KVH • aktuell Informationsdienst der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen Pharmakotherapie Rationale und rationelle Pharmakotherapie in der Praxis Jhrg. 12, Nr. 4 – Dezember 2007 Rezept oder Skalpell? Patienten mit Rückenschmerzen zählen in der Praxis zum täglichen Brot. Und wenn sie beispielsweise durch Bandscheibenvorfall, degenerative Spondylolisthesis oder Spinalstenose ausgelöst werden, stellt sich die Frage: Zum Operieren schicken oder weiterhin mit Rezepten und guten Ratschlägen behandeln? Dazu gibt es diverse Studien, die unterm Strich allerdings keinen eindeutigen Vorteil für die eine oder andere Methode herausarbeiten konnten. Entscheidungshilfen für den Einzelfall lassen sich aus ihren Ergebnissen aber sehr wohl extrahieren. Seite 4 Was unternehmen Sie bei einer TIA? Der Mundwinkel hing einige Minuten lang leicht schief und der Arm war ein bisschen lahm – ein indolenter Patient nimmt so etwas auf die leichte Schulter und manch ein Kollege wartet in solchen Fällen auch ganz gerne ab. Das kann fatal werden: Jeder Zehnte dieser TIA-Patienten bekommt innerhalb des nächsten drei Monate einen richtigen Schlaganfall – es sei denn, er wird konsequent Seite 6 behandelt. Reizende Küsse Dass ihr Mann sie zärtlich küsste, gefiel der Patientin durchaus – dass anschließend ein Ekzem auf ihren Lippen blühte, fand sie dagegen ziemlich lästig. Womit wir beim Thema wären: Manchmal schleicht sich ein Allergen über verdeckte Pfade an, auf die man erst einmal kommen muss. In diesem Heft finden Sie neben dem reizenden Kuss noch weitere solche Beispiele – vielleicht hilft Ihnen die Lektüre irgendwann Seite 13 einmal in der Praxis weiter. Die häufigsten Fehlerquellen beim Verordnen von Arzneimitteln Medikamente haben Janusköpfe: Einerseits zählen sie zu den wichtigsten Werkzeugen des Arztes, andererseits bringen sie seine Patienten in Gefahr: Tödliche Arznei-Nebenwirkungen, so ergab eine Untersuchung in den USA, liegen bei den Todesursachen auf Platz sechs – bei uns dürfte es nicht viel anders sein. Viele dieser bedauerlichen Fälle sind nicht unbedingt schicksalhaft, sondern durchaus vermeidbar. Wo die häufigsten Fehler bei der Arzneiverordnung liegen und wie sie Seite 16 zu vermeiden sind, lesen Sie in diesem Heft auf Die hausärztliche Leitlinie zum Diabetes Typ 2 Wieder mit vielen praxisnahen Informationen und Tipps. Seite 23 KVH • aktuell Seite 2 Nr. 4 / 2007 Zu Risiken und Nebenwirkungen Editorial Sehr geehrte Frau Kollegin, sehr geehrter Herr Kollege, „Krank auf Rezept“, „Gefährliche Nebenwirkungen“, „Tod durch Arzneimittel“ – so titelten unlängst etliche Tageszeitungen. Fünf Prozent aller Fälle in den Inneren Abteilungen der Krankenhäuser sollen auf die Folgen von Medikamenteneinnahmen zurückgehen – rund 300.000 Fälle im Jahr. Der Bremer Gesundheitsforscher Gerd Glaeske schätzt gar, dass jährlich 16.000 bis 25.000 Todesfälle durch Neben- und Wechselwirkungen verursacht werden. Die Hälfte der Todesfälle sei vermeidbar. Alles übertrieben? Tatsache ist, dass wir in Deutschland mit einem schier unüberschaubaren Medikamentenmarkt zu tun haben. Aktuell sind rund 20.000 Arzneimittel zugelassen. Allein in 2006 kamen 2.734 Medikamente und 27 Wirkstoffe neu hinzu. Etliche Präparate sind frei verkäuflich. Hinzu kommt: Die Patienten werden immer älter, und so steigt auch der Anteil derjenigen, die gegen mehrere Krankheiten gleichzeitig behandelt werden müssen. Bluthochdruck, Diabetes, Alzheimer ... – unerwünschte Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Arzneimitteln können die Folge sein. Ohnehin reagieren Ältere empfindlicher auf bestimmte Substanzen als jüngere Patienten. Wenn es um die Einnahme von Medikamenten geht, haben wir Ärzte eine große Verantwortung. Wir können zwar weder die Nebenwirkungen eines Medikamentes beeinflussen, noch den Patienten zu einem verantwortungsvollen Umgang mit Arzneimitteln zwingen. Auch der Glaube, dass man Fehler in der Arzneitherapie vollständig vermeiden kann, ist unrealistisch. Ziel muss es aber sein, systematische Fehlerquellen so weit wie möglich zu minimieren. Dazu gehören neben der Arzneimittelzulassung sowie der Aus- und Weiterbildung vor allem auch die Strukturen im Arbeitsalltag. Ich bin den Kollegen der KV Hessen deshalb ausgesprochen dankbar, dass sie dieses wichtige Thema in dem vorliegenden Pharmakotherapie-Heft aufgegriffen haben. Es listet die häufigsten Fehlerquellen beim Verschreiben von Arzneimitteln auf und stellt Lösungsansätze zur Vermeidung systemimmanenter Fehler vor. Vieles von dem werden Sie sicherlich kennen und seit Jahren praktizieren. Und dennoch möchte ich einige, aus meiner Sicht einfache, aber wichtige Ratschläge wiederholen: Verordnen Sie sparsam. Legen Sie sich selbst eine überschaubare „Positivliste“ von Arzneimitteln an. Beschränken Sie sich auf möglichst wenige, wirksame und vor allem sichere Präparate. Fragen Sie Ihre Patienten, welche Medikamente ihnen von Kollegen verordnet worden sind und welche rezeptfreien Mittel sie von sich aus zusätzlich einnehmen. Denken Sie daran: Weniger ist mitunter mehr. Ich wünsche Ihnen eine interessante Lektüre Ihre Angelika Prehn Vorstandsvorsitzende der KV Berlin Nr. 4 / 2007 KVH • aktuell Editorial Seite 3 2 SPORT-Studien zum Bandscheibenvorfall Operieren oder konservativ behandeln? Dr. med. Alexander Liesenfeld 4 Mund hing ein bisschen schief, Arm war vorübergehend lahm TIA nicht auf die leichte Schulter nehmen – das kann fatal werden! Dr. med. Klaus Ehrenthal 6 Streit um ein neues (und teures) Medikament Nutzen und Wirtschaftlichkeit von Natalizumab (Tysabri®) Multiple Sklerose: Womit behandeln? Natazulimab: Zur Frage von Nutzen und Wirtschaftlichkeit Professor Dr. med. Peter Berlit und Prof. Dr. med. Gerd Glaeske Masernimpfung: Argumente gegen Impfskeptiker Dr. med. Günter Hopf Skurrile Wege zur Erkrankung Ungewöhnliche Ursachen für Allergien Dr. med. Günter Hopf Gefährliche Schuhe Riskante Langzeit-Sitzung Reizende Küsse Sicherer verordnen Dr. med. Günter Hopf Arznei-Tee: Sehr begrenzt haltbar Analgetika: Medikamenteninduzierte Kopfschmerzen UAW bei Kindern: Berichte an die AkdÄ Erythropoetine können Mortalität steigern Die häufigsten Fehlerquellen beim Verschreiben von Arzneimitteln Prof. Dr. med. Thomas Eschenhagen Inhaltsverzeichnis 9 9 10 12 13 14 14 14 15 16 Nehmen Sie das mal ein! Riskante Wechselwirkungen zwischen Kommunikation und Arznei 21 Rezept des Monats: Zwiespältige Angelegenheit 22 Hausärztliche Leitlinie Diabetes mellitus Typ 2 23 Hausärztliche Leitlinie venöse Thromboembolie – die Tischversion zum Ausschneiden 51 Impressum Verlag: info.doc Dr. Bernhard Wiedemann und Anne Haschke-Wiedemann GbR, Pfingstbornstr. 38, 65207 Wiesbaden Herausgeber: Kassenärztliche Vereinigung Hessen, Georg-Voigt-Straße 15, 60325 Frankfurt Redaktionsstab: Dr. med. Joachim Feßler (verantw.), Dr. med. Klaus Ehrenthal, Dr. med. Margareta Frank-Doss, Dr. med. Jan Geldmacher, Dr. med. Harald Herholz, Klaus Hollmann, Dr. med. Günter Hopf, Dr. med. Wolfgang LangHeinrich, Dr. med Alexander Liesenfeld, Renata Naumann , Alexandra Rieger, Karl Matthias Roth, Dr. med. Michael Viapiano, Dr. med. Jutta Witzke-Gross Fax Redaktion: 069 / 79502 501 Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. med. Ferdinand Gerlach, Institut für Allgemeinmedizin der Universität Frankfurt; Prof. Dr. med. Sebastian Harder, Institut für klinische Pharmakologie der Universität Frankfurt Die von Mitgliedern der Redaktion oder des Beirats gekennzeichneten Berichte und Kommentare sind redaktionseigene Beiträge; darin zum Ausdruck gebrachte Meinungen entsprechen der Auffassung des Herausgebers. Mit anderen als redaktionseignen Signa oder mit Verfassernamen gekennzeichnete Beiträge geben die Auffassung der Verfasser wieder und decken sich nicht zwangsläufig mit der Auffassung des Herausgebers. Sie dienen der umfassenden Meinungsbildung. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in dieser Veröffentlichung berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- oder Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Wie alle anderen Wissenschaften sind Medizin und Pharmazie ständigen Entwicklungen unterworfen. Forschung und klinische Erfahrung erweitern unsere Erkenntnisse, insbesondere, was Behandlung und medikamentöse Therapie anbelangt. Soweit in dieser Broschüre eine Dosierung oder eine Applikation erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass Autor und Herausgeber große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angaben dem Wissensstand bei Fertigstellung der Broschüre entsprechen. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Herausgeber jedoch keine Gewähr übernommen werden. Jede Dosierung oder Applikation erfolgt auf eigene Gefahr des Benutzers. Seite 4 Für Sie gelesen KVH • aktuell Nr. 4 / 2007 SPORT-Studien zum Bandscheibenvorfall Operieren oder konservativ behandeln? Dr. med. Alexander Liesenfeld Obwohl viele Patienten bei Bandscheibenvorfällen operiert werden, verbessern sich die Symptome auch bei alleiniger konservativer Behandlung. Neurochirurgen neigen bei einem Bandscheibenvorfall eher zur Operation, während Neurologen nicht selten eine konservative Behandlung empfehlen. Für die beiden SPORT-Studien „Spine Patient Outcomes Research Trial“ [1,2] wurden von März 2000 bis November 2004 an 13 Zentren 2720 Patienten mit Ischialgie bedingt durch einen Bandscheibenvorfall für diese Untersuchung gescreent. 729 Patienten ausgeschlossen (u. a. wegen OP in der Anamnese, Cauda-EquinaSyndrom, Malignomen etc.). 1991 Patienten blieben übrig, davon lehnten 747 die Teilnahme an der Studie ab. 1244 Patienten nahmen an der Studie teil. 501 dieser Patienten ließen sich randomisieren – operativ versus konservativ [1: SPORT-1]. Die restlichen 743 Patienten, die eingeschrieben, aber nicht randomisiert wurden, wurden in einer Kohortenstudie (Beobachtungsstudie) im selben Zeitraum prospektiv untersucht [2: SPORT-2]. Die nicht-operative Behandlung in beiden Studien beinhaltete Beratung, Krankengymnastik, Ergotherapie, Eigenübungen und Medikamente (NSAR, Muskelrelaxantien, Benzodiazepine, Narcotics, Steroide, u. a.). Konservative Behandlung oft ebenso wirksam wie Operation Von den 501 randomisierten Patienten (SPORT-1) konnten 472 ausgewertet werden. Dass randomisierte Studien in der Chirurgie äußerst schwierig sind, zeigt sich auch bei dieser sehr gut angelegten, nicht verblindeten randomisierten Studie: In beiden Gruppen wechselte ein nicht unerheblicher Teil der Patienten die Behandlung: 92 Patienten der eigentlichen Operationsgruppe wurden nicht operiert und 107 Patienten der „Konservativ“-Gruppe wurden doch operiert. Bei der Intention-to-Treat-Analyse* zwischen operativ und nicht operativ versorgten Patienten nach drei Monaten, einem Jahr und zwei Jahren gab es keine signifikanten Unterschiede in Bezug auf die Lebensqualität (Endpunkte: Schmerz, Bewegung, physical function, leichter Trend zugunsten der Operierten im Oswestry Disability Index n. s.). In der Beobachtungsstudie (SPORT-2) konnten die Patienten die Behandlungsform wählen. 2/3 entschieden sich für die OP und 1/3 für ein konservatives Vorgehen. Beide Patientengruppen hatten eine deutliche Verbesserung im Bezug auf Schmerz, Bewegung und Funktion. Bemerkenswert war, dass die Patienten, die sich für die Operation entschieden hatten, über signifikant (p<0,001) deutlich bessere Ergebnisse berichteten als die Bandscheibenpatienten mit der konservativen Therapie. In einer neueren, der SPORT-1-Studie ganz ähnlichen Untersuchung in Holland, wurden Patienten mit Bandscheibenvorfall ebenfalls randomisiert und dann *Intention-to-treat-Analyse: Dabei werden die Patienten für die Analyse in der Gruppe belassen, zu der sie ursprünglich zugeordnet wurden, unabhängig davon, welche Therapie sie später tatsächlich bekommen haben (analysed as randomised). Nr. 4 / 2007 KVH • aktuell operiert beziehungsweise konservativ behandelt [4]. Die frühe Operation brachte zwar eine schnellere Schmerzfreiheit, jedoch war das Ergebnis nach einem Jahr in beiden Gruppen gleich. In einer vergleichbaren Studie zur lumbalen degenerativen Spondylolisthesis mit Spinalkanalstenose und radikulären Schmerzen [8] wurden über 300 Patienten randomisiert (Operation versus keine Operation) und weitere 300 in einer Kohortenstudie beobachtet. Die Studie lief insgesamt über zwei Jahre. Die operierten Patienten hatten zwar nach drei Monaten und einem Jahr im Vergleich zu den nicht operierten weniger Schmerzen, aber nach zwei Jahren ergab die Intention-to-Treat-Analyse keinen wesentlichen Unterschied in Bezug auf Einschränkung im Alltag, Schmerzen und Beweglichkeit. Seite 5 Bedeutung für unsere Praxis Fazit für die Praxis Rückenschmerzen sind ein häufiger Konsultationsgrund in der allgemeinärztlichen Praxis. Die Prognose von nicht radikulären Rückenschmerzen (Kreuzschmerzen) ist meist gut. Radiologische Untersuchungen werden zu häufig angefordert, denn bei jungen, symptom­freien Menschen ohne Rücken­schmerzen findet sich im bildgebenden Verfahren bei bis zu 27 % eine Bandscheibenprotrusion und bei bis zu 14 % ein Bandscheibenprolaps [3]. Das heißt: Schickt man Patienten ohne radikuläre Symptomatik zum CT oder zum Kernspin, so findet sich bei ca. jedem 6. ein Bandscheibenvorfall, der nicht Ursache ist für diese Schmerzsymptomatik. Dieser radiologische Befund kann dann schnell zu einer unnötigen Operation führen. Bei einseitigen Schmerzen mit segmentaler Ausstrahlung (L4, L5, S1) in das Bein bis unterhalb der Knieregion, positivem Lasègue auf der gleichen oder auf der gegenüberliegenden Seite sowie Reflexauffälligkeiten mit motorischen oder sensiblen Ausfällen sollte immer an einen Bandscheibenvorfall gedacht werden [5,6,7]. Etliche Situationen bedürfen besonderer Aufmerksamkeit (so genannte Red Flags, siehe Kasten unten auf dieser Seite). Die vorgestellten Studien helfen in der täglichen Praxis gemeinsam mit dem Patienten, in Ruhe die Problematik und die Vorgehensweise bei lumbalem Diese Red Flags signalisieren, dass besondere Aufmerksamkeit nötig ist Das Cauda-Equina-Syndrom (Reithosenanästhesie mit oder ohne Blasen- und Mastdarmstörung) Schmerzen im Bereich mehrerer Nervenwurzeln Ausgeprägte neurologische Ausfälle, z.B. Reflexauffälligkeiten, motorische und sensible Ausfälle im Bereich eines Dermatoms Trotz konservativer Therapie stärkere, nicht bewegungsabhängige Schmerzen oder längere Persistenz der Beschwerden Bekanntes Malignom Immunsuppression Alter <20 Jahre oder >50 Jahre Schlechter Allgemeinzustand Fieber (z.B. als Hinweis auf eine Infektion, z.B. auch Tuberkulose, Abszess) Fraktur möglich, Unfall in der Vorgeschichte Intravenöser Drogenabusus HIV-Infektion Systemische Steroideinnahme bei Rheuma, Asthma oder COPD (WS-Sinterungsfraktur) Bekannte Osteoporose (WS-Sinterungsfraktur) Hinweise auf entzündlich rheumatische Erkrankungen KVH • aktuell Seite 6 Entscheidung gemeinsam mit dem Patienten Nr. 4 / 2007 Bandscheibenvorfall zu besprechen. Ein beruflich engagierter Patient wird sich eher für eine Operation entscheiden, damit er wieder schnell im Alltag aktiv sein und seiner gewohnten Tätigkeit nachgehen kann. Im Gegensatz dazu wird es Patienten geben, die vor einer Operation zurückschrecken. Diese Patienten kann man in ihrer Entscheidung bestärken, eine konservative Behandlung vorzuziehen. Wer sollte am Rücken operiert werden? Der Konsens scheint zu sein, dass Patienten mit motorischen Defiziten und natürlich Patienten mit einem Wirbelsäulentrauma operiert werden müssen. Ohne größere neurologische Defizite müssen Patienten mit Bandscheibenvorfall, degenerativer Spondylolisthesis oder Spinalkanalstenose nicht unbedingt operiert werden, obwohl die chirurgischen Maßnahmen die Schmerzsituation verbessern. In solchen Situationen sollte die Entscheidungsfindung in einem gemeinsamen Prozess zwischen dem gut informierten Patienten und dem behandelnden Arzt stattfinden [9]. Interessenkonflikte: keine Literatur: 1 Weinstein JN et al.: Surgical vs nonoperative treatment for lumbar disk herniation: the Spine Patient Outcomes Research Trial (SPORT): a randomized trial. JAMA 2006;296(20):2441-2450 2 Weinstein JN et al.: Surgical vs nonoperative treatment for lumbar disk herniation: the Spine Patient Outcomes Research Trial (SPORT) observational cohort. JAMA 2006;296(20):2451-2459 3 Jensen MC et al.: Magnetic resonance imaging of the lumbar spine in people without back pain. N Engl J Med 1994;331(2):69-73 4 Peul WC et al.: Surgery versus prolonged conservative treatment for sciatica. N Engl J Med 2007;356(22):2245-2256 5 Chou R et al.: Diagnosis and treatment of low back pain: a joint clinical practice guideline from the American College of Physicians and the American Pain Society. Ann Intern Med 2007;147(7):478-491 6 Chou R et al.: a review of the evidence for an American Pain Society/American College of Physicians clinical practice guideline. Ann Intern Med 2007;147(7):492-504 7 Chou R, Huffman LH: Medications for acute and chronic low back pain: a review of the evidence for an American Pain Society/American College of Physicians clinical practice guideline. Ann Intern Med 2007;147(7):505-514 8 Weinstein JN et al.: Surgical versus nonsurgical treatment for lumbar degenerative spondylolisthesis. N Engl J Med 2007;356(22):2257-2270 9 Deyo, RA: Back Surgery – Who Needs It? N Engl J Med 2007;356:2239-2243 Für Sie gelesen TIA nicht auf die leichte Schulter nehmen! Sofort behandeln – sonst bekommt jeder Zehnte einen Apoplex Dr. med. Klaus Ehrenthal Jeden Zehnten trifft danach ein richtiger Schlag Eine transitorische ischämische Attacke (TIA) beeindruckt den Patienten bisweilen kaum. Denn dabei werden Ausfälle mit unterschiedlichen neurologischen Funktionsstörungen wie Sprachstörungen, Sehstörungen, Halbseitenlähmungen oder einfach nur einem herabhängenden Mundwinkel mitunter nur minutenlang wahrgenommen. Danach verschwinden sie wieder. Aber: Zehn Prozent der Betroffenen erleiden innerhalb von drei Monaten einen Apoplex! Behandlung beim Hausarzt und im Zentrum Um herauszufinden, mit welchem Behandlungsregime die Zahl der Folgeapoplexien sinnvoll vermindert werden kann (EXPRESS-Study [1]), wurden in der Grafschaft Oxfordshire in Großbritannien vom 01.04.02 bis zum 31.03.07 von allen 1278 Patienten, die wegen einer TIA oder einem leichten Schlaganfall ärztliche Hilfe in Anspruch genommen hatten (Oxford Vascular Study (OXVASC-Studie)), rund die Hälfte (591) in eine spezialisierte Abteilung („EXPRESS“-Studienklinik) überwiesen. Dort wurden sie vom 01.04.02 bis zum 30.09.04 (Phase 1 mit 310 Patienten ) und vom 01.10.04 bis zum 31.03.07 (Phase 2 mit 281 Patienten) mit unterschiedlichem Regime diagnostiziert und behandelt. Nr. 4 / 2007 KVH • aktuell Seite 7 In Phase 1 wurden die Patienten nach klinischer Untersuchung – dies dauerte im Schnitt drei Tage – mit Behandlungsempfehlungen an den Hausarzt zurück­ überwiesen. Bis die Patienten ihre Medikamente erhielten, dauerte es dann durchschnittlich 20 (8 bis 53) Tage. In Phase 2 wurde in der EXPRESS-Klinik selbst die Diagnostik durchgeführt, das geschah noch am Aufnahmetag. Die medikamentöse Behandlung wurde im Mittel bereits innerhalb eines Tages (0 bis 3 Tage) begonnen. Die sonstigen Risikofaktoren der beiden Gruppen unterschieden sich nicht. Die Zahl der Patienten, die innerhalb von sechs Stunden nach hausärztlicher Erstbeurteilung in der EXPRESS-Klinik diagnostiziert wurden, stieg signifikant (p<0.0001) von 5/310 (Phase 1) auf 80/281 (Phase 2). Therapie bei der EXPRESS-Studie Die Therapie in der EXPRESS-Studie wurde nach Geschlecht, Risikofaktor und Alter unterschiedlich gewichtet wie folgt vorgenommen: Generelle Gabe von 75 mg/d ASS bei den Patienten in Phase 1, 300 mg/d bei den hospitalisierten Patienten in Phase 2. Nur die Patienten, die nicht bereits antikoaguliert worden waren, erhielten ASS oder Clopidogrel, wenn ASS kontraindiziert war. Clopidogrel wurde, wenn erforderlich, als loading dose von 300 mg und dann fortlaufend mit 75 mg/d gegeben. Verordnung von 40 mg/d Simvastatin. Blutdrucksenkung, falls der RR, mehrfach gemessen, nicht 130 mm Hg sys­ tolisch unterschritt, entweder durch Steigerung der bisherigen Medikation oder durch Zugabe von 4 mg/d Perindopril ggf. zusammen mit 1,25 mg/d Indapamide. Antikoagulation nach Erfordernis. Vor der Gabe von ASS, Clopidogrel oder Antikoagulation wurde stets ein Hirn-CT zum Ausschluss einer intracerebralen Blutung durchgeführt. Bei Patienten der Phase 2, die innerhalb 48 Stunden nach ihrem Ereignis zugewiesen worden waren oder bei solchen, die innerhalb von sieben Tagen erschienen waren und bei denen ein erhöhtes Frührisiko („at particularly high early risk“) vermutet wurde, wurde zusätzlich zum ASS nach einer loading dose von 300 mg für 30 Tage 75 mg/d Clopidogrel gegeben. Therapieempfehlungen in Deutschland Hinweise für die Therapie nach den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Neurologie sowie der Deutschen Schlaganfall Gesellschaft finden sich im Deutschen Ärzteblatt [2], basierend auf einer Tabelle von Diener [3]. Dabei wird das Risiko eines Schlaganfallrezidivs nach Apoplex oder TIA nach folgender Punktetabelle berechnet: < 65 Jahre 0 Punkte 65 bis 75 Jahre 1 Punkt > 75 Jahre 2 Punkte arterielle Hypertonie 1 Punkt Diabetes mellitus 1 Punkt Myocardinfarkt 1 Punkt andere kardiovaskuläre Ereignisse (außer Myokardinfarkt und Vorhofflimmern) 1 Punkt pAVK 1 Punkt Raucher 1 Punkt zusätzliche TIA oder Insult zum qualifizierten Ereignis 1 Punkt Wichtige Maßnahmen: Ausschluss Hirnblutung durch CT ASS Simvastatin erhöhten RR senken konsequente Anti­ koagulation bei entsprechender Indikation bei besonders hohem Frührisiko zusätzlich 30 Tage Clopidogrel Punkte-Score steuert die Therapie KVH • aktuell Seite 8 Die Umrechnung dieser Zahlen ergibt: 12 Patienten mit TIA müssen 90 Tage lang behandelt werden – damit wird ein Schlaganfall verhindert. Eine NNT von 12 erreicht man sonst bei der Pharmakotherapie nur selten! Bedeutung für unsere Praxis Nr. 4 / 2007 Als besonders gefährdet gelten Patienten mit einem Score von 3 oder mehr Punkten, ab dem von den Fachgesellschaften in der Sekundärprävention ASS alleine nicht mehr als ausreichend angesehen wird. Es werden hier ASS plus retardiertes Dipyridamol oder ASS plus Clopidogrel empfohlen. Die Einzelfallentscheidung liegt beim Behandler. Ergebnisse der EXPRESS-Studie aus Oxford: Im Vergleich der zeitgleich vollständig erfassten Patienten der OXVASC-Studie mit den Patienten der EXPRESS-Studie waren die Patienten nach TIA oder leichtem Apoplex, die außerhalb der Phase-1- oder Phase-2-Behandlung ambulant betreut worden waren, signifikant häufiger innerhalb von 90 Tagen von einem Apoplex betroffen (63 von 634 Fällen versus 27 von 644 Fällen, Hazard Ratio 0,41, 95%-Konfidenz-Intervall 0,26-0,65, p<0,0001). Die schnelle Diagnostik in der EXPRESS-Klinik und der rasche Beginn der Behandlung dort in Phase 2 verminderten gegenüber dem Phase-1-Regime signifikant die Apoplexrate in den folgenden 90 Tagen (32 von 310 Fällen versus 6 von 281 Fällen, Hazard Ratio 0,20, 95%-Konfidenz-Intervall 0,08-0,49, p=0,0001). Die Autoren der Studie schlossen daraus, dass durch die Sofortdiagnostik mit anschließender Soforttherapie nach TIA oder leichtem Schlaganfall das Risiko für einen erneuten Schlaganfall um 80 bis 90 Prozent gesenkt werden kann. Dies würde einer Senkung der Folgeapoplexien in der Gesamtbevölkerung um 50 Prozent bedeuten. Was bedeutet das für die Praxis ? Die Patienten (und alle anderen!) sollten aufgeklärt werden, dass auch eine TIA oder ein leichter Schlaganfall eilig diagnostiziert und behandelt werden müssen – möglichst in einer der 180 deutschen Kliniken, die über eine Stroke-Unit verfügen. Zumindest muss nach Ausschluss einer Hirnblutung die medikamentöse Behandlung aber sofort und im vollen erforderlichen Umfang eingeleitet werden. Abwarten nach dem Motto „Das wird schon wieder“, würde bei mindestens jedem Zehnten innerhalb von drei Monaten zu einem Folgeapoplex führen. Hierzu bedarf es beim Hausarzt entsprechender neuer Strategien: TIA und natürlich auch der leichte Apoplex sind akute Notfälle, die ein sofortiges Eingreifen erforderlich machen. Auch in der Klinik ist die Sofortdiagnostik am Tage der Aufnahme und die Sofortbehandlung (medikamentös, ggf. operativ) erforderlich und statistisch mit einem hoch signifikanten Erfolg bezüglich der weiteren Apoplexgefahr belegt. Das Risiko für eine intrazerebrale Blutung wird durch die Frühbehandlung nicht gesteigert. Das Risiko für einen Folgeschlaganfall wird durch die Frühbehandlung um 80 Prozent reduziert. Die ambulante Folgebehandlung sollte vom Hausarzt nicht aus Budgetgründen unterlassen oder reduziert werden. Die Therapie sollte dem unterschiedlichem Rezidivrisiko [2] angepasst werden. Therapievorschläge können entsprechend den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Neurologie und der Deutschen Schlaganfallgesellschaft mit Hilfe eines Punktescores ausgewählt werden [3]. Interessenkonflikte: keine Literatur: 1 Rothwell PM et al.: On behalf of the Early use of Existing Preventive Strategies for Stroke (EXPRESS) study: Effect of urgent treatment of transient ischaemic attack and minor stroke on early recurrent stroke (EXPRESS study): a prospective population-based sequential comparison. Lancet, 2007;370(9596):1432-42. 2 Blaeser-Kiel G: Bei hohem Rezidivrisiko reicht ASS nicht aus. Deutsches Ärzteblatt, 2007;104(10):A669. 3 Diener HC et al. in: Exp Opin Pharmakother, 2005;6:755-64 Nr. 4 / 2007 KVH • aktuell Seite 9 Streit um ein neues (und teures) Medikament Nutzen und Wirtschaftlichkeit von Natalizumab (Tysabri®) Ende Juni 2007 wurde von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) eine Ausgabe der Publikation Wirkstoff AKTUELL zu Natalizumab (Handelsname Tysabri®), einem neuen Mittel zur Behandlung der Multiplen Sklerose (MS), an alle vertragsärztlich tätigen Neurologen verschickt. In dieser Ausgabe werden nach Meinung der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) Empfehlungen zur wirtschaftlichen Verordnungsweise gegeben, die im krassen Gegensatz zu den evidenzbasierten Empfehlungen der Konsensus-Gruppe und des Ärztlichen Beirates der DSMG stehen. In der Zusammenfassung hieß es: „Für den neuen monoklonalen Antikörper Natalizumab fehlen für die zugelassenen Indikationen verlässliche Informationen zur Sicherheit. Natalizumab ist kein ‚First-line‘-Arzneimittel und sollte aufgrund der schwerwiegenden Risiken und sehr hohen Kosten nur in Zentren mit ausgewiesener Erfahrung in der Behandlung der Multiplen Sklerose (MS) verordnet werden.“ Vom ärztlichen Beirat wird die Bewertung von Natalizumab in der Publikation der KBV als „einseitig und sachlich unkorrekt“ kritisiert und „vor dem Hintergrund ausschließlich wirtschaftlicher Überlegungen“ charakterisiert. Es heißt weiterhin: „Würden die niedergelassenen Kollegen der aktuellen KBV-Empfehlung folgen und den Patienten bei entsprechender Indikation die Verordnung innovativer immunmodulatorischer Präparate vorenthalten, so handeln sie nicht nur gegen die medizinisch belegte Meinung, sondern bewegen sich auch nach dem Auftrag des SGB V auf juristisch dünnen Eis.“ Die Schlussfolgerung: Man solle für die Beurteilung von Therapieverfahren den Expertenrat der medizinischen Fachgesellschaften zur Grundlage von Entscheidungen und Empfehlungen machen. Ist dies alles so klar, wie in der Stellungnahme des ärztlichen Beirates anklingt, oder wäre eine differenziertere Betrachtung hilfreicher gewesen? Dazu im Folgenden zwei „Zwischenrufe“ – von Prof. Dr. Peter Berlit, Leitender Arzt der Klinik für Neurologie mit Klinischer Neurophysiologie am Alfried Krupp von Bohlen und Halbach Krankenhaus in Essen und von Prof. Dr. Gerd Glaeske vom Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen, einem ausgewiesenen Kenner der vertragsärztlichen Rahmenbedingungen für die Arzneimitteltherapie. Multiple Sklerose: Womit behandeln? Professor Dr. med. Peter Berlit Mit einer Pävalenz von 120 auf 100 000 Personen und einer Inzidenz von 5 auf 100 000 Einwohnern ist die Multiple Sklerose (MS) eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen in Deutschland, vor allem bei jungen Erwachsenen (Erstmanifestation 15. bis 30. Lebensjahr). Umfangreiche Untersuchungen aus den letzten Jahren haben gezeigt, dass es bereits vor dem ersten Auftreten klinischer Symptome nicht nur zu einer Entmarkung im Bereich des zentralen Nervensystems kommt, sondern auch bereits irreversible axonale Schädigungen eintreten. Dies hat zu Bemühungen geführt, neue diagnostische Kriterien für die Frühdiagnose der Multiplen Sklerose zu etablieren, die es erlauben, bereits bei einer ersten klinischen Symptomatik (klinisch isoliertes Syndrom) die Diagnose mit hoher Sicherheit zu stellen, um eine Intervalltherapie einleiten zu können. Für alle bislang entsprechend untersuchten Intervalltherapeutika gilt, dass sie umso effektiver sind, je früher die Behandlung einsetzt. Immer wieder beliebt: Die Drohung mit der Justiz Seite 10 Wirksamer, aber auch mehr Nebenwirkungen KVH • aktuell Nr. 4 / 2007 Die modernen Anforderungen an wissenschaftliche Studien, nämlich placebokontrolliert randomisiert durchgeführt worden zu sein, erfüllen die drei auf dem Markt befindlichen Interferonpräparate (z.B. Betaferon®, Rebif® u.a.), Glatiramerazetat (Copaxone®) sowie der monoklonale Antikörper Natalizumab. Die wissenschaftliche Datenlage für Azathioprin ist insuffizient, so dass dieses Präparat nur als Ausweichmedikament in Frage kommt. Kranken, bei denen bei einem klinisch isolierten Syndrom die Magnetresonanztomographie eine entsprechende Läsionslast mit unterschiedlich alten Herden dokumentiert, sollte eine Intervalltherapie mit einem Interferonpräparat oder Glatiramerazetat angeboten werden. Die Wirksamkeit von Natalizumab ist zweifelsohne größer als die der Interferone oder des Glatimerazetats – dies gilt sowohl für die Reduktion der Schubrate als auch für die Verhinderung der Progression. Problematisch sind die anaphylaktischen Reaktionen, welche typischerweise bei der 2. oder 3. Gabe auftreten, sowie die unter Natalizumab, aber auch unter anderen monoklonalen Antikörpern beobachteten Fälle einer progressiven multifokalen Leukenzephalopathie. Alle diese dokumentierten Fälle sind nicht unter einer Monotherapie mit monoklonalen Antikörpern aufgetreten, sondern bei gleichzeitiger Gabe einer anderen immunsuppressiven oder immunmodulierenden Substanz. Aus diesem Grunde sollte Natalizumab grundsätzlich nur als Monotherapeutikum gegeben werden. Die Verordnung kommt nur dann in Frage, wenn klinisch und MR-tomographisch eine extrem ungünstige Verlaufsform der Multiplen Sklerose zu diagnostizieren ist oder wenn es trotz Anwendung eines der drei Interferone oder Glatiramerazetat zu weiteren häufigen Schüben oder Progression kommt. Zumindest die ersten drei Gaben von Natalizumab müssen in einem ausgewiesenen MS-Zentrum unter Überwachung erfolgen, danach kann die Substanz auch in der neurologischen Facharztpraxis verabreicht werden. Natazulimab: Zur Frage von Nutzen und Wirtschaftlichkeit Prof. Dr. med. Gerd Glaeske Botschaft ist zu undifferenziert Der ärztliche Beirat der DMSG irrt gewaltig, wenn er meint, Vertragsärzte mit dem Hinweis auf das SGB V juristisch zu einer Verordnung eines Mittels verpflichten zu können, für das zwar die Zulassung ausgesprochen wurde, das damit aber noch längst nicht den therapeutischen Nutzen nach dem herrschenden Kenntnisstand unter Berücksichtigung des therapeutischen Fortschritts nachgewiesen hat (§§ 2, 12 und 70 des SGB V). Der Nutzen hat nämlich weniger mit den Ergebnissen der klinischen Prüfungen (efficacy) zu tun, in denen Ein- und Ausschlusskriterien eine wesentliche Rolle spielen, sondern mehr mit den Therapieergebnissen aus der normalen Versorgung von Patientinnen und Patienten (effectiveness). Dieser Nutzen im richtigen Leben ist aber genauso wenig in einfacher Weise aus klinischen Studien übertragbar wie die Wirtschaftlichkeit Gegenstand der Zulassung sein darf – diese Argumentationskette ist sonst nur von pharmazeutischen Unternehmen bekannt. Daher können beide für die GKV so wichtigen Aspekte erst nach der Zulassung im Rahmen eines relativen therapeutischen Wirksamkeitsvergleichs gegenüber allen anderen verfügbaren Alternativen bewertet werden. Es muss somit erstaunen, wie überzeugt der ärztliche Beirat seine Botschaft verbreitet, ohne ausreichend auf eine Differenzierung in den therapeutischen Möglichkeiten hinzuweisen, wie die Empfehlung von Professor Berlit sie widerspiegelt. Die Verordnung von Natilizumab ist daher aus meiner Sicht ein typisches Beispiel für eine Verordnung im Rahmen der Zweitmeinungsregelung (siehe § 73 d: KVH • aktuell Nr. 4 / 2007 Seite 11 „Verordnung besonderer Arzneimittel“), die mit der Gesundheitsreform ab dem 01.04.2007 eingeführt wurde, die aber noch nicht vom Gemeinsamen Bundesausschuss konkretisiert worden ist. Der Vorwurf des ärztlichen Beirats, es handele sich bei der KBV-Bewertung um eine Empfehlung, die ausschließlich unter Berücksichtigung der Wirtschaftlichkeit entstanden sei, geht daher an der eigentlichen Problematik vorbei: Die Arzneimittel-Richtlinien sagen in Punkt 10, dass vor den Kosten der therapeutische Nutzen rangiert. Wenn der aber noch nicht endgültig nachgewiesen ist und zudem problematische unerwünschte Begleiterscheinungen zu berücksichtigen sind (wie groß ist denn schließlich der verbleibende Nettonutzen?), tun alle Ärztinnen und Ärzte, auch die vom ärztlichen Beirat angesprochenen Vertragsärzte, gut daran, ein solch neues Mittel mit Zurückhaltung anzuwenden. Mögliche Schäden sind nämlich sehr viel eher juristisch einzuklagen als die begründbare Vorsicht im Umgang mit neuen Arzneimitteln. Die Vorgehensweise, die Prof. Berlit empfiehlt, entspricht letztlich der Quintessenz aus dem Beitrag in KBV Wirkstoff AKTUELL. Ärztinnen und Ärzte sollten sich daher nicht vom DMSG-Beirat in die Defensive drängen lassen, wenn es darum geht, eine Behandlungsentscheidung unter Berücksichtigung der vorliegenden Evidenz in der notwendigen Differenzierung der relativen Wirksamkeit zu treffen. Interessenkonflikte Prof. Berlit: Referentenhonorare von den Firmen Bayer-Schering, Merck-Serono und MSD; Konflikte im Hinblick auf den hier vorliegenden Text bestehen nicht. Interessenkonflikte Prof. Glaeske: keine. Antibiotika-Verbrauch Niedergelassene verordnen intelligenter als Krankenhäuser Verglichen mit anderen europäischen Staaten ist der Antibiotika-Verbrauch in Deutschland relativ gering. Das hat eine Untersuchung von Professor Winfried Kern vom Universitätsklinikum Freiburg im Rahmen des European Surveillance of Antimicrobial Consumption Project ergeben. Nur in der Schweiz und in den Niederlanden ist der Verbrauch noch geringer. Im Wesentlichen sind dafür die Niedergelassenen verantwortlich, in den Kliniken sieht es laut Kern nicht so gut aus – dort werden Antibiotika häufiger eingesetzt. Dass hierzulande die Antibiotika recht moderat verordnet werden, hält Kern für richtig. Er verweist darauf, dass in den vergangenen Jahren kaum neue Substanzen entwickelt worden sind – offensichtlich ist die Antibiotika-Forschung für die Pharmafirmen zu wenig profitabel. Deswegen sollten die derzeit verfügbaren Mittel nicht mit der Gießkanne, sondern überlegt verwendet werden. In diesem Kontext kritisiert Kern dann aber doch noch die deutschen Ärzte: Nach seinen Erkenntnissen werden noch zu oft Reserve-Antibiotika eingesetzt. Während der Antibiotika-Verbrauch in den vergangenen 15 Jahren konstant geblieben ist, werden heute dreimal so oft Reserve-Antibiotika verordnet als vor 15 Jahren. Sparsam bei den Antibiotika-Rezepten sollte aber nicht zum Sparen an der falschen Stelle verführen: Eine zu geringe Dosierung, erinnert Kern, fördert bekanntlich die Resistenzbildung bei den Keimen. BW Quelle: Newsletter Nr. 34 des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (Oktober 2007) Die Resistenzbildung schreitet voran – deswegen möglichst bewährte ältere Antibiotika verschreiben, wie z.B.: Doxicyclin Penicillin Cephaclor Amoxicillin Cotrimoxazol Erythromycin (bei Kindern) Neuere und ReserveAntibiotika nur, wenn zwingend nötig. Dazu zählen: Gyrasehemmer Makrolide Cephalosporine der 3. und 4. Generation KVH • aktuell Seite 12 Beiträge der Redaktion Todesfälle durch Masernenzephalitis Nr. 4 / 2007 Masernimpfung: Argumente, die auch Impf-Skeptiker umstimmen Dr. med. Günter Hopf „Pocken-, Masern- und Scharlachexantheme stellten normale Entwicklungsvorgänge beim Kind dar. Es sei daher verwerflich, wenn man durch Impfung oder sonstige Maßnahmen den Ausschlag verhindern oder zu unterdrücken versuche, da er in solchen Fällen zurückschlagen und zu schweren inneren Störungen führen könne.“ Diese Äußerung könnte auch von einem heutigen Impfgegner stammen. Gemacht wurde sie jedoch 1812 von einem – zu seiner Zeit – angesehenen ärztlichen Meinungsbilder. Entsprechend dem damaligen medizinischen Wissenstand ist diese Meinung nicht verwunderlich. Heute gelten jedoch andere Maßstäbe. Ein zweites Kind ist kürzlich in NRW unnötigerweise an einer Masernenzephalitis gestorben, nachdem es sich 2006 bei seiner Mutter angesteckt hat. Gentechnische Untersuchungen haben ergeben, dass diese schwere Masernkomplikationen bisher nur unter dem Wildtyp, nicht jedoch unter der Gabe des Masernimpfstoffes auftraten. Forderungen nach einer Masernpflichtimpfung sind neben verstärkter Aufklärung zu diskutieren, ebenso wie Maßnahmen (zum Beispiel in Großbritannien wegen gezielter Desinformation) gegen die Verbreitung mittelalterlicher Vorstellungen durch medizinische Berufe wie Krankenschwestern und Hebammen und Überprüfungen uneinsichtiger Ärztinnen und Ärzte durch Ärztekammern und Berufsgerichte. Die unten stehende Tabelle zeigt das Auftreten von Infektionskrankheiten vor und nach der Möglichkeit eines Impfschutzes und die Anzahl vermutlicher Impfreaktionen aus dem Jahr 1997. Die positive Bilanz von Impfungen ist eindeutig und kann als Argumentationshilfe bei „impfmüden“ Eltern dienen. Die berichteten unerwünschten Impfreaktionen traten übrigens meist nur lokal auf und ein Kausalzusammenhang systemischer Reaktionen mit dem Impfstoff ist oft nicht eindeutig. Quellen: Lancet 1998; 351: 611; Hamb. Ärzteblatt 2007, Heft 4: 169: Die Zeit vom 19.04.2007, 43; Arzneimittelbr. 2007; 41: 29 Infektion Auftreten vor Auftreten nach Änderung in Prozent der Möglichkeit eines Impfschutzes Diphtherie 206.939 (1921) 5 - 99,99 % Masern 894.134 (1941) 135 - 99,98 % Mumps 152.209 (1968) 612 - 99,60 % Keuchhusten 265.269 (1934) 5519 - 97,62 % Polio 21.269 (1952) 0 - 100,00 % Röteln 57.686 (1969) 161 - 99,72 % Rötelnembryopathie 20.000 (1964-65) 4 - 99,98 % 1.560 (1948) 43 - 97,24 % 20.000 (1984) 165 - 99,18 % Tetanus asiat.Grippe Berichtete Impfreaktionen: 11.355 ( Stand 1997) Impfskeptiker wollen ihren Kindern ja nicht schaden, sondern etwas Gutes tun, wenn sie die Impfung ablehnen. Gerade deswegen hilft bei ihnen oft das folgende Argument: Klar, bevor es Impfungen gab, wurden mehr Kinder großgezogen als heute – aber damit drei Kinder erwachsen werden konnten, musste die Mutter erst mal sieben zur Welt bringen! KVH • aktuell Nr. 4 / 2007 Seite 13 Skurrile Ursachen von Erkrankungen Beiträge der Redaktion Ungewöhnliche Allergien Dr. med. Günter Hopf Manchmal muss man als Arzt detektivische Fähigkeiten besitzen, um die Ursache für allergische Symptome aufzudecken. Die folgenden Fälle zeigen, wie ungewöhnlich die Ursachen für Allergien sein können. Vielleicht hilft Ihnen die Lektüre mal bei dem einen oder anderen Patienten weiter ... Gefährliche Schuhe Bei einer 33-jährigen Frau trat bereits mehrmals ein nässendes und teilweise blasenbildendes Erythem an beiden Fußrücken auf. Im Patch-Test konnte ein kontakt­ allergisches Geschehen aufgrund einer positiven Reaktion auf Kolophonium bestätigt werden, das als Werkstoff in den Schuhen verwendet wurde. Schuhdermatitiden können hauptsächlich drei Ursachen haben: Chromate (Gerben des Leders) Gummi (oft in den Sohlen verwendet) Kolophonium (als Klebstoff verwendetes Baumharz). Quelle: Brit. med. J. 2003; 326: 172 Riskante Langzeit-Sitzung Eine Neunjährige stellte sich mit einem seit 18 Monaten bestehenden Ekzem an der Unterseite ihrer Oberschenkel vor. In ihrem Elternhaus waren die Toilettensitze in den vergangenen Jahren gegen Holzsitze ausgetauscht worden. Sie gab zu, wegen fesselnder Lektüre (Harry Potter??) oft längere Zeit auf der Toilette sitzen zu bleiben. Im Patch-Test ergaben die entsprechenden Holzspäne mit dem verwendeten Firnis eine positive Reaktion. Die steigende Popularität hölzerner Toilettensitze könnte diese allergische Kontaktdermatitis zunehmen lassen. Quelle: Brit. med. J. 2007; 335: 832 Reizende Küsse Eine 45-jährige Frau mit Juckreiz und leichtem Angioödem im Lippen- und Gesichtbereich gab an, dass die Symptome etwa 30 Minuten nach Liebkosungen mit ihrem Mann begannen. In ihrer Anamnese war eine ähnliche, aber stärkere Reaktion nach der Einnahme von 1200 mg Bacampicillin (in vielen europäischen Ländern im Handel) vor vier Jahren bekannt. Ihr Mann hatte zwei Stunden vorher dasselbe Antibiotikum eingenommen. In einer Versuchsreihe mit Placebo, 120, 360 oder 520 mg Bacampicillin stellte sich heraus, dass die Ehefrau ab einer 360 mg-Gabe auf die Küsse des Mannes nach 20 Minuten allergisch reagierte. Nach der Einnahme von 10 mg Cetirizin (Zyrtec®, viele Generika) verschwanden die Symptome (intraoraler Juckreiz, allergische Hauterscheinungen im Gesicht und auf den Armen) innerhalb einer Stunde. Quelle: Lancet 2002; 359: 1700 So passiert‘s: Er nimmt Antibiotika und Sie bekommt davon ein allergisches Ekzem. Seite 14 Sicherer verordnen Dr. med. Günter Hopf KVH • aktuell Nr. 4 / 2007 Arznei-Tee: Sehr begrenzt haltbar Arzneiliche Tees haben auch heute noch ihren Stellenwert in der Therapie. Ärzte sollten die Patienten bei einer Verordnung oder Empfehlung von Tees (pharmazeutische Definition: wässrige Zubereitungen aus Drogenteilen) auf Folgendes hinweisen: 1. Pflanzliche Drogen sind naturgemäß mikrobiell kontaminiert. 2. Insbesondere Schleimdrogen enthalten Kohlehydrate, die ein idealer Nährboden für ein Keimwachstum sind. 3. In der Regel erfolgt eine Zubereitung mit kochendem Wasser. 4. Unkonserviert gilt eine Aufbrauchfrist des zubereiteten Tees bis zu 24 Stunden, im Kühlschrank bis zu drei Tagen. Da Tees nur eine begrenzte, aufgrund biologischer Schwankungen auch wechselnde Wirksamkeit besitzen, sollten Patienten bei unverändertem Fortbestehen von Symptomen immer auf eine Wiedervorstellung beim Arzt hingewiesen werden. Quelle: Pharm. Ztg. 2007; 152: 83 Analgetika: Medikamenteninduzierte Kopfschmerzen Das Blut war schon dunkelgrün verfärbt Wenn Patienten wegen Kopfschmerzen mehr als 15 Tage im Monat Analgetika einnehmen (bei Triptanen: mehr als 10 Tage/Monat), so spricht man neuerdings von einem Kopfschmerz bei Medikamentenübergebrauch (Medication Overuse Headache, MOH). Circa ein Prozent der Bevölkerung soll betroffen sein, wobei die angegebenen Einnahmegrenzen individuell unterschiedlich sind. Auch ist die Diagnose eines MOH in den seltensten Fällen so eindeutig zu stellen wie bei einem 42-jährigen Patienten, der über Monate täglich 200 mg/d Sumatriptan einnahm und in dessen Adern dunkelgrünes Blut floss (Sulfhämoglobinbildung). Nach einer Motivierung des Patienten zu einer Entzugsbehandlung wird ein abruptes Absetzen (Ausnahme: bei Opioidübergebrauch nur langsame Dosisreduktion) empfohlen. Entzugskopfschmerzen mit vegetativen Beschwerden (Dauer circa 5 bis 10 Tage) müssen dann ebenso wie der ursprüngliche Kopfschmerz vor Analgetikaübergebrauch gezielt therapiert werden. Entscheidend für den Erfolg sind eine Kombination von medikamentöser Therapie, regelmäßiger ärztlicher Betreuung und eine begleitende psychologische Therapie zur Selbstkontrolle. Die Entzugsbehandlung sollte durch einen auf dem Gebiet der Kopfschmerzbehandlung erfahrenen Arzt erfolgen (Neurologe, Schmerztherapeut). Quellen: Lancet 2007; 369: 1972; Dt.Apo.Ztg. 2007; 147(23): 64 UAW bei Kindern: Berichte an die AkdÄ Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) weist darauf hin, dass insbesondere Berichte über unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) bei Kindern an die AkdÄ gemeldet werden sollten. Erhebliche Wirkungsunterschiede von Arzneimitteln, fehlende Erfahrungen aus klinischen Studien, mögliche Spätfolgen, vermehrter Off-Label-Use oder veränderter Krankheitsverlauf im Vergleich zu Erwachsenen verdeutlichen den Vorrang, Verdachtsfälle von UAW bei Kindern entsprechend der Berufsordnung an die AkdÄ zu berichten. Prinzipiell sind alle Verdachtsfälle von UAW zu melden, insbesondere jedoch alle schweren UAW, darunter alle tödlichen oder lebensbedrohenden alle zur Schulunfähigkeit, zu einer kongenitalen Anomalie oder zu einer stationären Behandlung führenden UAW alle bisher unbekannten UAW alle verzögert auftretenden UAW jede Häufung von UAW Nr. 4 / 2007 KVH • aktuell Seite 15 alle UAW bei Off-Label-Use alle UAW bei einer Behandlung mit alternativen Therapien und so genannten Hausmitteln sowie freiverkäuflichen Arzneimitteln. Die Berichtspflicht nach der Berufsordnung an die AkdÄ bleibt unberührt von den nachfolgend genannten gesetzlichen Verpflichtungen: Bei Impfungen besteht nach dem Infektionsschutzgesetz die rechtliche Verpflichtung einer namentlichen Meldung schwerer UAW an die Gesundheitsämter (strafbewehrt bei Nichtbefolgen!). Bei Blutprodukten muss nach dem Transfusionsgesetz eine Meldung an den zuständigen Transfusionsbeauftragten der medizinischen Einrichtung erfolgen. Niedergelassene Kollegen müssen alle Verdachtsfälle von UAW an den pharmazeutischen Unternehmer und schwere UAW zusätzlich noch an die zuständige Bundesoberbehörde (Paul-Ehrlich-Institut) melden. Sicherer verordnen Dr. med. Günter Hopf Quelle: Dt. Ärztebl. 2007; 104(21): C 1302 Erythropoetine können Mortalität steigern Nach einer Metaanalyse erhöhen die rekombinanten humanen Erythropoetine Epoetin-α (Eprex®, Erypo®), Epoetin-b (NeoRecormon®) und Darbepoetin (Aranesp®) bei Patienten mit renaler Anämie dann das Sterblichkeitsrisiko, wenn Hämoglobinzielwerte von 12 bis 16 g/dl erreicht werden. In einem Kommentar wird ausgeführt, dass bei anämischen Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz nur eine teilweise, keine komplette Korrektur der Anämie anzustreben sei (9 bis 12 g/dl), auch wenn „dies der kommerziell weniger attraktive Weg“ sei. Empfehlungen von Zielwerten von 11 bis 13 g/dl durch einen amerikanischen Nephrologen sind fraglich geworden, nachdem sich herausstellte, dass er zu den Spitzenempfängern von Honoraren der pharmazeutischen Industrie zählt. Die FDA forderte vor kurzem zu einem zurückhaltenden Einsatz dieser Präparate auf (Begründung: mögliche Förderung der Tumorprogression bei Tumorpatienten, erhöhte Rate von tiefen Venenthrombosen nach Wirbelsäulenoperationen). Ein praktisch tätiger Onkologe setzt diese Präparate seit Jahren erfolgreich nur dann ein, wenn der Hb-Wert unter 9 bis 10 mg/dl fällt. Quellen: Lancet 2007; 369: 381, Dtsch. Med.Wschr. 2007; 132: 543, www.aerzteblatt.de Beim Hb-Zielwert bitte nicht übertreiben KVH • aktuell Seite 16 Der Gastbeitrag Nr. 4 / 2007 Die häufigsten Fehlerquellen beim Verschreiben von Arzneimitteln Prof. Dr. med. Thomas Eschenhagen ArzneiNebenwirkungen sind sechsthäufige Todesursache „Gutes tun und Schädigung des Patienten vermeiden“ – dieser hippokratische Grundsatz der Medizin weist auf die Bedeutung einer kritischen Nutzen-RisikoAbwägung in der Arzneitherapie hin. Angesichts der zunehmenden Zahl von Arzneimitteln auf dem Markt, dem zunehmendem Alter der Bevölkerung und dem zunehmendem Schweregrad der behandelten Fälle kann auch eine Zunahme der Arzneimittel-bezogenen UAW und Behandlungsfehler angenommen werden. Tatsächlich weisen die verfügbaren Statistiken darauf hin, dass die Häufigkeit von arzneimittelassoziierten Todesfällen zwischen 0,9 und 6,5 von 1000 hospitalisierten Patienten liegt (Caranasos et al. 1976, Porter, Jick 1977, Bates et al. 1995). Eine Metaanalyse prospektiver Studien ergab sogar, dass tödliche UAW von Arzneimitteln die sechsthäufigste Todesursache in den Vereinigten Staaten von Amerika sind (Lazarou et al. 1998). Auf der Basis dieser beunruhigenden Zahlen wurde mit Unterstützung staatlicher Stellen und finanziert durch die Norwegian Medical Association eine prospektive Studie durchgeführt, in der zwei Jahre lang sämtliche Patienten, die auf einer internistischen Station aufgenommen wurden, verfolgt und Todesfälle klinisch, autoptisch und toxikologisch untersucht wurden (Ebbesen et al. 2001). Von 13 992 Patienten starben 732 (5,2%), davon die meisten an Störungen der Kreislauffunktion und Atmung (siehe Tabelle 1). 18,6 Prozent der Todesfälle (133/732) wurden als direkte (48,1 %) oder indirekte (51,9 %) Folge von Arzneimitteln eingestuft. Die Häufigkeit lag damit noch höher als vorab berichtet (9,5 von 1000 Patienten). Dies ist wahrscheinlich zum Teil auf die Wahl der Station (95% Notaufnahmen), wahrscheinlich aber auch auf die Art der Auswertung der Fälle zurückzuführen. So zeigte sich, dass bei individueller Durchsicht der Akten häufig nur eines der Mitglieder des Komitees den Verdacht auf eine UAW hatte, dann aber nach Diskussion in der Gruppe alle zu einem einstimmigen Ergebnis kamen. Schließlich belegt die Studie erneut den hohen Wert der Autopsie und/oder der toxikologischen Analyse, die in 75 Fällen entscheidend für den Beweis und in 62 Fällen für den Arzneimittelklassen, die mit tödlichen Wirkungen assoziiert waren Arzneimittelklasse Gesamtzahl* Unerwünschte Wirkung Herzkreislauf 61 Kardiodepression, Hypotension, Dehydratation, AV-Block, bronchiale Obstruktion, ß-Blocker-Entzug, Nierenversagen Antiasthmatika 55 Arrhythmien, Myokardinfarkt, Herzstillstand Antithrombotika 45 Hirnblutung, Magen-Darm-Blutung, Herzbeuteltamponade Antiinfektiva 14 Pseudomembranöse Colitis, Nierenversagen, Leberversagen, Pankreatitis, Antipsychotika u. Anxiolytika 12 Knochenmarksdepression Analgetika 12 Atemdepression, schwere Sedierung NSAIDs Andere 6 Magen-Darm-Blutungen 32 Verschiedene * Die Gesamtzahl von Arzneimitteln, die mit tödlichen Wirkungen assoziiert waren, betrug 237. Einige Fälle umfassten mehr als ein Arzneimittel. NSAIDs: non steroidal antiinflammatory drugs Tabelle 1: Gruppen von Arzneimitteln, die mit tödlichen Wirkungen assoziiert waren (Ebbesen et al. Arch Int Med 161,2001,2317). NSAIDs = non steroidal antiinflammatory drugs. Nr. 4 / 2007 KVH • aktuell Ausschluss eines arzneimittelassoziierten Todesfalls waren. In guter Übereinstimmung mit anderen Quellen wurde etwa die Hälfte der Fälle als vermeidbar und damit als Fehler eingestuft. Interessanterweise wurde nur in 8 von 132 Todesfällen über den üblichen Weg der Verdacht auf einen Arzneimittel-bedingten Todesfall geäußert. Diese Zahl weist auf eine enorm hohe Dunkelziffer (94 %) in diesem Bereich hin. Es muss betont werden, dass sich diese Zahlen nicht 1:1 auf alle Bereiche im Krankenhaus und noch weniger auf die ambulante Arzneitherapie übertragen lassen. Dennoch muss auch hier von einer relevanten Häufigkeit von UAW-bedingter Morbidität und Mortalität ausgegangen werden. Aufgrund verschiedener Studien kann man davon ausgehen, dass zwischen drei und acht Prozent aller Einweisungen in die Innere Medizin auf UAW zurückzuführen sind (Einarson 1993). Seite 17 Notaufnahme wegen Arzneifehler Arzneimittel Prozent Insulin (8%) Antikoagulantien (6,2 %) Amoxicillin (4,3%) ASS (2,5%) Cotrimoxazol (2,2%) Hydrocodon/Paracetamol (2,2%) Ibuprofen (2,1%) Paracetamol (1,8%) Cephalexin (1,6%) Penicillin V (1,3%) Tabelle 2: Top-10-Arzneimittel, die in einem US-amerikanischen freiwilligen Meldesystem am häufigsten mit Notfallaufnahmen ins Krankenhaus assoziiert waren (Grissinger 2007). Typische Risikokonstellationen Hohes Alter der Patienten, Multimorbidität und eine große Zahl verordneter Arzneimittel – das sind in praktisch allen Studien die wichtigsten Prädiktoren für fatale arzneimittelassoziierte Todesfälle oder schwere UAW. Unter den kritischen Komorbiditäten sind besonders die chronische Herzinsuffizienz und Niereninsuffizienz mit einem fatalen Ausgang von UAW assoziiert. Im Wesentlichen weist das auf die Tatsache hin, dass ein Patient umso stärker gefährdet ist, je geringer seine endogene Kompensationsfähigkeit ist oder, einfacher ausgedrückt, dass alte Kranke weniger vertragen als junge Gesunde. So banal das klingt, muss es doch immer wieder Anlass für eine kritische Überprüfung sein, ob der angenommene Nutzen einer Arzneitherapie tatsächlich das mit jedem wirksamen Arzneimittel in Kauf genommene Risiko aufwiegt und ob tatsächlich jede Leitlinie auch beim Älteren 1:1 umgesetzt werden soll (Beispiel Spironolacton beim Alten mit Herzinsuffizienz, „scharfe“ Blutzuckereinstellung beim älteren Typ-2-Diabetiker usw.). Kritische Arzneimittel in der Praxis Auf dem jährlichen Kongress der Pharmazeuten in Atlanta (berichtet von K.L. Hahn) wurden kürzlich von M. Grissinger „The Top 10 Adverse Drug Reactions and Medication Errors“ vorgestellt. In dieser Studie wurden die Arzneimittel erfasst, die am häufigsten zu einer Notfallaufnahme ins Krankenhaus führten (Tabelle 2). Viele dieser Arzneimittel sind „alte Bekannte“, die praktisch in allen Studien mit Problemen assoziiert sind, wie Insulin, Antibiotika, NSAIDs, Paracetamol und Antikoagulantien. Die Statistik lässt mehrere interessante und praktisch wichtige Schlüsse zu: Häufig verordnete Arzneimittel machen häufig Probleme (Beispiel Amoxicillin). Arzneimittel sind sehr unterschiedlich kritisch. So fällt auf, dass die in allen westlichen Ländern mit Abstand am häufigsten eingenommenen Herzkreislaufmittel (ACE-Hemmer, Betablocker, Calciumkanalblocker, Statine und Diuretika; Gesamtverordnung in Deutschland in 2006:10,9 Milliarden Tagesdosen = 30 Millionen Tagesdosen pro Tag; Arzneiverordnungsreport 2006) nicht auf dieser Liste erscheinen, was ihre gute Verträglichkeit belegt. Auf der anderen Seite machen zwar Marcumar und Verwandte nur 271 Mio DDD = 1,0 Prozent der Gesamtverordnungen aus, dafür aber 6,2 Prozent der kritischen UAWs. Dies weist auf die besonders schwierige Therapie mit Antikoagulantien hin. Auf Herz- und Nieren-Insuffiziente müssen Sie besonders achten Seite 18 Auch Antibiotika sind nicht ungefährlich KVH • aktuell Nr. 4 / 2007 Auch rezeptfreie Arzneimittel wie Ibuprofen und Paracetamol sind prominent auf dieser Liste vertreten, was wiederum belegt, dass „rezeptfrei“ keineswegs gleichzusetzen ist mit „harmlos“. Amoxicillin, Cotrimoxazol, Cephalexin und Penicillin V sind zusammen mit fast zehn Prozent aller zur Aufnahme führenden UAWs assoziiert. Dies gilt es zu bedenken, wenn Antibiotika bei überwiegend viral bedingten Atemwegserkrankungen verordnet werden. Aspirin und Ibuprofen, die am meisten eingenommenen NSAIDs, machen zusammen fast fünf Prozent aus. Man schätzt, dass in den USA täglich 30 Millionen Patienten diese Substanzen einnehmen, was zu 103 000 Hospitalisierungen und 16 000 Todesfällen pro Jahr führt. Letzteres ist in der Regel Folge von Magen- und Darmblutungen und Dyspepsie. Hinzu kommen aber die ebenfalls kritischen Herzkreislauf- und Nierenwirkungen (Hypertonie, Herzinsuffizienz-Dekompensation). Häufigster Fehler: Überdosierung Paracetamol: Wegen vieler Missverständnisse für Kinder gefährlich Vorsicht bei fixen Kombinationen Viele UAW (und wahrscheinlich die meisten harmlosen) gehören zum Profil der Arzneimittelwirkung dazu und sind nicht vermeidbar (außer durch Nichtverordnung). Es zeigt sich aber in vielen Studien, dass gerade die schweren und zur Hospitalisierung führenden UAW Folge einer fehlerhaften Verordnung sind. In der Studie von Grissinger waren ungewollte Überdosierungen in 40 Prozent der Fälle für die Notfallaufnahme ursächlich und damit mit Abstand die häufigste Form eines Arzneitherapiefehlers. Andere Fehler in dieser und anderen Studien (Hicks et al. 2006, Kaushal et al. 2001) waren falsche Indikationsstellung, fehlerhafte Nichtverordnung, falsche Applikationsweise – im Extremfall die intravenöse Injektion von 50 ml flüssigem Paraffin (Kazi et al. 2007) – und falsche Dosierungsintervalle. Interessanterweise passierten fast 80 Prozent der Fehler bei der ärztlichen Verschreibung und nur selten im weiteren Verlauf bis zur tatsächlichen Einnahme des Arzneimittels (Kaushal et al. 2001). Gefährlich und fehlerbehaftet ist auch der Wechsel von oralem Morphin auf transdermal appliziertes Fentanyl, das in mehreren Pflastergrößen angeboten wird. Hier müssen die Umrechnungsfaktoren (60 mg Morphin/Tag erfordern Umstellung auf 0,6 mg Fentanyl = 25 µg/h = 10 cm2 Pflaster) genau beachtet werden und die von vielen Ärzten angewandte Grundregel „1x1 pro Tag“ kann zu erheblichen Überdosierungen führen. Klassisch sind Überdosierungen von Paracetamol bei Kindern, wo von Müttern aufgrund ungenauer Angaben durch den Arzt mehrfach täglich 1000 mg Zäpfchen bei Kleinkindern gegeben wurden. In den USA sind Paracetamol-Vergiftungen für mehr als 40 Prozent aller Fälle von akutem Leberversagen verantwortlich. Ebenfalls häufig ist die Nichtbeachtung einer Niereninsuffizienz, was besonders bei Morphin, Methotrexat, Metformin, Digoxin, Spironolacton und niedermolekularen Heparinen zu kritischen Überdosierungen führt. Was auf den Listen der Studien nicht vorkommt, aber dennoch zu den häufigen Fehlern in der Arzneitherapie in der Praxis gehört, ist die Wahl unsinniger oder ungenügend wirksamer Arzneimittel. Die vielen Kombinationspräparate aus „Captopril plus Hydrochlorothiazid“, das heißt eines kurzwirksamen ACE-Hemmers mit einem langwirkenden Diuretikum, sind als solche unsinnig. Einmal täglich verabreicht führen sie zu einem kurzen, völlig ungenügenden Peak von Captopril; dreimal täglich wäre für Captopril richtig, bedeutet aber eine Überdosierung von HCT. Das Gleiche gilt für unretardiertes oder einfach retardiertes Metoprolol in Kombination mit HCT. Von Captopril plus HCT werden in Deutschland jährlich über 200 Millionen Tagesdosen verordnet, von Metoprolol plus HCT über 80 Millionen. Bei einigen Arzneimittelgruppen herrscht eine inzwischen fast unüber- Nr. 4 / 2007 KVH • aktuell schaubare Vielfalt an Zubereitungsformen. Beispiel ist Metoprolol, das es inzwischen mit Tartrat-Schutzgruppe unretardiert (dreimal tägliche Einnahme), einfach retardiert (zweimal tägliche Einnahme) und für eine einmal tägliche Gabe retardiert sowie zusätzlich mit Succinat-Schutzgruppe für die einmal tägliche Gabe gibt. Nur Letzteres ist auch für die Therapie der Herzinsuffizienz zugelassen. Man fragt sich, warum es – außer aus wirtschaftlichen Gründen – die schlecht retardierten Präparate überhaupt noch gibt. Furosemid, einmal täglich gegeben, ist zur Hypertonie-Therapie bei Patienten mit normaler Nierenfunktion nicht geeignet, wird aber millionenfach verordnet. NSAIDs werden zu häufig bei Patienten mit Hypertonie, Herz- oder Niereninsuffizienz gegeben, obwohl sie relativ kontraindiziert sind. So erhöhen sie im Mittel den Blutdruck systolisch um fünf mmHg und sind nicht selten für einen „schlecht einstellbaren“ schwankenden Bluthochdruck ursächlich. NSAIDs erhöhen bei Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz die Wahrscheinlichkeit einer kardialen Dekompensation um den Faktor zehn! (Page, Henry 2000). Erythromycin hemmt kardiale Kaliumkanäle und kann daher tödliche Herzrhythmusstörungen im Sinne eines LQT-Syndroms verursachen. Eine Studie hat bei Herzgesunden eine Verdoppelung der spontanen Rate an plötzlichem Herztod festgestellt (von 1:1000 auf 2:1000), ein Problem, das durch die gleichzeitige Verordnung von CYP3A4-Hemmern wie Verapamil auf 5:1000 gesteigert war (Ray et al. 2004). Clarithromycin hat wahrscheinlich ein ähnliches Risiko, Roxithromycin aber nicht. Daher besteht meines Erachtens kein Grund mehr, Erythromycin zu verordnen (Ausnahme Schwangerschaft, wo Erythromycin das am besten untersuchte und daher sicherste Makrolid ist). Lösungsansätze gegen systemimmanente Fehler Irren ist menschlich. Der Glaube, dass man Fehler in der Arzneitherapie vollständig vermeiden kann, ist deswegen unrealistisch. Ziel muss es aber sein, systematische Fehlerquellen so weit wie möglich zu minimieren. Dazu gehören neben der Arzneimittelzulassung sowie der Aus- und Fortbildung vor allem auch die Strukturen im Arbeitsalltag: Was die Zulassungsbehörden aus politischen Gründen nicht schaffen, kann und sollte jeder Arzt und jedes Krankenhaus für sich alleine tun – sich eine eigene schlanke Positivliste anlegen und hier bei der Auswahl gegebenenfalls Beratung einholen. Beschränkung auf möglichst wenige Arzneimittel (zum Beispiel ausschließlich Morphin und Fentanyl in der Schmerztherapie mit Opioiden und ein Normalsowie ein Verzögerungsinsulin bei Diabetes). Beschränkung auf nachgewiesenermaßen wirksame Präparate in wirksamer Dosis und Wirkdauer (also zum Beispiel Amlodipin, Ramipril, Bisoprolol statt Nifedipin, Captopril, Metoprolol). Beschränkung auf möglichst sichere Präparate (zum Beispiel Roxithromycin statt Erythromycin). Apotheker und Arzte sollten den offenen Dialog suchen, um Fehler oder Auffälligkeiten in der Verordnung rechtzeitig zu identifizieren und baldmöglichst abzustellen. Es sollten nicht-bestrafende (!) Systeme etabliert werden, wo Fehler in der Arzneitherapie anonym gemeldet werden können. Bei Fehlern sollten nicht primär Einzelne angeschuldigt, sondern nach Systemfehlern gesucht werden. Fehler im Design oder in der Ausgestaltung von Verordnungssystemen können sein: exzessive Beanspruchung von Gedächtnisleistungen („Das müssen Sie doch wissen!“), fehlende Standardisierung (jeder macht es anders, anstatt sich zunächst auf ein Standardvorgehen zu einigen), nicht ausreichende Fortbildung oder Zugang zu Informationen (zum Beispiel ungenügende PC-Ausstattung) und exzessive Arbeitsbelastung (zum Seite 19 KVH • aktuell Seite 20 Nr. 4 / 2007 Beispiel einer versucht die Arbeit von zweien zu machen). Abbau von Stress (siehe dazu auch den unten stehenden Kasten). Interessenkonflikte: keine Literatur: – Arzneiverordnungsreport 2006. U. Schwabe und D. Paffrath (Hrsg.). Springer Verlag, Berlin, Heidelberg, New York, 2006 – BATES, D. W., CULLEN, D. J., LAIRD, N., PETERSEN, L. A., SMALL, S. D., SERVI, D., LAFFEL, G., SWEITZER, B. J., SHEA, B. F., HALLISEY, R. & ET AL. (1995). Incidence of adverse drug events and potential adverse drug events. Implications for prevention. ADE Prevention Study Group. Jama 274, 29 – 34. – CARANASOS, G. J., MAY, F. E., STEWART, R. B. & CLUFF, L. E. (1976). Drug-associated deaths of medical inpatients. Arch Intern Med 136, 872 – 875. COBB H. Dealing with stress: decompression strategies for pharmacists. Program and abstracts of the American Pharmacists Association 2007 Annual Meeting; March 16-19, 2007; Atlanta, Georgia. – COMMITEE on Identifying and Preventing Medication Errors. Board on Health Care Services. Institute of Medicine of the National Academies. In: Aspden P, Wolcott J, Bootman JL, Cronenwett LR, eds. 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Bewahre Deinen Humor! 10.Sprich und unterdrücke keine Gefühle! 11.Schreibe Deine Gedanken auf! 12.Meide ungesunde Angewohnheiten (wie etwa Alkohol)! 13.Setze Dir Grenzen (lerne „Nein“ zu sagen)! 14.Suche professionellen Rat! Das eine oder andere dieser Liste werden die meisten umsetzen können, aber, so meint Cobb, bei manchen ist die beste Stress-Reduktionstechnik schlicht, den Beruf zu wechseln. Nr. 4 / 2007 KVH • aktuell Seite 21 Nehmen Sie das mal ein! Riskante Wechselwirkungen zwischen Kommunikation und Arznei Bei der Pharmakotherapie muss man nicht nur an Wechselwirkungen zwischen Medikamenten oder an potenziell gefährliche Nebenwirkungen denken – auch die Kommunikation kann riskante Folgen haben. Man kommt immer wieder ins Staunen, was manch ein Patient so alles (miss-)versteht, wenn ihm sein Doktor etwas mitteilt. Auch der Arzt lernt bekanntlich gut und gerne am Beispiel, deshalb hier zu diesem Thema keine trockene Theorie, sondern zwei Beispiele, die auf der Web-Seite www.jeder-Fehler-zaehlt.de zu finden sind: „Durchfall beim Patienten und Entsetzen bei uns“ Ein Patient kommt mit starken Rückenschmerzen in die Gemeinschaftspraxis, erhält Diclofenac 150 ret. N1 und Paracetamol mit Codein. Schon am nächsten Tag kommt er wieder: Er habe alle Tabletten eingenommen und trotzdem noch Schmerzen. Die mitteilenden Kollegen beschreiben lapidar die Folgen dieses Falles: „Etwas Durchfall beim Patienten und Entsetzen bei uns.“ Sie hätten, finden sie retrospektiv, dem Patienten klarmachen müssen, dass eine Tablette Diclofenac 150 die Tageshöchstdosis ist und keinesfalls mehr eingenommen werden darf, und den Patienten darauf hinweisen sollen, dass er sich bei fehlender Schmerzbefreiung wieder melden soll. Nun mag man sich denken, dass es kaum möglich ist, gegen jeden Fehler gedankenloser Patienten vorzusorgen, doch ein Kollege bringt es in der Online-Diskussion auf den Punkt: „Patienten kommen selten in die Praxis ,wenn es ihnen gut geht, sie sind oft durch erhebliche Schmerzen und Leiden am klaren und logischen Denken gehindert ... da kommt so etwas eben mal vor!“ Ein anderer ergänzt: „... aus meiner Sicht empfiehlt es sich immer, auf das Rezept die Dosierung „2x1“ oder „b. Bed.1, max.3x1/Tag“ oder so ähnlich zu schreiben (in der Hoffnung, dass die Apotheke diese Angaben dann auch tatsächlich auf die Packung überträgt ...“ Zwei Nullen oder zwei aufgemalte Tabletten? Doch auch die Einnahmeanweisung auf der Packung hat ihre Tücken, wie der folgende Fall zeigt: Auf die Musterpackung eines Antihypertonikums schrieb eine Kollegin per Hand „1/2 – 0 – 0“. Jeder Arzt versteht, was gemeint ist und denkt deswegen gar nicht mehr darüber nach. Nicht so der Patient: Er hielt die 0 – 0 für Tabletten, die die Ärztin auf die Packung gezeichnet hätte und nahm deshalb mittags und abends eine ganze Tablette ein. Die Folge der Überdosierung: Schwindel. Zwei Fälle, die glimpflich verlaufen sind, aber auch schlimmer hätten ausgehen können. Zum ersten Fall ergänzt das Institut für Allgemeinmedizin: „Offensichtlich hat der Patient nicht auch noch alle Paracetamol-Tabletten zu sich genommen. Also noch mal alles gut gegangen!“ Und im zweiten Fall hätte der Schwindel durchaus zu üblen Sekundärfolgen führen können. Sicher kann man solche Kommunikationsrisiken nicht hunderprozentig beseitigen. Aber man kann sie minimieren – beispielsweise, indem man den Patienten wiederholen lässt, wie er die Medikamente einnehmen soll. Weitere Hinweise dazu finden sich auf der oben schon genannten und äußerst empfehlenswerten WebSeite des Instituts für Allgemeinmedizin der Universität Frankfurt. Sie arbeitet nach dem Motto „Man muss nicht jeden Fehler selber machen, um daraus zu lernen“ und lädt Kollegen ein, ihre Fehler anonym mitzuteilen und diskutieren zu lassen. Auch die Leitlinie zur hausärztlichen Gesprächsführung, die auf der Web-Seite www.pmvforschungsgruppe.de verfügbar ist, gibt zahlreiche Tipps. Auf dieser Webseite den Cursor in der Menü-Leiste im oberen Teil der Seite auf Publikationen positionieren und im aufklappenden Untermenü auf Leitlinien klicken. BW Man kann sich nicht darauf verlassen, dass ein schmerzgeplagter Kranker logisch denkt Seite 22 Rezept des Monats KVH • aktuell Nr. 4 / 2007 Zwiespältige Angelegenheit Den unten abgebildeten Entlassungsbrief brachte ein Patient aus der Klinik in die Praxis eines Kollegen mit. Eigentlich eine schöne Sache: So gut zusammengefasst und trotzdem ausführlich bekommt man die nötigen Informationen bei der Entlassung nicht aus jeder Klinik! Man könnte den Entlassungsbrief tatsächlich als vorbildlich betrachten – wenn da nicht die Medikamentenlatte wäre. Es handelt sich um 16 Arzneimittel mit 30 Applikationen (28 Tabletten). So werden mit Neurontin, Lyrica, Saroten und Paladon vier zentralnervös wirkende Substanzen, mit Novalgin ein peripher wirksames Analgetikum, mit Torem, Concor und Delix drei cardial wirksame Substanzen, mit ASS und Iscover zwei Thrombozytenaggregationshemmer, mit Pantozol und Lactulose zwei die Nebenwirkungen im MagenDarm Trakt kurierende Substanzen und mit Simvastatin eine für Diabetiker und KHK Patienten immer (?) angezeigte Substanz kombiniert. Tavanic lassen wir mal außen vor. Alle diese Ansätze sind leitlinienkonform, sofern man keine Multimorbidität antrifft. Aber bei Multimorbidität ist nicht einfach die Aufsummierung aller einzelnen Maßnahmen indikationsbezogener Leitlinien gefordert (hier LL KHK, Herzinsuffizienz, Diabetes, Schmerz/Polyneuropathie, Arthritis und Obstipation/Gastritis), sondern eine sinnvolle Reduktion der Arzneimittelmenge unter dem Aspekt Symptomkontrolle und Prognosebesserung anzustreben. Dies kann nur in Angesicht des Patienten, seiner Lebensumstände , Lebenserwartungen und mit seinem Einverständnis durchgeführt werden – also durch den Hausarzt, ganz individuell. Ansonsten ist mit einer Compliance/Adhärenz nicht zu rechnen. Dr. med. Joachim Feßler Nr. 4 / 2007 KVH • aktuell Seite 23 Hausärztliche Leitlinie Diabetes mellitus Typ 2 Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 Konsentierung Version 3.00 11. April 2007 Revision bis spätestens April 2010 Hausärztliche Leitlinie Diabetes mellitus Typ 2 Version 3.06 vom 26.06.2007 Hausärztliche Leitlinie Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 Diabetes mellitus Typ 2 Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 Konsentierung Version 3.00 11. April 2007 Anmerkung: Revision bis spätestens Konsentierung Version 3.00 Die Leitlinie umfassen April 2010 11. April 2007 insgesamt 86 Seiten. Wir veröffentlichen an- gesichts des Umfangs auf den folgenden Seiten nur Auszüge mit den wichtigsten Inhalten. Revision bis spätestens Die Seitenzahlen April 2010 am unteren Rand der Leitlinienseiten und die Seitenzahlen im3.06 Inhaltsverzeichnis auf der folgenden Seite korVersion vom 26.06.2007 respondieren mit den Seitenzahlen der Original-Leitlinie. Die Seitenzahlen am oberen Rand entsprechen den Seitenzahlen dieses KVH aktuell. Version 3.06 vom 26.06.2007 Die ansonsten im Text erwähnten Anhänge und Literaturstellen (Ziffern in Klammern), die hier nicht abgedruckt sind, finden Sie in der vollständigen Leitlinie. Sie ist im Internet unter www.pmvforschungsgruppe.de verfügbar. Auf dieser Webseite bitte den Cursor in der Menü-Leiste im oberen Teil der Seite auf Publikationen positionieren und im aufklappenden Untermenü auf Leitlinien klicken. F. W. Bergert M. Braun D. Conrad K. Ehrenthal J. Feßler J. Gross K. Gundermann H. Hesse J. Hintze U. Hüttner B. Kluthe W. LangHeinrich A. Liesenfeld E. Luther R. Pchalek J. Seffrin A. Sterzing G. Vetter H.-J. Wolfring U. Zimmermann F. W. Bergert M. Braun D. Conrad K. Ehrenthal F. W. Bergert J. Feßler M.J.Braun Gross D. Conrad K. Gundermann K. Ehrenthal H. Hesse J.J.Feßler Hintze J. U. Gross Hüttner K. Gundermann B. Kluthe H. Hesse W. LangHeinrich Hintze A. J. Liesenfeld U. Hüttner E. Luther B. R. Kluthe Pchalek W. LangHeinrich J. Seffrin A. Liesenfeld A. Sterzing E.G. Luther Vetter R. Pchalek H.-J. Wolfring J. Seffrin U. Zimmermann A. Sterzing G. Vetter H.-J. Wolfring U. Zimmermann Seite 24 KVH • aktuell Nr. 4 / 2007 Inhaltsverzeichnis 03 Kontext und Kooperation 37 Verlaufskontrollen 04 Verantwortlichkeit 38 Schnittstellen Kooperationsebene, Indikationsstellung 05 Diabetes mellitus Typ 2 Pathophysiologie Definition und Klassifikation 06 Epidemiologie 07 Hausärztliche Schlüsselfragen Therapieziele 08 Risikoabschätzung Metabolisches Syndrom 09 Screening/Case-Finding Screening auf prädiabetische Stadien Screening auf manifesten Diabetes mellitus 10 Diagnostik Definition und diagnostische Kriterien 11 Hinweise zum Glukosetoleranztest Fehlerquellen bei der Blutzuckerbestimmung 12 Unterschiede zwischen Typ-1- und Typ-2Diabetes 13 Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 Therapiestufen: Voraussetzungen und deren Grenzen 14 Individualisierte Therapieziele 17 Inzidenz der Komplikationen in Abhängigkeit von der Blutdruck- und HbA1c-Einstellung 19 Zielwerte für die Therapie 20 Prävention des metabolischen Syndroms und des Diabetes mellitus Typ 2 21 Diabetiker mit lebensstilmodifizierenden Maßnahmen 23 Diabetiker mit oralen Antidiabetika Therapie bei Übergewicht 24 Therapie bei Normalgewicht 26 Diabetiker mit Insulinbehandlung 29 Hinweise zur Insulintherapie 31 Besonderheiten der Behandlung bei alten Diabetikern Besonderheiten bei Patienten in Pflege 34 Nicht medikamentöse Maßnahmen Arzneitherapie zur Blutzuckersenkung 35 Management der Hyperglykämie 36 Allgemeine Therapiehinweise Diabetes und Depression 39 Folgeerkrankungen 42 Die fünf wichtigsten Folgeerkrankungen 43 Therapie der Folgeerkrankungen Diabetisches Fußsyndrom 45 Zusammenfassung Literatur Anhang: Glykämischer Index Anhang: Diagnostik im Überblick Anhang: Nicht-insulinotrope Antidiabetika Metformin (OAD) 61 Glitazone (OAD) 62 Alpha-Glucosidasehemmer (OAD) 63 Anhang: Insulinotrope Antidiabetika Sulfonylharnstoffe (OAD) 64 Glinide (OAD) 65 Inkretin-Mimetikum (s.c.) 66 Anhang: Diabetische Neuropathie Neuropathie Symptom Score (NSS) 67 Neuropathie Defizit Score (NDS) 68 Anhang: Diabetischer Fuß 71 Anhang: Augenkontrolle 72 Anhang: Praxistipps 73 Anhang: Depression Kurztest zur Diagnose einer Depression 74 Anhang: Diabetes und Führerschein Begutachtungs-Leitlinien zur Kraftfahrereignung 75 Begründung der Leitsätze nach verkehrsmedizinischen Aspekten Ratschläge für insulinbehandelte Kraftfahrer 76 Anhang: Studientabellen Behandlung des Typ-2-Diabetikers 80 Sekundärprävention/Risikopatienten 81 Anhang: Statistik Übersicht über Risikomaße und statistische Kenngrößen 46 58 59 60 83 Evidenzkategorien 84 Informationen zur Leitliniengruppe Hessen 86 Disclaimer und Internetadressen Nr. 4 / 2007 KVH • aktuell Seite 25 Diabetes mellitus Typ 2 Ì Pathophysiologie Ì Definition und Klassifikation Pathophysiologie [135, 136] Die pathophysiologische Erklärung des Diabetes mellitus Typ 2 hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten sehr gewandelt. Man geht heute davon aus, dass bei den meisten Typ-2-Diabetikern zu Beginn der Erkrankung kein Insulinmangel, sondern eine verminderte Wirksamkeit des Hormons an den Zielorten (Muskulatur, Leber, Fettgewebe) im Vordergrund steht, eine sogenannte Insulinresistenz, die sowohl genetisch bedingt ist, als auch ganz wesentlich durch viszerale Adipositas und Bewegungsmangel beeinflusst wird (s. u.). In dieser frühen Phase kann die Bauchspeicheldrüse die verminderte Ansprechbarkeit der Organe auf Insulin durch Mehrproduktion von Insulin kompensieren, bis diese Mehrproduktion nicht mehr ausreicht, die Insulinresistenz zu überwinden. Es kommt zur Manifestation des Diabetes mellitus. Mit weiterem Fortschreiten der Erkrankung kann es zu einer Erschöpfung der Bauchspeicheldrüse kommen und damit zu einem Insulinmangel. Insulinsekretionsstörung und Insulinresistenz können entsprechend den unterschiedlichen genetischen Faktoren verschieden ausgeprägt sein und damit kann auch das Ansprechen auf Medikamente unterschiedlich sein. Die Insulinresistenz ist ganz wesentlich mit der viszeralen Adipositas (s. o.) vergesellschaftet. Man weiß heute, dass das viszerale Fettgewebe im Gegensatz zum subkutanen Fettgewebe endokrin äußerst aktiv ist und eine Vielzahl von Enzymen und anderen Faktoren produziert, die Einfluss auf den gesamten Stoffwechsel und Kreislauf nehmen. Dadurch steigt der Blutdruck an und die Endothelfunktion kann gestört werden. Durch die Fetteinlagerung in der Leber kommt es zu einer erhöhten Glukoneogenese und Verstärkung der Insulinresistenz (die z. B. durch Metformin gebremst wird). Vom viszeralen Fettgewebe werden auch große Mengen freier Fettsäuren freigesetzt, die die Insulinresistenz verstärken und zu einer Fettstoffwechselstörung führen mit erhöhten Triglyzeriden, erniedrigtem HDL- und erhöhtem LDL-Cholesterin. Diese Erkenntnis lässt auch die Crux mit den meisten aktuellen Therapieverfahren erkennen: Obwohl sie den Blutzucker (BZ) senken, führen viele zur Gewichtszunahme (mit Ausnahme von Metformin) und damit zur Verschärfung des zugrunde liegenden pathophysiologischen Ablaufs. Hierin ist begründet, dass ohne deutliche Gewichtsreduktion und Zunahme der Bewegung die Therapie oft so frustran und der Diabetes progredient ist. Definition und Klassifikation des Diabetes mellitus [85, 149] Bei 80% der Typ-2-Diabetiker liegt eine Adipositas vor, typischerweise mit Insulinresistenz einhergehend [84]. Bei normgewichtigen Typ-2-Diabetikern besteht vorrangig eine Insulinsekretionsstörung. Im Gegensatz hierzu besteht beim Typ-1 ein absoluter Insulinmangel durch eine immunologisch bedingte Zerstörung der Inselzellen [175]. 1. Typ-1-Diabetes (5 bis 10% aller Diabetiker) 2. Typ-2-Diabetes (90 bis 95% aller Diabetiker) 3. Andere Diabetesformen genetische Defekte (Typ MODY) Erkrankungen des exokrinen und endokrinen Pankreas: chron. Pankreatitis, Z.n. Pankreas-Op Medikamenten induziert (z. B. Cortison) 4. Gestationsdiabetes (GDM) 05 Seite 26 KVH • aktuell Nr. 4 / 2007 Diabetes mellitus Typ 2 Ì Hausärztliche Schlüsselfragen Ì Therapieziele Hausärztliche Schlüsselfragen In der hausärztlichen Behandlung der Diabetiker zeigen sich folgende Herausforderungen: Wie finde ich bislang »unentdeckte Diabetiker« unter meinen Patienten? Wie finde ich Patienten mit metabolischem Syndrom? Welche Therapie sollten sie erhalten? Wie kann ich die Patienten zur Änderung ihrer Lebensweise motivieren? Wie motiviere ich meine Patienten für die Schulung? Wie stelle ich die regelmäßige Kontrolle von Blutzucker, Blutdruck und von Maßnahmen zur Früherkennung von Folgeerkrankungen sicher? Wie vermittle ich Krankheitseinsicht? Wie sensibilisiere und motiviere ich den Patienten für das frühe Erkennen von Folgeerkrankungen wie diabetisches Fußsyndrom, Sensibilitätsstörungen? Welche HbA1c Werte und welche Blutdruckwerte sind bei welchen Patienten anzustreben? Wie gelange ich zu einem individualisierten Therapieziel? Wann und wie stelle ich auf Insulin um? Wie erkenne ich frühzeitig kardiovaskuläre Komplikationen beim Diabetiker? Wie erkenne und behandle ich eine psychische Komorbidität (z. B. Depression)? Wann stelle ich die Indikation für therapeutische Innovationen? Welche medikamentösen Alternativen habe ich bei Vorliegen von Kontraindikationen? Welche Besonderheiten bestehen bei pflegebedürftigen/bei multimorbiden Diabetikern? Wie stelle ich eine rationale und rationelle Arzneitherapie sicher? Ziele der hausärztlichen Behandlung von Patienten mit Diabetes mellitus sind: Symptomfreiheit von Polyurie, Polydipsie, Abgeschlagenheit Vermeidung von hypo- und hyperglykämischen Entgleisungen und ihren Folgen Vermeidung von Folgeerkrankungen und Komplikationen (u. a. KHK/AVK, Erblindung, Nephropathie, Neuropathie, diabetischem Fuß) Kompetenzsteigerung der Betroffenen im Umgang mit der Erkrankung Minimierung der Nebenwirkungen der Therapie und der hierdurch bedingten Einschränkung der Lebensqualität Psychische Komorbidität zu erkennen und zu behandeln Therapieziele sind abhängig von Lebensalter, Komorbidität und Lebenserwartung. Um diese Ziele zu erreichen, müssen Beratung, Therapie und Kontrolle durch den Hausarzt engmaschig und konsequent erfolgen. Die strukturellen Voraussetzungen hierfür bietet das DMP Diabetes mellitus Typ 2. Die vorgezeichneten Strukturen erlauben nicht nur einen sichereren Umgang mit den Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 in der Hausarztpraxis, sondern auch die Möglichkeit ein entsprechendes Management der Diabetiker zu entwickeln. 07 Nr. 4 / 2007 KVH • aktuell Seite 27 Diabetes mellitus Typ 2 Ì Risikoabschätzung Ì Metabolisches Syndrom Risikoabschätzung Zur Abschätzung der Wahrscheinlichkeit, in den nächsten 10 Jahren an Diabetes mellitus Typ 2 zu erkranken, stehen – auch internetbasiert – verschiedene Scores zur Verfügung, die zur Zeit in der Praxis getestet werden (z. B. Deutscher Diabetes Risiko-Score: www.dife.de, FINDRISK: www.findrisk.de) [37, 38, 39, 137]. Eine Empfehlung für einen bestimmten Score kann aus Sicht der Leitliniengruppe zur Zeit noch nicht gegeben werden. Metabolisches Syndrom Nach der Definition des National Cholesterol Education Program (NCEP) [109] liegt ein metabolisches Syndrom vor, wenn drei oder mehr der folgenden Kriterien erfüllt sind: Zentrale Adipositas (Bauchumfang > 102 cm Männer, > 88 cm Frauen)* Nüchtern-Plasmaglukose > 110 mg/dl Hypertonie > 130/85 mmHg HDL-C < 40 mg/dl Männer / < 50 mg/dl Frauen Triglyzeride > 150 mg/dl * Die abdominelle Fettsucht ist eher mit metabolischen Risikofaktoren verbunden als ein erhöhter BMI. Deshalb wurde der Taillenumfang als Maß aufgenommen (gemessen zwischen unterem Rippenbogen und Beckenkamm). Nicht unerwähnt bleiben sollte die Insulinresistenz als Bindeglied zwischen metabolischem Syndrom und PCOS (polyzystisches Ovarsyndrom). Insbesondere übergewichtige und adipöse Frauen mit einem PCOS weisen häufig die Kriterien eines metabolischen Syndroms auf. Daher sollten Frauen regelmäßig auf das Vorliegen eines metabolischen Syndroms bzw. seiner einzelnen Komponenten untersucht werden. Bei Patienten mit metabolischem Syndrom sollte das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen abgeschätzt werden. Hierzu kann der PROCAMScore herangezogen werden. Bei manifesten Diabetikern kann der UKPDS-Score verwendet werden, da er den HbA1C-Wert und die Diabetes Dauer berücksichtigt. PROCAM-Score: für Patienten mit und ohne Diabetes zur Abschätzung des kardiovaskulären Risikos. Der UKPDS-Score für Diabetiker zur Abschätzung der kardiovaskulären Morbidität unter Berücksichtigung der Blutzuckereinstellung und Erkrankungsdauer. Dieser Test ist für manifeste Diabetes-Patienten. 08 KVH • aktuell Seite 28 Nr. 4 / 2007 Diagnostik Ì Definition und diagnostische Kriterien Diagnostik von Vorstadien des Diabetes mellitus: Bei zweimaliger Bestimmung des Nüchternblutzuckers zwischen 100 und 110 mg/dl (venöses Vollblut zum Beispiel bei einer Gesundheitsuntersuchung) handelt es sich um einen latenten Diabetes (= »impaired fasting glucose« IFG) oder zweimalige Bestimmung eines postprandialen Blutzucker (venöses Vollblut) zwischen 140 und 180 mg/dl (= gestörte Glucosetoleranz) Die Diagnose eines Diabetes sollte nur mit Glukosewerten gestellt werden, die mit einer qualitätskontrollierten Labormethode gemessen wurden. Geräte zur Blutzuckerselbstmessung eignen sich hierfür nicht! Selbst bei Anwendung exakter Labormethoden ist zu bedenken, mit welcher Genauigkeit ein Glukosewert gemessen werden kann: Sogar mit dem »guten« Variationskoeffizienten einer Methode von zwei Prozent muss man davon ausgehen, dass bei einem »wahren« Wert von 126 mg/dl der 95Prozent-Vertrauensbereich von 121 bis 131 mg/dl reicht. Je nach klinischer Bedeutung der Diagnose sollten im Einzelfall Werte im Grenzbereich mehrmals in größeren zeitlichen Abständen gemessen oder ein oGTT gemacht werden. Vorgehensweise bei der BZ-Bestimmung: Zur BZ-Bestimmung sollte in der Praxis kapilläres Vollblut oder Plasmaglukose venös (NaFBlut) untersucht werden. Der Schwellenwert ist nüchtern 110 mg/dl (kapillär) ( 125 mg/dl venös) und der 2-Stundenwert (oGTT) 200 mg/dl (kapillär) und 220 mg/dl (venös). Den Blutproben sollte zur Glukosemessung – sofern sie nicht enteiweißt werden – ein Zusatz zur Hemmung der Glykolyse in den Erythrozyten zugefügt werden [154]. Kapillarblut (d. h. Blut wird mit einer Glaskapillare an der Fingerkuppe – kapillär – abgenommen) zeigt in entsprechenden Hämolysierungsgemischen stabile Werte für 48 h [168]. Entsprechende Röhrchen für die Blutabnahme bzw. Hämolyselösungen sind im Handel erhältlich. Zur Diagnostik und Interpretation von Blutzuckerwerten [146] siehe nachfolgende Tabelle des DMP-Handbuchs [7, 8]. Die Leitliniengruppe empfiehlt, keine Teststreifen zur Diagnosestellung zu verwenden. Unzentrifugiertes Vollblut ist zur Diagnosestellung nicht geeignet, sondern stellt lediglich eine Screeningmethode dar. Interpretation von Blutzuckerwerten [146] Plasmaglukose venös kapillär mmol/l mg/dl mmol/l mg/dl Nüchtern 7,0 125 7,0 125 2 Std. nach oGTT 11,0 200 12,2 220 Vollblutglukose venös kapillär mmol/l mg/dl mmol/l mg/dl 6,1 110 6,1 110 10,0 180 11,0 200 10 Nr. 4 / 2007 KVH • aktuell Seite 29 Diagnostik Ì Hinweise zum Glukosetoleranztest Ì Fehlerquellen bei der Blutzuckerbestimmung Hinweise zum oralen Glukosetoleranztest Drei Tage zuvor kohlenhydratreiche Ernährung (ohne Beschränkung der körperlichen Aktivität vor dem Test) Keine Testung drei Tage vor und drei Tage nach der Menstruation Keine Testung während einer Erkältung Vor dem Test 12-14-stündige Nüchternperiode und Nikotinverzicht Häufige Fehlerquellen in der hausärztlichen Praxis: BZ-Teststreifen zur Diagnosestellung (hohe Ergebnisvariabilität) Nichtzentrifugiertes Vollblut in Gel-Monovetten (Verminderung der Glukosekonzentration über die Zeit duch Glukoseabbau in den Erythrozyten) Körperliche Aktivitäten des Patienten während des Tests Nicht beachten von Störungen des BZ-Stoffwechsels durch Medikamente wie z. B. Glukokortikoide, Epinephrin, Phenytoin, Diazoxid und Furosemid Messung während interkurrenter Infekte Weitere Diagnostik Diabetiker haben ein erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse. Ab einem Risiko von > 20% in 10 Jahren empfiehlt die Leitliniengruppe eine entsprechende Abklärung (z. B. Belastungs-EKG, Duplex der Halsgefäße (Cave: bei symptomfreien Patienten stellen beide präventive Leistungen dar, also IGeL), Doppler der Beingefäße, Knöchel-ArmIndex (Ankle-Brachial-Index) als einfachste und hochsensitive Screeningmaßnahme für KHK [20, 45] zu empfehlen. Diese Untersuchungen werden als präventive Leistungen nicht durch die GKV honoriert. Der Diabetiker soll einmal jährlich beim Augenarzt vorgestellt werden (Augenfachärztlicher Untersuchungsbogen der IFDA/AGDA im Anhang). 11 Seite 30 KVH • aktuell Nr. 4 / 2007 Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 Ì Therapiestufen: Voraussetzungen und deren Grenzen Die folgenden Ausführungen zur Behandlung des Diabetes mellitus lehnen sich an die Sächsische Leitlinie zur Behandlung des Diabetes mellitus Typ 2 an [51, 52]. Voraussetzungen für eine erfolgreiche Therapie sind: Differenzierung des Diabetes-Typs: Eine effektive Therapie hängt neben der frühzeitigen Erkennung auch von der richtigen Differentialdiagnostik ab. Bei Diabetikern < 40 Jahren ist ein sich spät manifestierender Typ-1-Diabetes möglich (ggf. Überweisung in eine diabetologische Schwerpunktpraxis). Die Therapieziele sollten in Abhängigkeit von der Prognose gemeinsam mit dem Patienten festgelegt werden. Zu besprechen sind u. a Möglichkeiten zur Veränderung der Lebensweise, Gewichtsreduktion und Stoffwechselparameter. Unterstützend für das Gespräch sind die Darstellungen aus der UKPD-Studie (s. u.). Strukturierte Diabetiker-Schulung (ggf. diabetologische Schwerpunktpraxis). Vermittlung von Kenntnissen zur Erkrankung unter Einbeziehung von Familienangehörigen (DMP Diabetes). Motivierung zur Blutzucker- und BlutdruckSelbstmessung. Führen eines Blutzuckertagebuches und des Gesundheitspasses Diabetes. Dem Alter und den Begleiterkrankungen angepasste körperliche Aktivität. Versorgung des Patienten auf der richtigen Betreuungsebene. Die entscheidenden Kriterien für die Wahl der Therapie bei Diabetes mellitus Typ 2 und der Versorgungsebene sind Nüchternblutzucker HbA1c (individualisiert) Blutdruck (individualisiert) Komorbidität Hierzu werden individuelle Therapieziele festgelegt (s. u.). Wenn bei einem neu diagnostizierten Díabetes mellitus Typ 2 noch keine Folgeschäden bestehen, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass lebensstilmodifizierende Maßnahmen wie Ernährungsumstellung, Bewegung, Gewichtsreduktion, Schulung ausreichend sind. Bestehen bei neu entdecktem Diabetes mellitus Typ 2 bereits Folgeschäden, ist die Notwendigkeit für eine zusätzliche medikamentöse Therapie sehr wahrscheinlich. Werden die individuellen Therapieziele nicht erreicht, ist die gewählte Therapie zu überdenken und der nächste Therapieschritt einzuleiten. Vorgehen bei akuten Stoffwechselentgleisungen aufgrund anderer Erkrankungen (z. B. Infektionen, endokrine Funktionsstörungen) unverzügliche Therapie-Anpassung oder Umstellung der Therapie (z. B. von oral auf Insulin) Vorstellung in einer Schwerpunktpraxis oder Klinik 13 Nr. 4 / 2007 KVH • aktuell Seite 31 Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 Ì Individualisierte Therapieziele Individualisierte Therapieziele Die klinische Heterogenität des Typ-2-Diabetes bedingt, dass nicht bei jedem Diabetiker dieselben therapeutischen Zielsetzungen verfolgt werden können [96]. Im DMP-Handbuch werden u. a. folgende Anhaltspunkte gegeben [147]: Steht die Vermeidung der Symptome der Erkrankung (Polyurie, Abgeschlagenheit etc.) sowie die Vermeidung schwerer Stoffwechselentgleisung im Vordergrund (z. B. bei multimorbiden Patienten mit schlechter Prognose), wird ein HbA1c-Wert unter 8,5% angestrebt, um die Symptome zu verhindern und dabei die Gefahr der Hypoglykämie gering zu halten. Besteht ein hohes Risiko für kardiale, zerebrovaskuläre und sonstige makroangiopathische Morbidität und Mortalität, sollte ein HbA1c-Zielwert < 6,5% angestrebt werden verbunden mit einer konsequenten Therapie der weiteren Risikofaktoren (Blutdrucksenkung, Thrombozytenaggregationshemmung, Lipidsenkung) und regelmäßiger Schulung des Patienten (DMPEmpfehlung: alle drei Jahre). Steht die Vermeidung mikrovaskulärer Folge komplikationen im Vordergrund (in der Regel bei jüngeren Patienten im Alter von 40 bis 60 Jahren), ist eine normnahe Blutzuckereinstellung zu fordern. In der Altersgruppe der 30- bis 60-jährigen stellt der Diabetes mellitus die häufigste Erblindungsursache in den westlichen Industrieländern dar. Vor allem das diabetische Makulaödem und die proliferative Retinopathie führen zu einer gravierenden Sehverschlechterung bis zur vollständigen Erblindung [51]. Steht die Vermeidung des diabetischen Fußsyndroms mit neuro-, angio- und/oder osteopathischen Läsionen im Vordergrund (i. d. R. bei Patienten mit mehreren Begleiterkrankung- en und längerem Diabetesverlauf), ist eine spezielle Schulung zur Vermeidung des Fußsyndroms erforderlich sowie Mitbehandlung in einer Fußambulanz, auch zur Anpassung des Schuhwerks. Blutdruck muss streng und HbA1c möglichst normnah eingestellt werden. Die Füße sind regelmäßig zu kontrollieren [15, 16, 36]. Darüber hinaus sind individualisierte Therapieziele zu BMI (Gewicht), Lipidwerten, Blutdruck etc. mit den Patienten zu vereinbaren [147]: Es gibt eindeutige Belege, dass beim Diabetiker die Blutdrucksenkung auf unter 130/80 mmHg [27] den größten Einfluss auf die Senkung der kardiovaskulären Mortalität hat. Damit kommt der Blutdrucksenkung bei der Behandlung der Diabetiker ganz besondere Bedeutung zu [66] {A}, [82, 151, 158, 160, 162]. Bei Patienten mit Albuminurie sollte der Zielblutdruckwert möglichst unter 120/80 mmHg liegen [1, 78] {C} Nach der Festlegung der inviduellen Therapieziele werden die Therapieschritte geplant und die entsprechenden strukturierten Therapieund Schulungsprogramme gezielt eingesetzt. Wenn der Patient die Ziele kennt und die nichtmedikamentösen und medikamentösen Maßnahmen nachvollziehen kann, ist mit einer höheren Motivation und aktiven Kooperation zu rechnen (s. auch Leitlinie Hausärztliche Gesprächführung). An dieser individuellen Therapiezieldefinition, die eine übliche primärärztliche Vorgehensweise darstellt, wird sich die Beurteilung der Qualität der nachfolgenden Betreuung auszurichten haben. 14 Seite 32 KVH • aktuell Nr. 4 / 2007 Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 Ì Individualisierte Therapieziele (Fortsetzung) Weil sich der Gesundheits-Pass Diabetes als ein hervorragendes und für den Patienten gut verständliches Dokumentationsinstrument bewährt hat, empfiehlt es sich, das Therapieziel sowohl im Gesundheitspass Diabetes als auch obligatorisch auf dem DMP-Bogen des Patienten zu dokumentieren. Die Tabellen der folgenden Seiten zeigen das Risiko für Diabetes-bedingte Folgeerkrankungen oder Ereignisse in Abhängigkeit vom systolischen Blutdruck und vom HBA1C-Wert. Mit Hilfe dieser Graphiken können die Auswirkungen der erreichten individuellen Zielwerte veranschaulicht und somit Therapieziele leichter mit dem Patienten vereinbart werden. Die erste Graphik in der linken Spalte oben (s. nachfolgende Seite) zeigt die Abhängigkeit aller Diabetes-verursachten Endpunkte vom Blutdruck [1]: Bei einem systolischen Blutdruck höher als 160 mmHg ist die Inzidenzrate, einen durch Diabetes verursachten Endpunkt zu erleiden, doppelt so hoch wie bei einem systolischen Blutdruck von unter 120 mmHg. Individuell muss nun entschieden werden, welcher Zielblutdruck für den jeweiligen Patienten (in Anbetracht von Alter, Lebensumständen, Einstellung des Patienten etc.) angemessen ist. viduellen Zielwert, in Anbetracht der sehr verschiedenen Behandlungssituationen, festzulegen. Das Risiko steigt bei höher werdenden Blutdruck- oder HBA1C-Werten überproportional an. Dies heißt aber auch, dass die Risikoreduktion im Bereich normnaher Blutdruck- und HBA1C-Werte nicht so ausgeprägt ist, wie häufig vermutet wird. Dies sollte in die Planung und die Vereinbarung der individuellen Zielwerte mit dem Patienten einfließen. Hinweise: Eine strenge Blutdrucksenkung vermindert das Risiko für makrovaskuläre Folgeerkrankungen deutlicher als eine strenge HbA1c-Senkung! Die HbA1c-Senkung ist bedeutender für Vermeidung mikrovaskulärer Folgeerkrankungen (Nephropathie, Retinopathie). Anmerkung zur Tabellenlegende: Die »Adjustierte Inzidenzrate« bezieht sich auf 1.000 Personenjahre, adjustiert nach Alter, Geschlecht, Ethnie, dargestellt für Männer (weiß), zum Zeitpunkt der Diagnosestellung 50-54 Jahre mit einem Followup von 7,5 bis 12, 5 Jahren [1, 144]. Bei den nachfolgenden graphischen Darstellungen handelt es sich um eigene Übersetzungen und modifizierte Darstellungen der UKPDS-Ergebnisse [1, 144]. Die Graphiken in den rechten Tabellenspalten zeigen korrespondierend die Abhängigkeit der Endpunkte von der HBA1C-Einstellung [144]. Bei einem HBA1C von 10% wurden 120 Ereignisse je 1000 Personenjahre beobachtet. Bei einem Wert von unter 9 liegt die Erreigniszahl bei knapp 80. Deutlich wird der Einfluss der BZ-Senkung auf die mikrovaskulären Endpunkte. Dies hilft den indi- 16 KVH • aktuell Nr. 4 / 2007 Seite 33 Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 Ì Individualisierte Therapieziele Ì Inzidenz der Komplikationen in Abhängigkeit von der Blutdruck- und HbA1c-Einstellung Modifiziert nach [1, 144] Inzidenz der Komplikation in Abhängigkeit von der Blutdruckeinstellung Inzidenz der Komplikation in Abhängigkeit von der HbA1c-Einstellung Alle durch Diabetes verursachten Endpunkte Alle durch Diabetes verursachten Endpunkte 180 100 Adjustierte Inzidenzrate Adjustierte Inzidenzrate 160 80 60 40 20 140 120 100 80 60 40 20 0 0 <120 120-129 130-139 140-149 150-159 <6 >160 6-<7 8-<9 9-<10 >=10 9-<10 >=10 9-<10 >=10 Durch Diabetes verursachte Todesfälle 100 100 80 80 Adjustierte Inzidenzrate Adjustierte Inzidenzrate Durch Diabetes verursachte Todesfälle 60 40 20 60 40 20 0 0 <120 120-129 130-139 140-149 150-159 <6 >160 6-<7 7-<8 8-<9 Jahresm ittelw ert HbA1c Systolischer Blutdruck im Jahresm ittel Mikrovaskuläre Endpunkte Mikrovaskuläre Endpunkte 100 100 80 80 Adjustierte Inzidenzrate Adjustierte Inzidenzrate 7-<8 Jahresm ittelw ert HbA1c Systolischer Blutdruck im Jahresm ittel 60 40 20 60 40 20 0 0 <120 120-129 130-139 140-149 150-159 >160 Systolischer Blutdruck im Jahresm ittel Eine strenge Blutdrucksenkung vermindert das Risiko für makrovaskuläre Folgeerkrankungen deutlicher als eine strenge HbA1c-Senkung! <6 6-<7 7-<8 8-<9 Jahresm ittelw ert HbA1c Die HbA1c-Senkung ist bedeutender für die Vermeidung mikrovaskulärer Folgeerkrankungen (Nephropathie, Retinopathie). 17 KVH • aktuell Seite 34 Nr. 4 / 2007 Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 Ì Individualisierte Therapieziele Ì Inzidenz der Komplikationen in Abhängigkeit von der Blutdruck- und HbA1c-Einstellung (Fortsetzung) Modifiziert nach [1, 144] Inzidenz der Komplikation in Abhängigkeit von der Blutdruckeinstellung Inzidenz der Komplikation in Abhängigkeit von der HbA1c-Einstellung Myokardinfarkt - tödlich und nichttödlich 100 100 80 80 Adjustierte Inzidenzrate Adjustierte Inzidenzrate Myokardinfarkt - tödlich und nichttödlich 60 40 20 60 40 20 0 0 <120 120-129 130-139 140-149 150-159 <6 >160 6-<7 Systolischer Blutdruck im Jahresm ittel 8-<9 9-<10 >=10 9-<10 >=10 9-<10 >=10 Apoplex - tödlich und nichttödlich 100 100 80 80 Adjustierte Inzidenzrate Adjustierte Inzidenzrate Apoplex - tödlich und nichttödlich 60 40 20 60 40 20 0 0 120-129 130-139 140-149 150-159 >160 <6 6-<7 Systolischer Blutdruck im Jahresm ittel 7-<8 8-<9 Jahresm ittelw ert HbA1c Tod oder Am putation durch pAVK Tod oder Am putation durch pAVK 100 100 80 80 Adjustierte Inzidenzrate Adjustierte Inzidenzrate 7-<8 Jahresm ittelw ert HbA1c 60 40 20 0 60 40 20 0 120-129 130-139 140-149 150-159 >160 Systolischer Blutdruck im Jahresm ittel Eine strenge Blutdrucksenkung vermindert das Risiko für makrovaskuläre Folgeerkrankungen deutlicher als eine strenge HbA1c-Senkung! <6 6-<7 7-<8 8-<9 Jahresm ittelw ert HbA1c Die HbA1c-Senkung ist bedeutender für die Vermeidung mikrovaskulärer Folgeerkrankungen (Nephropathie, Retinopathie). 18 Nr. 4 / 2007 KVH • aktuell Seite 35 Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 Ì Diabetiker mit lebensstilmodifizierenden Maßnahmen Die nichtmedikamentösen lebensstilverändernden Maßnahmen sind bei der Therapie des metabolischen Syndroms und des manifesten Diabetes identisch. Unter lebensstilmodizifierenden Maßnahmen werden Ernährungstherapie, körperliche Aktivität, Gewichtsreduktion und Schulung verstanden. Wer kommt dafür in Frage: Alle Typ 2 Diabetiker. Bei wem sind medikamentöse Maßnahmen zusätzlich erforderlich Patienten, bei denen nach 12 Wochen das individuell vereinbarte Therapieziel nicht erreichen wurde Diabetiker mit bereits bestehenden Folgeerkrankungen und Komplikationen Diabetiker mit massiv erhöhten BZ-Werten und klinischen Symptomen (Entgleisung) Konzept für die Therapieanpassung Wenn durch eine Gewichtsreduktion die individuellen Therapieziele erreicht werden, können die lebensstilmodifizierenden Maßnahmen alleine in dieser Form fortgeführt werden. Eine Gewichtsabnahme von 5 kg lässt eine Verbesserung des HbA1c-Wertes um 1% erwarten [157]. Bei Nichtumsetzen der lebensstilmodifizierenden Maßnahmen verschlechtert sich die Prognose; deshalb sollte rasch eine medikamentöse Therapie eingeleitet werden. Zusätzlich zu den lebensstilmodifizierenden Maßnahmen werden zunächst orale Antidiabetika (auch in Kombination) eingesetzt, bei Nichterreichen der individuellen Therapieziele eine kombinierte Therapie von OAD und Insulin bishin zur alleinigen Insulintherapie. Körperliche Aktivität Körperliche Aktivität erhöht die Sensitivität für Insulin und führt zu einer Senkung des HbA1c-Wertes [23, 155]. Empfohlen werden Ausdauersportarten (z. B. Schwimmen, schnelles Gehen) für 30 Minuten drei- bis fünfmal wöchentlich [23]. Entgegen früherer Annahmen genügen im höheren Alter regelmäßige Spaziergänge von etwa einer Stunde pro Tag, um Stoffwechsel und Kreislauf signifikant zu verbessern. 21 Seite 36 KVH • aktuell Nr. 4 / 2007 Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 Ì Diabetiker mit lebensstilmodifizierenden Maßnahmen (Fortsetzung) Prinzipien der Ernährung bei Diabetes Für die Ernährung des Typ-2-Diabetikers gelten die folgenden Kostempfehlungen: Da die meisten Diabetiker übergewichtig sind, empfiehlt die Leitliniengruppe eine kalorienreduzierte ausgewogene mediterrane Kost. Kohlenhydrate: Hier ist auf den glykämischen Index – d. h. nach der Eigenschaft, eine postprandiale (Hyper-)Glykämie hervorzurufen – zu achten (s. Anhang). Weißmehlerzeugnisse sind durch Produkte zu ersetzen, die einen hohen Anteil ganzer Getreidekörner enthalten (Vollkornbrot, Frischkornmüsli). Frisches Obst ist dem Verzehr von Konserven oder Säften vorzuziehen. Weintrauben, Bananen und Kirschen vermeiden. Fette: 30 bis 35%: Fettarme Ernährung mit Bevorzugung der einfach ungesättigten Fettsäuren. Der Verzehr von Eiweiß und Fett führt im Rahmen einer normalen Ernährung nicht zu einem Anstieg der Blutglukosekonzentration. Gehärtete Fette, insbesondere Transfette, sind zu meiden. In vielen Fertigprodukten sind gehärtete Fette enthalten (Margarine, Kekse, Pommes). Empfehlenswert sind Olivenöl und Rapsöl wegen hohen Gehalts an Omega-3Fettsäuren. Alkoholeinschränkung: Maximal 30 g bei Männern und 15 g bei Frauen Keine Favorisierung sogenannter »Diätnahrungsmittel« mit Austauschzuckern Anstreben des Normgewichtes BMI männlich < 25 kg/m² / weiblich < 24 kg/m² Schlanke Typ-2-Diabetiker sollten die Kohlenhydrataufnahme auf mehrere kleine Mahlzeiten verteilen. Beachte: Patienten, die allein mit lebensstilmodifizierenden Maßnahmen (oder mit oralen Antidiabetika) geführt werden, können auf eine energiedefinierte – auf die Lebenssituation des Patienten abgestimmte – Diabeteskost eingestellt werden. Nur bei mit Kombinationsinsulin behandelten Diabetikern empfiehlt sich eine Verteilung der Kohlenhydrate nach definierten KohlehydratPortionen (BE, KE, KHE). Patienten, die mit Sulfonylharnstoffen oder Gliniden therapiert werden sollen, müssen über die Notwendigkeit der regelmaßigen Aufnahme von Kohlenhydraten informiert werden. 22 Nr. 4 / 2007 KVH • aktuell Seite 37 Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 Ì Diabetiker mit oralen Antidiabetika Ì Therapie bei Übergewicht Wer kommt in Frage Mit der nächsten Stufe der Therapie, der Gabe von oralen Antidiabetika (OAD), sollte begonnen werden, wenn nach 12 Wochen trotz Ausschöpfung aller lebensstilmodifizierender Maßnahmen die individuellen Therapieziele nicht erreicht wurden. Zur Gruppe der oralen Antidiabetika zählen: Nicht-Insulinotrope Antidiabetika: Biguanide (Metformin) Glitazone (Pioglitazon, Rosiglitazon) Alpha-Glukosidasehemmer (Acarbose, Miglitol) Insulinotrope Antidiabetika: Sulfonylharnstoff-Derivate (Glibenclamid, Glimepirid) Glinide (Repaglinide, Nateglinide) Inkretine / Dipeptidyl-Peptidasehemmer Therapiemöglichkeiten mit OAD Bei Übergewicht: Primär Einsatz von Metformin bei Fehlen von Kontraindikationen [159] {A}; HbA1c-Absenkung: 0,6-1,5% [159]. Cave: Nebenwirkungen (s. u.). Einnahme zu oder nach der Mahlzeit, bei hohem Nüchtern-BZ. Bed-time-dosis erwägen; bei erhöhten postprandialen Werten zusätzlich (morgendliche) Gabe. Beginn mit 500 mg. Eine Dosierung 2 mal 1 g/d zeigt die stärkste antihyperglykämische Wirkung, eine Metformin-Tagesdosis von > 2 g geht dagegen wieder mit abnehmender antihyperglykämischer Wirkung einher [55]. Bei Nichterreichen des Therapiezieles gibt es folgende Möglichkeiten: Kombination von Metformin mit Insulin [52, 117]. Beibehaltung von Metformin bei insulinpflichtigen Typ-2-Diabetikern kann eine Ersparnis der Insulindosis um 20% zur Folge haben, so dass sich diese Therapieoption bei adipösen, insulinpflichtigen Patienten anbietet [170]. Glitazonen (nur bei Krankheitsdauer unter 5 Jahren sinnvoll; Cave: Entwicklung einer Herzinsuffizienz unter Therapie [10, 48] (s. u.)). Gliniden (keine Endpunktstudien) Sulfonylharnstoffen [77]. Zur Beurteilung der Sicherheit der Kombination liegen keine ausreichenden Studien vor. Die Kombination Metformin/Glibenclamid sollte bei KHK nicht angewendet werden [35, 159]. Alpha-Glukosidasehemmern (wenig effektiv) Inkretin-Mimetika: Exenatide (seit 1.4.2007 zugelassen für Kombination mit Metformin und/oder Sulfonylharnstoffen, wenn keine gute BZ-Einstellung erreichbar ist); 2x tägl. subkutane Injektion vor den Mahlzeiten. Noch keine Risiko-Nutzen-Abwägung möglich. Cave: Hypoglykämien! Sitagliptin (DPP-4-Inhibitor, seit 21.03.07 durch EMEA zugelassen) zur Anwendung in Kombination mit Metformin oder Glitazonen zugelassen. 100 mg oral täglich. Noch keine RisikoNutzen-Abwägung möglich. Empfehlung der Leitliniengruppe: Bei Nichterreichen des Therapiezieles: Kombination mit Insulin oder Umstellung auf Insulin. 23 Seite 38 KVH • aktuell Nr. 4 / 2007 Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 Ì Diabetiker mit oralen Antidiabetika Ì Therapie bei Normalgewicht Bei Normalgewicht: Primär Einsatz von Glibenclamid [161] {A}. HbA1c-Absenkung: 0,7-0,85%. Einnahmezeitpunkt: 30 Min vor dem Frühstück, einschleichend mit möglichst niedriger Dosis beginnen; ggf. schrittweise Steigerung auf morgens 7 mg und abends 3,5 mg; max. Tagesdosis 10,5 mg. Glibenclamideinzeldosen größer als 2 x 3,5 mg sind wenig sinnvoll, da sie nicht unbedingt mit höherer metabolischer Wirksamkeit verbunden sind, sondern die Gefahr der Substanzspeicherung und somit höhere Nebenwirkungs- bzw. Hypoglykämiegefährdung für den Patienten bergen [116]. Bei Nichterreichen des Therapiezieles gibt es folgende Möglichkeiten: Umstellung auf Insulin Kombination von Glibenclamid mit Glitazonen: nur bei Krankheitsdauer unter 5 Jahren sinnvoll; Cave. Entwicklung einer Herzinsuffizienz unter Therapie, [10, 48] s. u Empfehlung der Leitliniengruppe: Bei Nichterreichen der Therapieziele allein mit Glibenclamid: sofortiges Umstellen auf Insulin Fazit: Eine Kombination von zwei oralen Antidiabetika ist möglich Eine Kombination von mehr als zwei oralen Antidiabetika sollte in der Regel nicht erfolgen, da keine bessere Stoffwechseleinstellung erreichbar ist. Glibenclamid hat ein ausgeprägtes Hypoglykämie-Risiko. Höheres Alter, Niereninsuffizienz, Alkohol sowie Interaktion mit anderen Arzneimitteln können das Hypoglykämie-Risiko erhöhen [12]. Bei Patienten mit Niereninsuffizienz ist möglichst frühzeitig auf eine Insulintherapie umzustellen. 24 Nr. 4 / 2007 KVH • aktuell Seite 39 Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 Ì Diabetiker mit oralen Antidiabetika Andere orale Therapieformen Monotherapie mit Glimepirid: Gleicher Wirkungsmechanismus wie Glibenclamid. Es werden weniger Hypoglykämien und eine geringere Gewichtszunahme postuliert. Durch Studienlage nicht gesichert. Empfehlung der Leitliniengruppe: Glibenclamid ist Mittel der ersten Wahl. Monotherapie mit Glitazonen: Für übergewichtige Patienten mit Kontraindikation oder Unverträglichkeit von Metformin. Häufige NW: Gewichtszunahme! Durch die PROACTIVEStudie konnte der klinische Nutzen von Pioglitazon nicht belegt werden [48]. Aufgrund der höheren Herzinsuffizienzrate ist die Sicherheit des Antidiabetikums zweifelhaft (NNH 30, NNT 50 [10]). Ebenso besteht der Verdacht auf ein erhöhtes Frakturrisiko bei Frauen unter Glitazonen [11]. Empfehlung der Leitliniengruppe: Primär Insulin, falls nicht möglich, Therapieversuch mit Glitazonen unter strengster Überwachung. Monotherapie mit Gliniden: eher seltene hausärztliche Indikation; z. B. bei (geriatrischen) Patienten mit unregelmäßigem Essverhalten. Keine Endpunktstudien. Empfehlung der Leitliniengruppe: zurückhaltende Einzelfallentscheidung. Monotherapie mit Alphaglucosidasehemmern: Bei UKPDS 44 [71] konnte gezeigt werden, dass nach drei Jahren Therapie deutlich mehr Patienten mit Acarbose (39% vs. 58%) die Therapie abgebrochen hatten, überwiegend wegen Blähungen. Die mittlere HbA1c Senkung bei Patienten mit Compliance lag bei 0,5%. Es kam zu keiner Veränderung diabetesbezogener Endpunkte. Eine weitere Studie [29, 31] postuliert für die Acarbose eine Risikoreduktion für die Entwicklung eines Diabetes, eines Bluthochdrucks und einer KHK durch Absenkung der postprandialen Blutzuckerspitzen. Die Studie ist jedoch wegen hoher Studienabbrüche (305) und problematischer Verblindung der Studienteilnehmer sowie Änderung der Endpunkte während der Durchführung in die Diskussion geraten [83]. Es fehlen aussagekräftige Studien zur Wirksamkeit und Nutzen einer Acarbosebehandlung [165]. Empfehlung der Leitliniengruppe: Eine Therapie wird nicht empfohlen. 25 Seite 40 KVH • aktuell Nr. 4 / 2007 Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 Ì Diabetiker mit Insulinbehandlung Indikation für den Beginn einer Insulintherapie Nicht-Erreichen des individuellen Therapieziels, durch Basistherapie und/oder orale Antidiabetika. Zwingende Insulin-Indikation bei Ketonurie (außer Hungerazetonurie), fortschreitenden diabetesspezifischen Komplikationen, perioperativ (in Abhängigkeit von der Art des Eingriffs). bei Diabetikerinnen mit Schwangerschaft (falls Normoglykämie durch Basistherapie nicht erreicht wird). Voraussetzung für die Ersteinstellung auf Insulin Nach Möglichkeit sollte die Einstellung ambulant erfolgen. Die Ersteinstellung sollte von einem Arzt vorgenommen werden, der mit seinem Team die notwendigen Voraussetzungen (obligatorische Schulungend des Patienten bzw. Angehörigen) bietet. Bei Fehlen dieser Voraussetzungen sollte immer in eine diabetologische Schwerpunktpraxis oder ein ambulantes Diabeteszentrum zur Einstellung und Schulung überwiesen werden. Regelmäßige Blutglukose-Selbstkontrollen sind bei Insulintherapie stets erforderlich. Selbstmanagement der Hypoglykämie muss gewährleistet sein, ebenso ausreichend häufige Messungen und ärztliche Konsultationen. Die Vorstellung in einer Schwerpunktpraxis ist indiziert bei: Nichterreichen des individuellen Therapiezieles nach 3 bis 6 Monaten Häufigen Hypoglykämien 26 Nr. 4 / 2007 KVH • aktuell Seite 41 Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 Ì Diabetiker mit Insulinbehandlung (Fortsetzung) Die Insulintherapie beim Typ-2-Diabetiker Durch die Gabe von Insulin wird ein relativer Insulinmangel korrigiert und eine Insulinresistenz überwunden. Folgende Insulinregime ergeben sich bei Nichterreichen des definierten Therapiezielbereichs unter OAD [35, 51, 52, 131]: BOT: (= basal unterstützte orale Therapie) Basalinsulin vor dem Schlafengehen unter Beibehaltung der oralen Antidiabetika. Indikation: erhöhte BZ-Nüchternwerte bei normalen postprandialen BZ-Werten Vorgehensweise: Die Dosisanpassung des abendlichen Insulins sollte sich am morgendlichen Nüchternblutzucker orientieren: z. B. Beginn mit 6-8 IE NPH-(Neutrales Protamin Hagedorn) Insulin um 22 Uhr; schrittweise Erhöhung der Insulindosis alle drei Tage um 2 Einheiten, bis der Nüchternblutzucker im Zielbereich (z. B. 100-120 mg%) liegt. Nächtliche Hypoglykämien sollten durch gelegentliche (insbesondere zu Beginn) BZ-Messungen zwischen 2 und 3 Uhr, dem Zeitpunkt der größten Insulinsensitivität, ausgeschlossen werden (evtl. Wecker stellen). Die orale Medikation am Tage sollte zunächst beibehalten werden. Prandiale Insulintherapie mit kurzwirkenden Insulinen vor den Hauptmahlzeiten (ohne Basalinsulin); ggf. mit Metformin kombiniert. Zielgruppe/Indikation: adipöse Typ-2-Diabetiker mit gutem NBZ und postprandial erhöhten BZ-Werten. Vorgehensweise: Prandialen Insulinbedarf errechnen: Körpergewicht x 0,3 - 1 I.E. = Gesamtbedarf; vom Gesamtbedarf entfallen 50% auf die prandial zu injizierende Insulinmenge, üblicherweise aufgeteilt im Verhältnis 3/6 (Frühstück), 1/6 (mittags) und 2/6 (abends). Im weiteren Verlauf erfolgt die Insulinbedarfsberechnung evtl. mit BE-Faktoren. Bei Auftreten von erhöhten Nüchternblutzuckerwerten wird die Einleitung einer intensivierten Insulintherapie empfohlen. Intensivierte konventionelle Insulintherapie (ICT): Trennung von mahlzeitenabhängigem Bolus- und mahlzeitenunabhängigem Basalinsulin. Die ICT orientiert sich an den physiologischen Verhältnissen, indem sie durch Gabe von Basalinsulin die basale Insulinsekretion und durch die Gabe von schnellwirkendem Mahlzeiteninsulin die prandiale Insulinsekretion nachbildet. Die ICT erlaubt eine Anpassung an unregelmäßige Nahrungsaufnahme und Bewegung. Zielgruppe jeder gut schulbare Typ-2-Diabetiker, dessen Therapieziele nicht durch allgemeine Maßnahmen und OAD erreicht werden. Vorgehensweise: wie prandiale Insulintherapie sowie zusätzliche Gabe von Verzögerungsinsulin zur Nacht (ggf. auch morgens). Klinische Studien zeigen, dass mit einer intensivierten Insulinbehandlung das Risiko mikrovaskulärer Komplikationen und der Neuropathie sowie das Hypoglykämie-Risiko im Vergleich zur konventionellen Therapie vermindert werden kann [42, 43]. 27 Seite 42 KVH • aktuell Nr. 4 / 2007 Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 Ì Diabetiker mit Insulinbehandlung (Fortsetzung) Sind die bisher dargestellten Theapieregime nicht möglich (z. B. fehlende Adherenz), kann die konventionelle Insulintherapie durchgeführt werden. Konventionelle Insulintherapie (CT): In der Regel Gabe von 2 Insulininjektionen pro Tag (früh und abends), zumeist mit Mischinsulinen. Die CT entspricht nicht einer physiologischen Insulinausschüttung. Sind bei einer CT mehr als 24 IE Insulin pro Injektion erforderlich, ist eine Umstellung auf eine Intensivierte Insulintherapie (ICT, s. o.) zu erwägen. Zielgruppe/Indikation: bei Patienten, bei denen ICT nicht durchführbar ist. Vorgehensweise: In der Regel wird zweimal, gelegentlich dreimal täglich vor den Mahlzeiten ein Mischinsulin gespritzt. Zur Verfügung ste- hen Mischinsuline mit 25% bzw. 30% Anteil an Kurzzeit- und 70%-75% Langzeitinsulin oder auch 50% Kurzzeit- und 50% Langzeitinsulin. Die Auswahl erfolgt in Abhängigkeit vom Blutzuckertagesprofil und Therapieeffekt. Nachteil – und deshalb von der Leitliniengruppe nicht empfohlen – ist hierbei das starre Insulinregime ohne Anpassungsmöglichkeiten durch den Patienten und die Notwendigkeit der Einhaltung von Zwischenmahlzeiten. Initial kann man z. B. mit 8-12 IE beginnen (entsprechend dem NBZ) und langsam, z. B. alle 3 Tage, um 2 IE steigern, bis die gewünschten BZ-Werte erreicht sind. Das Verhältnis von Morgendosis zur Abenddosis sollte etwa 2 zu 1 sein (2/3 morgens, 1/3 abends) [124]. 28 Nr. 4 / 2007 KVH • aktuell Seite 43 Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 Ì Hinweise zur Insulintherapie Zur Einstellung werden Human-Insuline eingesetzt, z. B.: Kurzwirkend (2-8h): Actrapid®. Berlinsulin® H Normal, Huminsulin® Normal, Insulin B. Braun ratiopharm® Rapid, Insuman® Rapid, Insuman® Infusat, Velosulin® Intermediär wirkend (max 24h): Actraphane®, Berlinsulin® H, Huminsulin Basal®, Huminsulin Profil®, Insulin B. Braun ratiopharm® Basal, Insulin B. Braun ratiopharm® Comb, Insuman® Basal, Insuman® Comb, Protaphane® In Ausnahmefällen (Unverträglichkeiten, Allergien) können Insulin-Analoga verordnet werden. Es liegen keine Endpunktstudien vor, die klinisch relevante Vorteile belegen (zit. nach [79], s. auch [9, 74, 124]). In Deutschland sind zur Zeit folgende Analoga im Handel: Kurzwirkende Insulin-Analoga (Wirkdauer 25 h). Insulin glulisin = Apidra®; Insulin lispro = HUMALOG®, Liprolog®, Insulin aspartat = NovoRapid® Intermediär (max. 24h): Insulin lispro (Humalog®; mit NPH-Insulin kombininiert: HumalogMix®, LiprologMix®), Insulin aspart (NovoRapid®; mit NPH-Insulin kombiniert: NovoMix®), Insulin detemir (Levemir®) Langwirkend (24h): Insulin glargin (Lantus®) Inhalierbare Insuline sind verfügbar, können aber für die hausärztliche Versorgung nicht empfohlen werden. Die Datenlage ist unsicher, die Langzeitwirkung auf die Lunge kann noch nicht abgeschätzt werden. Patienten mit Asthma und COPD sowie Raucher dürfen nicht damit behandelt werden [125]. Die Basalinsulininjektion wird nicht ersetzt, auch die Blutzuckermessung muss durchgeführt werden. Das Präparat kann zur Zeit nicht zu Lasten der GKV verordnet werden. Die Applikation des Insulins sollte heute mit Insulin-Pens erfolgen. Sie sind in der Dosierung genauer und verursachen gegenüber den Einmal-Insulinspritzen weniger Fehler. Durchführung korrekter Insulininjektion NPH- und Mischinsuline ausreichend schwenken (ca. 20 x hin- und herbewegen) In angehobenen Hautwulst in einem Winkel von 45-90 Grad injizieren; nach langsamer Injektion Nadel noch ca. 10 Sek. stecken lassen, damit sich das Insulin besser verteilt und die Dosis vollständig verabreicht wird. Injektionsstellen innerhalb der Areale wechseln. Schnell wirkende Insuline in die Bauchdecke injizieren (wird schneller resorbiert [44]. Verzögerungsinsuline in Vorder- und Außenseite von Oberschenkel, Mischinsuline morgens in die Bauchdecke, abends in Oberschenkel injizieren. Um bei größeren Injektionsvolumina (größer 40 IE) eine bessere Wirkung zu erreichen, sollten die Patienten die Dosis teilen und 2 x spritzen. Bei adipösen Patienten die längste Nadel verwenden. 29 Seite 44 KVH • aktuell Nr. 4 / 2007 Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 Ì Hinweise zur Insulintherapie (Fortsetzung) Beachte Nach einer Gabe von Normalinsulin ist eine Nachinjektion frühestens vier Stunden, bei schnell wirkenden Insulinanaloga frühestens zwei bis drei Stunden nach dem letzten Bolus sinnvoll. Mischinsuline sollten nur noch in Ausnahmefällen eingesetzt werden wegen des höheren Hypoglykämierisikos und der unphysiologischen Wirkungsweise. Nach Verbesserung der Blutzuckereinstellung kann der Insulinbedarf zurückgehen. Bei Fernreisen: Medikamentenbegleitblatt [s. www.akdae.de]. Gewichtszunahme. Mit Ausnahme von Metformin ist bei allen Antidiabetika mit Gewichtszunahme zu rechnen. Patient ist darüber aufzuklären! Einstellungsprobleme und Korrektur morgendlicher Hyperglykämien [124] Reaktive Hyperglykämie am Morgen durch nächtliche Hypoglykämie ausschließen (BZMessung nachts zwischen 2 und 3 Uhr). Bei zu hoher abendlicher Insulindosis diese verringern. Falls nächtliche Hypoglykämie ausgeschlossen ist, kann die nächtliche Glukoneogenese durch eine abendliche Insulingabe (um 22 Uhr) oder durch Metformin reduziert werden. Cave: Hypoglykämie bei Gastroparese mit verzögerter Nahrungsresorption (tritt bei 30% bis 50% der Typ-1- und Typ-2-Diabetiker auf [145]): In diesem Fall ist es erforderlich, den Spritz-Ess-Abstand anzupassen, ggf. Normalinsuline nach der Mahlzeit spritzen. Anpassung der Insulintherapie Patient ist vorübergehend nicht mobil (z. B. Oberschenkelhalsbruch): Häufigere BZ-Kontrollen, Insulinbedarf steigt Bei interkurrenten Erkrankungen häufigere BZKontrollen und ggf. Dosisanpassung Patient steigert – ungewohnterweise – seine körperliche Aktivität (z. B. Wandern, Gartenarbeiten): Bei schlecht eingestellten Patienten kann es durch Gegenregulationen der Insulinantagonisten zu einer Verschlechterung der BZWerte kommen. Bei regelmäßiger körperlicher Tätigkeit fällt die Blutzuckersenkung milder aus, ungewohnte körperliche Aktivität führt zu rascher Blutzuckersenkung mit Gefahr von Hypoglykämien [88]: stündlich kleine Mahlzeiten, evtl. Insulindosis reduzieren {C} Spritz-Ess-Abstand Es muss kein Spritz-Ess-Abstand eingehalten werden. Die vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) genehmigten Fachinformationen zu den in Deutschland zugelassenen Humaninsulinen enthalten keine Empfehlung, dass ein bestimmter Spritz-EssAbstand eingehalten werden muss. Es gibt folglich in Bezug auf den Spritz-Ess-Abstand keinen Vorteil für kurzwirksame Insulinanaloga. Bei Patienten in Alten- und Pflegeheimen, die gefüttert werden, sollte aus Sicherheitsgründen das Insulin erst nach dem Essen gespritzt werden, wenn die aufgenommene Kohlenhydratmenge bekannt ist [124]. 30 Nr. 4 / 2007 KVH • aktuell Seite 45 Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 Ì Besonderheiten der Behandlung bei alten Diabetikern Ì Besonderheiten bei Patienten in Pflege Mehr als 2/3 aller Diabetiker in Deutschland sind älter als 60 Jahre und nahezu ein Viertel der 75-80 Jährigen leidet an Diabetes. Auch für den älteren Patienten und unabhängig vom Diabetestyp und Alter gilt vor allem wegen der Lebensqualität und nicht wegen des Outcomes die Grundregel: Normnahe Stoffwechsel- und Blutdruckwerte sind anzustreben und prinzipiell erreichbar. Allerdings müssen doch einige Besonderheiten beachtet werden. Globales Ziel: Förderung und Erhalt der Lebensqualität. Ein Abweichen vom Ziel »normnahe Stoffwechselwerte« sollte nur bei schlechter Prognose bzw. kurzer Lebenserwartung des Patienten toleriert werden. Dann gelten als Therapieziele: Vermeidung von Hypoglykämie und Glukosurie. Das Therapieziel ist an folgende individuelle Bedingungen anzupassen [61]: Lebensqualität, Lebenserwartung, Bildungsgrad, Lebenssituation, kognitive und körperliche Fähigkeiten sowie vorhandene oder zu erwartende Komplikationen und Begleiterkrankungen. Auch religiöse/ethische Aspekte sind in die Entscheidung einzubeziehen. Möglichkeiten und Bereitschaft des Patienten zur Mitarbeit und Umsetzung der Therapie (kognitive, affektive und feinmotorische Beeinträchtigungen) Berücksichtigung der gesamten Medikation des Patienten (Wechselwirkungen/UAW-Gefahr) Unterstützung des Patienten durch Angehörige und soziales Umfeld Biologisches Alter. Eine Leistungsinsuffizienz (z. B. Störungen des Sehvermögens, Gedächtnisstörungen etc.) sollte durch geeignete Bezugspersonen (Familienangehörige, Bekannte, pflegerisches Personal) kompensiert werden, um das Therapieziel zu erreichen. Im Gegensatz zu landläufiger Auffassung akzeptieren gerade ältere Patienten in hohem Maße intensive Therapieformen (z. B. ICT), weil durch die Besserung der körperlichen und geistigen Grundfunktionen ihr Zugewinn an Lebensqualität besonders intensiv empfunden wird. Jeder Arzt sollte deshalb seinen Beitrag zur Motivation leisten. Multimorbidität erfordert die Anwendung der jeweils effektivsten Therapieformen. Auch ältere Patienten sollten gut eingestellt werden. Sowohl eine gute Stoffwechsel- als auch Blutdruckeinstellung sind notwendig. Empfehlung: Gut steuerbare orale und Insulintherapieformen (s. u.). Zur Förderung und zum Erhalt der Lebensqualität gehört es auch, Komplikationen zu verhindern (zur Therapie s. w. u.). Unverzichtbar ist deswegen ein Basis-Assessment. Hierfür gibt es standardisierte Testverfahren (s. LL Alter). Für den alten Patienten gelten die gleichen Therapieziele wie für die Jüngeren, es sei denn, ein zu strenges Regime schränkt die Lebensqualität ein (z. B. Hypoglykämie). Diabetische und geriatrische potenzieren sich häufig: Komplikationen Diabetische Polyneuropathien erschweren die Handhabung von Medikamentenpackungen, Blutzuckermeßgeräten und Insulinapplikatoren. Hier gibt es bereits entsprechende Produkte für den älteren Menschen. Eine evtl. vorhandene Ataxie erhöht das Sturzrisiko (Diabetiker haben ein 1,6 fach erhöhtes Sturzrisiko [172]). Hautveränderungen,schlechte Durchblutung, Fußdeformierungen verstärken eine vorhandene Immobilität. 31 Seite 46 KVH • aktuell Nr. 4 / 2007 Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 Ì Besonderheiten der Behandlung bei alten Diabetikern (Fortsetzung) Ì Besonderheiten bei Patienten in Pflege (Fortsetzung) Anhaltende neuropathische Schmerzen beeinflussen ebenfalls erheblich die Lebensqualität. Harninkontinenz Harnwegsinfektionen, neurogene Blasenfunktionsschwäche und eingeschränkte Mobilität können zur Inkontinenz beitragen. Depression Ältere Diabetiker haben ein erhöhtes Risiko für Depression, wodurch die Compliance erschwert wird – hier sollte man rasch intervenieren. Besonderheiten bei der Therapie: [24, 172] Als Basistherapie wird auch bei älteren Menschen entsprechend den Möglichkeiten ein Bewegungstraining empfohlen. Insbesondere ein Kraft- und Balancetraining ist zur Sturzprophylaxe sinnvoll. Bei der Ernährung ist insbesondere bei geriatrischen Patienten auf Fehlernährung zu achten; praktische einfache Empfehlungen sind erforderlich (z. B. eine Hand voll Obst oder Gemüse pro Mahlzeit). Die Kaufunktion ist zu beachten: Paradontitis tritt bei Diabetikern gehäuft auf und sollte behandelt werden. Patientenschulung Mittlerweile gibt es ein speziell für alte Diabetiker entwickeltes strukturiertes Schulungsprogramm [174], das konkret umsetzbares Basiswissen vermittelt und mit Wiederholungen arbeitet. Medikamentöse Therapie Funktionseinschränkungen verschiedener Organe limitieren den Einsatz vieler oraler Antidiabetika. Kritisch können sein: Insulinotrope Pharmaka mit langer biologischer Halbwertszeit und nichtinsulinotrope Pharmaka mit ausgeprägtem Ne- benwirkungsprofil bei vorbestehenden schweren Organinsuffizienzen (Niere, Leber, HerzKreislaufsystem und Darm) z. B. Hypoglykämiegefahr und Niereninsuffizienz bei Sulfonylharnstoffen, Hypoglykämie bei Gliniden, Herzinsuffizienz bei Glitazonen. Empfehlung: Metformin ist ein wirksames Medikament bei älteren Patienten mit Kriterien für das metabolische Syndrom. Es gibt keinen Grund für einen alterslimitierten Einsatz. Zu beachten sind vorhandene Kontraindikationen, die sich auch schleichend (z. B. Herzinsuffizienz) und sporadisch (z. B. kompensierte Niereninsuffizienz bei Exsikkose) einstellen können. Bei längerfristiger Therapie muss die regelmäßige Beobachtung des Patienten hinsichtlich des Neuauftretens von Kontraindikationen gewährleistet sein. Eine Insulintherapie ist auch bei älteren Patienten indiziert, wenn das individuelle Therapieziel mit OAD nicht erreicht wird. Bei Patienten, die unregelmäßig essen, ist manchmal eine Insulintherapie (mit Spritzen nach dem Essen) besser zu handhaben. Um Hypoglykämien zu vermeiden, sollte für die Altenpflegerin ein Injektionsplan erstellt werden, der sich auf die Nahrungsaufnahme, bzw. auf die Menge an aufgenommenen Kohlenhydraten bezieht. Ständige Blutzuckerkontrollen sind dabei nicht notwendig. Zu beachten ist auch hier, dass bei fortschreitender Niereninsuffizienz der Insulinabbau verzögert wird und entsprechend niedrigere Insulindosen erforderlich werden. Ein Geldzähltest nach Nikolaus (»Zählen eines Betrags z. B. 9,80€ in Scheinen und Münzen in festgelegter Zeit«) [172, 173] kann bei der Entscheidung helfen, ob die Alltagskompetenzen eines alten Menschen ausreichen, selbst spritzen zu können. 33 Nr. 4 / 2007 KVH • aktuell Seite 47 Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 Ì Nicht medikamentöse Maßnahmen Ì Arzneitherapie zur Blutzuckersenkung Maßnahmen, die der Arzneitherapie vorangehen oder diese unterstützen Gewichtsreduktion [115] {B}, [157] {A} Bewegung [115] {B}, [23] {A} [155, 157] Ernährungsumstellung [115] {B} Nikotinverzicht Gesundheits-Pass Diabetes [56] Angebot von strukturierten Schulungen, Wiederholungsschulung im Allgemeinen in 3-jährigem Abstand Schulung zur Stoffwechselselbstkontrolle [25] Vereinbarung von Therapiezielen und Kontrollterminen, z. B. jährliche augenärztliche Untersuchung [87], mind. halbjährliche Fußuntersuchung Arzneitherapie Metformin: Nutzen gut belegt bei Übergewichtigen [159] {A} max. 2 x 1000 mg, ղU Sulfonylharnstoffe: Nutzen gut belegt bei Normalgewichtigen [161] {A}, Mittel zweiter Wahl bei Übergewichtigen, max. bis 10,5 mg/Tag Glibenclamid ղU Insulin: Rechtzeitige Umstellung von OAD nach individuellen Gegebenheiten ղU Acarbose (Datenlage umstritten) [83, 165] ղV Glinide (bisher keine Endpunktstudie) ղA Glitazone (Risiko der Herzinsuffizienz, Erhöhung der Spontanfrakturrate bei Frauen, unbegrenzte Gewichtszunahme) [10, 48] ղV nach Meinung der Leitliniengruppe bei Multimorbidität und Multimedikation ..: ղU = unverzichtbar ղV = verzichtbar ղA = abzuwägen 34 KVH • aktuell Seite 48 Nr. 4 / 2007 Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 Ì Management der Hyperglykämie nicht medikamentöse Therapie (Gewichtsreduktion, Therapie fortsetzen körperliche Betätigung, Schulung) ja Therapieziel erreicht? nein ja Kontraindikation gegen Metformin? nein body mass index > 25 kg/m²? ja ja nein Therapie fortsetzen ja nein Metformin Therapieziel erreicht? Zeichen einer koronaren Herzkrankheit? Glibenclamid nein nein Insulin ja Therapieziel erreicht? Therapie fortsetzen ja Therapieziel erreicht? nein Weiterleitung an Schwerpunktpraxis/ -einrichtung erwägen Quelle: Krones, John, Sawicki 2003: 60 [91] Anmerkung: Bei Nichterreichen der Therapieziele mit Metformin bzw. Glibenclamid gibt es neben der hier vorgestellten Option, Insulin zu wählen, noch die Möglichkeit, Glinide, Glitazone oder Acarbose einzusetzen. Die Leitliniengruppe empfiehlt diese Therapieoption nur im Ausnahmefall. 35 Nr. 4 / 2007 KVH • aktuell Seite 49 Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 Ì Allgemeine Therapiehinweise Ì Diabetes und Depression Jährliche augenärztliche Untersuchung (Befundbericht einfordern) [87]. 2-mal jährliche Fußuntersuchung, z. B. bei Blutwertkontrollen, Check-Up und DMP-Untersuchungen. Patienten sind auf die Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen hinzuweisen (s. Anhang). Regelmäßige Mikroalbuminteste ermöglichen die Diagnose der diabetischen Nephropathie in einem frühen, reversiblen Stadium (zur Durchführung s. Abschnitt diabetische Nephropathie). Die Untersuchung des Urins auf Mikroalbumin ist beim Diabetiker sinnvoll {C}, auch wenn sie nicht routinemäßig in den DMPs gefordert wird (dort nur bei manifester Retinopathie). Sie gilt auch als empfindlicher Marker für das KHK Risiko. Diabetes und Depression Diabetiker weisen ein hohes Risiko für die Entwicklung einer Depression auf (drei bis vierfach höhere Prävalenz im Vergleich zu Nichtdiabetikern) [119]. Das Risiko, an einer Depression zu erkranken, steigt mit der Entwicklung und der Anzahl der diabetischen Spätkomplikationen [92, 119]. Umgekehrt haben auch Patienten mit einer Depression ein hohes Risiko an Diabetes zu erkranken. Eine Depression bei Diabetikern erhöht die Gefahr der Spätschäden, da mit einer geringeren Compliance, schlechterer Blutzuckereinstellung und geringerer aktiver Mitwirkung an der Therapie gerechnet werden muss. Die Depression wird oftmals nicht erkannt. Es besteht auch die Gefahr, dass Symptome einer schlechten Blutzuckereinstellung mit Anzeichen einer Depression verwechselt werden. Zentrales diagnostisches Instrument ist das Arzt-Patienten-Gespräch. Als Screening für depressive Störungen sollte der Arzt die depressive Stimmung (Niedergeschlagenheit, Hoffnungslosigkeit), den Verlust von Interesse und Freude sowie die Antriebsminderung erfragen [119]. Für ein Screening auf Depression hat sich in der Praxis besonders der sehr kurze Selbstbeurteilungsfragebögen (WHO 5 oder WHO 10, s auch Anhang) bewährt. Liegen Anzeichen für eine Depression vor, so ist immer die Suizidgefährdung des Patienten aktiv anzusprechen. Konsil und Mitbehandlung durch Spezialisten ist sinnvoll. Arzneimittelauswahl: Wirkstoffe einsetzen, die mit einem geringen Risiko für eine Gewichtszunahme einhergehen (z. B. Nortriptylin, Desipramin, SSRI). Trizyklische Antidepressiva und Antipsychotika (z. B. Olanzapin) sind zu vermeiden [92, 119]. 36 Seite 50 KVH • aktuell Nr. 4 / 2007 Anhang: Praxistipps Ì 14 Empfehlungen für Patienten Patienten-Empfehlungen zur Fuß-Pflege und -Kontrolle, zitiert nach [99] 72 Tischversion KVH • aktuell Seite 3 Venöse Thromboembolie Allgemeine Maßnahmen Medikamentöse Therapie Patienten mit frischer Oberschenkel- und Beckenvenenthrombose sind liegend stationär einzuweisen. Bei Unterschenkelthrombose unter adäquater Kompression viel Gehen. Ausreichend trinken. Gewichtsnormalisierung: Übergewicht stellt ein zusätzliches Risiko dar. Nikotinkarenz insbesondere bei KontrazeptivaEinnahme. Bei chronischem Verlauf: berufliche Beratung; kein langes Sitzen oder Stehen zur Vermeidung eines posttrombotischen Syndroms (PTS) und eines VTERezidivs. Tragen von Kompressionsstrümpfen (mind. Klasse II) tagsüber (Reduktion des postthrombotischen Syndroms bei 2-jähriger Therapie um 50%) {A}. Schwimmen, Gehen und Fahrradfahren nach Klinikentlassung und nach Akutphase empfehlen. Warmbäder vermeiden. Rezidivprophylaxe bei Risikosituationen (s.o) Patientenmerksatz: Sitzen und Stehen sind schlecht, lieber laufen oder liegen. Cave: Bei Heparintherapie an HIT (Heparininduzierte Thrombozytopenie) denken! D. h. Abfall der Thrombozytenwerte um mehr als 50% und/ oder neue thromboembolische Komplikationen vor allem zwischen dem 5. und 14. Tag sind verdächtig. Das Risiko für eine HIT ist bei niedermolekularen Heparinen gering. Eine Bestimmung der Thrombozyten vor Beginn der Heparintherapie ist erforderlich. Ab Tag 4 der Therapie sind regelmäßige Thrombozytenkontrollen/Blutbild alle 2-3 Tage erforderlich. Bei initial niedrigen Thrombozytenwerten an Pseudothrombozytopenie denken und Überprüfung mit Zitratblut vornehmen. Kontraindikationen für Vit-K-Antagonisten Krankheiten mit erhöhter Blutungsbereitschaft (z. B. Magen-Darm-Ulcera, Aneurysmata) Möglichst Beginn der Behandlung mit Vitamin KAntagonisten am 1. oder 2. Tag nach Diagnose unter Beachtung der Kontraindikationen. Heparin- und Phenprocoumontherapie sollten sich aufgrund unterschiedlicher Halbwertszeiten der Gerinnungsfaktoren solange überlappen, bis ein INR t 2,0 erreicht ist. Eine Sekundärprophylaxe mit niedermolekularem Heparin ist genauso effektiv, aber wesentlich teurer als eine Therapie mit Vitamin-K-Antagonisten. Für Patienten, für die eine Phenprocoumontherapie nicht infrage kommt, stellt diese Behandlung eine gute Alternative dar. Die Frage des optimalen niedermolekularen Heparins (NMH) und dessen Dosis ist ungeklärt. Fixierte und behandlungsrefraktäre Hypertonie (> 200/105 mmHg) Nach urologischen Operationen solange Makrohämaturie besteht Ausgedehnte offene Wunden Bekannte Überempfindlichkeit gegen den Wirkstoff Kavernöse Lungentuberkulose Abortus imminens, Schwangerschaft keine Kontraindikation: Menstruationsblutung Beachte: Korrekte Handhabung der Therapie durch Patienten sicherstellen! Falls Überbrückung der Antikoagulation notwendig wird: Nach Unterbrechung der oralen Antikoagulation Überbrückung der Antikoagulation ab INR < 2 mit therapeutischen Dosen unfraktionierter oder niedermolekularer Heparine (»Bridging«). Letzte Gabe der Heparine nicht später als 12 Stunden vor dem Eingriff. 12-24 Stunden postoperativ Heparintherapie weiterführen und bis INR > 2 fortführen. Korrespondenzadresse Ausführliche Leitlinie im Internet Hausärztliche Leitlinie PMV forschungsgruppe Fax: 0221-478-6766 Email: [email protected] http:\\www.pmvforschungsgruppe.de www.pmvforschungsgruppe.de > publikationen > leitlinien www.leitlinien.de/leitlinienanbieter/deutsch/pdf/ hessenvenenthrombose »Venöse Thromboembolien« Tischversion 1.0 November 2007 info.doc Verlag GbR, Pfingstbornstr. 38, 65207 Wiesbaden PVSt Deutsche Post AG, Entgelt bezahlt, 68689 Tischversion Tischversion Epidemiologische Studien zeigen einen Fettstoffwechselstörung Dyslipidämie von diätetischen Empfehlungen für (VTE) eine Zusammenhang Venöse Einhaltung Thromboembolie zwischen dem Auftreten von Herz-Kreislauferkrankungen und hohen Serumcholesterinwerten. Diese bzw. die Höhe der HDL-Adäquate und LDL-Werte stellen jedoch nur einen von Ziele: Behandlung der VTE; Vermeiden mehreren Risikofaktoren Vermeiden dar. Deshalbvon empfiehlt sich für einer Lungenembolie, Rezidivthromden Hausarzt bei Vorliegen einer Dyslipidämie die Einteilung bosen und des postthrombotischen Syndroms. in eine Risikogruppe anhand von systematischen Algorythmen oderVTE Scores PROCAM). Somit erfolgt eine Ätiologie: und(NCEP, erbliche oder vorübergehende Abschätzung des Risikos für kardiovaskuläre Ereignisse Risikofaktoren (10-Jahresrisiko) und zwischen darauf dievorübergehenden Festlegung der BehandMan unterscheidet Risikolungsstrategie mitchirurgische dem Patienten. Für die und Risikoeinstufung faktoren (z. B. Eingriffe) dauerhaften orientiert Leitliniengruppe Hessenwie an der folgenden Risiken sich (z. Bdieerbliche Thrombophilie Faktor-V-LeiEinteilung der NCEP (National Cholesterol Education den-Mutation) sowie Neoplasmen. Davon abzugrenProgram National Heart, Venenthrombose, Lung, and Blood Institute, zen ist des die idiopathische bei der http://www.nhlbi.nih.gov/guidelines/cholesterol/index.htm): keine thrombophile Störung und kein vorübergehender Risikofaktor zu eruieren sind. 1.anderer Hohes Risiko (10-Jahresrisiko über 20%): a) Bestehende koronare Herzkrankheit (KHK), b) KHK-Äquivalente, c) Diagnostik Diabetes mellitus, d) 2 oder mehr Risikofaktoren**: Bei VTE ungeklärter Ursache sollte 10-20%): immer nach einem 2. Mäßig hohes Risiko (10-Jahresrisiko 2 RisikoMalignom gesucht werden. faktoren* bei errechnetem Risiko**. Eine Thrombophilie3.Diagnostik ModeratesistRisiko (10-Jahresrisiko < 10%): bei jungen VTE-Patienten (< 2 50 RisikoJahre), aktoren* bei errechnetem Risiko**. Familienanamnese, bei bei Patienten mit positiver 4.Patienten Niedriges Risiko: Risikofaktor* mit 0-1 rezidivierenden VTE, bei VTE *Risikofaktoren: Zigaretten rauchen, Hypertonie, niedriges ungeklärter Ursache und bei Patientinnen mit HDL-Cholesterin unter 40mg/dl, familiäre Belastung mit rezidivierenden Aborten (Antiphospholipid-AK-Synvorzeitiger KHK, Alter (Männer über 45 Jahre, Frauen über drom) durchzuführen. 55 Jahre); **errechnetes Risiko: Bsp. mit PROCAM Score (s. Rückseite) oder elektronischem NCEP-Risikokalkulator Bei venöser Thromboembolie gilt Anmerkung: Diabetiker ohne KHK oder KHK-Äquivalente Die optimalen INR-Zielwerte zur Sekundärprophyund ohne zusätzliche Risikofaktoren profitieren bei einem laxe der venösen Thromboembolie liegen- zwischen LDL<115 mg/dL - laut der jetzigen Studienlage nicht von 2,0 und 2,5. einer Therapie mit einem CSE-Hemmer. Die Behandlungszeit beträgt bei erstem Ereignis im nach “International Task Force for Bereich des Unterschenkels, bedingt durch vorPrevention of Coronary Heart Disease”: übergehenden Risikofaktor, 3 Monate. Basis sind nichtmedikamentöse Maßnahmen, die auf eine Die Behandlungszeit beträgt bei allen anderen Veränderung des Lebensstils zielen: Venenthrombosen mindestens 6 Monate. Erhalten des normalen Körpergewichtes oder Gewichtsreduktion bei Übergewicht Therapieschritte Steigerung der körperlichen Aktivität „Herzgesunde Ernährung“ Nur mäßiger Konsum von Alkohol und Vermeidung von Nikotin Bei schwerer Thrombophilie (z. B. AntithrombinIndikationsstellung für eineFaktor-V-Leiden-Mutation, medikamentöse Therapie Mangel, homozygote Umfassende, unmittelbare Behandlung kombinierte Defekte) istmedikamentöse eine dauerhafte bzw. aller Patienten mit hohem Risiko (Gruppe 1: 10-Jahreslebenslange orale Antikoagulation unter Hinzurisiko >20%) und Spezialisten Anstreben eines LDL von 100 mg/dl. ziehung eines durchzuführen. Medikamentöse Therapie bei Patienten der Gruppe 2 und 3 nach individueller Entscheidung unter BerückWichtige Hinweise sichtigung der Lipidwerte und nach Erprobung lebensstilBei VTE immer die Familienanamnese bezüglich ändernder Maßnahmen. thromboembolischer Ereignisse erheben. Für Patienten der Risikogruppe 4 (0-1 Risikofaktor) sind Bei jungen Frauen mitMaßnahmen Thromboseimhormonelle lebensstilmodifizierende AllgemeinenKontrazeption überdenken, ggf. absetzen. Rauchen ausreichend. einstellen. Je nach Risikogruppe wird ein LDL von 100 mg/dL (Gruppe Die Compliance für oberschenkellange Kompres1), 130 mg/dL (Gruppe 2+3) bzw. 160 mg/dL (Gruppe 4) sionsstrümpfe ist häufig mangelhaft, besser knieangestrebt. lange Strümpfe (mind. Klasse II) tragen lassen als Arzneimittelauswahl: Es gar keine. sollten Wirkstoffe eingesetzt werden, für die Endpunktstudien mit günstiger NNT und NNH vorliegen (Simvastatin, in Pravastatin). Für Simvastatin (20 mg Rezidivprophylaxe Risikosituationen und 40 mg) und Pravastatin (40 mg) ist eine Senkung sowohl Nach Absetzen der oralen Antikoagulation müssen die der Gesamtmortalität auch kardiovaskulären Patienten unbedingtalsauf dieder Vorbeugung einer Mortaerneulität Bei Thromboembolie Multimorbidität und in Multimedikation sollte hindie tenbelegt. venösen Risikosituationen Indikation eine medikamentöse lipidsenkende Therapie gewiesenfürwerden: besonders streng gestellt werden. Vorübergehende Immobilität Merke: Längere Auto-/Bus-/Zugfahrten, Flugreise Bei medikamentöser Akute Infektionen Therapie: CK kontrollieren! (Rhabdomyolyse möglich!) Schwangerschaften Keine Kombinationstherapie CSE-Hemmer + Fibrate/ Makrolide/Azol-Antimykotika. Zur Rezidivprophylaxe geeignet sind die KompresWechselwirkungen auch mit anderen Medikamenten sionstherapie der unteren Extremitäten bzw. die möglich! Heparinisierung (niedermolekular, prophylaktische Bei Makrolidtherapie CSE-Hemmer pausieren! Dosierung). Statine vor chirurgischen Eingriffen und bei akut auftretenden schweren Erkrankungen vorübergehend absetzen! Auf Compliance achten, auf abendliche Einnahme des CSE-Hemmers hinweisen. Evidenzbasierte Patienteninformationen sind unter www.gesundheitsinformation.de abrufbar.