KVH aktuell Pharmakotherapie Heft Nr. 4

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KVH • aktuell
Informationsdienst der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen
Pharmakotherapie
Rationale und rationelle Pharmakotherapie in der Praxis
Jhrg. 12, Nr. 4 – Dezember 2007
Rezept oder Skalpell?
Patienten mit Rückenschmerzen zählen in der Praxis zum täglichen Brot. Und wenn
sie beispielsweise durch Bandscheibenvorfall, degenerative Spondylolisthesis oder
Spinalstenose ausgelöst werden, stellt sich die Frage: Zum Operieren schicken oder
weiterhin mit Rezepten und guten Ratschlägen behandeln? Dazu gibt es diverse
Studien, die unterm Strich allerdings keinen eindeutigen Vorteil für die eine oder
andere Methode herausarbeiten konnten. Entscheidungshilfen für den Einzelfall
lassen sich aus ihren Ergebnissen aber sehr wohl extrahieren.
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Was unternehmen Sie bei einer TIA?
Der Mundwinkel hing einige Minuten lang leicht schief und der Arm war ein
bisschen lahm – ein indolenter Patient nimmt so etwas auf die leichte Schulter
und manch ein Kollege wartet in solchen Fällen auch ganz gerne ab. Das kann
fatal werden: Jeder Zehnte dieser TIA-Patienten bekommt innerhalb des nächsten drei Monate einen richtigen Schlaganfall – es sei denn, er wird konsequent
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behandelt.
Reizende Küsse
Dass ihr Mann sie zärtlich küsste, gefiel der Patientin durchaus – dass anschließend
ein Ekzem auf ihren Lippen blühte, fand sie dagegen ziemlich lästig. Womit wir beim
Thema wären: Manchmal schleicht sich ein Allergen über verdeckte Pfade an, auf
die man erst einmal kommen muss. In diesem Heft finden Sie neben dem reizenden
Kuss noch weitere solche Beispiele – vielleicht hilft Ihnen die Lektüre irgendwann
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einmal in der Praxis weiter.
Die häufigsten Fehlerquellen beim
Verordnen von Arzneimitteln
Medikamente haben Janusköpfe: Einerseits zählen sie zu den wichtigsten Werkzeugen des Arztes, andererseits bringen sie seine Patienten in Gefahr: Tödliche
Arznei-Nebenwirkungen, so ergab eine Untersuchung in den USA, liegen bei den
Todesursachen auf Platz sechs – bei uns dürfte es nicht viel anders sein. Viele
dieser bedauerlichen Fälle sind nicht unbedingt schicksalhaft, sondern durchaus
vermeidbar. Wo die häufigsten Fehler bei der Arzneiverordnung liegen und wie sie
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zu vermeiden sind, lesen Sie in diesem Heft auf
Die hausärztliche Leitlinie
zum Diabetes Typ 2
Wieder mit vielen praxisnahen Informationen und Tipps.
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KVH • aktuell
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Nr. 4 / 2007
Zu Risiken und Nebenwirkungen
Editorial
Sehr geehrte Frau Kollegin, sehr geehrter Herr Kollege,
„Krank auf Rezept“, „Gefährliche Nebenwirkungen“, „Tod durch Arzneimittel“ – so titelten unlängst etliche Tageszeitungen. Fünf Prozent aller Fälle in
den Inneren Abteilungen der Krankenhäuser sollen auf die Folgen von Medikamenteneinnahmen zurückgehen – rund 300.000 Fälle im Jahr. Der Bremer
Gesundheitsforscher Gerd Glaeske schätzt gar, dass jährlich 16.000 bis 25.000
Todesfälle durch Neben- und Wechselwirkungen verursacht werden. Die Hälfte
der Todesfälle sei vermeidbar. Alles übertrieben?
Tatsache ist, dass wir in Deutschland mit einem schier unüberschaubaren Medikamentenmarkt zu tun haben. Aktuell sind rund 20.000 Arzneimittel zugelassen.
Allein in 2006 kamen 2.734 Medikamente und 27 Wirkstoffe neu hinzu. Etliche
Präparate sind frei verkäuflich. Hinzu kommt: Die Patienten werden immer älter, und so steigt auch der Anteil derjenigen, die gegen mehrere Krankheiten
gleichzeitig behandelt werden müssen. Bluthochdruck, Diabetes, Alzheimer ...
– unerwünschte Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Arzneimitteln
können die Folge sein. Ohnehin reagieren Ältere empfindlicher auf bestimmte
Substanzen als jüngere Patienten.
Wenn es um die Einnahme von Medikamenten geht, haben wir Ärzte eine
große Verantwortung. Wir können zwar weder die Nebenwirkungen eines Medikamentes beeinflussen, noch den Patienten zu einem verantwortungsvollen
Umgang mit Arzneimitteln zwingen. Auch der Glaube, dass man Fehler in der
Arzneitherapie vollständig vermeiden kann, ist unrealistisch. Ziel muss es aber
sein, systematische Fehlerquellen so weit wie möglich zu minimieren. Dazu gehören neben der Arzneimittelzulassung sowie der Aus- und Weiterbildung vor
allem auch die Strukturen im Arbeitsalltag.
Ich bin den Kollegen der KV Hessen deshalb ausgesprochen dankbar, dass sie
dieses wichtige Thema in dem vorliegenden Pharmakotherapie-Heft aufgegriffen
haben. Es listet die häufigsten Fehlerquellen beim Verschreiben von Arzneimitteln
auf und stellt Lösungsansätze zur Vermeidung systemimmanenter Fehler vor.
Vieles von dem werden Sie sicherlich kennen und seit Jahren praktizieren. Und
dennoch möchte ich einige, aus meiner Sicht einfache, aber wichtige Ratschläge
wiederholen: Verordnen Sie sparsam. Legen Sie sich selbst eine überschaubare
„Positivliste“ von Arzneimitteln an. Beschränken Sie sich auf möglichst wenige,
wirksame und vor allem sichere Präparate. Fragen Sie Ihre Patienten, welche
Medikamente ihnen von Kollegen verordnet worden sind und welche rezeptfreien Mittel sie von sich aus zusätzlich einnehmen. Denken Sie daran: Weniger
ist mitunter mehr.
Ich wünsche Ihnen eine interessante Lektüre
Ihre
Angelika Prehn
Vorstandsvorsitzende der KV Berlin
Nr. 4 / 2007
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Editorial
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SPORT-Studien zum Bandscheibenvorfall
Operieren oder konservativ behandeln?
Dr. med. Alexander Liesenfeld
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Mund hing ein bisschen schief, Arm war vorübergehend lahm
TIA nicht auf die leichte Schulter nehmen – das kann fatal werden!
Dr. med. Klaus Ehrenthal
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Streit um ein neues (und teures) Medikament
Nutzen und Wirtschaftlichkeit von Natalizumab (Tysabri®)
Multiple Sklerose: Womit behandeln?
Natazulimab: Zur Frage von Nutzen und Wirtschaftlichkeit
Professor Dr. med. Peter Berlit und Prof. Dr. med. Gerd Glaeske
Masernimpfung: Argumente gegen Impfskeptiker
Dr. med. Günter Hopf
Skurrile Wege zur Erkrankung
Ungewöhnliche Ursachen für Allergien
Dr. med. Günter Hopf
Gefährliche Schuhe
Riskante Langzeit-Sitzung
Reizende Küsse
Sicherer verordnen
Dr. med. Günter Hopf
Arznei-Tee: Sehr begrenzt haltbar
Analgetika: Medikamenteninduzierte Kopfschmerzen
UAW bei Kindern: Berichte an die AkdÄ
Erythropoetine können Mortalität steigern
Die häufigsten Fehlerquellen beim Verschreiben von Arzneimitteln
Prof. Dr. med. Thomas Eschenhagen
Inhaltsverzeichnis
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Nehmen Sie das mal ein!
Riskante Wechselwirkungen zwischen Kommunikation und Arznei
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Rezept des Monats: Zwiespältige Angelegenheit
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Hausärztliche Leitlinie Diabetes mellitus Typ 2
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Hausärztliche Leitlinie venöse Thromboembolie – die Tischversion
zum Ausschneiden
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Impressum
Verlag: info.doc Dr. Bernhard Wiedemann und Anne Haschke-Wiedemann GbR, Pfingstbornstr. 38, 65207 Wiesbaden
Herausgeber: Kassenärztliche Vereinigung Hessen, Georg-Voigt-Straße 15, 60325 Frankfurt
Redaktionsstab: Dr. med. Joachim Feßler (verantw.),
Dr. med. Klaus Ehrenthal, Dr. med. Margareta Frank-Doss, Dr. med. Jan Geldmacher, Dr. med. Harald Herholz,
Klaus Hollmann, Dr. med. Günter Hopf, Dr. med. Wolfgang LangHeinrich, Dr. med Alexander Liesenfeld,
Renata Naumann , Alexandra Rieger, Karl Matthias Roth, Dr. med. Michael Viapiano, Dr. med. Jutta Witzke-Gross
Fax Redaktion: 069 / 79502 501
Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. med. Ferdinand Gerlach, Institut für Allgemeinmedizin der Universität Frankfurt;
Prof. Dr. med. Sebastian Harder, Institut für klinische Pharmakologie der Universität Frankfurt
Die von Mitgliedern der Redaktion oder des Beirats gekennzeichneten Berichte und Kommentare sind redaktionseigene Beiträge; darin zum Ausdruck gebrachte Meinungen entsprechen
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Wie alle anderen Wissenschaften sind Medizin und Pharmazie ständigen Entwicklungen unterworfen. Forschung und klinische Erfahrung erweitern unsere Erkenntnisse, insbesondere, was
Behandlung und medikamentöse Therapie anbelangt. Soweit in dieser Broschüre eine Dosierung oder eine Applikation erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass Autor und
Herausgeber große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angaben dem Wissensstand bei Fertigstellung der Broschüre entsprechen. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und
Applikationsformen kann vom Herausgeber jedoch keine Gewähr übernommen werden. Jede Dosierung oder Applikation erfolgt auf eigene Gefahr des Benutzers.
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Für Sie
gelesen
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Nr. 4 / 2007
SPORT-Studien zum Bandscheibenvorfall
Operieren oder konservativ behandeln?
Dr. med. Alexander Liesenfeld
Obwohl viele Patienten bei Bandscheibenvorfällen operiert werden, verbessern
sich die Symptome auch bei alleiniger konservativer Behandlung. Neurochirurgen
neigen bei einem Bandscheibenvorfall eher zur Operation, während Neurologen
nicht selten eine konservative Behandlung empfehlen.
Für die beiden SPORT-Studien „Spine Patient Outcomes Research Trial“ [1,2] wurden
von März 2000 bis November 2004 an 13 Zentren
2720 Patienten mit Ischialgie bedingt durch einen Bandscheibenvorfall für diese
Untersuchung gescreent.
729 Patienten ausgeschlossen (u. a. wegen OP in der Anamnese, Cauda-EquinaSyndrom, Malignomen etc.).
1991 Patienten blieben übrig, davon lehnten
747 die Teilnahme an der Studie ab.
1244 Patienten nahmen an der Studie teil.
501 dieser Patienten ließen sich randomisieren – operativ versus konservativ
[1: SPORT-1].
Die restlichen
743 Patienten, die eingeschrieben, aber nicht randomisiert wurden, wurden
in einer Kohortenstudie (Beobachtungsstudie) im selben Zeitraum prospektiv
untersucht [2: SPORT-2].
Die nicht-operative Behandlung in beiden Studien beinhaltete Beratung, Krankengymnastik, Ergotherapie, Eigenübungen und Medikamente (NSAR, Muskelrelaxantien, Benzodiazepine, Narcotics, Steroide, u. a.).
Konservative
Behandlung
oft ebenso wirksam
wie Operation
Von den 501 randomisierten Patienten (SPORT-1) konnten 472 ausgewertet werden.
Dass randomisierte Studien in der Chirurgie äußerst schwierig sind, zeigt sich auch
bei dieser sehr gut angelegten, nicht verblindeten randomisierten Studie: In beiden
Gruppen wechselte ein nicht unerheblicher Teil der Patienten die Behandlung: 92
Patienten der eigentlichen Operationsgruppe wurden nicht operiert und 107 Patienten der „Konservativ“-Gruppe wurden doch operiert.
Bei der Intention-to-Treat-Analyse* zwischen operativ und nicht operativ versorgten Patienten nach drei Monaten, einem Jahr und zwei Jahren gab es keine
signifikanten Unterschiede in Bezug auf die Lebensqualität (Endpunkte: Schmerz,
Bewegung, physical function, leichter Trend zugunsten der Operierten im Oswestry
Disability Index n. s.).
In der Beobachtungsstudie (SPORT-2) konnten die Patienten die Behandlungsform
wählen. 2/3 entschieden sich für die OP und 1/3 für ein konservatives Vorgehen.
Beide Patientengruppen hatten eine deutliche Verbesserung im Bezug auf Schmerz,
Bewegung und Funktion. Bemerkenswert war, dass die Patienten, die sich für die
Operation entschieden hatten, über signifikant (p<0,001) deutlich bessere Ergebnisse berichteten als die Bandscheibenpatienten mit der konservativen Therapie.
In einer neueren, der SPORT-1-Studie ganz ähnlichen Untersuchung in Holland,
wurden Patienten mit Bandscheibenvorfall ebenfalls randomisiert und dann
*Intention-to-treat-Analyse: Dabei werden die Patienten für die Analyse in der Gruppe belassen, zu der sie
ursprünglich zugeordnet wurden, unabhängig davon, welche Therapie sie später tatsächlich bekommen haben
(analysed as randomised).
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operiert beziehungsweise konservativ behandelt [4]. Die frühe Operation brachte
zwar eine schnellere Schmerzfreiheit, jedoch war das Ergebnis nach einem Jahr in
beiden Gruppen gleich.
In einer vergleichbaren Studie zur lumbalen degenerativen Spondylolisthesis
mit Spinalkanalstenose und radikulären Schmerzen [8] wurden über 300 Patienten
randomisiert (Operation versus keine Operation) und weitere 300 in einer Kohortenstudie beobachtet. Die Studie lief insgesamt über zwei Jahre.
Die operierten Patienten hatten zwar nach drei Monaten und einem Jahr im
Vergleich zu den nicht operierten weniger Schmerzen, aber nach zwei Jahren ergab die Intention-to-Treat-Analyse keinen wesentlichen Unterschied in Bezug auf
Einschränkung im Alltag, Schmerzen und Beweglichkeit.
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Bedeutung
für
unsere
Praxis
Fazit für die Praxis
Rückenschmerzen sind ein häufiger Konsultationsgrund in der allgemeinärztlichen Praxis.
Die Prognose von nicht radikulären Rückenschmerzen (Kreuzschmerzen) ist meist
gut.
Radiologische Untersuchungen werden zu häufig angefordert, denn bei jungen,
symptom­freien Menschen ohne Rücken­schmerzen findet sich im bildgebenden
Verfahren bei bis zu 27 % eine Bandscheibenprotrusion und bei bis zu 14 %
ein Bandscheibenprolaps [3]. Das heißt: Schickt man Patienten ohne radikuläre
Symptomatik zum CT oder zum Kernspin, so findet sich bei ca. jedem 6. ein
Bandscheibenvorfall, der nicht Ursache ist für diese Schmerzsymptomatik. Dieser
radiologische Befund kann dann schnell zu einer unnötigen Operation führen.
Bei einseitigen Schmerzen mit segmentaler Ausstrahlung (L4, L5, S1) in das Bein
bis unterhalb der Knieregion, positivem Lasègue auf der gleichen oder auf der gegenüberliegenden Seite sowie Reflexauffälligkeiten mit motorischen oder sensiblen
Ausfällen sollte immer an einen Bandscheibenvorfall gedacht werden [5,6,7].
Etliche Situationen bedürfen besonderer Aufmerksamkeit (so genannte Red
Flags, siehe Kasten unten auf dieser Seite).
Die vorgestellten Studien helfen in der täglichen Praxis gemeinsam mit dem Patienten, in Ruhe die Problematik und die Vorgehensweise bei lumbalem
Diese Red Flags signalisieren, dass besondere Aufmerksamkeit nötig ist
Das Cauda-Equina-Syndrom (Reithosenanästhesie mit oder ohne Blasen- und Mastdarmstörung)
Schmerzen im Bereich mehrerer Nervenwurzeln
Ausgeprägte neurologische Ausfälle, z.B. Reflexauffälligkeiten, motorische und sensible Ausfälle im Bereich
eines Dermatoms
Trotz konservativer Therapie stärkere, nicht bewegungsabhängige Schmerzen oder längere Persistenz der
Beschwerden
Bekanntes Malignom
Immunsuppression
Alter <20 Jahre oder >50 Jahre
Schlechter Allgemeinzustand
Fieber (z.B. als Hinweis auf eine Infektion, z.B. auch Tuberkulose, Abszess)
Fraktur möglich, Unfall in der Vorgeschichte
Intravenöser Drogenabusus
HIV-Infektion
Systemische Steroideinnahme bei Rheuma, Asthma oder COPD (WS-Sinterungsfraktur)
Bekannte Osteoporose (WS-Sinterungsfraktur)
Hinweise auf entzündlich rheumatische Erkrankungen
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Entscheidung
gemeinsam mit dem
Patienten
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Bandscheibenvorfall zu besprechen. Ein beruflich engagierter Patient wird sich eher
für eine Operation entscheiden, damit er wieder schnell im Alltag aktiv sein und
seiner gewohnten Tätigkeit nachgehen kann. Im Gegensatz dazu wird es Patienten
geben, die vor einer Operation zurückschrecken. Diese Patienten kann man in ihrer
Entscheidung bestärken, eine konservative Behandlung vorzuziehen.
Wer sollte am Rücken operiert werden? Der Konsens scheint zu sein, dass
Patienten mit motorischen Defiziten und natürlich Patienten mit einem Wirbelsäulentrauma operiert werden müssen. Ohne größere neurologische Defizite
müssen Patienten mit Bandscheibenvorfall, degenerativer Spondylolisthesis oder
Spinalkanalstenose nicht unbedingt operiert werden, obwohl die chirurgischen
Maßnahmen die Schmerzsituation verbessern. In solchen Situationen sollte
die Entscheidungsfindung in einem gemeinsamen Prozess zwischen dem gut
informierten Patienten und dem behandelnden Arzt stattfinden [9].
Interessenkonflikte: keine
Literatur:
1 Weinstein JN et al.: Surgical vs nonoperative treatment for lumbar disk herniation: the Spine Patient Outcomes
Research Trial (SPORT): a randomized trial. JAMA 2006;296(20):2441-2450
2 Weinstein JN et al.: Surgical vs nonoperative treatment for lumbar disk herniation: the Spine Patient Outcomes
Research Trial (SPORT) observational cohort. JAMA 2006;296(20):2451-2459
3 Jensen MC et al.: Magnetic resonance imaging of the lumbar spine in people without back pain. N Engl J Med
1994;331(2):69-73
4 Peul WC et al.: Surgery versus prolonged conservative treatment for sciatica. N Engl J Med
2007;356(22):2245-2256
5 Chou R et al.: Diagnosis and treatment of low back pain: a joint clinical practice guideline from the American
College of Physicians and the American Pain Society. Ann Intern Med 2007;147(7):478-491
6 Chou R et al.: a review of the evidence for an American Pain Society/American College of Physicians clinical
practice guideline. Ann Intern Med 2007;147(7):492-504
7 Chou R, Huffman LH: Medications for acute and chronic low back pain: a review of the evidence for
an American Pain Society/American College of Physicians clinical practice guideline. Ann Intern Med
2007;147(7):505-514
8 Weinstein JN et al.: Surgical versus nonsurgical treatment for lumbar degenerative spondylolisthesis. N Engl J
Med 2007;356(22):2257-2270
9 Deyo, RA: Back Surgery – Who Needs It? N Engl J Med 2007;356:2239-2243
Für Sie
gelesen
TIA nicht auf die leichte Schulter nehmen!
Sofort behandeln – sonst bekommt jeder Zehnte einen Apoplex
Dr. med. Klaus Ehrenthal
Jeden Zehnten
trifft danach
ein richtiger Schlag
Eine transitorische ischämische Attacke (TIA) beeindruckt den Patienten bisweilen
kaum. Denn dabei werden Ausfälle mit unterschiedlichen neurologischen Funktionsstörungen wie Sprachstörungen, Sehstörungen, Halbseitenlähmungen oder
einfach nur einem herabhängenden Mundwinkel mitunter nur minutenlang wahrgenommen. Danach verschwinden sie wieder. Aber: Zehn Prozent der Betroffenen
erleiden innerhalb von drei Monaten einen Apoplex!
Behandlung beim Hausarzt und im Zentrum
Um herauszufinden, mit welchem Behandlungsregime die Zahl der Folgeapoplexien
sinnvoll vermindert werden kann (EXPRESS-Study [1]), wurden in der Grafschaft
Oxfordshire in Großbritannien vom 01.04.02 bis zum 31.03.07 von allen 1278
Patienten, die wegen einer TIA oder einem leichten Schlaganfall ärztliche Hilfe in
Anspruch genommen hatten (Oxford Vascular Study (OXVASC-Studie)), rund die
Hälfte (591) in eine spezialisierte Abteilung („EXPRESS“-Studienklinik) überwiesen.
Dort wurden sie vom
01.04.02 bis zum 30.09.04 (Phase 1 mit 310 Patienten ) und vom
01.10.04 bis zum 31.03.07 (Phase 2 mit 281 Patienten)
mit unterschiedlichem Regime diagnostiziert und behandelt.
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In Phase 1 wurden die Patienten nach klinischer Untersuchung – dies dauerte
im Schnitt drei Tage – mit Behandlungsempfehlungen an den Hausarzt zurück­
überwiesen. Bis die Patienten ihre Medikamente erhielten, dauerte es dann durchschnittlich 20 (8 bis 53) Tage.
In Phase 2 wurde in der EXPRESS-Klinik selbst die Diagnostik durchgeführt, das
geschah noch am Aufnahmetag. Die medikamentöse Behandlung wurde im Mittel
bereits innerhalb eines Tages (0 bis 3 Tage) begonnen.
Die sonstigen Risikofaktoren der beiden Gruppen unterschieden sich nicht. Die
Zahl der Patienten, die innerhalb von sechs Stunden nach hausärztlicher Erstbeurteilung in der EXPRESS-Klinik diagnostiziert wurden, stieg signifikant (p<0.0001)
von 5/310 (Phase 1) auf 80/281 (Phase 2).
Therapie bei der EXPRESS-Studie
Die Therapie in der EXPRESS-Studie wurde nach Geschlecht, Risikofaktor und Alter
unterschiedlich gewichtet wie folgt vorgenommen:
Generelle Gabe von 75 mg/d ASS bei den Patienten in Phase 1, 300 mg/d
bei den hospitalisierten Patienten in Phase 2.
Nur die Patienten, die nicht bereits antikoaguliert worden waren, erhielten
ASS oder Clopidogrel, wenn ASS kontraindiziert war. Clopidogrel wurde,
wenn erforderlich, als loading dose von 300 mg und dann fortlaufend mit
75 mg/d gegeben.
Verordnung von 40 mg/d Simvastatin.
Blutdrucksenkung, falls der RR, mehrfach gemessen, nicht 130 mm Hg sys­
tolisch unterschritt, entweder durch Steigerung der bisherigen Medikation
oder durch Zugabe von 4 mg/d Perindopril ggf. zusammen mit 1,25 mg/d
Indapamide.
Antikoagulation nach Erfordernis.
Vor der Gabe von ASS, Clopidogrel oder Antikoagulation wurde stets ein
Hirn-CT zum Ausschluss einer intracerebralen Blutung durchgeführt.
Bei Patienten der Phase 2, die innerhalb 48 Stunden nach ihrem Ereignis
zugewiesen worden waren oder bei solchen, die innerhalb von sieben Tagen
erschienen waren und bei denen ein erhöhtes Frührisiko („at particularly high
early risk“) vermutet wurde, wurde zusätzlich zum ASS nach einer loading
dose von 300 mg für 30 Tage 75 mg/d Clopidogrel gegeben.
Therapieempfehlungen in Deutschland
Hinweise für die Therapie nach den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für
Neurologie sowie der Deutschen Schlaganfall Gesellschaft finden sich im Deutschen
Ärzteblatt [2], basierend auf einer Tabelle von Diener [3]. Dabei wird das Risiko
eines Schlaganfallrezidivs nach Apoplex oder TIA nach folgender Punktetabelle
berechnet:
< 65 Jahre
0 Punkte
65 bis 75 Jahre
1 Punkt
> 75 Jahre
2 Punkte
arterielle Hypertonie
1 Punkt
Diabetes mellitus
1 Punkt
Myocardinfarkt
1 Punkt
andere kardiovaskuläre Ereignisse (außer Myokardinfarkt und Vorhofflimmern)
1 Punkt
pAVK
1 Punkt
Raucher
1 Punkt
zusätzliche TIA oder Insult zum qualifizierten Ereignis
1 Punkt
Wichtige
Maßnahmen:
Ausschluss
Hirnblutung durch CT
ASS
Simvastatin
erhöhten RR senken
konsequente Anti­
koagulation bei
entsprechender
Indikation
bei besonders hohem
Frührisiko zusätzlich
30 Tage Clopidogrel
Punkte-Score
steuert
die Therapie
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Die Umrechnung
dieser Zahlen ergibt:
12 Patienten mit
TIA müssen 90 Tage
lang behandelt
werden – damit
wird ein Schlaganfall
verhindert.
Eine NNT von
12 erreicht man
sonst bei der
Pharmakotherapie
nur selten!
Bedeutung
für
unsere
Praxis
Nr. 4 / 2007
Als besonders gefährdet gelten Patienten mit einem Score von 3 oder mehr Punkten, ab dem von den Fachgesellschaften in der Sekundärprävention ASS alleine
nicht mehr als ausreichend angesehen wird. Es werden hier ASS plus retardiertes
Dipyridamol oder ASS plus Clopidogrel empfohlen. Die Einzelfallentscheidung liegt
beim Behandler.
Ergebnisse der EXPRESS-Studie aus Oxford:
Im Vergleich der zeitgleich vollständig erfassten Patienten der OXVASC-Studie mit
den Patienten der EXPRESS-Studie waren die Patienten nach TIA oder leichtem
Apoplex, die außerhalb der Phase-1- oder Phase-2-Behandlung ambulant betreut
worden waren, signifikant häufiger innerhalb von 90 Tagen von einem Apoplex
betroffen (63 von 634 Fällen versus 27 von 644 Fällen, Hazard Ratio 0,41, 95%-Konfidenz-Intervall 0,26-0,65, p<0,0001).
Die schnelle Diagnostik in der EXPRESS-Klinik und der rasche Beginn der Behandlung dort in Phase 2 verminderten gegenüber dem Phase-1-Regime signifikant die
Apoplexrate in den folgenden 90 Tagen (32 von 310 Fällen versus 6 von 281 Fällen,
Hazard Ratio 0,20, 95%-Konfidenz-Intervall 0,08-0,49, p=0,0001).
Die Autoren der Studie schlossen daraus, dass durch die Sofortdiagnostik mit
anschließender Soforttherapie nach TIA oder leichtem Schlaganfall das Risiko für
einen erneuten Schlaganfall um 80 bis 90 Prozent gesenkt werden kann. Dies würde einer Senkung der Folgeapoplexien in der Gesamtbevölkerung um 50 Prozent
bedeuten.
Was bedeutet das für die Praxis ?
Die Patienten (und alle anderen!) sollten aufgeklärt werden, dass auch eine TIA
oder ein leichter Schlaganfall eilig diagnostiziert und behandelt werden müssen
– möglichst in einer der 180 deutschen Kliniken, die über eine Stroke-Unit verfügen. Zumindest muss nach Ausschluss einer Hirnblutung die medikamentöse
Behandlung aber sofort und im vollen erforderlichen Umfang eingeleitet
werden. Abwarten nach dem Motto „Das wird schon wieder“, würde
bei mindestens jedem Zehnten innerhalb von drei Monaten zu einem
Folgeapoplex führen.
Hierzu bedarf es beim Hausarzt entsprechender neuer Strategien: TIA und natürlich auch der leichte Apoplex sind akute Notfälle, die ein sofortiges Eingreifen
erforderlich machen.
Auch in der Klinik ist die Sofortdiagnostik am Tage der Aufnahme und die Sofortbehandlung (medikamentös, ggf. operativ) erforderlich und statistisch mit einem
hoch signifikanten Erfolg bezüglich der weiteren Apoplexgefahr belegt.
Das Risiko für eine intrazerebrale Blutung wird durch die Frühbehandlung nicht
gesteigert.
Das Risiko für einen Folgeschlaganfall wird durch die Frühbehandlung um 80
Prozent reduziert. Die ambulante Folgebehandlung sollte vom Hausarzt nicht
aus Budgetgründen unterlassen oder reduziert werden. Die Therapie sollte dem
unterschiedlichem Rezidivrisiko [2] angepasst werden.
Therapievorschläge können entsprechend den Empfehlungen der Deutschen
Gesellschaft für Neurologie und der Deutschen Schlaganfallgesellschaft mit Hilfe
eines Punktescores ausgewählt werden [3].
Interessenkonflikte: keine
Literatur:
1 Rothwell PM et al.: On behalf of the Early use of Existing Preventive Strategies for Stroke (EXPRESS) study:
Effect of urgent treatment of transient ischaemic attack and minor stroke on early recurrent stroke (EXPRESS
study): a prospective population-based sequential comparison. Lancet, 2007;370(9596):1432-42.
2 Blaeser-Kiel G: Bei hohem Rezidivrisiko reicht ASS nicht aus. Deutsches Ärzteblatt, 2007;104(10):A669.
3 Diener HC et al. in: Exp Opin Pharmakother, 2005;6:755-64
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Streit um ein neues (und teures) Medikament
Nutzen und Wirtschaftlichkeit
von Natalizumab (Tysabri®)
Ende Juni 2007 wurde von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) eine
Ausgabe der Publikation Wirkstoff AKTUELL zu Natalizumab (Handelsname Tysabri®), einem neuen Mittel zur Behandlung der Multiplen Sklerose (MS), an alle
vertragsärztlich tätigen Neurologen verschickt. In dieser Ausgabe werden nach
Meinung der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) Empfehlungen zur
wirtschaftlichen Verordnungsweise gegeben, die im krassen Gegensatz zu den
evidenzbasierten Empfehlungen der Konsensus-Gruppe und des Ärztlichen Beirates
der DSMG stehen.
In der Zusammenfassung hieß es: „Für den neuen monoklonalen Antikörper
Natalizumab fehlen für die zugelassenen Indikationen verlässliche Informationen
zur Sicherheit. Natalizumab ist kein ‚First-line‘-Arzneimittel und sollte aufgrund der
schwerwiegenden Risiken und sehr hohen Kosten nur in Zentren mit ausgewiesener
Erfahrung in der Behandlung der Multiplen Sklerose (MS) verordnet werden.“
Vom ärztlichen Beirat wird die Bewertung von Natalizumab in der Publikation
der KBV als „einseitig und sachlich unkorrekt“ kritisiert und „vor dem Hintergrund
ausschließlich wirtschaftlicher Überlegungen“ charakterisiert. Es heißt weiterhin:
„Würden die niedergelassenen Kollegen der aktuellen KBV-Empfehlung folgen
und den Patienten bei entsprechender Indikation die Verordnung innovativer immunmodulatorischer Präparate vorenthalten, so handeln sie nicht nur gegen die
medizinisch belegte Meinung, sondern bewegen sich auch nach dem Auftrag des
SGB V auf juristisch dünnen Eis.“ Die Schlussfolgerung: Man solle für die Beurteilung
von Therapieverfahren den Expertenrat der medizinischen Fachgesellschaften zur
Grundlage von Entscheidungen und Empfehlungen machen.
Ist dies alles so klar, wie in der Stellungnahme des ärztlichen Beirates anklingt,
oder wäre eine differenziertere Betrachtung hilfreicher gewesen? Dazu im Folgenden zwei „Zwischenrufe“ – von Prof. Dr. Peter Berlit, Leitender Arzt der Klinik
für Neurologie mit Klinischer Neurophysiologie am Alfried Krupp von Bohlen und
Halbach Krankenhaus in Essen und von Prof. Dr. Gerd Glaeske vom Zentrum für
Sozialpolitik der Universität Bremen, einem ausgewiesenen Kenner der vertragsärztlichen Rahmenbedingungen für die Arzneimitteltherapie.
Multiple Sklerose: Womit behandeln?
Professor Dr. med. Peter Berlit
Mit einer Pävalenz von 120 auf 100 000 Personen und einer Inzidenz von 5 auf
100 000 Einwohnern ist die Multiple Sklerose (MS) eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen in Deutschland, vor allem bei jungen Erwachsenen (Erstmanifestation 15. bis 30. Lebensjahr). Umfangreiche Untersuchungen aus den
letzten Jahren haben gezeigt, dass es bereits vor dem ersten Auftreten klinischer
Symptome nicht nur zu einer Entmarkung im Bereich des zentralen Nervensystems
kommt, sondern auch bereits irreversible axonale Schädigungen eintreten. Dies hat
zu Bemühungen geführt, neue diagnostische Kriterien für die Frühdiagnose der
Multiplen Sklerose zu etablieren, die es erlauben, bereits bei einer ersten klinischen
Symptomatik (klinisch isoliertes Syndrom) die Diagnose mit hoher Sicherheit zu
stellen, um eine Intervalltherapie einleiten zu können. Für alle bislang entsprechend
untersuchten Intervalltherapeutika gilt, dass sie umso effektiver sind, je früher die
Behandlung einsetzt.
Immer wieder
beliebt:
Die Drohung
mit der Justiz
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Wirksamer,
aber auch
mehr
Nebenwirkungen
KVH • aktuell
Nr. 4 / 2007
Die modernen Anforderungen an wissenschaftliche Studien, nämlich placebokontrolliert randomisiert durchgeführt worden zu sein, erfüllen die drei auf dem Markt
befindlichen Interferonpräparate (z.B. Betaferon®, Rebif® u.a.), Glatiramerazetat
(Copaxone®) sowie der monoklonale Antikörper Natalizumab. Die wissenschaftliche
Datenlage für Azathioprin ist insuffizient, so dass dieses Präparat nur als Ausweichmedikament in Frage kommt.
Kranken, bei denen bei einem klinisch isolierten Syndrom die Magnetresonanztomographie eine entsprechende Läsionslast mit unterschiedlich alten Herden
dokumentiert, sollte eine Intervalltherapie mit einem Interferonpräparat oder Glatiramerazetat angeboten werden.
Die Wirksamkeit von Natalizumab ist zweifelsohne größer als die der Interferone
oder des Glatimerazetats – dies gilt sowohl für die Reduktion der Schubrate als auch
für die Verhinderung der Progression. Problematisch sind die anaphylaktischen Reaktionen, welche typischerweise bei der 2. oder 3. Gabe auftreten, sowie die unter
Natalizumab, aber auch unter anderen monoklonalen Antikörpern beobachteten
Fälle einer progressiven multifokalen Leukenzephalopathie.
Alle diese dokumentierten Fälle sind nicht unter einer Monotherapie mit monoklonalen Antikörpern aufgetreten, sondern bei gleichzeitiger Gabe einer anderen
immunsuppressiven oder immunmodulierenden Substanz. Aus diesem Grunde sollte
Natalizumab grundsätzlich nur als Monotherapeutikum gegeben werden.
Die Verordnung kommt nur dann in Frage, wenn klinisch und MR-tomographisch eine extrem ungünstige Verlaufsform der Multiplen Sklerose
zu diagnostizieren ist oder wenn es trotz Anwendung eines der drei
Interferone oder Glatiramerazetat zu weiteren häufigen Schüben oder
Progression kommt. Zumindest die ersten drei Gaben von Natalizumab
müssen in einem ausgewiesenen MS-Zentrum unter Überwachung erfolgen, danach kann die Substanz auch in der neurologischen Facharztpraxis
verabreicht werden.
Natazulimab: Zur Frage von
Nutzen und Wirtschaftlichkeit
Prof. Dr. med. Gerd Glaeske
Botschaft ist zu
undifferenziert
Der ärztliche Beirat der DMSG irrt gewaltig, wenn er meint, Vertragsärzte mit dem
Hinweis auf das SGB V juristisch zu einer Verordnung eines Mittels verpflichten zu
können, für das zwar die Zulassung ausgesprochen wurde, das damit aber noch
längst nicht den therapeutischen Nutzen nach dem herrschenden Kenntnisstand
unter Berücksichtigung des therapeutischen Fortschritts nachgewiesen hat (§§ 2,
12 und 70 des SGB V). Der Nutzen hat nämlich weniger mit den Ergebnissen der
klinischen Prüfungen (efficacy) zu tun, in denen Ein- und Ausschlusskriterien eine
wesentliche Rolle spielen, sondern mehr mit den Therapieergebnissen aus der normalen Versorgung von Patientinnen und Patienten (effectiveness). Dieser Nutzen im
richtigen Leben ist aber genauso wenig in einfacher Weise aus klinischen Studien
übertragbar wie die Wirtschaftlichkeit Gegenstand der Zulassung sein darf – diese
Argumentationskette ist sonst nur von pharmazeutischen Unternehmen bekannt.
Daher können beide für die GKV so wichtigen Aspekte erst nach der Zulassung im
Rahmen eines relativen therapeutischen Wirksamkeitsvergleichs gegenüber allen
anderen verfügbaren Alternativen bewertet werden.
Es muss somit erstaunen, wie überzeugt der ärztliche Beirat seine Botschaft verbreitet, ohne ausreichend auf eine Differenzierung in den therapeutischen Möglichkeiten hinzuweisen, wie die Empfehlung von Professor Berlit sie widerspiegelt.
Die Verordnung von Natilizumab ist daher aus meiner Sicht ein typisches Beispiel
für eine Verordnung im Rahmen der Zweitmeinungsregelung (siehe § 73 d:
KVH • aktuell
Nr. 4 / 2007
Seite 11
„Verordnung besonderer Arzneimittel“), die mit der Gesundheitsreform ab dem
01.04.2007 eingeführt wurde, die aber noch nicht vom Gemeinsamen Bundesausschuss konkretisiert worden ist.
Der Vorwurf des ärztlichen Beirats, es handele sich bei der KBV-Bewertung um
eine Empfehlung, die ausschließlich unter Berücksichtigung der Wirtschaftlichkeit
entstanden sei, geht daher an der eigentlichen Problematik vorbei: Die Arzneimittel-Richtlinien sagen in Punkt 10, dass vor den Kosten der therapeutische Nutzen
rangiert. Wenn der aber noch nicht endgültig nachgewiesen ist und zudem problematische unerwünschte Begleiterscheinungen zu berücksichtigen sind (wie groß
ist denn schließlich der verbleibende Nettonutzen?), tun alle Ärztinnen und Ärzte,
auch die vom ärztlichen Beirat angesprochenen Vertragsärzte, gut daran, ein solch
neues Mittel mit Zurückhaltung anzuwenden. Mögliche Schäden sind nämlich sehr
viel eher juristisch einzuklagen als die begründbare Vorsicht im Umgang mit neuen
Arzneimitteln. Die Vorgehensweise, die Prof. Berlit empfiehlt, entspricht letztlich
der Quintessenz aus dem Beitrag in KBV Wirkstoff AKTUELL.
Ärztinnen und Ärzte sollten sich daher nicht vom DMSG-Beirat in die
Defensive drängen lassen, wenn es darum geht, eine Behandlungsentscheidung unter Berücksichtigung der vorliegenden Evidenz in der notwendigen
Differenzierung der relativen Wirksamkeit zu treffen.
Interessenkonflikte Prof. Berlit: Referentenhonorare von den Firmen Bayer-Schering, Merck-Serono und MSD;
Konflikte im Hinblick auf den hier vorliegenden Text bestehen nicht.
Interessenkonflikte Prof. Glaeske: keine.
Antibiotika-Verbrauch
Niedergelassene verordnen
intelligenter als Krankenhäuser
Verglichen mit anderen europäischen Staaten ist der Antibiotika-Verbrauch in
Deutschland relativ gering. Das hat eine Untersuchung von Professor Winfried
Kern vom Universitätsklinikum Freiburg im Rahmen des European Surveillance
of Antimicrobial Consumption Project ergeben. Nur in der Schweiz und in den
Niederlanden ist der Verbrauch noch geringer. Im Wesentlichen sind dafür die
Niedergelassenen verantwortlich, in den Kliniken sieht es laut Kern nicht so
gut aus – dort werden Antibiotika häufiger eingesetzt.
Dass hierzulande die Antibiotika recht moderat verordnet werden, hält Kern
für richtig. Er verweist darauf, dass in den vergangenen Jahren kaum neue Substanzen entwickelt worden sind – offensichtlich ist die Antibiotika-Forschung
für die Pharmafirmen zu wenig profitabel. Deswegen sollten die derzeit verfügbaren Mittel nicht mit der Gießkanne, sondern überlegt verwendet werden.
In diesem Kontext kritisiert Kern dann aber doch noch die deutschen Ärzte:
Nach seinen Erkenntnissen werden noch zu oft Reserve-Antibiotika eingesetzt.
Während der Antibiotika-Verbrauch in den vergangenen 15 Jahren konstant
geblieben ist, werden heute dreimal so oft Reserve-Antibiotika verordnet als
vor 15 Jahren.
Sparsam bei den Antibiotika-Rezepten sollte aber nicht zum Sparen an der
falschen Stelle verführen: Eine zu geringe Dosierung, erinnert Kern, fördert
bekanntlich die Resistenzbildung bei den Keimen.
BW
Quelle: Newsletter Nr. 34 des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (Oktober 2007)
Die Resistenzbildung
schreitet voran – deswegen
möglichst bewährte ältere
Antibiotika verschreiben,
wie z.B.:
Doxicyclin
Penicillin
Cephaclor
Amoxicillin
Cotrimoxazol
Erythromycin (bei Kindern)
Neuere und ReserveAntibiotika nur, wenn
zwingend nötig. Dazu
zählen:
Gyrasehemmer
Makrolide
Cephalosporine der 3. und
4. Generation
KVH • aktuell
Seite 12
Beiträge
der
Redaktion
Todesfälle durch
Masernenzephalitis
Nr. 4 / 2007
Masernimpfung: Argumente,
die auch Impf-Skeptiker umstimmen
Dr. med. Günter Hopf
„Pocken-, Masern- und Scharlachexantheme stellten normale Entwicklungsvorgänge beim Kind dar. Es sei daher verwerflich, wenn man durch Impfung oder sonstige
Maßnahmen den Ausschlag verhindern oder zu unterdrücken versuche, da er in solchen Fällen zurückschlagen und zu schweren inneren Störungen führen könne.“
Diese Äußerung könnte auch von einem heutigen Impfgegner stammen. Gemacht wurde sie jedoch 1812 von einem – zu seiner Zeit – angesehenen ärztlichen
Meinungsbilder. Entsprechend dem damaligen medizinischen Wissenstand ist diese
Meinung nicht verwunderlich. Heute gelten jedoch andere Maßstäbe.
Ein zweites Kind ist kürzlich in NRW unnötigerweise an einer Masernenzephalitis
gestorben, nachdem es sich 2006 bei seiner Mutter angesteckt hat. Gentechnische
Untersuchungen haben ergeben, dass diese schwere Masernkomplikationen bisher
nur unter dem Wildtyp, nicht jedoch unter der Gabe des Masernimpfstoffes auftraten. Forderungen nach einer Masernpflichtimpfung sind neben verstärkter Aufklärung zu diskutieren, ebenso wie Maßnahmen (zum Beispiel in Großbritannien wegen
gezielter Desinformation) gegen die Verbreitung mittelalterlicher Vorstellungen durch
medizinische Berufe wie Krankenschwestern und Hebammen und Überprüfungen
uneinsichtiger Ärztinnen und Ärzte durch Ärztekammern und Berufsgerichte.
Die unten stehende Tabelle zeigt das Auftreten von Infektionskrankheiten vor und
nach der Möglichkeit eines Impfschutzes und die Anzahl vermutlicher Impfreaktionen aus dem Jahr 1997. Die positive Bilanz von Impfungen ist eindeutig und
kann als Argumentationshilfe bei „impfmüden“ Eltern dienen. Die berichteten unerwünschten Impfreaktionen traten übrigens meist nur lokal auf und ein Kausalzusammenhang systemischer Reaktionen mit dem Impfstoff ist oft nicht eindeutig.
Quellen: Lancet 1998; 351: 611; Hamb. Ärzteblatt 2007, Heft 4: 169: Die Zeit vom
19.04.2007, 43; Arzneimittelbr. 2007; 41: 29
Infektion
Auftreten
vor
Auftreten
nach
Änderung
in Prozent
der Möglichkeit eines
Impfschutzes
Diphtherie
206.939
(1921)
5
- 99,99 %
Masern
894.134
(1941)
135
- 99,98 %
Mumps
152.209
(1968)
612
- 99,60 %
Keuchhusten
265.269
(1934)
5519
- 97,62 %
Polio
21.269
(1952)
0
- 100,00 %
Röteln
57.686
(1969)
161
- 99,72 %
Rötelnembryopathie
20.000
(1964-65)
4
- 99,98 %
1.560
(1948)
43
- 97,24 %
20.000
(1984)
165
- 99,18 %
Tetanus
asiat.Grippe
Berichtete Impfreaktionen: 11.355 ( Stand 1997)
Impfskeptiker wollen ihren Kindern ja nicht schaden, sondern etwas Gutes tun, wenn sie die Impfung
ablehnen. Gerade deswegen hilft bei ihnen oft das folgende Argument: Klar, bevor es Impfungen
gab, wurden mehr Kinder großgezogen als heute – aber damit drei Kinder erwachsen werden
konnten, musste die Mutter erst mal sieben zur Welt bringen!
KVH • aktuell
Nr. 4 / 2007
Seite 13
Skurrile Ursachen von Erkrankungen
Beiträge
der
Redaktion
Ungewöhnliche Allergien
Dr. med. Günter Hopf
Manchmal muss man als Arzt detektivische Fähigkeiten besitzen, um die Ursache für
allergische Symptome aufzudecken. Die folgenden Fälle zeigen, wie ungewöhnlich
die Ursachen für Allergien sein können. Vielleicht hilft Ihnen die Lektüre mal bei
dem einen oder anderen Patienten weiter ...
Gefährliche Schuhe
Bei einer 33-jährigen Frau trat bereits mehrmals ein nässendes und teilweise blasenbildendes Erythem an beiden Fußrücken auf. Im Patch-Test konnte ein kontakt­
allergisches Geschehen aufgrund einer positiven Reaktion auf Kolophonium bestätigt werden, das als Werkstoff in den Schuhen verwendet wurde.
Schuhdermatitiden können hauptsächlich drei Ursachen haben:
Chromate (Gerben des Leders)
Gummi (oft in den Sohlen verwendet)
Kolophonium (als Klebstoff verwendetes Baumharz).
Quelle: Brit. med. J. 2003; 326: 172
Riskante Langzeit-Sitzung
Eine Neunjährige stellte sich mit einem seit 18 Monaten bestehenden Ekzem an
der Unterseite ihrer Oberschenkel vor. In ihrem Elternhaus waren die Toilettensitze
in den vergangenen Jahren gegen Holzsitze ausgetauscht worden. Sie gab zu, wegen fesselnder Lektüre (Harry Potter??) oft längere Zeit auf der Toilette sitzen zu
bleiben. Im Patch-Test ergaben die entsprechenden Holzspäne mit dem verwendeten Firnis eine positive Reaktion. Die steigende Popularität hölzerner Toilettensitze könnte diese allergische Kontaktdermatitis zunehmen lassen.
Quelle: Brit. med. J. 2007; 335: 832
Reizende Küsse
Eine 45-jährige Frau mit Juckreiz und leichtem Angioödem
im Lippen- und Gesichtbereich gab an, dass die Symptome etwa 30 Minuten nach Liebkosungen mit
ihrem Mann begannen. In ihrer Anamnese war
eine ähnliche, aber stärkere Reaktion nach der
Einnahme von 1200 mg Bacampicillin (in vielen europäischen Ländern im Handel) vor vier
Jahren bekannt. Ihr Mann hatte zwei Stunden
vorher dasselbe Antibiotikum eingenommen.
In einer Versuchsreihe mit Placebo, 120, 360
oder 520 mg Bacampicillin stellte sich heraus,
dass die Ehefrau ab einer 360 mg-Gabe auf
die Küsse des Mannes nach 20 Minuten allergisch reagierte. Nach der Einnahme von
10 mg Cetirizin (Zyrtec®, viele Generika)
verschwanden die Symptome (intraoraler
Juckreiz, allergische Hauterscheinungen im
Gesicht und auf den Armen) innerhalb einer
Stunde.
Quelle: Lancet 2002; 359: 1700
So passiert‘s: Er nimmt Antibiotika und Sie bekommt davon ein allergisches Ekzem.
Seite 14
Sicherer
verordnen
Dr. med.
Günter Hopf
KVH • aktuell
Nr. 4 / 2007
Arznei-Tee: Sehr begrenzt haltbar
Arzneiliche Tees haben auch heute noch ihren Stellenwert in der Therapie. Ärzte sollten
die Patienten bei einer Verordnung oder Empfehlung von Tees (pharmazeutische Definition: wässrige Zubereitungen aus Drogenteilen) auf Folgendes hinweisen:
1. Pflanzliche Drogen sind naturgemäß mikrobiell kontaminiert.
2. Insbesondere Schleimdrogen enthalten Kohlehydrate, die ein idealer Nährboden
für ein Keimwachstum sind.
3. In der Regel erfolgt eine Zubereitung mit kochendem Wasser.
4. Unkonserviert gilt eine Aufbrauchfrist des zubereiteten Tees bis zu 24 Stunden,
im Kühlschrank bis zu drei Tagen.
Da Tees nur eine begrenzte, aufgrund biologischer Schwankungen auch wechselnde Wirksamkeit besitzen, sollten Patienten bei unverändertem Fortbestehen von
Symptomen immer auf eine Wiedervorstellung beim Arzt hingewiesen werden.
Quelle: Pharm. Ztg. 2007; 152: 83
Analgetika: Medikamenteninduzierte
Kopfschmerzen
Das Blut war
schon dunkelgrün
verfärbt
Wenn Patienten wegen Kopfschmerzen mehr als 15 Tage im Monat Analgetika
einnehmen (bei Triptanen: mehr als 10 Tage/Monat), so spricht man neuerdings
von einem Kopfschmerz bei Medikamentenübergebrauch (Medication Overuse
Headache, MOH). Circa ein Prozent der Bevölkerung soll betroffen sein, wobei
die angegebenen Einnahmegrenzen individuell unterschiedlich sind. Auch ist die
Diagnose eines MOH in den seltensten Fällen so eindeutig zu stellen wie bei einem
42-jährigen Patienten, der über Monate täglich 200 mg/d Sumatriptan einnahm
und in dessen Adern dunkelgrünes Blut floss (Sulfhämoglobinbildung).
Nach einer Motivierung des Patienten zu einer Entzugsbehandlung wird ein abruptes Absetzen (Ausnahme: bei Opioidübergebrauch nur langsame Dosisreduktion)
empfohlen. Entzugskopfschmerzen mit vegetativen Beschwerden (Dauer circa 5 bis
10 Tage) müssen dann ebenso wie der ursprüngliche Kopfschmerz vor Analgetikaübergebrauch gezielt therapiert werden. Entscheidend für den Erfolg sind eine
Kombination von medikamentöser Therapie, regelmäßiger ärztlicher Betreuung und
eine begleitende psychologische Therapie zur Selbstkontrolle. Die Entzugsbehandlung sollte durch einen auf dem Gebiet der Kopfschmerzbehandlung erfahrenen
Arzt erfolgen (Neurologe, Schmerztherapeut).
Quellen: Lancet 2007; 369: 1972; Dt.Apo.Ztg. 2007; 147(23): 64
UAW bei Kindern: Berichte an die AkdÄ
Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) weist darauf hin,
dass insbesondere Berichte über unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) bei
Kindern an die AkdÄ gemeldet werden sollten. Erhebliche Wirkungsunterschiede
von Arzneimitteln, fehlende Erfahrungen aus klinischen Studien, mögliche Spätfolgen, vermehrter Off-Label-Use oder veränderter Krankheitsverlauf im Vergleich
zu Erwachsenen verdeutlichen den Vorrang, Verdachtsfälle von UAW bei Kindern
entsprechend der Berufsordnung an die AkdÄ zu berichten. Prinzipiell sind alle
Verdachtsfälle von UAW zu melden, insbesondere jedoch
alle schweren UAW, darunter alle tödlichen oder lebensbedrohenden
alle zur Schulunfähigkeit, zu einer kongenitalen Anomalie oder zu einer stationären Behandlung führenden UAW
alle bisher unbekannten UAW
alle verzögert auftretenden UAW
jede Häufung von UAW
Nr. 4 / 2007
KVH • aktuell
Seite 15
alle UAW bei Off-Label-Use
alle UAW bei einer Behandlung mit alternativen Therapien und so genannten
Hausmitteln sowie freiverkäuflichen Arzneimitteln.
Die Berichtspflicht nach der Berufsordnung an die AkdÄ bleibt unberührt von den
nachfolgend genannten gesetzlichen Verpflichtungen: Bei Impfungen besteht nach
dem Infektionsschutzgesetz die rechtliche Verpflichtung einer namentlichen Meldung schwerer UAW an die Gesundheitsämter (strafbewehrt bei Nichtbefolgen!).
Bei Blutprodukten muss nach dem Transfusionsgesetz eine Meldung an den
zuständigen Transfusionsbeauftragten der medizinischen Einrichtung erfolgen.
Niedergelassene Kollegen müssen alle Verdachtsfälle von UAW an den pharmazeutischen Unternehmer und schwere UAW zusätzlich noch an die zuständige
Bundesoberbehörde (Paul-Ehrlich-Institut) melden.
Sicherer
verordnen
Dr. med.
Günter Hopf
Quelle: Dt. Ärztebl. 2007; 104(21): C 1302
Erythropoetine können Mortalität steigern
Nach einer Metaanalyse erhöhen die rekombinanten humanen Erythropoetine
Epoetin-α (Eprex®, Erypo®), Epoetin-b (NeoRecormon®) und Darbepoetin (Aranesp®)
bei Patienten mit renaler Anämie dann das Sterblichkeitsrisiko, wenn Hämoglobinzielwerte von 12 bis 16 g/dl erreicht werden. In einem Kommentar wird ausgeführt,
dass bei anämischen Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz nur eine teilweise,
keine komplette Korrektur der Anämie anzustreben sei (9 bis 12 g/dl), auch wenn
„dies der kommerziell weniger attraktive Weg“ sei.
Empfehlungen von Zielwerten von 11 bis 13 g/dl durch einen amerikanischen
Nephrologen sind fraglich geworden, nachdem sich herausstellte, dass er zu den
Spitzenempfängern von Honoraren der pharmazeutischen Industrie zählt. Die FDA
forderte vor kurzem zu einem zurückhaltenden Einsatz dieser Präparate auf (Begründung: mögliche Förderung der Tumorprogression bei Tumorpatienten, erhöhte
Rate von tiefen Venenthrombosen nach Wirbelsäulenoperationen). Ein praktisch
tätiger Onkologe setzt diese Präparate seit Jahren erfolgreich nur dann ein, wenn
der Hb-Wert unter 9 bis 10 mg/dl fällt.
Quellen: Lancet 2007; 369: 381, Dtsch. Med.Wschr. 2007; 132: 543, www.aerzteblatt.de
Beim Hb-Zielwert
bitte
nicht übertreiben
KVH • aktuell
Seite 16
Der
Gastbeitrag
Nr. 4 / 2007
Die häufigsten Fehlerquellen
beim Verschreiben von Arzneimitteln
Prof. Dr. med. Thomas Eschenhagen
ArzneiNebenwirkungen
sind sechsthäufige
Todesursache
„Gutes tun und Schädigung des Patienten vermeiden“ – dieser hippokratische
Grundsatz der Medizin weist auf die Bedeutung einer kritischen Nutzen-RisikoAbwägung in der Arzneitherapie hin. Angesichts der zunehmenden Zahl von
Arzneimitteln auf dem Markt, dem zunehmendem Alter der Bevölkerung und
dem zunehmendem Schweregrad der behandelten Fälle kann auch eine Zunahme
der Arzneimittel-bezogenen UAW und Behandlungsfehler angenommen werden.
Tatsächlich weisen die verfügbaren Statistiken darauf hin, dass die Häufigkeit von
arzneimittelassoziierten Todesfällen zwischen 0,9 und 6,5 von 1000 hospitalisierten
Patienten liegt (Caranasos et al. 1976, Porter, Jick 1977, Bates et al. 1995). Eine
Metaanalyse prospektiver Studien ergab sogar, dass tödliche UAW von Arzneimitteln die sechsthäufigste Todesursache in den Vereinigten Staaten von Amerika sind
(Lazarou et al. 1998).
Auf der Basis dieser beunruhigenden Zahlen wurde mit Unterstützung staatlicher
Stellen und finanziert durch die Norwegian Medical Association eine prospektive
Studie durchgeführt, in der zwei Jahre lang sämtliche Patienten, die auf einer
internistischen Station aufgenommen wurden, verfolgt und Todesfälle klinisch,
autoptisch und toxikologisch untersucht wurden (Ebbesen et al. 2001). Von
13 992 Patienten starben 732 (5,2%), davon die meisten an Störungen der
Kreislauffunktion und Atmung (siehe Tabelle 1). 18,6 Prozent der Todesfälle
(133/732) wurden als direkte (48,1 %) oder indirekte (51,9 %) Folge von Arzneimitteln eingestuft.
Die Häufigkeit lag damit noch höher als vorab berichtet (9,5 von 1000 Patienten).
Dies ist wahrscheinlich zum Teil auf die Wahl der Station (95% Notaufnahmen),
wahrscheinlich aber auch auf die Art der Auswertung der Fälle zurückzuführen. So
zeigte sich, dass bei individueller Durchsicht der Akten häufig nur eines der Mitglieder des Komitees den Verdacht auf eine UAW hatte, dann aber nach Diskussion
in der Gruppe alle zu einem einstimmigen Ergebnis kamen. Schließlich belegt die
Studie erneut den hohen Wert der Autopsie und/oder der toxikologischen Analyse, die in 75 Fällen entscheidend für den Beweis und in 62 Fällen für den
Arzneimittelklassen, die mit tödlichen Wirkungen assoziiert waren
Arzneimittelklasse
Gesamtzahl* Unerwünschte Wirkung
Herzkreislauf
61 Kardiodepression, Hypotension, Dehydratation, AV-Block,
bronchiale Obstruktion, ß-Blocker-Entzug, Nierenversagen
Antiasthmatika
55 Arrhythmien, Myokardinfarkt, Herzstillstand
Antithrombotika
45 Hirnblutung, Magen-Darm-Blutung, Herzbeuteltamponade
Antiinfektiva
14 Pseudomembranöse Colitis, Nierenversagen, Leberversagen, Pankreatitis,
Antipsychotika u. Anxiolytika
12 Knochenmarksdepression
Analgetika
12 Atemdepression, schwere Sedierung
NSAIDs
Andere
6 Magen-Darm-Blutungen
32 Verschiedene
* Die Gesamtzahl von Arzneimitteln, die mit tödlichen Wirkungen assoziiert waren, betrug 237. Einige Fälle umfassten mehr als
ein Arzneimittel. NSAIDs: non steroidal antiinflammatory drugs
Tabelle 1: Gruppen von Arzneimitteln, die mit tödlichen Wirkungen assoziiert waren (Ebbesen et al. Arch
Int Med 161,2001,2317). NSAIDs = non steroidal antiinflammatory drugs.
Nr. 4 / 2007
KVH • aktuell
Ausschluss eines arzneimittelassoziierten Todesfalls
waren.
In guter Übereinstimmung mit anderen Quellen
wurde etwa die Hälfte der Fälle als vermeidbar und
damit als Fehler eingestuft. Interessanterweise wurde
nur in 8 von 132 Todesfällen über den üblichen Weg
der Verdacht auf einen Arzneimittel-bedingten Todesfall geäußert. Diese Zahl weist auf eine enorm hohe
Dunkelziffer (94 %) in diesem Bereich hin.
Es muss betont werden, dass sich diese Zahlen nicht
1:1 auf alle Bereiche im Krankenhaus und noch weniger auf die ambulante Arzneitherapie übertragen
lassen. Dennoch muss auch hier von einer relevanten
Häufigkeit von UAW-bedingter Morbidität und Mortalität ausgegangen werden. Aufgrund verschiedener
Studien kann man davon ausgehen, dass zwischen
drei und acht Prozent aller Einweisungen in die Innere Medizin auf UAW zurückzuführen sind (Einarson
1993).
Seite 17
Notaufnahme wegen Arzneifehler
Arzneimittel
Prozent
Insulin
(8%)
Antikoagulantien
(6,2 %)
Amoxicillin
(4,3%)
ASS
(2,5%)
Cotrimoxazol
(2,2%)
Hydrocodon/Paracetamol
(2,2%)
Ibuprofen
(2,1%)
Paracetamol
(1,8%)
Cephalexin
(1,6%)
Penicillin V
(1,3%)
Tabelle 2: Top-10-Arzneimittel, die in einem
US-amerikanischen freiwilligen Meldesystem am
häufigsten mit Notfallaufnahmen ins Krankenhaus assoziiert waren (Grissinger 2007).
Typische Risikokonstellationen
Hohes Alter der Patienten, Multimorbidität und eine große Zahl verordneter Arzneimittel – das sind in praktisch allen Studien die wichtigsten Prädiktoren für fatale
arzneimittelassoziierte Todesfälle oder schwere UAW. Unter den kritischen Komorbiditäten sind besonders die chronische Herzinsuffizienz und Niereninsuffizienz
mit einem fatalen Ausgang von UAW assoziiert. Im Wesentlichen weist das auf die
Tatsache hin, dass ein Patient umso stärker gefährdet ist, je geringer seine endogene
Kompensationsfähigkeit ist oder, einfacher ausgedrückt, dass alte Kranke weniger
vertragen als junge Gesunde.
So banal das klingt, muss es doch immer wieder Anlass für eine kritische Überprüfung sein, ob der angenommene Nutzen einer Arzneitherapie tatsächlich das
mit jedem wirksamen Arzneimittel in Kauf genommene Risiko aufwiegt und ob
tatsächlich jede Leitlinie auch beim Älteren 1:1 umgesetzt werden soll (Beispiel
Spironolacton beim Alten mit Herzinsuffizienz, „scharfe“ Blutzuckereinstellung
beim älteren Typ-2-Diabetiker usw.).
Kritische Arzneimittel in der Praxis
Auf dem jährlichen Kongress der Pharmazeuten in Atlanta (berichtet von K.L. Hahn)
wurden kürzlich von M. Grissinger „The Top 10 Adverse Drug Reactions and Medication Errors“ vorgestellt. In dieser Studie wurden die Arzneimittel erfasst, die am
häufigsten zu einer Notfallaufnahme ins Krankenhaus führten (Tabelle 2). Viele dieser Arzneimittel sind „alte Bekannte“, die praktisch in allen Studien mit Problemen
assoziiert sind, wie Insulin, Antibiotika, NSAIDs, Paracetamol und Antikoagulantien.
Die Statistik lässt mehrere interessante und praktisch wichtige Schlüsse zu:
Häufig verordnete Arzneimittel machen häufig Probleme (Beispiel Amoxicillin).
Arzneimittel sind sehr unterschiedlich kritisch. So fällt auf, dass die in allen
westlichen Ländern mit Abstand am häufigsten eingenommenen Herzkreislaufmittel (ACE-Hemmer, Betablocker, Calciumkanalblocker, Statine und Diuretika;
Gesamtverordnung in Deutschland in 2006:10,9 Milliarden Tagesdosen = 30
Millionen Tagesdosen pro Tag; Arzneiverordnungsreport 2006) nicht auf dieser
Liste erscheinen, was ihre gute Verträglichkeit belegt. Auf der anderen Seite
machen zwar Marcumar und Verwandte nur 271 Mio DDD = 1,0 Prozent der
Gesamtverordnungen aus, dafür aber 6,2 Prozent der kritischen UAWs. Dies
weist auf die besonders schwierige Therapie mit Antikoagulantien hin.
Auf Herz- und
Nieren-Insuffiziente
müssen Sie
besonders achten
Seite 18
Auch Antibiotika
sind
nicht ungefährlich
KVH • aktuell
Nr. 4 / 2007
Auch rezeptfreie Arzneimittel wie Ibuprofen und Paracetamol sind prominent
auf dieser Liste vertreten, was wiederum belegt, dass „rezeptfrei“ keineswegs
gleichzusetzen ist mit „harmlos“.
Amoxicillin, Cotrimoxazol, Cephalexin und Penicillin V sind zusammen mit fast
zehn Prozent aller zur Aufnahme führenden UAWs assoziiert. Dies gilt es zu
bedenken, wenn Antibiotika bei überwiegend viral bedingten Atemwegserkrankungen verordnet werden. Aspirin und Ibuprofen, die am meisten eingenommenen NSAIDs, machen zusammen fast fünf Prozent aus. Man schätzt, dass in
den USA täglich 30 Millionen Patienten diese Substanzen einnehmen, was zu
103 000 Hospitalisierungen und 16 000 Todesfällen pro Jahr führt. Letzteres
ist in der Regel Folge von Magen- und Darmblutungen und Dyspepsie. Hinzu
kommen aber die ebenfalls kritischen Herzkreislauf- und Nierenwirkungen (Hypertonie, Herzinsuffizienz-Dekompensation).
Häufigster Fehler: Überdosierung
Paracetamol:
Wegen vieler
Missverständnisse
für Kinder gefährlich
Vorsicht bei fixen
Kombinationen
Viele UAW (und wahrscheinlich die meisten harmlosen) gehören zum Profil der
Arzneimittelwirkung dazu und sind nicht vermeidbar (außer durch Nichtverordnung). Es zeigt sich aber in vielen Studien, dass gerade die schweren und zur
Hospitalisierung führenden UAW Folge einer fehlerhaften Verordnung sind. In der
Studie von Grissinger waren ungewollte Überdosierungen in 40 Prozent der
Fälle für die Notfallaufnahme ursächlich und damit mit Abstand die häufigste
Form eines Arzneitherapiefehlers.
Andere Fehler in dieser und anderen Studien (Hicks et al. 2006, Kaushal et al.
2001) waren falsche Indikationsstellung, fehlerhafte Nichtverordnung,
falsche Applikationsweise – im Extremfall die intravenöse Injektion von 50 ml
flüssigem Paraffin (Kazi et al. 2007) – und falsche Dosierungsintervalle. Interessanterweise passierten fast 80 Prozent der Fehler bei der ärztlichen Verschreibung
und nur selten im weiteren Verlauf bis zur tatsächlichen Einnahme des Arzneimittels
(Kaushal et al. 2001).
Gefährlich und fehlerbehaftet ist auch der Wechsel von oralem Morphin auf
transdermal appliziertes Fentanyl, das in mehreren Pflastergrößen angeboten
wird. Hier müssen die Umrechnungsfaktoren (60 mg Morphin/Tag erfordern Umstellung auf 0,6 mg Fentanyl = 25 µg/h = 10 cm2 Pflaster) genau beachtet werden und
die von vielen Ärzten angewandte Grundregel „1x1 pro Tag“ kann zu erheblichen
Überdosierungen führen.
Klassisch sind Überdosierungen von Paracetamol bei Kindern, wo von Müttern aufgrund ungenauer Angaben durch den Arzt mehrfach täglich 1000 mg Zäpfchen bei Kleinkindern gegeben wurden. In den USA sind Paracetamol-Vergiftungen
für mehr als 40 Prozent aller Fälle von akutem Leberversagen verantwortlich.
Ebenfalls häufig ist die Nichtbeachtung einer Niereninsuffizienz, was besonders bei Morphin, Methotrexat, Metformin, Digoxin, Spironolacton und niedermolekularen Heparinen zu kritischen Überdosierungen führt.
Was auf den Listen der Studien nicht vorkommt, aber dennoch zu den häufigen
Fehlern in der Arzneitherapie in der Praxis gehört, ist die Wahl unsinniger oder
ungenügend wirksamer Arzneimittel.
Die vielen Kombinationspräparate aus „Captopril plus Hydrochlorothiazid“, das heißt eines kurzwirksamen ACE-Hemmers mit einem langwirkenden
Diuretikum, sind als solche unsinnig. Einmal täglich verabreicht führen sie zu
einem kurzen, völlig ungenügenden Peak von Captopril; dreimal täglich wäre
für Captopril richtig, bedeutet aber eine Überdosierung von HCT. Das Gleiche
gilt für unretardiertes oder einfach retardiertes Metoprolol in Kombination mit
HCT. Von Captopril plus HCT werden in Deutschland jährlich über 200 Millionen
Tagesdosen verordnet, von Metoprolol plus HCT über 80 Millionen.
Bei einigen Arzneimittelgruppen herrscht eine inzwischen fast unüber-
Nr. 4 / 2007
KVH • aktuell
schaubare Vielfalt an Zubereitungsformen. Beispiel ist Metoprolol, das es
inzwischen mit Tartrat-Schutzgruppe unretardiert (dreimal tägliche Einnahme),
einfach retardiert (zweimal tägliche Einnahme) und für eine einmal tägliche
Gabe retardiert sowie zusätzlich mit Succinat-Schutzgruppe für die einmal
tägliche Gabe gibt. Nur Letzteres ist auch für die Therapie der Herzinsuffizienz
zugelassen. Man fragt sich, warum es – außer aus wirtschaftlichen Gründen –
die schlecht retardierten Präparate überhaupt noch gibt.
Furosemid, einmal täglich gegeben, ist zur Hypertonie-Therapie bei Patienten mit
normaler Nierenfunktion nicht geeignet, wird aber millionenfach verordnet.
NSAIDs werden zu häufig bei Patienten mit Hypertonie, Herz- oder Niereninsuffizienz gegeben, obwohl sie relativ kontraindiziert sind. So erhöhen sie im
Mittel den Blutdruck systolisch um fünf mmHg und sind nicht selten für einen
„schlecht einstellbaren“ schwankenden Bluthochdruck ursächlich. NSAIDs
erhöhen bei Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz die Wahrscheinlichkeit
einer kardialen Dekompensation um den Faktor zehn! (Page, Henry 2000).
Erythromycin hemmt kardiale Kaliumkanäle und kann daher tödliche Herzrhythmusstörungen im Sinne eines LQT-Syndroms verursachen. Eine Studie
hat bei Herzgesunden eine Verdoppelung der spontanen Rate an plötzlichem
Herztod festgestellt (von 1:1000 auf 2:1000), ein Problem, das durch die gleichzeitige Verordnung von CYP3A4-Hemmern wie Verapamil auf 5:1000 gesteigert
war (Ray et al. 2004). Clarithromycin hat wahrscheinlich ein ähnliches Risiko,
Roxithromycin aber nicht. Daher besteht meines Erachtens kein Grund mehr,
Erythromycin zu verordnen (Ausnahme Schwangerschaft, wo Erythromycin das
am besten untersuchte und daher sicherste Makrolid ist).
Lösungsansätze gegen systemimmanente Fehler
Irren ist menschlich. Der Glaube, dass man Fehler in der Arzneitherapie vollständig
vermeiden kann, ist deswegen unrealistisch. Ziel muss es aber sein, systematische
Fehlerquellen so weit wie möglich zu minimieren. Dazu gehören neben der Arzneimittelzulassung sowie der Aus- und Fortbildung vor allem auch die Strukturen
im Arbeitsalltag:
Was die Zulassungsbehörden aus politischen Gründen nicht schaffen, kann und
sollte jeder Arzt und jedes Krankenhaus für sich alleine tun – sich eine eigene
schlanke Positivliste anlegen und hier bei der Auswahl gegebenenfalls Beratung einholen.
Beschränkung auf möglichst wenige Arzneimittel (zum Beispiel ausschließlich
Morphin und Fentanyl in der Schmerztherapie mit Opioiden und ein Normalsowie ein Verzögerungsinsulin bei Diabetes).
Beschränkung auf nachgewiesenermaßen wirksame Präparate in wirksamer
Dosis und Wirkdauer (also zum Beispiel Amlodipin, Ramipril, Bisoprolol statt
Nifedipin, Captopril, Metoprolol).
Beschränkung auf möglichst sichere Präparate (zum Beispiel Roxithromycin
statt Erythromycin).
Apotheker und Arzte sollten den offenen Dialog suchen, um Fehler oder Auffälligkeiten in der Verordnung rechtzeitig zu identifizieren und baldmöglichst
abzustellen.
Es sollten nicht-bestrafende (!) Systeme etabliert werden, wo Fehler in der Arzneitherapie anonym gemeldet werden können.
Bei Fehlern sollten nicht primär Einzelne angeschuldigt, sondern nach Systemfehlern gesucht werden. Fehler im Design oder in der Ausgestaltung von
Verordnungssystemen können sein: exzessive Beanspruchung von Gedächtnisleistungen („Das müssen Sie doch wissen!“), fehlende Standardisierung (jeder
macht es anders, anstatt sich zunächst auf ein Standardvorgehen zu einigen),
nicht ausreichende Fortbildung oder Zugang zu Informationen (zum Beispiel
ungenügende PC-Ausstattung) und exzessive Arbeitsbelastung (zum
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Beispiel einer versucht die Arbeit von zweien zu machen).
Abbau von Stress (siehe dazu auch den unten stehenden Kasten).
Interessenkonflikte: keine
Literatur:
– Arzneiverordnungsreport 2006. U. Schwabe und D. Paffrath (Hrsg.). Springer Verlag, Berlin, Heidelberg, New York, 2006
– BATES, D. W., CULLEN, D. J., LAIRD, N., PETERSEN, L. A., SMALL, S. D., SERVI, D., LAFFEL, G., SWEITZER, B. J.,
SHEA, B. F., HALLISEY, R. & ET AL. (1995). Incidence of adverse drug events and potential adverse drug events.
Implications for prevention. ADE Prevention Study Group. Jama 274, 29 – 34.
– CARANASOS, G. J., MAY, F. E., STEWART, R. B. & CLUFF, L. E. (1976). Drug-associated deaths of medical inpatients.
Arch Intern Med 136, 872 – 875. COBB H. Dealing with stress: decompression strategies for pharmacists. Program
and abstracts of the American Pharmacists Association 2007 Annual Meeting; March 16-19, 2007; Atlanta, Georgia.
– COMMITEE on Identifying and Preventing Medication Errors. Board on Health Care Services. Institute of Medicine of the National Academies. In: Aspden P, Wolcott J, Bootman JL, Cronenwett LR, eds. Preventing Medication
Errors: Quality Chasm Series. Washington, DC: The National Academies Press; 2006.
– EBBESEN, J., BUAJORDET, I., ERIKSSEN, J., BRORS, O., HILBERG, T., SVAAR, H. & SANDVIK, L. (2001). Drugrelated deaths in a department of internal medicine. Arch Intern Med 161, 2317–2323.
– EINARSON, T. R. (1993). Drug-related hospital admissions. Ann Pharmacother 27, 832 –840.
– GRISSINGER M. Top 10 adverse drug reactions and medication errors. Program and abstracts of the American
Pharmacists Association 2007 Annual Meeting; March 16–19, 2007; Atlanta, Georgia.
– HICKS, R. W., BECKER, S. C. & COUSINS, D. D. (2006). Harmful medication errors in children: a 5-year analysis of
data from the USP‘s MEDMARX program. J Pediatr Nurs 21, 290 – 298.
– KAUSHAL, R., BATES, D. W., LANDRIGAN, C., MCKENNA, K. J., CLAPP, M. D., FEDERICO, F. & GOLDMANN, D. A.
(2001). Medication errors and adverse drug events in pediatric inpatients. Jama 285, 2114 – 2120.
– KAZI, W. A., SIDDIQI, R. & JAFRI, S. A. (2007). Intensive care management after inadvertent intravascular injection of liquid paraffin. J Coll Physicians Surg Pak 17, 356-358.
– KOHN K, CORRIGAN JM, DONALDSON MS. TO ERR IS HUMAN: BUILDING A SAFER HEALTH SYSTEM. Washington DC: National Academy of Sciences, National Academy Press; 2000
– LAZAROU, J., POMERANZ, B. H. & COREY, P. N. (1998). Incidence of adverse drug reactions in hospitalized
patients: a meta-analysis of prospective studies. Jama 279, 1200 – 1205.
– National Coordinating Council for Medication Error Reporting and Prevention (NCC MRP) (1996). About Medication Errors. www.nccmerp.org
– PAGE, J. & HENRY, D. (2000). Consumption of NSAIDs and the development of congestive heart failure in elderly
patients: an underrecognized public health problem. Arch Intern Med 160, 777– 784.
– PORTER, J. & JICK, H. (1977). Drug-related deaths among medical inpatients. Jama 237, 879 – 881.
– RAY, W. A., MURRAY, K. T., MEREDITH, S., NARASIMHULU, S. S., HALL, K. & STEIN, C. M. (2004). Oral erythromycin and the risk of sudden death from cardiac causes. N Engl J Med 351, 1089– 1096.
– SCHLOSSBERG, E. (1958). 16 Safeguards against medication errors. Hospitals 32, 62 passim.
Beitrag in Auszügen nachgedruckt aus Cardio News 07-08 / 2007 mit freundlicher
Genehmigung von Verlag und Redaktion der Cardio News
Kurzliste von Henry Cobb zum Abbau von Stress im Arztberuf
1. Bremse Deinen Kaffeekonsum!
2. Treibe regelmäßig Sport (3 mal 30 min/Woche)!
3. Mache regelmäßig Entspannungs-Atem-Übungen (2 mal 20 min/Woche)!
4. Schlafe ausreichend (30 Minuten früher ins Bett gehen als üblich)!
5. Pflege Deine Freizeit und Deine Hobbys!
6. Setze Dir realistische Ziele und vermeide Perfektion!
7. Versuche, optimistisch zu sein und nicht pessimistisch!
8. Iss richtig!
9. Bewahre Deinen Humor!
10.Sprich und unterdrücke keine Gefühle!
11.Schreibe Deine Gedanken auf!
12.Meide ungesunde Angewohnheiten (wie etwa Alkohol)!
13.Setze Dir Grenzen (lerne „Nein“ zu sagen)!
14.Suche professionellen Rat!
Das eine oder andere dieser Liste werden die meisten umsetzen können, aber,
so meint Cobb, bei manchen ist die beste Stress-Reduktionstechnik schlicht,
den Beruf zu wechseln.
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Nehmen Sie das mal ein!
Riskante Wechselwirkungen zwischen Kommunikation und Arznei
Bei der Pharmakotherapie muss man nicht nur an Wechselwirkungen zwischen Medikamenten oder an potenziell gefährliche Nebenwirkungen denken – auch die Kommunikation kann riskante Folgen haben. Man kommt immer wieder ins Staunen, was
manch ein Patient so alles (miss-)versteht, wenn ihm sein Doktor etwas mitteilt.
Auch der Arzt lernt bekanntlich gut und gerne am Beispiel, deshalb hier zu diesem Thema keine trockene Theorie, sondern zwei Beispiele, die auf der Web-Seite
www.jeder-Fehler-zaehlt.de zu finden sind:
„Durchfall beim Patienten und Entsetzen bei uns“
Ein Patient kommt mit starken Rückenschmerzen in die Gemeinschaftspraxis, erhält
Diclofenac 150 ret. N1 und Paracetamol mit Codein. Schon am nächsten Tag kommt
er wieder: Er habe alle Tabletten eingenommen und trotzdem noch Schmerzen.
Die mitteilenden Kollegen beschreiben lapidar die Folgen dieses Falles: „Etwas Durchfall beim Patienten und Entsetzen bei uns.“ Sie hätten, finden sie retrospektiv, dem
Patienten klarmachen müssen, dass eine Tablette Diclofenac 150 die Tageshöchstdosis
ist und keinesfalls mehr eingenommen werden darf, und den Patienten darauf hinweisen sollen, dass er sich bei fehlender Schmerzbefreiung wieder melden soll.
Nun mag man sich denken, dass es kaum möglich ist, gegen jeden Fehler gedankenloser Patienten vorzusorgen, doch ein Kollege bringt es in der Online-Diskussion
auf den Punkt: „Patienten kommen selten in die Praxis ,wenn es ihnen gut geht, sie
sind oft durch erhebliche Schmerzen und Leiden am klaren und logischen Denken
gehindert ... da kommt so etwas eben mal vor!“
Ein anderer ergänzt: „... aus meiner Sicht empfiehlt es sich immer, auf das Rezept
die Dosierung „2x1“ oder „b. Bed.1, max.3x1/Tag“ oder so ähnlich zu schreiben
(in der Hoffnung, dass die Apotheke diese Angaben dann auch tatsächlich auf die
Packung überträgt ...“
Zwei Nullen oder zwei aufgemalte Tabletten?
Doch auch die Einnahmeanweisung auf der Packung hat ihre Tücken, wie der
folgende Fall zeigt: Auf die Musterpackung eines Antihypertonikums schrieb eine
Kollegin per Hand „1/2 – 0 – 0“. Jeder Arzt versteht, was gemeint ist und denkt
deswegen gar nicht mehr darüber nach. Nicht so der Patient: Er hielt die 0 – 0 für Tabletten, die die Ärztin auf die Packung gezeichnet hätte und nahm deshalb mittags
und abends eine ganze Tablette ein. Die Folge der Überdosierung: Schwindel.
Zwei Fälle, die glimpflich verlaufen sind, aber auch schlimmer hätten ausgehen
können. Zum ersten Fall ergänzt das Institut für Allgemeinmedizin: „Offensichtlich
hat der Patient nicht auch noch alle Paracetamol-Tabletten zu sich genommen. Also
noch mal alles gut gegangen!“ Und im zweiten Fall hätte der Schwindel durchaus
zu üblen Sekundärfolgen führen können.
Sicher kann man solche Kommunikationsrisiken nicht hunderprozentig beseitigen. Aber man kann sie minimieren – beispielsweise, indem man den Patienten
wiederholen lässt, wie er die Medikamente einnehmen soll. Weitere Hinweise dazu
finden sich auf der oben schon genannten und äußerst empfehlenswerten WebSeite des Instituts für Allgemeinmedizin der Universität Frankfurt. Sie arbeitet nach
dem Motto „Man muss nicht jeden Fehler selber machen, um daraus zu lernen“
und lädt Kollegen ein, ihre Fehler anonym mitzuteilen und diskutieren zu lassen.
Auch die Leitlinie zur hausärztlichen Gesprächsführung, die auf der Web-Seite
www.pmvforschungsgruppe.de verfügbar ist, gibt zahlreiche Tipps. Auf dieser
Webseite den Cursor in der Menü-Leiste im oberen Teil der Seite auf Publikationen
positionieren und im aufklappenden Untermenü auf Leitlinien klicken.
BW
Man kann sich
nicht darauf
verlassen, dass ein
schmerzgeplagter
Kranker logisch
denkt
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Rezept
des
Monats
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Zwiespältige Angelegenheit
Den unten abgebildeten Entlassungsbrief brachte ein Patient aus der Klinik in die
Praxis eines Kollegen mit. Eigentlich eine schöne Sache: So gut zusammengefasst
und trotzdem ausführlich bekommt man die nötigen Informationen bei der Entlassung nicht aus jeder Klinik! Man könnte den Entlassungsbrief tatsächlich als
vorbildlich betrachten – wenn da nicht die Medikamentenlatte wäre.
Es handelt sich um 16 Arzneimittel mit 30 Applikationen (28 Tabletten). So werden
mit Neurontin, Lyrica, Saroten und Paladon vier zentralnervös wirkende Substanzen,
mit Novalgin ein peripher wirksames Analgetikum, mit Torem, Concor und Delix
drei cardial wirksame Substanzen, mit ASS und Iscover zwei Thrombozytenaggregationshemmer, mit Pantozol und Lactulose zwei die Nebenwirkungen im MagenDarm Trakt kurierende Substanzen und mit Simvastatin eine für Diabetiker und KHK
Patienten immer (?) angezeigte Substanz kombiniert.
Tavanic lassen wir mal außen vor. Alle diese Ansätze sind leitlinienkonform, sofern
man keine Multimorbidität antrifft. Aber bei Multimorbidität ist nicht einfach die
Aufsummierung aller einzelnen Maßnahmen indikationsbezogener Leitlinien gefordert (hier LL KHK, Herzinsuffizienz, Diabetes, Schmerz/Polyneuropathie, Arthritis
und Obstipation/Gastritis), sondern eine sinnvolle Reduktion der Arzneimittelmenge
unter dem Aspekt Symptomkontrolle und Prognosebesserung anzustreben.
Dies kann nur in Angesicht des Patienten, seiner Lebensumstände , Lebenserwartungen und mit seinem Einverständnis durchgeführt werden – also durch den Hausarzt,
ganz individuell. Ansonsten ist mit einer Compliance/Adhärenz nicht zu rechnen.
Dr. med. Joachim Feßler
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Hausärztliche Leitlinie
Diabetes mellitus Typ 2
Therapie des Diabetes mellitus Typ 2
Konsentierung Version 3.00
11. April 2007
Revision bis spätestens
April 2010
Hausärztliche Leitlinie
Diabetes mellitus Typ 2
Version 3.06 vom 26.06.2007
Hausärztliche Leitlinie
Therapie des Diabetes mellitus Typ 2
Diabetes mellitus Typ 2
Therapie des Diabetes mellitus Typ 2
Konsentierung Version 3.00
11. April 2007
Anmerkung:
Revision bis spätestens
Konsentierung
Version 3.00
Die Leitlinie
umfassen
April
2010
11. April 2007 insgesamt 86 Seiten. Wir veröffentlichen an-
gesichts des Umfangs auf den folgenden Seiten nur Auszüge mit den
wichtigsten Inhalten.
Revision bis spätestens
Die Seitenzahlen
April 2010 am unteren Rand der Leitlinienseiten und die
Seitenzahlen
im3.06
Inhaltsverzeichnis
auf der folgenden Seite korVersion
vom 26.06.2007
respondieren mit den Seitenzahlen der Original-Leitlinie. Die Seitenzahlen am oberen Rand entsprechen den Seitenzahlen dieses
KVH aktuell.
Version 3.06 vom 26.06.2007
Die ansonsten im Text erwähnten Anhänge und Literaturstellen
(Ziffern in Klammern), die hier nicht abgedruckt sind, finden Sie in
der vollständigen Leitlinie. Sie ist im Internet unter www.pmvforschungsgruppe.de verfügbar. Auf dieser Webseite bitte den Cursor
in der Menü-Leiste im oberen Teil der Seite auf Publikationen positionieren und im aufklappenden Untermenü auf Leitlinien klicken.
F. W. Bergert
M. Braun
D. Conrad
K. Ehrenthal
J. Feßler
J. Gross
K. Gundermann
H. Hesse
J. Hintze
U. Hüttner
B. Kluthe
W. LangHeinrich
A. Liesenfeld
E. Luther
R. Pchalek
J. Seffrin
A. Sterzing
G. Vetter
H.-J. Wolfring
U. Zimmermann
F. W. Bergert
M. Braun
D. Conrad
K. Ehrenthal
F. W. Bergert
J. Feßler
M.J.Braun
Gross
D. Conrad
K. Gundermann
K. Ehrenthal
H. Hesse
J.J.Feßler
Hintze
J.
U. Gross
Hüttner
K. Gundermann
B. Kluthe
H. Hesse
W. LangHeinrich
Hintze
A. J.
Liesenfeld
U. Hüttner
E. Luther
B.
R. Kluthe
Pchalek
W. LangHeinrich
J. Seffrin
A. Liesenfeld
A. Sterzing
E.G.
Luther
Vetter
R. Pchalek
H.-J.
Wolfring
J. Seffrin
U. Zimmermann
A. Sterzing
G. Vetter
H.-J. Wolfring
U. Zimmermann
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Inhaltsverzeichnis
03 Kontext und Kooperation
37 Verlaufskontrollen
04 Verantwortlichkeit
38 Schnittstellen
Kooperationsebene, Indikationsstellung
05 Diabetes mellitus Typ 2
Pathophysiologie
Definition und Klassifikation
06 Epidemiologie
07 Hausärztliche Schlüsselfragen
Therapieziele
08 Risikoabschätzung
Metabolisches Syndrom
09 Screening/Case-Finding
Screening auf prädiabetische Stadien
Screening auf manifesten Diabetes mellitus
10 Diagnostik
Definition und diagnostische Kriterien
11 Hinweise zum Glukosetoleranztest
Fehlerquellen bei der Blutzuckerbestimmung
12 Unterschiede zwischen Typ-1- und Typ-2Diabetes
13 Therapie des Diabetes mellitus Typ 2
Therapiestufen: Voraussetzungen und deren
Grenzen
14 Individualisierte Therapieziele
17 Inzidenz der Komplikationen in Abhängigkeit
von der Blutdruck- und HbA1c-Einstellung
19 Zielwerte für die Therapie
20 Prävention des metabolischen Syndroms und
des Diabetes mellitus Typ 2
21 Diabetiker mit lebensstilmodifizierenden
Maßnahmen
23 Diabetiker mit oralen Antidiabetika
Therapie bei Übergewicht
24 Therapie bei Normalgewicht
26 Diabetiker mit Insulinbehandlung
29 Hinweise zur Insulintherapie
31 Besonderheiten der Behandlung bei alten
Diabetikern
Besonderheiten bei Patienten in Pflege
34 Nicht medikamentöse Maßnahmen
Arzneitherapie zur Blutzuckersenkung
35 Management der Hyperglykämie
36 Allgemeine Therapiehinweise
Diabetes und Depression
39 Folgeerkrankungen
42 Die fünf wichtigsten Folgeerkrankungen
43 Therapie der Folgeerkrankungen
Diabetisches Fußsyndrom
45 Zusammenfassung
Literatur
Anhang: Glykämischer Index
Anhang: Diagnostik im Überblick
Anhang: Nicht-insulinotrope Antidiabetika
Metformin (OAD)
61 Glitazone (OAD)
62 Alpha-Glucosidasehemmer (OAD)
63 Anhang: Insulinotrope Antidiabetika
Sulfonylharnstoffe (OAD)
64 Glinide (OAD)
65 Inkretin-Mimetikum (s.c.)
66 Anhang: Diabetische Neuropathie
Neuropathie Symptom Score (NSS)
67 Neuropathie Defizit Score (NDS)
68 Anhang: Diabetischer Fuß
71 Anhang: Augenkontrolle
72 Anhang: Praxistipps
73 Anhang: Depression
Kurztest zur Diagnose einer Depression
74 Anhang: Diabetes und Führerschein
Begutachtungs-Leitlinien zur Kraftfahrereignung
75 Begründung der Leitsätze nach
verkehrsmedizinischen Aspekten
Ratschläge für insulinbehandelte Kraftfahrer
76 Anhang: Studientabellen
Behandlung des Typ-2-Diabetikers
80 Sekundärprävention/Risikopatienten
81 Anhang: Statistik
Übersicht über Risikomaße und statistische
Kenngrößen
46
58
59
60
83 Evidenzkategorien
84 Informationen zur Leitliniengruppe Hessen
86 Disclaimer und Internetadressen
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Diabetes mellitus Typ 2
Ì Pathophysiologie
Ì Definition und Klassifikation
Pathophysiologie [135, 136]
Die pathophysiologische Erklärung des Diabetes
mellitus Typ 2 hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten sehr gewandelt. Man geht heute davon
aus, dass bei den meisten Typ-2-Diabetikern zu
Beginn der Erkrankung kein Insulinmangel, sondern eine verminderte Wirksamkeit des Hormons
an den Zielorten (Muskulatur, Leber, Fettgewebe)
im Vordergrund steht, eine sogenannte Insulinresistenz, die sowohl genetisch bedingt ist, als
auch ganz wesentlich durch viszerale Adipositas
und Bewegungsmangel beeinflusst wird (s. u.). In
dieser frühen Phase kann die Bauchspeicheldrüse
die verminderte Ansprechbarkeit der Organe auf
Insulin durch Mehrproduktion von Insulin kompensieren, bis diese Mehrproduktion nicht mehr ausreicht, die Insulinresistenz zu überwinden. Es
kommt zur Manifestation des Diabetes mellitus. Mit
weiterem Fortschreiten der Erkrankung kann es zu
einer Erschöpfung der Bauchspeicheldrüse kommen und damit zu einem Insulinmangel.
Insulinsekretionsstörung und Insulinresistenz können entsprechend den unterschiedlichen genetischen Faktoren verschieden ausgeprägt sein und
damit kann auch das Ansprechen auf Medikamente unterschiedlich sein.
Die Insulinresistenz ist ganz wesentlich mit der
viszeralen Adipositas (s. o.) vergesellschaftet. Man
weiß heute, dass das viszerale Fettgewebe im
Gegensatz zum subkutanen Fettgewebe endokrin
äußerst aktiv ist und eine Vielzahl von Enzymen
und anderen Faktoren produziert, die Einfluss auf
den gesamten Stoffwechsel und Kreislauf nehmen.
Dadurch steigt der Blutdruck an und die Endothelfunktion kann gestört werden.
Durch die Fetteinlagerung in der Leber kommt es
zu einer erhöhten Glukoneogenese und Verstärkung der Insulinresistenz (die z. B. durch Metformin gebremst wird). Vom viszeralen Fettgewebe
werden auch große Mengen freier Fettsäuren freigesetzt, die die Insulinresistenz verstärken und zu
einer Fettstoffwechselstörung führen mit erhöhten
Triglyzeriden, erniedrigtem HDL- und erhöhtem
LDL-Cholesterin.
Diese Erkenntnis lässt auch die Crux mit den
meisten aktuellen Therapieverfahren erkennen:
Obwohl sie den Blutzucker (BZ) senken, führen
viele zur Gewichtszunahme (mit Ausnahme von
Metformin) und damit zur Verschärfung des zugrunde liegenden pathophysiologischen Ablaufs.
Hierin ist begründet, dass ohne deutliche Gewichtsreduktion und Zunahme der Bewegung die
Therapie oft so frustran und der Diabetes progredient ist.
Definition und Klassifikation des Diabetes
mellitus [85, 149]
Bei 80% der Typ-2-Diabetiker liegt eine Adipositas
vor, typischerweise mit Insulinresistenz einhergehend [84]. Bei normgewichtigen Typ-2-Diabetikern besteht vorrangig eine Insulinsekretionsstörung. Im Gegensatz hierzu besteht beim Typ-1 ein
absoluter Insulinmangel durch eine immunologisch
bedingte Zerstörung der Inselzellen [175].
1. Typ-1-Diabetes (5 bis 10% aller Diabetiker)
2. Typ-2-Diabetes (90 bis 95% aller Diabetiker)
3. Andere Diabetesformen
genetische Defekte (Typ MODY)
Erkrankungen des exokrinen und endokrinen
Pankreas: chron. Pankreatitis, Z.n. Pankreas-Op
Medikamenten induziert (z. B. Cortison)
4. Gestationsdiabetes (GDM)
05
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Diabetes mellitus Typ 2
Ì Hausärztliche Schlüsselfragen
Ì Therapieziele
Hausärztliche Schlüsselfragen
In der hausärztlichen Behandlung der Diabetiker
zeigen sich folgende Herausforderungen:
ƒ Wie finde ich bislang »unentdeckte Diabetiker«
unter meinen Patienten?
ƒ Wie finde ich Patienten mit metabolischem Syndrom? Welche Therapie sollten sie erhalten?
ƒ Wie kann ich die Patienten zur Änderung ihrer
Lebensweise motivieren?
ƒ Wie motiviere ich meine Patienten für die
Schulung?
ƒ Wie stelle ich die regelmäßige Kontrolle von
Blutzucker, Blutdruck und von Maßnahmen zur
Früherkennung von Folgeerkrankungen sicher?
ƒ Wie vermittle ich Krankheitseinsicht? Wie sensibilisiere und motiviere ich den Patienten für das
frühe Erkennen von Folgeerkrankungen wie
diabetisches Fußsyndrom, Sensibilitätsstörungen?
ƒ Welche HbA1c Werte und welche Blutdruckwerte sind bei welchen Patienten anzustreben?
Wie gelange ich zu einem individualisierten
Therapieziel?
Wann
und wie stelle ich auf Insulin um?
ƒ
ƒ Wie erkenne ich frühzeitig kardiovaskuläre
Komplikationen beim Diabetiker?
ƒ Wie erkenne und behandle ich eine psychische
Komorbidität (z. B. Depression)?
ƒ Wann stelle ich die Indikation für therapeutische
Innovationen?
ƒ Welche medikamentösen Alternativen habe ich
bei Vorliegen von Kontraindikationen?
ƒ Welche Besonderheiten bestehen bei pflegebedürftigen/bei multimorbiden Diabetikern?
ƒ Wie stelle ich eine rationale und rationelle Arzneitherapie sicher?
Ziele der hausärztlichen Behandlung von
Patienten mit Diabetes mellitus sind:
ƒ Symptomfreiheit von Polyurie, Polydipsie,
Abgeschlagenheit
ƒ Vermeidung von hypo- und hyperglykämischen
Entgleisungen und ihren Folgen
ƒ Vermeidung von Folgeerkrankungen und Komplikationen (u. a. KHK/AVK, Erblindung, Nephropathie, Neuropathie, diabetischem Fuß)
ƒ Kompetenzsteigerung der Betroffenen im Umgang mit der Erkrankung
ƒ Minimierung der Nebenwirkungen der Therapie
und der hierdurch bedingten Einschränkung der
Lebensqualität
ƒ Psychische Komorbidität zu erkennen und zu
behandeln
Therapieziele sind abhängig von Lebensalter,
Komorbidität und Lebenserwartung. Um diese
Ziele zu erreichen, müssen Beratung, Therapie
und Kontrolle durch den Hausarzt engmaschig und
konsequent erfolgen.
Die strukturellen Voraussetzungen hierfür bietet
das DMP Diabetes mellitus Typ 2. Die vorgezeichneten Strukturen erlauben nicht nur einen sichereren Umgang mit den Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 in der Hausarztpraxis, sondern auch die
Möglichkeit ein entsprechendes Management der
Diabetiker zu entwickeln.
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Seite 27
Diabetes mellitus Typ 2
Ì Risikoabschätzung
Ì Metabolisches Syndrom
Risikoabschätzung
Zur Abschätzung der Wahrscheinlichkeit, in den
nächsten 10 Jahren an Diabetes mellitus Typ 2 zu
erkranken, stehen – auch internetbasiert – verschiedene Scores zur Verfügung, die zur Zeit in
der Praxis getestet werden (z. B. Deutscher
Diabetes Risiko-Score: www.dife.de, FINDRISK:
www.findrisk.de) [37, 38, 39, 137]. Eine
Empfehlung für einen bestimmten Score kann aus
Sicht der Leitliniengruppe zur Zeit noch nicht
gegeben werden.
Metabolisches Syndrom
Nach der Definition des National Cholesterol
Education Program (NCEP) [109] liegt ein metabolisches Syndrom vor, wenn drei oder mehr der folgenden Kriterien erfüllt sind:
ƒ Zentrale Adipositas (Bauchumfang
> 102 cm Männer, > 88 cm Frauen)*
ƒ Nüchtern-Plasmaglukose > 110 mg/dl
ƒ Hypertonie > 130/85 mmHg
ƒ HDL-C < 40 mg/dl Männer / < 50 mg/dl Frauen
ƒ Triglyzeride > 150 mg/dl
* Die abdominelle Fettsucht ist eher mit metabolischen Risikofaktoren verbunden als ein erhöhter
BMI. Deshalb wurde der Taillenumfang als Maß
aufgenommen (gemessen zwischen unterem Rippenbogen und Beckenkamm).
Nicht unerwähnt bleiben sollte die Insulinresistenz
als Bindeglied zwischen metabolischem Syndrom und PCOS (polyzystisches Ovarsyndrom). Insbesondere übergewichtige und adipöse Frauen mit einem PCOS weisen häufig die
Kriterien eines metabolischen Syndroms auf.
Daher sollten Frauen regelmäßig auf das Vorliegen eines metabolischen Syndroms bzw. seiner
einzelnen Komponenten untersucht werden.
Bei Patienten mit metabolischem Syndrom sollte
das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen
abgeschätzt werden. Hierzu kann der PROCAMScore herangezogen werden. Bei manifesten
Diabetikern kann der UKPDS-Score verwendet
werden, da er den HbA1C-Wert und die Diabetes
Dauer berücksichtigt.
ƒ PROCAM-Score: für Patienten mit und ohne
Diabetes zur Abschätzung des kardiovaskulären Risikos.
ƒ Der UKPDS-Score für Diabetiker zur Abschätzung der kardiovaskulären Morbidität unter Berücksichtigung der Blutzuckereinstellung und
Erkrankungsdauer. Dieser Test ist für manifeste
Diabetes-Patienten.
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Diagnostik
Ì Definition und diagnostische Kriterien
Diagnostik von Vorstadien des Diabetes
mellitus:
ƒ Bei zweimaliger Bestimmung des Nüchternblutzuckers zwischen 100 und 110 mg/dl (venöses
Vollblut zum Beispiel bei einer Gesundheitsuntersuchung) handelt es sich um einen latenten Diabetes (= »impaired fasting glucose« IFG) oder
ƒ zweimalige Bestimmung eines postprandialen
Blutzucker (venöses Vollblut) zwischen 140 und
180 mg/dl (= gestörte Glucosetoleranz)
Die Diagnose eines Diabetes sollte nur mit Glukosewerten gestellt werden, die mit einer qualitätskontrollierten Labormethode gemessen wurden.
Geräte zur Blutzuckerselbstmessung eignen sich
hierfür nicht!
Selbst bei Anwendung exakter Labormethoden ist
zu bedenken, mit welcher Genauigkeit ein Glukosewert gemessen werden kann: Sogar mit dem
»guten« Variationskoeffizienten einer Methode von
zwei Prozent muss man davon ausgehen, dass bei
einem »wahren« Wert von 126 mg/dl der 95Prozent-Vertrauensbereich von 121 bis 131 mg/dl
reicht. Je nach klinischer Bedeutung der Diagnose
sollten im Einzelfall Werte im Grenzbereich mehrmals in größeren zeitlichen Abständen gemessen
oder ein oGTT gemacht werden.
Vorgehensweise bei der BZ-Bestimmung:
ƒ Zur BZ-Bestimmung sollte in der Praxis kapilläres Vollblut oder Plasmaglukose venös (NaFBlut) untersucht werden.
Der Schwellenwert ist nüchtern • 110 mg/dl
(kapillär) (• 125 mg/dl venös) und
der 2-Stundenwert (oGTT) • 200 mg/dl
(kapillär) und • 220 mg/dl (venös).
ƒ Den Blutproben sollte zur Glukosemessung –
sofern sie nicht enteiweißt werden – ein Zusatz
zur Hemmung der Glykolyse in den Erythrozyten zugefügt werden [154].
ƒ Kapillarblut (d. h. Blut wird mit einer Glaskapillare an der Fingerkuppe – kapillär – abgenommen) zeigt in entsprechenden Hämolysierungsgemischen stabile Werte für 48 h [168]. Entsprechende Röhrchen für die Blutabnahme
bzw. Hämolyselösungen sind im Handel erhältlich.
Zur Diagnostik und Interpretation von Blutzuckerwerten [146] siehe nachfolgende Tabelle des
DMP-Handbuchs [7, 8].
Die Leitliniengruppe empfiehlt, keine Teststreifen zur Diagnosestellung zu verwenden.
Unzentrifugiertes Vollblut ist zur Diagnosestellung nicht geeignet, sondern stellt lediglich
eine Screeningmethode dar.
Interpretation von Blutzuckerwerten [146]
Plasmaglukose
venös
kapillär
mmol/l
mg/dl
mmol/l
mg/dl
Nüchtern
• 7,0
• 125
• 7,0
• 125
2 Std. nach oGTT • 11,0
• 200
• 12,2
• 220
Vollblutglukose
venös
kapillär
mmol/l
mg/dl
mmol/l
mg/dl
• 6,1
• 110
• 6,1
• 110
• 10,0
• 180
• 11,0
• 200
10
Nr. 4 / 2007
KVH • aktuell
Seite 29
Diagnostik
Ì Hinweise zum Glukosetoleranztest
Ì Fehlerquellen bei der Blutzuckerbestimmung
Hinweise zum oralen Glukosetoleranztest
ƒ Drei Tage zuvor kohlenhydratreiche Ernährung
(ohne Beschränkung der körperlichen Aktivität
vor dem Test)
ƒ Keine Testung drei Tage vor und drei Tage
nach der Menstruation
ƒ Keine Testung während einer Erkältung
ƒ Vor dem Test 12-14-stündige Nüchternperiode
und Nikotinverzicht
Häufige Fehlerquellen in der hausärztlichen
Praxis:
ƒ BZ-Teststreifen zur Diagnosestellung (hohe
Ergebnisvariabilität)
ƒ Nichtzentrifugiertes Vollblut in Gel-Monovetten
(Verminderung der Glukosekonzentration über
die Zeit duch Glukoseabbau in den Erythrozyten)
ƒ Körperliche Aktivitäten des Patienten während des Tests
ƒ Nicht beachten von Störungen des BZ-Stoffwechsels durch Medikamente wie z. B. Glukokortikoide, Epinephrin, Phenytoin, Diazoxid und
Furosemid
ƒ Messung während interkurrenter Infekte
Weitere Diagnostik
Diabetiker haben ein erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse. Ab einem Risiko von > 20%
in 10 Jahren empfiehlt die Leitliniengruppe eine
entsprechende Abklärung (z. B. Belastungs-EKG,
Duplex der Halsgefäße (Cave: bei symptomfreien
Patienten stellen beide präventive Leistungen dar,
also IGeL), Doppler der Beingefäße, Knöchel-ArmIndex (Ankle-Brachial-Index) als einfachste und
hochsensitive Screeningmaßnahme für KHK [20,
45] zu empfehlen. Diese Untersuchungen werden
als präventive Leistungen nicht durch die GKV
honoriert. Der Diabetiker soll einmal jährlich beim
Augenarzt vorgestellt werden (Augenfachärztlicher
Untersuchungsbogen der IFDA/AGDA im Anhang).
11
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KVH • aktuell
Nr. 4 / 2007
Therapie des Diabetes mellitus Typ 2
Ì Therapiestufen: Voraussetzungen und deren
Grenzen
Die folgenden Ausführungen zur Behandlung des
Diabetes mellitus lehnen sich an die Sächsische
Leitlinie zur Behandlung des Diabetes mellitus
Typ 2 an [51, 52].
Voraussetzungen für eine erfolgreiche Therapie
sind:
ƒ Differenzierung des Diabetes-Typs: Eine effektive Therapie hängt neben der frühzeitigen
Erkennung auch von der richtigen Differentialdiagnostik ab. Bei Diabetikern < 40 Jahren ist
ein sich spät manifestierender Typ-1-Diabetes
möglich (ggf. Überweisung in eine diabetologische Schwerpunktpraxis).
ƒ Die Therapieziele sollten in Abhängigkeit von
der Prognose gemeinsam mit dem Patienten
festgelegt werden. Zu besprechen sind u. a
Möglichkeiten zur Veränderung der Lebensweise, Gewichtsreduktion und Stoffwechselparameter. Unterstützend für das Gespräch
sind die Darstellungen aus der UKPD-Studie
(s. u.).
ƒ Strukturierte Diabetiker-Schulung (ggf. diabetologische Schwerpunktpraxis). Vermittlung von
Kenntnissen zur Erkrankung unter Einbeziehung von Familienangehörigen (DMP Diabetes).
ƒ Motivierung zur Blutzucker- und BlutdruckSelbstmessung.
ƒ Führen eines Blutzuckertagebuches und des
Gesundheitspasses Diabetes.
ƒ Dem Alter und den Begleiterkrankungen angepasste körperliche Aktivität.
ƒ Versorgung des Patienten auf der richtigen
Betreuungsebene.
Die entscheidenden Kriterien für die Wahl der
Therapie bei Diabetes mellitus Typ 2 und der
Versorgungsebene sind
ƒ Nüchternblutzucker
ƒ HbA1c (individualisiert)
ƒ Blutdruck (individualisiert)
ƒ Komorbidität
Hierzu werden individuelle Therapieziele festgelegt
(s. u.).
Wenn bei einem neu diagnostizierten Díabetes
mellitus Typ 2 noch keine Folgeschäden bestehen, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass
lebensstilmodifizierende Maßnahmen wie
ƒ Ernährungsumstellung,
ƒ Bewegung, Gewichtsreduktion,
ƒ Schulung
ausreichend sind.
Bestehen bei neu entdecktem Diabetes mellitus
Typ 2 bereits Folgeschäden, ist die Notwendigkeit für eine zusätzliche medikamentöse Therapie
sehr wahrscheinlich.
Werden die individuellen Therapieziele nicht erreicht, ist die gewählte Therapie zu überdenken
und der nächste Therapieschritt einzuleiten.
Vorgehen bei akuten Stoffwechselentgleisungen aufgrund anderer Erkrankungen (z. B. Infektionen, endokrine Funktionsstörungen)
ƒ unverzügliche Therapie-Anpassung oder Umstellung der Therapie (z. B. von oral auf Insulin)
ƒ Vorstellung in einer Schwerpunktpraxis oder
Klinik
13
Nr. 4 / 2007
KVH • aktuell
Seite 31
Therapie des Diabetes mellitus Typ 2
Ì Individualisierte Therapieziele
Individualisierte Therapieziele
Die klinische Heterogenität des Typ-2-Diabetes
bedingt, dass nicht bei jedem Diabetiker dieselben
therapeutischen Zielsetzungen verfolgt werden
können [96]. Im DMP-Handbuch werden u. a. folgende Anhaltspunkte gegeben [147]:
ƒ Steht die Vermeidung der Symptome der Erkrankung (Polyurie, Abgeschlagenheit etc.)
sowie die Vermeidung schwerer Stoffwechselentgleisung im Vordergrund (z. B. bei multimorbiden Patienten mit schlechter Prognose), wird
ein HbA1c-Wert unter 8,5% angestrebt, um die
Symptome zu verhindern und dabei die Gefahr
der Hypoglykämie gering zu halten.
ƒ Besteht ein hohes Risiko für kardiale, zerebrovaskuläre und sonstige makroangiopathische
Morbidität und Mortalität, sollte ein HbA1c-Zielwert < 6,5% angestrebt werden verbunden mit
einer konsequenten Therapie der weiteren Risikofaktoren (Blutdrucksenkung, Thrombozytenaggregationshemmung, Lipidsenkung) und
regelmäßiger Schulung des Patienten (DMPEmpfehlung: alle drei Jahre).
Steht
die Vermeidung mikrovaskulärer Folgeƒ
komplikationen im Vordergrund (in der Regel
bei jüngeren Patienten im Alter von 40 bis 60
Jahren), ist eine normnahe Blutzuckereinstellung zu fordern. In der Altersgruppe der 30- bis
60-jährigen stellt der Diabetes mellitus die häufigste Erblindungsursache in den westlichen
Industrieländern dar. Vor allem das diabetische
Makulaödem und die proliferative Retinopathie
führen zu einer gravierenden Sehverschlechterung bis zur vollständigen Erblindung [51].
ƒ Steht die Vermeidung des diabetischen Fußsyndroms mit neuro-, angio- und/oder osteopathischen Läsionen im Vordergrund (i. d. R.
bei Patienten mit mehreren Begleiterkrankung-
en und längerem Diabetesverlauf), ist eine spezielle Schulung zur Vermeidung des Fußsyndroms erforderlich sowie Mitbehandlung in
einer Fußambulanz, auch zur Anpassung des
Schuhwerks. Blutdruck muss streng und HbA1c
möglichst normnah eingestellt werden. Die
Füße sind regelmäßig zu kontrollieren [15, 16,
36].
Darüber hinaus sind individualisierte Therapieziele
zu BMI (Gewicht), Lipidwerten, Blutdruck etc. mit
den Patienten zu vereinbaren [147]:
ƒ Es gibt eindeutige Belege, dass beim Diabetiker
die Blutdrucksenkung auf unter 130/80 mmHg
[27] den größten Einfluss auf die Senkung der
kardiovaskulären Mortalität hat. Damit kommt
der Blutdrucksenkung bei der Behandlung der
Diabetiker ganz besondere Bedeutung zu [66]
{A}, [82, 151, 158, 160, 162].
ƒ Bei Patienten mit Albuminurie sollte der Zielblutdruckwert möglichst unter 120/80 mmHg
liegen [1, 78] {C}
ƒ
Nach der Festlegung der inviduellen Therapieziele werden die Therapieschritte geplant und
die entsprechenden strukturierten Therapieund Schulungsprogramme gezielt eingesetzt.
Wenn der Patient die Ziele kennt und die nichtmedikamentösen und medikamentösen Maßnahmen nachvollziehen kann, ist mit einer
höheren Motivation und aktiven Kooperation
zu rechnen (s. auch Leitlinie Hausärztliche Gesprächführung). An dieser individuellen Therapiezieldefinition, die eine übliche primärärztliche
Vorgehensweise darstellt, wird sich die Beurteilung der Qualität der nachfolgenden Betreuung auszurichten haben.
14
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KVH • aktuell
Nr. 4 / 2007
Therapie des Diabetes mellitus Typ 2
Ì Individualisierte Therapieziele (Fortsetzung)
Weil sich der Gesundheits-Pass Diabetes als ein
hervorragendes und für den Patienten gut verständliches Dokumentationsinstrument bewährt
hat, empfiehlt es sich, das Therapieziel sowohl im
Gesundheitspass Diabetes als auch obligatorisch
auf dem DMP-Bogen des Patienten zu dokumentieren.
Die Tabellen der folgenden Seiten zeigen das
Risiko für Diabetes-bedingte Folgeerkrankungen
oder Ereignisse in Abhängigkeit vom systolischen
Blutdruck und vom HBA1C-Wert. Mit Hilfe dieser
Graphiken können die Auswirkungen der erreichten individuellen Zielwerte veranschaulicht und
somit Therapieziele leichter mit dem Patienten
vereinbart werden.
Die erste Graphik in der linken Spalte oben
(s. nachfolgende Seite) zeigt die Abhängigkeit aller
Diabetes-verursachten Endpunkte vom Blutdruck
[1]: Bei einem systolischen Blutdruck höher als
160 mmHg ist die Inzidenzrate, einen durch Diabetes verursachten Endpunkt zu erleiden, doppelt so
hoch wie bei einem systolischen Blutdruck von
unter 120 mmHg. Individuell muss nun entschieden werden, welcher Zielblutdruck für den jeweiligen Patienten (in Anbetracht von Alter, Lebensumständen, Einstellung des Patienten etc.) angemessen ist.
viduellen Zielwert, in Anbetracht der sehr verschiedenen Behandlungssituationen, festzulegen.
Das Risiko steigt bei höher werdenden Blutdruck- oder HBA1C-Werten überproportional an.
Dies heißt aber auch, dass die Risikoreduktion im
Bereich normnaher Blutdruck- und HBA1C-Werte
nicht so ausgeprägt ist, wie häufig vermutet wird.
Dies sollte in die Planung und die Vereinbarung
der individuellen Zielwerte mit dem Patienten
einfließen.
Hinweise: Eine strenge Blutdrucksenkung vermindert das Risiko für makrovaskuläre Folgeerkrankungen deutlicher als eine strenge
HbA1c-Senkung! Die HbA1c-Senkung ist bedeutender für Vermeidung mikrovaskulärer Folgeerkrankungen (Nephropathie, Retinopathie).
Anmerkung zur Tabellenlegende: Die »Adjustierte Inzidenzrate« bezieht sich auf 1.000 Personenjahre, adjustiert nach Alter, Geschlecht, Ethnie,
dargestellt für Männer (weiß), zum Zeitpunkt der
Diagnosestellung 50-54 Jahre mit einem Followup
von 7,5 bis 12, 5 Jahren [1, 144].
Bei den nachfolgenden graphischen Darstellungen
handelt es sich um eigene Übersetzungen und
modifizierte Darstellungen der UKPDS-Ergebnisse
[1, 144].
Die Graphiken in den rechten Tabellenspalten
zeigen korrespondierend die Abhängigkeit der
Endpunkte von der HBA1C-Einstellung [144]. Bei
einem HBA1C von • 10% wurden 120 Ereignisse je
1000 Personenjahre beobachtet. Bei einem Wert
von unter 9 liegt die Erreigniszahl bei knapp 80.
Deutlich wird der Einfluss der BZ-Senkung auf die
mikrovaskulären Endpunkte. Dies hilft den indi-
16
KVH • aktuell
Nr. 4 / 2007
Seite 33
Therapie des Diabetes mellitus Typ 2
Ì Individualisierte Therapieziele
Ì Inzidenz der Komplikationen in Abhängigkeit
von der Blutdruck- und HbA1c-Einstellung
Modifiziert nach [1, 144]
Inzidenz der Komplikation in Abhängigkeit von der
Blutdruckeinstellung
Inzidenz der Komplikation in Abhängigkeit von der
HbA1c-Einstellung
Alle durch Diabetes verursachten Endpunkte
Alle durch Diabetes verursachten Endpunkte
180
100
Adjustierte Inzidenzrate
Adjustierte Inzidenzrate
160
80
60
40
20
140
120
100
80
60
40
20
0
0
<120
120-129
130-139
140-149
150-159
<6
>160
6-<7
8-<9
9-<10
>=10
9-<10
>=10
9-<10
>=10
Durch Diabetes verursachte Todesfälle
100
100
80
80
Adjustierte Inzidenzrate
Adjustierte Inzidenzrate
Durch Diabetes verursachte Todesfälle
60
40
20
60
40
20
0
0
<120
120-129
130-139
140-149
150-159
<6
>160
6-<7
7-<8
8-<9
Jahresm ittelw ert HbA1c
Systolischer Blutdruck im Jahresm ittel
Mikrovaskuläre Endpunkte
Mikrovaskuläre Endpunkte
100
100
80
80
Adjustierte Inzidenzrate
Adjustierte Inzidenzrate
7-<8
Jahresm ittelw ert HbA1c
Systolischer Blutdruck im Jahresm ittel
60
40
20
60
40
20
0
0
<120
120-129
130-139
140-149
150-159
>160
Systolischer Blutdruck im Jahresm ittel
Eine strenge Blutdrucksenkung vermindert das
Risiko für makrovaskuläre Folgeerkrankungen
deutlicher als eine strenge HbA1c-Senkung!
<6
6-<7
7-<8
8-<9
Jahresm ittelw ert HbA1c
Die HbA1c-Senkung ist bedeutender für die Vermeidung mikrovaskulärer Folgeerkrankungen (Nephropathie, Retinopathie).
17
KVH • aktuell
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Nr. 4 / 2007
Therapie des Diabetes mellitus Typ 2
Ì Individualisierte Therapieziele
Ì Inzidenz der Komplikationen in Abhängigkeit von der Blutdruck- und HbA1c-Einstellung
(Fortsetzung)
Modifiziert nach [1, 144]
Inzidenz der Komplikation in Abhängigkeit von der
Blutdruckeinstellung
Inzidenz der Komplikation in Abhängigkeit von der
HbA1c-Einstellung
Myokardinfarkt - tödlich und nichttödlich
100
100
80
80
Adjustierte Inzidenzrate
Adjustierte Inzidenzrate
Myokardinfarkt - tödlich und nichttödlich
60
40
20
60
40
20
0
0
<120
120-129
130-139
140-149
150-159
<6
>160
6-<7
Systolischer Blutdruck im Jahresm ittel
8-<9
9-<10
>=10
9-<10
>=10
9-<10
>=10
Apoplex - tödlich und nichttödlich
100
100
80
80
Adjustierte Inzidenzrate
Adjustierte Inzidenzrate
Apoplex - tödlich und nichttödlich
60
40
20
60
40
20
0
0
120-129
130-139
140-149
150-159
>160
<6
6-<7
Systolischer Blutdruck im Jahresm ittel
7-<8
8-<9
Jahresm ittelw ert HbA1c
Tod oder Am putation durch pAVK
Tod oder Am putation durch pAVK
100
100
80
80
Adjustierte Inzidenzrate
Adjustierte Inzidenzrate
7-<8
Jahresm ittelw ert HbA1c
60
40
20
0
60
40
20
0
120-129
130-139
140-149
150-159
>160
Systolischer Blutdruck im Jahresm ittel
Eine strenge Blutdrucksenkung vermindert das
Risiko für makrovaskuläre Folgeerkrankungen
deutlicher als eine strenge HbA1c-Senkung!
<6
6-<7
7-<8
8-<9
Jahresm ittelw ert HbA1c
Die HbA1c-Senkung ist bedeutender für die Vermeidung mikrovaskulärer Folgeerkrankungen (Nephropathie, Retinopathie).
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Seite 35
Therapie des Diabetes mellitus Typ 2
Ì Diabetiker mit lebensstilmodifizierenden
Maßnahmen
Die nichtmedikamentösen lebensstilverändernden
Maßnahmen sind bei der Therapie des metabolischen Syndroms und des manifesten Diabetes
identisch.
Unter lebensstilmodizifierenden Maßnahmen werden Ernährungstherapie, körperliche Aktivität, Gewichtsreduktion und Schulung verstanden.
Wer kommt dafür in Frage: Alle Typ 2 Diabetiker.
Bei wem sind medikamentöse Maßnahmen
zusätzlich erforderlich
ƒ Patienten, bei denen nach 12 Wochen das
individuell vereinbarte Therapieziel nicht
erreichen wurde
ƒ Diabetiker mit bereits bestehenden Folgeerkrankungen und Komplikationen
ƒ Diabetiker mit massiv erhöhten BZ-Werten und
klinischen Symptomen (Entgleisung)
Konzept für die Therapieanpassung
ƒ Wenn durch eine Gewichtsreduktion die individuellen Therapieziele erreicht werden, können
die lebensstilmodifizierenden Maßnahmen alleine in dieser Form fortgeführt werden. Eine Gewichtsabnahme von 5 kg lässt eine Verbesserung des HbA1c-Wertes um 1% erwarten [157].
ƒ Bei Nichtumsetzen der lebensstilmodifizierenden Maßnahmen verschlechtert sich die Prognose; deshalb sollte rasch eine medikamentöse
Therapie eingeleitet werden.
ƒ Zusätzlich zu den lebensstilmodifizierenden
Maßnahmen werden zunächst orale Antidiabetika (auch in Kombination) eingesetzt, bei Nichterreichen der individuellen Therapieziele eine
kombinierte Therapie von OAD und Insulin bishin zur alleinigen Insulintherapie.
Körperliche Aktivität
Körperliche Aktivität erhöht die Sensitivität für Insulin und führt zu einer Senkung des HbA1c-Wertes
[23, 155]. Empfohlen werden Ausdauersportarten
(z. B. Schwimmen, schnelles Gehen) für 30 Minuten drei- bis fünfmal wöchentlich [23]. Entgegen
früherer Annahmen genügen im höheren Alter
regelmäßige Spaziergänge von etwa einer
Stunde pro Tag, um Stoffwechsel und Kreislauf
signifikant zu verbessern.
21
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KVH • aktuell
Nr. 4 / 2007
Therapie des Diabetes mellitus Typ 2
Ì Diabetiker mit lebensstilmodifizierenden
Maßnahmen (Fortsetzung)
Prinzipien der Ernährung bei Diabetes
Für die Ernährung des Typ-2-Diabetikers gelten
die folgenden Kostempfehlungen: Da die
meisten Diabetiker übergewichtig sind, empfiehlt
die Leitliniengruppe eine kalorienreduzierte ausgewogene mediterrane Kost.
ƒ Kohlenhydrate: Hier ist auf den glykämischen
Index – d. h. nach der Eigenschaft, eine postprandiale (Hyper-)Glykämie hervorzurufen – zu
achten (s. Anhang). Weißmehlerzeugnisse sind
durch Produkte zu ersetzen, die einen hohen
Anteil ganzer Getreidekörner enthalten (Vollkornbrot, Frischkornmüsli). Frisches Obst ist
dem Verzehr von Konserven oder Säften vorzuziehen. Weintrauben, Bananen und Kirschen
vermeiden.
ƒ Fette: 30 bis 35%: Fettarme Ernährung mit Bevorzugung der einfach ungesättigten Fettsäuren. Der Verzehr von Eiweiß und Fett führt im
Rahmen einer normalen Ernährung nicht zu
einem Anstieg der Blutglukosekonzentration.
Gehärtete Fette, insbesondere Transfette, sind
zu meiden. In vielen Fertigprodukten sind gehärtete Fette enthalten (Margarine, Kekse,
Pommes). Empfehlenswert sind Olivenöl und
Rapsöl wegen hohen Gehalts an Omega-3Fettsäuren.
ƒ Alkoholeinschränkung: Maximal 30 g bei Männern und 15 g bei Frauen
ƒ Keine Favorisierung sogenannter »Diätnahrungsmittel« mit Austauschzuckern
ƒ Anstreben des Normgewichtes
BMI männlich < 25 kg/m² / weiblich < 24 kg/m²
ƒ Schlanke Typ-2-Diabetiker sollten die Kohlenhydrataufnahme auf mehrere kleine Mahlzeiten
verteilen.
Beachte:
ƒ Patienten, die allein mit lebensstilmodifizierenden Maßnahmen (oder mit oralen Antidiabetika)
geführt werden, können auf eine energiedefinierte – auf die Lebenssituation des Patienten
abgestimmte – Diabeteskost eingestellt werden.
ƒ Nur bei mit Kombinationsinsulin behandelten
Diabetikern empfiehlt sich eine Verteilung der
Kohlenhydrate nach definierten KohlehydratPortionen (BE, KE, KHE).
ƒ Patienten, die mit Sulfonylharnstoffen oder
Gliniden therapiert werden sollen, müssen über
die Notwendigkeit der regelmaßigen Aufnahme
von Kohlenhydraten informiert werden.
22
Nr. 4 / 2007
KVH • aktuell
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Therapie des Diabetes mellitus Typ 2
Ì Diabetiker mit oralen Antidiabetika
Ì Therapie bei Übergewicht
Wer kommt in Frage
Mit der nächsten Stufe der Therapie, der Gabe von
oralen Antidiabetika (OAD), sollte begonnen werden, wenn nach 12 Wochen trotz Ausschöpfung
aller lebensstilmodifizierender Maßnahmen die
individuellen Therapieziele nicht erreicht wurden.
Zur Gruppe der oralen Antidiabetika zählen:
ƒ Nicht-Insulinotrope Antidiabetika:
Biguanide (Metformin)
Glitazone (Pioglitazon, Rosiglitazon)
Alpha-Glukosidasehemmer (Acarbose, Miglitol)
ƒ Insulinotrope Antidiabetika:
Sulfonylharnstoff-Derivate (Glibenclamid,
Glimepirid)
Glinide (Repaglinide, Nateglinide)
Inkretine / Dipeptidyl-Peptidasehemmer
Therapiemöglichkeiten mit OAD
Bei Übergewicht: Primär Einsatz von Metformin
bei Fehlen von Kontraindikationen [159] {A};
HbA1c-Absenkung: 0,6-1,5% [159]. Cave: Nebenwirkungen (s. u.). Einnahme zu oder nach der
Mahlzeit, bei hohem Nüchtern-BZ. Bed-time-dosis
erwägen; bei erhöhten postprandialen Werten zusätzlich (morgendliche) Gabe. Beginn mit 500 mg.
Eine Dosierung 2 mal 1 g/d zeigt die stärkste antihyperglykämische Wirkung, eine Metformin-Tagesdosis von > 2 g geht dagegen wieder mit abnehmender antihyperglykämischer Wirkung einher
[55].
Bei Nichterreichen des Therapiezieles gibt es
folgende Möglichkeiten: Kombination von Metformin mit
ƒ Insulin [52, 117]. Beibehaltung von Metformin
bei insulinpflichtigen Typ-2-Diabetikern kann
eine Ersparnis der Insulindosis um 20% zur
Folge haben, so dass sich diese Therapieoption
bei adipösen, insulinpflichtigen Patienten
anbietet [170].
ƒ Glitazonen (nur bei Krankheitsdauer unter 5
Jahren sinnvoll; Cave: Entwicklung einer
Herzinsuffizienz unter Therapie [10, 48] (s. u.)).
ƒ Gliniden (keine Endpunktstudien)
ƒ Sulfonylharnstoffen [77]. Zur Beurteilung der
Sicherheit der Kombination liegen keine ausreichenden Studien vor. Die Kombination
Metformin/Glibenclamid sollte bei KHK nicht
angewendet werden [35, 159].
ƒ Alpha-Glukosidasehemmern (wenig effektiv)
ƒ Inkretin-Mimetika: Exenatide (seit 1.4.2007
zugelassen für Kombination mit Metformin
und/oder Sulfonylharnstoffen, wenn keine gute
BZ-Einstellung erreichbar ist); 2x tägl. subkutane Injektion vor den Mahlzeiten. Noch
keine Risiko-Nutzen-Abwägung möglich. Cave:
Hypoglykämien!
Sitagliptin (DPP-4-Inhibitor, seit 21.03.07 durch
EMEA zugelassen) zur Anwendung in Kombination mit Metformin oder Glitazonen zugelassen. 100 mg oral täglich. Noch keine RisikoNutzen-Abwägung möglich.
ƒ Empfehlung der Leitliniengruppe: Bei Nichterreichen des Therapiezieles: Kombination
mit Insulin oder Umstellung auf Insulin.
23
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Therapie des Diabetes mellitus Typ 2
Ì Diabetiker mit oralen Antidiabetika
Ì Therapie bei Normalgewicht
Bei Normalgewicht: Primär Einsatz von Glibenclamid [161] {A}. HbA1c-Absenkung: 0,7-0,85%.
Einnahmezeitpunkt: 30 Min vor dem Frühstück,
einschleichend mit möglichst niedriger Dosis beginnen; ggf. schrittweise Steigerung auf morgens
7 mg und abends 3,5 mg; max. Tagesdosis
10,5 mg. Glibenclamideinzeldosen größer als 2 x
3,5 mg sind wenig sinnvoll, da sie nicht unbedingt
mit höherer metabolischer Wirksamkeit verbunden
sind, sondern die Gefahr der Substanzspeicherung
und somit höhere Nebenwirkungs- bzw. Hypoglykämiegefährdung für den Patienten bergen [116].
Bei Nichterreichen des Therapiezieles gibt es
folgende Möglichkeiten:
ƒ Umstellung auf Insulin
ƒ Kombination von Glibenclamid mit Glitazonen: nur bei Krankheitsdauer unter 5 Jahren
sinnvoll; Cave. Entwicklung einer Herzinsuffizienz unter Therapie, [10, 48] s. u
ƒ Empfehlung der Leitliniengruppe: Bei Nichterreichen der Therapieziele allein mit Glibenclamid: sofortiges Umstellen auf Insulin
Fazit:
ƒ Eine Kombination von zwei oralen Antidiabetika
ist möglich
ƒ Eine Kombination von mehr als zwei oralen
Antidiabetika sollte in der Regel nicht erfolgen,
da keine bessere Stoffwechseleinstellung
erreichbar ist.
ƒ Glibenclamid hat ein ausgeprägtes Hypoglykämie-Risiko. Höheres Alter, Niereninsuffizienz,
Alkohol sowie Interaktion mit anderen Arzneimitteln können das Hypoglykämie-Risiko erhöhen [12].
ƒ Bei Patienten mit Niereninsuffizienz ist möglichst frühzeitig auf eine Insulintherapie umzustellen.
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Therapie des Diabetes mellitus Typ 2
Ì Diabetiker mit oralen Antidiabetika
Andere orale Therapieformen
ƒ Monotherapie mit Glimepirid: Gleicher Wirkungsmechanismus wie Glibenclamid. Es werden weniger Hypoglykämien und eine geringere
Gewichtszunahme postuliert. Durch Studienlage nicht gesichert. Empfehlung der Leitliniengruppe: Glibenclamid ist Mittel der ersten
Wahl.
ƒ Monotherapie mit Glitazonen: Für übergewichtige Patienten mit Kontraindikation oder
Unverträglichkeit von Metformin. Häufige NW:
Gewichtszunahme! Durch die PROACTIVEStudie konnte der klinische Nutzen von Pioglitazon nicht belegt werden [48]. Aufgrund der
höheren Herzinsuffizienzrate ist die Sicherheit
des Antidiabetikums zweifelhaft (NNH 30, NNT
50 [10]). Ebenso besteht der Verdacht auf ein
erhöhtes Frakturrisiko bei Frauen unter Glitazonen [11].
Empfehlung der Leitliniengruppe: Primär
Insulin, falls nicht möglich, Therapieversuch mit
Glitazonen unter strengster Überwachung.
ƒ Monotherapie mit Gliniden: eher seltene
hausärztliche Indikation; z. B. bei (geriatrischen) Patienten mit unregelmäßigem Essverhalten. Keine Endpunktstudien.
Empfehlung der Leitliniengruppe:
zurückhaltende Einzelfallentscheidung.
ƒ
Monotherapie mit Alphaglucosidasehemmern: Bei UKPDS 44 [71] konnte gezeigt werden, dass nach drei Jahren Therapie deutlich
mehr Patienten mit Acarbose (39% vs. 58%)
die Therapie abgebrochen hatten, überwiegend
wegen Blähungen. Die mittlere HbA1c Senkung
bei Patienten mit Compliance lag bei 0,5%. Es
kam zu keiner Veränderung diabetesbezogener
Endpunkte. Eine weitere Studie [29, 31] postuliert für die Acarbose eine Risikoreduktion für
die Entwicklung eines Diabetes, eines Bluthochdrucks und einer KHK durch Absenkung
der postprandialen Blutzuckerspitzen. Die Studie ist jedoch wegen hoher Studienabbrüche
(305) und problematischer Verblindung der Studienteilnehmer sowie Änderung der Endpunkte
während der Durchführung in die Diskussion
geraten [83]. Es fehlen aussagekräftige Studien
zur Wirksamkeit und Nutzen einer Acarbosebehandlung [165]. Empfehlung der Leitliniengruppe: Eine Therapie wird nicht empfohlen.
25
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Therapie des Diabetes mellitus Typ 2
Ì Diabetiker mit Insulinbehandlung
Indikation für den Beginn einer Insulintherapie
ƒ Nicht-Erreichen des individuellen Therapieziels,
durch Basistherapie und/oder orale Antidiabetika.
ƒ Zwingende Insulin-Indikation bei Ketonurie
(außer Hungerazetonurie), fortschreitenden diabetesspezifischen Komplikationen, perioperativ
(in Abhängigkeit von der Art des Eingriffs).
ƒ bei Diabetikerinnen mit Schwangerschaft (falls
Normoglykämie durch Basistherapie nicht
erreicht wird).
Voraussetzung für die Ersteinstellung auf
Insulin
ƒ Nach Möglichkeit sollte die Einstellung
ambulant erfolgen.
ƒ Die Ersteinstellung sollte von einem Arzt vorgenommen werden, der mit seinem Team die notwendigen Voraussetzungen (obligatorische
Schulungend des Patienten bzw. Angehörigen)
bietet. Bei Fehlen dieser Voraussetzungen sollte immer in eine diabetologische Schwerpunktpraxis oder ein ambulantes Diabeteszentrum
zur Einstellung und Schulung überwiesen werden.
ƒ Regelmäßige Blutglukose-Selbstkontrollen sind
bei Insulintherapie stets erforderlich.
ƒ Selbstmanagement der Hypoglykämie muss
gewährleistet sein, ebenso ausreichend häufige
Messungen und ärztliche Konsultationen.
Die Vorstellung in einer Schwerpunktpraxis ist
indiziert bei:
ƒ Nichterreichen des individuellen Therapiezieles
nach 3 bis 6 Monaten
ƒ Häufigen Hypoglykämien
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KVH • aktuell
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Therapie des Diabetes mellitus Typ 2
Ì Diabetiker mit Insulinbehandlung (Fortsetzung)
Die Insulintherapie beim Typ-2-Diabetiker
Durch die Gabe von Insulin wird ein relativer Insulinmangel korrigiert und eine Insulinresistenz überwunden.
Folgende Insulinregime ergeben sich bei Nichterreichen des definierten Therapiezielbereichs
unter OAD [35, 51, 52, 131]:
ƒ BOT: (= basal unterstützte orale Therapie) Basalinsulin vor dem Schlafengehen unter Beibehaltung der oralen Antidiabetika.
Indikation: erhöhte BZ-Nüchternwerte bei normalen postprandialen BZ-Werten
Vorgehensweise: Die Dosisanpassung des
abendlichen Insulins sollte sich am morgendlichen Nüchternblutzucker orientieren: z. B.
Beginn mit 6-8 IE NPH-(Neutrales Protamin
Hagedorn) Insulin um 22 Uhr; schrittweise
Erhöhung der Insulindosis alle drei Tage um
2 Einheiten, bis der Nüchternblutzucker im Zielbereich (z. B. 100-120 mg%) liegt. Nächtliche
Hypoglykämien sollten durch gelegentliche (insbesondere zu Beginn) BZ-Messungen zwischen
2 und 3 Uhr, dem Zeitpunkt der größten Insulinsensitivität, ausgeschlossen werden (evtl.
Wecker stellen). Die orale Medikation am Tage
sollte zunächst beibehalten werden.
ƒ Prandiale Insulintherapie mit kurzwirkenden
Insulinen vor den Hauptmahlzeiten (ohne Basalinsulin); ggf. mit Metformin kombiniert.
Zielgruppe/Indikation: adipöse Typ-2-Diabetiker mit gutem NBZ und postprandial erhöhten
BZ-Werten.
Vorgehensweise: Prandialen Insulinbedarf
ƒ
errechnen: Körpergewicht x 0,3 - 1 I.E. = Gesamtbedarf; vom Gesamtbedarf entfallen 50%
auf die prandial zu injizierende Insulinmenge,
üblicherweise aufgeteilt im Verhältnis 3/6 (Frühstück), 1/6 (mittags) und 2/6 (abends). Im weiteren Verlauf erfolgt die Insulinbedarfsberechnung evtl. mit BE-Faktoren. Bei Auftreten von
erhöhten Nüchternblutzuckerwerten wird die
Einleitung einer intensivierten Insulintherapie
empfohlen.
Intensivierte konventionelle Insulintherapie
(ICT): Trennung von mahlzeitenabhängigem
Bolus- und mahlzeitenunabhängigem Basalinsulin. Die ICT orientiert sich an den physiologischen Verhältnissen, indem sie durch Gabe von
Basalinsulin die basale Insulinsekretion und
durch die Gabe von schnellwirkendem Mahlzeiteninsulin die prandiale Insulinsekretion nachbildet. Die ICT erlaubt eine Anpassung an unregelmäßige Nahrungsaufnahme und Bewegung.
Zielgruppe jeder gut schulbare Typ-2-Diabetiker, dessen Therapieziele nicht durch allgemeine Maßnahmen und OAD erreicht werden.
Vorgehensweise: wie prandiale Insulintherapie
sowie zusätzliche Gabe von Verzögerungsinsulin zur Nacht (ggf. auch morgens). Klinische
Studien zeigen, dass mit einer intensivierten
Insulinbehandlung das Risiko mikrovaskulärer
Komplikationen und der Neuropathie sowie das
Hypoglykämie-Risiko im Vergleich zur konventionellen Therapie vermindert werden kann [42,
43].
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Seite 42
KVH • aktuell
Nr. 4 / 2007
Therapie des Diabetes mellitus Typ 2
Ì Diabetiker mit Insulinbehandlung (Fortsetzung)
Sind die bisher dargestellten Theapieregime nicht
möglich (z. B. fehlende Adherenz), kann die konventionelle Insulintherapie durchgeführt werden.
ƒ Konventionelle Insulintherapie (CT): In der
Regel Gabe von 2 Insulininjektionen pro Tag
(früh und abends), zumeist mit Mischinsulinen.
Die CT entspricht nicht einer physiologischen
Insulinausschüttung. Sind bei einer CT mehr als
24 IE Insulin pro Injektion erforderlich, ist eine
Umstellung auf eine Intensivierte Insulintherapie (ICT, s. o.) zu erwägen.
Zielgruppe/Indikation: bei Patienten, bei
denen ICT nicht durchführbar ist.
Vorgehensweise: In der Regel wird zweimal,
gelegentlich dreimal täglich vor den Mahlzeiten
ein Mischinsulin gespritzt. Zur Verfügung ste-
hen Mischinsuline mit 25% bzw. 30% Anteil an
Kurzzeit- und 70%-75% Langzeitinsulin oder
auch 50% Kurzzeit- und 50% Langzeitinsulin.
Die Auswahl erfolgt in Abhängigkeit vom Blutzuckertagesprofil und Therapieeffekt. Nachteil –
und deshalb von der Leitliniengruppe nicht empfohlen – ist hierbei das starre Insulinregime
ohne Anpassungsmöglichkeiten durch den Patienten und die Notwendigkeit der Einhaltung
von Zwischenmahlzeiten. Initial kann man z. B.
mit 8-12 IE beginnen (entsprechend dem NBZ)
und langsam, z. B. alle 3 Tage, um 2 IE steigern, bis die gewünschten BZ-Werte erreicht
sind. Das Verhältnis von Morgendosis zur
Abenddosis sollte etwa 2 zu 1 sein (2/3 morgens, 1/3 abends) [124].
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Nr. 4 / 2007
KVH • aktuell
Seite 43
Therapie des Diabetes mellitus Typ 2
Ì Hinweise zur Insulintherapie
Zur Einstellung werden Human-Insuline eingesetzt, z. B.:
ƒ Kurzwirkend (2-8h): Actrapid®. Berlinsulin®
H Normal, Huminsulin® Normal, Insulin B.
Braun ratiopharm® Rapid, Insuman® Rapid,
Insuman® Infusat, Velosulin®
ƒ Intermediär wirkend (max 24h): Actraphane®,
Berlinsulin® H, Huminsulin Basal®, Huminsulin
Profil®, Insulin B. Braun ratiopharm® Basal,
Insulin B. Braun ratiopharm® Comb, Insuman®
Basal, Insuman® Comb, Protaphane®
In Ausnahmefällen (Unverträglichkeiten, Allergien)
können Insulin-Analoga verordnet werden. Es liegen keine Endpunktstudien vor, die klinisch relevante Vorteile belegen (zit. nach [79], s. auch [9,
74, 124]). In Deutschland sind zur Zeit folgende
Analoga im Handel:
ƒ Kurzwirkende Insulin-Analoga (Wirkdauer 25 h). Insulin glulisin = Apidra®; Insulin lispro =
HUMALOG®, Liprolog®, Insulin aspartat =
NovoRapid®
ƒ Intermediär (max. 24h): Insulin lispro (Humalog®; mit NPH-Insulin kombininiert: HumalogMix®, LiprologMix®),
Insulin aspart (NovoRapid®; mit NPH-Insulin
kombiniert: NovoMix®),
Insulin detemir (Levemir®)
ƒ Langwirkend (24h): Insulin glargin (Lantus®)
Inhalierbare Insuline sind verfügbar, können aber
für die hausärztliche Versorgung nicht empfohlen
werden. Die Datenlage ist unsicher, die Langzeitwirkung auf die Lunge kann noch nicht abgeschätzt werden. Patienten mit Asthma und COPD
sowie Raucher dürfen nicht damit behandelt werden [125]. Die Basalinsulininjektion wird nicht ersetzt, auch die Blutzuckermessung muss durchgeführt werden. Das Präparat kann zur Zeit nicht zu
Lasten der GKV verordnet werden.
Die Applikation des Insulins sollte heute mit Insulin-Pens erfolgen. Sie sind in der Dosierung genauer und verursachen gegenüber den Einmal-Insulinspritzen weniger Fehler.
Durchführung korrekter Insulininjektion
ƒ NPH- und Mischinsuline ausreichend
schwenken (ca. 20 x hin- und herbewegen)
ƒ In angehobenen Hautwulst in einem Winkel von
45-90 Grad injizieren; nach langsamer Injektion
Nadel noch ca. 10 Sek. stecken lassen, damit
sich das Insulin besser verteilt und die Dosis
vollständig verabreicht wird. Injektionsstellen
innerhalb der Areale wechseln.
ƒ Schnell wirkende Insuline in die Bauchdecke
injizieren (wird schneller resorbiert [44].
ƒ Verzögerungsinsuline in Vorder- und Außenseite von Oberschenkel,
ƒ Mischinsuline morgens in die Bauchdecke,
abends in Oberschenkel injizieren.
ƒ Um bei größeren Injektionsvolumina (größer
40 IE) eine bessere Wirkung zu erreichen, sollten die Patienten die Dosis teilen und 2 x spritzen. Bei adipösen Patienten die längste Nadel
verwenden.
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KVH • aktuell
Nr. 4 / 2007
Therapie des Diabetes mellitus Typ 2
Ì Hinweise zur Insulintherapie (Fortsetzung)
Beachte
ƒ Nach einer Gabe von Normalinsulin ist eine
Nachinjektion frühestens vier Stunden, bei
schnell wirkenden Insulinanaloga frühestens
zwei bis drei Stunden nach dem letzten Bolus
sinnvoll.
ƒ Mischinsuline sollten nur noch in Ausnahmefällen eingesetzt werden wegen des höheren
Hypoglykämierisikos und der unphysiologischen Wirkungsweise.
ƒ Nach Verbesserung der Blutzuckereinstellung
kann der Insulinbedarf zurückgehen.
ƒ Bei Fernreisen: Medikamentenbegleitblatt
[s. www.akdae.de].
ƒ Gewichtszunahme. Mit Ausnahme von Metformin ist bei allen Antidiabetika mit Gewichtszunahme zu rechnen. Patient ist darüber aufzuklären!
Einstellungsprobleme und Korrektur morgendlicher Hyperglykämien [124]
ƒ Reaktive Hyperglykämie am Morgen durch
nächtliche Hypoglykämie ausschließen (BZMessung nachts zwischen 2 und 3 Uhr). Bei zu
hoher abendlicher Insulindosis diese verringern.
ƒ Falls nächtliche Hypoglykämie ausgeschlossen
ist, kann die nächtliche Glukoneogenese durch
eine abendliche Insulingabe (um 22 Uhr) oder
durch Metformin reduziert werden.
ƒ Cave: Hypoglykämie bei Gastroparese mit verzögerter Nahrungsresorption (tritt bei 30% bis
50% der Typ-1- und Typ-2-Diabetiker auf
[145]): In diesem Fall ist es erforderlich, den
Spritz-Ess-Abstand anzupassen, ggf. Normalinsuline nach der Mahlzeit spritzen.
Anpassung der Insulintherapie
ƒ Patient ist vorübergehend nicht mobil (z. B.
Oberschenkelhalsbruch): Häufigere BZ-Kontrollen, Insulinbedarf steigt
ƒ Bei interkurrenten Erkrankungen häufigere BZKontrollen und ggf. Dosisanpassung
ƒ Patient steigert – ungewohnterweise – seine
körperliche Aktivität (z. B. Wandern, Gartenarbeiten): Bei schlecht eingestellten Patienten
kann es durch Gegenregulationen der Insulinantagonisten zu einer Verschlechterung der BZWerte kommen. Bei regelmäßiger körperlicher
Tätigkeit fällt die Blutzuckersenkung milder aus,
ungewohnte körperliche Aktivität führt zu rascher Blutzuckersenkung mit Gefahr von Hypoglykämien [88]: stündlich kleine Mahlzeiten,
evtl. Insulindosis reduzieren {C}
Spritz-Ess-Abstand
ƒ Es muss kein Spritz-Ess-Abstand eingehalten
werden. Die vom Bundesinstitut für Arzneimittel
und Medizinprodukte (BfArM) genehmigten
Fachinformationen zu den in Deutschland zugelassenen Humaninsulinen enthalten keine
Empfehlung, dass ein bestimmter Spritz-EssAbstand eingehalten werden muss. Es gibt
folglich in Bezug auf den Spritz-Ess-Abstand
keinen Vorteil für kurzwirksame Insulinanaloga.
ƒ Bei Patienten in Alten- und Pflegeheimen, die
gefüttert werden, sollte aus Sicherheitsgründen
das Insulin erst nach dem Essen gespritzt werden, wenn die aufgenommene Kohlenhydratmenge bekannt ist [124].
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Nr. 4 / 2007
KVH • aktuell
Seite 45
Therapie des Diabetes mellitus Typ 2
Ì Besonderheiten der Behandlung bei alten
Diabetikern
Ì Besonderheiten bei Patienten in Pflege
Mehr als 2/3 aller Diabetiker in Deutschland
sind älter als 60 Jahre und nahezu ein Viertel
der 75-80 Jährigen leidet an Diabetes.
Auch für den älteren Patienten und unabhängig
vom Diabetestyp und Alter gilt vor allem wegen der
Lebensqualität und nicht wegen des Outcomes die
Grundregel: Normnahe Stoffwechsel- und Blutdruckwerte sind anzustreben und prinzipiell erreichbar. Allerdings müssen doch einige Besonderheiten beachtet werden.
Globales Ziel: Förderung und Erhalt der Lebensqualität. Ein Abweichen vom Ziel »normnahe Stoffwechselwerte« sollte nur bei schlechter Prognose
bzw. kurzer Lebenserwartung des Patienten toleriert werden. Dann gelten als Therapieziele: Vermeidung von Hypoglykämie und Glukosurie.
Das Therapieziel ist an folgende individuelle
Bedingungen anzupassen [61]:
ƒ Lebensqualität, Lebenserwartung, Bildungsgrad, Lebenssituation, kognitive und körperliche
Fähigkeiten sowie vorhandene oder zu erwartende Komplikationen und Begleiterkrankungen. Auch religiöse/ethische Aspekte sind in die
Entscheidung einzubeziehen.
ƒ Möglichkeiten und Bereitschaft des Patienten
zur Mitarbeit und Umsetzung der Therapie
(kognitive, affektive und feinmotorische Beeinträchtigungen)
ƒ Berücksichtigung der gesamten Medikation des
Patienten (Wechselwirkungen/UAW-Gefahr)
ƒ Unterstützung des Patienten durch Angehörige
und soziales Umfeld
ƒ Biologisches Alter. Eine Leistungsinsuffizienz
(z. B. Störungen des Sehvermögens, Gedächtnisstörungen etc.) sollte durch geeignete Bezugspersonen (Familienangehörige, Bekannte,
pflegerisches Personal) kompensiert werden,
um das Therapieziel zu erreichen. Im Gegensatz zu landläufiger Auffassung akzeptieren
gerade ältere Patienten in hohem Maße intensive Therapieformen (z. B. ICT), weil durch die
Besserung der körperlichen und geistigen
Grundfunktionen ihr Zugewinn an Lebensqualität besonders intensiv empfunden wird.
Jeder Arzt sollte deshalb seinen Beitrag zur Motivation leisten.
ƒ Multimorbidität erfordert die Anwendung der
jeweils effektivsten Therapieformen.
ƒ Auch ältere Patienten sollten gut eingestellt
werden. Sowohl eine gute Stoffwechsel- als
auch Blutdruckeinstellung sind notwendig.
ƒ Empfehlung: Gut steuerbare orale und Insulintherapieformen (s. u.).
ƒ Zur Förderung und zum Erhalt der Lebensqualität gehört es auch, Komplikationen zu verhindern (zur Therapie s. w. u.). Unverzichtbar ist
deswegen ein Basis-Assessment. Hierfür gibt
es standardisierte Testverfahren (s. LL Alter).
ƒ Für den alten Patienten gelten die gleichen
Therapieziele wie für die Jüngeren, es sei denn,
ein zu strenges Regime schränkt die Lebensqualität ein (z. B. Hypoglykämie).
Diabetische und geriatrische
potenzieren sich häufig:
Komplikationen
Diabetische Polyneuropathien erschweren die
Handhabung von Medikamentenpackungen, Blutzuckermeßgeräten und Insulinapplikatoren. Hier
gibt es bereits entsprechende Produkte für den
älteren Menschen.
ƒ Eine evtl. vorhandene Ataxie erhöht das Sturzrisiko (Diabetiker haben ein 1,6 fach erhöhtes
Sturzrisiko [172]).
Hautveränderungen,schlechte
Durchblutung,
ƒ
Fußdeformierungen verstärken eine vorhandene Immobilität.
31
Seite 46
KVH • aktuell
Nr. 4 / 2007
Therapie des Diabetes mellitus Typ 2
Ì Besonderheiten der Behandlung bei alten
Diabetikern (Fortsetzung)
Ì Besonderheiten bei Patienten in Pflege (Fortsetzung)
ƒ
Anhaltende neuropathische Schmerzen
beeinflussen ebenfalls erheblich die Lebensqualität.
Harninkontinenz
Harnwegsinfektionen, neurogene Blasenfunktionsschwäche und eingeschränkte Mobilität können
zur Inkontinenz beitragen.
ƒ
Depression
Ältere Diabetiker haben ein erhöhtes Risiko für
Depression, wodurch die Compliance erschwert
wird – hier sollte man rasch intervenieren.
Besonderheiten bei der Therapie: [24, 172]
Als Basistherapie wird auch bei älteren Menschen
entsprechend den Möglichkeiten ein Bewegungstraining empfohlen. Insbesondere ein Kraft- und
Balancetraining ist zur Sturzprophylaxe sinnvoll.
Bei der Ernährung ist insbesondere bei geriatrischen Patienten auf Fehlernährung zu achten;
praktische einfache Empfehlungen sind erforderlich (z. B. eine Hand voll Obst oder Gemüse pro
Mahlzeit). Die Kaufunktion ist zu beachten: Paradontitis tritt bei Diabetikern gehäuft auf und sollte
behandelt werden.
Patientenschulung
Mittlerweile gibt es ein speziell für alte Diabetiker
entwickeltes strukturiertes Schulungsprogramm
[174], das konkret umsetzbares Basiswissen vermittelt und mit Wiederholungen arbeitet.
Medikamentöse Therapie
ƒ Funktionseinschränkungen verschiedener Organe limitieren den Einsatz vieler oraler Antidiabetika.
ƒ Kritisch können sein: Insulinotrope Pharmaka
mit langer biologischer Halbwertszeit und nichtinsulinotrope Pharmaka mit ausgeprägtem Ne-
ƒ
benwirkungsprofil bei vorbestehenden schweren Organinsuffizienzen (Niere, Leber, HerzKreislaufsystem und Darm) z. B. Hypoglykämiegefahr und Niereninsuffizienz bei Sulfonylharnstoffen, Hypoglykämie bei Gliniden, Herzinsuffizienz bei Glitazonen.
Empfehlung: Metformin ist ein wirksames
Medikament bei älteren Patienten mit Kriterien
für das metabolische Syndrom. Es gibt keinen
Grund für einen alterslimitierten Einsatz. Zu
beachten sind vorhandene Kontraindikationen,
die sich auch schleichend (z. B. Herzinsuffizienz) und sporadisch (z. B. kompensierte Niereninsuffizienz bei Exsikkose) einstellen können. Bei längerfristiger Therapie muss die regelmäßige Beobachtung des Patienten hinsichtlich des Neuauftretens von Kontraindikationen
gewährleistet sein.
Eine Insulintherapie ist auch bei älteren Patienten indiziert, wenn das individuelle Therapieziel mit OAD nicht erreicht wird. Bei Patienten, die unregelmäßig essen, ist manchmal eine
Insulintherapie (mit Spritzen nach dem Essen)
besser zu handhaben. Um Hypoglykämien zu
vermeiden, sollte für die Altenpflegerin ein Injektionsplan erstellt werden, der sich auf die
Nahrungsaufnahme, bzw. auf die Menge an
aufgenommenen Kohlenhydraten bezieht. Ständige Blutzuckerkontrollen sind dabei nicht notwendig. Zu beachten ist auch hier, dass bei
fortschreitender Niereninsuffizienz der Insulinabbau verzögert wird und entsprechend niedrigere Insulindosen erforderlich werden.
Ein Geldzähltest nach Nikolaus (»Zählen eines
Betrags z. B. 9,80€ in Scheinen und Münzen in
festgelegter Zeit«) [172, 173] kann bei der Entscheidung helfen, ob die Alltagskompetenzen
eines alten Menschen ausreichen, selbst
spritzen zu können.
33
Nr. 4 / 2007
KVH • aktuell
Seite 47
Therapie des Diabetes mellitus Typ 2
Ì Nicht medikamentöse Maßnahmen
Ì Arzneitherapie zur Blutzuckersenkung
Maßnahmen, die der Arzneitherapie vorangehen
oder diese unterstützen
ƒ Gewichtsreduktion [115] {B}, [157] {A}
ƒ Bewegung [115] {B}, [23] {A} [155, 157]
ƒ Ernährungsumstellung [115] {B}
ƒ Nikotinverzicht
ƒ Gesundheits-Pass Diabetes [56]
ƒ Angebot von strukturierten Schulungen, Wiederholungsschulung im Allgemeinen in 3-jährigem Abstand
ƒ Schulung zur Stoffwechselselbstkontrolle [25]
ƒ Vereinbarung von Therapiezielen und Kontrollterminen, z. B. jährliche augenärztliche Untersuchung [87], mind. halbjährliche
Fußuntersuchung
Arzneitherapie
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
Metformin:
Nutzen gut belegt bei Übergewichtigen [159] {A}
max. 2 x 1000 mg, ղU
Sulfonylharnstoffe:
Nutzen gut belegt bei Normalgewichtigen [161]
{A}, Mittel zweiter Wahl bei Übergewichtigen,
max. bis 10,5 mg/Tag Glibenclamid ղU
Insulin: Rechtzeitige Umstellung von OAD nach
individuellen Gegebenheiten ղU
Acarbose (Datenlage umstritten) [83, 165] ղV
Glinide (bisher keine Endpunktstudie) ղA
Glitazone (Risiko der Herzinsuffizienz, Erhöhung
der Spontanfrakturrate bei Frauen, unbegrenzte
Gewichtszunahme) [10, 48] ղV
nach Meinung der Leitliniengruppe bei Multimorbidität und Multimedikation ..:
ղU = unverzichtbar
ղV = verzichtbar
ղA = abzuwägen
34
KVH • aktuell
Seite 48
Nr. 4 / 2007
Therapie des Diabetes mellitus Typ 2
Ì Management der Hyperglykämie
nicht medikamentöse
Therapie
(Gewichtsreduktion,
Therapie
fortsetzen
körperliche Betätigung,
Schulung)
ja
Therapieziel
erreicht?
nein
ja
Kontraindikation
gegen
Metformin?
nein
body mass index
> 25 kg/m²?
ja
ja
nein
Therapie
fortsetzen
ja
nein
Metformin
Therapieziel
erreicht?
Zeichen einer
koronaren
Herzkrankheit?
Glibenclamid
nein
nein
Insulin
ja
Therapieziel
erreicht?
Therapie
fortsetzen
ja
Therapieziel
erreicht?
nein
Weiterleitung an
Schwerpunktpraxis/
-einrichtung erwägen
Quelle: Krones, John, Sawicki 2003: 60 [91]
Anmerkung: Bei Nichterreichen der Therapieziele
mit Metformin bzw. Glibenclamid gibt es neben der
hier vorgestellten Option, Insulin zu wählen, noch
die Möglichkeit, Glinide, Glitazone oder Acarbose
einzusetzen. Die Leitliniengruppe empfiehlt diese
Therapieoption nur im Ausnahmefall.
35
Nr. 4 / 2007
KVH • aktuell
Seite 49
Therapie des Diabetes mellitus Typ 2
Ì Allgemeine Therapiehinweise
Ì Diabetes und Depression
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
Jährliche augenärztliche Untersuchung (Befundbericht einfordern) [87].
2-mal jährliche Fußuntersuchung, z. B. bei Blutwertkontrollen, Check-Up und DMP-Untersuchungen.
Patienten sind auf die Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen hinzuweisen (s. Anhang).
Regelmäßige Mikroalbuminteste ermöglichen
die Diagnose der diabetischen Nephropathie in
einem frühen, reversiblen Stadium (zur Durchführung s. Abschnitt diabetische Nephropathie).
Die Untersuchung des Urins auf Mikroalbumin
ist beim Diabetiker sinnvoll {C}, auch wenn sie
nicht routinemäßig in den DMPs gefordert wird
(dort nur bei manifester Retinopathie). Sie gilt
auch als empfindlicher Marker für das KHK
Risiko.
Diabetes und Depression
ƒ Diabetiker weisen ein hohes Risiko für die
Entwicklung einer Depression auf (drei bis
vierfach höhere Prävalenz im Vergleich zu
Nichtdiabetikern) [119]. Das Risiko, an einer
Depression zu erkranken, steigt mit der Entwicklung und der Anzahl der diabetischen Spätkomplikationen [92, 119]. Umgekehrt haben
auch Patienten mit einer Depression ein hohes
Risiko an Diabetes zu erkranken. Eine Depression bei Diabetikern erhöht die Gefahr der Spätschäden, da mit einer geringeren Compliance,
schlechterer Blutzuckereinstellung und geringerer aktiver Mitwirkung an der Therapie gerechnet werden muss.
ƒ Die Depression wird oftmals nicht erkannt. Es
besteht auch die Gefahr, dass Symptome einer
schlechten Blutzuckereinstellung mit Anzeichen
einer Depression verwechselt werden. Zentrales diagnostisches Instrument ist das Arzt-Patienten-Gespräch. Als Screening für depressive
Störungen sollte der Arzt die depressive Stimmung (Niedergeschlagenheit, Hoffnungslosigkeit), den Verlust von Interesse und Freude
sowie die Antriebsminderung erfragen [119].
Für ein Screening auf Depression hat sich in
der Praxis besonders der sehr kurze Selbstbeurteilungsfragebögen (WHO 5 oder WHO 10,
s auch Anhang) bewährt. Liegen Anzeichen für
eine Depression vor, so ist immer die Suizidgefährdung des Patienten aktiv anzusprechen.
Konsil und Mitbehandlung durch Spezialisten ist
sinnvoll.
ƒ Arzneimittelauswahl: Wirkstoffe einsetzen, die
mit einem geringen Risiko für eine Gewichtszunahme einhergehen (z. B. Nortriptylin, Desipramin, SSRI). Trizyklische Antidepressiva und
Antipsychotika (z. B. Olanzapin) sind zu vermeiden [92, 119].
36
Seite 50
KVH • aktuell
Nr. 4 / 2007
Anhang: Praxistipps
Ì 14 Empfehlungen für Patienten
Patienten-Empfehlungen zur Fuß-Pflege und -Kontrolle, zitiert nach [99]
72

Tischversion
KVH • aktuell
Seite 3
Venöse Thromboembolie
Allgemeine Maßnahmen
Medikamentöse Therapie
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
Patienten mit frischer Oberschenkel- und Beckenvenenthrombose sind liegend stationär einzuweisen.
Bei Unterschenkelthrombose unter adäquater
Kompression viel Gehen.
Ausreichend trinken.
Gewichtsnormalisierung: Übergewicht stellt ein
zusätzliches Risiko dar.
Nikotinkarenz insbesondere bei KontrazeptivaEinnahme.
Bei chronischem Verlauf: berufliche Beratung; kein
langes Sitzen oder Stehen zur Vermeidung eines
posttrombotischen Syndroms (PTS) und eines VTERezidivs.
Tragen von Kompressionsstrümpfen (mind. Klasse
II) tagsüber (Reduktion des postthrombotischen
Syndroms bei 2-jähriger Therapie um 50%) {A}.
Schwimmen, Gehen und Fahrradfahren nach
Klinikentlassung und nach Akutphase empfehlen.
Warmbäder vermeiden.
Rezidivprophylaxe bei Risikosituationen (s.o)
Patientenmerksatz: Sitzen und Stehen sind
schlecht, lieber laufen oder liegen.
Cave: Bei Heparintherapie an HIT (Heparininduzierte
Thrombozytopenie) denken! D. h. Abfall der Thrombozytenwerte um mehr als 50% und/ oder neue thromboembolische Komplikationen vor allem zwischen dem 5.
und 14. Tag sind verdächtig.
Das Risiko für eine HIT ist bei niedermolekularen
Heparinen gering.
Eine Bestimmung der Thrombozyten vor Beginn
der Heparintherapie ist erforderlich. Ab Tag 4 der
Therapie sind regelmäßige Thrombozytenkontrollen/Blutbild alle 2-3 Tage erforderlich.
Bei initial niedrigen Thrombozytenwerten an Pseudothrombozytopenie denken und Überprüfung mit
Zitratblut vornehmen.
Kontraindikationen für Vit-K-Antagonisten
ƒ Krankheiten mit erhöhter Blutungsbereitschaft (z. B.
Magen-Darm-Ulcera, Aneurysmata)
ƒ
ƒ
Möglichst Beginn der Behandlung mit Vitamin KAntagonisten am 1. oder 2. Tag nach Diagnose
unter Beachtung der Kontraindikationen.
Heparin- und Phenprocoumontherapie sollten sich
aufgrund unterschiedlicher Halbwertszeiten der
Gerinnungsfaktoren solange überlappen, bis ein
INR t 2,0 erreicht ist.
Eine Sekundärprophylaxe mit niedermolekularem
Heparin ist genauso effektiv, aber wesentlich teurer
als eine Therapie mit Vitamin-K-Antagonisten. Für
Patienten, für die eine Phenprocoumontherapie
nicht infrage kommt, stellt diese Behandlung eine
gute Alternative dar. Die Frage des optimalen
niedermolekularen Heparins (NMH) und dessen
Dosis ist ungeklärt.
ƒ
Fixierte und behandlungsrefraktäre Hypertonie
(> 200/105 mmHg)
ƒ Nach urologischen Operationen solange Makrohämaturie besteht
ƒ Ausgedehnte offene Wunden
ƒ Bekannte Überempfindlichkeit gegen den Wirkstoff
ƒ Kavernöse Lungentuberkulose
ƒ Abortus imminens, Schwangerschaft
keine Kontraindikation: Menstruationsblutung
Beachte: Korrekte Handhabung der Therapie durch
Patienten sicherstellen!
Falls Überbrückung der Antikoagulation notwendig
wird: Nach Unterbrechung der oralen Antikoagulation
Überbrückung der Antikoagulation ab INR < 2 mit
therapeutischen Dosen unfraktionierter oder niedermolekularer Heparine (»Bridging«). Letzte Gabe der
Heparine nicht später als 12 Stunden vor dem Eingriff.
12-24 Stunden postoperativ Heparintherapie weiterführen und bis INR > 2 fortführen.
Korrespondenzadresse
Ausführliche Leitlinie im Internet
Hausärztliche Leitlinie
PMV forschungsgruppe
Fax: 0221-478-6766
Email: [email protected]
http:\\www.pmvforschungsgruppe.de
www.pmvforschungsgruppe.de
> publikationen > leitlinien
www.leitlinien.de/leitlinienanbieter/deutsch/pdf/
hessenvenenthrombose
»Venöse Thromboembolien«
Tischversion 1.0 November 2007
info.doc Verlag GbR, Pfingstbornstr. 38, 65207 Wiesbaden
PVSt Deutsche Post AG,
Entgelt bezahlt,
68689
Tischversion
Tischversion
Epidemiologische Studien zeigen einen
Fettstoffwechselstörung Dyslipidämie
von diätetischen Empfehlungen für (VTE)
eine
Zusammenhang Venöse
ƒ Einhaltung
Thromboembolie
zwischen dem Auftreten von Herz-Kreislauferkrankungen
und hohen Serumcholesterinwerten. Diese bzw. die Höhe
der
HDL-Adäquate
und LDL-Werte
stellen jedoch
nur einen
von
Ziele:
Behandlung
der VTE;
Vermeiden
mehreren
Risikofaktoren Vermeiden
dar. Deshalbvon
empfiehlt
sich für
einer Lungenembolie,
Rezidivthromden
Hausarzt
bei Vorliegen
einer Dyslipidämie
die Einteilung
bosen
und des
postthrombotischen
Syndroms.
in eine Risikogruppe anhand von systematischen Algorythmen
oderVTE
Scores
PROCAM).
Somit erfolgt eine
Ätiologie:
und(NCEP,
erbliche
oder vorübergehende
Abschätzung
des Risikos für kardiovaskuläre Ereignisse
Risikofaktoren
(10-Jahresrisiko)
und zwischen
darauf dievorübergehenden
Festlegung der BehandMan unterscheidet
Risikolungsstrategie
mitchirurgische
dem Patienten.
Für die und
Risikoeinstufung
faktoren (z. B.
Eingriffe)
dauerhaften
orientiert
Leitliniengruppe
Hessenwie
an der
folgenden
Risiken sich
(z. Bdieerbliche
Thrombophilie
Faktor-V-LeiEinteilung
der NCEP
(National Cholesterol
Education
den-Mutation)
sowie Neoplasmen.
Davon abzugrenProgram
National Heart, Venenthrombose,
Lung, and Blood Institute,
zen ist des
die idiopathische
bei der
http://www.nhlbi.nih.gov/guidelines/cholesterol/index.htm):
keine thrombophile Störung und kein vorübergehender
Risikofaktor
zu eruieren
sind.
1.anderer
Hohes Risiko
(10-Jahresrisiko
über
20%): a) Bestehende
koronare Herzkrankheit (KHK), b) KHK-Äquivalente, c)
Diagnostik
Diabetes
mellitus, d) 2 oder mehr Risikofaktoren**:
Bei
VTE
ungeklärter
Ursache sollte 10-20%):
immer nach
einem
2. Mäßig hohes
Risiko (10-Jahresrisiko
•2 RisikoMalignom
gesucht werden.
faktoren*
bei errechnetem
Risiko**. Eine Thrombophilie3.Diagnostik
ModeratesistRisiko
(10-Jahresrisiko
< 10%):
bei jungen
VTE-Patienten
(< •2
50 RisikoJahre),
aktoren*
bei errechnetem
Risiko**. Familienanamnese, bei
bei Patienten
mit positiver
4.Patienten
Niedriges Risiko:
Risikofaktor*
mit 0-1
rezidivierenden
VTE, bei VTE
*Risikofaktoren:
Zigaretten
rauchen,
Hypertonie,
niedriges
ungeklärter Ursache und bei Patientinnen
mit
HDL-Cholesterin
unter
40mg/dl,
familiäre
Belastung
mit
rezidivierenden Aborten (Antiphospholipid-AK-Synvorzeitiger KHK, Alter (Männer über 45 Jahre, Frauen über
drom) durchzuführen.
55 Jahre); **errechnetes Risiko: Bsp. mit PROCAM Score
(s. Rückseite) oder elektronischem NCEP-Risikokalkulator
Bei venöser Thromboembolie gilt
Anmerkung: Diabetiker ohne KHK oder KHK-Äquivalente
Die optimalen INR-Zielwerte zur Sekundärprophyund ohne zusätzliche Risikofaktoren profitieren bei einem
laxe der
venösen
Thromboembolie
liegen- zwischen
LDL<115
mg/dL
- laut der
jetzigen Studienlage
nicht von
2,0
und
2,5.
einer Therapie mit einem CSE-Hemmer.
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Die Behandlungszeit beträgt bei erstem Ereignis im
nach “International Task Force for
Bereich des Unterschenkels, bedingt durch vorPrevention of Coronary Heart Disease”:
übergehenden Risikofaktor, 3 Monate.
Basis sind nichtmedikamentöse Maßnahmen, die auf eine
ƒ Die Behandlungszeit beträgt bei allen anderen
Veränderung des Lebensstils zielen:
Venenthrombosen mindestens 6 Monate.
ƒ Erhalten des normalen Körpergewichtes oder
Gewichtsreduktion bei Übergewicht
Therapieschritte
ƒ
Steigerung der körperlichen Aktivität
„Herzgesunde Ernährung“
ƒ Nur mäßiger Konsum von Alkohol und Vermeidung von
Nikotin
ƒ Bei schwerer Thrombophilie (z. B. AntithrombinIndikationsstellung
für eineFaktor-V-Leiden-Mutation,
medikamentöse Therapie
Mangel, homozygote
Umfassende,
unmittelbare
Behandlung
kombinierte Defekte) istmedikamentöse
eine dauerhafte
bzw.
aller
Patienten mit
hohem
Risiko (Gruppe
1: 10-Jahreslebenslange
orale
Antikoagulation
unter
Hinzurisiko
>20%)
und Spezialisten
Anstreben eines
LDL von 100 mg/dl.
ziehung
eines
durchzuführen.
Medikamentöse Therapie bei Patienten der Gruppe 2
und 3 nach individueller Entscheidung unter BerückWichtige Hinweise
sichtigung der Lipidwerte und nach Erprobung lebensstilBei VTE immer die Familienanamnese bezüglich
ändernder Maßnahmen.
thromboembolischer Ereignisse erheben.
Für Patienten der Risikogruppe 4 (0-1 Risikofaktor) sind
Bei jungen Frauen mitMaßnahmen
Thromboseimhormonelle
lebensstilmodifizierende
AllgemeinenKontrazeption überdenken, ggf. absetzen. Rauchen
ausreichend.
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einstellen.
Je nach Risikogruppe wird ein LDL von 100 mg/dL (Gruppe
Die Compliance für oberschenkellange Kompres1), 130 mg/dL (Gruppe 2+3) bzw. 160 mg/dL (Gruppe 4)
sionsstrümpfe ist häufig mangelhaft, besser knieangestrebt.
ƒ
lange Strümpfe (mind. Klasse II) tragen lassen als
Arzneimittelauswahl:
Es
gar keine.
sollten Wirkstoffe
eingesetzt
werden, für die Endpunktstudien mit günstiger NNT und NNH
vorliegen
(Simvastatin, in
Pravastatin).
Für Simvastatin (20 mg
Rezidivprophylaxe
Risikosituationen
und
40
mg)
und
Pravastatin
(40
mg)
ist
eine Senkung
sowohl
Nach Absetzen der oralen Antikoagulation
müssen
die
der
Gesamtmortalität
auch
kardiovaskulären
Patienten
unbedingtalsauf
dieder
Vorbeugung
einer Mortaerneulität
Bei Thromboembolie
Multimorbidität und in
Multimedikation
sollte hindie
tenbelegt.
venösen
Risikosituationen
Indikation
eine medikamentöse lipidsenkende Therapie
gewiesenfürwerden:
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besonders
streng gestellt
werden.
Vorübergehende
Immobilität
Merke:
Längere Auto-/Bus-/Zugfahrten, Flugreise
Bei
medikamentöser
Akute
Infektionen Therapie: CK kontrollieren!
(Rhabdomyolyse
möglich!)
Schwangerschaften
Keine Kombinationstherapie CSE-Hemmer + Fibrate/
Makrolide/Azol-Antimykotika.
Zur Rezidivprophylaxe geeignet sind die KompresWechselwirkungen auch mit anderen Medikamenten
sionstherapie der unteren Extremitäten bzw. die
möglich!
Heparinisierung
(niedermolekular, prophylaktische
Bei Makrolidtherapie CSE-Hemmer pausieren!
Dosierung).
Statine vor chirurgischen Eingriffen und bei akut auftretenden schweren Erkrankungen vorübergehend absetzen! Auf Compliance achten, auf abendliche Einnahme des CSE-Hemmers hinweisen.
Evidenzbasierte Patienteninformationen sind unter
www.gesundheitsinformation.de abrufbar.
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