würde doch nicht für eine Fremde ein Kind austragen und sich zum Gespött der Leute
machen.
Hier war eine für Alex neue Seite von Bea, und Alex merkte, dass sie sie verabscheute. Die Gedanken
ihrer Freundin, oder der Frau, die sie für ihre Freundin hielt, widerten sie an. Und nur aus alter
Verbundenheit und aus eigenem schlechten Gewissen blieb sie sitzen, wenn Bea ihr immer wieder
vorhielt, sie könne die Situation unmöglich beurteilen, da sie ja nicht in dieser Lage sei. „Du hast ja
gut reden, einen tollen Job, einen super Mann an der Angel, und wenn es bei euch passieren würde,
dann würde dein Göttergatte dich vermutlich auch noch auf Händen tragen“, klagte Bea sie an. „Bei
mir ist das was anderes. Ich habe eine tolle Beziehung mit Peter, aber er möchte nicht so gerne ein
Kind, also wäre ich sozusagen alleinerziehende Mutter. Alleinerziehend, weisst du überhaupt, was
das bedeutet? Alles alleine zu machen? Wenn das Blag brüllt, ist keiner da, der für dich in der Nacht
aufsteht, der die widerliche Windeln wechselt. Und mit dem Erziehungsgeld komme ich auch nicht
weit. Und – soll ich Peter verklagen, damit er bezahlt? Wir wollen miteinander Spass haben,
verreisen, vielleicht erst einmal ein Haus bauen, wenn es so weit ist, und dann kann ein Kind
kommen. Das sagt auch Peter.“ Alex starrte Bea an. Sie konnte kaum glauben, was sie dort hörte, sie
wusste nur, dass Bea nicht bereit war, dem Kind einen Platz in ihrem Leben einzuräumen. Bisher
noch nicht, aber das würde sich bestimmt ändern, wenn sie es auf dem Ultraschall sah oder wenn es
in ihr strampelte. Doch sei hatte für heute genug. „Das hättest du dir alles früher überlegen müssen,
aber schlaf noch einmal drüber, dann sieht bestimmt alles anders aus.“ Mit diesen Worten verliess
sie das Haus, in dem sie bis heute so viele schöne Stunden verlebt hatte. Vor der Tür nahm sie das
Handy heraus und wählte Matthias Nummer. „ Hi Schatz, hast du Zeit?“ „Nicht viel, was möchtest du
denn?“ Matthias Stimme klang distanziert, wie immer, wenn sie ihn unpassend im Büro erwischte,
und wie immer war sie darüber verletzt. Sie wollte das Gefühl haben, dass ihr Mann immer liebevoll
für sie da war, aber jedes Mal bei einem solchen Gespräch wusste sie, dass sie das eben nicht
bekommen würde. „Nicht so wichtig, ist schon okay, bis nachher. Ach, du musst nicht wieder mit
dem Bus fahren, ich kann dich nachher abholen, okay?“ „Danke, ich sage dir Bescheid, ich hoffe, dass
der Wagen heute wieder aus der Werkstatt kommt, ist aber lieb von dir. Tschüss mein Schatz.“
„Tschüss“, sagte sie, doch sie hatte das Gefühl, dass er das schon gar nicht mehr hörte. Sie wählte
erneut eine Nummer. „Hannah? Man, bin ich froh, dass du da bist, hast du Zeit für mich? Mir geht’s
nicht so toll...ja, auch, wie immer, wenn die Mens kommt, oder?“ Sie lachte schon ein wenig befreit,
niemals zuvor hatte sie so locker am Telefon derartig einfache aber tiefgreifende Informationen
abgeben können. Doch Hannah wusste, was es hiess, wenn die Tage aller Tage vor der Tür standen,
und wie man sich dann fühlte. Unwert, hässlich, dick, dumm, unfähig.
Und besonders nach einem Gespräch, in dem einem immer wieder gesagt wurde, man hätte ja keine
Ahnung. Wie sie diesen Spruch hasste. Ob den Leuten klar war, wie sehr das verletzte? Meinten die
eigentlich, jeder Golfplatzplaner hätte ein Super-Handikap? Egal, sie kannte ihr Handicap, ihre
Behinderung: die Kinderlosigkeit oder besser: die derzeitig gefühlte Aussichtslosigkeit ihres
Wunsches nach einem Kind.
Folge 57
Kaum dass Hannah die Tür geöffnet hatte, nahm sie Alex schon liebevoll in den Arm. Es war eine
dieser festen Umarmungen, die volles Verständnis ohne Worte ausdrückten. Dann gingen beide in
das Wohnzimmer, wo Hannah ihrer Freundin ungefragt einen Becher Kaffee hinstellte, und zwar
ihren Lieblingsbecher, den Alex noch gut kannte. Dass sie aus diesem Heiligtum trinken durfte, zeigte,
dass Hannah den Ernst der Lage erkannt hatte.
„Na, nun erzähl’ ‚mal, nur der Anmarsch der Mens wird es ja nicht gewesen sein, sondern eher eine
zauberhaft herunterziehende Kombination aus vielem. Stress mit Matthias?“ Sie hatte sich in einen
Sessel sinken lassen und schaute Alex erwartungsvoll.
„Bea ist schwanger“, platzte es aus dieser heraus. Hannah hätte sich beinahe an ihrem Kaffee
verschluckt.
„Was ist sie? Bea? Das glaub’ ich nicht!“ Empörung war aus ihrer Stimme zu hören, und genau diese
Empfindung tat Alex gut. Auch Hannah war offensichtlich nicht dazu in der Lage, ein begeistertes
„Ach wie schön“ herauszubringen. Sie hatte sich im Sessel vorgebeugt und forderte durch diese
Geste auf, weiter zu erzählen.
„Peter wollte kein Kind von ihr, und da war sie so sauer, dass sie die Pille mal eben so ein oder zwei
Male lustig weggelassen hatte, und bums ist sie schwanger.“ Alex schaute kampflustig.
„Du meinst, nach dem Motto „Dasselbe-Handtuch-benutzt“?“
„Schlimmer, Handtuch vor dem Mann benutzt und trotzdem schwanger.“
Es trat eine kurze Pause ein, dann platzte Alex: „Das ist so ungerecht, wir tun und machen, um
überhaupt die Chance zu bekommen, irgendwann einmal ein Kind zu haben, und die will eigentlich
nicht, und dann das.“ Heiss stiegen die Tränen wieder auf, als sie an das Gespräch mit Bea dachte,
und sie nahm schnell den Kaffee. „Und weisst du noch `was: Die will das Kind gar nicht, habe ich das
Gefühl. Ich meine, wie ungerecht ist das denn?“ Alex sah Hannah herausfordernd an.
„Magst du ein Glas Sekt? Oder geht es derzeit nicht?“ Alex klärte sie ganz faktisch über den negativen
Schwangerschaftstest auf. „Wenn der Test negativ war, steht dem ja nichts mehr entgegen...Ich bin
gerade erst durch.“ Hannahs Stimme klang traurig, und sie stand auf, um zwei Gläser und den Sekt zu
holen, Alex ging ihr in die Küche hinterher, sie konnte nicht allein warten. Etwas an den Bewegungen
Hannahs war ihr aufgefallen, sie waren so mechanisch, und als sie ihrer Freundin in die Augen
schaute, merkte sie, dass auch dort Tränen schimmerten.
„Ach Mensch Hannah, wir schaffen das schon, es ist bloss so ungerecht.“ Mit diesen Worten nahm
sie sie in den Arm. Hannah schniefte.
„Ich weiss, das sage ich mir auch immer, und ich bin auch eigentlich gar kein neidischer Mensch. Aber
ausgerechnet bei Bea empfinde ich es fast als eine Art Niederlage. Warum muss ihr sofort gelingen,
was mir verwehrt bleibt. Naja, natürlich, ich versuche es ja auch noch einmal, aber warum klappt es
bei Frauen, die eigentlich nicht wollen und bei uns nicht. Muss ich mich jetzt hinsetzen und mir sagen
„ich will nicht, ich will nicht, ich will nicht“? das ist doch völliger Quatsch. Es wäre auch okay, wenn es
irgendwo eine meinetwegen auch kostenpflichtig einsehbare Liste gäbe, in der stünde: „Sie müssen 2
Jahre und 4 Monate ab erstem Kinderwunsch warten, dann werden Sie schwanger“, aber statt
dessen geht es bunt durcheinander. ...Prost, auf uns, wir schaffen das!“
„Genau, wir schaffen das!“ Es war wie ein Schwur zur Waffenbrüderschaft, und es erleichterte beide
unglaublich, dass sie erneut merkten, sie waren nicht allein.
Folge 58
Kurz darauf sassen beide gut gelaunt und herzhaft lachend in ihren Sesseln; jede erzählte der
anderen die komischsten Geschichten um den Kinderwunsch, und endlich waren sie dazu in der Lage,
sich von aussen zu sehen und die Komik der Sachlage zu entdecken.
„Weisst du, wie bescheuert ich bin? Ich habe gerade angefangen, morgens den Muttermund
abzutesten. Also, ich sage dir, dieses Ding ist für mich ja auch ein Buch mit sieben Siegeln. Immerhin
weiss ich jetzt immer, ob mein Dickdarm voll ist…“ Hannah brach in Gelächter über sich selbst aus.
„Also, jeden Morgen kommt nun wie bei einem Chirurg eine Handwaschorgie, die von einer
intensiven Seifenentfernung abgelöst wird. Nur kein Schmutz, wenn ich an meiner goldenen Pforte
herumpopele, sage ich mir.“ Hannah musste erneut vor Lachen über sich selbst keuchen und wischte
sich eine Lachträne aus dem Gesicht. “Und dann erfolgt die Muttermundprüfgrätschstellung, aber
immer gleich, sonst funktioniert das nicht. Und wenn ich Glück habe, weiss ich dann, ob der
Muttermund weich und offen, gnubbelig oder fest oder spitz oder so ist. Und dann schaue ich im
Internet nach, wie das Ding denn wann sein soll.“
„Also ich finde da nie was, ist alles immer weich und nie gnubbelig.“ Alex zog die Stirn kraus.
„Moment mal“, mit diesen Worten verschwand sie im Bad. Hannah hörte intensives Rauschen des
Wasserhahnes, dann Stille, Bewegungen im Bad, dann wieder Rauschen. Kurz darauf kam Alex leicht
erhitzt und zerzaust aus dem Bad. Auf ihrem Gesicht ein triumphierendes Lachen.
„Rein um der Wissenschaft willen“, dabei zwinkerte sie Hannah verschwörerisch zu, „habe ich mal
eben die ultimative Muttermundrecherche gemacht: Wenn ich entspannt mit dem Rücken nach
hinten abtaste, ist der Muttermund "relativ" weit vorne. Sobald ich aber mit dem Oberkörper
vorgehe, geht er nach oben und ist fast weg, so dass ich meinen Finger ganz lang machen muss. Bin
mehrmals hin und her und tatsächlich "schaukelt" der Muttermund mit.“ Sie schaute Hannah
erwartungsvoll an, die sich vor Lachen bog.
„Da bin ich ja froh, dass auch bei dir der Rücken hinten ist“, brachte sie gerade noch hervor, um dann
hinzuzufügen: “Kannst ja froh sein, dass es keine Damentoilette in einem Bürogebäude ist, das wäre
der Hammer gewesen. Und dass der Muttermund mitschaukelt, wusste ich nicht, aber ich probier
das mal.“ Noch immer lachend machte sie sich nun ihrerseits auf den Weg ins Bad, um dann
triumphierend herauszukommen. „Stimmt, er schaukelt mit, wieder was gelernt.“ Beide kicherten
froh darüber, dass sie diese wichtigen wissenschaftlichen Erkenntnisse miteinander teilen konnten.
„Aber dieses gnubbelige spüre ich nicht“, fügte Alex sinnierend an. „Erklär mal anders, damit ich
Pappkopp das auch raffe, das macht mich irre, wenn ich das nicht verstehe. Das ist wie ein Spiel,
deren Spielregel ich nicht ganz weiss, das ich aber unbedingt mitspielen will. Ich habe nur das Gefühl,
mein Gegenspieler erklärt mir nur die Hälfte…“ Mit einem Grinsen schob Alex ihre Schmolllippe vor.
Gutmütig erklärte Hannah erneut: „Ich habe das früher auch nie verstanden, im Internet steht das so
toll beschrieben, aber anfühlen tut sich das anders. Aber als ich Thomas vorgestern mal einen kleinen
Ditscher auf die Nase gegeben habe, da wusste ich, was gemeint ist. Hier, probier mal, aber nicht zu
fest.“ Hannah hielt Alex das Gesicht hin, damit die ihre Nase prüfen konnte. „Hmm, kapier ich
nicht…“ maulte Alex. Ungerührt nahm Hannah Alex Zeigefinger und führte ihn zu ihrer Nase. Und am
Gesicht von Alex konnte sie sehen, dass diese nun endlich wusste, welches Gefühl sie an ihrer – wie
hatte Hannah so schön gesagt? – goldenen Pforte erwartete. Beide lachten erneut befreit los.
„Mann, bin ich froh, dass uns hier keiner gesehen hat!“
Vom Muttermundtest ausgehend tauschten sie Erfahrungen mit der Konsistenz des Zervixschleimes
und den Einsatz von Ovariacomp. in der ersten Zyklushälfte aus. Endlich waren beide dort angelangt,
wo viele Frauen mit Kinderwunsch nie anlangen, in der Vertrautheit eines Gesprächs über die
scheinbar einfachste Sache der Welt.
Folge 59
Im Gegensatz zu Alex fühlte sich Matthias an diesem Tag äusserst einsam. Nachdem er mutig
beschlossen hatte, ein Spermiogramm von seiner wertvollsten Körperflüssigkeit erstellen zu lassen,
fand er irgendwie bereits den gesamten Vormittag nicht die Zeit, sich ernsthaft mit dem Thema zu
beschäftigen. Mittags war er dann bei einem „Ich mach’ das ja auch nur, um Alex endlich zu
beweisen, dass sie bei mir völlig schief liegt“ und am frühen Nachmittag war er dankbar für jede noch
so kleine Unterbrechung und Ablenkung.
Dennoch gelang es ihm nicht ganz, die unangenehmen Dinge, die er am Vortag erfahren hatte,
erfolgreich zu verdrängen.
„So ein Quatsch, mag ja sein, dass bei anderen Kinderlosen der Anteil der Männer mit
Zeugungsproblemen bei 40% liegen mag, aber was hat das mit mir zu tun?“ Solche und ähnliche
Überlegungen gingen ihm immer wieder durch den Kopf. Allerdings hatte er sich unter Mühen damit
beschäftigt, einen Arzt zu suchen, bei dem er – „…wenn denn dann alle Stricke reissen…“ dachte er
beim Blättern im virtuellen Telefonbuch – eine Probe abgeben könne. Dieser Arzt war Androloge.
„Das hört sich ja schon besser an als Urologe, weil sich das nach Blasenentzündung oder
Darmspiegelung anhört“, Matthias gruselte sich, als er an die Musterung beim Bund dachte.
„Allerdings, die machen das auch in Kinderwunschpraxen… Quatsch, was soll ich denn da, nachher
kennt mich da noch jemand… nee… keine zehn Pferde bringen mich da rein…“ Derartige und andere
Gedanken gingen ihm den ganzen Tag durch den Kopf. Und als er nachmittags den Tee wegbringen
musste, pinkelte erneut nicht der Emaillefliege aufs Insektenhaupt, sondern schloss sich in der
Kabine ein. Diesmal galt die prüfende Handhabung einerseits der Temperatur – in dieser Hinsicht
hatte er durch die Unterhose vom Vortag ja schon enorme Fortschritte erzielt - sondern auch der
unterschiedlichen Grösse der Hoden, einer Verdickung, die auf eine Krampfader hindeuten konnte,
der Beweglichkeit im Hodensack, die auf Vernarbungen schliessen lassen konnten und zum Schluss
der unterschiedlichen Temperatur von Hoden und Nebenhoden, von der er gelesen hatte, dass
kundige Mediziner diese durch Handprüfung feststellen konnten.
Diese gesamten Prüfungen nahmen geraume Zeit in Anspruch und es war dazu nötig, zumindest
einen Schuh auszuziehen, um das Bein auf den Toilettenrand stellen und somit entlasten zu können.
Da allerdings beide Seiten kostbaren Gutes wenn auch nicht gleichgross so doch gleichberechtigt sein
mussten, entschloss sich Matthias, die Hose gänzlich auszuziehen. Leider befinden sich in
Herrentoiletten anders als in Damentoiletten nicht traditionsgemäss Haken für das Aufhängen der
Handtasche, und deshalb warf sich Matthias die Hose zunächst über die Schulter. Aber auch er
musste – wie viele Menschen vor ihm - feststellen, dass sich ein gekrümmter Rücken mit einer
Neigung nach vorne winkelmässig schlecht mit einem rutschenden Kleidungsstück vereinbart und so
war seine intensive Tätigkeit unten von intensiver Haltungserhaltung oben unterbrochen. Völlig
entnervt und etwas gedankenlos legte er schliesslich wie in der Kabine beim Herrenausstatter sein
Beinkleid über die Tür.
„So, nun kann nichts mehr passieren“, dachte sich Matthias und ging seinen diversen Verrichtungen
nach. Völlig vertieft darein, unverkrampft zu fühlen, hörte er plötzlich, wie die Tür zum Flur geöffnet
wurde, und beim Versuch, die Hose aus der Sichtweite zu ziehen, verhakte sich der Gürtel. Der
Klügere gibt nach, und in diesem Fall war es die Hose, die mit einem deutlichen Rissgeräusch nach
dem Motto „Nach fest kommt lose“ in die Kabine zurückglitt. Allerdings hatte sie nun im Schritt einen
etwa fingerlangen Riss.
„Mist, verdammter…“, entfuhr es Matthias, als er ein „kann ich Ihnen irgendwie helfen, verehrter
Herr Kollege?“ im Vorraum hörte.
„Nein, danke, alles okay…“ entgegnete Matthias mit grimmiger Stimme.
„Ach, der Herr mit der schweren Verdauung! Ich empfehle getrocknete Pflaumen! Schönen Tag
noch!“ schallte es fröhlich zurück, und Matthias hatte das Gefühl, dass sich sein Kollege ein lautes
Lachen nur deshalb verkniff, weil man in dieser Firma nie wusste, wer in Zukunft wessen Chef sein
würde…
„Wenn Sie Ihr Portemonnaie suchen, ich lege es hier auf das Waschbecken, Herr äh, Moment…
Manthei. Na sehen Sie, jetzt sind wir uns immerhin schon bekannt, wenn wir uns hier immer treffen.“
Mit diesen Worten fiel die Tür ins Schloss, und Matthias hatte das Gefühl, dass sich hiermit auch eine
Tür zu einem unbeschwerten Gang auf die Toilette für lange Zeit geschlossen hatte.
Folge 60
Matthias setzte sich etwas entnervt auf den Klodeckel und sinnierte darüber, wie er ziemlich sicher
folgenden Kommentaren entgegnen konnte, und kurz darauf stand er bekleidet mit am Schritt
eingerissener Hose aber gut gewappnet gegen Frotzeleien in der Tür. Auf dem Flur herrschte reges
Treiben, und schon kam Ralph um die Ecke, dessen Blick sich an Matthias Hose festheftete. Mit
gesenkter Stimme sagte dieser: „Matthias, hast du schon bemerkt, dass deine Hose am … ähem…
da…“ Er zeigte verstohlen mit dem Finger auf den Riss, „ein Loch hat?“
Matthias schaute scheinbar erstaunt nach unten, begutachtete den Riss, schnalzte mit der Zunge und
sagte kopfschüttelnd: „ Mensch Ralph, das passiert mir so oft, wenn ich an Alex denke, dann ist
dem…“ erneut folgte ein Blick nach unten „…kein Stoff gewachsen. Ich kaufe mir nachher eine
Bundfaltenhose, vielleicht hilft die, die ist da weiter.“ Und mit hocherhobenem Kopf liess er einen
völlig verwirrten und grübelnden Ralph zurück, während er hinter seiner Bürotür verschwand.
Nach einer kurzen Verschnaufpause im seinem Büro schnappte er sich sein Sakko und verliess das
Gebäude Richtung Herrenausstatter, wo er zunächst seinem altbekannten Kleidungsexperten
erläuterte, dass er – der Mode zum Trotz – passend zum Sakko eine Bundfaltenhose benötigte und
auch sonst auf diese Passform übergehen wollte. Der Mann, gut geschult und Kummer gewohnt,
verzog keine Miene, allerdings warf er eine kurzen Kommentar über den derzeitig angesagten
Hosenschnitt ein, der von Matthias mit einem ebenso kurzen, freundlichen „ja, das ist mir bekannt“
abgeschnitten wurde.
Kurz darauf konnte Matthias mit einer neuen Hose am Leibe und einer in der Tüte das obere
Stockwerk mit den Anzügen und Hosen in Richtung „Herrentrikotagen“ im Erdgeschoss verlassen.
Dort erwartete ihn eine beflissene zum Glück ältere Verkäuferin, die ihr Warensortiment in Grösse 7
vorlegte.
„Dieses hier wird gerne genommen, Feinripp mit deutlich verstärktem Zwickel. Möchten Sie mit oder
ohne Eingriff?“ Sie schaute ihn erwartungsvoll über den Brillenrand hin an.
„Haben Sie auch so eine Art Boxershorts, aber dennoch ein bisschen, na, Sie wissen schon, so …“
Matthias wand sich, er konnte wohl kaum sagen, dass er eigentlich „sexy“ meinte.
„Meinen Sie, eine Hose, die an den Rundungen locker aber gewissenhaft anliegt, Freiheit lässt und
dennoch Vorzüge verdeutlicht?“ Die Frau hatte das Ganze mit Ernsthaftigkeit gesagt, doch hinter den
Gläsern der Brille funkelte es schalkhaft und gleichzeitig verständnisvoll. „Ich glaube, ich weiss schon,
was Sie meinen, Slip- und Tangaformen können bei auch nur leicht abweichender Form zu enormen
Hautreizungen und Unbequemlichkeiten führen, aber es soll ja dennoch auch der Gattin gefallen,
oder?“
Matthias lächelte die Dame, die in seiner Achtung von einer Bedienung zu eben selbiger aufgestiegen
war, dankbar an. Dann schaute er zu, wie sie ein Sortiment an Unterhosen aus einer Schublade zog,
die er früher nie in Erwägung gezogen hätte, deren Anblick ihn aber im Vergleich zu den normalen
Boxershorts enorm beruhigte. Hier würde er sicher etwas Passendes finden.
Kurz darauf waren die beiden in ein Fachgespräch vertieft, dessen Inhalt Stoff – natürlich nur
ökologisch unbedenkliche Baumwolle mit entsprechender Strickverarbeitung -, Passform und Farbe
waren.
„Wie wär’s mit rot?“ fragte Matthias unsicher.
„Ehrlich gesagt,“ die Dame senkte ihre Stimme, obwohl sie ohnehin alleine in der Abteilung waren,
„die wenigsten Frauen mögen helles Rot an ihren Männern. Wie wäre es denn mit schwarz?“ Beherzt
hielt sie ein schwarzes Exemplar mit weissen Paspeln in die Höhe. „Das wird gerne genommen, und
sehen Sie, hier…“ Sie zeigte den Zwickel „..ist schön viel Platz, da engt nichts ein.“
Inzwischen waren zwei attraktive Frauen in die Abteilung gekommen, die für zumindest einen
männlichen Anhang in Abwesenheit ebenfalls Trikotagen erwerben wollten.
„Oh, kann ich die mal sehen?“ Sie zeigte auf das schwarz-weisse Unterhosenmodell.
„Die finde ich gut, die hätte ich gerne in Grösse 7.“
Die Verkäuferin schaute kurz nach: „Das ist die letzte davon, ich könnte sie nachbestellen…“
Die junge Brünette mit ihrer Freundin schaute Matthias freundlich an.
„Ich möchte Sie aber nicht Ihrer potentiellen Hose berauben,“ sagte sie lachend, und kurz darauf
standen alle vier ganz traut zusammen und berieten, welche Hose der Freund der Brünetten und
welche Matthias erhalten sollte. Selten hatte er so gerne und ungezwungen eingekauft, und zum
Abschluss sagte er verschmitzt zu den drei Damen: „Jetzt habe ich drei Damen, die mich an der
Unterwäsche erkennen würden!“
Folge 61
Matthias kam gut gelaunt im Büro an. Dort erwartete ihn allerdings wie ein kleiner Teufel der
Gedanke an den Anruf beim Andrologen. Aber ein Blick auf die Uhr beruhigte ihn, es war schon 16.30
Uhr, und kein vernünftiger Mensch, auch kein Arzt, würde um diese Zeit noch in der Praxis erreichbar
sein, oder?
„Bestimmt ist da keiner mehr, das brauche ich gar nicht erst zu versuchen“, dachte er bei sich und
vertagte den Anruf auf den folgenden Tag. Allerdings würde er da viel zu tun haben, aber es sei wie
es will. Allerdings nahm er sich fest vor, neben der Kleidung auch einige Essgewohnheiten zu ändern
und bei Gelegenheit in der Apotheke diverse Präparate zu erwerben.
Matthias war noch ganz versunken in seine Papiere, die er notdürftig sortieren wollte, als es an der
Tür klopfte und sich kurz darauf der Kopf von Markus, ein alte Kollege aus Studienzeiten, den es auch
in diese Firma verschlagen hatte, im Rahmen zeigte.
„Hi, störe ich“, sagte Markus, während er sich suchend im Zimmer umblickte.
„Nee, komm rein, ich hab’ irgendwie sowieso den Faden verloren.“
„Ich habe mir sagen lassen, mit dir gingen merkwürdige Dinge vor?“ Markus grinste. „Sag’ ‚mal, was
war denn da los? Der Fründ aus der 3. hat so was gemurmelt. Und der Krüger war ganz verstört.“
Markus machte es sich auf dem Besucherstuhl so bequem wie möglich.
„Wieso?“ Matthias lief rot an.
„Naja, du sollst ziemlich erhitzt und mit einer zerfetzten Hose an aussagekräftiger Stelle aus dem Klo
gekommen sein, und dein Portemonnaie hattest du für irgend jemanden auch schon gezückt, erzählt
man sich, nur dass das durch die Thermik bei euch vor der Kabine gelandet war… Und dann hättest
du gesagt, deine Frau würde auf dich warten.“ Markus schaute erwartungsvoll.
Matthias hatte es die Sprache verschlagen. „Das erzählt man sich?“ fragte er mit fast
überschnappender Stimme.
„Wie ich bereits sagte…“ Markus schaute anteilnehmend. „Hey Kumpel, was ist denn nun wirklich
passiert?“
Matthias befand sich in einer Zwickmühle, weder konnte noch wollte er die Wahrheit sagen. Aber er
hatte ja bei Ralph gezeigt, dass er nicht auf den Mund gefallen war, und so begann er – nicht ohne
vorher tief Luft zu holen: „Also, das war so. Ich gehe ahnungslos den Flur in Richtung Herrentoilette,
ich muss dir ja wohl nicht sagen, wozu, da steht diese atemberaubende Blondine direkt davor,
solche…“ er machte eine charakteristische Greifbewegung mit beiden Händen in erhöhter
Ellbogenhöhe, „Dinger, ich sage dir, ein echtes Sahneschnittchen. Lange Beine, schmale Taille, rote
Lippen, einfach klasse. Naja, und die schaut mich an und fragt mich, ob ich ihr nicht mal die
Herrentoilette zeigen könne, sie wollte sehen, ob es da auch Haken in den Kabinen gäbe, sie hätte
mit ihrer Freundin gewettet. Also, wir ab in das Herrenklo, da kommt doch so ein Idiot aus einer
anderen Abteilung den Flur lang und will auch dahin. Das war der Blondine dann aber total peinlich,
also sind wir gemeinsam in die eine Kabine. Naja, wir so eng auf einem Raum, was glaubst du denn,
was da passiert: vorne Wölbung, und dadurch wird auch das Portemonnaie hinter hochgedrückt,
dann vorne eine Riss – Mann, war Marion wild – tja, zum Glück hat Herr Fründ mir dann das
Portemonnaie hingelegt, sonst hätte ich das Geld von Marion für die gute Führung – durch die
Herrentoilette, was denkst du denn – gar nicht ordentlich einstecken können.“
Markus konnte es nicht fassen. „Und dadurch der Riss in der Hose?“ fragte er ungläubig?
„Genau dadurch,“ entgegnete Matthais und stand auf, um Markus heraus zukomplementieren. Der
schaute Matthias ungeniert auf die Hose.
„Da ist ja gar kein Riss…“, sagte er erstaunt.
„Siehste, so ist das manchmal mit Wahrheiten…“ grinste Matthias.
Folge 62
Zuhause angekommen, ging Alex erst einmal – eigentlich wie üblich – ins Bad und prüfte ihre
Schmierblutungen. Nichts! Auch ein Abtasten des Muttermundes brachte keine weitere Erkenntnis,
ob nun verfrüht die Mens einsetzen würde.
„Mist!“ dachte sie.„Nicht ‚mal auf die Mens ist Verlass, und auch nicht auf die Schmierblutungen.“
Entnervt ging sie ins Wohnzimmer und begann das tägliche Einerlei des Aufräumens. Sie hatte kurz
gezögert, ob vielleicht noch ein Orakel sinnvoll wäre, hatte es aber verworfen mit dem Gedanken,
dass sie nach einem so aufregenden Tag nicht noch eine schlechte oder aufregende Nachricht würde
verkraften können.
Mitten in der Arbeit des Staubputzens klingelte das Telefon: Es war Bea, das konnte sie an der
Nummer erkennen.
„Die hat mir jetzt gerade noch gefehlt“, dachte sie, als sie den Hörer ergriff. „Hi Bea, was gibt es.“
Diese Begrüssung war zwar nicht nett, aber ihrer plötzlich frostigen Laune entsprechend.
„Du, ich wollte mich entschuldigen, dass ich mich so blöd benommen habe. Ich weiss gar nicht, was
mit mir los war, irgendwie spielen die Hormone total verrückt. Weisst du, ich merke jetzt erst, wie
schön es ist, schwanger zu sein, ein schöneres Geschenk kann der Himmel mir gar nicht machen, ich
habe so eine Wärme in mir. Und all diese Gefühle, Alex, du kannst dir das gar nicht vorstellen, ich
fühle mich so wichtig, zumindest für eine gaaanz kleine Person, hach, das ist so schön! Das musst du
unbedingt auch probieren, warum versuchst du es nicht einfach ab jetzt und dann sind wir
gemeinsam schwanger? Und unsere Kinder könnten gemeinsam aufwachsen, wie Geschwister! Es ist
so toll, ich bin so glücklich, und Peter freut sich bestimmt dann auch, und dann bauen wir das Haus,
und ich richte ein Kinderzimmer ein, so ganz rosa oder hellblau….“
Bea konnte sich glücklich schätzen, dass es Alex die Stimme verschlug. Denn zu den grauenhaftesten
Situationen im Leben einer Frau, die Kinder möchte, sie aber nicht ohne Weiteres bekommt, gehört
es, sich die Schwärmerei einer Schwangeren anhören zu müssen. Einen Kugelbauch zu sehen war die
eine Sache, aber sich gegen die Worte einer glücklichen Schwangeren nicht wehren zu können, war
eine andere, und zwar eine ganz andere. Dies galt umso mehr, als in diesem Fall jedes Wort von Bea
besonders traf. Was hatte sie gesagt? „Warum versuchst du es nicht einfach ab jetzt und dann sind
wir gemeinsam schwanger?“ genau, einfach mal so.
Alex hörte gar nicht hin, was Bea ihr so alles sagte, sie war nur tief betroffen. In einer Atempause von
Bea warf sie zugegebenermassen etwas schnippisch ein: “Und wie willst du das mit Peter regeln? Du
hast mir doch selbst erzählt, er wird sich nicht an der Erziehung beteiligen?“
„Ach, Peter, der wird schon weich werden. Weisst du, unsere Beziehung ist einfach perfekt, und jetzt
mit dem Kind ist sie noch perfekter, das wird auch Peter bald merken. Er ist ja so süss, auch wenn er
gar nicht zeigt, dass er sich freut. Bestimmt weiss er nur nicht damit umzugehen. Du weisst ja, wie
Männer sind.“
„Ja klar, aber ich weiss nicht, ob du dir da nichts vormachst. Männer ändern sich nicht, aber es ist ja
toll, dass du nun die Situation anders einschätzt. Das freut mich für dich!“ Alex biss sich auf die
Zunge, mehr wollte sie nicht sagen.
Beas Stimme war nun etwas schärfer. „Wieso sollte ich mir etwas vormachen? Peter und ich werden
nun eine Familie gründen, mit allem Drum und Dran, was sollte denn da schief gehen? Ich glaube, du
bist ganz einfach eifersüchtig, du hast mich ganz schön enttäuscht!“ Und mit einem lauten Scheppern
legte sie wütend auf.
Alex hatte den Hörer noch eine Weile in der Hand, zugegeben, sie war eifersüchtig, und sich als
Kinderwunschfrau sagen zu lassen, dass man es doch eben einfach mal so probieren solle, und dass
das alles so toll sei, war ja auch hart. An diesen Worten knabberte sie noch eine Weile. Was sie aber
viel mehr irritierte war die Textschleife, mit der Bea immer wieder sagte, die Beziehung sei perfekt.
Einerseits gab es keine perfekte Beziehung, das wusste jeder, andererseits würde niemand, der nicht
entsprechende Zweifel hatte, mehrfach beteuern, dass er eine so gute Beziehung führte.
Alex stand noch eine Weile sinnierend da, bevor sie sich aufraffen konnte, weiter die Wohnung zu
putzen.
Folge 63
Alex putzte sich langsam und gemächlich durch die Wohnung, wobei sie tief in Gedanken versunken
war. Das Gespräch mit Bea – wobei sie dachte, es sei ja gar kein Gespräch gewesen, sondern ein
Monolog von Bea – hatte da neben dem wunden Punkt „Kind“ noch einen zweiten berührt: das
perfekte Paar.
Nun sah sie Matthias und sich in keiner Weise als perfekt an, das war es nicht, sondern es schlich sich
der Gedanke ein, dass ihre Ehe und Partnerschaft vielleicht ohne Kind gar nicht langfristig halten
würde. Sowohl zu ihrem als auch zum Lebensplanes ihres Mannes gehörte mindestens ein Kind.
Immer hatten sie davon gesprochen. Oder war nur sie es gewesen? Nein, sie erinnerte sich deutlich
an Szenen, aus denen sie lesen konnte, dass sich Matthias wie sie die Zukunft mit Kindern vorstellte.
„Und was, wenn ich ihm das nicht bieten kann?“ Alex hatte diesen Gedanken immer wieder
erfolgreich zur Seite geschoben, und immer wieder kam er wie der Teufel aus der Kiste zu ihr zurück.
Was wäre wenn? Sie hätte des Öfteren versucht, dieses Thema bei Matthias anzuschneiden, doch
der hatte mit Unverständnis reagiert. Sätze wie „Aber Schatz, warum sollte es denn ausgerechnet bei
uns nicht klappen?“ oder „Du machst dir viel zu viele Gedanken, wenn es kommen will, dann kommt
es“ oder schliesslich „Wenn du dich so verkrampfst, dann kann es ja nicht klappen, also, Liebling,
entspann dich.“
Doch wie zum Henker sollte sie sich entspannen, wenn die Welt um sie herum bevölkert war von
Schwangeren, die ihr auch noch gute Ratschläge gaben, von Müttern, die ihr jegliche Kompetenz
absprachen, von Frauenärzten, die sagten „Nun versteifen Sie sich man nicht, das kommt schon…“
und von Freundinnen, die ihr nur allzu deutlich zeigten, wie unfähig sie war?
Nie hätte sie gedacht, jemals in diese Situation zu kommen. Vermutlich, so musste sie sich
eingestehen, hatte sie sich sogar lange heimlich über Paare lustig gemacht, bei denen es nicht sofort
klappte. Verschämt überlegte sie, ob sie vielleicht auch einmal in jugendlicher Überheblichkeit
Sprüche gebracht hatte, die sie heute zutiefst trafen.
Sie erinnerte sich da an eine Szene, als sie Anfang zwanzig war und ihr Studium begann. Sie hatte
eine kleine Wohnung in einem Mehrfamilienhaus, und auf der Treppe begegnete sie einer netten
jüngeren Nachbarin, die sie freundlich fragte, ob sie sich schon eingelebt habe.
„Ja“, hatte Alex gesagt, „ es ist wie für mich gemacht, ein schönes Haus und so ruhig, es toben ja
keine Kinder im Treppenhaus, die einen stören könnten. Hier kann man sich wohl fühlen...“ Erst Jahre
später hatte sie erfahren, dass diese Nachbarin alles getan hatte, um ein Kind zu bekommen,
schliesslich war sie mit ihrem Mann weggezogen und Alex wusste gar nicht, ob es noch geklappt
hatte.
Heute war ihr diese Antwort peinlich, denn sie konnte nun ermessen, wie getroffen sich diese Frau
gefühlt haben musste, als sei sie Schuld daran, dass es kein Kinderlachen auf der Treppe gab, und sie
schämte sich, wie dumm und oberflächlich sie reagiert hatte.
Jeden Tag konnte es ihr so gehen, und würde auch sie später mit ihrem Mann hier wegziehen, fort
von den Erinnerungen an den Kinderwunsch. Oder würde Matthias sogar bleiben?
Sie hatte ihm zum Vorwurf – allerdings vollständig berechtigt, wie sie meinte – gemacht, dass er
einseitig die Lebensperspektive ändern wollte, als er von Job in Frankfurt sprach. Und was war, wenn
sie die Lebensperspektive änderte, zwar unverschuldet aber dafür umso gravierender? Einerseits war
sie sich sicher, dass Matthias zu ihr halten würde, andererseits nagte der Zweifel an ihr. Immerhin
hatte sie des Öfteren beobachtet, wie sich ihr Mann in Gegenwart von Kindern benahm, und auch
wenn er Alex manchmal durch eine steife Art, die er nach Alex Meinung früher nicht hatte, aufregte,
war er dann doch wieder der super lockere Typ, in den sie sich verliebt hatte, und er wandte sich
dann auch mit aller Intensität den Kindern so. So strahlende Augen hatte er bei seiner Frau lange
nicht mehr gehabt wie beim Spielen mit seiner Nichte Henriette.
Alex straffte die Schultern, sie musste langsam einige Dinge für sich klären. Allerdings wusste sie
derzeit gar nicht, ob sie die Ergebnisse hören wollte.
Folge 64
Als Matthias nach Hause kam, war die Wohnung blitzsauber, Kerzen waren frisch angezündet und
erhellten eine gedeckten Tisch und alles duftete nach einem schönen Abend. Alex rief aus der Küche:
„Ich bin gleich fertig!“ und Matthias wickelte noch schnell den Blumenstrauss aus, den er auf dem
Rückweg für seine Frau gekauft hatte. Warum, das wusste er auch nicht so genau, es war so eine
Mischung aus schlechtem Gewissen, wobei er sich eigentlich keiner Schuld bewusst war, und dem
Bedürfnis, ihr eine Freude zu machen. Und da Alex rote Rosen mochte, wie er sich eingeprägt hatte,
kaufte er in solchen Fällen immer diese Blumen, meist von Palmenblätter umgeben und mit
Efeubeeren und -ranken aufgelockert.
„Für dich, mein Schatz…“ sagte er strahlend, als seine Frau aus der Küche kam.
„Och Mensch Matthias, das ist aber lieb von dir!“ Ganz Hausfrau stellte sie den Teller, den sie in der
Hand hatte, ab und nahm die Blumen.
„Rote Rosen!“ Alex freute sich ehrlich, gerade heute konnte sie Trost gebrauchen. Doch als sie Vase
herausgesucht hatte und in der Küche die Stiele schräg schnitt, überkamen sie ganz andere
Gedanken. Was wäre, wenn Matthias fremd ginge und der Strauss nur eine Wiedergutmachung war?
Oder was, wenn er sich von ihr trennen wollte? Alex hatte in ihren Studententagen eine Freund
gehabt, der ihr zum Abschied ein Bund gelbe Tulpen geschenkt hatte mit den Worten „Du bist viel zu
gut für mich“, und das, obwohl sie wusste, dass er Schnittblumen hasste. Und genau dieser Schreck
wie beim Anblick der gelben Tulpen (die sie im übrigens bis heute nicht mochte) durchfuhr sie jetzt
bei den Rosen.
„Vielleicht kann er es mit einer Frau wie mir gar nicht aushalten…“ dachte sie und schluckte schwer.
Zur gleichen Zeit schaute sich Matthias im Wohnzimmer um. Alex hatte das alles liebevoll
eingerichtet und dekoriert. Vielleicht mochte er manche Spielerei nicht so gerne, wie die zwei
geflügelten Schweine aus Gusseisen, die ihn nun aus einer Schale mit Duftblütenblättern angrinsten.
Was hatte Alex lachend gesagt, als sie sie gekauft hatte? „Na, wenn die uns nicht endlich mal Glück
bringen, dann weiss ich es auch nicht…“ Und Henriette hatte sie stundenlang betrachtet, als sie
Onkel und Tante besucht hatte.
Damals hatte Kinderlachen den Raum erfüllt, und beide hatten stundenlang alle Warum-Fragen der
Kleinen geduldig beantwortet. Und als Henriette dann abgeholt worden war, hatten Alex und er noch
stundenlang aneinandergekuschelt gesessen und sich ausgemalt, wie es denn mit Kindern so sein
würde. Das war ja nur ein paar Monate her, aber es erschien Matthias endlos. Zum ersten Mal hatte
er ähnliche Gedanken wie Alex: Was passiert, wenn es mit dem Kind nicht klappte? Bisher hatte er ja
nie ernsthaft einen Gedanken daran verschwendet, aber nachdem er all diese Informationen über
den Kinderwunsch gelesen hatte, wusste er zumindest, dass es eben doch nicht so leicht war, Kinder
zubekommen.
Matthias straffte die Schultern, er war sich sicher, das galt nicht für sie beide, immerhin hatte er
bisher alles im Leben erreicht, was er hatte erreichen wollen. Und Alex straffte ebenfalls die
Schultern, wenn es denn sein musste, dann musste es eben geklärt werden.
„Schatzi, gibt es einen Grund, dass du mir Blumen mitbringst?“
Matthias lachte und nahm sie in den Arm. „Nein, ich finde bloss, dass ich dich in letzter Zeit etwas
vernachlässigt habe.“ Alex machte sich steif. Fing so nicht immer in Melodramen das Ende der
Beziehung an. Musste sie da nicht misstrauisch werden?
„Hmm… wie war denn dein Tag, war was Besonderes los?“
„Nö, wieso?“ Matthias machte das absolut unschuldige Gesicht eines Mannes, der etwas zu
verbergen hat, allerdings etwas, was er durchaus irgendwann erzählen würde. Jede Frau kennt die
unterschiedlichen Kategorien dieses vermeintlich lässigen „Nös“. Immerhin entspannte sich Alex
dabei, sie musste also nur bohren.
„Okay, dann setz dich und wir essen, und dabei erzählst du mir, was losgewesen ist.“
„Was meinst du denn?“ wieder dieser Unschuldsblick. Alex musste nun schon fast lachen: Dass
Männer immer meinen, man könne sie nicht durchschauen…
„Schatzi, wenn du so guckst, hast du etwas vor mir zu verbergen.“, insistierte Alex.
„Nein…“
„Okay, dann später?“ Alex liess nicht locker.
„Sag mal, du hast doch vorhin angerufen, was war denn los?“ fiel Matthias der Anruf wieder ein. Eine
Ablenkung vom Thema war ihm nur recht. Und Alex fing Feuer:
„Ich war heute Morgen bei Bea, und sie wollte das Kind nicht…“ Alex erzählte Matthais nun in allen
Einzelheiten das erste Gespräch mit Bea. Und Matthias war betroffen und reagierte zum Erstaunen
seiner Frau an den richtigen Stellen mit den – fast- richtigen Einwürfen. Naja, er war halt ein Mann,
aber dafür war er diesmal erstaunlich gut bei der Sache.
„Solche Leute sollte man gleich sterilisieren, die ihre Kinder dann nicht haben wollen“… oder “Die hat
das Kind ja auch nicht verdient“, derartige Sätze waren Balsam für Alex geschundene Seele. Und
dann setzte Matthias noch eine Satz hinzu: “Aber ich finde, wir hätten das jetzt langsam verdient,
oder?“ Und kurz darauf hatte Matthias erneut eine weinende Alex im Arm, die sich nun ganz sicher
war, dass Matthias ebenso unter dem Kinderwunsch litt wie sie, während er merkte, wie sehr sie
darunter litt. Doch keiner von beiden vermochte den Partner auf die brennende Frage anzusprechen:
Was tust du, wenn ich Schuld habe?
Folge 65
Zwei Tage später hatte Alex deutlichste Vorboten der „roten Pest“, zu gut kannte sie ihren Körper, als
dass sie sich noch Illusionen machen musste: Auf der Waage stellte sie die üblichen 2 Kilogramm
Menstruations-Zusatzgewicht fest, sie fühlte sich dick und behäbig und hatte einerseits ein
charakteristisches Kribbeln in der Schamgegend, andererseits eine gute Darmtätigkeit. Kurz: Das
Ende eines hoffnungsvollen Zyklus kündigte sich an und Alex war zum Heulen.
„Okay, dann kann ich wenigstens zum Frisör gehen!“ dachte sie halbherzig kämpferisch und suchte
die Nummer von Tina heraus, die in der Nähe ihrer Wohnung einen kleinen aber feinen Frisörsalon
unterhielt. Bei Tina Thiedemann gab es immer etwas zu lachen, und Kaffee gab es sogar gratis.
Alex hatte Glück: Es hatte eine Kundin abgesagt, und sie konnte deren Zeitraum besetzen.
„Hi Tina!“ Mit einem offenen Lachen begrüsste Alex Tina, die ihr beide Wangen bot.
„Hi, na, wie geht es dir? Hmmm… an den Haaren könnten wir heute so einiges verbessern…“ Tina
liess das Ende offen, kniff die Augen ein wenig zusammen und betrachtete Alex.
Sie selbst war gross gewachsen, gut 1,75m, und hatte schulterlange widerspenstig gewellte Haare
ungewisser Ausgangsfarbe, denn bei jedem Besuch war die Farbe anders und das Styling auch. Heute
hatte die Frisörin dunkelblonde Haare in leichten Wellen und hellere Strähnen.
„Wow, siehst ja fast seriös aus!“ entfuhr es Alex. Tina hatte sich durch die Frisur von einer
kratzbürstigen Frau in eine damenhafte Mittdreissigerin verwandelt. Getönter Teint, der auf Urlaub
Rückschlüsse zuliess, ein paar Pfunde weniger…
„Und, wie ist er?“ fragte Alex ungeniert. Sie ging nun mittlerweile mehrere Jahre zu Tina und hatte in
der Zeit das Ende deren erster und den Niedergang ihrer zweiten Ehe mitansehen können und alles
durchdiskutiert. Immerhin hatte Tina nun eine Tochter im pubertären Alter, und auch darüber hatten
sich die beiden oft lachend ausgetauscht.
Tina strahlte: „Du, er ist ganz süss! Thorsten heisst er, ist überhaupt nicht mein Typ, aber er gibt mir
so richtig die Sicherheit, die ich immer haben wollte.“
Inzwischen hatte sich Alex auf den ihr zugedachten Sessel placiert, eine Tasse Kaffee in der Hand und
Tina vergrub ihre Händen in Alex’ Haaren, hob hier an und liess dort fallen.
„So ein bisschen kürzen müssen wir schon, schau einmal, hier müssen wir nachschneiden, aber
insgesamt hat sich der Schnitt gut gehalten.“ Tinas goldenen Händen waren wir gemacht für welliges
und lockiges Haar, glatte schienen ihr Können weniger hervorzulocken.
Sie beugte sich über Alex Scheitel. „Und graue Haare hast du bekommen? Hast du Stress?“ Prüfend
liess sie ihre Finger durch das Haar gleiten.
„Tja, Süsse, ich würde sagen, ein bisschen Strähnen in einer etwas dunkleren Farbe als deine, etwas
ins rötlich, das ist unauffällig, hat aber eine ganz tollen Effekt.“ Alex nickte alles ab, solange ihre
Haare nicht kurz wurden, war ihr alles egal, und sie hatte vollstes Vertrauen zu Tinas Können.
Während Tina also ihr Bestes gab, Alex Aussehen zu verschönern, tauschten die beiden sich über ihre
Beziehungen aus. Tina war sogar eine der wenigen, die von Alex’ Kinderwunsch wusste, hier konnte
sie frei plaudern, allerdings nicht ganz frei, aber so, dass sie zugeben konnte, dass sie gerne Kinder
hätte und dass sie gedacht hätte, es ginge einfacher, ihn zu realisieren.
„Also, mit Thorsten möchte ich auch noch einmal ein Kind, aber weisst du, bei Andreas habe ich mich
sterilisieren lassen, und da musste ich nun erst wieder rückgängig machen, ob das etwas hilft, weiss
ich auch nicht. Ist noch ganz frisch, weisst du?“ Alex und Tina unterhielten sich also ganz locker über
Eisprung, LH-Test, Wartezeiten usw. So wohl hatte sich Alex ausser bei Hannah lange nicht gefühlt.
Sie konnte sogar ihre Menstruation für zwei Stunden vergessen.
„Hey Tina, ich drücke dir die Daumen, das wird schon, bestimmt.“ Mit diesen Worten drückte sie ihr
freundschaftlich einen Kuss auf die Wange und ging hinaus.
Ihr Haar hatte nun einen vollen dunkelbraun schimmernden Ton und war zu voller Lockenpracht
gefönt und gestylt. Alex fand sich seit langem einmal wieder richtig attraktiv und freute sich, dass
Männer sie auf der Strasse mit ihren Blicken verfolgten.
„Was für ein schöner Tag“, dachte sie lächelnd und betrat die Konditorei schräg gegenüber, um sich
ein Stück Apfelkuchen zu spendieren. Bei der Mens war es ja egal, sie hatte eh’ mehr Gewicht drauf.
Die Bedienung war eine alte Bekannte von Alex und begrüsste sie mit freundschaftlichen Lächeln:
„Na, Frau Manthei, schick sehen Sie aus, wie frisch vom Frisör.“
Alex lachte. „Gut, dass man das wenigstens sieht, ich habe eben da drüben“ sie wies mit dem Kopf
auf den Frisörsalon, „ein kleines Vermögen gelassen.“
„Ja, die Frau Thiedemann, die hat goldene Hände, sag’ ich immer. Und nun hat sie ja auch diesen
neuen Freund, ein ganz netter, ich seh’ ihn manchmal, wenn er sie abholt. Hier bleibt ja nichts
geheim.“ Sie lächelte verschwörerisch und senkte die Stimme ein wenig: „Aber dass das so schnell
gehen muss?“
„Na ja, ist doch schön, dass sie, wenn die Ehe kaputt ist, nicht allein da steht, oder?“ sagte Alex
versöhnlich. Die Bedienung winkte ab: „Das meine ich ja nicht, sondern das mit dem Kind. Naja, weiss
ja noch kaum jemand…“
„Mit welchem Kind. Soll Laura nicht bei den beiden wohnen, oder was?“
„Nee, nicht Laura, das zweite, über das habe ich gesprochen. Ging doch schnell, oder?“
Vor Alex tat sich ein grosses Loch auf. Statt des Kuchens schaffte sie es gerade noch, leicht verstockt
ein Vollkornbrot zu erstehen, um dann innerlich getroffen nach Hause zu gehen. Ihr Bedarf an
Gesprächen war gedeckt.
Folge 66
Ausgerechnet in diese Zeit fiel der Tag, an dem Alex und Matthias alte Freunde besuchen würden oder mussten, wie Alex sich selbst sagte - , die einen inzwischen drei Monate alten Sohn hatten.
Lange hatte sich Alex davor gedrückt, das Baby zu besuchen. Denn kleine Kinder zu besuchen, wo sie
selbst sich doch so sehnlichst eines wünschte, deprimierte sie zunehmend. Deshalb hatte sie immer
nur ganz vorsichtig bei Matthias nachgefragt, wie es der jungen Familie so ginge, denn eigentlich
waren ja nur Matthias und Michael richtig gut befreundet.
Sie und Manuela, Michaels Frau, hatten sich früher zwar gut verstanden, aber in der
Schwangerschaft von Manuela hatte es einen heftigen Knacks in der lockeren Frauenfreundschaft
gegeben. Manuela hatte ihr irgendwann Ende des 3. Monats unterbreitet, Alex könne ihr nicht
helfen, schliesslich sei sie ja nicht schwanger, und wüsste auch nichts davon, wie das ist. Leise hatte
Alex auch in dieser Situation gesagt:
„Nein, das ist wohl war, das weiss ich nicht“, aber der Satz „Du hast ja keine Ahnung, wie das ist,
schwanger zu sein“ war wie ein Schlag ins Gesicht gewesen, zu oft hatte sie ihn ertragen müssen.
Alex konnte Manuelas Auffassung auch damit nicht entschuldigen, dass diese nicht wusste, dass sie
bereits seit Monaten am Üben waren. Seitdem herrschte mehr oder weniger Funkstille bei beiden.
Und – was noch viel schwerer war – der Satz stimmte ja und war durch nichts anderes als durch
einen dicken Bauch irgendwann – oder hoffentlich überhaupt – zu entkräften.
Heute Abend aber waren sie bei der kleinen Familie zum Essen eingeladen: Es fand sich diesmal
einfach kein Grund mehr, nicht hin zu gehen. Also steuerte Alex schicksalsergeben ihren Wagen auf
den Parkplatz von Baby Walz, um ein kleines Geschenk zu suchen. Sie nahm die Schultern zurück und
reckte die Nase ein klein wenig in die Höhe, als sie die Hölle einer jeden Frau mit unerfülltem
Kinderwunsch betrat.
„Komm Mädel, stell dich nicht an“, beschwor sie sich selbst, um nicht immer wieder auf die dicken
Bäuche zu starren, die links und rechts von ihr unterwegs waren, nicht vor Muttergefühlen zu
zerfliessen, wenn ein Neugeborenes mit den grossen Kulleraugen die Welt entdeckte und ihr
zuckersüsse Blicke zuwarf oder Väter zu sehen, die glücklich ihre schwangere Frauen durch die Gänge
führten. All das dokumentierte wieder einmal mehr Alex Unvermögen, zumindest hatte sie das
Gefühl.
Alex beschleunigte ein wenig den Schritt, vorbei an den Kinderwagen, Stillzubehör hin zu den netten
kleinen Kuschelsachen. Ein Riesenregal, vor dem sie mindestens 20 Minuten stand und fast alles
einmal herausnahm, die Weichheit spürte und sich vorstellte, welcher Teil des Tieres als erstes als
Schnullerersatz angelutscht wurde.
„Mensch, ist der Bär niedlich.“ Alex nahm ihn aus dem Regal und wiegte ihn ein wenig im Arm. Sie
strich ihm über das Fell mit und gegen den Strich und polierte seine Knopfaugen, die irgendwie ein
wenig Staub angesammelt zu haben schienen. „So einen hole ich dann auch…“ dachte sie und
bedachte alles in „dann“ Zusammengefasste mit einem wehmütigen Blick.
Zu guter Letzt entschied sie sich für eine zuckersüsse Plüsch-Spielfigur, die sich dadurch auszeichnete,
dass die Musik nicht so schrebblig war, wie in so vielen anderen Spieluhren und dazu noch schön
langsam abspielte. In der rechten Hand hielt Alex ein kleines Nuckeltuch-Tierchen. Sie rang mit sich,
ob sie es nun kaufen sollte oder nicht. Nein, nicht für Manuela, sondern für sich selbst. Schliesslich
soll sich ja ein neues Leben bei ihr willkommen fühlen. Wie sagen die Chinesen, was man als
Vorbereitung für ein Kind tun sollte? „Dem Kind ein Nest bauen“, bestätigte Alex sich selbst. „Und
ausserdem kann ich dann immer damit kuscheln, wenn Matthias mal wieder auf Dienstreise ist.“
Beherzt packte sie die Spieluhr, behielt das Schnuffeltuch in der Hand und marschierte zur Kasse,
liess die Spieluhr als Geschenk einpacken und bezahlte beides. Kurz hatte sie ja damit gerungen, auch
das Nicki-Tier als Geschenk für ihren kleinen Krümel, wenn er denn irgendwann kommen würde,
einzupacken, aber bis dahin sollte das Tier doch ihr selbst als Trost dienen, hatte sie schliesslich
entschieden.
Sie freute sich, als sie draussen wieder frische Luft schnappen konnte und die Sonne das Gemüt ein
klein wenig erhellte. Gegenüber von BabyWalz war ein Supermarkt, und da Alex noch nichts fürs
Wochenende eingekauft hatte, packte sie schnell das Geschenk samt Schnuffeltuch ins Auto und ging
hinüber.
Eine halbe Stunde später kam sie mit einer prall gefüllten Einkaufstüte und einem Blumenstrauss für
Manuela aus dem Supermarkt geschlendert. Um zum Parkplatz von Baby Walz zu gelangen, musste
sie eine breite aber kurze Stahl-Treppe hochgehen. Sie war nicht alleine, eine junge Frau mit einem
Kind von etwa einem halben Jahr auf dem Arm ging etwa gleichzeitig neben ihr zum Parkplatz.
Plötzlich verfehlte diese Frau die nächste Stufe, ging wie in Zeitlupe in die Knie und rutschte in
unnatürlich verrenkter Art die Treppe herunter. Dort blieb sie liegen.
Alex war durch Einkaufstüte, Handtasche und Blumenstrauss zu sehr gehandicapt, als dass sie den
Fall hätte aufhalten können, nun aber warf sie alles zur Seite, und hockte sich neben die Frau, die
hysterisch schrie: „Nehmen Sie mein Baby!“
Alex schnappte sich den süssen Kerl und beruhigte die Frau ein wenig. Es war ihr schnell klar, dass die
Frau eine Verletzung am Fuss davongetragen hatte.
„Hallo, können Sie uns helfen?“ Mit dem Kind auf dem Arm half sie der Frau in eine bequeme
Position und bat einen jüngeren Mann, den sie bereits im Supermarkt gesehen hatte und der sich
neben beide gehockt hatte: „Könnten Sie bitte in den Supermarkt gehen und etwas Eis aus der
Fischtheke besorgen?“
Ohne zu Zögern sprang der Angesprochene auf und steuerte in den angrenzenden Fachhandel für
Tiernahrung.
„Was will er denn nun da?“ fragte sich Alex. Egal, sie beruhigte weiterhin die Frau mit den typischen
Floskeln „Wird schon nicht so schlimm sein, ihrem Sohn geht’s gut“...
Wie selbstverständlich hatte sie die ganze Zeit den kleinen süssen Racker auf dem Arm, der ganz
fasziniert an ihrer Kette herumspielte. Sie sah ihn nun genauer an. Wie niedlich er war mit seiner
gestreiften Latzhose und dem blonden Haar, den blauen Augen, einfach zum Klauen süss, wie man so
schön sagt.
„Wie einfach wäre es jetzt, mit dem Kleinen einfach so wegzurennen. Dann hätte ich endlich das
Baby, was ich mir so lange wünsche, und das ganz ohne Schwangerschaftsstreifen.“ Alex musste
schon fast über sich selbst lächeln bei diesem Gedanken.
„Er scheint noch dazu ein ausgeglichenes Baby zu sein, er hatte nicht einmal geschrieen oder
gejammert.....“ dachte sie bei sich und drückte ihn noch einmal an sich.
Noch ganz in die kriminellen Gedanken der Kindsentführung versunken, kam der von ihr um Eis
weggeschickte aus dem Tiernahrungshandel heraus, in der Hand zwei tiefgekühlte Hundewürste.
Alex verdrehte die Augen. „Egal, besser als nichts,“ dachte sie.
Der junge Mann machte ohne zu Zögern sich an die Arbeit und kühlte den verletzten Fuss. „Wie kann
man auch solche Schuhe anziehen“. Alex schüttelte innerlich den Kopf. Rosa Prada-Schühchen, so
ähnlich wie Mokassins mit Gummi an der Seite.
„Merke“, dachte Alex bei sich, „ziehe nur festes Schuhwerk an, wenn du mit deinem Baby unterwegs
bist. Mit solchen Schuhen kann man ja nur stürzen“. Sie hatte sich angewöhnt, nicht nur nach dem
Eisprung mit potentiellem Leben zu reden, sondern sich auch eine Liste zu machen, was sie im Falle
einer Schwangerschaft alles tun und lassen würde.
Plötzlich merkte Alex, dass der kleine Wurm, den sie immer noch eng an sich hielt, seine Hände in die
Höhe streckte und gluckste. Neben Alex stand plötzlich ein Mann von Mitte Dreissig und schaute
besorgt die Kranke und das Kind an.
„Hallo Schatz“, jammerte die verletzte Frau irgendwie übertrieben dramatisch, wie Alex fand, „Ich bin
hingefallen, ich glaube, ich habe einen Bänderriss. Gott sei Dank war die Frau hier da!“ Sie zeigte auf
Alex und lächelte etwas schmerzverzogen.
„Sie können mir jetzt den Kleinen geben“, meinte der Mann, den die Verletzte zuvor per Handy
angerufen hatte, zu Alex. Mit dem Gefühl, ihr eigenes Kind einem Fremden geben zu müssen, reichte
sie ihm das kleine Bündel, das begeistert immer noch die Arme nach Papa ausstreckte. Alex schaute
wehmütig zu und fragte sich wie so oft an diesem Tag, ob sie jemals das Glück haben würde,
Matthias ein eigenes Kind so in den Arm reichen zu dürfen.
„Ich kümmere mich jetzt um meine Frau, danke, dass Sie ihr geholfen haben“.
„Das war doch selbstverständlich. Gute Besserung!“.
Etwas wirr im Kopf packte Alex die Einkaufstüte, ihre Handtasche und die Blumen und ging zum Auto.
Noch einmal liess sie den Blick über die Familie schweifen, knuddelte in Gedanken den Kleinen und
dachte bei sich „Wer weiss wie lange sie gebraucht hat, um schwanger zu werden. Es gibt keinen
Grund, ihr jetzt das Glück zu neiden!“ Mit einem viel besseren Gefühl und mit der inneren Sicherheit,
den anstehenden Babybesuch zu überstehen, machte sich Alex auf den Weg nach Hause.
Folge 67
Mit einem komischen Gefühl im Bauch drückte Alex den Klingelknopf bei Michael und Manuela – und
bei Tom, dem fast neuen Erdenbürger. Schon auf der Hinfahrt hatte Alex Matthias immer wieder
unsicher von der Seite her angesehen, ob in ihm irgendwelche Gefühlsregungen zu erkennen waren.
Aber er hatte sich nichts ansehen lassen, sondern hatte munter das Wetter gelobt und über andere
Dinge geplaudert. Nur Alex hing offensichtlich ihren Gedanken nach. Und die drehten sich nach wie
vor um den Kinderwunsch.
„Hallo Ihr beiden, schön, dass Ihr da seid“, mit diesen Worten öffnete Manuela nach kurzer Wartezeit
vor der Tür. Alex strahlte sie an.
„Schön, dass es endlich klappt mit dem Treffen!“ Mit diesen Worten gab sie ihr die Blumen und hielt
Manuela das Geschenk für Tom hin.
„Oh, das wäre doch nicht nötig gewesen, er hat doch schon alles…“ entgegnete Manuela darauf. Und
Alex hatte in diesem Augenblick das Gefühl, wieder einmal zurückgestossen zu werden. Unterstellte
man ihr, dass sie nicht einmal dazu in der Lage war, für ein kleines Baby ein Geschenk zu kaufen?
„Na, das fängt ja gut an“, dachte sie, bevor sie sagte „Aber vielleicht hat er trotzdem seine Freude
dran.“ Und so nahm sie Manuela den Wind aus den Segeln, die nun einen Bruchteil einer Sekunde
betroffen schaute, sich aber sofort fing.
Alex betrachtete Manuela, die immer so besonders stolz auf ihre ranke Figur war, und zu ihrer
kleinen und – wie sie selbst zugeben musste gehässigen- Genugtuung stellte sie kritisch fest, dass
Manuela ein paar Pfunde zugenommen hatte und sie nach der Geburt noch nicht wieder zu ihrer
guten Figur zurückgefunden hatte.
„Gut siehst du aus“, sagte Manuela in diesem Augenblick und schaute Alex so offen an, dass diese ein
schlechtes Gewissen wegen ihrer schlechten Gedanken bekam.
„Danke, mir geht es auch sehr gut.“ Das war zwar eine glatte Lüge, kam aber immer gut an. Wie
sollte sie ausgerechnet dieser ehemaligen Freundin, die sie so schnöde ausgebootet hatte, klar
machen, was in ihr vorging?
„Na, dann schau dir den kleine Mann erst einmal an. Er schläft aber zum Glück gerade.“ Tom lag noch
recht winzig, wie Alex fand, in einer Tragschale vor dem bodentiefen Fenster in der Sonne und
schlief.
„Mensch Manuela, ist der süss!“ entfuhr es Alex, die völlig fasziniert dieses kleine Wunder
betrachtete: kleine geballte Fäuste mit winzigen Fingern und Fingernägel, ein leicht offener Mund
mit blassroten Lippen und lange dunkle Wimpern über geschlossenen Augen. Haare konnte Alex
nicht erkennen, da er ein Mützchen trug, aber als Manuela dieses ein wenig nach hinten schob, sah
sie fast schwarzes volles Haar.
„Die Haarpracht hat er von Michael, meine sind es zum Glück nicht. Und jetzt in der Schwangerschaft
wurden sie leider auch noch dünner. Naja, was nimmt man nicht alles in Kauf für so ein Kind…“
„Wenn du wüsstest…“, dachte Alex als stille Entgegnung. Sie beugte sich noch tiefer über Tom, um
ihre Betroffenheit nicht zeigen zu müssen. Diese Nase! Still und leise atmete sich der Erdenbürger in
sein Leben, von dem er später vielleicht einmal sagen würde, dass er nicht gefragt worden sei, ob er
es überhaupt hatte haben wollen.
Alex ertappte sich bei bitteren Gedanken. Als sie so klein war, hatte sie keine Ahnung davon gehabt,
was alles noch vor ihr liegen würde. Ebenso wie der kleine Tom nun in seinem Schlummer hatte sie
einfach nur gelebt und die Leichtigkeit des Seins wurde nur getrübt, wenn sie Hunger hatte oder
etwas anderes nicht passte. Was war das für ein leichtes wunderbares Leben gewesen!
„Magst du ein Glas Sekt?“ weckte Manuela sie aus den Gedanken. Alex fuhr fast zusammen und
musste sich zwingen, den Blick von Tom zu nehmen.
„Gerne, danke.“
Kurz darauf standen die vier Erwachsenen zusammen und prosteten sich zu.
„Auf Tom – und darauf, dass wir uns nun endlich wieder einmal sehen“, sagte Michael und guckte
alle fröhlich an, während die Gläser klangen. Matthias schaute Alex tief in die Augen und zwinkerte
ihr leicht zu. Leider konnte sie nicht ergründen, warum, aber sie nahm es als aufmunterndes Zeichen.
„So, und jetzt kommt bitte zum Essen. So richtig gross konnte ich nicht kochen, denn Tom beschäftigt
mich schon ganz schön…“ Manuela liess eine lange Pause zu und lachte dann nervös, „…aber ich
konnte zumindest ein bisschen zaubern. Setzt euch doch…“
Das kleine „Bisschen“, das die Gastgeberin „eben mal so nebenbei“ gezaubert hatte, entpuppte sich
als Drei-Gänge-Menue aus Kohlrabi-Carpaccio mit frischem Parmesan, Fettucine mit Pilz-SchinkenRagout und Zitronen-Sahne-Sosse sowie einem köstlichen Quark mit frischer Ananas „an MinzRohrzucker“, wie Manuela leichthin erklärte. Alex fragte sich, wie lange ihre ehemalige Freundin in
der nun blitzsauberen Küche gestanden haben musste. Zugegeben, es schmeckte phantastisch, aber
das Ganze wurde für sie getrübt von der munteren Erzählung, dass man als Hausfrau und Mutter die
unbedingte Fähigkeit haben müsse, alles mit leichter Hand ohne Aufwand zu „zaubern“. Dieses Wort
beherrschte offensichtlich den Geist von Manuela und die Erzählungen des Abends.
Wieder einmal fühlte sich Alex kleiner als ihre doch recht stattliche Körpergrösse schliessen liess.
Manuela schaffte alles „so nebenbei“, das Kind, das Essen, die Wohnung, alles. Nur sie, sie schaffte
das alles nicht so, angefangen beim Kind.
Glücklicherweise erwachte Tom genau in diesem Augenblick aus seinen Träumen, und sein
vorsichtiges Wimmern ging in ein erbärmliches Weinen und dann in empörtes Schreien über. Seine
Mutter sagte nur: „Okay, mein Part, ich nehme den Schreihals“, schnappte sich den Sprössling und
war verschwunden. Aus dem Nebenzimmer hörte man ab und zu kleine Laute und schliesslich war
Stille.
Michael bot noch einen „Verseifer“ an und wartete dann mit seine Gästen auf die Gastgeberin, dies
allerdings vergebens. Nach einer Weile stand er auf und verschwand ebenso im Nebenzimmer, aus
dem er auf leisen Sohlen wieder hervorkam.
„Tja, wir werden uns wohl mit uns begnügen müssen. Tom ist mitsamt seiner Mama eingeschlafen,
und dann kann ich Manu nicht wecken. Sorry, lasst uns noch einen trinken. So sieht unser
Familienleben derzeit tagtäglich aus.“
Alex und Matthias prosteten sich zu – und in diesem Augenblick waren sie sogar froh, dass sie zur
Zeit noch nicht alles „einfach so nebenbei zaubern“ mussten, denn offensichtlich war das ja doch
nicht so einfach, wie die junge Mutter es hatte glauben machen wollen.
Folge 68
Eingedenk der Erkenntnis, dass Muttersein eben auch Schattenseiten aufwies, genoss Alex am
nächsten Morgen das Ausschlafen besonders. „Wer weiss, wie lange ich das noch so machen kann?“
fragte sie sich in Gedanken und wickelte sich etwas enger in die Decke. Matthias schnorchelte leise
neben ihr und Phoebe liess mit leisem Tapp-Tapp-Tapp auf dem Parkett unruhig hin- und her. Das
Schlafzimmer war nun fast wieder von Alex in Beschlag genommen worden, doch so ganz hatte sie
ihrem Mann nicht verziehen, dass dieser so eigenmächtig agiert hatte mit der Stelle in Frankfurt.
Jetzt hatte er ihr immerhin schon frühzeitig signalisiert, dass er Aussicht auf eine neue, besonders
attraktive Stelle in London hatte. Und so war es für Alex ja auch okay, sie hatte lange Zeit, sich auf die
Situation einzustellen und hatte zumindest das Gefühl, eingebunden zu sein.
„Du, sag’ einmal, gibt es denn auch ordentlichen Kaffee in London?“ sagte sie fragend zu Matthias.
Nicht, dass sie eine richtige Antwort erwartete, immerhin gab es sicher alles in London, und das zu
einer absolut hochklassigen Qualität. Nein, sie wollte Matthias natürlich einen Wink geben, dass ihr
Kaffeedurst nun erwacht sei.
„In London gibt es an jeder Ecke Coffee Shops, wo du das Zeug eimerweise käuflich und mobil
erwerben kannst. Ausserdem haben sie da auch Kaufhäuser, die so viel Ware haben, dass sie sie
sogar verkaufen.“
Ups, das sass, Matthias schien ja prächtiger Laune zu sein.
„Machst du einen Kaffee?“
Matthias stöhnte. „Ich dachte, so als Hausfrau wäre das deine Aufgabe, aber okay, ich stehe auf.“
Wie zur Entschuldigung gab er ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange, aber sein Bart kratzte, so dass
Alex sich tiefer in die Kissen drückte.
„Bah, rasier dich erst einmal, und dann bring mir Kaffee“, maulte sie wie ein kleines Kind. Ab und zu
braucht jede noch so erwachsene Frau diese Phase, um sich umsorgen zu lassen, und bisher hatte
das auch immer ganz gut geklappt. Beide – Matthias wie sie auch – waren eben sehr aufeinander
eingespielt.
Einige Minuten später kam Matthais rasiert, mit frisch geputzten Zähnen und zwei dampfenden
Bechern mit Kaffee ins Schlafzimmer zurück. Alex bereitete sich zum täglichen Ritual vor und stellte
sich schlafend.
„Guten Morgen mein lieber Schatz, der Kaffee ist fertig“, sagte Matthias und drückte seiner Frau
einen schmatzenden Kuss auf die von der Bettdecke freie Wange.
„Noch einen“ murmelte sie mit geschlossenen Augen und genoss die Zweisamkeit. „Wenn wir erst
mal Kinder haben, ist es damit bestimmt vorbei... und wer weiss, wie lange das noch dauert.“ Sie liess
den Schluss offen, weil sie hoffte, Matthias würde die Steilvorlage für seinen Einsatz bemerken und
nutzen. Immerhin hatte sie ihm mit diesem Satz doch deutlich zu verstehen gegeben, dass sie a) ihn
liebte und b) ein Gespräch über ihrer beider gemeinsame Zukunft jetzt anzetteln wollte. Aber
Matthias reagierte gar nicht.
„Erde an Matthias, bist du da?“ fragte sie mit Blick über ihre Schulter; denn Matthias hatte sich in
ihrem Rücken Platz verschafft.
„Klar Schatz, was ist? Du, schau mal, ist der nicht klasse? V 12 Motor, macht 300 Sachen und muss
absolut genial in der Kurve liegen. Mann, mit so einem Ding auf dem Nürburgring Fahrertraining, das
wäre Hammer.“ Matthias zeigte ihr eine Autozeitschrift mit der Abbildung eines für sie unbekannten
aber schön roten Autos.
„So stelle ich mir unsere Zukunft vor, mein Schatz“, sagte Matthias und würgte so alle Versuche Alex
ab, mit ihm ernst zu sprechen. Denn die nahm nach diesem Satz nur den Kaffeebecher in die Hand
und meinte. „Ich schaue mal, ob Phoebe noch Futter hat.“ Und damit verschwand sie aus dem
Schlafzimmer.
Natürlich hatte ihre Katze noch etwas Futter, sonst hätte sie Alex ja schon längst aus dem Bett
gescheucht, aber Alex musste dringend ins Bad. Ihr standen, wie so oft während der letzten Zeit, die
Tränen in den Augen.
„Warum war Matthias nur so unsensibel?“ fragte sie ihr Spiegelbild einmal mehr. „Und warum kriege
ich nicht die Kurve, ihm klipp und klar zu sagen, was mich bewegt?“ Und dann hatte sie auch noch
ihre Tage, dabei hatte sie so gehofft, dass es diesmal klappen würde. Immerhin hatte sie dem
irrsinnigen Drang widerstanden, trotz der ersten Blutung noch einen weiteren ultimativen
Schwangerschaftstest zu machen. Es hatte ja doch alles keinen Sinn. Neu verpackt – sie hasste diese
Tage aller Tage, an denen sie sich so ausgeliefert fühlte – und mit recht wenig Tränenspuren setzte
sie sich auf das Sofa, nahm sich eine Decke und sinnierte vor sich hin. Sie musste dringend mit ihrem
Mann sprechen, so nahm jeden Satz von ihm langsam krumm, und lebte glücklich, wenn er in ihr
Schema von gemeinsamer Zukunft passte und kreuzunglücklich, wenn er sich davon zu lösen schien
oder einfach nicht reagierte.
Überhaupt hatte sie das Gefühl, dass ihr Mann sich derzeit ein wenig von ihr entfernte. Immerhin
hatte er sich sogar selbst Unterwäsche gekauft, und das hatte er definitiv noch nie aus freien Stücken
getan. War es ihm zuviel, dass sie ihn so umsorgte? Immerhin fielen öfter Sätze wie „Du brauchst
Beschäftigung“ oder“ tu doch was, was dir Spass macht“. Das passte ja auch in Alex Plan, aber nicht,
dass er sich von ihr entfernte.
Folge 69
Kurz darauf kam Matthias aber wohlgelaunt aus dem Schlafzimmer. Seine gute Laune rührte aus der
Tatsache, dass ein Porsche 993 zu verkaufen war - „Der letzte Luftgekühlte“, strahlte der
Autoliebhaber – und er sich wieder einmal vorstellte, einen solchen Wagen zu fahren. Und so auf den
Tag eingestimmt konnte das Frühstück nur gut verlaufen.
„Hast du heute etwas Besonderes vor?“ fragte er kauend.
„Nö. Eigentlich nicht, ich bin ganz für dich da.“ Alex schaute ihn aus den Augenwinkeln
herausfordernd an.
„Prima, dann machen wir uns einen gemütlichen Tag zuhause, okay? Meine Eltern wollten eh
vorbeischauen.“
Nun hatte sich Alex den gemeinsamen Tag zwar anders vorgestellt, aber sie mochte ihre
Schwiegereltern ja, und deshalb bot sie an, doch noch schnell einen Kuchen „zu zaubern“, wie sie mit
leichtem Unterton sagte.
Matthias nahm das Angebot dankend an und verschwand nach dem Frühstück mit der Auto-Zeitung
in der Garage. Das machte er immer, wenn er seine Ruhe haben wollte, und Alex blieb nichts übrig,
als ihm voller Verständnis diese Freiheit zu lassen. Selbst wenn sie dabei etwas zurückstecken
musste; denn sie hätte gerne mehr von ihrem Mann gehabt.
Also verschwand sie ihrerseits in der Küche und stellte alles für den Kuchen zusammen. Und gerade,
als sie anfangen wollte, alles der ordnungsgemässen Reihenfolge entsprechend in die Rührschüssel
zu geben, klingelte wie so oft das Telefon.
„Hi, störe ich?“ fragte Bea.
„Nö. Ich muss nur nebenbei einen Kuchen „zaubern“, also wundere dich nicht, wenn ich komisch
klinge, dann ist der Hörer verrutscht, den ich einklemmen muss.“ Leicht verrenkt, weil sie den Hörer
zwischen Schulter und Kopf hielt, wandte sich Alex dem künftigen Teig zu. Eigentlich hatte sie
nämlich keine Lust, mit Bea zu sprechen, aber das hatte sie einmal mehr nicht gesagt.
„Was ist los?“
„Peter will das Kind nicht.“
„Das wusstest du doch vorher“, rutschte es Alex heraus. Und in der nächsten Sekunde bedauerte sie
ihre Reaktion schon wieder, immerhin war ihre Freundin Nöten, und sie gab sich schnippisch. Am
anderen Ende der Leitung war ein Schniefen zu hören.
„Ja“, sagte Bea kleinlaut, „aber ich dachte, das würde sich ändern.“
Alex zog hörbar die Luft ein und hätte beinahe den Hörer in die Rührschüssel fallen lassen. „Das ist
jetzt nicht dein Ernst, oder? Hast du wirklich gedacht, du würdest durch vollendete Tatsachen etwas
an der Einstellung von ihm ändern, die er dir ja klar und deutlich vorher gesagt hat? Oder war es
deine gekränkte Eitelkeit, weil er kein Kind von DIR hatte haben wollen?“ Kaum hatte sie diese Worte
ausgesprochen, wurde ihr klar, dass auch aus ihr gekränkte Eitelkeit sprach, weil Bea so mühelos das
geschafft hatte, was sie immer noch nicht hinbekommen hatte. Bea heulte nun haltlos am Telefon.
„Ach Süsse, so war das doch nicht gemeint“, entschuldigte sich Alex sofort. Ihr schlechtes Gewissen
schien ihr wie ein Felsen auf den Schultern zu liegen, aber vielleicht war es auch nur die unbequeme
Haltung mit dem Hörer.
„Mensch komm, so schlimm wird es schon nicht sein. Vielleicht hast du auch Recht, und er wird sich
noch hineinfinden in seine neue Rolle. Und wenn nicht, dann war es eben nicht der Richtige für dich,
denn du freust dich doch auf das Baby, oder?“
Bea heulte kleinlaut ins Telefon. „Aber wie soll ich das denn alleine schaffen? Und von Peter trennen
will ich mich nicht, in keinem Fall, ich liebe ihn doch wie er ist.“
Alex bohrte nach: „Und was, wenn er sich eben nicht freut und das Kind wirklich nicht will? Ich weiss,
das wird nicht eintreten, aber was wäre wenn?“
„Weiss nicht…“
„Wie, weiss nicht, was soll das denn heissen?“
„Ich weiss nicht, was ich dann tun soll. Ich will ihn nicht verlieren.“
Alex wusste nun nicht mehr so recht, was sie sagen sollte. Sie verdrängte den unangenehmen
Gedanken, der blitzartig in ihrem Kopf aufstieg und fragte weiter: „Was hat er denn gesagt, als du es
ihm gesagt hast?“
„…dass er sich von mir überrumpelt fühlt. Ich hätte ja gewusst, dass er keine Kinder haben wolle. Und
dass das keine Grundlage für eine Beziehung sei…“
Alex dachte hier nur, wie Recht Peter doch hatte, doch sie wollte ihrer Freundin helfen. „Ach, der
kriegt sich schon wieder ein, du wirst sehen, und in ein paar Tagen wird er dir bestimmt ein
Kuscheltier als Entschuldigung mitbringen. Mach dir nicht so viele Gedanken!“
Bea schluchzte noch lauter. „Aber er will das Kind nicht, und es ist ja auch die falsche Zeit, wir sind
doch noch recht frisch zusammen und haben noch so viele Pläne, und ich konnte doch nicht ahnen,
dass sich dieses Kind einen so falschen Zeitpunkt aussuchen würde.“
Alex blieb die Luft weg. Nun hatte sich das Kind den Zeitpunkt ausgesucht? Bea war wohl ganz von
Sinnen. „Du hast doch aber die Pille weggelassen, da kann das Kind doch nichts für…“ sagte sie bissig.
„Trotzdem, es passt eben zur Zeit nicht“, beharrte ihre Freundin.
„Daran hättest du eben früher denken müssen.“ Sie hatte nun auch keine tröstenden Worte mehr,
aber sie versuchte es tapfer: „Sieh mal, Süsse, in ein paar Wochen spürst du Leben in dir, das ist doch
das Tollste der Welt, und alles wird sich für dich verändern, du hast etwas geschaffen, was ganz
einzigartig auf dieser Welt ist: einen kleinen vollkommenen Menschen. Und der wird dann
irgendwann „Mama“ zu dir sagen und vertrauensvoll seine kleine in deine grosse Hand schieben. Ist
das nicht eine wunderschöne Perspektive?“
„Ja, schon, aber doch nicht jetzt…“
„Weisst du Bea, koch dir einen Tee oder einen Kaffee, setzt’ dich hin und rede ruhig mit Peter, und
wenn es gar keinen Konsens gibt, dann musst du dir eben überlegen, wie viel wert dir Peter ist. Und
wie viel du dir selbst wert bist. Ich weiss, das ist schwer, aber da kommst du nicht drum herum. Und
denke dabei daran, dass sich dein Wert jetzt auch durch den eines zweiten Wesens bemisst.“
„Du verstehst mich eben nicht…“
„Doch, aber das verstehst du nicht. Willst du vorbei kommen?“
„Nein, ich gehe jetzt in mich…“ sagte Bea bockig und hängte wieder einmal auf.
Folge 70
Dass Alex nach diesem Gespräch aufgewühlt war, ist leicht vorstellbar. Sie kannte Bea schon so lange,
dass ihr klar war, dass diese zu überstürzten Handlungen neigte, die sie eventuell später einmal
bereuen würde. Und dass sie die Frage nach dem eigenen Wert nicht sorgfältig überlegte, sondern an
dem jeweiligen Märchenprinz festmachte - und somit würde ihr Vorgehen eindeutig eher durch
Peter als durch sie selbst bestimmt werden.
Ein sanftes Stupsen am Bein weckte sie aus den Gedanken. „Na, du Schöne?“ Wie immer beruhigte
die reine Anwesenheit der Katze ihre Gefühlswallungen, und kurze Zeit später sassen beide, Katze
und Mensch, traut auf dem Sofa, Phoebe wurde gestreichelt und schnurrte, und Alex als Streichlerin
schnurrte fast ebenso. „Das Leben könnte so einfach sein,“ dachte Alex und fuhr erneut mit der Hand
über das weiche Fell. Sie beugte sich herunter und vertiefte ihre Nase ins Katzenhaar. „Hmm.. du
duftest, aber Mundgeruch hast du…“ sagte sie sanft und strich sich mit dem Finger ein Katzenhaar
von der Nase. „Stubentiger, was würde ich ohne dich tun?“ Phoebe schaute sie zwar verständnisvoll
an, liess aber die Antwort in der Luft hängen. Alex schaute wie so oft in die unergründlichen Augen
ihrer vierbeinigen Vertrauten.
„Kannst du mir sagen, was Bea da für einen Unsinn macht?“ Auch diese Frage blieb unbeantwortet,
dafür drehte sich Phoebe aber gelangweilt um und leckte intensiv ihre Pfote mit laut schmatzendem
Geräusch.
„Schon okay, du hast Recht, es wäre schon klasse, wenn ich meine eigenen Probleme lösen würde,
und nicht die der anderen.“ Alex seufzte noch einmal pathetisch und setzte ihre Katze neben sich auf
das Sofa. Phoebe rollte sich gleich dort zusammen und rieb den Kopf seitlich vor Wohlbehagen am
Bezug. Sie hatte unstrittig für sich entschieden, was sie tun würde: Alles, was sie als gut für sich
empfand. Alex empfand fast eine Art Neid für die Katze und sagte wie so oft „Du hast es gut“. Und
mit diesen Worten stand sie auf, um den Kuchenteig nun endgültig fertig zu machen.
Als ihre Schwiegereltern, Ilse und ihr Mann Gert, nachmittags zum Kaffee kamen, war der Kuchen
gerade abgekühlt und spiegelte damit die Seele Alex wieder. Sie hatte in den letzten Stunden in der
Wohnung gepuzzelt und dabei das schöne innere Gleichgewicht einer Frau erreicht, die sich die
Probleme von der Seele geputzt hatte.
„Hallo Ihr beiden, schön, dass Ihr kommt“, begrüsste Alex ihre Schwiegereltern. Während sie ihre
Schwiegermutter ausserordentlich gerne mochte; hatte sie in Gert einen inneren Verbündeten
gefunden, der ihr oft genug Halt gegeben hatte. Sie liess sich fest in den Arm nehmen von ihm und
genoss das Gefühl der Heimat, das sie bei ihm empfand und das sie bei Matthias manchmal suchte.
Gert war ein kleiner eher zarter Herr Ende der Sechzig, dessen gegerbtes Gesicht zeigte, dass er oft
und gerne in der Sonne gewesen war und dies genossen hatte. Doch es war keine
Sonnenbankbräune: Gert war ursprünglich Gärtner, hatte sich dann unaufhaltsam weitergebildet, ein
Studium absolviert und später seine unbändig zähe Schaffenskraft einer Kommune zur Verfügung
gestellt. Als Leiter eines Garten- und Friedhofsamtes, wie es früher so malerisch und verständlich
hiess, war er über lange Jahre das grüne Gewissen seiner Stadt gewesen. Dabei hing sein Herzblut an
den Kinderspielplätzen, für deren Qualität er sich auch bundesweit einsetzte.
„Na mein Mädchen, sehe ich dich auch mal wieder?“ Gert lächelte verschmitzt über das ganze
Gesicht und zeigte eine Unzahl von Lachfalten. Alex hatte immer das Gefühl, als würden seine Augen
viel tiefer sehen als andere; und er sah ihr immer an, wie es ihr ging. „Geht’s dir gut?“ fragte er nach
einem längeren Blick in ihr Gesicht.
„Alles okay…“ sagte sie ausweichend. Gert quittierte dies mit einer leichten Schräglage seines Kopfes
und einem noch tieferen Lächeln.
„Na dann ist ja gut…“ antwortete er leicht. Aber an seinem Tonfall konnte Alex er kennen, dass er ihr
kein Wort glaubte und abwarten würde, ob sie ihm die Möglichkeit zu einem Gespräch darüber, was
sie bedrückte, geben würde. Er hatte sich nie aufgedrängt, aber irgend etwas in seiner Art lockerte
ihren Sinn und ihre Zunge, das kannte Alex schon.
„Kommt erst mal rein, der Kaffee ist fertig und der Kuchen gerade erst abgekühlt…“ unterbrach sie
daher rasch die Situation.
Bei Kaffee und Kuchen plauderte es sich leicht und locker. Gert erzählte von seinem letzten Zug über
einen Flohmarkt, wo er nach zähem Handeln einen dieser alten Reisewecker erstanden hatte, die
man manuell aufziehen und je nach Gebrauch zusammenschieben konnte.
„So fünfziger Jahre, mit dunkelgrünem Lederbezug, der zwar etwas schadhaft ist, aber das kriege ich
schon wieder hin. Braucht Ihr nicht so einen Wecker? Dieser Funkkram verpestet doch bloss die
Atmosphäre, also ich trau’ der Sache ja nicht.“ Gert lehnte sich gemütlich zurück, er hatte damit
seinen ersten Betrag zur Diskussion gestellt und seinem Sohn die Möglichkeit gegeben, ihm zu
widersprechen. Denn Matthias war eher technikfreundlich orientiert und lehnte Gedanken über
Elektrosmog im Hause schlichtweg ab.
Doch Matthias nahm den Fehdehandschuh nicht auf, sondern murmelte nur etwas davon, dass man
ja über seinen eigenen Körper auch recht wenig Bescheid wüsste und dass die Umwelteinflüsse noch
nicht hinreichend in ihrer Auswirkung geklärt seien. Gert quittierte auch dies mit einem tiefen
Lächeln. Er sah aus, als würde er Informationen für sich sammeln und versuchen, die losen Enden
verschiedener Fäden sinnvoll zusammenzusetzen.
„Auf dem Antikmarkt gab es auch noch eine wunderbare Biedermeierwiege. Ach, die hätte ich so
gerne gekauft, Birkenholz wie euer Spiegel im Bad, leicht geflammt, das Furnier war nur an ein paar
kleinen Stellen schadhaft, aber das hätte ich schon wieder hinbekommen: Ich möchte jetzt endlich
was zum Spielen haben, und ein Enkel wäre doch passend, oder?“ So, Gert hatte sich nun ganz weit
hinausgewagt. Bei jedem anderen hätte Alex eine standardisierte Antwort gegeben, doch das war in
diesem Fall nicht angebracht. Ihr Schwiegervater wollte sie nicht ärgern, sondern offensichtlich eine
Situation klären. Denn er hatte diesen Gesprächsverlauf so geplant, dazu kannte sie ihn gut genug.
Also schaute sie ihn an und sagte: „Glaub’ mir, wir würden dir diesen Wunsch gerne erfüllen, aber
manchmal geht das eben nicht so schnell.“ Matthias blickte irritiert vom Kuchenteller auf, für den er
sich in den letzten Minuten verschärft interessiert hatte. Alex hatte ein stillschweigendes Abkommen
gebrochen, nämlich, dass niemand von ihrem Kinderwunsch wissen sollte.
Doch Gert reagierte mit der ihm eigenen Nonchalance, er strahlte und nahm alles Knistern aus der
Situation. „Na wenn ihr zumindest daran arbeitet, bin ich ja schon zufrieden.“ Und dann erzählte er,
dass er plane, in seinem Garten dieses Jahr den Gemüseanbau verstärken wollte.
Und während Matthias diesen Themenwechsel erlöst aufnahm, wusste Alex, dass ihr Schwiegervater
immer dann locker über Dinge hinwegging, wenn er etwas im Schilde führte. Und sie wusste noch
eines: Sie hatte in ihm einen unbedingten Verbündeten in strategischen Dingen.
Folge 71
Ein paar Tage später erhielt sie einen Anruf von Gert.
„Hallo Alex, bist du so am frühen Nachmittag zuhause? Ich wollte dir etwas vorbeibringen.“
„Na klar, was denn?“
„Das verrate ich dir nicht, aber du würdest auch nie darauf kommen. Und nimm dir ein wenig Zeit
mich, okay?“ Alex konnte fast hören, wie er am Telefon schmunzelte.
„Magst du dann ein Stück Kuchen mit mir essen?“
„Gerne, ich freu mich drauf. Bis dann.“
Alex grübelte noch ein wenig über das rätselhafte Telefonat, aber sie freute sich auch, endlich einmal
allein mit ihrem Schwiegervater sprechen zu können. Diese Gelegenheit hatte sie leider viel zu wenig.
Immer war irgend jemand anderes dabei, Ilse oder Matthias oder Sabine, und so fand sie trotz der
starken Bindung an Gert oft nicht die nötige Zeit für ihn. Und deshalb würde sie den heutigen
Nachmittag besonders geniessen.
Wenige Minuten nach drei Uhr sassen Schwiegervater und Schwiegertochter bei einer Tasse Kaffee
zusammen. Auf dem Tisch ein Maiglöckchenstrauss, den Gert Alex mitgebracht hatte. Sie war
darüber ganz gerührt, denn Maiglöckchen im frühen Frühjahr sind eigentlich ein Ding der
Unmöglichkeit, und als sie das sagte, hatte ihr Schweigervater gelacht und gesagt, er hätte auch
schon ein paar Tage versucht, die Maiglöckchen zu bekommen, und heute sei es ihm gelungen.
Im Sessel sitzend begann er endlich zu erzählen, was er auf dem Herzen hatte.
„Also, Alex, ich empfinde es so, dass uns beide etwas Besonderes verbindet. Wir scheinen das gleiche
Denken zu haben, und mir ist oft so, als könnte ich deine Gefühle schon im Vorfeld vorhersagen“,
Gert räusperte sich und rutschte ein wenig im Sessel hin und her. „Und manchmal sehe ich dir eben
an, wenn dir etwas Sorgen macht.“ Er machte eine kleine Pause.
„Als wir am Sonntag hier waren und ich von der Biedermeierwiege gesprochen habe, da veränderte
sich dein Gesichtsausdruck völlig, für einen Bruchteil der Sekunde hatte ich das Gefühl, deinem
Herzen auf den Grund schauen zu können. Und was ich da sah, machte mich nachdenklich. Soll ich
weiterreden oder trete ich dir zunahe?“
Alex tat unbeteiligt, aber ihre Neugierde war geweckt. „Naja, du kannst dir ja vorstellen, dass das
Thema Kinder nicht so einfach ist, und etwas sehr Privates zwischen Mann und Frau, aber jeder
meint, sich ein Urteil darüber erlauben zu können…“ sagte sie ruhig und versuchte, ihre Betroffenheit
weiter zu verbergen. Doch Gert hatte sie durchschaut.
„Vermutlich bist du die zahlreichen Sprüche satt, die du immer hörst, das ist mir klar. Und nun wage
auch ich mich auf dieses Terrain vor, aber wenn du so alt geworden bist wie ich“, an dieser Stelle
strahlte er über sein windgegerbtes Gesicht und fuhr sich kurz durch die schon schütteren Haare, „..
dann nimmst du dir vielleicht auch unter dem Deckmäntelchen der senilen Verkalkung Dinge in
Angriff, die dich eigentlich nichts angehen.“ Gert legte wieder eine Pause ein und wartete, was seine
Worte bewirkt hatten.
„Quatsch, du und senil verkalkt!“ empörte sich Alex, und Gert war sichtlich zufrieden.
„Naja, das ist so, dass man heute sagen kann, man hätte senile Bettflucht, um nicht zugeben zu
müssen, dass man romantisch genug ist, den Wecker auf 4 Uhr zu stellen, um den Sonnenaufgang zu
sehen.“ Er machte eine wegwischende Handbewegung.
„Wie dem auch sei, ich habe mir Gedanken gemacht. Ad a) ihr wollt offensichtlich Kinder. Ad b) –
übrigens musst du mich unterbrechen, wenn ich Unsinn rede, dir auf die Nerven gehe oder sonst
etwas – es klappt nicht einfach so. Stimmt’s?“
„Ja, leider, dabei sagt meine Frauenärztin, dass alles in Ordnung ist, ich muss eben nur ein bisschen
Geduld haben. Aber wie lange soll ich denn noch warten?“ Letzteres platzte schier aus ihr hervor.
Gert schaute bestätigt.
„Siehst du, und genau das habe ich mir gedacht. Vermutlich machst du dir darüber viele Gedanken.“
Er schaute sie auffordernd an, aber Alex wollte erst hören, was er auf dem Herzen hatte.
„Vor einiger Zeit las ich durch Zufall einen Artikel, der verblüffenderweise einen Zusammenhang
zwischen dem Geruchssinn und der Zeugungsfähigkeit von Männern herstellt.“ Alex sog hörbar die
Luft ein. „… und da ich als typischer Mann vermutlich nicht denselben Elan an den Tag legen würde,
mich in der Hinsicht „unerfüllter Kinderwunsch“ untersuchen zu lassen, und ich dies bei meinem
Sohn mindestens genauso sehe, habe ich dir die Blumen mitgebracht. Und du kannst mir glauben, es
war eine logistische Meisterleistung, einen verrückten Züchter zu finden, der jetzt Maiglöckchen
hatte!“ Mit diesen Worten lehnte sich Gert zurück und nahm aus seiner Innentasche des Sakkos
einen Zeitungsartikel mit dem Titel „…finden Spermien ihren Weg?“
Sprachlos, irritiert und berührt zugleich nahm Alex das Papier und las: „Schon viele Wissenschaftler
haben sich gefragt, wie sich die kleinen Dinger eigentlich zurechtfinden, wie sie es schaffen, so
blitzschnell zur Eizelle zu schwimmen, ohne die Orientierung zu verlieren… Wissenschaftler fanden
nun heraus, dass sich die Spermien am Geruch orientieren. Ausgerüstet mit so genannten
Riechrezeptoren …finden sie traumhaft sicher den Weg zum weiblichen Ei. Und das duftet… nach
Maiglöckchen.“ Alex schaute hoch und studierte die Blumen – und sog deren starken Duft ein.
„Ist ja irre…“ murmelte sie und las weiter: „Diese verblüffende Erkenntnis erklärt nicht nur die
Zielstrebigkeit der männlichen Keimzellen. Sie eröffnet auch ganz neue Möglichkeiten der Diagnostik
von Unfruchtbarkeit. Denn die gleichen Riechrezeptoren, mit deren Hilfe sich auch die Spermien
orientieren, befinden sich auch in der menschlichen Nase. Wenn ein Mann keinen Maiglöckchenduft
wahrnehmen kann, weil der dafür vorgesehene Rezeptor defekt ist, werden dessen Samenzellen
auch orientierungslos herumirren.“
Alex liess das Blatt sinken. „Das ist ja der helle Wahn. Und deshalb hast du die Maiglöckchen besorgt.
Du bist ja so lieb…“ und vom Gefühl übermannt, dass sie der alleinigen Verantwortung enthoben
wird, nahm sie Gert in den Arm.
„Und du meinst, das stimmt?“
„Ich weiss es nicht, aber wir können ja sehen, was Matthais sagt, und ihn vielleicht an seine eigene
Rolle erinnern. Mehr will ich ja gar nicht, ihn nur aufrütteln, ich kenne doch Matthias, das braucht
der …“
Alex biss herzhaft in ein Stück Apfelkuchen, plötzlich hatte sie wieder Appetit. „Ich will ja nur wissen,
woran es liegt…“ fügte sie an, und Gert nickte verständnisvoll. „Das hab’ ich mir schon so gedacht“,
sinnierte er sichtlich zufrieden und nahm nun endlich auch seinen Kuchen.
Folge 72
Nachdem Gert gegangen war, wurde Alex die Zeit lang. Unruhig lief sie hin und her und wartete auf
ihren Mann, um endlich sein Riechorgan zu testen. Und dann klingelte zu allem Überfluss auch noch
das Telefon, Matthias war am anderen Ende der Leitung.
„Hallo Schatz, ich wollte nur sagen, dass ich etwas später komme, ich bin noch mit Jürgen verabredet
und gehe mit ihm einen trinken. Ist das okay für dich?“
Natürlich war es eigentlich nicht okay, denn Alex sass ja maiglöckchenmässig auf heissen Kohlen,
aber sie konnte ihm wohl kaum den Abend vermiesen. Immerhin ging Matthias recht wenig aus, und
die Treffen mit seinem Freund taten ihm immer gut. Tapfer antwortete sie:
„Na klar, ist okay, du brauchst das auch ab und zu, stimmt’s?“
„Siehst du, und genau dafür liebe ich dich umso mehr!“ klang es fröhlich aus dem Hörer zurück. Und
nach einem liebevollen „Tschüss mein Schatz“ war er, der Mann ihrer Träume, auch schon wieder
verbal verschwunden. Und Alex sass da - und wartete. Auch das Fernsehprogramm brachte keine
Erleichterung, der eindringliche Geruch der Blumen umnebelte ihren Sinn und liess die Gedanken
immer wieder abschweifen. Was würde sie tun, wenn er den Geruch nicht röche? Und was, wenn er
ihn riechen konnte? Dann wäre sie keinen Schritt weiter… Im Prinzip brachte auch der Duft sie nicht
einen Deut weiter, denn egal wie sie es auch drehte und wendete, um eines kam sie nicht herum: Sie
musste offen mit Matthias sprechen. Und sie musste sich auch mit dem Gedanken beschäftigen, was
sie beide denn tun würde, wenn der eine oder die andere eben nicht zeugungs- beziehungsweise
befruchtungsfähig wäre. Oder oder oder.
Von aussen betrachtet war selbst für Alex die Sache klar: Kein Paar sollte nur wegen des
Kinderwunsches zusammen sein, sondern der Kinderwunsch sollte aus einer guten Beziehung
entspringen. Und eine Beziehung sollte natürlich nie unter dem Kinderwunsch leiden, sondern sie
sollte dadurch gestärkt werden. Und keine vernünftige Frau sollte ihr Leben in der Intensität wie sie
gerade dieser einen Idee unterwerfen. Das war Alex alles klar, sie hätte alles sofort unterschrieben –
und am nächsten Tag erneut LH-Tests verschwendet.
„Was ist das nur, das mich so an eine fixe Idee bindet? Ist das noch der Wunsch nach einem Kind?
Oder will ich mir nur beweisen, dass ich das schaffe? Oder will ich Matthias damit an mich binden?“
Alex seufzte, natürlich wollte sie das nicht, aber immer wenn sie sich so ganz kritisch sah,
verschwammen ihre Gedanken ineinander. Und dann war sie doch oft davor, einfach zu sagen: „Ich
mache das nicht mehr mit.“ Das hielt maximal bis zum nächsten Kinderlachen. Und wenn sie sich das
vor Augen führte, dann wusste sie auch immer wieder: Sie wollte wirklich ein Kind – nur nicht um
jeden Preis. Oder doch?
Irgendwann fiel sie auf dem Sofa in einen leichten Schlummer, aus dem Phoebe sie weckte. Die Katze
strich um die Blumen und setzte ihre Pfoten immer wieder verbotener Weise auf den Glastisch, was
ein leicht kratzendes Geräusch verursachte. Und da Alex irgendwann in einer Frauenzeitschrift
gelesen hatte, dass Maiglöckchen giftige Substanzen enthalten, entschied sie sich nun, den
Blumenstrauss vor die Tür zu stellen. Egal, ob Matthias kam oder nicht, in der Wohnung war auch so
noch genug Duft, und Phoebe sollte nicht unter ihrer List leiden. Und dann ging Alex ins Bett.
Irgendwann um Mitternacht hörte sie Matthias kommen und setzte sich im Bett auf.
„Boah, stinkt das hier…“ waren seine Worte.
Alex war nun bis aufs Äusserste gespannt. Die Worte ihres Mannes klangen nicht nach der
Wahrnehmung eines Blütenduftes, aber Männer mögen häufig, Düfte, die Frauen mögen, nicht.
Dennoch, irgendwie war Alex beruhigt und beunruhigt gleichzeitig. Matthias konnte also die
Maiglöckchen riechen, desorientiert waren er und somit seine Schwimmer wohl nicht.
„Hi Schatz, Phoebe hat im Katzenklo nicht ordentlich zusammengekratzt, boah, das riecht…“ waren
seine Worte, als er ins Schlafzimmer kam und sich zu ihr legte. „Ich habe das Fenster geöffnet.“ Und
damit schlief er bierselig ein.
Folge 73
"Komm Schatz, wir gehen ins Bauhaus, wir müssen ja langsam ein Nest bauen oder?" Matthias
lächelte sie fröhlich an und wedelte mit einem Packen Zehn-Euro-Scheine. Alex nahm nur schnell
noch ihre Jacke, obwohl draussen die Sonne warm strahlte.
"Komisch, ich brauche die Winterjacke ja gar nicht mehr", dachte sie verwirrt und legte das
Kleidungsstück in das Auto. Es war ein VW-Bus, wie sie ihn sich gewünscht hatte.
"Hast du den geliehen?" erkundigte sie sich bei ihrem Mann und kuschelte sich behaglich in den Sitz.
"Klar, wenn es mit den Kindern losgeht, brauchen wir doch Platz, und da wollte ich schon mal
ausprobieren, ob der Wagen uns wirklich gefällt." Alex wurde warm um ihr Herz. Es war gemütlich
und so behaglich wie in ihrem Bett. Draussen spielten Kinder auf einer Wiese, an der sie
vorbeifuhren, doch sie konnte deren Gesichter nicht erkennen.
"Hmmm, ich brauche wohl doch bald eine Brille", nahm sie beiläufig zur Kenntnis, weil alles ein wenig
verschwommen war. Auf dem Parkplatz des Bauhaus angekommen nahm Matthias einen riesigen
Wagen mit Kindersitz, auch schon einmal zur Übung. Alex fand das ja nun ein wenig übertrieben,
aber sie sagte nichts. Überhaupt war Matthias heute anders als sonst, aber da ihr das, was er sagte,
gefiel, war es für okay.
"Erst einmal zum Holz, finde ich, ich würde gerne eine Wiege bauen."
Matthias schaute sie erwartungsvoll an, und da ihr Mann nun leider bisher recht mässige
Erfahrungen in Sachen Tischlerarbeit zur Einrichtung beigesteuert hatte, war Alex überrascht.
"Kannst du das denn?" fragte sie ungläubig und erhielt prompt die Antwort.: "Na klar... das wird
schon gehen." Und mit diesen Worten stürmte Matthias zur Abteilung "Holz".
"Haben Sie Mooreiche?" fragte er den Mitarbeiter des Baumarktes, der irgendwie fast wie Gert
aussah.
"Nein, aber Birke." Nun wusste Alex aus den Erzählungen von ihrem Schweigervater, dass Mooreiche
äusserst dunkel und ebenso hart war, Birke aber ein helles weiches Holz und beide somit in keiner
Weise vergleichbar sein konnten, aber sie schwieg.
"Okay, dann nehme ich einen Festmeter, ich will es selbst Hobeln." Alex traute ihren Ohren nicht.
Aber ihr Mann verhandelte schnell mit dem Fachmann und kam kurz darauf mit einem Lieferzettel
zurück. "Wird geliefert, ist ja auch besser so..." informierte er sie und stürmte dann weiter die
Regalreihen entlang. So entschlossen hatte Alex ihren Mann lange nicht gesehen.
"Mensch, guck mal, Schleifpapier für Parkett, das machen wir auch." Und mit diesen Worten packte
er den ganzen Wagen mit den unterschiedlichsten Rollen mit Schleifpapier voll. Beiläufig bemerkte
Alex, dass alle Packungen unterschiedliche Körnungen und Anzahl von Papiereinheiten enthielten. Sie
stellte sich schon die Schlange hinter sich beim Bezahlen vor; das würde Stunden dauern, alles
auszuzählen. Aber als sie ihren Mann darauf aufmerksam machen wollte, hatte er den Wagen schon
in Richtung "Gartenbedarf/ Freilandpflanzen" gelenkt
"Komm, wenn das Kind da ist, pflanze ich einen Apfelbaum..." meinte er enthusiastisch. Fast atemlos
beeilte sich Alex, mit ihm Schritt zu halten. Ihr wurde trotz der fehlenden Jacke noch wärmer.
"Guck mal, das riecht toll, was?" Matthias hielt ihr eine Pflanze hin, die sie nicht erkannte und an der
sie schnüffelte.
"Riecht nach Maiglöckchen, oder?" entgegnete sie.
"Lavendel."
"Komisch,", dachte Alex, den hätte sie doch erkannt, aber die Pflanze sah so anders aus als sonst.
"Und das hier?" Wieder hatte sie eine Pflanze vor der Nase, und wieder roch sie nach Maiglöckchen
und entpuppte sich als Thymian. Und so ging es weiter. Matthias war berauscht von Gerüchen, und
alle rochen für Alex gleich - eben nach Maiglöckchen – doch die waren nie dabei.
„Mensch, ein Teich!“ strahlte ihr Mann kurz darauf, und tatsächlich, in einer benachbarten Abteilung
zu den Freilandpflanzen gab es einen Teich, in dem Karpfen herumschwammen. Alex hatte es schon
als Kind geliebt, ihnen zu zuschauen, wie sie ab und zu an der Oberfläche Luft schnappten, wie sie
dachte. Irgendwie fand sie zwar, dass die recht geordnet hintereinander her schwammen, aber auch
das kannte sie ja aus ihrer Kindheit. So ganz durcheinander ohne System war es nie gewesen, meist
schienen sie sternförmig zusammenzukommen. Aber so wie hier?
Matthias war weitergegangen und schaute nun intensiv ins Wasser. „Ist ja irre“, murmelte er vor sich
hin. Alex gesellte sich zu ihm und schaute nun ihrerseits ins Wasser.
„Unglaublich...“ murmelte nun auch sie. Im Wasser sah sie eine Unzahl von Kaulquappen, die in
einem Kreis herum zuschwimmen schienen, und immer mehr kamen dazu, so dass sich bald ein
dicker Ring aus Froschvorstufen gebildet hatte. Alex versuchte krampfhaft, sich daran zu erinnern,
woran diese sie erinnerten, aber sie fand die Lösung nicht.
Nach einer Weile des Schauens schüttelte Matthias den Kopf.
„Blöde Kreiseldeppen, die kommen ja nie an ihr Ziel...“ wertete er ab. Und plötzlich hatte er einen
Frack an, und einen Schnurrbart wie ein Zirkusdirektor und eine Zylinder auf. In der Hand hielt er eine
Peitsche, mit der er knallte, und die Kaulquappen schwammen nun in einer schönen gleichmässigen
Acht, wobei sie jedes Mal die Richtung änderten, wenn Matthias das Signal mit einem Knall gab.
„Mann, müssen die so einen Lärm machen,“ beschwerte sich Matthias und meinte das Geräusch,
dass durch das Abladen von Gerüstteilen am Haus gegenüber entstand. „Die knallen die Dinger ja nur
so hin..“
Alex öffnete ihre Augen und schaute direkt in Phoebes Augen; kein Wunder, dass ihr so warm
gewesen war...
Folge 74
Schlafen konnte sie nun ohnehin nicht, also ging Alex ohne rechtes Ziel ihrer Tätigkeit ins Bad, wo der
Parsi sie mit diesem frustrierenden grünen Lämpchen anlächelte. „Warum mache ich dich eigentlich
jeden Morgen auf, ich weiss ja eh, was du sagst…“ dachte sie entnervt. Sollte sie vielleicht eher einen
Clearplan kaufen, um noch deutlicher den Hormonhaushalt beobachten zu können? „Nein, nur das
nicht, nicht noch mehr Fixierung auf den Kinderwunsch“, mahnte ihr gesunder Menschenverstand.
Und der stand eben im ewigen Widerstreit mit ihren Gefühlen.
Ihren Plan, ihrem Mann ihr Hausfrauendasein mit allen Konsequenzen deutlich zu machen, folgend
machte sie erst einmal Frühstück. Matthias hatte noch ein wenig Zeit, bis er aufstehen musste.
Unruhig deckte sie den Tisch und plazierte die Vase mit den Maiglöckchen mitten auf dem Tisch. Alex
überlegte sich zunächst, was sie zum Frühstück machen sollte, um nicht den Geruch der Blumen zu
überdecken; Eier waren also auszuschliessen, auch Toast war vom Geruch her zu intensiv. Aber etwas
Besonderes sollte es schon sein, und kurze Zeit später stand sie am Waffeleisen und fertigte
morgendliche Köstlichkeiten. Sie war ausserordentlich gut gelaunt, und sie empfand es als Triumph
über widerstrebende Materie, wenn sie den klebrigen Teig als perfekte Form aus dem Eisen lösen
konnte. Besser konnte ein Tag doch gar nicht anfangen, oder?
Fröhlich pfiff sie vor sich hin, wanderte um Phoebe behende herum und fertigte eine Waffel nach der
anderen. Im Vorratsschrank war noch ein Glas Schattenmorellen, so dass heissen Kirschen auf den
Waffeln nichts mehr entgegenstand. Sogar das Haltbarkeitsdatum lag noch nach dem heutigen.
„Immerhin, eine sooo schlechte Hausfrau bin ich denn dann doch nicht“, dachte Alex befriedigt und
goss die Früchte in eine Kasserolle, um sie leicht zu erhitzen.
Schnell war der Teig in der Schüssel weniger geworden, und nun war nur ein kleiner Rest
übriggeblieben, den die gute Hausfrau einfach nicht wegspülen wollte. Und da Waffelteig einfach
nicht so gut schmeckt wie Rührteig, entschloss Alex sich dazu, in zwei eleganten Schwüngen den Teig
zu einer Herzform zu giessen. Leider hatte sie die Kapazitäten der Kelle überschätzt, und so brachte
sie zwar den ersten vollen Schwung zustande, für den zweiten fehlte dann aber der Teig. Egal, das
Waffeleisen wurde geschlossen und Alex starrte wie gebannt auf die rote Lampe am Eisen, die dann
von einer grünen abgelöst würde. „Meine Güte, ist ja wie beim Persona“, dachte sie noch
schmunzelnd. Sie hatte eindeutig gute Laune. Und „pling“, mit einem leisen Geräusch schaltete sich
das Gerät um… und die behände Bäckerin öffnete das Eisen.
„Oh nein“, entfuhr es ihr, und sie starrte auf die Waffel: Sie hatte die Form eines Fötus, wie Alex sie
so oft auf Ultraschallbildern gesehen hatte! „Und wie bekomme ich die jetzt raus?“ Alex war ratlos,
normalerweise nahm sie eine Gabel, stach in die Waffel und rollte sie vorsichtig vom Rande her auf,
aber das ging ja nun wirklich nicht. Sie konnte doch nicht in ein Kind hineinstechen, wie klein es auch
sein mochte. Aber verbrutzeln lassen konnte sie es ebenso wenig. Leichte Panik kam bei ihr auf, sie
musste schnell handeln. Also nahm sie einen Teigschaber und löste die kindliche Form langsam und
vorsichtig vom Rande her ab, krampfhaft bemüht, die Waffel nicht einreissen zu lassen. Vorsichtig
plazierte sie sie auf einem Küchentuch, so dass sie ganz glatt lag; auf die anderen Waffeln hatte sie
sie nicht legen wollen.
Die Frage, die sich nun stellte, war klar: Was sollte sie mit dieser Waffel tun, die sie so sehr an ein
Kind erinnerte? Aufessen? Trocknen lassen? Oder gar wegwerfen??? Nichts davon kam für sie
infrage. Nur: Aufheben war ja ebenso albern. Alex war sich ihrer merkwürdigen Situation sehr wohl
bewusst, aber da war er wieder, der Streit zwischen Kopf und Herz. Während der Kopf sagte: „Es ist
nur einen missratene Waffel, die solltest du essen“, sagte der Bauch “Du kannst doch nicht zur
Kindsmörderin werden!“ Alex musste sich erst einmal setzen, und als Matthias ganz frohgemut in die
Küche kam und den Duft der Waffeln einsog, sah er seine Frau auf dem Küchenstuhl niedergelassenund sie starrte in Richtung Waffeleisen.
„Hmmm… das duftet ja, Mensch, und auch noch mit heissen Kirschen“, sagte Matthias mit einem
Blick in die Kasserolle, in der eine rötliche Masse blubberte. Alex schaute auf. „Hat es draussen auch
geduftet?“ fragte sie so beiläufig wie möglich, aber wie ein Flitzebogen gespannt.
„Ja, nach Waffeln…“ war die Antwort.
„Sonst nichts?“
„Doch, Kaffee. Aber was soll das?“ Er war irritiert. Alex stand auf, ging ins Wohnzimmer zum Esstisch
und schnappte sich mit einer entschiedenen Bewegung die Vase.
„Hier, riech mal…“ forderte sie ihren Mann in einem Ton auf, der keinen Widerspruch duldete.
„Märzenbecher, und?“
„Maiglöckchen, und?“ entgegnete sie gereizt.
„Ich riech nichts…“ sagte Matthias und biss beherzt und gutgläubig in eine missratene Waffel, die auf
Küchenkrepp lag.
Folge 75
Alex kommentierte diesen Kindermord nur noch mit einem Blick. Für sie war in diesem Augenblick
eines klar geworden: Das böse Omen hatte sich erfüllt, es würde sich auf natürlichem Wege keine
Schwangerschaft einstellen. Dessen war sie sich gewiss.
„Komm, wir frühstücken erst einmal“, sagte sie ruhig zu Matthias und nahm die Waffeln und die
heissen Kirschen mit zum Esstisch. Sie hatte eigentlich zwar gar keinen Hunger mehr, aber das war
nun Nebensache. Sie wusste, dass sich an ihrem Leben und in Hinblick auf den Kinderwunsch solange
nichts Entscheidendes ändern würde, wenn sie nicht die Initiative ergriff. Und so schwer ihr das auch
fiel, wenn sie nun nicht aktiv werden würde, würde sie beides verlieren, den Kampf um ein Kind –
und ihre Ehe. Denn wenn sie beide nicht über so wichtige Dinge sprechen konnten, was hielt sie dann
zusammen?
Nur leider sind Männer noch heute, auch wenn sie keine Mammuts mehr jagen müssen, mit
erstaunlichem Instinkt ausgestattete Wesen. Und wie so viele seiner Gattung gehörte auch Matthias
zu denjenigen, die sofort merkten, wenn ihre Frau es ernst meinte. Jede Frau kennt diese
Situationen, in denen die geliebten männlichen Wesen neue zuvor unentdeckte Sensibilität an den
Tag legen, wenn ihre Welt ins Wanken gebracht werden sollte- und zwar häufig durch ihre
Partnerinnen.
Als Alex also am Tisch sass und ihrem Mann den Kaffee eingeschenkt hatte, nahm sie den Artikel
über die Koinzidenz von Maiglöckchenduft und Spermienqualität von der Ablage und faltete ihn
langsam auseinander.
„Hier, lies das mal…“, bat sie ihren Mann. Doch der winkte ab.
„Nicht jetzt, ich habe nicht mehr viel Zeit,“ und biss in eine Waffel, die er zuvor mit den heissen
Kirschen belegt hatte. Sein Verhalten wurde hektisch, und mit einem gehetztem Blick auf seine Uhr
stöhnte er kurz: „Oh Gott, schon so spät!“ stand auf, wischte sich das Kirschrot aus dem Mundwinkel,
murmelte etwas von einem vorgezogenen Termin und liess seine Frau mit dem DIN A 4 Blatt in der
Hand sitzen. Mit den Worten „Wir sprechen heute Abend, Schatzi!“ rauschte er zur Tür, wobei er den
Mantel so heftig vom Haken riss, dass der Aufhänger als Klügerer nachgab.
Alex wollte ihn noch aufhalten, aber sie war so perplex über die Geschehnisse, dass sie ihm nur noch
durch die geschlossene Tür hinterherrufen konnte: „Aber der Artikel!?“ Nun sass sie da, alleine vor
dem schönen Frühstück. Und mit der vagen Zusage ihres Mannes, sich am Abend über ernste Dinge
zu unterhalten.
Eine Freundin tat Not, und da Bea aufgrund ihrer fragwürdigen geistigen Verfassung als solche bis auf
weiteres ausschied, rief sie Hannah an.
„Hallo Hannah, ich bin’s. Hast du Lust auf ein Frühstück? Es ist schon fertig – und ich brauche dich…“
Kurz informierte sie ihre Freundin über Matthias schnellen Abgang, erzählte aber noch nichts über
den tieferen Auslöser seiner Panik, und wenige Minuten später war Hannah unterwegs.
Alex fiel erneut auf, dass Hannah es immer möglich machte, Zeit für sie zu haben, egal, wann sie
anrief, während sie sich mit Bea immer erst verabreden musste. Komisch, das hatte sie früher gar
nicht bemerkt. Aber Hannah war eben immer die Ruhige von den Dreien gewesen, der Fels in der
Brandung.
Kurze Zeit später lagen sich die Freundinnen innig im freundschaftlichen Arm. Wahre Freundschaft
gab es eben nur unter Frauen, jedem Vorurteil zum Trotz.
„Boah, super Frühstück, wie nett von Matthias, mir das alles zu hinterlassen“, sagte Hannah
scherzhaft. „Also, dann erzähl mal, es wird ja nicht die Tatsache gewesen sein, dass er die Waffeln
stehen liess, die dich so aufgeregt bei mir anrufen liess. Hmm… herrlich….“ Und Alex erzählte: von
Gerts Verdacht, den Maiglöckchen, dem Kindesmord in der Frühe und dem schnellen Abgang von
Matthias, als er merkte, dass es brenzlig wurde. Hannah kommentierte alles mit den notwendigen
Einwürfen, um das Frauengespräch am Laufen zu halten. „Nee, `ne?“ oder „Echt, das wusste ich gar
nicht…“ und „Na, das ist ja typisch.“ Wer sagt denn, dass es bei Frauen vieler Worte bedarf? Hier
bewahrheitete sich einmal mehr, dass auch hierin ein Vorurteil liegt, Hannah kam mit ganz wenigen
Antworten aus.
„Ist ja krass“, war ihre Abschlussbewertung. „Ganz schön schlau, deine Männer.“ Damit lachte sie
verschmitzt. „Und nun, wie geht es weiter?“
„Ich werde definitiv heute Abend mit Matthias über ein Spermiogramm sprechen. Anders geht es ja
gar nicht. Nun stell dir vor, ich tue und mache alles, lasse mir den Bauch für eine Bauchspiegelung
aufritzen, und Matthias macht nichts, weil es ja auch viel einfacher ist, die Frau machen zu lassen.
Und dabei hatte ich gedacht, er wäre so weit.“
Hannah prustete laut los. „Wo lebst du denn? Glaubst du ernsthaft, ein Mann wie Matthias würde
ohne Druck an seiner Männlichkeit zweifeln lassen? Also ich würde ihm erst mal diesen Artikel
hinlegen, und vielleicht würde ich erst einmal auch gar nicht mit ihm reden, je nach meiner
Verfassung und Gekränktheit. Und so eine Bauchspiegelung soll ja auch nicht so schlimm sein… nein,
ich mache Scherze. Aber nun stell dir vor, ein super aussehender Oberarzt mit seinem weissen Kittel,
der die leckere Patientin auf dem OP-Tisch sieht, alles knusprig und so schön steril, sie also in
Narkose… er schickt die anderen kurz zum Kaffeetrinken, die Narkose wird etwas verlängert – und
schwups ist sie schwanger. Und der Männe weiss gar nichts vom schlechten Spermiogramm und ist
sich seiner Männlichkeit immer noch sicher. Hmmm… nur eine 2. Bauchspiegelung für ein zweites
Kind…?“ Hannah lachte sich halb tot, und während Alex erst einmal leicht eingeschnappt, dass sie so
wenig ernst genommen wurde, einwarf „Super Idee“ mit dem absolut ironischsten Unterton, den sie
hervorbringen konnte, stimmte auch sie ein und spann die Geschichte weiter. „Nja, es soll ja auch
verpfuschte Bauchspiegelungen geben, und dann sag ich Matthias einfach, die hätten die Seiten
verwechselt und mein neuer Arzt hätte gesagt, die Bilder seien sehr schlecht, es müsse also noch
einmal sein… Sag mal, gibt es denn Internetseiten von Frauenärzten mit Bild?“ Und so wurde es denn
doch noch ein fröhliches Frühstück…
Folge 76
Entgegen der Überzeugung seiner Frau war Matthias nun aber nicht so ahnungslos von Instinkten
geleitet, wie er den Eindruck erweckte. Zwar hatte der Anblick der Blumen auf dem Tisch keinen
Verdacht aufkommen lassen, dass es sich um einen Test handelte, und er hatte die Blumen auch
nicht als Maiglöckchen identifiziert – wie sollte er auch, für deren Blüte war es ja auch viel zu früh.
Aber als Alex dann das Stichwort sagte, regte sich eine Erinnerung ganz hinten in seinem Gedächtnis.
Allerdings konnte er sie nicht einordnen. Erst als seine Frau den Artikel hervorzog, wurde ihm
schlagartig klar, dass er in seiner Recherche zur Spermienqualität etwas gesehen hatte, das mit
Maiglöckchen zu tun hatte. Und da der Gesichtsausdruck von seiner Gattin höchste Anspannung
verriet, zog er die schnelle Konsequenz: Er brauchte einen Wissensvorsprung.
Und so stürmte er nach unkonzentrierter Autofahrt ins Büro, begrüsste nur kurz seine Mitarbeiterin
und informierte sie bestimmt: „Ich möchte die nächsten zwei Stunden nicht gestört werden.“ Mit
diesen Worten verschwand er in seinem Zimmer.
Der Suchlauf im PC ergab zahlreiche Treffer zu „Maiglöckchen“ und „Spermien“. Matthias las sich
durch wissenschaftliche Untersuchungen zur Kinderwunschbehandlung und zu den Möglichkeiten
einer hormonfreien Verhütung, die aus der Fähigkeit der Spermien, den Duft der Blume der reinen
Liebe wahrzunehmen, erwuchs.
„Und warum war Alex dann so aufgeregt?“ Matthias ahnte, dass er weitere Informationen brauchte
und suchte weiter. Und schliesslich blieb er bei einem Artikel hängen, in dem geargwöhnt wurde,
dass die Spermien von Männern, die den Duft der Pflanze nicht riechen konnten, langsam und ziellos
seien. Und dass sie daher kaum eine Chance hatten, eine Eizelle zu befruchten.
Matthias war wie vor den Kopf geschlagen. Konnte es sein, dass er den Duft neben den Waffeln nicht
zuordnen konnte? Oder hatte er eine Erkältung? Oder…. Vermutlich kannte er den Duft einfach nicht,
Alex konnte ihm ja wohl kaum etwas abverlangen, was er nicht zuordnen konnte.
„Genau, das ist es. Ich wusste ja nicht, was ich riechen sollte.“ Erleichtert lehnte er sich in seinem
Bürostuhl zurück. Er schaute aus dem Fenster, legte seine Beine auf den geöffneten Rollcontainer
und sog die Büroluft tief ein. Hier roch es ja auch wie immer, leicht nach Papier, sonst nichts. „Dass
Frauen immer so übertrieben reagieren müssen. Für alles gab es doch eine logische Erklärung, und
wenn Alex vernünftig mit mir gesprochen hätte…“, – an dieser Stelle verdrängte er kurz und brutal
die Tatsache, dass er ja überstürzt das gemeinsame Heim verlassen hatte – „…dann hätten wir das
sofort klären können“, sinnierte Matthias vor sich hin und betrachtete nun gut gelaunt den blauen
Himmel.
„Und jetzt eine schöne Tasse Kaffee“, dachte er aufgeräumt und stand auf. Als er seine Bürotür
geöffnet hatte, schaute seine Schreibkraft kurz auf:
„Kann ich Ihnen helfen?“ sagte sie hilfsbereit. Sie kannte ihren Chef, und wenn er so stürmisch ins
Büro kam wie heute Morgen, dann musste man ihn solange in Ruhe lassen, bis die Tür von alleine
aufging. Und dann wollte er meist einen Kaffee.
„Soll ich Ihnen einen Kaffee holen?“ fragte sie folgerichtig. Aber Matthias war sehr gut gelaunt und
antwortete nur: „Nein, nein, das mache ich schon selber, danke. Möchten Sie auch einen? Übrigens:
Die Bluse steht Ihnen ausgezeichnet.“ Und mit diesen Worten schritt er den Korridor entlang zur
Kaffeemaschine.
Wie so oft traf er hier Ralph, den passionierten Kaffeetrinker. „Hallo Ralph, na, auch einen Dope?“
grinste Matthias. Der Tag war schön geworden, fand er. „Wollen wir uns kurz über das Projekt „Cross
Mentoring“ unterhalten, die Firmenspitze sucht noch freiwillige Opfer…“ Matthias lächelte
grossherzig, er fand die Idee, im Rahmen des Gender Mainstreen jungen aufstrebenden Frauen aus
Sicht der Männer die Strukturen näher zu bringen, irgendwie albern, aber nun gut, so war es
vorgegeben.
„Klar, ich habe gerade Zeit, oder besser, ich stocke eh’ in meiner Bilanz, also wollen wir gleich…?“
gemeinsam gingen sie also traut und mit Kaffeetassen in der Hand in Matthias Büro.
Beim Betreten schnüffelte Ralph: „Hast du ein neues After Shave? Wenn du mich fragst, ich würde es
nicht nehmen, es riecht so weiblich… genau… nach Maiglöckchen…“
Matthias erstarrte. „Nein, habe ich nicht, wieso?“ Ihm wurde ganz heiss. Was sollte das bedeuten?
Steckte Ralph mit Alex unter einer Decke?
Ralph schnüffelte sich durch den Raum und blieb am Mantel stehen. „Riech mal, hier muss es sein.
Hat Alex Parfüm darüber gekippt? Muss aber gewesen sein, um dich zu ärgern, stinkt ja wie ein
ganzer Damenpuff.“ Ralph amüsierte sich köstlich.
Matthias ging um den Schreibtisch herum, an dem er sich gerade niederlassen wollte, und
untersuchte seine Manteltaschen. Und tatsächlich, in einer seiner zahlreichen Innentaschen fand sich
ein kleines Bündel Maiglöckchenblüten, die Alex dort versteckt hatte.
Folge 77
„Sag’ einmal, bist du nicht um den Eisprung herum? Wir sind doch etwa eine Woche auseinander,
oder?“ fragte Alex im Laufe des Frühstücks. Frauen mit Kinderwunsch, die sich einander geoutet
haben, hatten die Lizenz zum Überschreiten sonst bestehender Grenzen.
„Hehem…“, murmelte Hannah, grinste und biss in ihre Waffel. „Vorgestern. Eigentlich war Thomas zu
müde, er wollte schon vertagen, aber nichts da, er musste ran.“ Sie lachte verschmitzt. Und dann
vertiefte sich ihr Lachen noch.
„Du, was ich mich nie fragen getraut habe“, sie kaute vollständig aus und holte tief Luft „… was
machst du denn danach, na also, du weisst schon…?“
Alex starrte sie an und grinste nun ihrerseits. „Ich habe mich auch schon immer gefragt, was andere
dann machen. Also, in der Literatur wird ja oft empfohlen, erst einmal liegen zu bleiben, damit das
wertvolle Nass nicht rausläuft, aber letztens habe ich gelesen, dass das, was rausläuft, gar nicht mehr
wertvoll ist, wenn du verstehst, was ich meine.“
„Nee, nicht so recht. Sind die dann alle tot, wenn die rausgekrabbelt kommen? Schaurige
Vorstellung…“ Hannah schüttelte sich. „Ich träumte vom Leben und erhielt den Tod“, fügte sie mit
dunkler Stimme an.
„Quatsch. Die Samen verkrümeln sich im Samentümpel am Boden der Scheide, wo die gesamten
Schwimmer zu einer gallertartigen Masse werden.“
„Klingt ja lecker“, sagte Hannah und schaute auf die Quittenmarmelade. „Und wo ist der Boden der
Scheide?“
„Keine Ahnung, hab’ ich ja auch nur gelesen. Aber ich fand das echt interessant, die kleinen
Kujambels klumpen erst mal und kleben da sozusagen fest, aber da sich der Tümpel dann mit der
Gebärmutterschleimhaut vermischt, schwimmen sie dann da rum und werden von der Gebärmutter
„angesogen“. Soweit die Theorie, hat bei mir aber offensichtlich noch nicht geklappt, vielleicht sollte
ich stärker saugen.“ Alex grübelte vor sich hin. Hannah schaute sie interessiert an. „Wie, du saugst
an? Ich dachte, das geht nur beim Orgasmus?“
„Doch, ich kann das mit der Scheide auch so, wenn ich mich darauf konzentriere.“
„Ist ja wohl nicht wahr.“ Hannah sass da mit offenem Mund. „Wie geht das denn?“ Es folgte eine
detaillierte und äusserst intime Beschreibung dessen, was einige Frauen können und andere nicht.
„Okay, ich probier das einmal, warte…“ mit diesen Worten verschwand Hannah im Badezimmer und
kam erst einige Minuten später wieder. „Nee, geht nicht,“ sagte sie frustriert.
Alex lachte. „Na ja, muss ja auch nicht, ich hoffe bloss, ich bin nicht die einzige und somit abnorm.“
„Also ich würde das gerne können. Macht das Geräusche?“ Hannah war fasziniert von der
Vorstellung, dass ihre Freundin in den Regionen so beweglich war. Sie hatte von Inderinnen gehört,
die im Rahmen des Kamasutra üben, mit der Scheide Gegenstände aufzuheben, aber das waren
andere Zeiten und andere Welten.
„Jap, aber glaube ja nicht, dass ich dir das jetzt vormache.“ Beide lachten los.
„Aber noch mal zum Samentümpel. Was läuft denn dann raus – ist ja auch immer eklig, oder?“
Hannah schauderte erneut. „Ich kann das gar nicht haben. Ich klemm mir dann immer ein Handtuch
zwischen die Beine, früher bin ich immer aufgesprungen und habe mich sofort gewaschen, aber seit
ich ein Kind haben möchte, sind die Zeiten vorbei. Ich habe sogar eine Weile auf das Kuscheln danach
verzichtet, weil ich das Becken hochgelegt habe, aber das ist es mir nicht wert…“
Alex lachte. „Tolle Vorstellung, du mit angewidertem Gesicht und ein Handtuch zwischen den Beine.
Findest du das erotisch? Aber okay, lass uns alle peinlichen Details unserer Kinderwunschkarriere
austauschen. Jetzt bin ich wohl dran“, sie schaute sich um, als wollte sie sicherstellen, dass kein
Zuhörer im Raum war, senkte die Stimme und sagte: „Also ich sauge seit neustem kurz an, verbleibe
und versuche nur gaaaaaaaaaaaaanz langsam die Luft wieder herauszulassen.... nun denn und ich
habe immer eine volle Tempobox neben dem Bett stehen und versorge mich so… ähem… In der
Regel bleibt es beim ersten Herauslaufen, und hey...... das hasse ich auch.... fühlt sich an, als sei man
inkontinent oder nass geschwitzt. Bah…“ Beide kugelten sich erneut vor Lachen und freuten sich,
endlich dieses weiblichste aller weiblichen Themen ansprechen zu können.
„Mensch, eine Postkoitalbox, oder wie nennt man das wissenschaftlich. Na, beim nächsten Mal wirst
du an mich denken mit deiner Postkoitalbox!“
„Du bist doof…. Besser als ein Handtuch oder die ollen Scheisserlefeinripp, wie meine Mama immer
sagte. Aber eines noch: Wissenschaftlich gesehen ist der sogenannte Rückfluss etwas Normales, und
er besteht aus sozusagen überflüssigem Material, aus Zervixschleim, Samenflüssigkeit und
Schwimmern, die zu alt oder zu lahm waren, um aus dem Samentümpel herauszukommen und in den
Zervixschleim einzudringen. Und unser Gebärmutterhals ist so programmiert, dass er die Situation
völlig unter Kontrolle hat und sich von keinem Ereignis nach dem Geschlechtsverkehr stören lässt,
gleichgültig, was Frau tut oder nicht tut. Internet lässt grüssen…“
„Mensch, ich bin so froh, dich zu haben. Was haben wir bisher alles verpasst,“ fasste Hannah
zusammen und drückte ihre Freundin ganz fest.
Folge 78
„Wo wir uns so intim unterhalten: Was machen eigentlich diese blöden Eizellen, wenn sie
gesprungen sind? Gammeln die da vor sich hin und schlafen, oder laufen die wie die Kühe auf der
Weide herum und nippen mal hier und dort, oder was?“ Diesmal war es Alex, die Fragen beantwortet
haben wollte.
„Du, das habe ich mich auch immer gefragt. Keine Ahnung, vermutlich sind die wirklich nur so am
suchen „Wo docke ich am besten am“. Ich stelle mir das so vor.“ Hannah verstellte ihre Stimme so,
als wäre sie ein Sportkommentator: „Roland schnürte sich die Turnschuhe fetser. Bald würde es
losgehen. Die Startlampen leuchteten auf, sie zeigten, dass die Starterhormone gerade die magische
Marke erreichten: Gleich würde es losgehen, auf in die dunklen, feuchten Gefilde der Eileiter. Roland
würde in der Gruppe "rechter Eileiter" sein. Sie trugen pinkfarbene Hemden und Stirnbänder, auf
denen "forever jan ullrich" stand. Roland mochte keine Tour de France, aber es war von oben
vorgegeben und so fügte er sich dem Dresscode.
Er war der Auserwählte, seine freunde hatten nicht die satte und zufriedene Grösse erreicht, die zum
Sprung in den Uterus reichte. Sie hatten inzwischen die Hemden ausgezogen und warteten Karten
spielender Weise auf den nächsten Zyklus. „Vielleicht kommt der ja gar nicht,“ dachte Roland.
"Denen zeige ich es"....... er schuffelte mit den Schuhen wie ein Skispringer vor dem Start, unruhig
starrte er auf das Signal, das auf Grün gehen musste! Da, endlich! …und dann sprang er.....“ Hannah
machte eine Pause und Alex wischte sich die Lachtränen aus dem Augenwinkel. Atemlos brachte sie
hervor: „Und wie geht es weiter?“
Und Hannah steigerte sich noch: „Roland, die schöne fette Eizelle, hatte es geschafft: Er war
befruchtet worden. Ziellos waberte er durch das rosa Dunkel. „Wohin soll ich denn jetzt gehen? Was
soll hier so einsam aus mir werden? Und wo sind die anderen?“ Er fragte sich all diese Fragen. Er war
noch so jung, gerade erst eine kleine Morula, ein Maulbeerkeim. Er kicherte in sich hinein. War er ein
Junge? Oder ein Mädchen? Er dachte nach. Er glaubte, er sei ein Junge. Ja! Das war’s: Er war ein
kleiner Junge. Hoffentlich fand er einen schönen Platz hier unten. Es war so still und es gruselte ihn
ein wenig. "Huhu?!" Roland wimmerte leise vor sich hin. Wo waren alle seine Freunde? Das ging jetzt
schon seit Tagen so. Oben im rechten Eierstock hatten sie noch Karten gespielt und nun waren die
anderen alle weg. Roland fröstelte; er musste sich langsam ein warmes Heim suchen. Ah, da war eine
schöne gemütliche Ecke. Roland schnüffelte an der roten Substanz. "Gut, Mama“..... Roland richtete
sich ein.... und seine Freunde warteten oben im rechten Eierstock. Sie warteten auf das Startsignal.
Gonzales, ein Sprinter unter den Eizellen, hatte sich extra schnelle rote Adidas-Spikes zugelegt, damit
er den anderen beim Eisprung voraus war. Aber es war noch nicht sicher, wer von ihnen in zwei
Monaten losgeschickt würde. Dies entschied sich immer erst an sechsten Zyklustag herum, und beim
nächsten Mal waren ja auch die anderen vom linken Eierstock dran rum. Susanna fieberte mit
Gonzales und Manuela. Vielleicht war diesmal doch ihre Seite dran.....sie wussten ja nichts von
Roland, der so gemütlich eingekuschelt versuchte zu wachsen und so lange zu bleiben, wie es nur
irgend ging.“
„Oh Mann, das war jetzt zu viel, ich kann nicht mehr! Dann wabert dein Roland jetzt gerade ziellos
herum, was? Ein toller Arbeitstitel, Projekt Roland. Hört sich ja auch besser an als Kinderwunsch,
oder?“ Alex und Hannah lachten noch so lange, bis Alex einen Schluckauf bekam und sie einen Löffel
mit Zucker essen musste, um ihn loszuwerden.
„Wer hat eigentlich gesagt, dass Kinderwunsch ein ernsthaftes Unterfangen ist?“ fragte Hannah mit
todernstem Gesicht.
Folge 79
Matthias hatte Mühe, sich auf Ralph und den Gender Mainstream zu konzentrieren. Immer wieder
sog er spürbar die Luft ein und prüfte, ob er einen ungewöhnlichen Duft wahrnehmen konnte.
Unvermittelt im Gespräch zog er sogar seine Schreibtischschublade auf und kramte nach einem
Nasenspray, dass er vor Urzeiten dort meinte vergessen zu haben. Und tatsächlich, die kleine dunkle
Flasche – deutlich nach dem Ablaufdatum – kullerte ganz hinten in der Schublade hin und her.
„Na, ob die noch gut ist,“ dachte Matthias und fand damit sofort eine Entschuldigung, warum er auch
nach der Benutzung des Inhaltes eventuell nichts würde riechen können.
„Entschuldige, Ralph, meine Nase ist irgendwie zu, ich kann mich kaum konzentrieren...“ mit diesen
Worten hob er beherzt das Nasenspray empor. Und kurz darauf schniefte er laut in den Raum, damit
jeder merken konnte, wie schlecht es ihm ging.
„Mist, das funktioniert gar nicht...“ murmelte er.
„Du hörst dich aber ganz gut an, zu ist die Nase nicht“, konstatierte Ralph, der von seinen Kindern
diese Art des Umganges gewöhnt war. Auch Max war manchmal schwer leidend, und dann war es
am besten, alle Symptome, soweit sie nicht tödlich waren, zu übergehen.
„Also, was ich sagte, jede Führungskraft hier bekommt eine Mentee – tolles Wort, was? – um ihr
dann die Interna zu zeigen, Kommunikationstechniken zu fördern etc. Was sagst du? Ich hoffe ja nur,
dass meine blond ist, darauf stehe ich...“ Ralph lachte, und wieder einmal beneidete Matthais seinen
jungen Kollegen. Aus ihm sprach das innere Urvertrauen, dass alles gut werden würde, während
Matthias genau das immer mehr verlor.
„Ja, blond, hm... nicht schlecht.“
„Hörst du mir zu? Das war wie ein Geheimcode unter uns Männern... Du musst jetzt einen ChauviWitz bringen, sonst fühle ich mich mies – und als ein Chauvi.“ Ralph grinste ihn freimütig an.
„Okay, warum leben Frauen länger?“
„Keine Ahnung...“ Ralph grübelte, aber nur kurz. „Und, wie ist die Lösung?“
„Weil der liebe Gott ihnen die Zeit, die sie länger zum Einparken brauchen, noch dranhängt...“ Nun
lachten beide. „Der ist gut, meine Frau kann das echt nicht, glaube ich.“
„Naja, Alex schon, die fährt wirklich gut Auto – und noch besser Bus und Bahn...“ Die Männer waren
ein Herz und eine Seele und lachten nun einmütig. Doch die Erwähnung des Namens seiner Frau liess
ein ungutes Gefühl in Matthais hochkommen, so wie Kinder, die wissen, dass sie ein Loch im Zahn
haben, beim Anblick der Zahnpastareklame sich ertappt fühlen. Und so war er froh, als Ralph nach
einiger Zeit auf die Uhr schaute und sich verabschiedete, da sein nächster Termin wartete. Matthias
schnüffelte erneut und konnte nichts riechen.
Allein in seinem Büro suchte Matthias die Zettelwirtschaft auf seinem Schreibtisch durch. Er hatte die
Angewohnheit, alles, was er sich nicht spontan merken konnte, auf kleine Zettel zu schreiben und
diese vor sich auf dem Tisch zu stapeln. Fast täglich ging er diesen Stapel durch, warf den einen oder
anderen Zettel weg oder speicherte die enthaltene Information an anderer Stelle. Auf diese Weise las
er mehrfach dieselben Informationen und konnte sich später besser an sie erinnern.
Und genau hier musste doch der Zettel von diesem Doktor liegen, dessen Adresse er sich vor ein paar
Tagen ja schon herausgeschrieben hatte. Nur so, zur Schulung seiner Gedächtnisfähigkeit. Wo war
der bloss? Matthias suchte, bis er den Stapel dreimal durchgesehen hatte. Nichts.
„Wie hiess der Knispel denn nur? Da war was mit der Reinigung von nebenan, so ähnlich...
verdammt, wie heisst denn bloss die Reinigung?“ Entnervt stand Matthias auf und ging zu seiner
Mitarbeiterin. „Helfen Sie mir doch einmal bitte, wie heisst die Reinigung neben dem Supermarkt
gleich nebenan?“
„Rosberg. Brauchen Sie die Telefonnummer?“
„Nein, danke.“ Mit diesen Worten drehte er sich ohne weitere Erklärung um und ging in sein Zimmer.
Riethberg, das war der Name. Und natürlich., wie es immer so war, wusste er jetzt auch, wo er den
Zettel hingelegt hatte. Damit keiner seiner Mitarbeiter den Zettel zufällig in die Hand bekommen
würde, hatte er ihn in die Jackentasche gesteckt. Egal, er brauchte ihn ja nicht mehr.
Zögerlich nahm er den Telefonhörer in die Hand und wählte die Nummer der Auskunft. Die nette
junge Dame am Telefon wollte ihn sogar – natürlich kostenpflichtig – gleich weiterverbinden, aber
das lehnte er ab. Er sass noch eine Weile unentschlossen dort, als er aus seinem Fenster Ralph sah
mit seinem angegebenen Termin: Offensichtlich hatte er sich mit seiner Frau und seinen Kindern
verabredet, denn dort unten konnte er Max sehen, der an der Hand seines Vaters auf einem kleinen
Mäuerchen balancierte. Zunächst ängstlich hielt er sich an seinem Papa fest, aber er wurde immer
sicherer, und am Ende der Mauer sprang er so heftig in Ralphs Arme., dass dieser kurzfristig wankte.
„Ja, so ein Max....“ dachte Matthias etwas wehmütig. Und mit einer entschiedenen Handbewegung
nahm er erneut den Hörer und wählte die Nummer der Praxis des Andrologen.
„Praxis Dr. Riethberg, Wagner, was kann ich für Sie tun?“ tönte es aus dem Hörer. Matthias räusperte
sich.
„Guten Tag, Manthei, ich hätte gerne einen Termin.“
„Worum geht es?“
Matthias wurde warm. „Ich hätte gern ein Beratungsgespräch. Und Vorsorge...“ Das Wort
„Spermiogramm“ wollte ihm nicht über die Lippen.
„Wenn es sich um eine reine Vorsorge handelt, fürchte ich, ist vor Mai kein Termin frei. Der Doktor
hat einen ziemlich vollen Terminplan, wenn es sich aber um eine dringlichere Sache handelt, könnte
ich Sie in drei Wochen einschieben.“
„Nein, das ist nicht nötig, ich kann warten.“ Mit diesen abwiegelnden Worten vereinbarte er einen
Termin in 6 Wochen, und er war froh, dass er nicht näher ins Detail gehen musste. Sooo eilig war es
ja auch nicht, er hatte ja Zeit.... und überhaupt wusste er ja, dass er sich unnötig Gedanken machte.
Folge 80
„Also findest du nicht, dass meine Brust etwas grösser ist als sonst?“ Hannah grinste über das ganze
Gesicht. Alex schaute kritisch und den Kopf hin- und herwiegend zu ihr hinüber.
„Also, jetzt wo du es sagst, fällt es mir auch auf. Und links ein bisschen mehr, oder? War das nicht die
Seite, an der deine Mutter dich auch immer etwas mehr hat trinken lassen?“ Sie kniff wichtig die
Augen zusammen. „Eindeutig, und ich glaube, eine kleinen Bauch hast du auch schon.“ Nun konnte
sie sich nur noch mit Mühe das Lachen verkneifen, denn immerhin hatten die beiden ja gerade ein,
wie man in Restaurantkreisen vermutlich sagen würde, „Grosses Frühstück kontinental“ zu sich
genommen.
Hannah nickte ernsthaft. „Genau, und weh tut mir die eine Brust auch schon seit gestern. Ist
bestimmt was geworden, diesmal.“ Sie setzte sich gerade hin und sagte entschieden „Jawoll ja!“
bevor sie losprustete. „Du? Meine Mutter hat mich nie gestillt. War damals nicht so… da gab es ja die
gute Alete-Milch. Mama sagte immer Athletenmilch dazu, weil wir alle so propper wurden dadurch.
Ich sah ja aus wie ein Posaunenegel.“ Kritisch kniff sie sich in ihre Wangen. „Hat sich bis heute
gehalten, was? Geht bestimmt nur durch Face-Lifting weg.“ Alex stimmte mit ein und machte sich
Chinesenaugen. „Und dann siehst du bald so aus, aber hast keine Falte mehr.“ Beide genossen die
lustige Stimmung.
„Sag mal, kannst du dir das eigentlich so wirklich vorstellen, ein Kind zu haben? Ich meine, sich eines
zu wünschen ist eine Sache, aber es dann auch zu bekommen? Manchmal bekomme ich doch Angst
vor meiner Courage, und ganz selten denke ich, gut, dass es noch nicht geklappt hat, ich bin vielleicht
gar nicht bereit, oder werde gar keine gute Mutter oder so?!“ Hannah blickte etwas hilflos, und Alex
sah ihr an, dass sie sich mit ihren Worten sehr weit hinausgewagt hatte, dass sie etwas formuliert
hatte, was sie sich selbst nicht eingestehen wollte. Schon wollte ihr ein „Ach Quatsch“ entfahren,
doch im letzten Moment wurde ihr bewusst, dass sie damit Hannah abqualifiziert hätte. Und dass sie
ihre Sorgen nicht ernst genommen hätte. Zudem wurde ihr nach kurzer Überlegung bewusst, dass
auch sie solche Gedanken ab und zu hatte – und gerne verdrängte.
„Ich glaube, solche Überlegungen hat jede von uns ab und zu, denn wir nehmen die Sache ernst. Und
wir verbringen viel zu viel Zeit damit, uns auf diesen Tag X geistig vorzubereiten. Bei anderen geht
das ratzfatz, und sie sind schwanger, da stellt sich die Frage nicht so. Aber wir wollen ja alles perfekt
haben, und deshalb haben wir an uns eben auch diesen hohen Anspruch. Nun kommt der schon
dadurch ins Wanken, dass wir nicht so schnell schwanger werden, vielleicht sagen wir uns, dass dann
das Ergebnis eben noch besser werden muss? Ach, ich weiss nicht. Ich weiss nur eines: Du wirst
bestimmt eine ganz tolle Mutter, denn besondere Frauen wie du, die dafür kämpfen müssen, haben
auch ein besonders schönes Verhältnis zu ihren Kindern verdient.“
„Och mönsch, jetzt machst du mich ganz verlegen…“ sagte Hannah und drückte Alex Hand. „Ist bei
dir doch genauso, oder?“
„Hmm….“ Antwortete Alex und erwiderte den Druck.
„Was willst du denn jetzt machen?“
„Naja, ich will, dass Matthias zum Spermiogramm geht. Ich glaube, es ist mir deshalb so wichtig, weil
er mir das gesamte Feld „Kind“ überlässt und ich das Gefühl habe, unter der Last erdrückt zu
werden.“
„Aber er weigert sich doch nicht, hinzugehen, oder?“ fragte Hannah empört.
„Nein, ich kriege nur nie den Dreh, ihm klarzumachen, dass er hingehen sollte…“ Alex schaute
jämmerlich drein. „Ich weiss ja, was du sagen willst, dass es in einer intakten Beziehung keine
Grenzen für Gespräche gibt, und dass dort auch die Verantwortung für die gemeinsame Zukunft
genauso gemeinsam getragen werden muss, und dass es eigentlich die Aufgabe von Matthias wäre,
mich bei dem, was ich mir so wünsche, zu unterstützen.“ Sie verdrehte die Augen. „Das ist mir alles
klar, aber ich habe einfach Angst, ihn zu verletzen.“
Hannah schnaubte. „Also ehrlich, wenn du dich jetzt gehört hättest und dich dabei sehen würdest,
dann würdest du nicht denken, dass du eine intelligente, selbstbewusste Frau bist, sondern Puttchen
Brammel. Er ist am Zuge, meine Liebe, und durch liebevolles Abwarten wird vielleicht dein Haar
grauer, aber glaube nicht, dass irgendein Mann auf der Welt freiwillig auf die Idee käme, zum
Urologen zu gehen und dort „na du weisst schon was“ zu machen.“ Sie hob die Hände zum Himmel.
„Herr, gib dieser Frau eine Erleuchtung, wie Männer gestrickt sind.“ Sie wandte sich wieder Alex zu.
„Hör mal, meine Süsse, so kommst du nicht weiter. Aber um der Fairness halber musst du vorher
auch alles abgeklärt haben, was ohne OP geht. Hast du schon ein Zyklusmonitoring machen lassen?“
Alex fiel der Unterkiefer runter. „Was für ein Ding? Mein Frauenarzt hat gesagt, bei mir sei alles in
Ordnung.“
„Ach, und wie hat er das festgestellt? Durch Handauflegen? Nee du, ich habe die Rutsche durch. Ich
weiss, dass mein Zyklus hormonell in Ordnung ist. Ich habe dazu an bestimmten Tagen bis zum
Eisprung und eine Woche nach dem Eisprung Blut untersuchen lassen, und dabei hat meine
Frauenärztin immer ein Ultraschallbild gemacht, wie sich die Gebärmutterschleimhaut nach der
Mens aufbaut und wie der Muttermund sich durch den wechselnden Hormonspiegel verhält. Zum
Eisprung muss er ja ganz offen sein, nur halb kann schon zu Problemen hinsichtlich einer
Schwangerschaft führen.“
„Ich lasse mir morgen einen Termin bei meinem Arzt geben, das hat der mir noch nie gesagt. Ich
wusste auch nicht, dass es Muttermundöffnungsprobleme geben kann. Mensch, gut dass du mir das
sagst.“ Alex holte gerade Luft, um weiterzusprechen, da klingelte wie so oft bei ihr das Telefon.
„Ach nee, gerade, wenn es am wichtigsten wird…“ maulte sie vor sich hin und nahm ab. Sekunden
später malte sie die Buchstaben von Beas Namen in die Luft und deutete auf den Hörer. Betretenheit
machte sich auf ihrem Gesicht breit, und Hannah hörte nur Gesprächsfetzen wie „Och nee, das tut
mir aber leid“ und „soll ich kommen?“ oder „Ach Mensch Süsse. Lasse dich in Arm nehmen…“ Kurz
darauf legte sie auf und blickte Hannah an.
„Bea hatte eine Fehlgeburt. Aber sie tröstet sich damit, dass es besser sei für das Kind, weil der
Zeitpunkt so ungünstig war…“
„Das hat sie so gesagt?“ fragte Hannah nach. „Wann war die Fehlgeburt denn?“
„Wohl gestern, sie sagte, es ginge ihr aber recht gut, und ich solle auch nicht kommen sie zu trösten.“
„Und, was sagt sie, will sie es wieder versuchen?“ Hannah insistierte merkwürdig und schaute sehr
ernst.
„Nein, sie will erst mal einige Monate warten, sagt sie…“ antwortete Alex. „Sag mal, hast du kein
Wort des Mitleids für sie? Du musst doch am besten wissen, wie das ist… entschuldige, ich wollte dir
nicht weh tun, aber du bist so komisch.“
„Weisst du, jede Frau, die eine Fehlgeburt gerade erst hatte, will sofort und unbedingt wieder ein
Kind. Ich habe mich, nachdem mir das passiert ist, in einem Forum eingeloggt, und da war das immer
so. Ohne Ausnahme. In den ersten Tagen und Wochen danach hat nie eine gesagt, es wäre besser so,
weil es ohnehin nicht passte, und sie wolle monatelang warten. Verstehst du, was ich meine? Die
Frau ist hormonell dann so angelegt, dass sie sofort wieder den Verlust im Körper ausgleichen will, es
ist ein körperlicher Drang. Und ich kenne Bea – und du kennst sie auch…“
Alex Augen weiteten sich. „Du meinst, das war gar keine Fehlgeburt?“
„Zumindest reagiert sie nicht wie eine Frau, die gerade eine Fehlgeburt hatte. Hat sie dir Details
erzählt?“
„Nein, sie meinte, sie wollte nicht drüber sprechen.“ Alex grübelte, und sie erinnerte sich, dass sie
schon zu Beginn von Beas Schwangerschaft diesen Gedanken gehabt hatte, dass Bea das Kind nicht
würde behalten wollen, weil sie dann Peter würde verlieren können.
„Das kann ich nicht glauben…“ sagte sie tonlos, aber im Innern wusste sie, dass sie es sehr wohl
glaubte. „Das ist so gemein, wir beide wünschen uns nichts sehnlicher, als ein Kind, und andere
werfen es weg wie einen schmutzigen Lappen,“ fügte sie getroffen an.
Folge 81
Beide sassen eine Weile schweigend da, bis Alex sagte: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie das
getan hat.“ Hannah quittierte diese Bemerkung mit einem halbwegs zustimmenden „hm“, schwieg
aber weiter.
„Also, ich meine, so mies kann sie doch nicht sein, immerhin war es ein Kind, und sie hat es ja darauf
ankommen lassen.“ Wieder herrschte Schweigen, bis Hannah anhob: “Ich fürchte, nicht jede sieht
einen Punkt auf einem Ultraschall als Kind an, und viele meinen, sie könnten über Leben und Sterben
eines Kindes entscheiden. Ich habe dafür grösstes Verständnis, wenn man als Mutter oder Vater
erfährt, dass man ein schwerst behindertes Kind erwartet, da masse ich mir nicht an zu sagen, ich
würde dieses und jenes tun oder verurteile dieses oder jenes. Letztendlich muss das jedes Elternpaar
selbst entscheiden, und für viele ist diese Entscheidung – in welche Richtung auch immer – schwer
genug. Aber ich habe Null Verständnis dafür, ein gesundes Kind aus niederen Beweggründen, wie
man es früher ausgedrückt hätte, wegmachen zu lassen. Und alles, was man vor der Schwangerschaft
als Grund schon in die Entscheidung für ein Kind mit hatte einbeziehen können – wie Geld zum
Beispiel oder Egoismus - , ist für mich ein niederer Beweggrund. In Deutschland gibt es ja wohl
genügend Mittel, eine Schwangerschaft zu verhindern, und im Zweifel, wenn man die Pille nicht
nehmen will oder was auch immer, muss man dann eben auf ungeschützten Verkehr verzichten. So
blöd kann Bea doch nicht gewesen sein, dass ihr das alles nicht klar war. Ich fände das irgendwie
ekelhaft, wenn es denn so war.“ Hannah machte ein unglückliches Gesicht.
„Und was machen wir, wenn es so war? Oder besser, wie bekommen wir heraus, wie es denn nun
wirklich war?“
„Weiss ich auch nicht. Ich weiss nur eines: Ich traue es ihr zu, und das ist schon schlimm genug. Allein
das wird unsere Freundschaft belasten, und deshalb gibt es nur eine einzige Möglichkeit: Sie selbst
muss uns reinen Wein einschenken, sonst gibt es da immer diesen Stachel…“ Erneut versanken beide
in Schweigen.
„Ach menno, ich fühle mich so schlecht, das ich so mies von ihr denke…“
„Ich auch… auch nicht freundschaftlich, was?“ Nun schauten sich beide unglücklich an. „Gibt es denn
eindeutige Beweise dafür, ob eine Frau abgetrieben hat oder ob sie eine Fehlgeburt hatte?“
„Das glaube ich nicht, denn prinzipiell ist es ja ein vergleichbarer Vorgang, beides Mal kann es durch
eine Ausschabung vorgenommen werden; entscheidend sind die Gründe. Ich denke, nur Bea kann
uns Auskunft darüber geben, sofern sie mag. Aber ehrlich gesagt, so wie ich sie kenne, wird sie es uns
– oder besser dir, denn mit mir redet sie ja nicht – erzählen. Es muss ja einen für sie guten Grund
geben, wenn sie es denn getan hat, und den wirst du sicher erfahren.“ Hannah starrte vor sich hin.
„Warum treffen wir uns nicht wieder zu dritt? Du kennst doch Bea, sie ist zwar aufbrausend, aber die
Bande zwischen euch sind doch noch da…“
„Ich weiss nicht…. in dem Bewusstsein, dass sie vielleicht so gehandelt hat, wie wir es ihr derzeit
unterstellen, mag ich sie nicht sehen. Einerseits, weil ich ihr etwas so Gemeines unterstelle, ohne
dass sie sich wehren kann. Andererseits in dem Bewusstsein, dass sie so mies gehandelt haben
könnte. Beides erweckt in mir nicht gerade das Verlangen, sie zu sehen.“
„Geht mir ähnlich,“ sagte Alex. „Aber in jedem Fall braucht sie doch meine Hilfe: Wenn sie
abgetrieben hat, war sie vielleicht verzweifelt, wenn sie eine Fehlgeburt hatte, braucht sie mich umso
mehr.“
„Mann, warum ist das Leben so kompliziert?“
„Ich weiss es auch nicht, ich wünschte, es wäre anders.“ Draussen hatte sich der Himmel zugezogen,
und es hatte begonnen, zu regnen.
„Das Wetter spiegelt unsere Laune wider, was?“
„Stimmt. Und dabei sollten wir uns freuen, immerhin sind wir bald in einer Wellness-Oase und lassen
verwöhnen, während unsere Männer zuhause alleine sitzen. Oder sich mit den Kumpels die Nacht
um die Ohren schlagen, weil sie meinen, dass sie ihre plötzliche Freiheit so besser geniessen können.
Mensch, zwei Wochen noch…“ sinnierte Alex. Hannah nickte und stand auf.
„Ich muss an die Luft, egal ob es regnet.“
„Genau, jetzt machen wir „I’m singing in the rain“ ,“ lachte Alex befreit und stand ebenfalls auf.
„Weisst du was? Ich glaube, eines haben diese Kinderwunschfrauen gemein: Sie lassen sich nicht
unterkriegen,“ fügte sie hinzu und sah Hannah entschlossen an.
Folge 82
Fest eingemummelt und untergehakt gingen die beiden durch den Regen, der deutlich nachgelassen
hatte. Nur noch ein feines Sprühen liess Alex Haare immer krauser werden, und als sie es merkte,
strich sie eine Strähne aus dem Gesicht und murmelte nur das übliche „Krause Haare, krauser Sinn“,
das ihre Mutter immer gesagt hatte, wenn sie von Spielen zurück kam und völlig zerzaust war. Vor
ihrem geistigen Auge stieg wieder dieses Bild eines kleinen Mädchens mit dunklen Locken auf, das
erhitzt zur Tür herein kam und die kleine Jacke versuchte, allein auszuziehen. Ihre Augen blitzten. Vor
Aufregung konnte sie die Kleidung kaum loswerden, weil sie unbedingt in der Küche gucken wollte,
was ihre Mutter gebacken hatte. Der Duft lag noch in der Luft.
Alex sog die Luft hörbar ein und begann zu sprechen: “Manchmal sehe ich ein Mädchen in meinen
Träumen, es sieht ähnlich aus wie ich, und es sprüht vor Energie. Ich war eigentlich viel ruhiger, aber
ich kann das Kind dann bald mit seiner Kraft spüren. Eben war es wieder so: Ich sehe es mit offenen
Augen und denke: Das könnte meine Tochter sein. So sähe sie aus. Und das Kind lacht mich an und
aus seinen Augen spricht tiefe Vertrautheit und Liebe und ein unabdingbares Vertrauen in mich. Zu
Weihnachten sehe ich es, wie es meine Engel auf der Fensterbank betrachtet oder am frischen
Streichholz riecht. Oder wie sie ein Streichholz ganz feucht auspustet, weil sie den Mund nicht ganz
spitzt. Dieses Weihnachten war es auch so, und ich bin froh, dass diese Zeit vorbei ist. Geht dir das
auch manchmal so?“
„Ja, das geht mir auch so…. ich sage mir dann ab und zu – wenn ich die Kraft habe, positiv zu denken
– dass es meine Tochter ist, die mich ruft und die bald kommt. Wenn ich kraftlos bin, werde ich nur
ganz traurig. Dann sehe ich sie – ich sehe auch ein Mädchen, nur selten einen rothaarigen Jungen mit
ganz vielen Sommersprossen, und mit einem ganz lieben und frechen Grinsen- und dann denke ich,
dass sie vielleicht nie den Weg zu mir finden wird, dass ich sie nie in den Armen halten werde und nie
spüre. Nur eben in meinem Träumen. Und da ist sie so lebendig, dass ich bald ihre Wärme spüre.“
Hannah verstummte, und beide zogen ein wenig die Schultern hoch, um sich zu wärmen. Dabei war
es nicht kalt, aber es kam ihnen beiden so vor.
„Denkst du manchmal an Aufgabe?“
„Natürlich, je länger die Fehlgeburt her ist, desto mehr denke ich daran. Aber nie ernsthaft, vielleicht
ist es auch ein schleichender Prozess, den ich durchmache. Und vielleicht entferne ich mich dadurch
vom Kinderwunsch. Ich kann es dir nicht einmal sagen. Und dann wieder bin ich ganz euphorisch –
natürlich zum Eisprung hin – und denke „Diesmal klappt es bestimmt. Es muss einfach!“. Wenn ich in
dieser Zeit Mütter mit kleinen Kindern sehe, möchte ich rufen: Ich bin auch schwanger, es weiss bloss
noch keiner. Aber bald schiebe ich auch einen Kinderwagen, du wirst schon sehen. Und dann bin ich
kurz davor, irgend etwas für das Kind zu kaufen. Und ich gebe jeder Eizelle nach dem Eisprung einen
Namen und unterhalte mich mit ihr. Ich weiss, es klingt blöd… vermutlich komme ich echt bald in die
Klapse…“
„Nee, das mache ich auch. Ich suche gerade einen Namen für das nächste Mal, Roland, Gonzales und
Susanna kennst du ja schon. Naja, Susanna könnte ja noch springen, dann brauche ich keinen neuen
Namen… manchmal bin ich mir fast sicher, dass es nie klappt.“ Beide sinnierten wieder vor sich hin.
„Bea könnte ich so nicht auf den Pelz gucken.“
„Ich ja auch nicht, das weisst du ja…“
„Und nächsten Zyklus mache ich ein Monitoring., versprochen. Und ich werde das von meinem
Frauenarzt fordern, sein ewiges „Frau Manthei, Sie sind doch noch jung genug, machen Sie sich keine
Gedanken. Das wird schon, Rom ist auch nicht an einem Tag erbaut worden.“ kann ich nicht mehr
hören. Ich glaube, der nimmt mich gar nicht ernst.“
„Rom kommt von Romulus, und dazu gab es noch Remus, und die sind von einer Wölfin aufgezogen
worden. Aber es waren Zwillinge, wenn ich mich recht entsinne. Ob die Mutter eine Repro
mitgemacht hat, oder ist sie von einem Gott befruchtet worden, hast du da was in Latein drüber
gelernt.“
„Über Repro definitiv vermutlich nur die Ableitung, denke an reproducere oder so. So ’n Gott wäre ja
auch eine prima Sache, Mensch stell dir vor, alle Sorgen um das Kinderkriegen weg und dann sind es
auch noch Halbgötter und Helden wie Herkules. Okay, mein nächstes heisst Herkules. Nimm bloss
nicht Niobe…“
„Oh ne, das war doch die, bei der Zeus oder wer auch immer alle Kinder getötet hatte bis auf eines,
oder?“
„Irgendwie so. Come on Herkules, du schaffst es. Hört sich cool an. Oder Hercules, wie der
Detektiv…“
„Okay, wir sind eindeutig gaga. Aber die Idee mit dem Frauenarzt finde ich gut, der sollte sich auch
mal was einfallen lassen und dich nicht wie eine Doofe behandeln. Also, ran…“
Beide hakten sich ein wenig fester unter und gingen gemeinsam den Weg, den ihnen das Schicksal
vorgeschrieben hatte.
Folge 83
„Und deine, wie heisst die?“
„Weiss nicht…“ sagte Hannah zögerlich, als wollte sie den Namen nicht preisgeben.
„Ach komm, ich habe dir ja auch verraten, dass mein nächster Versuch Herkules heisst. Oder meinst,
es bringt Unglück? So wie man den Namen des Kindes vor der Geburt nicht verraten sollte?“
„Nein, es ist bloss eigentlich so albern, dass wir nun schon den jeweils monatlichen Eizell-Optionen
einen Namen geben. Ich sag ja : gaga. – Also gut, sie oder er heisst Calimero.“ Hannah schaute ein
wenig trotzig. Alex lachte.
„Meinst du, das sei ein gutes Zeichen?“
„Wieso, was meinst du?“
„Calimero war doch dieser kleine putzige Vogel mit dem gritzegelben Schnabel, der sich nicht aus der
Eierschale befreien konnte und sie deshalb immer mit sich als Hut herumtrug, oder?“
„Ja, genau, das fand ich als Kind toll.“
„Hört sich aber nicht toll an, wenn sich deine Eizelle nicht aus der Schale befreien kann.“
„Wieso, Eisprung ist doch Eisprung, oder? Da ist doch gar keine Schale. Oder bin ich wie ein Huhn
innerlich verkalkt und merke es nicht?“ Hannah lachte bei der Vorstellung.
„Nee, Quatsch. Aber dass die Eizelle von einer mehr oder weniger festen Hülle umschlossen ist, das
weisst du, oder?“
„Nein, wusste ich bis eben nicht. Ich dachte, die springt einmal und dabei platzt der Follikel, und das
ist es. Erzähl mal. Weisst du was darüber?“
„Ich habe da mal herumgegoogelt, wie man das nach Infos zum Kinderwunsch so macht, und da kam
ich auf so eine Seite, auf der das so beschrieben war, dass ich es auch verstehen konnte, Warte mal,
wie war das noch.“ Alex überlegte einen kurzen Augenblick. „Wenn ich mich recht entsinne, dann
heisst diese Haut Glashaut, es gibt da auch noch einen lateinischen oder griechischen Namen für,
aber den habe ich mir nicht gemerkt. Und nach dem Sprung unserer Herculesse oder Calimeros und
einer erfolgreichen Befruchtung teilen sich die Zellen des Embryos ja, und zwar bis zum
Blastozystenstadium. Das ist am Tag 5, zumindest ungefähr, nach dem Eisprung. Erst in diesem
Stadium schlüpft das Ei, wie ein Küken – also dein Calimero – und kann sich einnisten. Deshalb sind
alle Blutungen vor diesem Zeitpunkt mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit keine Einnistungsblutungenauch wenn wir das nur zu gerne glauben wollen. Naja, und manchmal ist dieses Schlüpfen
unvollständig – wieder wie bei Calimero – und dann gibt es keine Einnistung, oder die Haut ist zu
dick. Das ist zum Beispiel auch altersabhängig. Warte mal, das habe ich mir gemerkt, das war gemein,
ich zitiere: Bei älteren Frauen werden verschiedene Zahlen genannt von älter als 36 bis älter als 38….
Fies, was, als würden wir zum alten Eisen gehören…“ Sie sinnierte vor sich hin.
„Nun rede schon weiter, was ist bei den sogenannten älteren Frauen – komisch, ich dachte immer,
das fängt mit 60 an, wie man sich täuschen kann…“ sinnierte nun auch Hannah.
„Da kann man als Unterstützung des Schlüpfvorganges die Glashaut einritzen, so mit Laser, oder mit
einem Enzym schwächen, oder sogar mit einer Nadel einritzen, wobei mir schleierhaft ist, wie man
das genau machen soll. Stell dir vor, die Hand zittert, und Calimero ist hin. Und das nennt man
„assisted hatching“, auf deutsch unterstütztes Schlüpfen.“ Alex guckte triumphierend, da kannte
Hannah Worte wie Morula, aber nicht das Hatching. „Das wird wohl bei der Repro oft vorgeschlagen,
aber wenn ich das richtig verstanden habe, ist es gar nicht ganz sicher, ob es positive Auswirkungen
hat.“
„Boah, was du so weisst. Hmm… dann ist Calimero nicht so vielversprechend, oder? Vielleicht sollte
ich auf etwas anderes umschwenken. Mir fällt nur nichts ein.“
„Was aus dem Büro?“
„Nee, da gibt es nur Manfreds, das will ich nicht.“
„Und was macht ihr gerade, gibt es da einen Tipp?“
„Umsatzsteuer, na toll. Aber Usaste hört sich auch nicht gut an, oder? Könnte dann auch gleich auf
Ursel gehen, so hiess meine Chefin, als ich als Putzfrau ein paar Mark im Studium dazuverdient habe.
Oder Urmel, aber das sollte ich mir aufheben, wenn mal eines aus dem Eis kommt.“ Hannah kicherte
vor sich hin. „Meine Güte, mir fällt nun gar nichts mehr ein. Sag du mal, ich bin schon so albern, dass
ich mir keinen mehr aussuchen kann.“
„Okay, dann wähle ich: Nimm Felix, das heisst nämlich fruchtbar, glücklich, glückbringend. Besser
kann der Name nicht sein. Und ich gönne ihn nur dir, damit das klar ist, sonst hätte ich ihn
genommen.“
„Ach Mensch, Alex, das ist aber süss von dir, ich weiss schon, was du mir damit wünschst.“ Sie
knuddelte ihre Freundin kurz und spürte neue innere Kraft. Felix, der würde es sein, da war sie sich
sicher.
Folge 84
Alex hatte sich von Hannah verabschiedet und war auf dem Weg zurück nach Hause. Seit Hannah in
die andere Richtung gegangen war, fühlte sie sich mit jedem Schritt, den sie auf ihre eigene
Wohnung zu machte, kraftloser. Hatte denn nur Hannah die Kraft gehabt und hatte sie mitgerissen?
War sie selbst schon so leer, dass sie sich nicht mehr selbst aufraffen konnte? An einem Schaufenster
eines Buchhandels blieb sie stehen. Früher hatte sie viel gelesen, stundenlang mit einem Buch im
Bett gelegen und abends spät das Licht gelöscht. Oft genug hatte sie Ärger mit ihrer Mutter gehabt.
Und sie hatte sich immer geschworen, dass sie, wenn sie einmal Kinder hatte, ganz anders, viel
toleranter, reagieren würde.
Fast mechanisch betrat Alex den Laden. Kochbücher, das war jetzt ihre Lieblingslektüre. Vielleicht
sollte sie sich mit dem neuen Buch von Jamie Oliver selbst eine Freude machen? Warum kam
Matthias nie darauf, das zu tun, ihr einfach einmal wieder eine Freude zu machen, unabhängig, ob es
Weihnachten, Ostern oder ihr Geburtstag war? Wie so oft in der letzten Zeit dachte sie an ihre Ehe.
Nicht, dass sie sie für schlecht hielt, aber sie sprachen eben nicht richtig miteinander. Und schon gar
nicht offen und ehrlich über das, was sie beide bewegte.
„Kann ich Ihnen helfen? Suchen Sie etwas Bestimmtes?“ Die Verkäuferin war eine ältere gepflegte
Erscheinung mit grauem Haar.
„Ich weiss nicht, was ich will…“ stammelte Alex unentschlossen. Genauso ging es ihr, sie wusste nicht,
was sie wollte.
„Soll es ein Buch für Sie selbst sein oder ein Geschenk?“
„Für mich selbst – haben Sie Kinderbücher?“
Die Dame lächelte über das ganze Gesicht, ihre Augen strahlten jugendlich und ihr Gesicht zeigte
Hunderte von kleinen liebenswerten Fältchen. „Natürlich. Es ist schön, dass Sie sich ein Kinderbuch
kaufen wollen, wir Erwachsenen träumen viel zu wenig, finden Sie nicht?“ Einladend ging sie den
Weg voraus zu den Regalen, auf denen viele dickseitige Bücher für die ganz Kleinen standen, doch
daneben fand sich ein Regal, das weniger spektakulär gebundene Bücher enthielt. „Hier sind meine
besonderen Schätze…. Sie mögen das für vom Alter her unangemessen finden, aber ich geniesse an
diesen Büchern die phantasievollen Beschreibungen, die ganze Welten vor meinem geistigen Auge
entstehen lassen. Und literarisch braucht man die Texte nicht zu verachten, denken Sie an C.S. Lewis,
dessen König von Narnia jetzt gerade in die Kinos kommt. Leider sind die Kritiken gar nicht so gut..
aber nach dem Herrn der Ringe ist der Kinobesucher leise Töne vielleicht gar nicht mehr gewöhnt…“
Die Verkäuferin blickte sorgenvoll vor sich hin. „Aber können Sie sich vorstellen, dass Bücher nach
wie vor das meistverkaufte Geschenk auch zu Weihnachten sind?“
Alex antwortete nicht, aber ihre Augen suchten liebevoll die Reihen der Bücher auf und ab. Und dann
blieben sie an einem etwa anderthalb Zentimeter dicken Buch mit rotem Einband hängen. „Mio,
mein Mio“, sagte sie romantisch verklärt.
„Ein wunderbares Buch, Astrid Lindgren hat die Gabe, Kinder wie Erwachsene mit Worten zu
fesseln.“ nahm die ältere Dame den Gedankenfaden auf. Normalerweise fand Alex es aufdringlich,
wenn Verkäuferinnen neben ihr stehen blieben, wenn sie etwas suchte, doch hier war etwas anderes
im Spiel: Sie beide bewunderten die Bücher und hatten die gleichen Gedanken dazu. Das fand man
selten.
„Es war immer mein Lieblingsbuch. Einfach wunderschön, die Geschichte“, erklärte Alex.
„Wie wäre es, wenn Sie sich mit ein paar Büchern in die Lesecke zurückziehen, und ich bringe Ihnen
einen Kaffee. Es ist ja nicht so viel los heute, da kann ich mich schon etwas um Sie kümmern…“ Die
Verkäuferin lächelte ihr aufmunternd zu, und zunächst zögerlich, dann befreit lächelte Alex zurück
und sagte: “Warum eigentlich nicht…“ und nahm ein paar Bücher mit zu dem kleinen gemütlichen
Sofa mit einem Tisch, der genau dazu geeignet war, einer Reihe von Büchern als Ablage zu dienen.
Neben C.S. Lewis und Astrid Lindgren waren es auch Bücher von Selma Lagerlöf und Michael Ende,
die Alex sich als Schnupperlektüre genommen hatte. Kurz nachdem sie sich gesetzt hatte, erhielt sie
eine Tasse Milchkaffee und einen Keks dazu. Wohlig mummelte sie sich auf dem Sofa ein und begann
zu lesen. Die Welt um sie herum verschwand, und sie tauchte ein in die Welt der Kinder, die mit
staunenden Augen Neues entdeckten, gut und schlecht unterscheiden lernten und für die Zeit keine
Rolle spielte.
„Was liest du da?“ fragte plötzlich ein etwa achtjähriges Mädchen, das schon eine Weile neben ihr
gestanden haben musste. Sie trug eine Brille und hatte ihr aschblondes glattes Haar zu einem Zopf
gebunden. Seitlich wurden die Strähnen von Spangen gehalten.
Alex blickte verstört auf. „Mio, mein Mio, das ist mein Lieblingsbuch“, antwortete sie
wahrheitsgemäss. Die Kleine neigte den Kopf und schaute in das Buch. „Sind da Bilder drin?“ „Ja,
aber nur wenige,. Aber die sind wunderschön. Von Mios Pferd, das ganz silbriges Haar hat. Und von
Mios Freunden. Und was liest du?“ Alex spürte das Mädchen, das recht nahe an sie herangekommen
war und dessen Haare frisch gewaschen dufteten. Überhaupt war das Mädchen sehr gepflegt, und
das Buch in ihrer Hand behandelte sie vorsichtig.
„Wir Kinder von Bullerbü.“
„Ach, das ist auch von Astrid Lindgren, wie mein Buch hier auch. Ich finde, sie schreibt sehr schön.
Die Kinder aus Bullerbü habe ich auch sehr gemocht.“ Sie schaute das Mädchen freundlich an. „Du
bist doch nicht allein hier, oder?“
„Nö. Meine Mutter sucht für meinen Bruder was aus…“ sie machte eine Grimasse und deutete mit
den Kopf auf eine Frau, die einen bockigen Jungen zur Räson zu bringen versuchte. Offensichtlich
waren die beiden sich über ein Buch über Dinosaurier nicht einig geworden. „Wenn der sauer wird,
dann wird es gleich laut…“, sagte das Mädchen und schaute unglücklich.
„Und, machst du das auch, wenn du sauer bist.“
„Nee, ich nicht, ich gehe dann.“ Und genau das konnte sich Alex vorstellen, die grosse Schwester zog
sich dann zurück.
„Weisst du was, ich mache das auch immer, wenn ich sauer bin, dann gehe ich weg. Aber ich weiss
gar nicht, ob das gut ist…“, sinnierte Alex vor sich hin.
„Ich hab’ mal Mama gehört, wie sie sagte, sie würde sich fast freuen, wenn ich mich mal so aufführen
würde.“
„Deine Mama scheint eine kluge Frau zu sein…“ sagte Alex, die daran dachte, dass so viele Frauen in
Konfliktfällen zu schweigsam waren. Und das schloss sie mit ein.
„Hehem, sie ist ja meine Mama.“ Entgegnete das Mädchen bestimmt und stolz zugleich.
Die Frau schaue auf und blickte ihre Tochter liebevoll an. „Insa, kommst du? Ich glaube, wir müssen
hier raus… Marc will wohl doch kein Buch…“ Die letzten Worte erstickten im Geschrei des kleinen
Jungen, der nun unbedingt dadurch seinen Willen durchsetzen wollte, dass er sich vehement auf den
Boden warf.
„Tschüss Insa“, sagte Alex und blickte ihr nach. „Tschüss“, sagte Insa zum Abschied und blickte sie an.
Und die Mutter sagte resigniert lachend: „Wenn ich gewusst hätte, wie der zweite wird, wäre sie ein
Einzelkind geblieben, aber zum Glück weiss ja niemand, was das Schicksal so parat hat, und missen
möchte ich ihn“, sie nickte in Richtung ihres trotzigen Sprösslings, „nun auch nicht mehr. Schönen
Tag noch…“ Mit diesen Worten drehte sie sich um, nahm Insa vertraut an die Hand, packten resolut
und etwas ungerührt ihren Sohn an der Jacke und bugsierte ihn unter einer kurzen und
wirkungsvollen Ermahnung, die Alex nicht verstand, zur Tür hinaus.
Als Alex sich im Laden umsah, erblickte sie die Verkäuferin, die die Szene amüsiert beobachtet hatte.
„Ich kenne diese Familie seit Jahrzehnten, und die Mutter war genau wie ihr Sohn. Trotzig und
starrköpfig. Aber süss…“ sie lachte vor sich hin und schüttelte den Kopf. „Wie sich die Bilder
gleichen… Ihre Tante war genauso. Sie ging mit mir in eine Klasse. Tja, so gibt man von Generation zu
Generation Charaktere weiter. Meine Mutter sagte immer, man solle sich die Familie des Mannes
ansehen, bevor man heiratet.“
„Also, meinen Schwiegervater hätte ich sofort geheiratet, aber der war ja schon vergeben.“
Entgegnete Alex und brach damit das Eis der gedankenversunkenen Atmosphäre. „Und wenn ich mal
ein Kind habe, dann wird es entweder verschmitzt wie er oder wild wie ich“, fügte sie trotzig hinzu.
„Ich nehme „Mio, mein Mio“ mit, für meinen Mann, der soll auch ein wenig Zauberwelt erleben.“
„Soll ich es als Geschenk einpacken?“
„Ja gerne.“
„Wer Wunder verschenkt, ist offen für eigene“, sagte die ältere Dame sanft und vertiefte sich in das
Einpacken des Buches.
Folge 85
Das Buch in ihrer Hand war wie magisch. Es verkörperte für sie Kindheit und Zukunft zugleich, denn
sie hatte sich immer vorgestellt, Mio ihren Kindern vorzulesen. „Heute werde ich mit Matthias
sprechen“, versprach sie sich selbst. Und wenn sie an Insa dachte, dann sah sie die glücklichen
Gesichter von Mutter und Tochter und die beiden ineinander verschränkten Hände.
„Das werde ich auch erreichen, ich versprech’ es dir“, sagte sich Alex leise, wobei sie selbst mit ihrem
Gesprächspartner gemeint war.
Zuhause angekommen legte sie das Buch auf den Tisch; sie würde zum Abendessen etwas Leckeres
kochen und dann mit ihrem Mann sprechen, und als Aufhänger würde sie das Buch nutzen. „Du,
Matthias, ich muss mit dir sprechen“, sagte sie sich im Geiste und ging das Gespräch durch. “Nein,
lass mich ausreden, ich…. Ja, du hast ja Recht, aber ich…. Nein, nun höre du mir mal zu…“ Sie stellte
sich schon auf ein kleines hitziges Gespräch ein, als sie merkte, dass ihr etwas fehlte. Und dieses
Etwas war Phoebe. Sie wuselte doch sonst immer um ihre Beine, wenn sie nach Hause kam, doch
heute konnte sie ungehindert überall langgehen, ohne Gefahr zu laufen, über ihre Katze zu stolpern.
„Phoebe, Süsse, versteck dich doch nicht immer…“ rief sie in die leere Wohnung hinein. Sie kannte
nur zu gut die Angewohnheit dieses listigen kleinen Tieres, das sich irgendwo versteckte und dann
gemächlich zusah, wie ihr Frauchen nach ihr suchte.
Alex fing also an, sie hob jede Decke, jedes Kissen, schaute in jede Ecke – wobei sie zum Teil
feststellen musste, dass sich dort keine Katze, sondern Staub gesammelt hatte- und öffnete alle
Schränke, doch Phoebe blieb verschwunden. Schliesslich rief sie entnervt und beunruhigt bei Hannah
an.
„Hallo Hannah, sag mal, als wir aus dem Haus gingen, da war Phoebe doch noch da, oder? Ich finde
sie nämlich nicht, kann es sein, dass sie mit uns rausgelaufen ist?“
„Nein, bestimmt nicht, Alex, ich weiss genau, dass sie drinnen war, als du die Tür geschlossen hast.
Ach Mensch, und du findest sie nicht?“
„Nein, ich bin schon ganz unruhig. Aber ich suche noch einmal alles ab… bis dann.“ Wenn Phoebe
also nicht nach draussen gelaufen war, wo war sie dann? Lag sie vielleicht schon apathisch irgendwo
in einer Ecke und wartete auf Hilfe? „Phoebe, Süsse, komm, gib doch einen Laut.“ Alex hantierte laut
mit der Futterschüssel. „Hm… lecker lecker lecker“, rief sie und lauschte angestrengt. Nichts, in der
Wohnung herrschte Stille.
„Komm her, kleiner Muck, lass mich nicht so hängen“, sagte sie traurig. „Was soll ich denn nur ohne
dich machen? Phoebe, lass mich nicht allein…“ Mühsam kämpfte sie gegen ihre Tränen. „Wo bist du
denn bloss?“ Immer unruhiger wurde sie, und noch einmal ging sie in alle Zimmer, öffnete alles,
horchte, nahm lose Dinge hoch, unter denen sich Phoebe nie versteckt hätte, zog Schubläden auf,
um ja nichts zu übersehen. Schliesslich stand sie im Abstellraum und liess ihren Tränen freien Lauf.
„Ach menno, nicht auch noch du. Phoebe!“
Alex schniefte und fühlte sich völlig einsam. Sie schaute sich im Raum um, alles war wie immer. Und
die Schränke hatte sie nun dreimal geöffnet und durchgesehen. Sie putzte sich lautstark die Nase und
sog befreit die Luft durch sie ein. Moment mal, da war etwas: der leicht stechende Geruch von
Katzenpipi, und der konnte hier gar nicht sein, weil das Katzenklo in einem anderen Raum stand und
diese Tür eigentlich immer verschlossen war. Und als sie so der Nase folgte, fiel ihr auf, dass der
Schuhschrank geschlossen war, dabei hatte sie ihn am Morgen nachlässig offen gelassen, oder?
„Phoebe, Süsse, Motte? Bist du hier?“ Und plötzlich hörte sie ein ganz leises Maunzen, und als sie
den Schuhschrank vorsichtig aufklappte, sah sie ein jämmerliches Köpfchen zwischen den Schuhen
auftauchen. Der Schuhschrank hatte eine Kippvorrichtung, und offensichtlich war Phoebe in den
Schrank geklettert, und die Gewichtsverlagerung auf dem Regal hatte den Schrank zuklappen lassen.
„Ach Mensch, meine Kleine, bin ich froh…“ Vorsichtig zog Alex ihre Katze ans Licht, die sich dankbar
auf den Arm nehmen liess. „Ich weiss nicht, was ich ohne dich gemacht hätte“, sagte Alex erleichtert
und drückte ihre Nase in das weiche Fell. Phoebe langte das schon, sie hatte Hunger und strebte nun
dem Futternapf zu. Alex aber beruhigte sich nicht so schnell, ihr liefen die Tränen über die Wangen,
und genau in diesem Augenblick kam Matthias nach Hause.
„Hallo mein Schatz….“ Matthias stockte mittendrin. „ Was ist denn los? Ist was passiert?“
„Phoebe war verschwunden, ich habe sie über eine Stunde lang gesucht, ich dachte schon sie wäre
weg..“ Alex war ganz aufgelöst.
„Ach Älchen, Mensch, was für ein Schreck.“ Er nahm sie liebevoll in den Arm. „Wo war sie denn?“
„Im Schuhschrank, dabei kann sie da gar nicht hin eigentlich,“ Alex schniefte erneut “… weil ich ja
immer die Tür zum Raum zumache, aber du hast sie bestimmt wieder offen gelassen.“ Das machte
Matthias nämlich aus unerfindlichen Gründen immer.
„Ach nee, und jetzt bin ich wieder Schuld, was? Dann pass’ eben besser auf deine blöde Katze auf,
dann passiert das nicht. Und lass’ den Schuhschrank nicht offen… überhaupt ist dir deine Katze
wichtiger als ich, damit das mal gesagt ist. Die darf ja sogar in deinem Bett schlafen, im Unterschied
zu deinem Mann…“
Nun platzte Alex der Kragen, und alle Schleusen ihrer Tränen wurden gleichzeitig geöffnet. „Wenn du
netter zu mir wärst, dann wäre das auch anders. Sie hält immer zu mir. Und sie gibt mir das Gefühl,
für sie wichtig zu sein. Und… überhaupt…“ Sie stapfte zum Tisch und nahm das eingepackte Buch.
„Da, für dich, ich wollte es immer gemeinsam mit meinem Mann unseren Kindern vorlesen, aber
dazu kommt es ja nicht mehr. Wir haben ja keine, und kriegen tun wir auch keine.“ Sie heulte auf.
„Und ich will auch nicht mehr die Verantwortung dafür tragen, du fragst ja nicht mal, ob du helfen
kannst. Ehe ich alles tue, musst du auch mal ran, wenn du überhaupt noch Kinder haben willst…“
Alex weinte haltlos, aber immerhin war das Wichtigste raus. „Du machst ja nicht mal ein
Spermiogramm, eher würdest du eine Bauchspiegelung – und das ist eine OP ! – von mir verlangen…“
Alex war laut gewesen und wollte sich von ihm losmachen, aber Matthias hielt sie fest im Arm. Er
nahm ein Taschentuch und hielt es ihr hin, während er mit der anderen Hand ihr Haar streichelte.
„Ist doch nicht wahr. Und das mit Phoebe tut mir leid, ich nehms zurück, ich war auch nur froh, dass
ihr nichts passiert ist. Und wenn dir ein Spermiogramm so wichtig ist, warum hast du es dann nicht
einfach mit mir besprochen. Natürlich mache ich eines, ist doch kein Ding, schliesslich geht das uns
beide an, oder? Mensch Alex, wir wollen uns doch nicht streiten, schon gar nicht über Kinder, oder?“
„Ich will mich ja auch gar nicht streiten.“ Sie zog geräuschswirksam hoch und nahm dann das
Taschentuch. „Halt mich fest, ja? Ich bin nur so traurig… und du gehst wirklich zum Arzt und machst
ein Spermiogramm?“
„Na, klar, sag ich doch, ich habe schon einen Termin. Oder glaubst du ernsthaft, ich lasse dich damit
allein, du Traumfrau?“ Matthias stand da, und auf einmal war der Anruf beim Arzt so
selbstverständlich, als habe er nicht tagelang mit sich gerungen.
„Du hättest doch nur eine Anmerkung zu machen brauchen, dass du Hilfe brauchst…“ fügte er an und
hielt sich tatsächlich für den sensibelsten Ehemann der Welt. Und Alex schmolz dahin, auch sie war
dankbar, einen solchen Mann zu haben. Jetzt war alles ganz einfach. „Und das lesen wir dann den
Kindern vor?“ fragte sie unsicher und hielt Matthias das Geschenk hin. „Natürlich, das mache ich
dann, und du ruhst dich abends aus.“ Er hielt seine Frau glücklich im Arm, und beide hatten auf
einmal das Gefühl, dass sie den Weg schon fast bis zum Ende gegangen waren.
Folge 86
Während Alex in der Küche das Essen zuzubereiten versuchte, drehte Matthias im Wohnzimmer die
Stereoanlage auf. Auch er hatte gute Laune.
„Na Süsse, was willst du hören? Kuschelrock?“
„Au ja, wie in alten Zeiten, was?“ ertönte es aus der Küche. Kurz darauf hörte man „Say you, Say me“
von Lionel Ritchie, das von beiden laut mitgesungen wurde. „Mensch, der Film war Klasse, was?
White Nights, werde ich nie vergessen…“ Matthias kam ins Schwärmen, und grübelte über seine
damalige Flamme Rita. „Das war eine Frau, voller Rasse, nur etwas zu anstrengend,“ dachte er ein
bisschen wehmütig.
„Hast du eigentlich mal wieder was von Rita gehört?“ hörte er in diesem Augenblick aus der Küche.
Wenn Männer nur ein wenig mehr von der Psyche der Frauen verstehen würden, dann wüssten sie,
dass die wunderbarste Stimmung zwischen zwei Menschen, wie sie gerade in Matthias und Alex’
Wohnung herrschte, im Nu zerstört werden kann durch die Schwärmerei über einen Ex-Partner. Aber
– wie Männer selbst beteuern – Männer verstehen Frauen nun einmal nicht, zumindest nur
oberflächlich, und so begann Alex Angetrauter von Rita zu erzählen.
„Ja, ich habe sie letztens einmal zufällig gesehen, sieht toll aus, super Figur mit ihren langen Beinen.
Wie schon früher war sie perfekt geschminkt und die Haare, du weisst ja, dieses tolle Blond, boah,
einfach zum Anbeissen. Und, ach ja, das habe ich dir gar nicht erzählt, aber Jürgen wusste das, sie hat
vor drei Jahren geheiratet und hat einen süssen Jungen von zwei Jahren. Ihr Mann soll richtig Kohle
haben.“
Das genügte Alex. Neben der Tatsache, dass ihre Widersacherin offensichtlich all das aufwies, was sie
an sich vermisste, hatte sie auch noch Geld ohne Ende und nach einem Jahr Ehe auch schon einen
kleinen Sohn. „Na, das ist ja schön“, sagte sie mit leicht bissigem Unterton. Jeder sensible Zuhörer
hätte die Botschaft „Erzähle bloss nicht weiter“ aus diesem Ton herausgehört, nicht so Matthias.
„Du weisst ja, dass sie mal als Mannequin gearbeitet hat, oder? Kein Wunder, bei den Beinen! Bis auf
den Boden, hätte Vattern gesagt. Mannomann, habe ich mit der Spass gehabt. Überall…“ er lachte in
seinen Erinnerungen gebannt. „Die sieht bestimmt mit 40 auch noch toll aus…“
„Bestimmt. Schön für sie“, lautete der eifersüchtige Kommentar aus der Küche. Alex schnippelte für
einen Salat, rechts den Abfall in den fast vollen Mülleimer, links die zerstückelten Paprika, Gurken
etc. Rechts, links, rechts links. Mechanisch arbeitete sie sich durch das Gemüse, während ihre
Gedanken bei Rita waren. Sie hatte sie vor Jahren kennen gelernt, eine tatsächlich atemberaubend
langbeinige Blondine ohne auch nur ein Gramm Fett zuviel, der bestimmt nicht einmal eine
Schwangerschaft figürlich zuschaffen machte. Eben eine dieser sauberen Blondinnen, die immer
perfekt frisiert und gutgelaunt herumliefen und denen scheinbar alles gelang. Dagegen fühlte sie sich
schon seit ihrer Kinderzeit dicklich und ungepflegt; denn ihre Haare standen ja oft buchstäblich zu
Berge. Und sie wusste, dass es Rita gewesen war, die sich von Matthias getrennt hatte, nicht
umgekehrt.
Das Messer auf dem Brett wurde energischer und die geschnittenen Stücke gröber, während sie vor
sich hinsinnierte. Dass solche Frauen dann auch noch so unkompliziert schwanger werden mussten,
gab es denn nichts, was sie nicht einfach einmal eben so nebenbei machten?
Rechts, links, rechts links. In ihren Gedanken hatte Alex nicht gemerkt, dass sie seit geraumer Zeit
den Takt verändert hatte. „Och nö, das kann doch nicht wahr sein!“ hörte Matthias aus der Küche
und wurde dadurch aus seinen Gedanken geschreckt. Als er Alex erreichte, sass diese auf dem Stuhl
in der Küche und starrte in den Mülleimer. „Sag’ mal, wie blöd kann man eigentlich sein“, fragte sie
ihren Mann und zeigte auf den Abfall: Alex hatte die Gemüseabfälle in die Marinade getan und das
geschnittene Gemüse in den Abfall geworfen. Sie guckte unglücklich, und Matthias lachte los und
nahm sie in den Arm. Seine Laune konnte durch den scheinbaren Verlust des Abendessens nicht
getrübt werden, das stand fest.
„Ach Schatz, du bist süss! Dass ich erleben darf, dass dir etwas daneben geht; sonst ist immer alles
perfekt bei dir.“ Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. Plötzlich musste auch Alex lachen, er hatte
gesagt, bei ihr sei immer alles perfekt. „Meinst du das im Ernst? Ich meine, das mit dem perfekt
Sein?“
„Na klar, dir gelingt immer alles, ist ja schon beängstigend. Komm, jetzt sorge ich für das Abendessen:
Ab zum Italiener! Ich lade dich ein, wie in alten Zeiten.“ Er gab ihr einen weiteren Kuss und holte
ihren Mantel. Alex fühlte sich wie im siebten Himmel: Er sah sie als perfekt an! Das hätte sie nie
gedacht, sie dachte immer, alles sähe bei anderen so einfach aus, nur bei ihr nicht.
„Echt, sieht das bei mir immer so aus?“
„Was?“
„Naja, so einfach mal nebenbei?“
„Ja klar, was denkst du denn? Komm, wir gehen.“ Kurz darauf sassen beide im Kerzenlicht bei ihrem
Lieblingsitaliener, zwei Prosecco zur Begrüssung waren bereits am Eingang von Matthais geordert
worden und nun wurde die Karte wie immer studiert. Allerdings nahmen sie dann auch fast immer
das gleiche, also wäre es auch ohne Karte gegangen. „Einen grossen Vorspeisenteller, einmal
Linguine mit Venusmuscheln…“, Matthias zwinkerte Alex verschwörerisch zu “… und einmal Filetto
Firenze, dazu ein grosses Wasser und ein halber Liter trockenen Rotwein“. Er lächelte seiner Frau
verliebt zu. So hatten sie lange nicht im Restaurant gesessen. Wie hübsch sie im Kerzenlicht aussah!
„Das sollten wir viel öfter machen, findest du nicht.“
„Stimmt, wir haben uns ganz schön vernachlässigt, ich meine, uns als Paar, oder?“
Statt einer Antwort nahm Matthias die Hand von Alex und drückte sie liebevoll. Und seiner Frau
stiegen vor Rührung die Tränen auf, das hatte er lange nicht getan.
„Prosecco…“ unterbrach der Ober vorsichtig. Als Italiener verstand er etwas von der Liebe, und es tat
ihm leid, die Stimmung zu stören.
„Prost, meine Traumfrau, auf eine weiteren gemeinsamen Weg…“ Matthias schaute ihr tief in die
Augen.
„Prost, mein Schatz, ja auf einen gemeinsamen Weg.“ Die Gläser klangen - zwar nicht wie
Kristallgläser – aber doch wie Musik in beider Ohren.
Am Nebentisch nahm ein Pärchen Platz. Anders als Matthias, der Alex noch nach diesen langen
Jahren den Stuhl an den Tisch heranschob, setzte sich der Mann ohne seine Begleiterin zu fragen,
welchen Stuhl sie bevorzugte, auf den psychologisch angenehmeren Platz: mit dem Rücken zur Wand
und dem Blick in den Raum. Seine Partnerin musste sich mit dem Rücken zum Gästeraum setzen.
„Was willst denn?“ fragte er, noch ehe sie Zeit hatte, die Karte zu studieren. Alex und Matthias
schauten sich in übereinstimmender Weise an, blinzelten und grinsten. Das versprach ein
interessanter Abend zu werden. Sie liebten es beide, andere Menschen beobachten.
„Hast du eine Ahnung, wie die Ente hier ist?“ fragte die Frau am Nebentisch ihren Partner vorsichtig.
„Nee, aber ich habe letztens eine im Konsum gegessen, war voll eklig, kann ich dir nicht empfehlen.“
Alex lachte nun in sich hinein. Den kausalen Zusammenhang der Ente im Konsum mit der beim
Italiener fand sie zu komisch, doch die Frau am Nebentisch nickte zustimmend.
„Haste Recht, und was ist bei diesen Vorspeisen dabei?“
„Bestimmt so Zeug wie Kraken in Essig und Rindfleisch mit Thunfisch. Kannst du dir vorstellen, wie
das schmecken muss. Widerlich, diese Vorstellung.“ Es folgte ein Kommentar über alles, was die
italienische Küche zu bieten hatte und was - richtig zubereitet- den Gaumen von Gourmets erfreut:
Carpaccio war ja rohes Fleisch und somit sicher nicht zu geniessen, Mozzarella war Büffelkäse und
daher konnte man den kaum essen, Scampis wurden als Krabben verächtlich heruntergespielt, weil
die bestimmt in Mayonnaise serviert und somit salmonellenverseucht waren. Es erfolgte eine
detaillierte Beschreibung einer Salmonellenvergiftung mit allen Symptomen. Dennoch, die Gattung
„Pizza“ fand Gnade vor den Augen des Paares, und als der dezent abwartende Ober nach der
Bestellung fragte, hatte sich das Paar für Pizza Salami und Pizza Arrabiata entschieden.
„Ist doch immer wieder ein Genuss, italienisch essen zu gehen“, sagte der Mann überzeugt als Mann
von Welt.
„Was du alles weisst. Du Kennst ja jedes Gericht“, kommentierte seine – offensichtlich - Freundin und
schaute ihn bewundernd an.
„Das wird ein schöner und informativer Abend“, erhob Alex das Glas und prostete ihrem ebenfalls
lachenden Ehemann zu.
Folge 87
Kurz darauf servierte der Ober Alex und Matthias den Vorspeisenteller, der alles enthielt, was das
Herz des Fans italienischer Küche erwärmt; es reichte von Vitello tonnato, das Alex besonders wegen
seines feinen Thunfisch-Geschmackes liebte, über mit Käse überbackene Pilze bis zu Blattspinat mit
leichter Knoblauchnote. Und in der Mitte des Tellers prangten Frutti di Mare, wobei die BabyCalamaris in ihrer Form schön ausgeprägt waren. Das Paar am Nebentisch begann ungeniert zu ihnen
hinüberzustarren, oder besser: auf ihren Teller. Beide, Alex und Matthias, griffen herzhaft zu und
hielten sich mit einen „Mann, ist der wieder lecker“ oder “Hast du schon das hier probiert“ trotz der
offensichtlichen Neugierde des benachbarten Paares nicht zurück. Sie genossen das Essen einfach in
ganzen Zügen.
„Die Frutti di Mare iss’ du lieber, ich halte mich da zurück, der Eiweissgehalt soll ja gut sein für
Männer…“ sagte Alex scherzhaft.
„Echt? Her damit…. Kann man damit was auffüllen?“ Matthais lachte und schob sich genüsslich einen
Scampi zwischen die Zähne, wobei der ihn sichtbar zubiss und sich dann die Lippen leckte. „Hmm…
wirkt schon…“ Er schaute seine Frau liebevoll an. Wer weiss, wie der Tag noch enden würde.
„Ja, ich habe einmal gelesen, dass der Eiweissgehalt von Fisch und anderem Meeresgetier die
Manneskraft verstärkt. Ist ja auch kein Wunder bei dem Eiweissverlust, den ihr manchmal so
hinnehmen müsst…“ Alex hatte die Stimme gesenkt; ihr war nicht verborgen geblieben, dass das
Gespräch am Nebentisch wie zuvor bei ihnen weitgehend verstummt war und insbesondere der
Mann scheinbar seine Antennen zu ihnen ausgerichtet hatte. Zweimal hatte seine Begleiterin ein
erneutes Gespräch angefangen, doch sie hatte beide Male keine Antwort erhalten.
„Ist schon schade, dass das so wenige Männer wissen, die lassen sich ganz schön was entgehen“,
grinste Matthias schon etwas lauter. „Was meinst du, warum ich die Linguine mit den
Venusmuscheln genommen habe, mein Schatz.“ Er prostete Alex erneut zu und warf ihr einen
leichten Kuss zu. Alex fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und erwiderte den Kuss. Sie genoss die
leichte Art, wie sie sich über ihren Tischnachbarn lustig machten; diesem Herren wurde nämlich
sichtlich wärmer, und ob seiner neuen Erkenntnisse über die italienische Küche nahm er nun schon
zum zweiten Male die Karte in die Hand und begann diese unsicher zu studieren.
„Bedienung!“ sagte er dann plötzlich laut, so dass alle nahe sitzenden Besucher des Restaurants
förmlich zusammenschraken. Der Ober kam geräuscharm und freundlich an den Tisch.
„Prego, Senor?“
„Ich will doch keine Pizza. Haben Sie nicht was so richtig aus dem Meer?“ fragte der verunsicherte
Gast.
„Ma certo. Ich kann Ihnen da einen gegrillten Calamaris empfehlen, mit Röstkartoffeln und Gemüse
der Saison.“
„Ist das so Fisch?“
„Nicht ganz, aber aus der Tiefe des Meeres und sehr gesund.“ Er zwinkerte dem Gast verständnisvoll
zu, so dass dieser aufatmete.
„Gut, nehme ich. Und das Gemüse hat bestimmt auch Vitamine?“
„Sicher, sehr viel sogar, besonders der gedünstete Chicoree.“ Mit diesen Worten nahm er die
Bestellung auf und eilte in die Küche, um die Pizza zu stornieren. Und der Gast lehnte sich weit in
seinem Stuhl zurück und schaute seine Freundin begierlich an. Er taxierte sie und schien zu
überlegen.
„Siehst super aus heute, mein Sonnchen…“ hob er an. Sie sah ihm verliebt in die Augen und rückte
ihre Kleidung zurecht. Das enge Shirt zeigte ihre Rundungen nur zu gut, und ihre Hüfthose liess eine
im Sitzen entstehende kleine Speckrolle sichtbar werden.
„Meinst du?“ fragte sie unsicher und hätte beinahe eine Haarsträhne genommen, um sie in den
Mund zu nehmen, doch wurde ihr in letzter Sekunde ihre Umgebung bewusst und sie warf die
Strähne nach hinten.
„Hehem. Steh’ total auf dich heute.“
„Ach Tobi, du bist süss.“ In diesem Augenblick kam zumindest ihre Pizza, und der Ober entschuldigte
sich, dass der Calamaris noch einen Augenblick dauern würde, er wollte aber die Pizza ganz frisch
servieren.
Alex und Matthias beobachteten die Szene mit Genuss. Sie hätten sich beinahe die Stühle anders
hingestellt, um kinomässig besseren Blick zu haben. Ab und zu sagte der eine oder die andere etwas,
um sich den Schein des Gespräches zu geben, doch im Grunde waren sie zu abgelenkt. Und da sie auf
den Hauptgang warteten, war das zeitlich auch zu verschmerzen. Am Nebentisch ging das Geplänkel
weiter, „Tobi“ sonnte sich weiter in der Bewunderung seines Sonnchen, die eigentlich Sonja hiess,
wie dem Gespräch zu entnehmen war. Sonja erzählte herzhaft kauend von ihrem Erlebnis im
Nagelstudio. Bei dieser Gelegenheit schaute Alex neidisch erst auf die Finger von Sonja, die makellos
gepflegt und mit langen farbigen Nägeln versehen waren, und dann auf ihre eigenen, denen man
deutlich ansah, dass sie die Küche selbst sauber hielt.
„Matthias, da würde ich auch gerne einmal hin..“ sagte sie leise und sah ihren Mann auffordernd an.
Und es klappte, Matthias erklärte sich sofort bereit, sie dazu einzuladen. Allerdings fügte er
schmunzelnd hinzu: „Aber nun mach nicht alles nach, was sie macht, vielleicht erzählt sie gleich noch
von ihrem Steiss-Tatoo…“ Doch das war gar nicht nötig, kurz darauf erhob sich Sonja, weil sie – wie
sie laut erzählte – sich die Nase pudern wollte. Dabei lachte sie und fügte hinzu, sie müsse sich ein
Stück Salami aus den Zähnen puhlen, Tobi müsse sie entschuldigen. Und als sie sich abwandte, hielt
sie Matthias ein Elchgeweih fast direkt vor die Nase. Somit war auch dieser Punkt geklärt. Alex
konnte sich das Lachen nicht mehr verkneifen und nahm schnell ihre Serviette, um einen
Hustenanfall vorzutäuschen.
„Soll ich dir auf den Rücken hauen, Liebes“, fragte Matthias ironisch. Auch er musste lachen, so reine
Klischees fanden sich nur selten am Nebentisch.
Sonja war auf dem Örtchen, als der Ober endlich den Calamaris brachte. Tobi schaute auf den Teller,
auf dem sich ein fangarmloser Tintenfisch von etwa 15 cm Länge befand, leicht angeröstet und
gesalzen. Auf einem separaten Teller lagen Röstkartoffeln und verschiedene gedünstete Gemüse.
„Was ist das denn?“ fragte Tobi angeekelt. Der Ober erläuterte ungerührt, dass dies der bestellte
Calamaris sei, somit höchst eiweissreicher Tintenfisch. „Nee, nee, mein Guter, das können Sie gleich
wieder mitnehmen, ich hatte Fisch bestellt. Ist ja ekelhaft… so was esse ich nicht. Fisch,
comprende????“ Der Ober holte einmal tief Luft und zeigte dann südländische Gelassenheit; er
wusste, dass Argumentieren an dieser Stelle ergebnislos bleiben würde. Mit einer grossen Geste und
einem würdevollen Gesichtsausdruck nahm er servil den Teller und ging erneut hinaus.
„Ach Tobi, immer noch kein Essen?“ fragte Sonja, als sie zurückkam. Sie zeigte Tobi zur Kontrolle kurz
ihre weissen Zähne.
„Du, der Ober wollte mich reinlegen, aber nicht mit mir…“ Er erläutete in schillernden Farben, er den
Ober zur Rede gestellt hatte. Und dass er gleich seinen Fisch bekommen würde. Nur wenige Minuten
später kam der Ober zurück und stellte ebenso ungerührt einen Teller mit fünf etwa 12 cm langen
Fischschnitten vor Tobi.
„Siehste, es geht doch, man muss nur hartnäckig genug sein… “triumphierte dieser und begann zu
essen. „Hmmm…, so muss Fisch schmecken“!, murmelte er vor sich hin.
Alex konnte es kaum fassen, und sie raunte Matthias zu: “Das glaub ich nicht. Wenn ich es nicht
besser wüsste, würde ich sagen, es sind Fischstäbchen ohne Panade.“ Sie gluckste vor sich hin, und
dabei fing zufällig der Ober einen ihrer Blicke. Und dieser schloss für einen Bruchteil der Sekunde sein
linkes Auge und stand dann wieder unbeweglich und ungerührt am Rande des Geschehens. Alex
nutzte erneut die Serviette zur Ablenkung und keuchte nur: „Schatz, lass uns das Essen einpacken
lassen, wir essen zuhause weiter, ich kann nicht mehr.“
Matthias hatte seine Frau nun schon geraume Zeit beobachtet, und jetzt ging ihm ein Licht auf: „Sage
mal, Alex, du bist so gut drauf, bist du geschlechtsreif?“
Alex schaute ihn eine Sekunde stumm an, ehe sie begriff, was er meinte, beugte sich vor und sagte
unter grössten Schwierigkeiten: Ich bin seit mehr als 25 Jahren geschlechtsreif, mein Schatz…. Ich
muss hier raus, sonst platze ich“. Und mit diesen Worten schnappte sie sich ihren Mantel und ihre
Tasche und stürmte ins Freie, wo man nur noch ein lautes Lachen hörte.
Folge 88
Dass der Abend für beide ein wunderbar entspanntes Ende hatte, war vorherzusehen. Nachdem sie
in Ruhe und ohne neugierige Blicke das mitgenommene italienische Essen – zwar erwärmt aber
immer noch sehr lecker – genossen hatten, zog sich Alex für einen kurzen Augenblick zu Klothilde
zurück und prüfte den Muttermund. Und hier fand sie bestätigt, was Matthias so schön auf den
Punkt gebracht hatte: Ihre monatliche Geschlechtsreife kündigte sich an.
„Also, mein Schatz, wenn ich meine Goldene Pforte schon einmal soweit geöffnet habe…“ mit diesen
Worten und mit einem zufriedenen Zwinkern biss sie ihrem Mann zärtlich ins Ohrläppchen und nahm
ihn mit ins Schlafzimmer.
Beide genossen den Abend und ihre Gemeinsamkeit. Und bevor Matthias schlaftrunken in Morpheus
Armen sank, sagte er noch: „Ehe ich es vergesse, wir müssen noch ein Geburtstagsgeschenk für
Jürgen kaufen. Das machst du doch morgen, oder? Feier ist Samstag…“ Alex nahm dies wie üblich zur
Kenntnis: Sie hatte fast immer die Führungsaufgabe, für Geschenke kurzfristiger Art zu sorgen, weil
ihr Mann dazu ja nie Zeit hatte – oder finden wollte. Also folgte nur ein bestätigendes Grunzen und
beide schliefen.
Drei Tage später fand sich das Paar unter lauter Freunden und Bekannten wieder, die den Jubeltag
von Jürgen gebührend begossen. Typischerweise rotteten sich die Männer an einer Ecke und die
Frauen an einer anderen Ecke des Raumes zusammen, wobei sich ab und zu beide Geschlechter
munter an den Tischen mischten, um sich dann wieder ordentlich zu sortieren. Es war ein lustiges
Treiben, und über den Raum hinweg prosteten sich Matthias- mit einer Flasche Bier in der Hand –
und Alex mit einem Glas Sekt in Einhelligkeit zu.
Nach und nach stieg der Alkoholpegel der Gäste, und es war allen bekannt, dass Bernd, ein alter
Freund des Gastherren, unter dem Einfluss von Alkohol wegen seiner lauten Stimme ein Fall für
jeden Lärmschutzbeauftragten wurde. Bernd dominierte alles um ihn herum, und je lauter die
Stimme, je höher der Alkoholgehalt seines Blutes, desto geringer die Schamgrenze seiner Wortwahl.
Und - wie immer, wenn er da war – platzte irgendwann die Bombe, durch den ganzen Raum schallte
es: „Das ist doch zum Kotzen, ich krieg’ meine Alte nicht fett!“ Alex verstand den Satz zunächst gar
nicht, da sie „seine Alte“, also seine angetraute Ehefrau Monika, nicht gerade für super schlank hielt,
und sie auch nie gedacht hätte, dass Bernd auf dicke Frauen stand, bis die weitere Erläuterungen des
Betrunkenen hier Abhilfe schaffte: „Wir treiben es auf jede Weise, aber es klappt nicht.“ Es folgten
deutliche Bewegungen von Hand und Unterarm, die sich bis zur Schulter hinauf fortführten. Und es
folgten auch wortgewaltige Beschreibungen, was man alles tat, um fett zu werden.
Aber wozu waren Freunde da, aus der Reihe der umstehenden Männer kam weiterer Rat: „Dann
musst du sie mal richtig von hinten übers Parkett, bis die Knie bluten…“ lautete die Anweisung. An
dieser Stelle mischte sich eine bekennend kinderwunschlose Anwesende ein: „Naja, und dann an den
Beinen aufhängen, damit… na ja, ihr wisst schon.“
Gut, das war also geklärt, aber Bernd war trotz dieser fundamentalen neuen Erkenntnisse noch nicht
zufrieden. „Quatsch, ich habe ja schon alles versucht.“ Seine Frau grinste bierselig und ein wenig
dümmlich zu diesem Thema. „Ich habe ja schon einmal die Champions League erreicht, aber nun will
es nicht klappen. Das liegt bestimmt an diesen Sch… Zigaretten, da steht ja drauf, dass die impotent
machen. Und da habe ich extra aufgehört, und nun geht gar nichts mehr. Am besten, ich fange
wieder an…“ Bernd sinnierte vor sich hin, und dabei fiel sein Blick auf eine der Umstehenden, die er
focussierte.
Er trat auf sie zu und schlug ihr auf die Schulter: „Na, Karin, und du? Willst du nicht auch endlich
Kinder?“ Nun hatte Karin noch bis ein Jahr zuvor einen Gatten gehabt, der in ähnlicher Weise
unsensibel gesagt hatte, Kinderzeugen könnte ja wohl jeder, und der jedem seinen Rat und seine Tat
in der Hinsicht angeboten hatte, doch dieser war spürbar ruhiger geworden. Karin öffnete den Mund
und stammelte etwas von „Zur Zeit nicht“ und versuchte, sich dem Eindringen in ihre Intimsphäre zu
entziehen. Und sogar eine ihrer Freundinnen, die wusste, dass Karin seit mehr als zwei Jahren jeden
Monat eine herbe Enttäuschung mit der Mens erlebte, sprang hier hilfreich zur Seite: „Quatsch,
Bernd, Karin ist doch noch jung…“
Bernd schaute Karin ganz dicht ins Gesicht und polterte los: „Die und jung? Die alte Schnepfe? Die
muss sich beeilen, sonst ist der Zug abgefahren…“ Karin war immerhin 32 und somit ein Jahr jünger
als Monika.
„Ich kann das Grossmaul nicht ab, das sollte man ihm mal stopfen“, raunte ihr da Matthias ins Ohr
und bot ihr ein frisches Glas Sekt an. „Ich bin bloss froh, dass wir den nicht öfter ertragen müssen,
wie dumm kann ein Mensch denn sein, dass er sich so aufführt?“ Er schüttelte den Kopf.
„Männer können doch ekelhaft sein, oder?“ fragte Alex. Und Matthias antwortete mit einem
verschmitztem Lächeln: „Naja, seine Alte hat sich ja auch nicht gerade als hochgeistig dabei
erweisen; ich vermute mal, du hättest mir zwischen die Beine getreten, wenn ich dich so blossgestellt
hätte, aber sie hat nur blöd gegrinst.“
„Und ich bin mit dir zusammen, weil ich weiss, dass du mich nie so behandeln würdest.“ Und mit
diesen Worten nahmen sie Glas und Bierflasche, prosteten sich in trauter Übereinstimmung zu,
stellten die Getränke ab und nahmen still und leise ihre Jacken. Zuhause war es doch schöner, und
einen Samstagabend musste man sich ja nicht durch Primitivität vermiesen lassen. Selbst von
draussen hörten sie Bernd, wie er weiter seine Eheprobleme und seine mögliche Abhilfe diskutierte.
Alex schmiegte sich nur noch enger an ihren Mann: Mochten sie auch noch so viele Probleme haben,
die übereinstimmende Bewertung dieses Vorfalles hatte ihr doch klar gemacht, dass sie in vielem
einen Gleichklang der Gedanken hatten, und das beruhigte sie sehr.
Folge 89
Ihre vor-ovulatorische Hormonhochlage bestimmte den Abend weiter: Alex ass das eingepackte
Essen gemütlich bei Kerzenlicht im eigenen Heim, im Hintergrund spielte erneut Kuschelrock und
beide Partner schauten sich verliebt an. Es hatte den Anschein, als würde der Kinderwunsch sie nun
doch endlich näher zueinander bringen. In Gedanken versunken begann Alex dann zu rechnen.
„Sag’ mal, Schatz, wann gehst du zum Spermiogramm?“
„In knappen sechs Wochen…“ Matthias ass weiter, sichtlich beruhigt, dass er seiner Frau etwas
vorzuweisen hatte.
„Das geht nicht…“ kam dann plötzlich von seiner Angebeteten. Ihm blieb fast der Bissen im Munde
stecken.
„Wieso das denn nicht?“
„Weil, wenn sich mein Eisprung auch nur minimal verschiebt, genau dann das Ei springt, wenn du
nicht darfst, um 5 Tage deine Männlichkeit zu sammeln für das grosse Event.“
Matthias schaute sie verständnislos an.
„Mensch, du darfst 5 Tage vorher keinen Sex haben, und die Schwimmer brauche ich nun mal für
mein Ei. Und wenn du nicht kannst, dann ist der ganze Zyklus verschenkt. Kannst du dir vorstellen,
wie das wäre? Vier weitere Wochen warten, ohne Hoffnung?“ Alex schaute ihren Mann bittend an.
„Okay, dann verschiebe ich den Termin eben,“ sagte er grossmütig. „Vielleicht haben die ja eine
Woche später noch eine freie Stunde für mich…“
„Geht es nicht vorher, so in drei Wochen? Da habe ich eh’ noch meine Tage, da läuft doch gar
nichts…“ warf Alex ein.
„Nee, alles dicht, die haben mich jetzt schon zwischengeschoben, ich musste es schon dringend
machen.“ Nicht, dass Matthias schwindeln wollte, er hatte wirklich das Gefühl, dass er gegen Mauern
angelaufen war, um den Termin zu ergattern; dass diese Widerstände nur in ihm begründet lagen,
nahm er gar nicht mehr wahr.
„Ach menno, aber immerhin. Und ich mache in der Zeit das Monitoring…“ sinnierte Alex vor sich hin.
Matthias verstand zwar nicht, wovon sie sprach, aber er nickte begeistert und unterstützend.
Der Abend verlief wie die Hormone es in der Evolution so eindrucksvoll manifestiert hatten. Doch so
um 3 Uhr morgens wachte Alex auf, da sich das Wasser des Abendessens bemerkbar machte. Hinund hergerissen, ob sie nun gehen sollte oder noch ausharren konnte, lag sie wach. Der Persona
würde erst in 2 Stunden einen Test fordern oder überhaupt zulassen, und diese Tests sollten ja nicht
älter als 15 Minuten sein, wenn man sie verwendetet. Würde aber der Urin ab 3 Uhr ausreichen, um
das Eisymbol auszulösen? Sie konnte es wohl kaum darauf ankommen lassen, das zu verpassen, denn
wer weiss, was der Persona am nächsten Tag zeigen würde, und nachher würde sie eisymbollos den
Zyklus verbringen?
Doch Alex war ja eine erfahrene Testerin, im Bad angekommen, angelte sie eines dieser
schmucklosen Schnapsgläser heraus, das nun schon seit langem für das kostbare Nass der Testung
benutzt wurde. Das wurde gefüllt und dann versteckt hinter der Badezimmerdeko auf dem
Fensterbrett deponiert, dort, wo sich auch die zusätzlichen Toilettenpapierrollen befanden. Doch die
am Halter war noch voll, so dass keine Gefahr drohte. Alex kroch befriedigt über ihre Schläue ins Bett
zurück.
Die ersten Strahlen weckten Matthias, der liebevoll seine Frau neben sich betrachtete. Sie hatte ja
Recht, ein Kind von ihr würde sein Leben krönen. Eine Welle von Zärtlichkeit überkam ihn, und er
fühlte sich ein wenig schuldig, dass er ihr diesen Wunsch noch nicht hatte erfüllen können. Auch
wenn er sich sicher war, dass es nicht an ihm lag – nein, er schob die Schuld nicht seiner Frau zu, nur
war sie eben als Frau ja auch nicht ganz jung und wer weiss schon, was dann im weiblichen Körper
passiert, und schliesslich war es ja auch gar keine Frage von Schuld – so wollte er doch alles, oder fast
alles, tun, um ein Kind zu haben. „So einen Max…“ Der Kleine hatte ihn innerlich voll im Griff.
Mit zerzaustem Haar wankte Matthias ins Badezimmer, und entgegen seiner Gewohnheit, sich
hinzusetzen, blickte er sich prüfend um, ob Alex wach war und ihn ertappen konnte, und tat dann im
Stehen das, was Frauen so hassen. Und da er sich aus dieser aufrechten Haltung hätte bücken
müssen, um an das Papier zu kommen, angelte er hinter die Deko, um eine neue Rolle zu öffnen: Das
konnte er nämlich, ohne seine Haltung zu verlieren. Dass er dabei versehentlich mit dem Papier an
das Schnapsglas stiess, das dadurch umgestossen und dessen Inhalt nach Zurückstellen der Rolle
genau dorthin kam, wo es eigentlich hingehörte, nämlich ins Papier, merkte er gar nicht. Und dann
schlappte er, nachdem er sich ordnungsgemäss die Hände gewaschen hatte, in die Küche, um seiner
Liebsten einen Kaffee aufzusetzen.
Folge 90
„Guten Morgen mein lieber Schatz, der Kaffee ist fertig!“ Liebevoll flüsterte Matthias Alex die Worte
in ihr Ohr und gab ihr den üblichen Morgenkuss auf die Wange. Beide liebten dieses Ritual und
hätten nie darauf verzichtet. Selbst im Hotel organisierte Matthias diesen Kaffee, der für Alex immer
der angenehme Einstieg in den Tag war.
„Ach, du bist so süss…“ murmelte sie und zog ihn dann zu sich, um den Kuss zu erwidern. Kurze Zeit
später sass sie wohlig eingemummelt im Bett und trank das köstliche Rauschmittel.
„Sag mal, weisst du, dass Kaffee ein tödliches Gift sein kann?“ fragte sie Matthias beiläufig.
„Naja, dass es nicht gut für den Organismus ist, wenn man zuviel davon trinkt, weiss ich, aber dass er
tödlich sein kann…“
„Ja, wenn du 100 Tassen starken Kaffee in einer Stunde trinkst.“ Alex wollte sich vor Lachen
ausschütten und Matthias stimmte mit ein. „Vermutlich wäre das bei Tee aber auch nicht viel
anders…“
„Ups, ich muss ins Bad… komme gleich wieder, Schatzi“, sagte Alex mit einem Blick auf die Uhr. Es
war mittlerweile halb zehn geworden, und wenn sie den Test ausnutzen wollte, musste dies vor 10
geschehen, sonst war der Testzeitraum überzogen. Nun war guter Rat teuer, reichte die Zeit bis 3 Uhr
oder ab 3 Uhr, was sollte gelten?
„Ach, ich habe ja noch viele Stäbchen, ich nehme beide und dann sehe ich ja, wie sich was
entwickelt“, entschied Alex, wobei sie leise vor sich hin sprach. Als ihr das auffiel, musste sie lachen
und kam sich wie eine zahnlose Alte mit wirrem Haar aus einem Märchen vor. Doch der prüfende
Blick in den Spiegel zeigte eine komplette Zahnreihe und eine Frische, dass Alex aussah wie frisch
gebügelt. „Aha, dazu ist Sex also auch gut“, dachte sie befriedigt und fummelte den ersten Test aus
der widerspenstigen Umhüllung. Dann langte sie hinter die Deko. Nichts, das Glas war nicht, da, wo
es sein sollte. Alex stellte sich auf die Zehenspitzen und schaute nach – und da sah sie die Misere: Das
Glas lag umgestürzt dort, wo es eigentlich stehen sollte, und der Untergrund war feucht; im Glas war
praktisch kein Urin mehr. „Ach Mensch, das kann doch nicht wahr sein!“ entfuhr es Alex, und sie
kniete sich auf Klothilde, um besser sehen zu können. Tatsächlich, das Papier war wellig, es hatte also
Feuchtigkeit aufgesogen. Hatte sie das Glas nicht richtig hingestellt, als sie hinter die Deko gelangt
hatte? Phoebe, die war auch hier gewesen, und vielleicht war sie wie so oft auf das Fensterbrett
gesprungen, um von dort aus hinter das Rollo zu kriechen. Das würde schon erklären…. „Phoebe…
du.. achichweissnichtwas…“ Alex war enttäuscht. Sie war sich nun sicher, dass nur der erste Test
ausschlaggebend sein würde.
„Also gut, dann eben mit dem Rest“, entschied sie ergeben, nahm das Glas mit der geringen
Flüssigkeit und liess den Saugstreifen am Test sein Werk tun. Dann hielt den Vliesbereich etwa zwei
Minuten gegen das Toilettenpapier in der Hoffnung, dass sich noch eine Reaktion zeigen würde.
Doch auch 5 Minuten später tat sich rein gar nichts, der Test verweigerte jegliche Aussage. Also
musste nun der Frischtest herhalten. Doch als Alex sich der Porzellanabteilung hautnah nähern
wollte, zeigte ein kleines verräterisches Tröpfchen an falscher Stelle, dass Matthias seiner
Männlichkeit nachgegeben hatte. Und da Alex aufgrund der ab und zu frühzeitig angebrochenen
Toilettenrollen ermitteln konnte, was dann passiert war, wurde ihr schlagartig klar, dass es nicht ihre
Katze gewesen war, die den Test verpatzt hatte.
Es half nichts, das Frischmaterial musste genügen, sie hatte keine Wahl. „Parsi, komm, ich füttere
dich doch immer regelmässig, lass mich nicht im Stich“, betete sie sinnloserweise vor sich hin, als sie
den Test einlegte. Doch Parsi konnte eben nur das beurteilen, was er sah, nicht, was er hätte sehen
können, wenn der erste Test anders ausgefallen wäre: zwei gleichmässig starke Striche, und das nur
bei freundlicher Betrachtung, kritisch gesehen war sogar der linke Strich dunkler. Und das am Tag des
ersten Eisymbols!!! Und genau das erschien nun nicht, sondern nur ein weiterhin auf Rot gestellter
Persona.
Alex war zutiefst enttäuscht, sie hatte immer um diese Zeit den Eisprung, und nach ihrem Gefühl und
Zervixschleim zu urteilen musste der Eisprung heute sein. Oder morgen? Doch wenn er morgen kam,
dann war der LH-Spiegel morgen schon wieder unten und der Zykluscomputer würde den Hochpunkt
nicht ermitteln könne, denn der musste ja heute sein. Somit gäbe es kein Eisymbol! Auch der
Muttermund war so weit offen, wie er sein musste. Ihr hätten die Tränen kommen können, doch sie
riss sich zusammen und ging langsam zurück in das Schlafzimmer. Matthias schaute sie
erwartungsvoll an, er hatte sich diesmal die Tage einigermassen gemerkt, und wenn Alex morgens
mit einem triumphierenden Blick in das Schlafzimmer kam, dann war für gute Laune auf beiden
Seiten für mindestens drei Tage gesorgt.
„Und, alles klar?“
„Nein, natürlich nicht, bei einem Mann, der im Stehen pinkelt, kann das ja auch nicht klappen.“ Alex
brachte diese Worte giftig heraus und liess ihren Mann verstummen. Er war sich nun gar keiner
Schuld bewusst, nur, dass er generell natürlich versprochen hatte, eine sitzende Haltung
anzunehmen. Aber war schliesslich ein Mann!
„Ich glaube nicht, dass das eine mit dem anderen ursächlich zusammenhängt“, entgegnete er
defensiv.
„Und wie!“ brach es aus Alex heraus, die ihm spontan den Rücken zudrehte, als sie sich ins Bett legte.
Nun gab es eine einfache Methode, eine Frau, die so reagierte, zu trösten. Denn ihr ganzes Verhalten
zeigte ja, dass sie schlichtweg nun in den Arm genommen werden wollte. Aber – es war wie es war –
Männer denken nun einmal anders, und Matthias missverstand diese körperliche Haltung seiner
Frau. So sagte er nur: ,“Na dann eben nicht…“ und stand auf, während Alex im Bett lag und ihren
Tränen freien Lauf liess.
„Männer verstehen uns eben nicht“, brachte sie hervor und nahm Phoebe hoch, die mit grossen
Augen vor ihr stand. Das weiche Fell und das spontane Schnurren trösteten und wenige Sekunden
später schob Alex wie immer den Unterkiefer vor und sagte: „Na, du wirst schon sehen, wenn der
Eisprung jetzt war, dann habe ich jetzt wieder 26 Tage ohne…“ Ohne was, spezifizierte sie allerdings
nicht.
Folge 91
Alex schniefte noch etwas pathetisch vor sich hin. Ihre Gedanken kreisten um das fehlende Eisymbol
und die Statistik: Wenn sie nun ihren statistischen eisprunglosen Zyklus hatte – was ja noch gar nicht
bewiesen war – so konnte das natürlich auch ein Hinweis auf frühe Wechseljahre sein. Als sie etwa
28 war, hatte sie im Büro einmal den Scherz gemacht und sich Frischluft zugewedelt, und als dann
ein Kollege fragte, was war, hatte sie mit ernster Stimme gesagt: „Fliegende Hitze, das kommt so mit
den Jahren.“ Worauf dieser mitleidig geschaut hatte und sagte: „Ja, das kenne ich, das hat meine
Frau auch seit sie 35 ist.“ Damals hatte sie gelacht, aber sie hatte die Aussage nie vergessen. „Nicht
auch das noch“, sagte sie zu sich und vergrub ihre Nase in Phoebes Tigerfell.
„Noch einen Kaffee, Älchen?“ fragte Matthias vorsichtig und schob ihr eine weitere Tasse heissen
Kaffee vor die Nase; Phoebe musterte sein Tun feindselig und stand demonstrativ auf. „Ich will mich
doch gar nicht streiten. Und wenn ich das Klo… na ja, ich mache es gleich sauber, okay? Was ist
denn? So schlimm ist das doch nicht?“ Matthias war hilflos, und er bemühte sich redlich
herauszufinden, was diesen Gefühlsausbruch bei Alex hervorgerufen hatte. „Und ich rufe auch in der
Praxis an wegen des Testes meiner… du weisst schon, vielleicht geht es ja doch in drei Wochen,
okay? Nicht mehr böse sein…“ Er strich ihr mit der Hand über den Rücken und stupste sie leicht an.
Dem Charme ihres hilflosen und gutwilligen Mannes konnte Alex nicht widerstehen, sie drehte sich
zu ihm um und nahm ihn in den Arm. „Das machst du wirklich?“ Sie lächelte ihn an.
„Na klar, kein Problem, wenn ich dir damit eine Freude machen…“ Matthias wagte ein zaghaftes
Lächeln und drückte seine Frau. „Mensch, wir wollen doch das gleiche : ein Baby, oder? Da müssen
wir uns doch nicht streiten.“
„War doch nur, weil ich so enttäuscht war, weil das Eisymbol nicht kam, weil die Klorolle und das
Glas nicht mehr standen und so…“ Alex wusste, was sie meinte, Matthias nicht, aber er hatte seit
langem die Taktik, wenn seine Frau unzusammenhängend sprach, nicht nachzufragen, sondern nur
ein beruhigendes „Ja, aber jetzt ist es okay, oder?“ oder etwas Ähnliches zu sagen. In diesem Fall
murmelte er nur ein „Hmm“, weil er sich nicht ganz sicher war, ob Alex nicht erneut einen Ausbruch
haben würde, wenn er das Thema kommentierte. Keine Frage, erste Grundlagen des
Frauenverstehens begann er zu verstehen.
Und so lagen sie sinnierend erneut im Bett, tranken Kaffee und machten Vorschläge, wie sie den Tag
verbringen wollten. Matthias schlug die Sauna vor, aber Alex war sich nicht sicher, ob das so kurz
nach dem Eisprung – hier musste sie wieder schlucken, denn es erinnerte sie an ihr etwaiges
Ovulationsversagen – gut für den Körper war. Sie selbst schlug einen Spaziergang vor, den sie in
einem Cafe beenden wollten.
Kurz darauf bereiteten sie gemeinsam das späte Frühstück vor, als das Telefon klingelte.
„Hi Alex, tut mir leid, dass ich störe, aber sag mal, kannst du mir dein Thermometer leihen?“ fragte
Hannah. “Ich komme mir echt blöd vor, aber ich habe nicht gemerkt, dass mein Thermometer schon
seit drei Tagen kaputt ist. Es zeigt an, als hätte ich eine Erkältung. Und morgen will ich mir so ein
Thermometer mit Sprachanzeige holen, aber dazu muss ich ja aufgestanden sein, und dann kann ich
nicht mehr messen. Und zwei Tage aussetzen, das will ich auch nicht, das ruiniert mir ja meine
gesamte Kurve.“
„Klar kannst du meins haben. Und da gibt es echt so Teile mit Sprachfunktion?“ Sie verstellte ihre
Stimme: “Sie – haben – 35 Grad Temperatur – trinken- Sie- einen -Grog. Oder: Sie-haben- 37 Grad –
trinken- Sie- schleunigst – eine –eisgekühlte- Caipi… So ein Ding brauche ich dann auch!“ Alex lachte.
„Matthias und ich wollen sowieso einen Spaziergang machen, reicht dir der Nachmittag? Dann bringe
ich es dir vorbei, und wenn du nicht da bist, dann werfe ich es dir in den Briefkasten, verpackt
natürlich, bin ja nicht blöd.“
„Supi, dank dir, es macht mich immer irre, wenn meine Kurve nicht stimmt. Bist ein Schatz, bis dann“
Und mit diesen Worten legte sie auf und Alex wandte sich ihrem Mann erneut zu.
Folge 92
Der doch so kompliziert begonnene Tag setzte sich entspannt fort, Matthias wollte gerne an einem
seiner Motorräder schrauben, weil er eine Sonderzusatzteil auf einer Oldtimer-Messe gekauft hatte,
das nun unbedingt an seinen vorgesehenen Platz sollte. Und Alex hatte sich vorgenommen, sich
endlich an ihre Steuererklärung zu setzen, natürlich ganz in Ruhe.
Das tat sich dann auch, nur leider lockte das Bett im Raum sie dann so sehr, dass sie sich mit einem
neuen Buch dorthin zurückzog, wo sie prompt in tiefen Schlummer fiel. Am frühen Nachmittag
versuchte sie dann, Matthias über Handy zu erreichen, vergeblich, und als sie zu ihm in die Garage
gehen wollte, konnte sie schon von weitem die Silhouette von Jürgen erkennen, der an den Eingang
gelehnt genüsslich eine Flasche Bier köpfte. Beide Männer lachten.
„Oh, hallo Alex.“ Jürgen umarmte Alex flüchtig und verkniff sich ein Lachen. Damit war Alex einiges
klar: 1. Der gemeinsame Spaziergang war gestrichen. 2. Sie hatten einen Männerwitz gemacht 3. Ein
gemeinsamer Abend war auch gestrichen. Denn erfahrungsgemäss würde Jürgen nun stundenlang
bleiben, zwischen Witzen über Frauen, die weder er noch Matthias verstanden, über PS,
Umdrehungen, Spaltmasse, gespachtelte Sicken und so weiter diskutieren und ganz in aller
Gemütlichkeit ein Bierchen nach dem anderen zischen. Ein echter Männersonntag würde es werden.
„Ich wollte euch nicht stören, ich wollte nur fragen, ob wir den Spaziergang noch machen wollen,
aber ich sehe schon… ist aber nicht so schlimm, ich kann mich gut anders beschäftigen, geniesst eure
Zweisamkeit.“ Mit diesen Worten hauchte sie einem nach Motoröl und Bier riechenden Matthias
einen Kuss auf die Wange, winkte Jürgen und verschwand.
„Boah, du hast echt eine tolle Frau, Matze, andere hätten das nicht so akzeptiert“, sagte Jürgen. Und
Matthias sagte nur stolz zur Erklärung: „Naja, ist ja auch meine…“ und damit war der Fall erledigt und
der Geist wieder bei PS und Prozent.
Alex hingegen zog sich warm an und brachte Hannah das Thermometer. Die Sonne schien warm auf
ihren Rücken und ein paar vorwitzige Meisen riefen einander ihr „Zitzedäh“ zu. „Es wird Frühling“,
dachte Alex bei sich und freute sich an jeder Kleinigkeit, am schönen Wetter, an den Vögeln, an
freundlichen Gesichtern, die ihr entgegenkamen. „Vom Eise befreit sind Strom und Bäche, Mann, wie
ging das nur weiter…? Osterspaziergang im Faust, soweit so gut, aber der Text…“, grübelte sie etwas
unzusammenhängend vor sich hin. Und da war noch etwas, woran sie sich erinnern sollte, etwas,
worauf sie Hannah ansprechen wollte. Doch es fiel ihr nicht ein, und so plazierte sie das gut
eingepackte Thermometer in der Zeitungsrolle an Hannahs Briefkasten. Sie hatte zwar geklingelt,
doch aufgemacht hatte niemand, scheinbar nutzen Hannah und Thomas das schöne Wetter ebenfalls
aus.
„Egal, wir sehen uns ja auch morgen“, dachte Alex noch, als sie sich auf den Rückweg machte.
Der Tag verging wie im Fluge. Matthias kam gut gelaunt aus der Garage, zum Glück nur leicht nach
Bier riechend und sang kurz darauf lauthals unter der Dusche. „Wenn bei Capri des Maurers Capri im
Meer versinkt“, konnte Alex undeutlich verstehen. Sie verdrehte die Augen und dachte nur, dass sie
von Glück sagen konnte, dass er nicht das Kufsteinlied sang. In manchen Dingen unterscheid sich ihr
Geschmack deutlich.
Eine Stunde später lagen sie angekuschelt im Bett. Es war ja Sonntag und somit Tatort- Tag.
„Heute gibt’s wieder meine Charlotte“, schwärmte Matthias und deutete auf die Fernsehzeitung, auf
der Maria Furtwänglers Bild zu sehen war. „Tolle Frau..“
„Danke, mir gefällt Tobias auch gut – und Martin ist so einfühlsam“, konterte Alex spöttisch. „Meinst
du, dass das abfärbt, wenn man beim Fernsehen Sex hat und bestimmte Typen sieht? Also, würde
dann ein Kind schwul wie Martin – immer noch besser als Maddin fällt mir dabei ein – oder so toll
blond wie Maria oder so dick und unbeweglich wie der Benno werden?“ Alex lachte und stellte sich
das vor. Ein kleiner fetter Ottfried würde in ihr wachsen, welche unglaubliche Vorstellung. Wäre
bestimmt eine äusserst ruhige Schwangerschaft ohne jegliche Anzeichen, denn vor lauter Wachsen
könnte sich Otti ja gar nicht bemerkbar machen.
„Egal, Hauptsache ein Kind…“ hörte sie da von ihrem Angetrauten und fühlte sich zärtlich in den Arm
genommen.
Folge 93
Am nächsten Morgen musste Alex ins ihr Büro, die schöne Urlaubszeit neigte sich dem Ende zu und
ihr Chef hatte wegen dringender Projekte darum gebeten, dass sie kurz vorbei käme. Und wie es
dann so war, natürlich blieb Alex fast den ganzen Tag, klönte mit Kollegen, sah den wachsenden
Bauch von Frau Berthold und konnte sich ehrlich darüber freuen und genoss den Kontakt zu den
guten Bekannten dort. Vielleicht lag ihre gute Laune auch nicht nur am schönen Tag, sondern auch
daran, dass der LH-Test am Morgen zwar wieder kein Eisymbol hervorgerufen hatte, sie sich aber
aufgrund der Stärke bzw. Schwäche der Linien ganz sicher war – zumindest fast ganz – dass sie das
Eisprungsymbol nur aufgrund der widrigen Umstände mit der Klorolle verpasst hatte, nicht aber den
Eisprung selbst. Und auch das X im Kalender passte perfekt.
Der Tag verstrich angenehm, und um 18 Uhr stand Alex dann vor Hannahs Tür, um ihre Reise ins
Wellness-Land am nächsten Wochenende genau zu besprechen. Sozusagen wollten sie alle nichtigen
Details klären.
„Hallo Süsse, komm rein.“ Hannah öffnete die Tür weit in ihre gemütliche, wenn auch nicht sehr
grosse Wohnung. Es war ein Mischmasch aus alten und neuen Möbeln, Erbstücken von Tanten,
weissen Billi-Regalen mit zahlreichen Bildbänden und Künstlermonographien, gemütlichen alten
Teppichen und echten Ölbildern an der Wand.
„Magst du einen Sekt? Ich habe ihn schon offen.“
„Klar… gerne. Übrigens, da war noch was, ich wollte dich noch was fragen, aber ich komme nicht
drauf.“ Hannah lachte sie aus und machte sich über ihre Vergesslichkeit lustig.
„Mann, wenn das bei dir jetzt schon anfängt, dann sehe ich schwarz für deine Zukunft. Aber dass ich
Hannah heisse, das weisst du noch, oder?“ Sie lachte fröhlich.
„Du siehst echt gut aus heute, neue Creme für die Frau ab 30?“ Grinste Alex und streckte ihr die
Zunge raus.
„Prost, auf uns.“
„Auf uns.“ Und danach klönten sie eine Weile über das bevorstehende Wellness-Wochenende,
sprachen ab, wer fahren sollte, überlegten, was mitzunehmen sei und und und. Nach einer knappen
Stunde fiel Alex die Frage ein: „Mensch, jetzt weiss ich es, deine Temperatur, wie war die denn
heute?“
„Du, wo du es sagst, deine Thermometer ist genauso ein Versager wie meines, auch erhöhte
Temperatur…“ antwortete Hannah und kramte ihre Kurve hervor. Beide starrten auf das Blatt und
schauten sich dann an.
Schliesslich sagte Alex trocken: „Hast du mal an eine Test gedacht?“
„Nee, bisher nicht…“ sagte Hannah und starrte weiter auf den Strich, der so schön triphasisch
anstieg. „Und ich dachte, ich hätte vielleicht eine Infektion, von der ich nichts gemerkt habe, ich
Idiot.“
„Na, das kannst du ihr dann bei der Einschulung erklären. Los, jetzt wird getestet, wo ist der Test?“
„Hab’ keinen..“
„Was? Bist du wahnsinnig? Da willst du schwanger werden und hast keinen Test zuhause?“ Sie warf
einen Blick auf ihre Uhr.
„Komm, bis zu mir ist es zu weit, das halte ich nicht aus, aber deine Drogerie hier um die Ecke hat
doch die billigen Frühtests, oder? Nichts wie hin!“ bestimmte Alex, die schon aufgestanden war und
sich den Mantel anzog.
„Los, komm, die machen gleich zu…“ Nun kam Leben in Hannah, die teilnahmslos auf dem Sofa
gesessen hatte und ihre Kurve anstarrte. Und kurze Zeit später sah man zwei hektische Frauen die
Treppe hinunter stürmen, wobei sie sich noch den Schal umlegten und den Mantel schlossen.
Der Laden war nur um die Ecke, aber leider war es nach 19.00 Uhr- und somit war er geschlossen.
Doch es brannte noch Licht, und Alex, ganz beherzt, klopfte laut an die Tür, während Hannah sie
zurückhalten wollte mit einem „Nee, lass man, die arme Verkäuferin…“ Doch zu spät, die Zitierte
schrak Böses ahnend zusammen, als hätte sie einen Einbrecher gesehen. Realistisch betrachtet lag
diese Vermutung ja auch nicht allzu fern um jene Zeit. Beim Anblick der beiden Gestalten stand sie
aber gutmütig auf und kam zur Tür.
„Bitte, wir MÜSSEN noch mal rein.“ Sagte Alex und machte eine flehende Geste. Ein Kopfschütteln
und ein Fingerzeig auf die Uhr waren die Antwort. „Bitte, wir brauchen GANZ DRINGEND noch
etwas.“ Alex zeigte in die Abteilung, die mit dem Schild „Damenhygiene“ ausgewiesen war. Welche
Frau kennt nicht die Pein, dringend Damenhygiene zu benötigen und diese nicht zu bekommen? Ein
verständnisvoller Gesichtausdruck, begeleitet von einen „Na gut“, wurde hörbar, als der Schlüssel
das Schloss bereits entriegelte. Wie Junkies, die den nächsten Schuss brauchen, stürmten Alex und
Hannah in das Geschäft, vorbei an allen Alkoholika, um dann beratend vor den Kondomen und den
Schwangerschaftstests zu verharren.
„Na, schon gefunden?“ tönte es aus dem Hintergrund. „Nehmen Sie ruhig die Hausmarke, die ist sehr
gut“, fügte die freundliche Verkäuferin gutmütig an.
„Haben schon alles“, sagte Alex und nahm 5 Schwangerschaftstests ab 15 Einheiten vom Haken. „Die
sollten reichen…“ bestimmte sie zur errötenden Hannah gewandt und hastete zur Kasse.
„Danke, das war echt ein Notfall“, informierte sie die erstaunte Drogerieangestellte, die dann mit
flinken Fingern und wachsendem Verständnis den Betrag eintippte. „Na dann viel Glück, so oder
so…“ sagte sie zum Abschied, und schloss – sich ein wenig ängstlich nach echten Einbrechern
umschauend- endgültig hinter ihnen die schwere Ladentür.
„Boah, Schwein gehabt, das war nett“, sagte Alex, als sie triumphierend die Tests schwenkend nach
Hause gingen – oder eher hasteten, denn mit beider Ruhe war es vorbei. Und kurze Zeit später sahen
sie mit steigender Spannung erst einen, dann einen weiteren Strich auf drei Teststreifen erscheinen,
zwei waren für den nächsten Tag oder zur Nachkontrolle.
„Ich bin schwanger“, sagte Hannah tonlos.
„Mensch, du bist echt schwanger!“ sagte Alex und umarmte Hannah stürmisch. „Und du hast es
wirklich verdient!“
Folge 94
„Tja, Mädel, dann war das wohl dein letzter Sekt für schlappe 36 Monat zuzüglich Stillzeit von sagen
wir 3 Monaten, macht 45 Wochen- hört sich grauenhaft an, aber du schaffst das.“ Alex gab Hannah
einen liebvollen Knuff und trank deren Glas auf Ex aus.
„Ja, diesmal geht es bestimmt gut, eine zweite Fehlgeburt wäre ja auch unwahrscheinlich, so was
passiert nur einmal“, sagte Hannah voller Überzeugung und goss sich Orangensaft ein. „Den darf ich
doch, oder?“ fragte sie dann unsicher.
„Klar, nur wenn das Baby dann da ist, soll man den nicht trinken, weil viele Babies davon wunde
Pöter bekommen – glaube ich zumindest.“
„Na dann prost. Ich kann es noch gar nicht glauben.“ Ein Strahlen ging über Hannahs Gesicht.
„Mensch, ich bin wirklich schwanger.“
„Klar. Und wenn du das jetzt wieder geschafft hast, dann schaffe ich das auch bald, ich war ja schon
etwas frustriert, aber nun habe ich neue Hoffnung. Boah, ein Baby, und ich war beim
Schwangerschaftstest life dabei.“ Sie sinnierte vor sich hin. „Du, ich habe noch nie einen positiven
Test gesehen, auch komisch, was? Ist schon toll, wenn der zweite Strich da erscheint. Und jetzt musst
du nur noch die paar Wochen abwarten, und dann ist echt was los in der Bude hier – zu Weihnachten
seid ihr zu dritt.“ Sie schaute ein bisschen traurig.
Hannah sah das und sagte: „Das wirst du auch bald sein, wenn nicht Weihnachten, dann doch
bestimmt zu Ostern. Und dann schieben wir gemeinsam die Kinderwagen und unsere Kinder
wachsen zusammen auf. Mann, das wäre ja so schön, ich würde dir das auch so wünschen.“ Sie strich
Alex leicht über die Hand. „Hey, guck nicht so, das wird schon. Alles wird gut…“
„Nee, wird es nicht so einfach, aber egal. Erst mal hast du es geschafft, und das ist wichtig.“ Sie warf
einen Blick auf ihre Uhr. „Mensch, schon so spät! Matthias wartet bestimmt schon. Ich muss los!“
Hektisch stand sie auf und griff zur Jacke.
„Aber nicht, weil ich das hier jetzt habe, oder?“ Hannah zeigte auf den Test mit den beiden Strichen
und schaute ihre Freundin bittend an.
„Quatsch, du Nuss, weil ich Matthias ohnehin nie lange sehe, bevor er einschläft. Ausserdem
beflügelt mich der da“, sie zeigte mit dem Kopf auf den Schwangerschaftstest, „vielleicht trete ich
heute noch mal einfach so zur Übung in Aktion. Ausserdem: Wer weiss, an welchem Tag das Ei
wirklich springt, dann 12 Stunden drauf, 5 Stunden Schwimmer…“ sie rechnete und grinste dann .“Ich
muss dringend nach Hause.“ Mit einem verschwörerischen Blick umarmte sie Hannah und rauschte
zur Tür hinaus.
Auf dem Weg zuhause dachte sie daran, wie oft sie schon Schwangerschaftstests gemacht hatte, und
dass auch das intensivste Hypnotisieren des Streifens nie ein Ergebnis erbracht hatte, wie es sich
heute bei Hannah gezeigt hatte. „So sieht das also aus“, sagte sie verwundert zu sich.
Ihre Freude für Hannah war rein, wer denn wenn nicht sie hatte es so sehr verdient. Und doch war da
wieder dieses kleine Teufelchen, das sagte: “Aber ich möchte auch gerne…“ Das Wort „auch“ in
diesem Satz beruhigte sie. Sie gönnte es ihrer Freundin – und sich selbst auch. Und wenn sie es nun
geschafft hatte, wieder schwanger zu werden, dann würde sie selbst bestimmt bald nachfolgen. Das
Bild des gemeinsamen Kinderwagenschiebens, das Hannah heraufbeschworen hatte, kam ihr in den
Sinn, und mit einem fröhlichen Lächeln ging sie weiter. „Genau so machen wir das, Schatzi, zieh dich
warm an. Quatsch, eben nicht… „ Sie lachte vor sich hin, als sie zuhause ankam. Ein bisschen albern
durfte sie heute schon sein, immerhin hatte sie ja als Co-Testerin Premiere gehabt. Und das fühlte
sich schon fast an wie Patentante zu sein, befand sie für sich selbst.
Folge 95
Gut gelaunt schloss sie die Haustür auf und rief ein fröhliches: „Hallo mein Schatz, ich bin wieder da!“
Doch es erfolgte keine Antwort. Allerdings musste Matthias schon zuhause sein, denn sein Mantel
hing an der Garderobe und die Schuhe standen wie immer neben dem Abtreter – eine
Angewohnheit, die Alex täglich aufregte, die sie aber nicht ändern konnte. „Männer sind einfach
nicht lernfähig – und ausserdem passen wir nicht zusammen. Ich sollte Hannah anrufen, ob sie zu mir
ziehen will…“ Scherzhaft spann sie ihre Idee weiter. Während sie die schmutzigen Schuhe dorthin
stellte, wo der Dreck ruhig abbröselt durfte, ohne den Teppich zu beschmutzen, rief sie: „Matthias?
Bist du da?“
Als Antwort hörte sie ein Stöhnen aus dem Schlafzimmer, und während viele Frauen nun Schlimmes
ahnend ins Schlafzimmer gehetzt wären, schlug Alex mit verdrehten Augen die entgegengesetzte
Richtung ein, um sich in der Küche zu sammeln. Dieses Stöhnen konnte nur eines bedeuten: Matthias
fühlte sich krank. Nicht: Matthias war krank, nein, Matthias fühlte sich krank. Und jede Frau würde
nachfühlen können, was nun in Alex vorging: Einerseits wäre sie gerne wieder zu Hannah
zurückgegangen, um ihrem Mann den Dingen zu überlassen, andererseits wäre das zwar eine
logische Form der weiblichen Selbsterhaltung gewesen, dennoch unstrittig herzlos und dem Schwur
der guten und schlechten Tage nicht entsprechend.
„Ich komme, mein Herz“, rief sie also und ging zu ihrem angetrauten Ehemann.
Matthias lag im Bett und stöhnte. Neben ihm lag bereits eine Menge Papiertaschentücher, auf dem
Nachtschrank standen Nasentropfen und lagen Schmerztabletten.
„Na, geht es dir nicht gut?“ fragte Alex und zwang sich, tiefes Mitgefühl in ihre Stimme zu basteln.
„Ich habe Grippe“, antwortete Matthias pathetisch und schnaubte laut in ein Taschentuch, um dann
das Ergebnis kurz zu prüfen.
„Hast du Gliederschmerzen? Hast du Fieber? Hast Du Kopfschmerzen?“
„Nein, aber eine verstopfte Nase…“
Die Diskussion über den Unterschied zwischen einer Erkältung, einer fiebrigen Erkältung und einer
Grippe hatte Alex im ersten Jahr ihrer Beziehung fortlaufend und immer ergebnislos geführt, für
Matthias war es immer eine schwere Grippe, wenn seine Nase lief.
„Kann ich dir was Gutes tun? Willst du heisses Bier mit Zucker? Oder soll ich dir das Rezept von Oma
machen?“ Mit „diesem Rezept von Oma“ konnte sie ihn immer bei einer Erkältung erfreuen: Es
handelte sich um eine Art Kutschertrunk, denn ihre Oma war auf einem Hof aufgewachsen und hatte
erzählt, dass die Stallburschen und Kutscher dieses Mittel zu sich nahmen, wenn es kalt und eine
Erkältung im Anmarsch war. Sie vermutete allerdings, dass damals häufig auf die Zitrone als
Inhaltsstoff verzichtet werden musste, dafür aber umso mehr Alkohol genommen wurde: Der
Kutschertrunk war nämlich eine Mischung aus einer halben Tasse Weinbrand, dem Saft einer Zitrone
und nach Belieben Zucker. Zitrone und Weinbrand wurden erhitzt und dann gesüsst. Das Getränk
musste heiss getrunken werden. Wer dieses Getränk zu sich nehmen wollte, nahm meist erst einen
tiefen Zug des heissen Dampfes – mit dem Erfolg, dass garantiert alle Nasengänge freigeblasen
waren; denn der Dampf enthielt eine so starke Mischung aus Zitrone und Alkohol, dass er direkt ins
Gehirn zu gehen schien.
„Au ja, wenn du das tun würdest, du bist so gut zu mir“, war die schwache Antwort aus dem
Federbettberg.
Alex verschwand also umgehend wieder in der Küche und stöhnte dort ihrerseits. Sie fand es immer
besonders lästig, wenn Matthias so ganz kranker Mann spielte. Der Unterschied zwischen der
Bewältigung solcher minderschweren Krankheiten durch Männer und Frauen zeigte solche
Unterschiede, dass Alex noch mehr als zuvor davon überzeugt war, dass Männer und Frauen Wesen
von unterschiedlichen Sternen waren. Wie hatte ihre Apothekerin beim letzten Kauf von
Nasensprays, Taschentüchern etc. noch reagiert. „Oh, ist bei Ihnen jemand krank?“ „Ja, mein Mann
hat eine Erkältung…“ „Sie Ärmste, lieber zwei kranke Kinder als ein kranker Mann…“
Während dieser Gedanken kochte der Weinbrand und Alex musste die Mischung erneut aufsetzen.
„Mist, verdammter, auch das noch…“ schimpfte sie mit sich und rief Matthias zu: “Ich komme gleich,
Schatz, halt noch einen Augenblick durch!“
Kurze Zeit später brachte sie den heissen Trunk ins Schlafzimmer und sagte: „Na, dann bleibe ich
lieber im Arbeitszimmer, nicht, dass du mich auch noch ansteckst…“
„Nein, bitte bleib bei mir…“ war die klägliche Antwort, die von einem tiefen Seufzer begleitet wurde.
„Soll ich Fernsehen anmachen? Damit du abgelenkt bist?“
„Nein, das wäre zu laut…“
„Hast du doch Kopfschmerzen?“
„Nein, aber die kommen bestimmt noch…“
Eine Viertelstunde später, in der Alex ihrem schwerkranken Man die tapfere Hand gehalten hatte,
hatte der Trunk seine Wirkung entfaltet – Matthias schlief und Alex konnte sich gemütlich ins
Wohnzimmer setzen und in einer Zeitungsblättern. Mechanisch strich sie dabei kreiselnd im
Uhrzeigersinn über ihren Bauch. „Ob sich da schon etwas tut?“ fragte sie und verlor sich in leichtem
Tagtraum.
Folge 96
„Bist du fertig?“ fraget Hannah. Und seltsamerweise war Hannah jung, wieder siebzehn und so
gertenschlank, wie sie es um die Zeit gewesen war. „Soll ich ihr sagen, dass sie 20 Jahre später etwas
fülliger sein würde“, fragte sich Alex und wunderte sich über ihre Freundin. „Klar, wenn du mir kurz
hilfst, du weisst ja, in meinem Alter!“ lachte sie. Hannah nickte und kam zu ihr – und hielt den Sattel
des Pferdes, auf das sie stieg, von der rechten Seite fest. „Ich weiss, der Sattelgurt bei jungen
Pferden“, sagte sie lieb und mit den leicht verdrehten Augen, die junge Frauen in dem Alter machen,
wenn ihnen etwas zum tausendsten Mal gesagt wurde. Sie selbst schwang sich behände auf ein
kleineres etwas dickeres Pferd. „Komisch, dabei bin ich doch noch nie geritten“, wunderte Alex sich
und schaute auch Hannah an, wie sie im Sattel sass. Kerzengerade und mit einem vertrauensvollen
Lächeln: „Wollen wir los?“
Die Sonne schien, doch beide hatten sich warm angezogen, denn der Wind blies eiskalt von Osten.
„Lieber rechts lang, es ist Hauptverkehrszeit, sonst steh’n wir wieder elendslange an der Strasse…“
schlug Alex vor. Als würde sie das Pferd, dunkelbraun und offensichtlich ruhig, schon lange kennen,
drehte sie sich nach rechts und das Pferd unter ihr folgte ihrer Körperdrehung. „Wow, das
funktioniert!“ dachte sie noch, bevor sie mit Hannah anfing, über die Schule zu plaudern. Herr
Kellermann, der Geschichtslehrer, hatte eine Klausur über die Weimarer Republik schreiben lassen,
und nun diskutierten die beiden Reiterinnen wie früher intensiv über den Beginn der
nationalsozialistischen Strömungen nach dem Ersten Weltkrieg.
„Mann, wenn wir dann zum Abi das Wirtschaftswunder und dann Brandt bekommen, brech ich in die
Ecke, das kann ich viel weniger!“ Hannah hatte immer eine Eins in Geschichte, also 14 Punkte, und
sie wollte sich den Schnitt nicht versauen.
„Das ist doch noch sooo lange hin…“ beruhigte Alex sie und sich selbst. Gleichzeitig wusste sie, dass
Hannah eine hervorragende Geschichtsklausur schreiben würde und sich den Schnitt nur leicht durch
8 Punkte in Mathe verschlechtern würde – und dass sie darüber nie hinwegkommen würde.
Beide ritten eine Weile schweigend vor sich hin und zogen die Schals enger und die Kappen tiefer.
„Boah, ist das kalt, dabei ist doch schon Frühling nach dem Kalender.“
„Ja, aber der Hundertjährige Kalender hat das für dieses Jahr auch vorhergesagt. Lange Fröste bis tief
in den März hinein… und ein schlechter Sommer“, sagte Alex.
„Wie bist du denn heute drauf? Haste Schlaubier getrunken? Der Hundertjährige Kalender…“ äffte
Hannah sie nach und war dennoch mit der Antwort zufrieden.
„Guck mal da beim Trecker, siehst du das? Nach der Farbe zu urteilen sind das Störche, zwei Stück,
oder?“
„Nee, kann ich nicht erkennen, aber es würde mich nicht wundern, wenn es Hunde wären. Störche
jetzt schon?“
„Wir werden ja sehen… stimmt… könnten auch Hunde sein, die da immer hin- und herlatschen.“
Wieder verhinderte die Kälte eine weitere Unterhaltung, und ihre Pferde hielten wie sie selbst die
Köpfe vom Wind weg, die Mähnen blähten auf und das Fell stellte sich hoch. Alex streichelte mit
behandschuhter Hand den Hals. „Na, mein Kleiner, das macht Spass, oder? Nur ein bisschen kalt ist
es…“ Liebevoll rieb sie den Widerristansatz vor dem Sattel.
„Da hinter der Biegung können wir sehen, was wir sehen. Willst du wetten, was es ist?“
„Nee, ich verliere ja immer“, lehnte Hannah ab und schaute intensiv auf das Feld.
„Tatsächlich, ein Storchenpaar!“
„Das muss mir doch Glück bringen!“ dachte Alex und wollte gerade etwas Verräterisches zu Hannah
sagen, als ihr einfiel, dass das Alter nicht stimmte. Hannah wusste ja gar nicht, dass sich Alex ein Kind
wünschte, wie auch, wenn sie 17 war?
„Kennst du die Sage, nach der Frauen, die sich Kinder wünschen, einem Storch zurufen müssen:
“Storch, Storch, bring mir ein Kind!“?“
„So’n Quatsch!“ entrüstete sich Hannah.
„Doch! Und wenn es Quatsch ist, dann ruf das doch!“
„Nee!“
„Du hast ja Angst vor einer doofen Sage!“
„Quatsch, habe ich nicht, aber stell dir vor, ich hätte zu Weihnachten ein Kind!“
„Stimmt, das wäre übel.“
„Und wenn du rufst, Alex?“
„Ach, und wenn ich dann ein Kind habe?“
„Dann passe ich drauf auf, okay? Du hast ja auch Angst vor einer Sage…“ Mittlerweile waren sie recht
nahe am Storchenpaar, das gelassen seine Runden zog. Weder Trecker noch Reiter interessierten sie.
Alex holte tief Luft. „Aber wehe, du erzählst jemandem was, sonst erzähle ich, dass du Schiss hattest
wegen der Sage!“
„Okay, abgemacht.“
Alex schaute sich um und fragte: „Siehst du jemanden oder sind wir ungestört?“
„Keiner da, ich passe auf“, beruhigte Hannah sie, und grinste bis über beide Ohren. „Bin ja mal
gespannt…“
„Okay, es geht los: Storch, Storch, bring mir ein Kind. Und übrigens, ich bin die Alex, nicht, dass du
uns verwechselst!“
Stolz drehte sie sich zu ihrer Freundin um. Beide lachten aus vollem Halse, so dass sogar der Storch
aufschaute.
„Na, dann schau’ n wir mal, was?“
„Alex, kommst du ins Bett?“ Wie aus der Ferne hörte sie die Stimme ihres Mannes.
„Oh Mann, ich war doch schon fest eingeschlafen. Ich komme…“ sagte Alex und raffte sich auf. Sie
wickelte sich aus der Decke, die sie bis zum Halse hochgezogen hatte, als wäre es im Wohnzimmer
eisig kalt gewesen und ging ins Schlafzimmer. Und irgendwie versuchte sie es, aber sie konnte sich an
den Traum nicht mehr erinnern. Nur, dass es mit Weihnachten zu tun hatte…
Folge 97
Als Alex ins Bett kroch, lag ihr Angebeteter ruhig durch die Nase atmend auf seiner Betthälfte und
schlief tief und fest.
„Hätte ich mir ja denken können“, waren ihre letzten Gedanken, bevor auch sie in tiefen Schlaf fiel.
Am nächsten Morgen frühstückten beide gemeinsam miteinander. Sie hatten beide begonnen, diese
Zeit für sich zu geniessen. Vorbei war das hektische Aufbrechen von Matthias, vorbei war aber
ebenso das übertriebene Geschäftigwerden der Superhausfrau Alex, sondern sie beide nutzten die
Zeit, den Tag gemeinsam zu beginnen.
„Kann ich mal die Butter haben?“ fragte Matthias und lachte los. „Mensch, das hört sich an wie ein
Anbändelungsversuch im Hotel!“ Ihr Mann hatte gute Laune, und Alex nahm den Faden auf. “Schade,
dass du arbeiten musst, ich könnte dir sonst mehr als die Butter anbieten… zum Beispiel gekochte
Eier?“ Sie kicherte leise vor sich hin, als Matthias sein Gesicht schmerzhaft verzog. „Nein danke, ich
glaube, mir reicht die Butter.“
„Hast du heute etwas Besonderes vor?“ fragte er zur Ablenkung und gab damit dem Gespräch eine
andere Wendung.
„Nö, ich will nur bei der Frauenärztin einen Termin vereinbaren, wenn ich dich schon zum
Spermiogramm schicke, dann will ich zumindest meine Hormone geprüft haben. Und dann will ich
noch ein wenig hier für klar Schiff sorgen, das Übliche also… und bei dir?“
„Alles Routine, ein paar Besprechungen, Absprachen über das weitere Vorgehen der
Firmenausweitung – ich glaube ja ehrlich gesagt nicht mehr, dass das kommt, aber man weiss nie.
Und somit wäre London auch nicht mehr aktuell…“
„Und, bist du sehr enttäuscht darüber?“
„Ich weiss nicht, es wäre schon reizvoll gewesen, aber wer weiss, was das für Konsequenzen gehabt
hätte. … auch für uns…“ Matthias schaute sie offen an. Alex schaute ebenso offen zurück. „Ja, wer
weiss… aber solange wir derartige Entscheidungen gemeinsam treffen ist es ja egal, oder?“ Sie stand
auf und umarmte Matthias von hinten. „So, und jetzt ab ins Büro, dann kommst du früher nach
hause und wir können uns einen gemütlichen Abend machen… und wir kurieren deine Erkältung
weiter aus.“
„Welche Erkältung?“ Matthias schmiss sich in die Brust. „So ein bisschen Schnupfen wirft einen Mann
wie mich doch nicht um. Andere würden glatt meinen, sie hätten eine Grippe…“ Er schaute
abschätzig und übersah zum Glück den wissenden Blick seiner Frau. Und kurz darauf schob er ab
durch die Tür, die leise ins Schloss fiel.
„Frauenarztpraxis Dr. Metzner, Möhle,. Was kann ich für Sie tun?“
„Manthei, guten Morgen Frau Möhle, kann ich einen Termin bei Frau Doktor bekommen?“
„Ach Frau Manthei, gut, dass Sie anrufen, ich wollte Sie schon dringend anrufen wegen des Termins
für die vorgesehene TotalOP!“
Alex wurde ganz kalt. „TotalOP?“ fragte sie entgeistert.
„Sie sagten doch, wir sollten den Termin schnellstmöglich machen weil…. Oh Gott, Frau Manthei?
Sind Sie Frau Alexandra Manthei? Oh Gott, das tut mir aber leid, das war ein Missverständnis, eine
Verwechselung, ich weiss gar nicht, was ich sagen soll…“
„Ist schon gut, Frau Möhle…“ Alex hatte sich bei dem Schrecken gesetzt und holte nun tief Luft.
„Also, wenn Sie mich nicht meinten, bin ich beruhigt… ich wollte auch nur einen Termin wegen eines
Zyklusmonitorings…“ Ihr war noch immer ganz schwummerig.
„Also ich… es tut mir so leid. Das hätte nicht passieren dürfen…“ Die Sprechstundenhilfe konnte sich
über ihren Fehler gar nicht beruhigen. „Aber Ihr Termin… ja… lassen Sie mal sehen, ach Unsinn, Sie
müssen sich melden, wenn Sie die Mens haben, dann machen wir einen Termin für den dritten
Zyklustag. An dem müssen wir dann Blut abnehmen und den Hormonstatus ermitteln. Genaues wird
Ihnen dann Frau Doktor sagen. Und ich… ach, es tut mir immer noch so leid, dass ich Sie so
erschreckt habe…“
„Dafür bin ich jetzt umso erleichterter… Ich melde mich dann. Wenn alles so läuft wie immer, dann
wird das ungefähr in 11 Tagen sein, wie sieht denn da der Terminkalender aus?“
„Ich werde Sie auf jeden Fall einschieben, das bin ich Ihnen doch wohl schuldig, oder? Und früh am
Morgen ist meist noch etwas frei…“
„Na dann, bis in 11 Tagen.“
„Schönen Tag noch, Frau Manthei – und noch mal: Entschuldigung!“
Alex blieb noch ein wenig sitzen, der Schreck war ihr zu tief in die Knochen gefahren. „Eine
Totaloperation, na, das fehlte mir noch. Obwohl… dann wäre ich alle Sorgen um den Kinderwunsch
los…“ Alex schüttelte über sich selbst den Kopf, der Kinderwunsch hatte wohl ihr Gehirn vernebelt.
„So etwas darf man nicht mal denken!“ hätte ihre Mutter jetzt gesagt – und genauso fühlte sich Alex
jetzt auch- so richtig schuldbewusst.
Folge 98
Drei Tage später war Alex dabei, ihren Koffer für das lange ersehnte Wohlfühlwochenende zu
packen. Und gerade, als sie die schönen Dessous bewunderte, die sie zu ihrer Hochzeit gekauft hatte
und seit Beginn des Kinderwunsches immer seltener trug, spürte sie einen dumpfstechenden
Schmerz in der Mitte der Gebärmutter –zumindest nahm sie das an. Er hielt etwa eine Sekunde an
und verschwand dann langsam. Doch noch weitere Sekunden später konnte Alex fühlen, wo der
Schmerz gesessen hatte. „Das muss eine Einnistung gewesen sein! Dann ist es eine
Vorderwandplacenta!“ Alex stürmte aus dem Schlafzimmer ins Arbeitszimmer und schaltete den
Computer ein. „Vorderwandplacenta, das ist doch gefährlich, oder?“ redete sie laut mit sich selbst.
Endlos erschienen ihr die Sekunden, die der PC benötigte, um hochzufahren und bis sie den Begriff in
die Suchmaschine eingeben konnte. 41 Treffer mit zahlreichen Hinweisen, dass eine
Vorderwandplacenta die Kindsbewegungen lange abfängt, dass die Mutter also weniger von der
Schwangerschaft spürt. „Naja, das wäre ja nicht das Schlimmste“, dachte Alex und rieb sich die Stelle,
die sie als Vorderwandplacenta diagnostiziert hatte. Doch dann stockte ihr der Atem, bei einer
Vorderwandplacenta kam mit erhöhter Wahrscheinlichkeit ein Abriss der Placenta vor. Zwar lag die
Wahrscheinlichkeit eines Placentaabrisses immer noch gering und im Bereich von einer von
Zehntausend Schwangerschaften, aber bei ihrem Glück würde sie genau das haben.
Alex wurde leicht schwarz vor Augen, was sie als weiteres eindeutiges Zeichen der frischen
Schwangerschaft ansah. „Dann verbringe ich die Schwangerschaft eben liegend“, dachte sie trotzig,
„Ich werde mir nicht nehmen lassen, worum ich solange gekämpft habe. Und du, Mucki, bleibst jetzt
schön still da und rührst dich die nächsten Monate nicht, okay?“
Rücklings auf ihrem Bett liegend träumte sie kurz darauf vor sich hin, um sich ihre Wäsche verteilt.
Der Storchentraum hatte gewirkt, sie war schwanger. Naja, es dauerte zwar noch eine Woche, bis sie
das rosa auf weiss hatte, aber sie selbst wusste es. „Also Solidarität mit Hannah, keine Moorbäder,
keine Sauna, kein Prosecco, nur Wasser, Säfte, Salate… eben alles, was gut für uns ist.“ So schnell
begann sie, mit sich im Plural zu sprechen. Vermutlich würde sie sich am Telefon von nun an nicht
mit „Manthei“ sondern mit „Mantheis“ melden, ertönte eine kleine gehässige Stimme im Hinterkopf.
Egal, sie war schwanger und damit basta. Wir waren schwanger!
„Ich muss die Schwangerschaft unterstützen, das ist klar“, dachte sie und ging erneut zum PC, den sie
im Übereifer ausgeschaltet hatte. Also, erneut die Prozedur, Computer hochfahren, Suchmaschine
füttern „Schwangerschaft unterstützen“. 905.000 Fundstellen, vorwiegend von Beratungsstellen von
Müttern in Not, danach folgten alternative Heilmethoden, Geburtsvorbereitungskurse.
„Wann muss ich mich denn da eigentlich anmelden?“ fuhr es Alex durch den Kopf, doch sie wischte
den Gedanken schnell wieder weg. Das hatte definitiv noch Zeit, und sie konnte ja nun mit Hannah
gemeinsam dort hingehen.
Im Groben und Ganzen fand Alex wenig Hilfreiches im Netz, das ihr ihre Situation jetzt erleichtern
könnte. „Aber ich kann doch nicht einfach so weiterleben wie bisher. Immerhin bin ich mir diesmal
ganz sicher.“
Und so wanderten anstatt der Spitzendessous eher praktische Unterwäscheteile in den Koffer, statt
der Pumps die bequemen Turnschuhe, statt des Bikinis der verhüllende Badeanzug und anstatt des
enggeschnittenen Kleides eine weitgeschnittene Hose mit lässiger Bluse. Alex musste ja schliesslich
damit rechnen, dass ihre Oberweite recht schnell zunehmen würde, immerhin tat sie das auch ohne
Schwangerschaft an einem ruhigen Wochenende.
Schliesslich hielt sie es nicht mehr aus, sie musste mit Hannah sprechen!
„Hallo, Hannah, störe ich oder hast du ein wenig Zeit?“
„Nein, ist okay, ich bin beim Packen. Bist du schon fertig?“
„Nein, ich .. du, ich bin mir sicher, dass ich eben eine Einnistung hatte!“ Es folgte kurzes skeptisches
Schweigen am anderen Ende der Leitung. Hannah war schon immer pragmatisch.
„Wow, das habe ich noch nie gespürt, wie ist das denn“, kam dann.
„Naja, es war ein dumpfer Schmerz in der Mitte des Unterbauches, aber von innen, wenn du weisst,
was ich meine. Und total lange, bestimmt eine Minute, na ja, nicht ganz so lange, aber fast.“ Alex
wusste zwar, dass sie etwas übertrieb, aber das tat ihr gut. Endlich fühlte sie sich dort, wo sie so
gerne sein wollte, im Kreise der Schwangeren.
„Und das war die Einnistung? Hast du denn eine Blutung danach gehabt?“
„Mensch, darauf bin ich gar nicht gekommen, ich gucke schnell nach, warte mal…!“ Alex legte den
Hörer zur Seite und startete umständlich einen prüfenden Blick auf die Innenseite des Slips.
„Nein, nichts, aber a) muss das ja auch nicht sein, b) kann das ja auch noch gar nicht so schnell
danach rausgekommen sein, weil es doch nur Bruchteile eines Bluttropfens sein könnten, und dann
kommt der ja so nach und nach raus, oder? Zumindest denke ich mir das so…?!“ Alex fühlte sich
etwas hilflos und von Hannah nicht so recht verstanden: Sie wollte nun auch gerne mitsprechen, Bea
und Hannah durften das beide nun erleben, sie nicht. Natürlich hätte sie sich das nie eingestanden,
denn sie fühlte sich ja ehrlich schwanger, und warum sollte dieses Gefühl trügen?
„Weisst du, Alex, ich hatte das noch nie und kann da gar nicht mitreden, aber es wäre das Tollste für
mich, wenn du mit mir schwanger wärest und es bei uns beiden klappen würde. Und solange die
Mens nicht da ist, stimmt das für uns beide jetzt erst mal so, okay? Ich freue mich für dich, wenn du
dir so ganz sicher bist, nur eines ist klar, eine Woche oder so musst erst noch heile überstehen…
übrigens habe ich die Blutwerte…“
„Oh Mann, ich Idiot, das habe ich ja ganz vergessen! Tut mir leid, Hannah, und?“ Es war typisch
Hannah, erst jetzt zaghaft damit zu kommen, erst kamen ihre Freundinnen, dann sie selbst.
„Alles okay, die Ärztin sagt, dass er zwar höher sein könnte, aber noch im Rahmen liegt. hCG von 250
bei 5+0, also Beginn 6. Schwangerschaftswoche. Keine Ahnung, ich verlasse mich auf sie. Diesmal
geht bestimmt alles gut – und zwar bei uns beiden!“
Alex schielte auf den Computer, den sie diesmal angelassen hatte. Und sie wusste, dass sie gleich die
Blutwerte von Hannah im Netz überprüfen würde. Aber bestimmt war alles in Ordnung, sie wollte es
ja nur wissen.
„Super, da fällt mir ein Stein vom Herzen. Sag mal, hast du auch so viele bequeme Sachen
eingepackt?“
„Nein“, lachte Hannah “, die werde ich ja die nächsten Monate tragen müssen, ich habe mich auf
„chick“, „schlank“ und „edel“ eingestellt… könnte ja zum letzten Mal sein.“
Alex seufzte, also würde sie erneut planen müssen. Zum letzten Mal für lange Zeit die engen Sachen
anziehen…. „Da hast du recht, daran habe ich gar nicht gedacht, also… ran an die Klamotten. Bis
nachher!“ Sie schnalzte noch einen Kuss in den Hörer und hängte auf.
Folge 99
Kurze Zeit später reihten sich bei Alex diverse Kleider, Hosen, Blusen und Schuhe neben dem Koffer,
der wunderbarer Weise über Winter auf dem Schrank kleiner geworden zu sein schien. „Früher
passte das doch alles rein“, dachte Alex verzweifelt, als sie den dritten Versuch gemacht hatte, ihn zu
befüllen und zu schliessen. Schliesslich setzte sie sich gottergebend auf den Koffer und drückte ihn
mit ihrem Kinderwunschproblemgewicht zu. „Siehste, Phoebe, passt doch.“ Mit diesen Worten nickte
sie ihrer Katze zu, die hartnäckig versucht hatte, auf den Kleidungsstücken Platz zu finden, sobald
Alex sich umdrehte.
„Ach Süsse, ich lasse dich ja ungern allein, aber Hannah braucht mich…“ sagte sie entschuldigend.
Hannah, so ganz gingen ihr deren Worte nicht aus dem Kopf. HCG von 250 bei 5+0 hatte sie gesagt.
Hatte sie nicht vor einiger Zeit eine Angabe über die Entwicklung dieses Wertes während der
Schwangerschaft gesehen?
Natürlich trieb die Neugierde und auch ein wenig die Besorgnis Alex erneut an den Computer, auf
dem bereits einige Links Schwangerschaften betreffend als Favoriten gespeichert waren. Und
tatsächlich, schon der zweite Versuch zeigte die gewünschten Daten.
„Wenn sie jetzt 5+0 ist, dann ist das ungefähr – sagen wir, Einsprung plus 3 Wochen, macht 21 Tage,
mit etwas Ungenauigkeit also plus 19 Tage. Mal sehen…“ Alex grübelte vor sich hin, gab die
ermittelten Zahlen ein und starrte dann auf das Ergebnis: “ Wenn der Eisprung vor etwa 19 Tagen
war, liegt der durchschnittliche hCG-Wert bei etwa 933. Werte zwischen 626.00 und 1384.00 liegen
im Bereich des normalen. Erhebliche Abweichungen ergeben sich schon dann, wenn Sie sich beim
Tag des Eisprungs um ein bis zwei Tage verrechnen. “
Alex wurde heiss und kalt zugleich, ihre Beunruhigung wuchs. Also war der Wert bei Hannah ganz
nicht so in Ordnung, wie die Frauenärztin ihr weismachen wollte. Sie suchte weiter, doch überall
sonst fand sie nur ungefähre Angaben zum Anstieg des hCGs im Blut. Es hiess also weiterhin
abwarten. Schon wollte sie den Telefonhörer nehmen und ihre Freundin anrufen, da stoppte sie.
„Nein, es reicht, wenn ich hysterisch werde, ich muss nicht auch noch Hannah das Wochenende
vermiesen“, entschied sie in letzter Sekunde und liess die ausgestreckte Hand sinken.
Ziemlich zerstreut packte sie eine Tasche mit ihren Kosmetikartikeln (natürlich inklusive LH-Test zum
Orakeln und ultrasensitivem Schwangerschaftstest ab 10 Einheiten). Schliesslich liess sie sich neben
dem Koffer auf dem Bett nieder und legte sich noch kurz hin. Ihre Gedanken rasten, doch dann kam
eine angenehme Schläfrigkeit über sie. „Bestimmt ein erstes Zeichen für eine Schwangerschaft“,
dachte sie noch und machte für einen Augenblick die Augen zu. Phoebe kuschelte sich an ihre
Armbeuge, und keine fünf Minuten später waren beide mehr oder weniger laut eingeschlafen.
Wie so oft, wenn man nur kurz einschlummert, träumte Alex intensiv. Sie sah sich in einem
Appartementzimmer, die Koffer neben sich gepackt und sie selbst auf dem Bett ausgestreckt.
Matthias war nicht zu sehen, sie wusste aber, dass er die Brötchen für das letzte Frühstück holen
war. „Drei Laugenstangen, ein normales und zwei Croissants für die Nutella“, hatte er eben noch
gesagt. Alex grübelte. Nutella? Sie ass zum Frühstück nie Nutella und hatte daher noch nie welche für
Matthias und sich selbst eingekauft, und Croissants verabscheute sie, weil die immer so trocken und
fettig im Mund herumbröselten.
Die Tür ihres Schlafzimmers stand offen, um die Hitze aus dem Zimmer zu bringen, und da sah sie
den Croissantsverwerter. „Moin Alex“, sagte er und schlappte von rechts nach links im Türrahmen
erscheinend und verschwindend ins Bad. Wuschelige blondgesträhnte Haare, die Augen kaum offen,
der Kopf leicht hängend, ebenso die Schultern, die Füsse schier am Boden klebend. Unverkennbar,
das war eine jüngere Ausgabe von Matthias, allerdings in Form eines pubertierenden Teenagers von
ca. 14 Jahren.
Die Klospülung rauschte. Ehe Alex sich von ihrem Schreck erholen konnte, kam dieses schlaffe
Individuum – unbefleckt von Wasser und Zahnbürste - erneut vorbei, die Augen ebenso geschlossen
wie auf dem Hinweg. Dann leichtes Gekicher „Ich Hirni…“, Rückweg von rechts nach links erneut in
das Bad: „ Mann, bin ich blöd, ich habe vergessen zu puschern…“ Alex konnte es nicht fassen, aber
sie war nicht dazu in der Lage, etwas zu tun oder zu sagen, sie war wie ein Zuschauer der Szene.
Auf der Treppe hörte sie Schritte. Kurz darauf öffnete Matthias die Haustür und rief: „ Frühstück, Ihr
Lieben!“ Blondi schlappte erneut in Richtung links nach rechts ausserhalb des Gesichtsfeldes. „Hallo
Papa. Guck mal hier, auf dem Rücken, ich muss mal Mama anrufen, das ist bestimmt ein Tumor.“
Unmittelbar erfolgte eine Antwort von Matthias: „Das ist kein Tumor, daran stirbst du nicht, es ist ein
Pickel.“ „Nein, ich muss Mama anrufen, die weiss das besser!“ widersetzte sich der Sprössling und
entfernte sich offensichtlich von seinem herzlosen Vater tief enttäuscht.
Matthais kam ins gemeinsame Schlafzimmer, setzte sich zu Alex auf das Bett und sagte lächelnd:
„Der erste grosse Pickel“, er verdrehte schauspielerreif die Augen“, Aus Kindern werden Leute.“ Er
strahlte sie an. „Tja, wer hätte das damals gedacht…“! sinnierte er vor sich hin.
„Ich hätte aber trotzdem gerne ein Kind von dir…“ maulte Alex kleinlaut und drückte eine
aufsteigende Träne weg. Sie fühlte sich aus diesem Vater-Sohn-Glück ausgeschlossen. „Naja,
vielleicht klappt es ja noch, und sonst finden wir uns eben damit ab.“ sagte ihr Mann versöhnlich. „Du
findest dich leichter damit ab, du hast ja einen Sohn…“ sagte Alex vorwurfsvoll. „Genau.“ Antwortete
Matthias und traf.
In diesem Augenblick streckte Phoebe ihre Krallen aus und traf die empfindliche Innenseite der
Armbeuge – Alex wurde wach.
Folge 100
Nur schwer konnte Alex sich von der Erinnerung an den Traum trennen. Was wäre denn, wenn
Matthias bereits – vielleicht auch ohne sein Wissen – Vater wäre und sein Sprössling dann in voller
pubertierender Schönheit vor ihm stünde. Oder vor ihr? In Filmen hatte sie das ja schon des Öfteren
gesehen, und die Väter hatten sich nach einer kurzen Phase des Schreckens immer sehr gefreut. Und
wenn sie sich dann auch noch richtig erinnerte, war das dann immer der Kinderersatz, weil die Frau
des Mannes und Neu-Vaters meist keine Kinder bekommen konnte. Sollte das ihr Schicksal sein?
Kein Wunder also, dass Alex wenige Stunden später noch recht verhalten neben Hannah im Auto
sass.
Hannah schaute sie von der Seite an.
„Ist was?“
„Nö. Ich habe nur schlecht geträumt… sag’ mal, kannst du dir vorstellen, dass du einen Mann hättest,
der schon ein Kind hat, und das du dann als sozusagen Stiefmutter aufziehen darfst? Ohne eigene
Kinder?“
„Klar kann ich mir das vorstellen, wäre doch bestimmt lustig, gleich so eine kleine Familie zu haben.
Wenn man den Mann richtig liebt, dann spielt das doch keine Rolle, oder?“
„Meinst du nicht, dass das ein wenig zu naiv ist? Ich meine, es sind dann ja nicht deine Kinder, es sind
seine.“
„Aber es sind Kinder, und die können doch nichts dafür. Und wenn du ein Kind adoptierst, dann sind
es ja auch sozusagen nicht deine Kinder, und wieder doch – du hast sie dir nur aussuchen können.“
„Das ist doch was ganz anderes!“
„Aha“, war die kurze Antwort, die in Schweigen überging. Und dann fügte Hannah an: „Also,
angenommen, Thomas hätte ein Kind und ich hatte nur die Fehlgeburt und kein eigenes Kind, und er
käme mit einem Kind von einer anderen Frau an, dann würde mich das sicher insofern treffen, als
dieses Kind mir dann zeigen würde, was ich nicht kann – und dass mein Mann oder Freund oder so
sehr wohl dazu in der Lage wäre, ein Kind zu zeugen. Also wäre dieses Kind das Symbol dafür, dass
ich es eben nicht schaffe, oder? Nur: daran ist doch das Kind nicht schuld… und wenn mein Partner
mich in diese Beziehung voll einbeziehen würde – was für ein Deutsch“, sie verdrehte kurz die Augen,
schlechtes Deutsch war ihr schon immer zuwider, “dann könnte das gut werden, wenn er aber
eifersüchtig darauf achten würde, dass er der Vater sei und ich nicht eine quasi Mutterstelle
einnehmen dürfte, dann wäre das ein Problem. Das habe ich nämlich bei einer Arbeitskollegin so
gesehen, das war wirklich schwer…“ sie sinnierte vor sich hin. „Warum fragst du, hat Matthias ein
kleines Geheimnis?“
„Quatsch, ich wollte das nur so wissen. Man denkt ja über vieles nach… übrigens hatte ich dir noch
gar nicht gesagt, was mir beim vorletzten Mal in der Apotheke passiert ist, als ich die Persona kaufen
wollte“, lenkte Alex ab und musste aber bei der Erinnerung daran schon gnickern.
„Erzähl’ ‚mal!“ forderte Hannah sie auf, dankbar, das ernste Thema verlassen zu können. „Und dann
muss ich dir noch unbedingt erzählen, was ich beim Gyn gehört habe!“ Auch sie lachte auf und
wartete, dass Alex ihre Geschichte erzählte.
„Also, du kennst ja die Bahnhofsapotheke, da sind die Persona am billigsten in der 3-Moantspackung,
ich also da rein, brechend voll der Laden. Ich suche erst mal diesen Automaten mit den
Bedienungsmarken, den sie immer irgendwo anders hinstellen. Ist vermutlich eine Taktik, die
Aufmerksamkeit der Kunden zu fördern – und entdecke das Teil hinter einer Meute sich laut
unterhaltender Rentner der Wandergruppe Gera, diese mit den Stäben und den roten Nelken dran.
Mich gruselte es schon, ich da aber durch, mich kurz entschuldigt und ergattere die Nummer 57. 12
Leute vor mir – und natürlich wollten alle – waren alle Rentner und hätten auch sonst Zeit gehabt,
wo ich zum Mittag verabredet war! – Beratung haben. Ein bestelltes Medikament an Theke 3 gab es
nicht mehr, der Kunde hochgradig schwerhörig und so weiter, du kennst das. Schliesslich leuchtet das
Signal „57 Theke 6“ auf. Und dort – Schichtwechsel, die nette Apothekerin geht und es kommt ein
ganz süsser Apotheker. Ich also meine Marke ausgehändigt und möchte gerne die 3 Monatspackung
Persona. Ist auch kein Problem, die liegt in der Auslage. Er holt sie, schaut mich an und fragt:
„Möchten Sie eine Tüte?“ Ich antworte: „Ja gerne, sieht ja sonst ein bisschen blöd aus.“ Er: „Ach was,
heute doch nicht mehr!“ Ich: „Wieso, laufen Sie mit uneingepackten Kondomen über den
Marktplatz?“ Er: „ Das ist doch was ganz anderes““ Immerhin musste er grinsen, als ich nur ein kurzes
„Aha“ von mir gab.“
Beide lachten nun frohgemut und genossen die Vision vom netten Apotheker, der mit einer Packung
Kondome über den Marktplatz läuft und alle Kunden freundlich grüsst.
„Und nun du!“ forderte Alex Hannah auf.
Folge 101
Hannah musste sich in Erinnerung an ihre Begebenheit das Lachen verkneifen, aber dann fing sie an:
„Also, du weisst ja, dass ich gerade bei meiner Frau Doktor war“ (wobei sie extra „Frau Dokta“ sagte).
„Erst einmal die übliche Begrüssung der Mitarbeiterinnen, die in der Akte sahen, warum ich da bin
und auch das Ergebnis der letzten Schwangerschaft sahen, also ein mitleidiger Blick und ein
aufmunterndes Wort mit der Bitte, sich ins Wartezimmer zu setzen. Ich sitze da also, blättere etwas
lustlos in der Zeitung- ach ja, ich weiss nicht, ob du weiss, dass es eine Gemeinschaftspraxis ist mit
einem Arzt, dessen Vater übrigens schon Thomas auf die Welt gebracht hatte? Aber egal, ich
blättere, eine Frau kommt rein, so Mitte dreissig, gutaussehend, schlank, und so weiter. Spielt aber
eigentlich keine Rolle. Sie grüsst kurz – und erkennt eine Freundin, die auch wartete. „Hallo Lisa, du
auch wieder hier? Ach Mensch, das ist ja schön, dann haben wir ja mal wieder ein paar Minuten ohne
die Kinder – aber das nächste Mal machen wir die Termine gleich gemeinsam, dann müssen wir uns
nicht immer zufällig hier treffen und können auch etwas früher kommen, dann haben wir mehr Zeit
füreinander“, freute sie sich und setzte sich neben ihre Bekannte. Aha, dachte ich, nun folgt das
übliche nervige Gerede über die Kinder, wie gross sie sind, was sie machen, was sie essen, wie oft sie
pubsen oder so – entschuldige… Aber es kommt ganz anders, die erste, die offensichtlich Katrin hiess,
hob an zu erzählen: „Also was mir da passiert ist, kann ich auch nur hier und dir sagen, aber es war
im Nachhinein so lustig – auch wenn es mir erst äusserst peinlich war und ich da heute wohl was
aufklären muss…“ „Wieso, so schlimm kann es bei Frau Doktor doch gar nicht gewesen sein“, sagte
Lisa und wartete auf die Reaktion. Katrin lachte laut auf und sagte: „Nein, schlimmer…“ und begann
zu erzählen.
„Das letzte Mal war es ein Montag, ich erinnere mich deshalb daran, weil ich Mara erst noch
gemütlich in den Kindergarten bringen wollte und dann um 10 den Termin hatte. UM 8 Uhr rief mich
die Arzthelferin dann an, ich könne früher kommen, weisst du noch, wie abgehetzt ich da war, als wir
uns sahen?“
„Stimmt, du hattest mir erzählt dass sie den Termin vorverlegt hatten und dass du es knapp geschafft
hattest, ihn einzuhalten.“
„Genau. Ich hatte also Mara in aller Eile noch im Kindergarten verstaut, rase wie eine Irre zurück und
husche ins Bad, um mich ein wenig an den entscheidenden Stellen frisch zu machen. Auf dem Rand
des Beckens liegt ein Waschlappen, der ganz frisch dort lag, also sauber war. Du kennst das ja, schnell
das Nötigste gemacht, ab in die Klamotten, dann ins Auto und mit hängender Zunge hier
reingerauscht. Es sollte nur eine Routineuntersuchung sein, eben so alle halbe Jahre sehen, ob noch
alles in Ordnung ist.
Kurze Zeit später werde ich schon aufgerufen und liege auf dem Stuhl. Machst du das auch so, dass
du dir dann immer Sachen ausdenkst, warum du da liegst, um die Zeit totzuschlagen? Ich denke also,
ich liege vor einem Zelt unter romantischem Sternenhimmel und bin geistig ganz weit von meinem
Körper und der Praxis weg, als ich sehe, wie der Dok kurz aufschaut und sagt: Na, Sie haben sich ja
heute ganz besondere Mühe gegeben, schmunzelt und weiter untersucht. Ich, sage, nur leicht
„hmmm“ und wundere mich, was er meint, bin aber geistig noch vor dem Zelt… Zum Glück dauert
die Untersuchung nicht lange, und zum Schluss gibt der Doik mir die Hand und wünscht mir viel Spass
bei dem, was ich noch vorhätte. Ich denke noch, das ist ja nett von ihm, der hätte ja gute Laune. Kurz
darauf treffen wir beide uns ja hier im Wartezimmer, als ich gehen will.
Mittags hole ich Mara wie immer vom Kindergarten ab. Zuhause soll sie sich als erstes die Hände
waschen, man weiss ja nie. Sie geht also in das Bad und kommt unmittelbar wieder zurück. „Mami,
wo ist mein Waschlappen?“ fragt sie und ich sehe, wie ihre Augen immer grösser werden und sich
mit Tränen füllen. „Der ist in der Wäsche, Süsse, nimm dir einen neuen, okay? Da liegen noch welche
auf dem Stapel…“ sage ich. „Aber ich will den mit dem Winni Puh darauf…“ beharrt sie und fügt mit
der ersten Träne an: Da sind doch meine ganzen Glitzer drin, die mir Sarah geschenkt hatte, und
kleine Sterne und Herzen auch…“ Naja, kannst dir vorstellen, Mara schluchzt auf und ich versinke im
Boden, wenn ich mir vorstelle, was der Dok von mir gedacht hat. Und genau das muss ich gleich mal
aufklären –Angriff ist die beste Verteidigung!“ sagte Katrin noch, bevor beide in Gelächter
ausbrachen.
„Alex, Du kannst dir vorstellen, wie schwer es war, nicht mitzulachen. Mann, wie peinlich…“ Hannah
und Alex lachten nun gemeinsam und fuhren beschwingt und gut gelaunt weiter gen WellnessUralub.
Folge 102
Beide fuhren nun frohgemut die lange Fahrt nach Karlsbad und vertrieben sich die Zeit mit Spielen,
die sie schon zu Kinderzeiten gespielt hatten. „Der nächste Autofahrer, den wir überholen, wird dein
späterer Mann.“ Und bogen sich vor Lachen über die Ergebnisse. Sicher dachten sie auch verstohlen
darüber nach, ob ihre Töchter wohl ebenso albern wie sie in einem Auto sitzen würden, wenn ihre
Mütter unter Zurücklassen der jeweiligen Väter mit ihnen einen Ausflug machten. Irgendwann kam
dann doch dieses „Meinst du eigentlich, in ein paar Jahren…?“ von Alex und Hannah schaute sie
aufmunternd an und sagte überzeugt: „Na klar, wir schaffen das!“ Und ihre alte Freundin genoss den
Zuspruch und den ungerügten Glauben in das gute Schicksal für beide.
Alex hatte ja das Wellness-Wochenende bereits in Hinblick auf eine Schwangerschaft gebucht, und
als sie beide eincheckten, erhielten sie neben einem erfrischenden Saft aus unterschiedlichen
Obstsorten ein kleines Paket überreicht. Die Empfangsdame strahlte sie an und sagte: „Das gilt als ein
Willkommen an die kleine Erdenbürger, damit sie sich bereits jetzt bei uns wohlfühlen.“ Sowohl Alex
als auch Hannah standen die Tränen in den Augen und nur mit Mühe konnten sie einen Dank über
die Lippen bringen. Hier schienen sie beide im wahrsten Sinne des Wortes angekommen zu sein. Die
Frage, wie weit die Schwangerschaften denn gediehen seien, beantworteten sie beide mit einem
unisono „Dritter Monat“ – und sie beide glaubten sogar in dem Augenblick daran.
Erst auf ihrem Zimmer angekommen öffneten sie die Pakete und konnten nun ihren Tränen freien
Lauf lassen: Da lagen in jedem Paket ein übergrosses Kapuzenhandtuch mit gelber Einfassung und
einer süssen gelben Ente, zwei Lätzchen mit der Aufschrift „wellness is home“, ein Schutzstein als
Talisman für die Schwangerschaft, Söckchen für die Kleinen und ein kleiner Bär, der eine Fahne mit
dem Hotelembleme zu schwenken schien.
„Schau mal, das werden dann ihre Bussis“, sagte Alex leicht schniefend und Hannah nickte gerührt.
Kurz darauf standen beide erwartungsvoll in der Lobby und wurden von einer gepflegten jungen
Dame in die Geheimnisse der Wellness-Oase eingeweiht.
„Sie können bei uns auch Moorbäder bekommen, aber bei Schwangerschaften empfehlen wir das
nicht wegen der Belastung für den Organismus. Aber das Dampfbad oder die Rauchsauna sind
bestimmt etwas für Sie. Und dann haben wir noch diverse Massagen, Behandlungen mit heissen
Steinen, oder Aroma-Bäder. Wie wäre denn ein Cleopatra-Bad in Stutenmilch? Das bekommen Sie
kaum an anderer Stelle…“ und so ging es das ganze Programm durch.
Die beiden Freundinnen wählten sich eine Mischung aus Gesundheitsprogramm und
Wohlfühlstationen aus – als Besonderheit würden sie sich am Samstag das Cleopatra-Bad gönnen.
Aber auch nur, weil Hannah darauf bestanden hatte, dass sie einen Einführungskurs in Walken
mitmachen und sich Alex nur unter der Bedingung des Luxusbades darauf eingelassen hatte. Dafür
hatte sie Hannah eine Schnupperstunde in Thai Chi abgerungen.
Da sie beide recht spät angekommen waren, entschieden sie sich für eine gesunde Salatmahlzeit als
Abendbrot. Sie sassen da, knabberten die Croutons und die knusprigen Hähnchenstreifen und
dachten beide an die schöne Zeit, die vor ihnen lag.
„Würdest du dich eigentlich auch über einen Jungen freuen?“ platzte es da aus Alex heraus, die die
ganze Zeit seit der Autofahrt darüber nachgedacht hatte, was sie denn nun wirklich lieber hätte;
denn in ihren Träumen sah sie immer nur ein Mädchen, aber Hannah hatte ja auch von dem kleinen
frechen Jungen erzählt, den sie sah.
„Och, Hauptsache gesund, oder? Ich will ja nicht davon ausgehen, aber es kann eben so viel
passieren… ich wäre überglücklich, wenn sie ein ER wäre und gesund zur Welt käme. Aber wenn ich
es wählen könnte, würde ich vermutlich als erstes ein Mädchen wählen – da weiss ich wenigstens,
wie ich das mit dem Klo regeln kann.“
„Aber wenn es ein Junge ist, dann kannst du immer Thomas schicken mit dem Hinweis, dass du ja
schlecht auf ein Herrenklo gehen kannst. Mir ist da letztes Jahr auf Sylt etwas Niedliches passiert…“
Alex lächelte amüsiert vor sich hin und begann: „Ich will auf eine dieser Toilettenanlagen, die man so
oft an Strandeingängen findet, neben dem Wärterhäuschen des Strandwächters. Ich gehe durch die
Tür und sehe, wie ein knapp 5 jähriger Junge hinter mir herkommt. Die Tür war mit
Selbstschliessmechanismus ausgestattet und daher ziemlich schwer, er konnte die unmöglich alleine
öffnen. Ich mache ihm also die Tür auch und er schaut mit grossen Augen von rechts nach links und
wieder zurück – na klar, er konnte ja „Herren“ gar nicht lesen. Hilfesuchend schaut er mich an – und
ich nicke in Richtung „Herren“ und sage : „Da bist du richtig…“ Erleichtert geht er nach rechts, ich
trabe nach links. Er ist noch nicht ganz um die Ecke verschwunden, als eine sympathische junge Frau
zur Tür hineinkommt und ruft: „Nils, wo bist du?“ und aus den Tiefen des Herrenrefugiums die
Antwort kommt „Hier, Mama!“ „Komm her, ich helfe dir“ „Komm rein, Mama!“ war die
Aufforderung. Seine Mutter entgegnete darauf leicht amüsiert: „Das geht nicht mein Schatz, das ist
die Herrentoilette, da kann ich nicht rein, komm mit zu den Mädchen, okay?“ Darauf kam von der
anderen Seite : „Nein, Mama, ich bin ein Herr, ich gehöre hierher…“ Wie sie mit ihrem Sprössling
zusammenkam, habe ich dann nicht mehr mitbekommen, ich glaube, er blieb standhaft. - Siehste, bei
einem Mädchen ist alles einfacher.“
„Nee,“ saget Hannah bestimmt. „Bei denen bricht ab und zu der Zickenalarm absolut durch, das
kenne ich. Boah, sind die dann eklig. Aber ich habe schon ganz zuckersüsse Jungs kennengelernt.
Also, je länger ich es mir überlege, desto verlockender wäre ein Junge für mich.“
„Aber Jungens sind oft aggressiv im Kindergarten, da werden sogar jetzt lieber Mädchen als Jungen in
die Gruppen aufgenommen, um die Aggression zu mindern. – Habe ich in der Zeitung gelesen...“
fügte Alex wie zu ihrer Verteidigung an.
„Das ist ja völliger Quatsch, im Zuge der überall gelebten Emanzipation haben sich die Vorbilder für
Mädchen ja sehr stark verändert, die typische schwache Mutter und der dominante Vater, der das
Geld nach hause bringt, gehören der Vergangenheit an, heute sind – vermutlich seit dem Zweiten
Weltkrieg steigend – die Frauen die Stärkeren – stimmt doch, oder?“ Hannah grinste Alex an und
ereiferte sich weiter: „Und deshalb gibt es auch nicht mehr das Klischee vom netten Mädchen und
lauten Bengel, eher musst du Jungs heute unter Naturschutz stellen, so wird denen zugesetzt. Ich
gebe dir zwar Recht, dass sie in der Pubertät nicht gerade anziehend aussehen mit diesen Hosen, die
bis in die Kniekehle rutschen oder diesen merkwürdigen Schuhen mit den Socken drin – von denen
ich hoffe, dass sie zumindest ab und zu gewaschen werden, ich habe nämlich schon mal in der Bahn
erlebt, wie eine Mutter unter dem Sitz nach einem toten Fisch suchte und dann mit der Nase an den
meerwassererprobten Schuhen ihres Sohnes klebenblieb und ihm darauf eine Standpauke hielt –
aber süss und willkommen sind sie mindestens ebenso wie Mädchen. Nur, dass man die netter
anziehen kann als Jungs, das gebe ich zu.“
Alex strahlte sie an und sagte: „Okay, dann nimmst du den Jungen und ich das Mädchen, das passt
dann wieder. Und wenn du es dir zwischendrin anders überlegst, ist das auch okay, so einen kleinen
rothaarigen Jungen würde ich auch zum Knuddeln finden.“
Hannah hob das Orangensaftglas und sagte: „Also dann, auf Maxi und Moritz!“ und beide strahlten
sich trotz eines unterschwellig mulmigen Gefühls an.
Folge 103
Der nächste Tag war genau so organisiert, wie sie es sich schon lange gewünscht hatten: Ein
herrliches Frühstücksbüffet wartete auf sie, danach die erste Kosmetikbehandlung, dann wollten sie
Thai Chi machen und würden den Abend mit dem Cleopatrabad krönen – und natürlich ein gesundes
Vier-Gänge-Menue.
„Guck’ `mal, viele Frauen hier und nur ein paar Paare. Die meisten Frauen machen so was wohl eher
mit ihrer Freundin…“ sinnierte Alex, während sie ihren Obstquark rührte und sich umblickte.
„Naja, wenn mein Mann hier mit seiner Freundin wäre, fände ich das ja auch nicht so toll..“, merkte
Hannah trocken an.
„Hahaha…“ entgegnete Alex ironisch, aber dann musste sie auch grinsen. „Okay, hast recht. Wenn
Matthias das machen würde, wäre es aus… das sag’ ich dir.“
Ach, wer weiss, wie man dann reagiert. Spontan würde ich auch sagen, ich würde und könnte das
nicht verzeihen, aber wenn es dann so weit ist… ich weiss nicht…immerhin verbindet einen ja auch
viel, oder?“
Alex schaute Hannah verwundert an: „Sag’ `mal, hast du sie noch alle? So einen Typen, der einen mit
`ner anderen betrügt, den könntest du mir vor den Bauch schnallen…“
„Vermutlich… aber es gibt auch viele Beziehungen, in denen das schon mal passiert ist, und die sind
heute noch zusammen – und machen einen ganz glücklichen Eindruck. Aber man schaut ja nie
dahinter…“ Hannah sinnierte weiter. „Ach, ich weiss nicht, ich wüsste nicht, was ich täte.“
„Ich schon!“ beharrte Alex selbstbewusst. Aber nach einer Weile des Schweigens fügte sie an
„…glaube ich…“ Ihr war nämlich der Traum von Matthias’ Sohn eingefallen, und immerhin hatte sie
eine Weile darüber nachgegrübelt, ob sie eine solche Angelegenheit verzeihen würde. Je länger sie
darüber nachgedacht hatte, desto mehr wurde ihr klar, dass ein fremdes Kind, wie es in ihren Augen
wäre, letztendlich an ihrer Ehe nichts Grundlegendes ändern sollte. Ausserdem war sie sich Matthias
Liebe ganz sicher. Dabei ignorierte sie tapfer und in völliger Selbstlüge das kleine Teufelchen, das ihr
auf der Schulter sitzend zuzuflüstern schien: „Und wieso hat er neue Unterhosen und zieht sich
anders an?“
„Komm, wir gehen noch ein wenig spazieren vor der Kosmetik… genug ernste Worte gewechselt.,“
riss Hannah sie da aus den Gedanken.
„Da hast du auch recht, lass uns gehen…,“ schüttelte Alex ihre Gedanken ab.
Die wunderschöne alte Kurstadt Karlsbad im Nordwesten von Tschechien begrüsste sie mit einem
strahlend blauem Himmel und erster Frühlingswärme. Die Freundinnen hielten schier den Atem an,
als sie vor das altehrwürdige Hotel traten und nun, im Morgenlicht, das sahen, was ihnen am Abend
gar nicht so recht auffallen wollte: Karlsbad zeigte sich in alter Tradition mit seinen etwa 100
Brunnen mit natürlicher Mineralquelle, seinen Kolonnaden und seinen alten Kirchen und anderen
Gebäuden. Die Menschen hier schienen sorgfältiger angezogen und zukunftsfreudiger zu sein als
zuhause. „Schau mal, wie hübsch die hier sind – und sie sehen viel optimistischer aus als in
Deutschland,“ fiel es Alex auf. Überall waren Gebäude saniert und restauriert und es wurde emsig
weiter gewerkelt – auch am Wochenende. „Und zuhause hast du das Gefühl, dass am Wochenende
in den Städten Totentanz ist. Unglaublich!“ wunderte sich auch Hannah. „Ich habe gelesen, dass viele
Firmen ihre Betriebsstätten oder Rechnungsstellen in die ehem. Tschechoslowakei verlegen, weil es
hier preiswerter ist und die Leute motivierter… und wenn ich mir das hier so ansehe, kann ich
verstehen, was sie meinen…“ In der Tat hatten sie beide das Gefühl, von einer Welle des Optimismus
mitgetragen zu werden, als sie all diese jungen gut gekleideten und auffallend hübsch
zurechtgemachten Frauen sahen, die in Bürokleidung mit bestimmten Gang ihren Weg kreuzten. „Ich
glaube, die werden uns europaweit noch überholen, so motiviert laufen bei uns wenige rum,“ führte
Alex die Gedanken weiter.
„Guck mal, der erste Brunnen. Wollen wir?“
„Was?“
„Na einen Hieb nehmen: Karlsbad ist doch berühmt für seine Trinkkuren. Übrigen hab eich mich
schlau gemacht, bis zum 4. Monat darf man das Wasser im Rahmen einer Trinkkur trinken, danach
nicht. Frag mich aber nicht, warum dann nicht mehr…“
„Brrrr… schmeckt ja scheusslich. Das erinnert mich an unsere eine Schulfahrt nach Ich-weiss-nichtmehr-wohin, wo wir alle diese eklige Brühe trinken mussten. Mir war den ganzen Tag schlecht und
du hattest Angst, dass ich mich übergeben würde.“
„Stimmt!“ lachte Hannah mit ihr. „Wenn mir jetzt schlecht würde, dann würde ich mich allerdings
freuen…“
Alex hielt einen Augenblick inne. „Du, sag mal, hast du schon mal Gebärmutterflattern gehabt?“
Hannah lachte laut los. „Was für ein Ding?“ brachte sie unter Anstrengung hervor.
„Gebärmutterflattern!“ beharrte Alex beleidigt. Hannah nahm sie gar nicht ernst. „Na ja, die hatte
gut reden, sie hat ja auch einen positiven Test in der Hand …“ fügte sie in Gedanken an.
„Und was ist das?“
„Es fühlt sich wie Muskelzucken in der Gebärmutter an, ob das vielleicht die Reaktion der
Gebärmutter auf die Einnistung war?“ sagte Alex auf Unterstützung hoffend.
„Das wäre zu schön!“ sagte Hannah und strich ihr kurz über den Arm, nur so als kleine Geste.
„Übrigens sind wir hier ja ganz nahe an Prag, und da gibt es tolle Kinderwunschzentren. Da ist auch
mehr erlaubt als bei uns, zum Beispiel die Untersuchung der Eizellen vor dem Transfer…“
„Wie meinst du das?“
„Bei einer künstlichen Befruchtung, also im Reagenzglas, wird ja normalerweise eine der Eizellen, die
vital genug ist, mit den Samen zusammengebracht. Wie auch immer, also entweder so zur freien
Auswahl bei der IVF, der in vitro Fertilisation, oder es wird eine Spermie auserwählt – eben bei der
ICSI. Frag mich nicht, was das genau heisst. Aber die Eizelle wird nicht untersucht, ob sie intakt ist,
das ist in Deutschland verboten. Man kann allenfalls die Polkörperchen untersuchen, ob da
Chromosomenstörungen vorliegen.“
„Polkörperchen?“
„Ja. Man untersucht die so genannten Polkörperchen der Eizelle. In diese "entsorgt", salopp
gesprochen, die Eizelle bei ihrer Reifeteilung die eine Hälfte ihres zunächst noch doppelten
Chromosomensatzes. Dies ist nötig, weil sich ja bei der Befruchtung väterliches und mütterliches
Erbgut verbinden. Darum muss logischerweise in Ei- und Samenzellen der in allen Körperzellen
übliche doppelte Chromosomensatz auf einen einfachen Satz reduziert. Damit liegt aber auch gleich
ein wesentlicher Nachteil auf der Hand: Es können eben nur genetische oder chromosomale
Veränderungen der Eizelle identifiziert werden. Das väterliche Erbgut wird nicht erfasst. Ausserdem
hat das Verfahren, wenn ich mich recht entsinne, noch ein anderes Risiko: Dabei können die Eizellen
beispielsweise beschädigt werden. Ausserdem lassen sie sich nicht mehr einfrieren und stehen so für
einen weiteren Behandlungszyklus nicht mehr zur Verfügung. Dennoch - es ist besonders interessant
für Frauen, bei denen Chromosomenschäden aufgetreten sind.“
„Mensch, du hast dich aber informiert.“
„Ja klar, nach der Fehlgeburt hat mich alles darüber interessiert.“
„Aber sag mal: Woher weisst Frau, ob solche Schäden bei einem vorliegen?“
„Ausprobieren.“ War die trockene Antwort von Hannah.
„Ausprobieren?“
„Nach mehreren Fehlgeburten wird das untersucht.“
„Na, Prost Mahlzeit, aber das kommt für uns ja nicht infrage. Ich Frage mich manchmal, wie Frauen
das aushalten, diese Repro mit den Hormonen oder mehrere Fehlgeburten. Und dann bin ich froh,
dass das bei uns nicht ist. Und eine Repro kann ich mir sowieso nicht vorstellen, entweder kommt
das Kind so oder eben nicht.“ Alex schaute in Gedanken an sich herunter und dachte: „Eben doch!“
und freute sich.
„Was für Trübsinn… lass uns weitergehen, es ist so schön hier. Guck mal, da, beim Optiker…“ Hannah
lachte laut los. „Guck mal, was da steht: Ultraschallgerät 69,00 €, das wäre was für uns, oder?
Schade, dass keine Sonde und kein Bildschirm dabei ist, so ein Taschen-US- Gerät wäre schon klasse,
Bildschirm nehmen wir vom Handy. Das wäre DIE Neuheit und würde sich verkaufen lassen wir
geschnitten Brot. Und dann könnten wir immer zuhause schauen, wie Maxi und Moritz wachsen.“
Fröhlich ärmelte sie Alex unter und trat den Rückweg ins Hotel an.
Folge 104
Sie waren noch nicht ganz im Hotel angekommen, als Alex’ Handy klingelt. Sie schaute nur kurz auf
das Display und strahlte. „Mein Süsser!“ sagte sie und drückte den Einschaltknopf.
„Hi Schatzi! Alles okay bei dir?“
Hannah hörte Matthias’ Stimme im Lautsprecher, konnte aber nichts verstehen.
„Wo sie immer sind, oder meinst du, ich verstecke die jetzt, weil Ostern kommt…“ sagte da eine
leicht genervte Alex. „Entweder in der Kommode im Schlafzimmer oder in der Wäschetonne im Bad
oder in den Wäschekörben im Hauswirtschaftsraum… ja klar, wenn sie da sind, sind sie schmutzig. Du
kannst aber auch im Trockner gucken, ich glaube, ich habe bunte Wäsche noch gewaschen… ja, der
Knopf mit der Aufschrift „Tür“. Ja, dir auch, danke. Tschüss.“ Alex hatte eindrucksvoll die Augen
verdreht, als sie das Handy ausschaltete.
„Matthias fragt mich ernsthaft, wo seine Unterhosen sind. Als ob ich die immer an anderen Stellen
unterbringen, in der Keksdose, im Geschirrspüler – sag mal, wie blöd sind die Kerle eigentlich? Ich
glaube, meine Überlegung, ob ich einen Jungen haben möchte, hat sich gerade erledigt.“ Alex war
sichtlich angefressen. „Manchmal frage ich mich, wie er ohne mich klarkommen würde, nur leider ist
es so, dass er dann entweder zurück zu Mama gehen würde – oder vermutlich prima alles meistern
würde, weil es ja nicht anders ginge.“
„Nun komm mal wieder runter, glaubst du etwa, andere Männer seien grundlegend anders? Thomas
kann das auch prima. Letztens brüllte er durch die ganze Wohnung „Hannah, ist die
Geschirrspülmaschine sauber?“ dabei stand er genau daneben, er hätte sie nur öffnen müssen.“
Alex lachte. „Oh Mann, das kenne ich! Meiner legt immer, egal wie oft ich ihm sage, wie mich das
ärgert, das schmutzige Geschirr links neben die Spüle –und da ist ja immer das saubere. Letztens
habe ich ihm gesagt, er könne das doch abwaschen. Seine Antwort war klasse: „Das geht nicht, die
Maschine ist voll.“
„Okay, ich gebe zu, das ist schwer zu toppen. Aber du kannst doch froh sein, dass er nicht noch das
dreckige Geschirr in die saubere Maschine tut.“
„Macht das etwa Thomas?“
„Ist schon vorgekommen – na ja, ein Musterexemplar ist er eben auch nicht. Aber wie ist die Szene
denn? Ich stelle die Wäschekörbe auf die Treppenabsätze, die schmutzige Wäsche muss dann runter
in den Keller zur Waschmaschine, die saubere muss nach oben. Ich halte das für einfache Logik.
Thomas schaut mich, wenn ich die vollen Körbe in der Hand habe, immer voller Anteilnahme an und
sagt: „Ach Schatz, schlepp nicht so schwer.“ Oder noch besser: "Ach Schatz, war der für oben? Sag
doch was?!". Am schönsten finde ich aber den: Wenn Mann vom Laufen kommt und sein Zeug in die
Waschmaschine füllen will – du sagst es: ER bekommt einen Orden verliehen für Proaktivität - und
die Maschine ist noch voll..., was tut Mann dann? RICHTIG: rufen! "Schaatz, da ist ja noch Wäsche
drin!"
Alex musste sich an dieser Stelle schon kringeln, aber auch sie hatte noch eine Anekdote von
Matthias beizusteuern: „Okay, lass mal sehen, einen habe ich noch: Alle zwei Wochen dienstags wird
bei uns Papier und Müll abgeholt. Das kommt für Matthias immer wieder überraschend, so wie
Weihnachten. Ein paar hyperaktive Nachbarn stellen den Müll meist am Montag schon raus, so dass
ich dann positiv davon ausgehe, dass auch unser Müll den Weg nach unten findet – im besten Fall
sogar bis auf den Bürgersteig. Letztens stand unserer aber Dienstagnachmittag noch immer in der
Wohnung. Auf Nachfrage gab Matthias dann an, er wisse zwar, dass die anderen den Müll
rausgestellt hatten, aber er dachte, die hätten sich alle – die ganze Strasse – getäuscht.“
„Fühlst du dich auch manchmal wie Göttin Kali? Die mit den acht Armen? Zum Thema wegräumen
bei uns: Seinen WICHTIGEN Kram wie Motorrad-Zeitschrift und Geldbeutel nimmt er mit und sagt an
guten Tagen noch: "Mehr schaffe ich jetzt nicht." Und ich darf dann wenige Minuten später mit 'nem
Berg Klamotten, mehreren Duschgels und noch irgendeinem Mist durch die Wohnung rennen …
Frauen sind einfach viel praktischer veranlagt und machen eigentlich permanent mehrere Dinge
gleichzeitig, Männer sind wahrscheinlich genetisch schon nicht zu Multitasking fähig... letztens wollte
ich, dass er mir sagt, ob das Duschgel gut riecht, weil ich es neu hatte und mich gerade geduscht
hatte. Ich gehe also zu ihm und bitte ihn, an mir zu schnüffeln, das sagt er – in der Küche stehend –
das ginge nicht, er würde gerade Kaffeeaufsetzen. Unterbrechen könnte er das nicht, das würde ihn
aus dem Konzept bringen.“
„Hört sich abmahnungsverdächtig an… vielleicht sollte man wie die Super-Nanny mit gelben und
roten Karten arbeiten? Oder auf der Magnettafel Belohnungspunkte für proaktives Mitdenken,
Tonnenservice und Wäschebeschickung vergeben - bei 10 Smileys darf er in die Waschanlage fahren
oder sich ein Ersatzteil für ein Motorrad kaufen????“
„Ja,“ sagte Hannah unter malerischem Augenrollen. „Post-It oder Listen habe ich schon versucht - die
Zettel steckt er in die Hemdtasche und ich finde sie dann meist NACH der Wäsche als Knübbelchen
auf der Wäsche verteilt wieder… auch immer wieder gerne gesehen…. - ohne Erledigung der Bitten,
versteht sich!“
Alex grinste: „Ich schaue dann immer in mein Sparbuch unter der Prämisse: Habe ich genug Geld für
die Kaution? Aber ich bin mir sicher, meine Mutter würde mir aushelfen.“
Äusserst fröhlich hatten sie das Hotel erreicht und fieberten nun der ersten Anwendung entgegen.
Folge 105
Leise Musik tönte von einer BeruhigungsCD. Alex drückte sich noch ein wenig tiefer auf das Polster
und in das Heizkissen. Sie war glücklich, die Zukunft erschien ihr erneut klar und schön. Wie sollte sie
auch anders empfinden? Sie hatte einen tollen Mann, der nun mit ihr an einem Strang zog und sogar
ein Spermiogramm machen liess, sie hatte eine vertraute alte neue Freundin, die mit ihr durch Dick
und Dünn ging; sie hatte keine Geldsorgen und ein schönes Zuhause – und sie hatte sogar das tiefe
Vertrauen, dass sie am Ziel ihrer Träume angelangt war: Das ersehnte Baby, ihr Kind, war in
erreichbare Nähe gerückt. Die paar Tage bis zur endgültigen Gewissheit eines Tests mit zwei gut
erkennbaren Streifen, einem als Kontrolle und einem als Zeichen für eine eingetretene
Schwangerschaft, würde sie nun locker hinter sich bringen. Naja, nicht ganz locker, aber ziemlich
locker. Und Hannah half ihr dabei.
„Kommt der Dampf gut an?“ erkundigte sich eine junge Blondine, deren Make-up perfekt war und
deren nur leichter Akzent Alex in Erinnerung rief, wo sie sich eigentlich befand: Ganz nahe des
Kinderwunsch- Eldorados Prag.
„Ja, perfekt“, sagte Alex und meinte sowohl den Dampf als auch die Blondine und die Nähe zu Prag.
So weit war es also gar nicht – nur für den Fall, dass sie diese Information einmal benötigen würde.
„Haben Sie Kinder?“ entfuhr es Alex da unvermittelt, und sie biss sich auf die Zunge. Was für eine
dämliche Frage! Hatte sie nicht oft genug unter eben dieser Neugierde gelitten?
„Nein, noch nicht, aber in ein paar Jahren möchte ich gerne welche haben“, entgegnete die
Kosmetikerin hinter ihr freundlich und voller Vertrauen, dass es ihr ein Leichtes sein würde sich
diesen Wunsch zu erfüllen.
„Dann wünsche ich Ihnen, dass es genauso kommt, wie Sie es sich erhoffen“, sagte Alex warmherzig.
Die keimende Schwangerschaft machte sie grossmütig.
Noch ehe die nette junge Frau etwas entgegnen konnte, erklang durch die Sphärenklänge aus dem
Lautsprecher das unüberhörbare Doppelklingeln eines Handys. Alex hatte vergessen, ihr Mobilfon
auszustellen – und sie hatte eine SMS bekommen.
„Könnten Sie mir das Telefon kurz geben? Dann kann ich es schnell ausmachen. Es ist mir sehr
peinlich, dass ich es vergessen habe…“ stammelte Alex vor Verlegenheit.
„Natürlich, kein Problem“, entgegnete die Dienstleisterin und holte das Handy, nachdem Alex ihr
beschrieben hatte, wo es zu finden ist.
Eigentlich wollte Alex es sofort ausmachen, aber die Neugierde siegte. Sie musste wissen, wer ihr
gerade jetzt eine Nachricht zukommen liess. Matthias konnte es kaum sein, denn er mailte ungern
und daher selten.
„Hallo mein Älchen, ich gehe heute mit Blondie R. + Sohn in den Zoo – Papa üben… ;-))) M.“Hiess der
Text. Alex stiegen die Tränen hoch. Matthias würde tatsächlich mit Ralph und Max in den Zoo gehen,
weil Max sein zukünftiges Vaterherz gerührt hatte.
„Ach wie süss von ihm“, entfuhr es ihren Lippen.
Die Kosmetikerin lächelte. „Soll ich das Handy zurücklegen oder möchten Sie erst noch antworten?“
„Nein, ich mache sofort aus, es kann weg, danke, nett von Ihnen“, gab Alex als Antwort und schaltete
das Gerät aus. Und dann räkelte sie sich erneut auf dem Liegestuhl und entspannte. Ihr war wohlig
warm.
Plötzlich durchfuhr ein Gedanke ihren Kopf: War es vielleicht zu warm für das Kind? Wenn sich die
Temperatur im Körper erwärmt, würde das doch bestimmt die kostbare Frucht in Mitleidenschaft
ziehen?! Sie räusperte sich: „Könnten Sie es etwas kühler stellen? Ich weiss nicht… also, ich bin ja
schwanger, und da bin ich mir nicht sicher, ob es nicht zu warm ist?“
„Keine Angst, ich glaube nicht. Meine Freundin hat gerade ihr Kind bekommen, und sie war
begeisterte Saunagängerin. Als sie erfuhr, dass sie schwanger sei, hat sie ihren Arzt gefragt, ob die
Wärme dem Kind schaden würde – und der meinte, das kann nicht sein, weil die innere
Körpertemperatur ziemlich konstant bliebe und es in keinem Fall zur Schädigung von Babys kommen
kann. Ich nehme an, das ist hier auch so. Aber ich stelle natürlich gerne weiter runter, sagen Sie
einfach, wenn es zu kühl wird.“ Kurze Zeit darauf merkte Alex, wie die Wärme des Heizkissens
deutlich nachliess – und sie konnte erneut entspannen.
Die Behandlung war wie massgeschneidert für Alex, nach der Hautreinigung erfolgte die übliche
Packung und dann nach der Massage noch eine Maske. Alex verfiel in einen leichten Schlummer,
während Harfenklänge durch die Luft waberten. Sie sah sich mit Hannah reden: „A Propos Traum:
Heute Morgen war ich noch einmal eingeschlafen, und da träume ich, ich bin beim FA, der Wartesaal
sah aus wie ein Seminarraum, ganz viele Leute da - vermutlich kam diese Assoziation wegen der
Tagung in ein paar Wochen, die ich noch vorbereiten muss, Es gab nur Metallgestellstühle, die total
unbequem waren und eine ganz lange Wartezeit. Und immer denke ich: „Was will ich hier, mein
Eisprung ist doch gerade einmal drei Tage her?!“ Aber die Aussicht auf ein Ultraschallbild mit
Fruchthöhle und einem Embryo war so verlockend! Schliesslich beschwere ich mich, dass es so lange
dauert Der Frauenarzt – den ich gar nicht kenne, weil ich ja bei einer Gynäkologin in Behandlung bin ist ganz nett und meint, er würde auch ganz lange schallen, und das dreimal, und ich denke immer
wieder "Eigentlich sollte ich erst mal einen SST abwarten",. aber dann bin ich dran. Ich will Matthias
noch sagen, dass es eigentlich keinen Sinn macht, aber der winkt ab - tja, und dann war ich wach und
wusste wieder nicht, ob ich SS war oder nicht.“ Beide lachten los und schüttelten über sich selbst den
Kopf. „Oh je, Kinderwunsch macht wuschig im Kopf“, sagte Hannah und gab ihr einen liebevollen
Klaps auf den Hinterkopf.
Alex wachte davon aus, dass die Kosmetikerin in den Behandlungsraum zurückgekehrt war; ein Ende
des Traumes mit einem definitiven Schwangerschaftstest war ihr also nicht vergönnt gewesen, aber
sie war sich sicher: Diesmal hat es geklappt.
„Möchten Sie eine Fussreflexzonenmassage? Bis zum fünften Monat ist das eigentlich kein Problem,
sagt man, aber die Entscheidung liegt bei Ihnen. Danach kann es zu frühzeitigen Wehe kommen.“
„Ja, bitte die Massage, noch kann bestimmt keine Wehentätigkeit kommen“, lächelte Alex
siegesgewiss.
„Und zuvor eine Pediküre?“ fraget die Kosmetikerin. „Es ist nichts vermerkt, aber vielleicht…?“
Alex war gut gelaunt, und deshalb sprang sie über ihren Schatten: „Ja, warum eigentlich nicht, aber
ich habe – na ja, also, ich leide unter einem hartnäckigen Nagelpilz…“ Sie merkte, wie sie errötete.
„Na, den werden wir schon in den Griff bekommen, dann ist es ja umso wichtiger… haben Sie es
schon mit Medikamenten versucht?“
„Nein, ich hatte immer Angst davor, weil man sie bei Kinderwunsch nicht nehmen darf…“ Das hatte
Alex noch niemandem gesagt, es war ein absolutes Tabu-Thema, und selbst Matthias sprach sie nicht
auf ihre verdickten Fussnägel an, die sie seit Jahren täglich ohne Erfolg und immer wieder zu ihrer
grossen Enttäuschung entstellt nachwachsend mit einer Tinktur bepinselte.
„Das bekommen wir schon hin, so schlimm ist es nicht…“ nahm die Fachkraft mit einem kundigen
Blick auf die Zehen ihr die Peinlichkeit.
Alex lächelte, dann würde jetzt alles seinen guten Ausgang finden. Sie sah sich barfuss am Strand
laufen, ein kleines Mädchen an der Hand. Sie war selig. Vollständiges Glück durchströmte sie. Sie rief
sich noch einmal den Text der SMS vor Augen – Matthias Papa übend mit Blondie R. im Zoo.
Und da traf es sie – Blondie R. – das war nicht Ralph, das war Rita – mit ihrem Sohn… und Matthias
spielte Papa!
Folge 106
„ Du hast einen Vogel, das sage ich dir“, schnaubte Hannah erbost, als sie sich die Litanei über die
vermeintliche Untreue von Matthias anhören sollte. Schroff hatte sie Alex unterbrochen, die sich
gerade in eine ihrer schönsten Selbstmitleidsszenen hineinsteigern wollte. „Hast du denn gar kein
Vertrauen zu ihm? Oder zu dir als seiner Partnerin? Mensch, Alex, was ist bloss aus dir geworden,
jede Kleinigkeit bringt dich ja völlig aus dem Gleichgewicht…“ fügte sie traurig an.
Eigentlich wollte ihr Alex aufbrausend über den Mund fahren, aber die Art, wie Hannah das gesagt
hatte, liess sie verstummen. Nach einer kleine Pause fragte sie: „So schlimm?“ und schaute Hannah
mit feuchten Augen an. Ihre Freundin nickte. „Schlimmer. So kenne ich dich gar nicht. Im
Vierzahntagerhythmus bist du super gelaunt und mit Abfall der Hormone nach dem Eisprung verfliegt
das dann. Und dann bist du gar nicht mehr wie früher…“
Alex kamen die Tränen hoch. „Ach, ich weiss auch nicht, aber alle anderen werden schwanger –
selbst diese Hyper-Rita mit den langen Beine und dem straffen Po – nur ich sitze hier und warte
immer noch. Und warte. Und warte. Und fühle mich so unnütz. Weisst du, alle können es besser als
ich.“
„Ich nicht so richtig…“ sagte Hannah und lächelte zerknirscht.
„Quatsch. Du bist wenigstens schwanger, ich bestimmt nicht. Es fühlt sich an wie immer – und den
Ausgang davon kenne ich.“ Alex liess den Kopf hängen. „Da wäre es einem Mann ja gar nicht übel zu
nehmen, wenn er sich eine andere sucht – die ihm dann ein Kind andreht. Oder schenkt, wie man es
nimmt.“
Hannah schaute sich um und suchte einen Spiegel, die in diesem Wellness-Hotel reichlich vorhanden
waren. Sie zog ihre Freundin aus dem gemütlichen Clubsessel, in dem sie sass, zu einem dieser
Spiegel hin. „Hier, sieh dich mal an, du bist frisch geschminkt und siehst super aus, deine Figur ist
prima mit den Rundungen an den richtigen Stellen, du bist intelligent, einfühlsam – und für jeden,
der dich kennt, etwas ganz Besonderes. Sollte es mit einem Kind nicht funktionieren, was ja gar nicht
raus ist, denn ihr habt ja sozusagen noch nicht viel unternommen, dann solltest du dich mal schnell
auf dich besinnen; denn Matthias hat ja wohl nicht die Mutter seiner zukünftigen Kinder geheiratet
sondern dich, weil er dich liebt.“ Alex betrachtete ihr Spiegelbild und fand sich nur dicklich,
zusammengesackt und mit hängenden Mundwinkeln, die schon wieder weinerlich zuckten.
„Allerdings schleppe ich dich jetzt zum Frisör, deine Haare brauchen Erneuerung“, sagte Hannah
bestimmt.
„Und wenn ich schwanger bin?“ wandte Alex zögerlich ein.
„Dann ist die Einnistung gerade im Gange und kann nicht gestört werden. Basta.“ Und schon ging es
ab zum Hotelfrisör, der den ganzen Tag geöffnet zu haben schien.
Während Alex sich für die richtige Farbe Strähnchen – es sollte Braun im braunen Haar sein –
entschieden hatte und nun auf weitere Zuwendung durch die Frisörin wartete, sass Hannah neben
ihr und plauderte. Zwei Stühle weiter sass eine rundliche Mittvierzigerin, die sich ihre Haare kräftig
Rot mit dunklem Unterhaar färben liess. Sie sprach immer lauter mit ihrer Stuhlnachbarin, deren
Haarpracht bereits unter der Haube verschwunden war und die mehrfach Worte deshalb nicht hatte
verstehen können.
„Das finde ich ja unmöglich. Wie alt???“
„Siebenundvierzig, wenn das Kind kommt, achtundvierzig. Ich freue mich für meine Schwägerin…“
„Nee du, das ist ja wohl das letzte. Die ist dann ja so alt wie meine Schwiegermutter, als sie Oma
wurde.“
„Deshalb kann sie ja trotzdem eine gute Mutter werden…“ hielt die Haubenträgerin ihr entgegen.
„Du, lass dir eines gesagt sein, ich kenne solche Typen, die kommen bei uns immer in den Laden –
autsch, nun zerren Sie doch nicht so an den Haaren – und fragen immer ganz unsicher, wie warm sie
ihre Kinder anziehen sollen. Und dann kaufen sie sich Bücher über Kindererziehung und so – die
wissen gar nicht, was sie da machen sollen. Immer diese Fragen, grässlich. Und dann verwöhnen sie
ihre Kinder so… also ich hätte das nicht gemacht.“
„Naja, aber vielleicht haben sie lange geübt, und es hat bisher nicht geklappt. Sie hatten ja gar keine
Hoffnung mehr, denke ich. Und wenn ich ehrlich bin, wenn ich nicht Laura und Yan hätte, dann
glaube ich, dass ich auch gerne noch Kinder hätte in dem Alter – auch wenn ich so alt gewesen
wäre.“
„Nee, ich hätte dann verzichtet, das würde ich Kindern nicht zumuten.“
„Soll sie etwa abtreiben, bloss weil es anderen nicht passt, dass es ältere Mütter gibt?“ fragte die
andere etwas spitz. „Mir sind solche Mütter, die sich wirklich freuen, lieber als diese Teenager, die
Kinder in die Welt setzen und nicht wissen, dass man sie im Winter in der Karre zudecken muss, um
sie zu wärmen.“
„Nee, die finde ich besser. Diese alten Gaken…“
„Du hast ja auch gut reden, du hast Manfred ja auch schon mit knapp über 20 kennengelernt und
dann hat es sofort geschnackelt!“
„Und wenn nicht, weisst du was? Ich hätte mir dann egal von welchem Typen ein Kind andrehen
lassen und es alleine aufgezogen, das kannst du mir glauben. Aber über 40 ein Kind – nee, das ist ja
widerlich.“
„Also ich finde es schön für die beiden – und es wird ein ersehntes und geliebtes Kind“, betonte die
erste, deren Trockenhaube plötzlich fiepte, so dass das Gespräch abrupt und dankbarerweise
unterbrochen wurde.
„Siehste, Hannah, so werden die bald auch über mich reden“, sagte Alex leise und tief getroffen.
„Eine alte Gake werde ich sein. So sieht das aus…“
„Vielleicht werden Menschen das sagen – aber es wird ein wunderbares Kind, das mehr als andere
geliebt wird, weil du es dir ersehnt hast – und es dir nicht einfach angedreht wurde. Und das ist doch
viel wichtiger, oder?“
„Eigentlich schön, aber…“
„Nichts aber…. Du weisst genau, dass ich Recht habe. Andere haben immer gut reden – und ich freue
mich über jede Frau, die sich ganz bewusst für ein Kind entscheidet – und letztendlich kann man das
doch erst, wenn man eine gewisse Reife hat, oder?“ Sie stupste Alex liebevoll: „Und wir sind eben
reifer als andere. Und genau das lieben unsere Männer an uns.“
Und irgendwie sah Alex jetzt die Welt auch wieder anders, denn Hannah hatte Recht: Sie hatte mehr
zu bieten als viele andere Frauen. Und das wusste Matthias auch. „Weisst du was? Ich rufe Matthias
mal an…“ entschied sie und wählte seine Nummer. Und als sie ihm sagte, dass sie ihn vermisst, hörte
sie im Hintergrund Ralphs Stimme, der ihr Grüsse übermitteln liess, und ihr dann ein kurzes Gespräch
mit Max verschaffte.
Folge 107
Zuhause wieder angekommen wurde Alex recht schnell auf den Boden der Tatsachen geworfen Zwar
hatte sich Matthias wie Bolle gefreut, sie wiederzusehen, doch fragte sie sich schnell, warum; denn
klar war: Die Waschmaschine war defekt, weil Matthias nicht wußte, wie sie zu öffnen war und den
einfachen Öffnungsmechanismus mit Hilfe eines Schraubenschlüssels zwar unnötig gemacht hatte,
dafür musste nun aber auch die Gummidichtung erneuert werden. Und da die Maschine dann zwar
offen, nicht aber die Wäsche herausgenommen war, hatte diese einerseits den typischen muffigen
Geruch angenommen, andererseits auch noch zum Teil Stockflecken. War Alex allein darüber schon
enttäuscht, verbesserte der Anblick der Küche ihre Laune nur unwesentlich – und Phoebes Verhalten
war so, als wäre nicht einmal die Katze gefüttert worden. Zu Matthias Unschuld muss man aber
sagen, dass Phoebe eine entsprechende mitleidheischende Show jedes Mal zeigte, wenn Alex auch
nur mehr als 9 Stunden aus dem Hause war.
Dennoch, Alex’ Laune wankte. Mutig aber nahm sie den Hörer in die Hand, um die nächsten Schritte
beim Frauenarzt abzusprechen. Wenn Matthias schon so tat, als würde das alles ihn nichts angehen,
dann wollte sie selbst sich diesem Vorwurf nicht aussetzen.
„Ja, Manthei hier, ich wollte mir einen Termin geben lassen – ich, also, bei uns hat es mit einem Kind
ja noch nicht geklappt, und da dachte ich… nein, nicht erster Zyklustag, achter… hm, verstehe, gut
dann in drei Wochen… danke.“
Drei Wochen!!! Ob diese Schnepfen am Empfang – was für ein Wort in diesem Zusammenhang –
überhaupt wissen, wie lang diese Zeit ist? Da kann man ja – ja , stimmt, da kann man schwanger
werden. Man, aber nicht sie, Alex, die nun gerade spürte, dass sie eine völlig verfrühte Mens
bekommen würde. Es kribbelte – so wie es immer kribbelte, wenn die Phase Rot eingeläutet wird.
„ Es MUSS etwas geschehen!“ dachte sie entschlossen und nahm den Stift in die Hand. Was sie schon
lange hatte tun wollen, musste nun getan werden – sie würde dem Bundespräsidenten schreiben.
Denn Köhler hatte damals in seiner ersten Neujahrsansprache gesagt, - und das mit einem wie sie
fand durchaus anklagenden Ton – die Deutschen würden keine Kinder mehr bekommen. Und nun
stand ja irgendwann die Neujahrsansprache von Wulff ins Haus. Nicht, dass der auch so was sagen
würde…
Nun saß sie da, den Stift in der Hand und kaute auf seinem Ende. Das hatte sie schon in der Schulzeit
getan und es war und blieb eine schlechte Angewohnheit. Egal, es mussten Opfer jeglicher Art
gebracht werden, und wenn es ausgerechnet der Lieblingsstift von Matthias war, dann war es eben
sein Opfer, wie Alex mit leichter Zufriedenheit feststellte.
„Sehr geehrter Herr Wulff,
Ihr Vorgänger, Herr Dr. Köhler, hatte in seiner ersten Neujahrsansprache deutlich gemacht, dass die
deutschen Frauen keine Kinder bekämen. Ich versuche, wie viele Frauen, seit Jahren ein Kind zu
bekommen, doch die äußeren Bedingungen scheinen gerade heute denkbar schwierig: Die
Lebenshaltungskosten steigen rapide, auch wenn die Politiker mit ihren enormen Gehältern dies
vielleicht gar nicht bemerken, wir merken es schon. Also müssen auch Frauen arbeiten. Nebenbei
werden Haus und Garten geregelt, der Mann unterstützt… kurz, wir Frauen opfern uns für alle
anderen und bleiben selbst auf der Strecke. Und diese Strecke ist dann eben auch oft die
Kinderlosigkeit, die uns anhängt wie ein schlechter Geruch, an die wir überall erinnert werden und
die uns nun auch noch vorgeworfen wird. Dabei ist sie doch nicht freiwillig, wir leiden darunter und
müssen doch gute Miene zum bösen Spiel machen, die Kinder aller anderen lächelnd bewundern,
Geschenke in Läden kaufen, die wir eigentlich lieber meiden, weil sie uns unser eigenes Versagen
anklagen. Wir hören wöchentlich „naja, Sie haben ja keine Kinder…“, als würde dies uns davon
abhalten, einfühlsam zu sein – kurz, die Kinderlosigkeit in Deutschland ist für die betroffenen Frauen
eine Qual, und gerade ein Staatsoberhaupt sollte da sensibler sein. Denn Mittel gegen die
Kinderlosigkeit werden nur in geringem Maße von den Krankenkassen bezahlt, wenn man nicht
gerade Sozialfall ist – und so wird die Kinderlosigkeit schnell zu einer Geldfrage, die Normalverdiener
unverhältnismäßig hoch trifft.
Sie als mehrfacher Familienvater können sich sicher in die Situation einer Kinderlosen in Deutschland
besser hineinversetzen als Ihr Vorgänger – auch wenn das Thema durch die aktuelle Frage der
Integration ausländischer Mitbürger in den Hintergrund gedrängt wird, sollte es dennoch Beachtung
finden.
Hochachtungsvoll, Ihre Alexandra Manthei“
Hm… so ganz gefiel ihr das Schreiben noch nicht, aber es war ein Anfang. Und ihre Hochachtung
würde natürlich auch vom Antwortschreiben abhängen, aber in „freundliche Grüße“ umändern
wollte sie es dann doch nicht.
Immerhin ging es ihr nun besser, sie würde nicht schweigen – wenn dieses No-name-Thema musste
eben auch mal angesprochen werden, da biss keine Maus den Faden ab.
Alex sinnierte noch ein wenig vor sich hin, legte dann den Stift wieder zu Matthias Sachen (wobei sich
nun doch ein klein wenig ein schlechtes Gewissen einschlich), strich Phoebe nebenbei über den Kopf
und ging ins Bad. Ihr blödes Gefühl ließ ihr keine Ruhe.
Fortsetzung folgt...
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