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agile – Behinderung und Politik
Ausgabe 2-08
Schwerpunkt:
«Er ist mein Ohr – ich bin sein Auge»
Selbsthilfe – die Kraft der Ergänzung
herausgegeben von AGILE Behinderten-Selbsthilfe
Schweiz
Behinderung und Politik 2/08
Inhaltsverzeichnis
Editorial
Selbsthilfe: Die Kraft der Ergänzung – und der Erneuerung ....................................... 4
Schwerpunkt
Ein CH-Power-Duo für AGILE .................................................................................... 5
Interview mit Angie Hagmann und Roger Cosandey
Die FTIA – ein Vorbild für die Selbsthilfe? ................................................................ 12
Von Lorenzo Giacolini
Selbsthilfe im Bereich der psychischen Behinderung ............................................... 14
Von Robert Joosten und Barbara Zbinden
Sozialpolitik
Sozialpolitische Rundschau ...................................................................................... 18
Von Ursula Schaffner
Wem ist die IV wie viel wert? .................................................................................... 22
Von Ursula Schaffner
Der Stachel im Fleisch .............................................................................................. 23
Von Ursula Schaffner
Assistenzbudget – Etwas für wenige? Etwas für alle!............................................... 25
Von Simone Leuenberger
Gleichstellung
Darf Architektur diskriminieren?................................................................................ 28
Von Joe A. Manser
Aktuelles aus dem Gleichstellungsrat Égalité Handicap ........................................... 30
Von Olga Manfredi
Politische Bestrebungen zum Behindertengleichstellungsrecht................................ 32
Von Tarek Naguib
Arbeit
Back to work – ein durchzogener Jahresbeginn ....................................................... 37
Von Catherine Corbaz
Verkehr
Mitteilungen der Fachstelle Behinderung und öffentlicher Verkehr........................... 38
Bildung
Kursprogramm 2008 ……………………………………………………………………….39
Von Catherine Corbaz
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Behinderung und Politik 2/08
Behindertenszene
Rita Vökt (1951-2008) - Selbsthelferin der ersten Stunde ........................................ 40
Würdigung von Hanne Müller, Hannes Steiger, Therese Stutz-Steiger
ANGST – die verkannte Volkskrankheit ................................................................... 42
Von Marie-Luce Le Febve de Vivy
Medien
Invalidität .................................................................................................................. 45
Für Sie gelesen von Bettina Gruber
Blick zurück .............................................................................................................. 46
Impressum .............................................................................................................. 48
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Behinderung und Politik 2/08
EDITORIAL
Selbsthilfe: Die Kraft der Ergänzung – und der Erneuerung
Ich freue mich, wie ideal mein Nachfolgeduo zeigt, was gegenseitige Ergänzung bei
Selbsthilfe-Organisationen für Potentiale entwickeln kann. Für uns Betroffene hat
Selbsthilfe eine populäre, direkte, individuelle Wirkung; so kann sie Kompetenzerweiterung z.B. gegenüber Fachhilfe und Fachpersonal bewirken. Je mündiger und
selbstbestimmter wir auftreten, desto eher werden wir für voll genommen. Desto
grösser wird die Chance, dass unser Betroffenheits- und Erfahrungswissen und professionelle Fachkompetenz sich ergänzen. Wichtiger – aber nicht einfach nachvollziehbar – ist die Wirkung innerhalb der sozialpolitischen Interessenvertretung. Es
braucht Organisationen von mehrheitlich Betroffenen bzw. Angehörigen. Dieser Personenkreis muss im leitenden Organ der Organisationen die Mehrheit stellen. Es
braucht Engagement von Einzelnen und Organisationen – im Sinne der Ergänzung.
Ähnliches gilt für unser Verhalten in (sozial-)politischen Fragen: Gegenseitige Ergänzung und nicht vorwiegend Abgrenzung ist gefragt. Das kann sich etwa im gemeinsamen Hinterfragen der im Behindertenbereich nach wie vor ausgeprägten Neigung
äussern, sich von Fachorganisationen «vertreten» zu lassen. Eine solche kritische
Haltung möglichst vieler Betroffener könnte gewisse strukturelle Gegebenheiten aufweichen oder gar einer Erneuerung zuführen.
Gemeinsam, uns trotz Meinungsverschiedenheiten und Auseinandersetzungen ergänzend, erlangen wir am ehesten kompetentes, politisches Handeln – und damit die
Chance, mit unseren Stellungnahmen für die Rechte der Behinderten gehört zu werden und etwas zu bewirken. Unser Ziel darf nicht nur Eingliederung/Integration sein,
sondern wir müssen zusätzlich soziale und politische Partizipation anstreben.
Damit sind wir bei der Wirkung nach aussen – aber auch bei der sich immer wieder
stellenden Gretchenfrage: Schaffen es die Organisationen der Behinderten- Selbsthilfe, sich über Unterschiedliches hinweg so zusammenzuraufen, dass sie sich in
Zukunft bei politischen Fragen, z.B. rund um die Invalidenversicherung, die Gleichstellung und die Assistenzentschädigung, noch schneller und wirksamer positionieren können, und sich als ernst zu nehmende politische Kraft profilieren?
Die Kraft der Erneuerung wirkt auch auf mich: Ich verabschiede mich als Präsidentin
von AGILE. Ich blicke auf acht wertvolle Jahre zurück mit vielen interessanten Begegnungen, gewonnenem Wissen im Verbandswesen und in der Sozialpolitik. Zu
den wichtigsten Erfahrungen zählen die kompetenten Einsätze von betroffenen Personen im behinderungsübergreifenden Bereich im Vorstand und im Zentralsekretariat
von AGILE. Für AGILE hoffe ich, da ich selbst auch vor einer Neuorientierung stehe,
auf die Chance sich für Erneuerungen zu öffnen. Mein herzlicher Dank und meine
intensiven Wünsche gehen an alle, die in der Behinderten-Selbsthilfe aktiv sind, und
an diejenigen, die sie weiterhin aktiv fordern und fördern.
Dr. Therese Stutz Steiger
Präsidentin AGILE
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Behinderung und Politik 2/08
SCHWERPUNKT
Ein CH-Power-Duo für AGILE
Interview mit Angie Hagmann und Roger Cosandey, dem neuen Co-Präsidium von
AGILE Behinderten-Selbsthilfe Schweiz
«agile»: Angie Hagmann, Sie sind der eine Teil des neu geschaffenen Co-Präsidiums von AGILE Behinderten-Selbsthilfe, sind Sie deshalb auch nur eine
halbe Präsidentin?
Angie Hagmann (AH): Keine Sorge, beim Co-Präsidium wird die Arbeit aufgeteilt,
nicht die Person.
«agile»: Und Sie, Roger Cosandey, sind Sie als Teil des Co-Präsidiums nur ein
halber Präsident?
Roger Cosandey (RC): Das hoffe ich natürlich nicht. Ich möchte meine Aufgabe als
Co-Präsident voll wahrnehmen und die Aufgaben mit meiner Kollegin teilen. Es gibt
genügend Arbeit für zwei. Die Zuständigkeiten sind klar festgelegt worden. Es besteht also nicht die Gefahr, dass es Kompetenzkonflikte geben wird.
«agile»: Roger Cosandey ist der zweite Teil dieses Co-Präsidiums, was wünschen Sie sich von ihm für die Zusammenarbeit?
AH: Eine offene, unkomplizierte Kommunikation. Bei einem solch anspruchsvollen
Job-Sharing ist eine gute Kommunikation die halbe Miete.
«agile»: Welche Wünsche haben Sie, Roger Cosandey, für die Zusammenarbeit
mit Angie Hagmann?
RC: Angie Hagmann wird sich in erster Linie mit der internen Politik befassen, d.h.
insbesondere mit den Beziehungen zu den Mitgliedern und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, während ich mich vor allem mit den sozialpolitischen Fragen beschäftige.
Ich kenne Angie Hagmann noch nicht lange, aber ich bin überzeugt, dass wir sehr
gut zusammenarbeiten können, da sie eine offene und kontaktfreudige Person ist.
Die Kraft der Ergänzung
«agile»: AGILE ist es wichtig, die verschiedenen Behinderungsgruppen zusammen zu bringen und die Solidarität untereinander zu stärken. Wie wichtig
ist Ihnen dieses Ziel?
AH: Sehr wichtig! Die Frage ist: Wie bringt man sie näher zusammen? Meinem Eindruck nach dominieren im Behindertenbereich genau so oft kurzfristige Teilinteressen wie überall sonst, auch wenn das vom gleichmachenden Begriff «Behinderte»
etwas verdeckt wird.
RC: Um sich bei der Öffentlichkeit und den Medien Gehör zu verschaffen, müssen
Menschen mit Behinderung oft, wenn nicht gar immer, mit einer Stimme sprechen.
Jede Gruppe muss zwar besondere Forderungen stellen, aber man muss doch so
weit wie möglich versuchen, geeint aufzutreten. Im Übrigen sind viele Forderungen
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Behinderung und Politik 2/08
nicht mit einer spezifischen Behinderung verbunden, sondern stellen sich im Zusammenhang mit der Sozialpolitik oder dem Kampf gegen Vorurteile und Diskriminierung.
«agile»: Angie Hagmann, Sie sind hörbehindert, Roger Cosandey, Sie sind
blind, haben Sie beide schon einmal in dieser Art gearbeitet, sogenannt behinderungsübergreifend?
AH: Mit behinderten Kollegen arbeite ich oft zusammen, wobei die Behinderung aber
keine Rolle spielt. Eine doppelte Sinnesbehinderung ist etwas anderes. Das ist für
mich eine neue Herausforderung, und ich bin gespannt, wie das funktioniert.
RC: Meine erste Erfahrung in diesem Bereich machte ich 1981, d.h. im UNO-Jahr
der Behinderten. Ich habe mehrere Jahre in einem Berufsbildungszentrum mit
Schülern gearbeitet, die verschiedene Behinderungsformen hatten. Seit acht Jahren
bin ich Vorstandmitglied von AGILE und hatte Kontakt mit Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen. Seit drei Jahren bin ich Präsident des Forum Handicap
Vaud, in dem 23 Vereinigungen von oder für Behinderte vertreten sind. Ich verfüge
also in diesem Bereich über ein wenig Erfahrung. Ausserdem stelle ich mit Erstaunen
fest, dass wir Behinderte gegenüber anderen Menschen mit Behinderung genau so
viele Vorurteile haben wie die Allgemeinheit. Deshalb ist es wichtig, dass es AGILE
gibt, damit wir uns besser kennen lernen.
«agile»: Angie Hagmann, was klingt bei Ihnen an, wenn Sie an Blinde und Sehbehinderte denken?
AH: Da geht es wahrscheinlich allen gleich: Man denkt zuerst an jene Betroffenen,
die man persönlich kennt. Ganz allgemein bewundere ich die Kreativität und den Mut
von blinden Menschen in praktischen Dingen, zum Beispiel beim alleine Reisen. Aus
dem Arbeitsleben kenne ich stark sehbehinderte MitarbeiterInnen, die besser arbeiten als nicht Behinderte in der gleichen Position. Wirklich besser, nicht nur gleich gut!
Das ist zwar nichts Besonderes, nur wird in der Öffentlichkeit ein ganz anderes Bild
vermittelt.
«agile»: Roger Cosandey, was klingt bei Ihnen an, wenn Sie an Hörbehinderte
denken?
RC: Für einen Blinden, der ganz auf sein Gehör angewiesen ist, ist es natürlich
schwierig, sich eine Welt ohne Ton vorzustellen und die Techniken zu verstehen, mit
denen Hörbehinderte kommunizieren. Unsere Bedürfnisse sind genau entgegengesetzt. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass Behinderte nicht immer wissen,
welche Bedürfnisse andere Behinderte haben. Ich gebe zu, dass dies bei mir mit
Hörbehinderten der Fall ist.
«agile»: Sie sind ein Vorzeigepräsidium: Frau und Mann, Deutschschweizerin
und Romand, beide vertreten Sie Menschen mit Behinderung - echte Selbsthilfe also: Sind Sie das künftige CH-Power-Package (CH = Cosandey/Hagmann)?
RC: Wir ergänzen uns und sind für alle Mitglieder von AGILE da. Da ich auch
Deutsch spreche, werde ich nicht nur für die Romandie tätig sein.
AH: Power Package gefällt mir nicht, das tönt nach Aktivismus und Powergehabe,
und das ist überhaupt nicht meine Art. Der Begriff kann auch falsche Erwartungen
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Behinderung und Politik 2/08
wecken: Wie Roger schon gesagt hat, sind wir beide ja für verschiedene Bereiche
zuständig, deshalb kann man nicht einfach eins plus eins zusammenzählen. Das
Präsidium auf diese Weise zu besetzen, finde ich aber – unabhängig von den beteiligten Personen – interessant und von AGILE auch mutig. Wir bringen beide viele
und auch sehr unterschiedliche Erfahrungen in dieses Amt mit. Was daraus wird,
werden wir sehen.
Persönlicher Hintergrund
«agile»: Wenn Sie beide nicht für AGILE agieren, was machen Sie beruflich und
in der Freizeit?
AH: Beruflich habe ich als Geschäftsleiterin von avanti donne eine vielseitige Teilzeitaufgabe. Daneben schreibe ich für Bücher und Zeitschriften, mache Webarbeit
und gebe Kurse. Meine nichtberufliche Zeit gehört der Familie, den Tieren, Büchern
und dem Garten ... und ab und zu einfach mir selber.
RC: Ich habe mich vor zwei Jahren vorzeitig pensionieren lassen. Während über 20
Jahren habe ich als Westschweizer Sekretär des Schweizerischen Blinden- und
Sehbehindertenverbands gearbeitet. Ich bin immer noch aktiv in der Politik und im
Vereinsleben. Seit 18 Jahren bin ich Mitglied des Lausanner Gemeinderats. Ausserdem bin ich, wie bereits gesagt, Präsident des Forum Handicap Vaud. In diesem Zusammenhang beteilige ich mich seit mehreren Monaten an verschiedenen Arbeitsgruppen, welche die kantonalen Behörden bei der Umsetzung der Aufgabenteilung
zwischen Bund und Kantonen begleiten. Ich bin besonders glücklich, dass wir dank
der Gründung des Forum Handicap Vaud an den Debatten teilnehmen können. Zuvor war es nicht üblich, dass Menschen mit Behinderung um ihre Meinung gefragt
wurden. Aber keine Angst, ich mache auch noch anderes als arbeiten… Ich lese
gerne und höre gerne Musik. Meine eigentliche Passion aber gilt dem Reisen. Ich
konnte bisher über 60 Länder besuchen… und hoffe, dass es noch mehr werden!
«agile»: Wie und mit wem leben Sie?
AH: Mit einer ganz tollen Familie in einem Drei-Generationen-Haus.
RC: Ich lebe mit meiner Frau Monique in einer schönen Wohnung im Stadtzentrum
von Lausanne. Wenn man nicht Auto fahren kann, muss man in der Nähe der öffentlichen Verkehrsmittel und der Geschäfte wohnen. Ich beklage mich aber nicht, unser
Quartier ist sehr ruhig und angenehm.
«agile»: Wie sind Sie politisch geprägt worden?
RC: Bereits in der Schule interessierte ich mich für Geschichte und Staatskunde. Als
Jugendlicher war ich in Jugendgruppen tätig, wo ich lernte, gemeinsame Interessen
zu vertreten. Ich bin dann bald einer Partei beigetreten, da ich glaubte, ein ehrlicher
Bürger müsse sich für eine Sache engagieren und seiner Umwelt nicht gleichgültig
gegenüberstehen. Leute, die ständig kritisieren, aber nichts für die Entwicklung der
Gesellschaft tun, kann ich nicht ertragen.
AH: Ich bin durch eine meiner ersten Arbeitsstellen geprägt worden, in einer Agentur
für politische Kommunikation. Ich war nachhaltig beeindruckt, um es mal so zu sagen.
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Behinderung und Politik 2/08
Selbsthilfe und Sozialpolitik
«agile»: Wie wichtig ist Ihnen politische Bildung?
AH: Wenn daraus gebildete und verantwortungsvolle PolitikerInnen hervorgehen:
sehr wichtig. Die politische Bildung kommt an den Schulen viel zu kurz.
RC: Wichtig, da der Durchschnittsbürger nicht immer auf Anhieb verstehen kann,
worum es bei bestimmten Entscheidungen geht. In einem Land, wo jeder Bürger
häufig abstimmen sollte, muss das politische Gewissen gut ausgebildet sein.
«agile»: Wo sehen Sie Vorteile darin, wenn Menschen mit verschiedenen Behinderungsformen die gleichen Weiterbildungskurse besuchen?
RC: Die Solidarität und das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe können gestärkt
werden.
AH: Das gemeinsame Lernerlebnis kann sicher das gegenseitige Verständnis und
die Solidarität fördern. Auch ist es entlastend, wenn man nicht die einzige Person in
der Gruppe ist, auf die Rücksicht genommen werden muss. Wenn die Bedürfnisse zu
verschieden sind, kann es allerdings auch schief gehen.
agile»: Weshalb braucht es die organisierte Selbsthilfe?
AH: Weil die einzelnen Menschen – alle, und erst recht die benachteiligten - vollauf
mit Überleben beschäftigt sind und gar keine Zeit haben, ihre Interessen zu vertreten! Die organisierte Selbsthilfe kann Grundlagenarbeit leisten, die Einzelne und
auch kleine Gruppen überfordert, und sie bietet Strukturen und das nötige Gewicht,
damit die Betroffenen überhaupt eine Chance haben, gehört zu werden.
RC: Der Begriff «entraide» (Selbsthilfe) bedeutet, dass es zwischen den Betroffenen
eine Interaktion gibt. Gemeinsam ist man stärker. Man unterstützt sich gegenseitig.
«agile»: Weshalb ist es in den strategischen Führungsgremien von SelbsthilfeOrganisationen zentral, dass mehrheitlich Betroffene Einsitz nehmen?
RC: Weil Menschen mit Behinderung ihre Interessen selbst vertreten müssen und
sich nicht damit begnügen sollen, Hilfeleistungen zu erhalten. Wenn man sich in die
Gesellschaft integrieren möchte, muss man sich dessen als würdig erweisen.
AH: Es ist sicher wünschbar und wird bei AGILE auch gelebt. Ob es auch zentral ist,
kommt auf die Umstände und auf die Aufgaben der Organisation an. Eine Selbsthilfeorganisation ist keine Selbsthilfegruppe. Und Betroffenheit ist ein Begriff wie Behinderung: ein Konstrukt, das gemeinsame Interessen auch dort suggeriert, wo
grosse Unterschiede und Konkurrenz bestehen. Viel wichtiger als eine zahlenmässige Mehrheit finde ich deshalb, dass die Positionen, die eine Organisation vertritt,
von Betroffenen erarbeitet worden sind. Auch muss das Gremium als Gruppe funktionieren und wirksam arbeiten können.
«agile»: Hat man Sie schon einmal als Scheininvalide/r betitelt, wenn ja, was
hat dies bei Ihnen ausgelöst?
AH: Nein, man sieht mir ja nichts an, und ich war zudem immer voll in der Arbeitswelt
integriert. Hörbehinderte stehen hier weniger in der Schusslinie, auch deshalb, weil
nur eine ganz kleine Minderheit von ihnen eine IV-Rente erhält.
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Behinderung und Politik 2/08
RC: Auch nein, gerade weil meine Behinderung sichtbar ist. Man darf jedoch nicht
unterschätzen, dass man manche Behinderungen nicht sofort sieht. Menschen mit
dieser Art von Behinderung sind in der Regel Opfer solcher Anschuldigungen.
«agile»: Was bedeutet für Sie Arbeit?
AH: Eine Lebensschule aus Freud und Leid, wie für alle Menschen. Wobei Ersteres
weitaus überwiegt. Ich hatte bis jetzt immer das Glück, das tun zu können, was ich
wirklich gerne mache. Erwerbsarbeit ist natürlich auch materielle Existenzsicherung.
Aber das ist ein Thema für sich.
RC: Arbeit ermöglicht, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben und sich zu entfalten. Ein Dichter aus Québec schrieb einmal, die beste Art, jemanden zu töten, sei,
ihn am Arbeiten zu hindern! Man muss deshalb alles daran setzen, die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung zu verbessern. Man muss die Arbeitgeber davon überzeugen, dass eine Behinderung, auch eine schwere Behinderung, nicht unbedingt ein Hindernis für die berufliche Integration ist.
«agile»: Was halten Sie von Behindertenquoten in der Arbeitswelt?
AH: Eine Scheinlösung, unter dem Strich kontraproduktiv, weil sie Betroffene stigmatisiert und eine Parallelwelt mit einer besonderen Menschenkategorie schafft.
RC: Ich war lange gegen Quoten, da ich der Auffassung war, dass man jemanden
nicht wegen seiner Behinderung, sondern wegen seiner Kompetenzen anstellen
sollte. Wenn man die heutige Situation betrachtet, bin ich geneigt, meine Haltung
etwas zu ändern. Vielleicht ermöglichen Quoten den Arbeitgebern, sich der Effizienz
von Personen bewusst zu werden, die man allgemein eher als nicht rentabel betrachten würde.
«agile»: Was erhoffen Sie beide sich von der Umsetzung der 5. IVG-Revision?
AH: Dass die Ergebnisse seriös evaluiert werden, dass auf der individuellen Ebene
Erfolge erzielt werden und dass die Finanzierungsfrage über die Mehrwertsteuer entschärft wird. So würde wenigstens ein kleiner Teil der grossen Versprechungen realisiert.
RC: Leider nicht viel. Durch diese Revision verringert sich die Zahl der Renten, aber
es sind keine seriösen Anreizmassnahmen vorgesehen, um die berufliche Eingliederung wirklich zu fördern.
«agile»: Was befürchten Sie bei der Umsetzung der 5. IVG-Revison?
AH: Dass die blosse Reduktion der Anzahl Rentenbezüger bereits als toller Erfolg
verkauft wird und einmal mehr keine Vollkostenrechnung gemacht wird. Dafür gibt es
schon jetzt Anzeichen. Absehbar ist auch, dass auf gesundheitlich beeinträchtigte
Menschen noch mehr Druck ausgeübt wird, wenn die Finanzierungsprobleme nicht
gelöst, sondern zum Beispiel einfach in einen anderen Bereich verschoben werden.
RC: Dass man nur an Einsparungen denkt, ohne den Schwerpunkt bei der Information der möglichen Arbeitgeber zu setzen.
«agile»: Genügen die aktuellen Leistungen der IV, wenn nein, wo besteht nach
Ihrer Ansicht Nachholbedarf?
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Behinderung und Politik 2/08
AH: Ob die heutigen Leistungen im Einzelfall genügen, hängt von der Situation ab.
Die IV sollte aber als Teil eines gesellschaftlichen Gesamtkonzeptes beurteilt werden, das allen EinwohnerInnen ein Leben in Würde ermöglichen müsste. Davon ist
auch die Schweiz - eines der privilegiertesten Länder der Welt - weit entfernt. Es ist
nicht nur eine Frage der Quantität, sondern auch der Art, der Handhabung und des
Zugangs zu Leistungen. Die IV braucht eine grundsätzliche Anpassung an die heutigen Lebensformen. Der abwertende Name ist zwar nur ein Detail, aber ein vielsagendes.
RC: Wie ich bereits gesagt habe, ist die Beschäftigung zu fördern. Wenn man nur an
eine Senkung der Renten denkt, drängt man Menschen, die nicht mehr genügend
Ressourcen haben, in die Sozialhilfe. Die IV erzielt vielleicht Einsparungen, aber die
Kantone und Gemeinden werden massiv belastet.
«agile»: Welchen Bezug haben Sie politisch und persönlich zum Thema Assistenz?
AH: Assistenz-Modelle sehe ich als grossen Gewinn für die Lebensqualität und die
Eigenverantwortung der NutzerInnen. Ich hoffe sehr, dass diese zeitgemässe Form
von Unterstützung definitiv etabliert wird. Wobei wichtig ist, dass die Rechte und
Pflichten für alle Beteiligten klar sind. Ich arbeite selber hin und wieder mit der Assistenz von gut hörenden MitarbeiterInnen, zum Beispiel an Kongressen und Tagungen. Das funktioniert prima und dient allen, in diesem Fall auch, weil die Arbeit besser verteilt wird.
RC: Eine angemessene Assistenz soll allen Behinderten ermöglichen, zu Hause zu
leben und selbst zu bestimmen, welche Form von Assistenz sie benötigen. Man
glaubte zu lange, dass Menschen mit Behinderung nur in Institutionen leben können.
Gegen diese beschränkte Sichtweise muss energisch gekämpft werden – es muss
eine echte Wahl angeboten werden.
Gleichstellung
«agile»: Als Co-Präsidentin von AGILE müssen Sie agil und mobil sein. Sind
Sie mit dem Angebot im öffentlichen Verkehr für Menschen unterschiedlichster
Behinderungsformen zufrieden?
AH: Persönlich schon, weil ich vor allem auf das achte, was funktioniert. Das Angebot kann aber sicher weiter verbessert werden. Am sichtbarsten sind die Fortschritte
für Körperbehinderte, auch wenn ich nicht für die Betroffenen sprechen kann. Am
wenigsten wurde für Hörbehinderte gemacht, da ist die Schweiz noch ein Entwicklungsland.
RC: In den letzten Jahren wurden Fortschritte gemacht, aber der Weg ist noch weit.
Gewisse technische Neuerungen bilden heute Hindernisse. Ein Beispiel: In den
Bahnhöfen öffnen sich die Zugtüren nicht mehr automatisch, sondern man muss einen Knopf drücken. Wie findet ein Blinder diesen Knopf? Ausserdem helfen die Mitreisenden nicht mehr so spontan wie früher.
«agile»: Wo erleben Sie Diskriminierung in Ihrem Alltag?
AH: In bestimmten Situationen in der Arbeitswelt, fast immer bei der organisierten
Bildung und im öffentlichen Raum. Durchsagen in Bus und Zug verstehe ich nicht,
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von vielen Veranstaltungen, wie Theater und Bildungsangeboten bin ich ausgeschlossen. Oder das Fernsehen: Hier zahle ich 100 Prozent Gebühren für 5 Prozent
des Angebots.
RC: Ich würde nicht von offensichtlichen Diskriminierungen sprechen, sondern von
unangemessenem Verhalten, weil die tatsächlichen Bedürfnisse einer blinden Person nicht genügend bekannt sind.
«agile»: Das Behindertengleichstellungs-Gesetz (BehiG) wird im 2009 5-jährig.
Sehen Sie einen Grund, dieses Jubiläum zu feiern?
AH: Aber sicher! Eine gute Gelegenheit, um Verbesserungen und Fortschritte zu
würdigen. Dies wird viel zu wenig gemacht. Bei dieser Gelegenheit weitere Verbesserungspotenziale aufzuzeigen, ist ja nicht verboten.
RC: Es gibt keine objektiven Gründe zu feiern. Man sollte das Jubiläum aber nutzen,
um eine Informationskampagne zu organisieren und an die Forderungen und Bedürfnisse der Menschen mit Behinderung zu erinnern.
«agile»: Bei welchen Gleichstellungs-Themen sehen Sie noch immer Handlungsbedarf?
AH: In den Bereichen Arbeit und Bildung gibt es vieles zu tun. Als stossend empfinde
ich auch die Ungleichbehandlung in der Prävention und der Gesundheitsförderung,
inklusive Forschung.
RC: Für mich sollte der Bereich der beruflichen Eingliederung Priorität haben.
Kurz und bündig
«agile»: Welches ist Ihr/e Lieblingsbundesrät/in und warum?
AH: Er oder sie muss erst noch gewählt werden.
RC: Micheline Calmy-Rey, sie zeigt Offenheit und hat verstanden, dass ein kleines
Land international präsent sein muss, um zu existieren.
«agile»: Was ärgert Sie?
RC: Der Mangel an Respekt, den man heute feststellt.
AH: Ärger schadet der Gesundheit, darum ärgere ich mich selten. Und wenn, dann
vergesse ich den Ärger schnell wieder.
«agile»: Wie kann man Ihnen eine Freude machen?
AH: Zum Beispiel, indem jemand sich bemüht, deutlich zu sprechen, der das sonst
nicht tut. Diese Art von Aufmerksamkeit ist wie ein kleines persönliches Geschenk.
RC: Indem man mich als vollständiges Mitglied der Gesellschaft und nicht einfach als
Blinden betrachtet.
«agile»: Womit bringt man Sie zum Lachen?
RC: Mit witzigen Geschichten.
AH: Mit Humor.
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Behinderung und Politik 2/08
«agile»: Was wünschen Sie sich für AGILE?
AH: Dass die fundierte Arbeit, die AGILE leistet, vermehrt auch von jenen erkannt
wird, die davon profitieren, eine grosse Mitgliederzahl und ein gutes Gleichgewicht
zwischen Engagement und Wirkung.
RC: Dass sich AGILE weiterhin für die Verbesserung der Situation von Menschen mit
Behinderung einsetzt.
Angie Hagmann, Roger Cosandey, herzlichen Dank für dieses Interview.
Übersetzung: Susanne Alpiger
Die FTIA – ein Vorbild für die Selbsthilfe?
Von Lorenzo Giacolini, Geschäftsführer FTIA
Die FTIA (Federazione Ticinese Integrazione Andicap) ein Vorbild zu nennen, ist
vielleicht übertrieben. Aber ohne anmassend zu sein, kann ich behaupten, dass wir
hinsichtlich gewisser Aspekte nicht sehr weit davon entfernt sind.
Und dabei haben wir in den letzten Jahren häufig andere zum Vorbild genommen…
Zunächst ist die FTIA eine Einrichtung der «Selbsthilfe». Tatsächlich besteht die
überwiegende Mehrheit der eigenen Mitglieder (über 1'200) aus Personen mit einer
körperlichen, Sinnes-, geistigen oder psychischen Behinderung oder einer chronischen Krankheit. Ferner sind sämtliche Mitglieder des Vorstands entweder direkt
oder indirekt durch eine Behinderung betroffen.
Die FTIA beschäftigt sich vorwiegend mit Themen, die mit Körperbehinderung zu tun
haben. Trotzdem war ihr die Bedeutung einer Zusammenarbeit, die über die spezifischen Ansprüche der einzelnen Behinderungen hinausgeht, schon immer bewusst,
und somit ist die FTIA in verschiedenen Bereichen aktiv. Zunächst zu den spezifischen:

Professionelle Beratung für behindertengerechtes Bauen – bestimmt ein spezifisches Thema für die Körperbehinderung, das aber gerade für ältere Menschen
und auch all jene, die mit Mobilitätsbehinderungen konfrontiert sind, immer wichtiger wird.

Arbeitsplätze (20) und Berufsausbildungsplätze (18) für Menschen mit einer
Körperbehinderung (Formazienda FTIA)

Kommunikation – Information
12
Behinderung und Politik 2/08
Ist das alles? Ja, denn die weiteren Leistungen stehen all jenen Menschen mit einer
Behinderung zur Verfügung, die im Tessin wohnhaft sind:

Sport – Ausgangspunkt, der im Jahre 1973 zur Gründung der FTIA geführt
hat. Das Sekretariat wurde 1980 eröffnet.

Rechtsberatung für Menschen mit einer Behinderung – anhand des Modells
von Intégration Handicap entwickelt und im Tessin 1990 in Zusammenarbeit
mit anderen Organisationen eingeführt.

Bundessozialpolitik – die FTIA leitet das sozialpolitisch Forum der italienischen Schweiz (Forum politica sociale Svizzera italiana) im Namen von AGILE
und UNITAS.

Beschwerderecht im Bereich BehiG – die FTIA ist die einzige vom Bundesrat
anerkannte Organisation, die nicht auf nationaler Ebene tätig ist.

Art. 74 IVG – die FTIA als Dachorganisation für die Sprachregion unterhält einen direkten Vertrag mit dem BSV.

Administrative und betriebliche Unterstützung – die FTIA unterstützt kleine
Organisationen in diesem Sektor.

Vertretung der italienischen Schweiz in nationalen Gremien – die FTIA verfügt
über einen Vertreter in den Vorständen von AGILE und Intégration Handicap.
Ferner vertritt sie die italienische Schweiz im Gleichstellungsrat Egalité Handicap.

Weiterbildung – die FTIA bietet, zusammen mit anderen, Kurse für Menschen
mit einer Behinderung an.
Um diese Leistungen und Dienste anbieten zu können, beschäftigt die FTIA gegenwärtig ungefähr 80 Personen und steht kurz vor dem Umzug an den neuen, sich
noch im Bau befindlichen Sitz in Giubiasco. Dort wird es möglich sein, das Angebot
der Dienstleistungen weiter zu verbessern, sei es spezifisch im Bereich der Körperbehinderung, sei es im Bereich der Dienstleistungen, die für die Abdeckung der gemeinsamen Bedürfnisse aller Behinderungskategorien nützlich sind.
Dieser Einsatz und diese Aufgeschlossenheit gegenüber gemeinsamen Themen aller
Menschen mit einer Behinderung ist sicherlich das Verdienst der Weitsichtigkeit der
politischen und operativen Führungskräfte der FTIA. Anstatt sich Diskussionen zu
widmen, bei denen es darum geht, eine Grenze zwischen Selbsthilfe und Fachhilfe
zu ziehen, haben sie das Schwergewicht stets auf die Befriedigung der Bedürfnisse
von Menschen mit einer Behinderung gelegt. Anstatt ihr eigenes Süppchen zu kochen, haben sie immer über den Tellerrand hinausgeschaut – mit den Menschen mit
einer Behinderung und ihren Bedürfnissen als einziges Ziel.
Dieser Artikel bezweckt nicht, die FTIA zu verherrlichen, sondern aufzuzeigen, dass
es in vielen anderen Regionen bestimmt möglich ist, das zu realisieren, was die FTIA
erreicht hat und weiterhin für die Integration von Menschen mit einer Behinderung im
Tessin unternimmt, indem sie sich den einzelnen Gegebenheiten anpasst. Es stimmt,
dass gewisse Umsetzungen eng mit der Tatsache verbunden sind, dass man in einer
Sprachregion tätig ist, aber ohne Initiative, ohne Risiko, ohne Einsatz, ohne auch mal
ein Auge zuzudrücken, ohne dafür alles in Ausdauer und Hingabe hineinzustecken,
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Behinderung und Politik 2/08
ohne den Glauben an die Notwendigkeit, zusammen mit den anderen Akteuren des
Sektors tätig zu sein, erreicht man nichts.
Letztlich ist es wichtiger, Probleme zu lösen und Dienste und Leistungen anzubieten,
als sich darüber zu beklagen, dass es die einen tun und die anderen nicht…
Selbsthilfe im Bereich der psychischen Behinderung
Von Robert Joosten, Webmaster der GRAAP und Barbara Zbinden, Sozialarbeiterin
und Koordinatorin der Coraasp.
Coraasp und GRAAP?
Die Coraasp ist eine Westschweizer Plattform, die sich in Bezug auf psychische Gesundheit engagiert. Die 1999 gegründete Dachorganisation umfasst heute 17 Organisationen. Zu ihren Zielsetzungen gehören die Wahrung der Menschenwürde und
die Förderung von Gemeinschaftsprojekten auf der Basis von Selbsthilfe, Partnerschaft und Solidarität.
Menschen mit einer psychischen Erkrankung, Angehörige und Fachleute für psychosoziale Begleitung bilden die drei Kategorien von Akteuren, die gemeinsam die Programme der verschiedenen Tätigkeitsbereiche der Coraasp definieren.
Der Bereich «Ausbildung und Coaching» will das Empowerment und die gesellschaftliche Teilhabe von psychisch Kranken verbessern. Dies durch die Anerkennung und Wertschätzung unterschiedlicher Kompetenzen. Der Bereich «Sozialpolitik» ermöglicht es, die Betroffenen für ihre Rechte und Pflichten zu sensibilisieren.
Weiter unterstützt er ihr soziales und politisches Engagement und fördert die Eingliederung in gesellschaftlich-kulturellen und ökonomischen Bereichen. Der Bereich
«Information und Kommunikation» umfasst Öffentlichkeitsarbeit, um den Austausch
zwischen verschiedenen Gesellschaftsgruppen zu vereinfachen und eine Änderung
der Denkweisen herbeizuführen.
Die GRAAP (Groupe romand d’action et d’accueil psychiatrique – Westschweizer
Anlaufstelle für psychisch Kranke) ist eine Vereinigung von psychisch Kranken und
ihren Angehörigen. Sie wurde 1997 in Lausanne gegründet und ist Mitglied der Coraasp. Die vor allem im Kanton Waadt tätige GRAAP hat über 1000 Mitglieder. Sie
bietet Betreuungsstellen, betreute Werkstätten, einen Sozialdienst, Selbsthilfegruppen und Kultur- oder Sportveranstaltungen an. Ausserdem setzt sie sich für die Interessen und Rechte ein von Menschen mit psychischen Schwierigkeiten.
Natürliche gegenseitige Hilfeleistung
Ein Artikel über die Selbsthilfe von Menschen mit einer psychischen Behinderung in
der Romandie? - Ein weites Thema. Zunächst einmal muss man sich über die Definition des Begriffs Selbsthilfe einigen, die man in den Statuten oder den ethischen
Werten einer Organisation praktisch nie findet.
14
Behinderung und Politik 2/08
Zu Beginn heisst es also, den Begriff Selbsthilfe und seine Bedeutung in den Organisationen, die sich für die Integration der Menschen mit Behinderung einsetzen, zu
verstehen zu versuchen. Dazu weisen wir zunächst auf die völlig unterschiedliche
Verwendung des Konzepts im angelsächsischen/deutschsprachigen bzw. im französischsprachigen Raum hin. Der im Französischen verwendete Begriff «entraide» bedeutet eigentlich «gegenseitige Hilfe». In der deutschen bzw. englischen Sprache
kennt man die Begriffe «Selbsthilfe» und «self-help», die sich auf die Grundsätze des
Empowerment und der Selbstbestimmung beziehen. Personen mit körperlichen, psychischen oder intellektuellen Beeinträchtigungen befinden sich oft in einer paradoxen
Situation der Abhängigkeit von Strukturen, die eigentlich ihre Autonomie und gesellschaftliche Partizipation erleichtern sollten. In den traditionellen Assistenzformen
büssen sie sogar die Fähigkeit ein, die für ein eigenständiges Leben nötigen Entscheidungen zu treffen. Um diese Gefahr abzuwenden, haben sie Orte für den Austausch und für Unterstützung geschaffen, die von Peers betreut werden. Dort entwickeln sie die für Autonomie und Integration erforderlichen Fähigkeiten. Sie teilen die
gemeinsame Kraft gegenseitigen und freiwilligen Gebens - ohne Machtinteressen
oder ungleich verteiltem Nutzen. Im Bereich der psychischen Behinderung nehmen
einige Betroffene für bestimmte Aufgaben manchmal auch die Hilfe von Fachpersonen in Anspruch.
Mit oder ohne Fachpersonen?
Bieten in einer Organisation zahlreiche Fachleute, die nicht an einer psychischen
Krankheit leiden, den Nutzern Leistungen an, so spricht man nicht mehr von Selbsthilfe, sondern vielmehr von Fachhilfe.
Wenn MitarbeiterInnen der Organisation ebenfalls eine psychische Beeinträchtigung
haben, wird die Frage komplizierter. Sie unterstützen andere psychisch Kranke in
Gesprächsgruppen oder sogar als Werkstattleiter oder in Form sozialer Assistenz
wie beispielsweise in der GRAAP. In diesem Fall werden sie aber entlöhnt und haben ein Pflichtenheft. Auch hier kann man nicht wirklich von «entraide» oder Selbsthilfe sprechen, es sei denn, es handle sich um gelegentlich kleine Extraleistungen,
die ausserhalb des Pflichtenhefts erbracht werden und nicht zum strikt professionellen Bereich gehören. Neben ihrer Tätigkeit in einer Organisation bauen einige dieser
MitarbeiterInnen ein richtiges Sozialleben auf und organisieren beispielsweise Ausflüge mit den Personen, mit denen sie in der Organisation in Kontakt kommen. In
diesem Fall kann man wirklich von «entraide» oder Selbsthilfe sprechen.
Wie steht es schliesslich mit den IV-BezügerInnen, die nur eine sehr bescheidene
Entschädigung für Empfangs- oder Unterstützungsaufgaben erhalten? Dies scheint
ja auch ein Fall von «entraide» zu sein, aber handelt es sich wirklich um Selbsthilfe,
wenn die Arbeit entlöhnt wird (wenn auch in sehr bescheidenem Ausmass) und ein
Vertrag sowie ein Pflichtenheft vorliegen? Wenn man genau hinschaut, so gibt es
auch hier kleinere Extraleistungen, wobei diese im Übrigen nicht ganz so klein sind.
Und was ist mit den Beziehungen, die unter den Personen entstehen, die jeden Tag
im Grain de Sel (einem Restaurant der GRAAP) zusammen Karten spielen und einen
schönen Nachmittag in Gesellschaft verbringen? Ist dies auch «entraide»? Spricht
man von Selbsthilfe, wenn Leute ohne psychische Behinderung freundschaftlich zusammen jassen?
Bedeutet das also, dass sich Selbsthilfe aus dem Austausch zwischen Personen ergibt, die sich auf uneigennützige Weise und ausserhalb von Arbeitsverpflichtungen
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Behinderung und Politik 2/08
treffen? Wann kann sich eine Organisation als Struktur für die psychiatrische Selbsthilfe bezeichnen?
Wenn man vorgängig zwischen den Formen der Beziehungen und ihren Inhalten
unterscheidet, kann man diese Fragen leichter beantworten. Unserer Ansicht nach ist
es nicht der Freiwilligenstatus, der die Selbsthilfe definiert. Vielmehr ist es der partnerschaftliche Austausch von Kompetenzen und Wissen unter Peers, der weit von
den traditionellen bevormundenden Beziehungen zwischen Helfenden und Unterstützten entfernt ist. Damit lautet die Kernfrage: Wie kann die Selbsthilfe in Organigrammen, Agenden und Tätigkeitsberichten sichtbar und in der Praxis konkreter gemacht werden?
Die Rolle der Strukturen
Der französische Begriff «entraide» macht es möglich, über die häufige und schlussendlich fruchtlose Unterscheidung zwischen Fachhilfe und Selbsthilfe hinaus zu denken. Es ist ganz klar, dass die Fachleute keine Selbstverwaltung umsetzen oder
kontrollieren können. Sie können sie aber fördern und unterstützen. Dazu sind aber
zum einen spezielle fachliche Kompetenzen und ein besonderes professionelles
Verhalten nötig. Zum anderen sind vor allem Organisationsstrukturen erforderlich, in
denen die Art der Kommunikation und Entscheidungsfindungsverfahren verhindern,
dass eine Person oder eine Gruppe von Akteuren die Kontrolle ergreift. Das individuelle oder kollektive Empowerment von psychisch kranken Menschen ist eine besondere Herausforderung, da es sich bei den Protagonisten häufig um Personen handelt, deren Fähigkeit zu entscheiden und zu verhandeln unter Umständen beeinträchtigt ist. Da die Coraasp sowohl Selbsthilfe- als auch Hilfsorganisationen umfasst, muss sie eine Positionierung und ein Organisationsmodell aufweisen, die diesen gerecht wird. Durch das von den verschiedenen Mitgliederkategorien definierte
Gesellschaftsprojekt haben sie eine gemeinsame Aufgabe. Diese besteht nicht darin,
schwächeren und benachteiligten Personen Leistungen anzubieten. Vielmehr setzen
sich die Mitglieder der Coraasp gemeinsam für das Vorhaben ein, der gesamten Gesellschaft zu grösserer psychischer Gesundheit und Integration zu verhelfen. Dazu
organisieren sie sich und helfen sich gegenseitig, damit die Ressourcen und Kompetenzen der Personen, die Leiden und Ausgrenzung erfahren haben, in den Dienst
aller gestellt werden.
Genau diese Art der Positionierung hat beispielsweise ermöglicht, dass IV-BezügerInnen, Angehörige und Fachleute im Winter 2006-2007 auf der Strasse gemeinsam
Unterschriften gegen die 5. IV-Revision gesammelt haben.
Wenn sich die drei Gruppen von Akteuren – psychisch Kranke, Angehörige und
Fachpersonen - gemeinsam für ein Gesellschaftsprojekt einsetzen, so benötigen sie
dafür je unterschiedliche Räume und Zeiten. Abgesehen von Eigenheiten der Gruppen, finden diese zusammen, wenn ihre Mitglieder und damit auch die Fachpersonen
bereit sind, sich selbst zu helfen, sich gegenseitig als Peers zu helfen und sich von
Dritten, seien es Fachpersonen oder nicht, helfen zu lassen. Die Auswirkungen einer
psychischen Krankheit auf Emotionen, Gemütslage, Wahrnehmungen und Vorstellungen der Realität, Ermüdung, Selbstvertrauen und Identitätsprozess werden zu
Instrumenten, die für alle von Nutzen sind, wenn die einzelnen Gruppen erkennen
und zum Ausdruck bringen, in welchen Bereichen sie ohnmächtig sind. Ausgehend
von dieser zunächst persönlichen und dann gemeinsam gemachten Feststellung
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Behinderung und Politik 2/08
werden sie fähig, vereinte Kraft zu mobilisieren. Deren Energie bleibt bestehen, wenn
die Organisationsstrukturen so ausgestaltet sind, dass jede Person in ihrer Gemeinschaft ein Projekt realisieren kann, das ihrem Traum einer idealen Welt und ihren
besonderen Talenten entspricht. Dieses Gesellschaftsprojekt versucht die Coraasp
mit ihren Mitgliedern umzusetzen. Doch dies setzt eine tief greifende Neuorganisation der Strukturen voraus, deren Prozess erst beginnt.
Übersetzung: Susanne Alpiger
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Behinderung und Politik 2/08
SOZIALPOLITIK
Sozialpolitische Rundschau
Von Ursula Schaffner
Der Bundesrat will verschiedene Staatsaufgaben überprüfen, um bis ins Jahr 2015
insgesamt 5,3 Milliarden Franken einzusparen. Die IV ist zur Zeit (noch?) von der
Aufgabenüberprüfung ausgeklammert, für die AHV gilt ein etwas längerer Zeitrahmen - bis 2020 – für die Erreichung der Sparziele.
Invalidenversicherung
Mitte März hat das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) über die Rentenentwicklung bei der IV im vergangenen Jahr berichtet. Die Statistiken zeigen, dass 2007
vier Prozent weniger Personen von den IV-Stellen eine Neurente zugesprochen bekommen haben als noch ein Jahr zuvor. Das BSV führt den Rückgang der Zahl der
NeurentnerInnen darauf zurück, dass die IV-Stellen die mit der 4. IVG-Revision eingeführten Massnahmen jetzt voll anwenden. Besonders hervorgehoben wird, dass
die IV-Stellen die Ratsuchenden mit verstärkter aktiver Arbeitsvermittlung begleiten,
und dass die regionalärztlichen Dienste (RAD) genauere Abklärungen des gesundheitlichen Zustandes der Versicherten erlauben. Mit den Abklärungen der RAD
könne die vorhandene (Rest-)Arbeitsfähigkeit der angemeldeten Personen genauer
beziffert werden. Das BSV meint weiter, es gebe bereits Anzeichen dafür, dass die 5.
IVG-Revision zu wirken beginne. So seien auf den IV-Stellen im Januar 2008 rund
200 Versicherte zur Früherfassung und Frühintervention gemeldet worden.
Noch ist nicht bekannt, was mit diesen, früher als bisher, erfassten Personen geschieht, ob sie zum Beispiel dank einem hilfreichen Gespräch ihren Arbeitsplatz behalten können. Ebenso wenig wissen wir, ob die 2007 mit ihrem Rentengesuch unterlegenen Personen wieder einen Arbeitsplatz haben, oder wie sie ihr Leben heute
finanzieren.
Ist Ihnen in den letzten Wochen eine Hand in einer Tageszeitung aufgefallen? Haben
Sie gemerkt, dass das halbseitige Inserat für die Invalidenversicherung wirbt? Oder
haben Sie einen Spot im Fernsehen gesehen, der anhand einer Berg-und-Tal-Landschaft über eine weitergeführte Berufskarriere erzählt? Tatsächlich tritt die IV seit
Anfang April mit einer Sensibilisierungskampagne in einzelnen Tageszeitungen und
am Fernsehen auf. Sie möchte damit der breiten Öffentlichkeit, aber auch Arbeitgebenden den Auftrag der IV und ihre Unterstützungsmöglichkeiten näher bringen. Machen Sie sich zu dieser Kampagne selber ein Bild (http://www.iv-ai-ai.ch/).
Wo wir in Sachen IV-Zusatzfinanzierung zur Zeit stehen, lesen Sie in einem separaten Artikel gleich anschliessend an diese Rundschau.
AHV
Zuverlässige Aussagen über die langfristige Sicherung der AHV und damit über die
Existenzsicherung künftiger RentnerInnen kann zur Zeit niemand machen. Eine neue
Studie des BSV zeigt aber, dass es der heutigen Generation von AHV-RentnerInnen
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Behinderung und Politik 2/08
wirtschaftlich recht gut geht, und dass rund ein Drittel der Menschen im Rentenalter
auch mit siebzig noch einer Erwerbsarbeit nachgeht.
Damit dieser gute finanzielle Zustand der Altersversicherung bei einer stetigen Zunahme von älteren Menschen bei gleichzeitiger Abnahme von Nachwuchs auch in
Zukunft aufrecht erhalten werden kann, muss heute an neuen Lösungen gearbeitet
werden. Der Nationalrat hatte deshalb geplant, in der Frühlingssession eine Neuauflage der 11. AHV-Revision zu beraten. Noch bevor die Debatte losging, prallten die
unterschiedlichen Vorstellungen von links und rechts bereits heftig aufeinander. Nicht
einig war man sich über die Erhöhung des Rentenalters der Frauen auf 65 Jahre, die
Verwendung der damit eingesparten Gelder und über die Abfederung von Frühpensionierungen. Die FDP ging so weit, dass sie die Vorlage an den Bundesrat zurückschicken wollte, obwohl sie sich in der vorberatenden Kommission mit ihren Sparvorschlägen hatte durchsetzen können. Bundesrat Couchepin war angesichts der zerstrittenen Parteien dafür, die Übung abzublasen. Der Nationalrat trat schliesslich
doch auf das Geschäft ein und verabschiedete eine reine Sparvorlage: Frauen werden in Zukunft ihre AHV erst mit 65 Jahren bekommen. Die damit eingesparten 800
Millionen Franken werden nicht, auch nicht teilweise, zur Subventionierung eines
frühzeitigen Altersrücktritts von Kleinverdienern eingesetzt. Wenn der Ständerat
keine Korrekturen an der Vorlage vornimmt, wird der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) deshalb ziemlich sicher das Referendum dagegen ergreifen. Zudem hält der SGB weiterhin an seiner Initiative zur Frühpensionierung bei voller
Rente ab 62 Jahren fest.
Berufliche Eingliederung
Allenthalben wird von neuen Sozialfirmen und vom Ausbau bestehender Firmen berichtet, die sich um die Wiedereingliederung von Langzeitarbeitslosen, von nicht
mehr hundert Prozent leistungsfähigen und von gesundheitlich beeinträchtigten
Menschen kümmern. Diese Firmen berichten von guten Erfolgen – im sogenannten
zweiten Arbeitsmarkt. Über die Anstellung bei Sozialfirmen arbeiten Menschen zu
einem Lohn von beispielsweise 1000 Franken; den Rest zur Deckung ihrer Lebenskosten bezahlt die Sozialhilfe. Der Anteil jener Menschen, die über diesen Weg in
den ersten Arbeitsmarkt zurück finden, ist unterschiedlich hoch. Einige Firmen geben
eine sogenannte Erfolgsquote von 40 Prozent an, andere liegen darunter. Fachleute
sind sich einig darüber, dass es sich auf jeden Fall auszahlt, wenn Arbeitssuchende
in eine Tagesstruktur eingebunden sind und über eine eigene Leistung am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Möglicherweise ist diese Tatsache der wichtigste Erfolg der Sozialfirmen.
In den Niederlanden hat man eben die milliardenschweren Integrationsprogramme
für Arbeitslose der vergangenen gut zehn Jahre durchleuchtet. Und ist zum Schluss
gekommen, dass die erzielten Resultate nicht den ursprünglich hohen Erwartungen
entsprechen. Das Sozial- und Arbeitsministerium ist nicht einmal sicher, ob die angebotenen Kurse und Begleitungen tatsächlich ausschlaggebend dafür gewesen
sind, wenn jemand eine Stelle gefunden hat. Deshalb werden nun staatliche Leistungen für Arbeitsprogramme langsam und sicher zurückgefahren oder abgebaut. Die
neue Devise in den Niederlanden heisst heute: Arbeit jeder Art ist zumutbar.
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Behinderung und Politik 2/08
Sozialhilfe
Die heftige Kritik an der Zürcher Sozialvorsteherin Monika Stocker hat in vielen
Schweizer Städten Diskussionen über die BezügerInnen dieser Leistung ausgelöst
und dem Thema Sozialhilfe zu breiter Medienpräsenz verholfen. Wurden die Behörden zunächst von mancher Seite heftig angegriffen und teilweise pauschal verunglimpft sowie die Qualität und Berechtigung der Arbeit der Sozialhilfebehören generell in Zweifel gezogen, sind heute wieder gemässigtere und verständnisvollere Töne
zu hören. So wird etwa deutlich, dass eine enge Begleitung und damit bessere Kontrolle der SozialhilfebezügerInnen mehr Personal braucht und damit teurer ist, als
bisher angenommen. In der Stadt Zürich hat diese Erkenntnis zu entsprechende
Reformen in den Abläufen und zu einem Personalausbau geführt. In weiteren Städten kommen ähnliche Diskussionen in Gang.
Die Anzahl der Menschen, die trotz Arbeit unter dem Existenzminimum leben, sogenannte Working Poor, ist im Jahr 2006 gegenüber jener im Jahr 2000 leicht gesunken. Ihr Einkommen liegt in vielen Fällen mehrere Hundert Franken unter dem Existenzminimum. Alarmierend ist, dass immer mehr Junge vom Armutsrisiko bedroht
sind.
BVG
Anfangs April stand in der nationalrätlichen Kommission für soziale Sicherheit und
Gesundheit (SGK-N) wieder einmal der Umwandlungssatz auf der Traktandenliste.
Zur Erinnerung: Der Umwandlungssatz gibt an, zu welchem Prozentsatz das gesparte Kapital in eine Rente umgewandelt und ausbezahlt wird. Die SGK-N ist zwar
dafür, dass der Umwandlungssatz in der beruflichen Vorsorge gesenkt wird und damit die entsprechenden Renten sinken sollen. Die Senkung von heute 7,2 auf 6,4
Prozent soll aber frühestens im Jahr 2014 erfolgen. Zudem hat die Kommission eine
Unterkommission damit beauftragt Vorschläge zu erarbeiten, wie die Überschüsse in
den Pensionskassen zwischen Versicherten und Kassen zu verteilen seien.
Heute sind immer mehr Menschen gezwungen, dauernd neue Arbeitsstellen zu suchen. Grund: Sie finden oft nur befristete und teilzeitliche Jobs. Dadurch werden sie
um die Leistungen der beruflichen Vorsorge geprellt, die einerseits ein Mindesteinkommen, andererseits eine Mindestanstellungsdauer von 3 Monaten voraussetzen.
Der Bundesrat hat beschlossen, diesen Missstand teilweise zu beheben. In Zukunft
sollen bei mehreren aufeinander folgenden Anstellungen beim gleichen Arbeitgeber
die Anstellungszeiten zusammengerechnet werden.
KVG
In Sachen Krankenversicherung war in den letzten Wochen der Abstimmungskampf
über den neuen Verfassungsartikel das beherrschende Thema in den Medien. Die
Befürworter der Vorlage versprechen, dass mit der Neuausrichtung Kosten gespart
und die Qualität der Leistungen erhöht werden können. Die Gegner befürchten, dass
bei Annahme des neuen Verfassungsartikels das Krankenkassenobligatorium aufgeweicht, die Vergütung von Pflegeleistungen gefährdet, die freie Arztwahl eingeschränkt und die Macht der Krankenkassen gestärkt werde. Alles nach dem Motto,
dass die Gesundheit ein Gut sei wie jedes andere auch, also etwa wie ein Auto oder
ein Buch, das den sogenannten Kräften des Marktes unterworfen werden könne.
Und dass dies erst noch im Sinne der KundInnen sei. Dem ist aber nicht so: Gesundheit ist ein Gut, dessen Zugänglichkeit für alle erhalten bleiben muss und nicht
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Behinderung und Politik 2/08
nur für jene, die ein dickes Portemonnaie haben. Eine breite Koalition von Behindertenorganisationen, allen Kantonen, den ÄrztInnen sowie von SP, CVP und Teilen der
FDP lehnen den neuen Gesundheitsartikel ab (siehe auch http://nein-zum-kassendiktat.ch/). AGILE empfiehlt, am 1. Juni zum angeblichen Gesundheitsartikel ein Nein in
die Urne zu legen.
Wenn es nach dem Willen des Ständerates geht, müssen PatientInnen sowieso
schon bald tiefer ins Portemonnaie greifen. Die zahlenmässig stark dominierenden
Interessensvertreter der Krankenkassen haben in der Frühlingssession im Ständerat
eine Lösung durchsetzen können, die den PatientInnen in Zukunft eine Kostenbeteiligung von 20 Prozent auferlegt, wenn sie nach einem Spitalaufenthalt zu Hause
Pflege benötigen. Die unterlegene Minderheit befürchtet, dass die Spitäler die PatientInnen wegen den neu vorgesehenen Fallpauschalen in Zukunft früher als bisher
nach Hause entlassen. Und dass die PatientInnen dadurch vermehrt Kosten zu tragen haben. Im Spital wird die Pflege nämlich zu hundert Prozent durch die Krankenkassen gedeckt! – Die Vorlage geht nun zurück in den Nationalrat. Dort müssen die
letzten Differenzen zum Ständerat ausgeräumt werden. Sie betreffen auch die Kostenbeteiligung der Versicherten bei der Langzeitpflege. Stimmt der Nationalrat in der
Sommersession dem Ständerat nicht zu, muss das Geschäft in eine Einigungskonferenz gehen. Die IG Pflegefinanzierung hofft, dass sich die grosse Kammer mit seinem patientenfreundlicheren Modell doch noch durchsetzen wird.
Einen ganzen Strauss widersprüchlicher Meldungen konnten wir im April entgegen
nehmen: Einerseits gaben die Krankenkassen bereits bekannt, im kommenden Jahr
seien nur «massvolle» Prämienerhöhungen zu erwarten. Andererseits wurde ein
Prämienanstiegs-Knall in vier Jahren prognostiziert. Und schliesslich gaben die
Krankenkassen einen weiteren Anstieg ihrer bereits guten Reserven bekannt. Die
Normalverbraucherin versteht hier nur, dass sich auf dem Gesundheitsmarkt verschiedene Interessen tummeln. Dass dabei immer die Gesundheit der Einzelnen an
erster Stelle steht, muss stark bezweifelt werden.
Vermischtes
Sozialrechte per Beschwerde durchsetzen?
Zurzeit wird in der Schweiz darüber diskutiert, ob Sozialrechte, wie sie in einzelnen
UNO-Verträgen garantiert sind, per Beschwerde durchgesetzt werden können. Soll
zum Beispiel eine Arbeitslose ihr Recht auf Arbeit, wie es die entsprechende UNOSozialcharta vorsieht, vor einem Gericht einklagen können? Wer wäre dann die beklagte Partei und zu welchen Massnahmen müsste sie verurteilt werden können? Die
Diskussionen werden vor allem im Zusammenhang mit der Armutsbekämpfung in
Ländern des Südens geführt. Es ist allerdings vorstellbar, dass die Diskussion auch
bei uns Auswirkungen haben könnte, dann nämlich, wenn all jene, die arbeiten
möchten, ihren Anspruch vor einem Gericht einfordern würden. – Bis dies soweit ist,
werden wohl noch einige Jahre vergehen. Die Schweiz vertritt in der zuständigen
UNO-Arbeitsgruppe die Haltung, es müsse jedem Staat überlassen bleiben, welche
Rechte er für einklagbar erklärt und welche nicht.
Revision Arbeitslosenversicherung
In «agile – Behinderung und Politik» 1/08 haben wir kurz über die anstehende Revision der ALV berichtet. Das Revisionspaket, welches der mit gegen 5 Milliarden verschuldeten Versicherung dank 0,2 Prozent höheren Lohnbeiträgen mehr Geld brin21
Behinderung und Politik 2/08
gen soll, wird von den bürgerlichen Parteien SVP und FDP abgelehnt. Sie wollen
über eine rein leistungsseitige Revision die ALV sanieren. SP, Grüne und Gewerkschaften verwehren sich gegen einen Leistungsabbau. Die CVP versucht, zwischen
diesen Blöcken ihre Position zu finden.
Quellen (berücksichtigt bis 29. April 2008): NZZ, Tagesanzeiger, Der Bund, Le
Temps, Le Courrier, Medienmitteilungen der Bundesämter für Sozialversicherungen
und Statistik.
Wem ist die IV wie viel wert?
Von Ursula Schaffner
Vor der Frühjahrssession der eidgenössischen Räte wurden die Zeichen für eine
Verabschiedung einer Vorlage IV-Zusatzfinanzierung noch einigermassen optimistisch beurteilt. In der Zwischenzeit ist das Stimmungsbarometer merklich gesunken.
Nationalrat
Die grosse Kammer war ihrer vorberatenden Kommission (SGK-N) weitgehend gefolgt und hatte damit einige gewichtige Differenzen zur kleinen Kammer geschaffen.
So soll der Mehrwertsteuersatz nach den Vorstellungen des Nationalrates für sieben
Jahre linear um 0,4 Prozentpunkte angehoben werden (Ständerat: proportional 0,5
Prozent). Das Startkapital von 5 Milliarden aus dem AHV-Fonds zur Äufnung eines
eigenen IV-Fonds soll verzinst werden (Ständerat: à fonds perdu). Eine 6. IV-Sparvorlage muss bereits Ende 2010 auf dem Tisch liegen (Ständerat: Ende 2012).
Differenzbereinigung im Ständerat
Die sozialpolitische Kommission des Ständerates (SGK-S) hat die Beratungen zur
Differenzbereinigung Mitte April durchgeführt. Es sieht eher danach aus, als ob die
Differenzen zum Nationalrat bestehen bleiben. Damit ist mehr als ungewiss, ob die
beiden Kammern in der Sommersession, die bis Mitte Juni dauert, einen abstimmungsreifen Kompromiss finden werden.
Die SGK-S wird ihrem Plenum vorschlagen, die Mehrwertsteuer um 0,4 Prozentpunkte zu erhöhen, allerdings nicht linear, sondern proportional. Sie hält zudem
daran fest, dass die 5 Milliarden Startkapital für den neuen IV-Fonds unverzinslich
zur Verfügung gestellt werden sollten. In der letzten gewichtigen Differenz zum Nationalrat ist eine Mehrheit der Kommission durchgedrungen und will sich somit der
grossen Kammer anschliessen: Der Bundesrat soll bereits Ende 2010 eine weitere
IV-Revision vorlegen.
Die DOK erinnert mit einer schriftlichen Eingabe an die Damen und Herren Ständerätinnen an die Ausgangslage der hochverschuldeten IV sowie an die Tatsache, dass
die 5. IVG-Revision erst in Kraft getreten ist. Niemand wird ernsthaft behaupten wollen, dass ihre Wirkung nach kaum drei Jahren seriös ausgewertet werden kann und
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Behinderung und Politik 2/08
dass also bereits Ende 2010 gesagt werden kann, welcher Nachbesserungsbedarf
bei den Instrumenten der 5. IVG-Revision besteht.
Harter Abstimmungskampf in Sicht
Auch wenn zur Zeit unklar ist, wann sich das Parlament über die Mehrwertsteuervorlage einigen wird, eine Volksabstimmung wird es sicher geben. Und der Abstimmungskampf wird sehr hart werden, denn niemand will gerne mehr Steuern bezahlen. Zudem glauben noch zu viele Menschen in diesem Land, die Leistungen der IV
könnten weiter abgebaut werden. Umso wichtiger ist es, dass schon heute alle Behinderten, ihre Angehörigen, Freundinnen und auch sonst alle Kreise, die der IV das
Überleben ermöglichen wollen, möglichst oft darüber sprechen, welchen Zweck
diese Volksversicherung hat und dass sie mehr Geld braucht, um diesen Zweck
langfristig weiterhin gewährleisten zu können.
Die Behinderten und ihre Organisationen bereiten sich deshalb auf den Abstimmungskampf vor.
Der Stachel im Fleisch
Von Ursula Schaffner
In der letzten Ausgabe von «agile – Behinderung und Politik» haben wir über den
Auftakt zur kritischen Begleitung der 5. IVG-Revision durch die Behinderten und ihre
Organisationen berichtet. An dieser Stelle werden wir Sie in Zukunft laufend über die
neuesten Entwicklungen und Erkenntnisse aus diesem Bereich informieren.
BSV und IV-Stellen
Das BSV und die IV-Stellen haben die Fragen von Seiten der Behinderten zur Umsetzung der IV-Revision erhalten. Es wird einige Wochen dauern, bis erste Zahlen
vorliegen, wie viele der neuen Massnahmen durchgeführt wurden, wie viel sie gekostet und ob sie zum Arbeitsplatzerhalt oder zu einer Neuanstellung der betroffenen
Person geführt haben. Noch länger wird es dauern bis wir wissen, ob die Massnahmen langfristig wirken, das heisst, ob die von den IV-Stellen enger als bisher begleiteten Personen auch nach einem, zwei und mehr Jahren ihre Stelle behalten konnten. Wir werden deshalb beim BSV und bei den IV-Stellen immer wieder entsprechend nachfragen und nachhaken, ganz im Sinne von «Wir sind der Stachel in ihrem
Fleisch».
Aktuell stellen wir fest, dass sich die IV-Stellen vermehrt mit Informationsveranstaltungen an die Öffentlichkeit wenden, um über ihre neuen (und alten) Aufgaben und
Instrumente zu berichten. Auf die Kampagne des BSV haben wir in der vorangehenden sozialpolitischen Rundschau aufmerksam gemacht.
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Behinderung und Politik 2/08
Selbsthilfe
Noch vor den Sommerferien will die Behinderten-Selbsthilfe mit der Geschichtenund Datensammlung zur Umsetzung der 5. IVG-Revision aus ihrer Sicht starten. Der
Zeitplan zur Vorbereitung konnte bisher eingehalten werden. Seit Februar ist ein
Fragebogen erstellt und auf französisch und italienisch übersetzt worden. Damit kann
erfasst werden, ob die Betroffenen bei den IV-Stellen Problemen begegnen bei der
Umsetzung der 5. IVG-Revision. Und wenn ja, welchen Problemen.
Damit man sich vorstellen kann, wie die Fragen etwa lauten, hier ein paar Beispiele:
Wurde die ratsuchende Person ohne ihr Einverständnis bei der IV-Stelle gemeldet?
Hat die IV-Stelle die beantragte Integrationsmassnahme gewährt? Wenn nein, weshalb nicht? Wurde bei einer Rentenrevision die Rente der betroffenen Person aufgehoben oder herabgesetzt? Wenn ja, mit welcher Begründung, und welche Begleitmassnahmen zur Wiedereingliederung hat die IV-Stelle in diesem Fall angeboten?
Um bei der Geschichten- und Datensammlung den Datenschutz zu respektieren,
wurde eine Vollmacht ausgearbeitet. Mit ihrer Unterzeichnung geben die ratsuchenden Personen ausdrücklich ihre Zustimmung, dass ihre Geschichte weiterverwendet
werden darf.
Im persönlichen Gespräch werden zur Zeit rund 50 Geschäfts und Beratungsstellen
der Behindertenorganisationen für eine Zusammenarbeit sensibilisiert und motiviert.
Zunächst bedeutet das Monitoring für die SozialarbeiterInnen und RechtsberaterInnen ja mehr Arbeit. Die meisten Berufsfachleute sind erfreulicherweise zur Zusammenarbeit bereit.
Ein erfreulicher Nebeneffekt der gemeinsamen Arbeit an den Dokumenten in kleinen,
behinderungs-gemischten Gruppen ist übrigens das erweiterte Verständnis der Betroffenen füreinander.
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Behinderung und Politik 2/08
Assistenzbudget – Etwas für wenige? Etwas für alle!
Von Simone Leuenberger
Zahnmedizinischer Assistent, Operationsassistentin, Praxis-Assistent, PharmaAssistentin
Persil, Perwoll, Persönlich
Perplex, Perfekt, Persönlich
Periodisch, Permanent, Persönlich
Assistentin der Geschäftsleitung, Assistent der Gemeindeschreiberin, Wissenschaftliche Assistentin
Absenz, Abstinenz, Assistenz
Essenz, Resistenz, Assistenz
Konsistenz, Existenz, Existenz??? Assistenz!!!
Assistent – IN, Assistent – OUT, ASSISTENZ JETZT
Persönliche Assistenz!
Wovon wir reden
Mit diesen Wortspielereien führte Eva Aeschimann, Leiterin Öffentlichkeitsarbeit bei
AGILE, die Delegierten der Mitgliedorganisationen und die sozialpolitisch interessierten Gäste ins Thema der diesjährigen Delegiertenversammlung von AGILE ein.
Das Stichwort Eingliederung ist in aller Munde. Dabei denkt man vorwiegend an die
berufliche Eingliederung. Doch tatsächliche Eingliederung geht viel weiter. Präsidentin Dr. Therese Stutz Steiger machte sich in ihrer Einleitung Gedanken darüber, wie
weit Eingliederung wohl im jetzigen politischen Klima gehen wird, wo sich vieles nur
noch ums Sparen dreht.
In den weiteren Referaten und den anschliessenden, engagierten Voten der Zuhörerinnen und Zuhörer wurde bald einmal klar, dass Menschen mit den unterschiedlichsten Behinderungsarten auch unterschiedlichste Unterstützung brauchen, um ein
selbstbestimmtes Leben führen zu können. Die einen bevorzugen einen zuverlässigen Dienst, der ihnen eine Vertrauensperson zur Verfügung stellt. Andere wollen ihre
persönlichen Assistenten und Assistentinnen selbst anstellen. Hätten wir weitere
Referate gehört, gäbe es nun wohl auch noch über weitere Varianten zu berichten.
Denn auch Menschen mit einer Behinderung sind Individuen mit unterschiedlichen
Bedürfnissen. Klar wurde, dass wir eine einheitliche Terminologie brauchen, damit
wir uns verstehen, uns ernst nehmen und gemeinsam am gleichen Strick für ein
selbstbestimmtes Leben von Menschen mit einer Behinderung einstehen können.
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Behinderung und Politik 2/08
Es geht uns alle an!
Einige haben sich schon lange mit dem Thema persönliche Assistenz beschäftigt,
andere haben den Begriff einfach schon einmal gehört. Die Anwesenden hatten deshalb Zeit, sich in kleinen Gruppen zum Thema auszutauschen, Fragen zu stellen,
von ihren Erfahrungen zu berichten und sich zu überlegen, was denn persönliche
Assistenz mit ihnen selbst zu tun hat. Daraus ergaben sich rege Diskussionen, die
nun in die Mitgliedsorganisationen getragen werden können. Damit das auch wirklich
geschieht, bekamen die Delegierten am Ende der Veranstaltung auf einem AGILEfarbigen Papier eine Botschaft, mit der sie nun in ihren Organisationen über persönliche Assistenz informieren können:
«Assistenz ist für Menschen mit Behinderung ein wichtiger Schlüssel für ein selbstbestimmtes Leben! Mit Assistenz können sie selber bestimmen, wer ihnen wann,
was, wo, wie und wie lange hilft. Das ist wichtig, um am Gesellschaftsleben teilhaben
zu können.
Assistenz muss für alle Menschen mit Behinderung zugänglich sein: Für Menschen
mit einer Sinnesbehinderung, einer psychischen Behinderung, einer Körperbehinderung oder einer geistigen Behinderung.
Assistenz muss für jung und alt, mit oder ohne Arbeitsstelle, mit oder ohne Vermögen zugänglich und bezahlbar sein.
Assistenz muss für die alltäglichen Lebensverrichtungen, die lebenspraktische Begleitung, die Haushaltsführung, Pflege, den Beruf, die Bildung, die Freizeit und natürlich für alle Kommunikationshandlungen möglich sein.»
Assistenz: Weiterentwicklung der Sozialpolitik in die richtige Richtung!
Den politischen Akzent setzte das Interview mit Toni Bortoluzzi, SVP-Nationalrat und
Mitglied des Patronatskommitees der Fachstelle Assistenz Schweiz (FAssiS). Er betonte, dass Assistenz eine Weiterentwicklung der Sozialpolitik sei, die Menschen mit
einer Behinderung ermögliche, ihre Einschränkungen zu kompensieren und dadurch
ihre Kompetenzen zu nutzen. Die Invalidenversicherung sei deshalb das richtige
Gefäss für die Verwirklichung einer Lösung. Allerdings könne eine solche Weiterentwicklung der Sozialpolitik nicht in Riesenschritten vor sich gehen. Das Pilotprojekt
Assistenzbudget sei aber ein Schritt in die richtige Richtung. Toni Bortoluzzi erwartet
nun, dass der Bundesrat eine Gesetzesvorlage ausarbeitet. Sonst müsse das Parlament aktiv werden. Sobald die Ausgestaltung des Assistenzbudgets klar sei, könne
man die Finanzierung an die Hand nehmen. Obwohl Nationalrat Bortoluzzi dafür
noch kein Patentrezept vorlegen kann, ist er davon überzeugt, dass eine Finanzierungslösung gefunden wird.
Nun hoffen wir fest, dass Toni Bortoluzzi sich auch innerhalb seiner Partei für ein
Assistenzbudget stark macht und seine Parteikollegen und -kolleginnen überzeugt.
Wir wünschen ihm dabei viel Erfolg!
Erste Vorschläge auf dem Tisch – aber noch nicht gesichert
Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) hat sich erste Gedanken gemacht
zu einer möglichen Ausgestaltung des Assistenzbudgets bei einer Überführung in
das ordentliche Recht. Ursula Schaffner, Bereichsleiterin Sozialpolitik und Interessenvertretung bei AGILE, präsentierte diese Ideen. Die Assistenz als eine Weiter26
Behinderung und Politik 2/08
entwicklung der Sozialpolitik ist im Moment aber überhaupt noch nicht gesichert. In
den kommenden Wochen wird es darum gehen, behinderungsübergreifend und vereint für die Anliegen der Menschen mit Behinderung mit Assistenzbedarf einzustehen. Denn Menschen mit einer Behinderung wollen, wie alle andern Menschen auch,
ihre Kompetenzen zum Nutzen der ganzen Gesellschaft einsetzen. Und das geht
häufig nur mit umfassender Assistenz!
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Behinderung und Politik 2/08
GLEICHSTELLUNG
Darf Architektur diskriminieren?
Von Joe A. Manser, Architekt, Schweizerische Fachstelle für behindertengerechtes
Bauen, Zürich
Unter dem Gesichtspunkt «architektonischer Gestaltungsqualitäten» werden BürgerInnen mit Behinderung noch immer ausgegrenzt oder benachteiligt, es sei denn, ihre
Rechte werden durch die Intervention von Behindertenorganisationen geltend gemacht. Dies zeigt das aktuelle Beispiel eines Neubauprojektes für die Eidgenössische Technische Hochschule in Lausanne (siehe «agile – Behinderung und Politik
1/08»).
Das ursprüngliche Projekt
Die Ecole Polytechnique Fédérale in Lausannne (EPFL) will ein neues Lern- und Informationszentrum bauen, das mit 100 Millionen Franken vom Bund mitfinanziert
wird. Das Neubauprojekt japanischer Star-ArchitektInnen ist bei einem internationalen Architekturwettbewerb zuvor ausgewählt worden. Unter einem grossen Dach
über eine Fläche in der Grösse von zwei Fussballfeldern verteilen sich zwanzig grössere und kleinere Einbauten, alles auf einem hügeligen Gelände mit Höhenunterschieden von bis zu fünf Metern. Die Verbindungswege zwischen den in der Halle
verteilten Bauten führen über das Terrain hinauf und hinunter über Treppen oder
Rampen mit meist mehr als sechs Prozent Steigung.
Behindertengerecht? Projekt mit Mängeln
Für gehbehinderte Studierende und BesucherInnen sind spezielle, tremola-artige
Umwege mit Steigungen bis sechs Prozent vorgesehen, was zu grossen Wegdistanzen führt. Die PlanerInnen stellen sich dabei auf den Standpunkt, dass Rampen mit
Steigungen bis sechs Prozent nach Schweizer Normen zulässig sind. Nach Norm
sind Rampen jedoch nur für den Aussenraum vorgesehen oder als Notlösung für die
Nachbesserung bei bestehenden Bauten. Ein grosses Problem ist auch die Orientierung für sehbehinderte Personen.
Allen Studierenden und BibliotheksbesucherInnen mit einer Behinderung wird bei
diesem Projekt aus rein gestalterischen Gründen die Nutzung massiv erschwert oder
gar verunmöglicht.
Jedermann meint nicht jedermann
«Das EPFL Lern-Center ist ein Zentrum für den Austausch und das Suchen von
Ideen für Jedermann. Es funktioniert als Katalysator zur Herstellung von neuen Beziehungen im akademischen Bereich wie auch mit der Gesellschaft». So die schönen
Worte im Architekturbeschrieb! Aber die konkrete Umsetzung zeigt, dass mit «jedermann» nicht wirklich alle gleichwertig eingeschlossen werden, sondern einige BenutzerInnen von Anfang an diskriminiert werden.
Im Grundsatz geht es hier um die Frage: Ist die künstlerische Wirkung mit der Hügellandschaft im «Interesse des Allgemeinwohl» höher zu gewichten als eine nicht
diskriminierende Benutzbarkeit der Bauten für alle? Dabei fällt hier besonders ins
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Behinderung und Politik 2/08
Gewicht, dass es sich um die Errichtung eines Lern-, Informations- und KontaktCenters handelt, also um eine Baute die insbesondere für Menschen mit einer Behinderung besonders wichtig ist. Für ein Objekt mit dieser Zweckbestimmung erweist
sich eine optimale, behindertengerechte Ausgestaltung als zwingend.
Intensive Verhandlungen für Menschen mit Behinderung
Im Sommer 2005 wurde das Neubauvorhaben der EPF in Lausanne der Öffentlichkeit präsentiert. Die Beratungsstelle für Behindertengerechtes Bauen im Kanton
Waadt musste feststellen, dass dieses Projekt für Menschen mit einer Behinderung
problematisch ist und setzte sich umgehend mit der Bauherrschaft in Verbindung. In
der Folge kam es während eineinhalb Jahren zu intensiven Verhandlungen mit den
Architekten und der Bauherrschaft. Obwohl beim Projekt wesentliche Verbesserungen erzielt werden konnten, blieb der geplante Neubau insgesamt problematisch für
Menschen mit Behinderung. Beim Abschluss der Beratungen stellte sich für die Behindertenorganisationen deshalb die Frage, ob das Projekt mit einer Einsprache bis
vor Bundesgericht gezogen werden soll.
Einsprache bringt Verbesserungen
In der Folge entschlossen sich die Behindertenorganisationen, eine Einsprache zu
machen, um in nochmaligen Verhandlungen zusätzliche wesentliche Verbesserungen zu erzielen. Diese konnten dann auch im Sinne eines Kompromisses in der
Baubewilligung rechtlich verbindlich verankert werden. Auf einen Weiterzug der Einsprache bis ans Bundesgericht haben die Behindertenorganisationen jedoch verzichtet. Dies hauptsächlich aus der Erkenntnis, dass ein schlechtes Abkommen immer besser ist als ein ausgewachsener Konflikt. Da es sich um ein Prestigeprojekt
der EPFL handelt, bestünde bei einem Durchziehen der Einsprache ein sehr grosses
Risiko, dass weitere rechtliche Klagen eine ähnlich negative Mediendynamik erzeugen würden wie die Einsprache des VCS beim Fussballstadion in Zürich, und dies
ohne jegliche Erfolgsgarantie.
Nutzer-Gerechtigkeit für alle
Das Be-hindern von Menschen in einem über 100 Millionen Franken teuren Neubau
ist gerade bei einem Lernzentrum besonders stossend. Waren sich die WettbewerbsJury, die Bauherrschaft und die Star-ArchitektInnen ihrer Verantwortung womöglich
nicht vollumfänglich bewusst? Im besten Falle haben wir es mit einem Missverständnis zu tun, in dem alle beteiligten Planer meinten, es genüge, wenn überall flache
Rampen vorhanden sind. Das hiesse, dass die Verantwortlichen sich nicht genügend
mit dem Prinzip der Nutzer-Gerechtigkeit für «alle» auseinandergesetzt haben. Ferner steht bei Beispielen wie diesem EPFL-Projekt die klassische Architekturfrage im
Raum: Gilt das Primat von «form follows function» oder «function follows form»? So
oder so, eines ist klar: Rein gestalterische, repräsentative Absichten rechtfertigen
keine Benachteiligung oder Ausgrenzung von Menschen.
29
Behinderung und Politik 2/08
Aktuelles aus dem Gleichstellungsrat Égalité Handicap
Von Olga Manfredi, Kopräsidentin Gleichstellungsrat
Mit dem Inkrafttreten des Behindertengleichstellungsgesetzes BehiG auf Anfang
2004 wurde auf Vorschlag von AGILE der Gleichstellungsrat Égalité Handicap als
strategische Führung der Fachstelle Égalité Handicap gegründet.
In den vergangenen vier Jahren hat sich der Rat in seiner Aufgabe definiert und mit
der Fachstelle in der Zusammenarbeit erprobt. Nachfolgend ein kurzer Rück- und ein
Einblick in die laufenden Geschäfte.
Rückblick
Der Gleichstellungsrat hat die Strategie für die Fachstelle bis Mitte 2006 ausgearbeitet. Danach wurde sie für die folgenden Jahre bis 2009 angepasst.
Mit der Schaffung eines Kopräsidiums 2005 erhielt auch die wichtige Öffentlichkeitsarbeit einen festen Platz. Neben den Präsidialarbeiten übernimmt das Kopräsidium
auf operativer Ebene Öffentlichkeitsarbeit im Rahmen der Selbstvertretung; für die
Romandie Cyril Mizrahi, für die Deutschschweiz ich.
In den vergangen drei Jahren hatten wir Gelegenheit, zahlreiche Beiträge in verschiedenen Publikationen zu platzieren. Wir haben Printmedien, Fernsehen und Radios Interviews gegeben, sowie uns an Workshops und Podiumsgesprächen beteiligt. Gleichzeitig wurde in Zusammenarbeit mit der Fachstelle intensiv Lobbyarbeit
geleistet. Sei es durch Schreiben, sei es mittels persönlicher Kontakte und Gesprächen mit Verantwortungstragenden aus Verwaltung, Politik und Gesellschaft. Zudem
wurde auch die Rats-interne Zusammenarbeit geregelt.
Aktuelle Eckpunkte des Rates
Der Rat beschäftigt sich zurzeit mit einer breiten Palette an Themen. Nachfolgend
ein Auszug der wichtigsten laufenden Geschäfte.
a. Merkblatt Sprachgebrauch
Unter Menschen mit Behinderung ist seit geraumer Zeit mehr und mehr Unmut über
den allgemeinen Sprachgebrauch aufgekommen. Dieser enthält noch immer zahlreiche stigmatisierende Ausdrücke. Die Idee, Sprache als Spiegel des gesellschaftlichen Denkens hin zu gleichberechtigter Haltung mitzuprägen, haben Thea Mauchle
und mich veranlasst, ein Merkblatt zu zeitgemässem Sprachgebrauch zu verfassen.
Dieses Merkblatt ist bereits vor einigen Jahren entstanden. Nun hat es der Rat weiterentwickelt und in Zusammenarbeit mit dem Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung die deutsche Version fertig gestellt. Zurzeit
werden die italienische und die französische Version erarbeitet. Sobald diese vorliegen, wird das Dokument den Medien und weiteren Kreisen der Öffentlichkeit vorgestellt.
b. Verbesserung des Zugangs zu Hoch- und Fachhochschulen
Insgesamt zehn Personen beider Geschlechter, behinderungsartenübergreifend, aus
allen Landesteilen kommend bilden den Gleichstellungsrat.
30
Behinderung und Politik 2/08
Um die gestellten Aufgaben professionell bewältigen zu können, haben wir jede Sitzung mit einer Präsentation von je einer Person mit und über ihre Behinderung und
den sich dazu stellenden gleichstellungsrechtlichen Fragen eröffnet.
Auf dieser Basis entstand das laufende Projekt über die Verbesserung des Zugangs
zu Hoch- und Fachhochschulen für Menschen mit Behinderung. Anlässlich von Aussagen verschiedener Ratsmitglieder wurde festgestellt, dass die Hoch- und Fachhochschulen noch nicht den Anforderungen der im BehiG festgehaltenen minimalen
gleichstellungsrechtlichen Ansprüche genügen.
Es wurden daraufhin mit vier verschiedenen Gruppen von Personen mit Behinderung
Gespräche geführt. Alle sind daran, eine Ausbildung auf Tertiärstufe zu absolvieren
oder haben eine solche abgeschlossen. Basierend auf den Gesprächen verfassten
wir einen Problemkatalog. Gleichzeitig wurde in Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Verband der Studierenden ein Projekt ausgearbeitet, welches Ende 2007
dem EBGB eingereicht wurde. Ziel dieses Projektes ist es, Erhebungen über die aktuelle gleichstellungsrechtliche Situation von Studierenden an den Hoch- und Fachhochschulen zu erhalten. Weiter sollen damit auch Verbesserungsvorschläge unterbreitet werden können. Das Vorprojekt ist eingereicht, es wird dieses Jahr weiter bearbeitet.
c. Kampagne 5 Jahre BehiG
2009 wird das Behindertengleichstellungsgesetz BehiG fünfjährig. Auf Anfrage der
DOK (Dachorganisationen der privaten Behindertenhilfe) haben der Rat und die
Fachstelle 2007 eine Vorskizze zu einer möglichen Kampagne vorgelegt. Dies in Absprache mit dem EBGB. Darauf aufbauend fanden Anfang dieses Jahres drei
Workshops statt. Daran beteiligt waren Vertretende der DOK, des Rates und der
Fachstelle.
Die Vorskizze der Kampagne liegt vor. Zur Zeit werden Arbeitsgruppen unter Beteiligung der drei Gruppen gebildet und die Ausarbeitung der Kampagne an die Hand
genommen.
Der äusserst positive Nebeneffekt dieser Kampagnenaufbereitung ist, dass die drei
Parteien erstmals gemeinsam an einem Projekt beteiligt sind und somit neue Formen
der Zusammenarbeit im Behindertenwesen entstehen konnten.
Weitere Themen in Kürze:
Gemeinsam mit der Fachstelle beobachtet der Rat die Haltung von Regierung und
Parlament zur Unterzeichnung der UNO-Konvention zum Schutz der Rechte von
Menschen mit Behinderung.
Zudem ist die Schaffung eines Museumsgesetzes der Bundesmuseen im Gange, an
der Égalité Handicap mitbeteiligt ist.
Weiter sind Vorarbeiten am Laufen zum Ersatz des stossenden Begriffs «Invalidität».
Aktuell ist ausserdem eine Evaluation des Rates im Gange.
Wie sich zeigt, ist auf dem Gebiet der Gleichstellung von Menschen mit Behinderung
noch viel zu tun. Der Gleichstellungsrat und die Fachstelle Egalité Handicap setzen
31
Behinderung und Politik 2/08
sich mit allen Kräften dafür ein, dass der hindernisfreie Zugang für alle zunehmend
Alltag wird.
Politische Bestrebungen zum Behindertengleichstellungsrecht
Von Tarek Naguib, Fachstelle Égalité Handicap (www.egalite-handicap.ch)
Behindertengleichstellungsrecht stärken durch Politik
Im August 1998 war die Volksinitiative «Gleiche Rechte für Behinderte» lanciert worden. In weniger als einem Jahr kam die erforderliche Anzahl Unterschriften aus allen
Landesteilen zusammen. Parallel dazu hatte der Nationalrat, über eine von Nationalrat Marc Suter am 5. Oktober 1995 eingereichte parlamentarische Initiative zu befinden. Dank begleitender intensiver Lobbyarbeit der Behindertenorganisationen verfügt
die Schweiz seit dem 1. Januar 2004 über ein Bundesgesetz über die Beseitigung
von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen (BehiG). Dies, mit drei
darauf aufbauenden Verordnungen; einer allgemeinen und zwei spezifischen zur
Gestaltung des öffentlichen Verkehrs.
Hinzu kamen mit der Zeit weitere Bestimmungen z.B. im Seilbahngesetz und dessen
Verordnung, im Bundesgesetz sowie in der Verordnung über Radio und Fernsehen
und in der Verordnung über die politischen Rechte. Diese Erlasse umfassen ein beachtliches Arsenal von rechtlichen Instrumenten mit dem Zweck Benachteiligungen,
denen Menschen mit Behinderung ausgesetzt sind, zu verhindern, zu verringern oder
zu beseitigen (siehe hiezu Art. 1 Abs. 1 des BehiG).
Von Bedeutung sind die Bestimmungen insbesondere für die Bereiche Aus- und
Weiterbildung, Bau, öffentlicher Verkehr und Dienstleistungen. Zentral für die Gleichstellung sind auch das verfassungsrechtliche Diskriminierungsverbot (Art. 8 Abs. 2
BV) sowie im Bereich der obligatorischen Schule der grundrechtliche Anspruch auf
Grundschulunterricht (Art. 19 BV). Schliesslich gibt es zahlreiche allgemein und auf
alle Personen, nicht nur auf Menschen mit Behinderung, ausgerichtete Bestimmungen im Privatrecht, Strafrecht und öffentlichen Recht, die Behinderte vor Diskriminierung schützen.
Dank dieser jüngsten rechtlichen Entwicklungen konnten in den letzten Jahren auch
im internationalen Vergleich beachtliche sichtbare Fortschritte in der Gleichstellung
von Menschen mit Behinderung erzielt werden:

Beispielsweise sind immer mehr Mobilitätsbehinderte in der Lage, sich eigenständig auch über längere Distanzen ohne Begleitperson fortzubewegen, weil die
Unternehmen des öffentlichen Verkehrs auf Grund des BehiG ihre Transportmittel
hindernisfrei umrüsteten.

Auch können Sehbehinderte vermehrt und einfacher auf Informationen zugreifen,
denn insbesondere Behörden gestalte(te)n ihre Internetseiten behindertengerecht
um.
32
Behinderung und Politik 2/08

Schliesslich gibt es auch immer mehr zugängliche Gebäude, da im Rahmen von
Neu- und Umbauten darauf geachtet werden muss, dass behinderte Menschen
sich autonom bewegen können.
Jedoch sind wir in der Schweiz trotz dieser Entwicklungen noch weit von einer tatsächlichen Gleichstellung entfernt. Genauer gesagt: Wir befinden uns erst in der
Anfangsphase. Zum einen hapert es vielfach noch an der Umsetzung bestehender
rechtlicher Vorgaben:

Zum Beispiel kommt es leider noch zu oft vor, dass in Baubewilligungsverfahren
nicht darauf geachtet wird, dass die behindertengleichstellungsrechtlichen Vorgaben auch erfüllt werden (siehe auch die Erläuterungen weiter unten).

Auch gibt es immer wieder Behörden, die sich erst nach einer Intervention von
einer Fachstelle bereit erklären, im Rahmen von staatlichen Dienstleistungen die
Gebärdendolmetschkosten zu übernehmen.

Zudem werden behinderte Kinder vielfach nicht ihrem Wohl entsprechend geschult, befinden sich entgegen den rechtlichen Vorgaben ausschliesslich in einer
Sonderschule anstatt in einer integrierten Schulungsform. Schulleiter, Schulbehörden und Lehrer/-innen wehren sich aus unterschiedlichsten Gründen noch zu
oft gegen die Aufnahme behinderter Kinder und Jugendlicher.
Zum anderen gibt es nebst den Umsetzungsdefiziten auch Lücken im rechtlichen
Schutz vor Benachteiligung:

Beispielsweise unterstehen Wohnbauten mit weniger als neun Wohneinheiten
nicht dem BehiG. Dies hat die stossende Folge, dass der Eigentümer eines
Wohnhauses mit z.B. sechs Wohneinheiten auch dann nicht zur Beseitigung der
Benachteiligung verpflichtet werden kann, wenn die Kosten von der IV
übernommen würden (siehe Erläuterungen weiter unten).

Auch gibt es im Erwerbsleben - mit Ausnahme von weichen Regelungen betreffend das Anstellungsverhältnis beim Bund - keine Normierungen, die
Arbeitgeber/-innen verpflichten, behinderte Menschen nicht zu benachteiligen.
Einzig der privatrechtliche Persönlichkeitsschutz und das privatrechtliche wie
auch öffentlichrechtliche Arbeitsrecht bieten einen gewissen Schutz vor Diskriminierung. Zudem müssen Gebäude mit Arbeitsplätzen erst bei einem Fassungsvermögen von mehr als 50 Arbeitsplätzen und nur im Rahmen eines Neuoder Umbaus hindernisfrei sein.

Schliesslich gilt bei Dienstleistungen von privaten Unternehmen nur das weniger
strenge Diskriminierungsverbot und nicht das Benachteiligungsverbot wie bei
staatlichen Angeboten. Dies führt dazu, dass auf die Bedürfnisse von Menschen
mit Behinderung z.B. in Strassencafés, in Discos oder in privaten Museen keine
Rücksicht genommen werden muss.
Die Beispiele zeigen: Die Politik ist weiterhin gefordert, sowohl in der Rechtsetzung
als auch in der Durchsetzung des Rechts. Und das Engagement lohnt sich! Dies haben die Entwicklungen Ende der 90er-Jahre und zu Beginn des neuen Jahrtausends
eindrücklich demonstriert. Im Folgenden wird zur Inspiration anhand aktueller Beispiele die rechtspolitisch ausgerichtete Behindertengleichstellungsarbeit illustriert.
33
Behinderung und Politik 2/08
Politische Lobbyarbeit der Fachstelle Égalité Handicap zur Umsetzung bestehender Regelungen
Hindernisfreies Bauen ist nicht selbstverständlich
Leider kommt es noch zu oft vor, dass im Rahmen von Baugesuchen bei Neu- und
Umbauten die Baubehörden nicht oder zu wenig darauf achten, ob die behindertengleichstellungsrechtlichen Vorgaben auch erfüllt werden; dies gilt für unter das BehiG
fallende, öffentlich zugängliche Gebäude und Anlagen, für Wohngebäude mit mehr
als acht Wohneinheiten sowie für Gebäude mit mehr als 50 Arbeitsplätzen. Vielmehr
erfordert die Umsetzung der rechtlichen Vorgaben eine intensive Beobachtung der
laufenden Baubewilligungsverfahren durch die Schweizerische Fachstelle für behindertengerechtes Bauen und die regionalen Beratungsstellen für hindernisfreies
Bauen in den Kantonen. Von den jährlich etwa 15'000 Bauprojekten, die unter das
BehiG fallen, können im Rahmen der Kapazität der Fachstellen 3'000 – 4'000 geprüft
werden. In ca. 15 – 25 Prozent der Baubewilligungsverfahren müssen die Baubehörden an ihre Pflichten erinnert werden. In den allermeisten Interventionen können die
gewünschten Resultate ohne Begehung des Rechtsweges erreicht werden. Bei einer
grossen Anzahl müssen offizielle Einsprachen erhoben werden. Ca. 10 – 20 Fälle
pro Jahr müssen an die übergeordnete Instanz weiter gezogen werden.
Zugänglichkeit von Museen noch kaum gewährleistet
Ausstellungen sind für behinderte Menschen in der Regel schlecht oder nicht zugänglich. Beispielsweise stellen komplizierte Texterläuterungen für geistig behinderte, hörbehinderte und teilweise auch sehbehinderte Menschen eine besondere
Schwierigkeit dar. Normale oder kleine Schriftgrössen sind für Sehbehinderte eine
erhebliche Erschwerung. Rein visuelle Zugänge zu Ausstellungsinhalten sind für
Sehbehinderte unzugänglich. Treppen, enge Durchgänge und zu steile Rampen verunmöglichen oder erschweren es mobilitätsbehinderten Menschen, eigenständig in
ein Gebäude zu gelangen und einer Ausstellung zu folgen. Das Behindertengleichstellungsgesetz verlangt, dass staatliche Dienstleistungen (auch kultureller Art) im
Rahmen der Verhältnismässigkeit benachteiligungsfrei zugänglich sein müssen. Die
Fachstelle Égalité Handicap ist aktuell daran, gemeinsam mit dem Gleichstellungsrat,
der DOK, dem EBGB und in enger Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Kultur
erste Schritte einzuleiten, damit künftig auch die Kultur in den Museen möglichst benachteiligungsfrei zugänglich sein wird. Dies erfordert eine intensive Sensibilisierungs- und Grundlagenarbeit der involvierten Stellen. Unter anderem sollen hiefür
bereits bestehende kreative Vorbilder wie z.B. das Projekt «museumssterne.ch» der
Museen Basel genutzt werden.
Internetseiten noch defizitär
Die zweite von der Stiftung «Zugang für alle» durchgeführte Accessibility-Studie des
Jahres 2007 hat gezeigt, dass auf kantonaler aber auch auf Ebene des Bundes Internetseiten vielfach noch bedeutsame Defizite aufweisen. Dies gilt im verstärkten
Masse auch für die nicht von der Studie miterfassten kommunalen und privaten
Websites. Die Antworten auf ein Schreiben der DOK und der Fachstelle Égalité Handicap haben gezeigt, dass dank der Studie alle Kantone entschieden haben, insbesondere bei einer Überarbeitung ihrer Internetseiten (Relaunch) genau darauf zu
achten, dass dies auch zugänglich umgesetzt wird. Das Beispiel zeigt, dass unter
34
Behinderung und Politik 2/08
Umständen auch mit wenig Lobbyaufwand eine grosse Wirkung für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung erzielt werden kann. Schwieriger wird es, die
Gemeinden sowie private Unternehmen zu überzeugen. Es sprechen insbesondere
finanzielle, aber auch technische Argumente gegen ein rasches Einlenken der Verantwortlichen. Weitere intensive Bearbeitung der Behörden und der Gesellschaft insgesamt ist somit notwendig.
Vote électronique als Chance für mehr Hindernisfreiheit bei den politischen Rechten
Am 31. Mai 2006 zog der Bundesrat in einem Bericht Bilanz zum Pilotprojekt «Vote
électronique», welches in den Jahren 2001-2005 in den Kantonen Genf, Neuenburg
und Zürich durchgeführt wurde. Mittels «Vote électronique» können die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger elektronisch abstimmen, wählen sowie Referenden, Initiativen und Nationalratsvorschläge unterzeichnen. «Vote électronique» führt einerseits
zu einer Anpassungen der Ausübung der politischen Rechte an die modernen Verhältnisse, insbesondere jedoch ermöglicht es sehbehinderten Menschen abzustimmen ohne fremde Hilfe, unter Wahrung des Stimmgeheimnisses. Weiter erleichtert
es das Wählen und Stimmen für behinderte Menschen insgesamt. Die Fachstelle
und das EBGB haben im letzten Jahr einen Beitrag zum Leitfaden der Bundeskanzlei
zwecks Förderung des Projekts erstellt, damit auch die Anliegen von Menschen mit
Behinderung berücksichtigt werden. Auch wurde mit einem Schreiben an die Kantone darauf hingewiesen, dass eine möglichst rasche Beteiligung an der Pilotphase
zum «Vote électronique» wichtig für die Verbesserung der Gleichstellung in der Ausübung der politischen Rechte für die behinderten Stimmbürger/-innen ist. Auf Grund
der Antworten zeigt sich, dass das Interesse, sich am Projekt «Vote électronique» zu
beteiligen, von Kanton zu Kanton stark variiert. Weitere Schritte in der politischen
Lobbyarbeit sind notwendig.
Transportverweigerung behinderter Fluggäste
Égalité Handicap hatte bereits drei Fälle zu behandeln, in denen behinderten Fluggästen der Transport im Flugzeug verweigert wurde. Im einen Fall handelte es sich
um acht gehörlose Menschen, im anderen um zwei Rollstuhlfahrer. Die involvierten
Flugunternehmen hatten dies jeweils damit begründet, dass im Notfall die Evakuation
nicht gemäss den rechtlichen Sicherheitsanforderungen gewährleistet werden kann;
ohne nicht behinderte Begleitperson würde man immobile oder gehörlose Gäste
nicht mitnehmen können. Um die Fronten zu deblockieren, braucht es nun eine Klärung der Sachlage sowie eine entsprechende Intervention. Gemeinsam mit dem
EBGB und dem Bundesamt für Zivilluftfahrt soll in den nächsten Monaten geklärt
werden, was aus sicherheitsrechtlicher Sicht konkret gefordert wird. Zudem werden
die Flugunternehmen auf der Basis des BehiG und der künftig auch für die Schweiz
geltenden EU-Verordnung über die Rechte von behinderten Flugreisenden und Flugreisenden mit eingeschränkter Mobilität für die Anliegen von behinderten Menschen
sensibilisiert. Auch soll klar Transparenz gegenüber behinderten Fluggästen geschaffen werden.
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Behinderung und Politik 2/08
Politische Vorstösse zur Verbesserung des Behindertengleichstellungsrechts
Erweiterung des BehiG im Bereich Bau
Anlässlich der parlamentarischen Frühjahrssession hatte der damalige Nationalrat
Luc Recordon (heute ist er Ständerat für den Kanton VD) eine parlamentarische Initiative zur Erweiterung der Tragweite des BehiG im Bereich der Wohnbauten eingereicht. Nach geltender Rechtslage im BehiG werden Änderungen zugunsten der
Menschen mit Behinderung dann verlangt, wenn eine Baute oder Installation neu
errichtet oder falls diese einer Renovation unterzogen wird. Keine Regelung dieses
Gesetzes ermöglicht es hingegen, eine Änderung zu verlangen, falls das Gebäude
nicht Gegenstand eines Baubewilligungsverfahrens ist oder renoviert wird, auch
dann nicht, wenn die Invalidenversicherung die Änderungen finanziert. Die parlamentarische Initiative will, dass in solchen Fällen, in denen die Anpassungsarbeiten
weder Kosten noch andere Nachteile für den Eigentümer verursachen, die Möglichkeit besteht, das Gericht anzurufen, damit dieses eine Interessenabwägung vornimmt und wenn nötig vom Eigentümer verlangen kann, dass dieser die Umbauarbeiten
toleriert.
Intensivierung der beruflichen Integration von Menschen mit Behinderung
Nationalrätin Pascale Bruderer hat am 22. Juni 2007 ein Postulat eingereicht, welches den Bundesrat beauftragt, in einem Bericht die Handlungsfelder aufzuzeigen, in
welchen die Voraussetzungen für die berufliche Integration von Menschen mit Behinderung verbessert werden können. Der Vorstoss wurde insbesondere damit begründet, dass in diesem Bereich ein grosser Handlungsbedarf bestehe und nicht nur
die IV für die Integration verantwortlich gemacht werden könne.
Integrative Beschulung
Im Rahmen der Neugestaltung des Finanzausgleichs sind seit dem 1. Januar 2008
die Kantone inhaltlich und finanziell vollumfänglich für die sonderpädagogischen
Massnahmen zuständig. Momentan sind sie daran, jeweils eigene Konzepte zur Förderung der Integration von behinderten Kindern und Jugendlichen in den Regelschulbetrieb zu entwickeln. Neben dem bereits bestehenden Minimalschutz auf
Ebene der Bundesverfassung, welcher konkret durch das Diskriminierungsverbot
(Art. 8 Abs. 2 BV) und den grundrechtlichen Anspruch auf Grundschulunterricht (Art.
19 BV) in verschiedensten Einzelfällen eine integrative Beschulung verlangt, soll dies
verstärkt dazu führen, dass die Integration von behinderten Kindern zur Regel wird;
dies auch in Umsetzung von Art. 20 BehiG. Es bleibt nun abzuwarten, welche rechtlichen Standards in den Kantonen gesetzt und v. a. wie sie schliesslich durchgesetzt
werden.
UNO-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen
Am 13. Dezember 2006 hat die Generalversammlung der UNO die Konvention für
die Rechte von Menschen mit Behinderungen einstimmig verabschiedet. Das Übereinkommen tritt am 3. Mai 2008 in Kraft. Bis zum 30. April haben bereits 127 von 192
UNO-Mitgliedstaaten das Übereinkommen und davon 71 Länder das Zusatzprotokoll
unterzeichnet, darunter unsere Nachbarländer Deutschland, Frankreich, Italien und
Österreich. Nationalrätin Pascale Bruderer forderte am 20. Dezember in einer Motion
36
Behinderung und Politik 2/08
(06.3820) den Bundesrat auf, nun umgehend den Ratifizierungsprozess in Gang zu
setzen. Der Bundesrat beantragt die Ablehnung der Motion. Er erachtet zwar die
Unterzeichnung und Ratifizierung der Konvention grundsätzlich als wünschenswert.
Nach der bisherigen Praxis unternehme die Schweiz jedoch keine Schritte zur Unterzeichnung eines internationalen Übereinkommens, solange nicht sicher sei, dieses in
der Folge auch tatsächlich ratifizieren zu können. Die notwendigen Abklärungen zur
Tragweite der Konvention werden noch in diesem Jahr getroffen. Momentan steht
noch nicht fest, wann die Motion im Nationalrat behandelt wird.
Politische Agenda des Behindertengleichstellungsrechts
Damit die Lobbyarbeit zur Umsetzung und Verbesserung des Behindertengleichstellungsrechts konsequent vorwärts getrieben werden kann, braucht es nebst den notwendigen Ressourcen und dem Engagement der Politik und Gesellschaft im Allgemeinen und der Behindertenorganisationen und Gleichstellungsfachstellen im Besonderen regelmässige Information über den Inhalt und den Stand der verschiedensten politischen Bestrebungen. Zu diesem Zweck haben die Fachstelle und der
Rat Égalité Handicap eine Politische Agenda des Behindertengleichstellungsrechts
geschaffen. Nach jeder Session des Bundesparlaments informiert diese über den
aktuellen Stand der wichtigsten Geschäfte auf Bundesebene und in den Kantonen
zur Frage der Behindertengleichstellung. Neben einer kurzen Darstellung des Inhalts
werden der Stand, die weiteren geplanten Schritte und der Werdegang des Geschäfts dargestellt. Zudem gibt es für vertiefende Fragen zum Inhalt und zum Verlauf
des Geschäfts jeweils eine oder mehrere Kontaktpersonen, die angegangen werden
können. Die Agenda finden Sie auf http://www.egalite-handicap.ch/deutsch/aktuell/gesetzgebungsprozess.html. Dort können Sie sich auch per
Mail anmelden, damit Sie jeweils die aktuellste Version elektronisch zugestellt erhalten.
ARBEIT
Back to work – ein durchzogener Jahresbeginn
Von Catherine Corbaz, Projektverantwortliche
Am Jahresende herrschte ein gewisser Enthusiasmus und wir rechneten damit, 2008
drei Back to work-Veranstaltungen durchführen zu können. Schliesslich mussten wir
jedoch erkennen, dass «nichts von vornherein gewonnen ist», und unsere Ambitionen etwas zurückstecken.
So wurde die für Mai 2008 im Kanton Jura geplante Veranstaltung abgesagt, da die
ORIPH (Organisation romande pour l’integration professionnelle des personnes han-
37
Behinderung und Politik 2/08
dicapées) einen ähnlichen Anlass mit Herrn Bundesrat Couchepin als Gast organisiert hat.
In Neuenburg waren die ersten Kontakte viel versprechend, doch möchte die Industrie- und Handelskammer nun doch keine neue Veranstaltung durchführen. Sie hat
uns aber Platz für einen Beitrag in ihrer Zeitschrift angeboten, was wir gerne annehmen. Die Bedingungen sind nicht so, wie wir es uns erhofft hatten. Dank unserem
Artikel wird jedoch vielleicht der eine oder andere Arbeitgeber eine behinderte Person weiterbeschäftigen.
In Freiburg waren die ersten Reaktionen freundlich und interessiert. Nach einem
Treffen mit der Handelskammer dort zeichnen sich nun erste Organisationsschritte
ab: Für die erste Septemberwoche ist eine Veranstaltung geplant. Bereits werden
erste Namen von möglichen Teilnehmerinnen und Teilnehmern genannt. Fortsetzung
folgt!
In der Deutschschweiz steht die Kampagne im Moment still, da die IV-Stellen sehr
beschäftigt sind mit dem Inkrafttreten der 5. IV-Revision.
Übersetzung: Susanne Alpiger
VERKEHR
Mitteilungen der Fachstelle Behinderung und öffentlicher Verkehr
Die Fachstelle Behinderung und öffentlicher Verkehr (BöV) gibt vierteljährlich ihre
Nachrichten heraus. Sie berichtet darin über die neusten Entwicklungen im Bereich
behindertengerechter öffentlicher Verkehr.
BöV-Nachrichten
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Behinderung und Politik 2/08
BILDUNG
Von Catherine Corbaz
Kursprogramm 2008
Unser nächster Kurs findet am 16. Oktober 2008 in Bern statt unter dem Titel:
«Gleichstellungsrecht – Teil 1: Aktueller Stand in der Schweiz»
In der Schweiz schützen Art. 8 Abs. 2 der Bundesverfassung und das Behindertengleichstellungsgesetz Menschen mit einer Behinderung vor Benachteiligungen.

Welche Möglichkeiten beinhalten diese Rechtsinstrumente?

Welche Verbesserungen bringen sie uns?

Wie kommen wir zu unserem Recht?

Wie muss in einem solchen Fall genau vorgegangen werden?

Wann kann ich vor Gericht klagen, wann gehe ich besser andere Wege?

Welche Fälle hat Égalité Handicap behandelt?

Wie hat sich die Rechtssprechung seit 2004 entwickelt?

Welche wichtigen Gesetzesänderungen wurden seit 2004 vorgenommen?
Leitung: Caroline Hess-Klein, Égalité Handicap, Fachstelle der DOK
Anmeldeschluss: 28. August 2008
Detailprogramm
Wenige Wochen später findet ein weiterer Kurs zum Gleichstellungsrecht statt:
Kurs 4-08: Gleichstellungsrecht Teil 2: Entwicklungen auf internationalem Gebiet:
Die UNO-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderung
Datum: 30. Oktober 2008, Bern
Alle weiteren Angaben zu den Kursen und Seminaren von AGILE finden Sie in unserer Zeitschrift, im Newsletter oder auch auf unserer Internet-Seite.
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Behinderung und Politik 2/08
BEHINDERTENSZENE
Rita Vökt (1951-2008) - Selbsthelferin der ersten Stunde
EA/ AGILE Behinderten-Selbsthilfe Schweiz trauert um Rita Vökt. Rita Vökt war seit
2004 Vorstandsmitglied und seit jeher eine vorbildliche Kämpferin für die Selbsthilfe.
Drei ihrer WeggefährtInnen würdigen Rita Vökt in den folgenden drei Beiträgen:
Pionierin für behinderte Frauen und Mädchen in der deutschen Schweiz und
Mitbegründerin von avanti donne
von Hanne Müller, Mitbegründerin und eh. Co-Leiterin von avanti donne
Inspiriert durch ihr Engagement als Schweizer Delegierte in der europäischen Organisation Fimitic, baute Rita Vökt 1994 mit Theres Krähenbühl die Procap-Frauengruppe auf. Diese führte im Jahr 2000 die 1. Schweizerische Frauenkonferenz
durch.
In Referaten wurde auf die doppelte Diskriminierung behinderter Frauen hingewiesen, nämlich als Frau und von der Behinderung her. Daraus entstand die Idee, ein
deutschschweizerisches Netzwerk zu gründen. Nach mehrmonatiger Vorbereitung
wurde im Februar 2002 der Verein avanti donne – Kontaktstelle für behinderte
Frauen und Mädchen gegründet. Am 8. März 2002 – dem Internationalen Tag der
Frau – eröffnete die Kontaktstelle auf Online-Basis.
Rita und ich arbeiteten mehr als fünf Jahre intensiv zusammen und bauten das heutige Netzwerk auf und aus, später wurde es unterstützt von weiteren Mitarbeiterinnen. Ritas grosse Fähigkeiten lagen in der Öffentlichkeitsarbeit. Durch Interviews und
Presseartikel trug sie wesentlich zur Bewusstseinsbildung für die Anliegen der behinderten Frauen bei. Sie verstand es, in von ihr gestalteten Tagungen Frauen untereinander zu vernetzen. Ein Höhepunkt ihres Schaffens war die Herausgabe des
Buches «Stärker als ihr denkt» mit Berichten von jungen behinderten Frauen. Es war
ein Erfolg – schon nach wenigen Monaten war eine zweite Auflage nötig.
Trotz ihrer Krankheit arbeitete Rita weiter bis wenige Wochen vor ihrem Tod. Ihr unermüdliches Engagement für behinderte Frauen und Mädchen hinterlässt tiefe Spuren, ihr Engagement wird uns fehlen.
Danke Rita für deinen Pioniergeist. Möge sich auch nach deinem Tod avanti donne
in deinem Sinn weiterentwickeln.
Das Tun nicht vergessen …
Hannes Steiger, Arbeitslosenkasse Unia, Zürich
Als ich 1984 zur Procap stiess, gehörte Rita dem ZV an und war eine meiner Vorgesetzten. Die Procap durchlebte damals eine schwierige Zeit der Neuausrichtung. Rita
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Behinderung und Politik 2/08
wurde für mich eine der wichtigsten Diskussionspartnerinnen und Orientierungshilfen.
Selbsthilfe leben
Im Unterschied zu vielen trauerte sie nie Vergangenem nach, sondern nahm, was die
Gegenwart brachte, und versuchte mit grosser Sicherheit daraus zu machen, was ihr
richtig schien. Rita war geprägt von ihrer Querschnittlähmung, aber sie erschien mir
gänzlich unbefangen davon und setzte ihre Behinderung im persönlichen Umgang
nie als Machtmittel ein. Woher sie die Kraft dazu hatte? Dass Rita religiös war und
ihre vielen Projekte daraus reflektierte, habe ich erst später verstanden, als ich sie
und ihre Familie auch privat näher kennen lernte. Für mich verkörperte Rita Vökt
Selbsthilfe als Lebenshaltung. Behindert? Sie war es einfach. Und setzte sich damit
auseinander, weil es eben nicht anders ging.
Leidenschaft für Gerechtigkeit
Rita war zielstrebig: Ich denke, dass sie aus ihrer Biografie heraus ein sehr feines
Gespür für Gerechtigkeit entwickelt und erfahren hatte, dass Benachteiligungen, welcher Art auch immer, bestenfalls einen Appell an menschliche Solidarität abgeben.
Allzu oft aber eine kaum zu bewältigende Herausforderung für die Betroffenen darstellen - durch nichts zu rechtfertigen, auch theologisch nicht. So kämpfte sie für Akzeptanz und Integration und gegen Bevormundung und Benachteiligungen. Rita ging
aus von dem, was sie sah und erlebte. Typisch für sie scheint mir ein Satz aus ihrem
Abschiedsbrief: «Ich weiss auch, wie unsere Kaffeemaschine funktioniert, wenn ich
aber den Knopf nicht drücke, komme ich nie zu meinem Kaffee…»
Engagement für die Selbsthilfe - Ja zum Leben – ja zum Sterben
von Therese Stutz-Steiger, ehemalige Präsidentin von AGILE Behinderten-Selbsthilfe Schweiz
Rita Vökt wurde 2004 Vorstandsmitglied von AGILE. Ich hatte sie damals nur vom
Hörensagen gekannt. Ihr Auftreten bestätigte ihren Ruf als Gallionsfigur für Menschen mit Behinderungen, die sich engagieren – und das vor allem auch in der
Selbsthilfe.
Sie wusste sehr genau, was sie wollte; sie setzte ihre Zielvorstellungen aber nicht mit
hartem Kopf durch, sondern wusste gerade durch ihre freundliche Bestimmtheit andere für ihre Ansichten zu gewinnen.
Sie glaubte an die Kraft der gegenseitigen Unterstützung, aber auch an den Mut,
Selbstbestimmung zu verwirklichen und gegebenenfalls den eigenen Weg zu gehen.
Rita hat das selbst beispielhaft gelebt. Einige Mitglieder von Vorstand und Zentralsekretariat wussten, dass Rita angesichts ihrer schweren Krankheit auf aggressive
Therapien verzichten wollte. Auch als sie nicht mehr reisen konnte, blieb sie fast bis
zuletzt dank Mailkontakten in Verbindung mit uns und «strahlte» dabei so viel Akzeptieren aus, dass wir wissen: Sie hat den richtigen Weg gewählt. Wir denken mit intensiver Dankbarkeit an dieses Engagement für die Selbsthilfe und für AGILE.
41
Behinderung und Politik 2/08
ANGST – die verkannte Volkskrankheit
Von Marie-Luce Le Febve de Vivy, Mediensprecherin Angst- und Panikhilfe Schweiz
(APhS)
Krankhafte Angst ist die häufigste psychische Erkrankung in der Schweiz, wie eine
neue Studie von Prof. Wulf Rössler (Uni Zürich) belegt: Rund 710‘000 Personen leiden hierzulande an behindernden Ängsten. Um diesen Menschen zu helfen, haben
Betroffene im Jahre 2000 die erste Anlaufstelle für Menschen mit Angststörungen
gegründet: die Angst- und Panikhilfe Schweiz (APhS).
Angst kennt jede und jeder. Wenn die Angst aber so stark wird, dass man nicht mehr
fähig ist, allein in einen Zug zu steigen, im Warenhaus einzukaufen, vor fremden
Menschen zu sprechen oder gar die eigenen vier Wände zu verlassen, weil man von
grauenhaften Panikattacken geschüttelt wird, ist aus Angst krankhafte Angst geworden.
So irrational solche Ängste für Aussenstehende scheinen mögen: Für die Betroffenen sind sie keine Einbildung, sondern ein höchst qualvoller Zustand mit Herzrasen,
Beklemmungs- und Erstickungsgefühlen, übermässigem Zittern, Hitzewallungen,
kaltem Schweiss, Übelkeit, Schwindel und/oder dem Gefühl, verrückt zu werden oder
gar zu sterben.
Unsichtbare Behinderung
Für die meisten Leiden und Krankheiten – wie Diabetes, Multiple Sklerose, Krebs
oder Schleudertrauma – gibt es in der Schweiz professionelle Patienten-Organisationen, die informieren, zuhören und weiterhelfen. Für Angstkranke hingegen existierte
bis vor wenigen Jahren keine einzige Anlaufstelle! Dank dem grossen Engagement
von Betroffenen wurde im Jahre 2000 der Verein «Angst- und Panikhilfe Schweiz»
gegründet mit dem Ziel, Angst-Patienten bei der Genesung zu helfen, über die unsichtbare Behinderung zu informieren und zur Entstigmatisierung von Angsterkrankungen beizutragen. Im Leitbild wurde u.a. festgehalten: Wir wollen die Lebensqualität, die Selbständigkeit und die Integration von Menschen mit Angststörungen
verbessern.
Informationen
Obwohl APhS ihre Ziele bisher mit minimalsten finanziellen Mitteln und viel ehrenamtlicher Arbeit verfolgte, hat sie schon einiges erreicht. Zu ihren wichtigsten
Dienstleistungen zählen heute:

Eine informative Website über Angststörungen, die nicht nur von Betroffenen
sehr geschätzt, sondern auch von Fachleuten und Medienschaffenden gelobt
wird (www.aphs.ch).

Eine Hotline (0848 801 109; Normaltarif), die von Betroffenen und Angehörigen betrieben wird. Für Angstkranke ist es oft eine grosse Erleichterung, wenn
sie endlich mit jemandem reden können, der sie versteht und ernst nimmt.

Therapie-Vermittlung: Je früher eine Angststörung behandelt wird, desto
grösser sind die Heilungschancen und somit die Vermeidung einer IV-Rente.
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Da es durchschnittlich sieben Jahre (!) dauert, bis Angstpatienten die richtige
Therapie erhalten, arbeitet APhS eng mit dem Arzt Dr. René Luther zusammen, um geeignete Therapieplätze zu vermitteln.

Online-Shop: Per Mausklick können Patientenbroschüren, Ratgeber wie auch
DVD’s direkt nach Hause bestellt werden.

APhS unterstützt die Gründung von regionalen Selbsthilfegruppen, stellt
aber gleichzeitig fest, dass sich nur wenige Angstpatienten für dieses Angebot
interessieren – vermutlich aus Angst. Evtl. müssen virtuelle Selbsthilfegruppen
auf der Website kreiert werden.

Medienstelle: Seit Januar 2007 betreibt APhS aktive Medienarbeit. Dadurch
sind auch in öffentlichkeitswirksamen Publikationen (wie z.B. Beobachter, Tages-Anzeiger, SonntagsZeitung, Schweizer Illustrierte oder auch Apothekenmagazin ASTREA) Artikel erschienen, die auf die APhS hinweisen.

Im Dezember 2007 hat APhS das unabhängige Patientenmagazin «ANGST
& PANIK» lanciert, das sich an Betroffene, aber auch an Angehörige, Fachleute, Medien und weitere Interessierte wendet. Die Nachfrage war grösser als
erwartet! In Zukunft wird es in jeder Ausgabe ein Schwerpunktthema geben.
Die nächsten Schritte
Seit 2007 erhält APhS via AGILE finanzielle Unterstützung vom BSV. Damit kann ein
Teil der Arbeit erstmals entlöhnt werden. Gemessen an der hohen Zahl der Menschen, die hierzulande an der Volkskrankheit «Angst» leiden und gesundheitsfördernde Unterstützung brauchen, ist dies erst «ein Tropfen auf den heissen Stein».
Mittelfristiges Ziel der APhS ist deshalb, eine professionelle Geschäftsstelle aufzubauen, die nebst (den bisherigen) Betroffenen auch Fachleute beschäftigt. An der
letzten Vorstandssitzung wurde eine dreiköpfige Kommission gebildet, die ehrenamtlich die dafür nötigen Grundlagen erarbeiten wird. Sie wird definieren, welche Projekte Vorrang haben, auch betreffend Fundraising. Fact ist: Um auf nationaler Ebene
professionell informieren und wirken zu können, braucht APhS dringend zusätzliche
Gelder!
Je früher eine Angsterkrankung therapeutisch korrekt behandelt wird, desto grösser
sind die Heilungschancen. Je länger es dauert, bis eine betroffene Person die richtige Therapie erhält, desto grösser ist die Gefahr, dass die Angst chronisch wird und
in einer berechtigten IV-Rente mündet. Um die Früherfassung zu fördern, braucht es
einerseits breitflächige Aufklärung – nicht nur in der Bevölkerung, sondern insbesondere auch bei Hausärzten. Von grosser Bedeutung ist auch die Entstigmatisierung,
weil sie bekanntlich eines der grössten Gesundungshindernisse ist. Solange angstkranke Menschen kein Verständnis für ihre «unsichtbare Behinderung» finden, werden sie lieber Vermeidungstaktiken aufbauen und «naiv» auf Besserung warten, statt
sich professionelle Hilfe zu holen.
Die Lust auf Gesundung fördern
Um Betroffenen Mut zu machen, ihren persönlichen Gesundungsweg zu finden, arbeitet APhS auch beim neuen Recovery-Projekt der Pro Mente Sana mit. Die Verfasserin dieses Beitrags hat ihre Angsterkrankung nach 15 Jahren endlich in den Griff
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bekommen. In Mutmacher-Workshops erklärt sie, was ihr geholfen hat, ihre Angsterkrankung zu überwinden.
Weitere Infos:
www.aphs.ch
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Behinderung und Politik 2/08
MEDIEN
Invalidität
Für Sie gelesen von Bettina Gruber
Für Leistungen an Behinderte ist die Invalidenversicherung (IV) zuständig. Leider
stimmt diese Aussage nur teilweise. (Wenn es so wäre, dann könnte man beinahe
den Überblick behalten. Darum leider.) Das schweizerische (Sozial-)Versicherungssystem hat aber ein kompliziertes Strickmuster. Nebst dem Nachteil der Unübersichtlichkeit sind aber sicher nicht wenige Versicherte froh über diesen Umstand, denn
wer nur Leistungen aus der IV bezieht, liegt finanziell an der kurzen Kette. Etwas
mehr Spielraum hat, wer noch aus anderen Versicherungen im Invaliditätsfall Leistungen erhält. Grund genug, sich über seine Rechte zu informieren. Ein guter Anfang
ist dabei, den Beobachter-Ratgeber mit dem Untertitel «Alles über Renten, Rechte
und Versicherungen» in die Hand zu nehmen.
Im ersten der sieben Teile wird ein Überblick über unser Versicherungssystem geboten und dem Begriff der Invalidität nachgegangen. Der zweite Teil beschreibt die
Leistungen der IV. Hier werden auch die Neuerungen der 5. IVG-Revision erklärt, die
auf Anfang 2008 in Kraft getreten sind. Allerdings lassen sich zum jetzigen Zeitpunkt
nur die verabschiedeten Grundsätze erläutern, wie die Änderungen in der Praxis
konkret aussehen, muss abgewartet werden. Ein ganz zentraler Abschnitt beschreibt
die Berechnung des Invaliditätsgrads anhand des Vergleichs von Validen- zu möglichem Invalideneinkommen. Die Autoren raten zu sorgfältiger Prüfung dieses Entscheides, da die Einstufung durch die IV oft von anderen Versicherungen übernommen wird, die im konkreten Fall allenfalls auch Leistungen erbringen. Eine Fehleinstufung kann daher fatale Folgen haben, die im Nachhinein kaum mehr zu korrigieren sind. In diesem aber auch anderem Zusammenhang erfolgt die dringende Empfehlung der Autoren, sich bei einer Beratungsstelle Rat zu holen. Die Tipps, die immer wieder in den Text eingestreut sind, geben wertvolle Hilfestellung. Hätten Sie
beispielsweise gewusst, dass zur Berechnung des Valideneinkommens auch Nebenverdienst angerechnet wird, ja sogar Einkünfte aus Schwarzarbeit angerechnet werden müssen? Nebst den Renten kommen auch weitere Leistungen der IV zur Sprache wie Hilflosenentschädigung und Hilfsmittel. Und nicht übersehen werden dürfen
Verfahrensfragen. Diese sind zwar lästig, aber eine Einsprachefrist zu versäumen,
kann weitreichende Folgen haben. Dass die Versicherten neben Rechten auch
Pflichten haben, zeigt das Beispiel der Meldepflicht, veränderte Lebensumstände der
IV bekannt zu geben.
Der dritte Teil befasst sich mit Unfall- und Krankenversicherung und deren Leistungen im Invaliditätsfall. Dass Unfallversicherte bessergestellt sind als Behinderte auf
Grund von Krankheit, ist aus anderen Publikationen bekannt. Darum wird hier auch
ein besonderes Augenmerk auf das Krankentaggeld gelegt.
Wie wenn es jetzt nicht schon genug kompliziert wäre, kommt als nächster Akteur die
Pensionskasse – Teil vier – ins Spiel. Wie bei der Unfallversicherung ist auch hier zu
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Behinderung und Politik 2/08
sagen: Glücklich, wer eine hat. Für all jene, die aufgrund geringer oder fehlender Berufstätigkeit beim Eintritt einer Behinderung auf diese soziale Sicherung verzichten
müssen, bleiben nur die IV-Renten und dann allenfalls Ergänzungsleistungen. Teil
fünf gibt Aufschluss über Anspruchsberechtigung und Berechnung der EL. Als letzte
Versicherungen werden im Teil sechs die privaten Versicherungen wie die Säule 3a
und weitere Kapitalleistungen aus privat versicherten Risiken angeführt.
Für alle, die jetzt doch befürchten, den Überblick zu verlieren, ist der siebte Teil gedacht, der aufgrund konkreter Lebenssituationen das Gesagte nochmals neu bündelt. Denn eben: Ob Sie als voll Erwerbstätiger, als Teilzeitlerin, als Arbeitsloser, als
Selbständigerwerbende, als Hausfrau oder -mann, als AusländerIn, durch Unfall oder
Krankheit zu einer Behinderung kommen, macht einen gewaltigen Unterschied. Ein
kurzer Abschnitt widmet sich behinderten Kindern und den Leistungen rund um ein
Leben im Heim.
Das vorliegende Buch liefert wirklich reichhaltige Information und ist übersichtlich
gestaltet, sodass Antworten auf eine konkrete Frage rasch aufzufinden sind. Dank
der kurzen Fallbeispiele werden die Grundsätze jeweils verständlich illustriert. Nebst
den Tipps und den Beispielen sind auch Hinweise und Achtung-Signale, die auf
mögliche Stolpersteine hinweisen, gut sichtbar platziert. Im rosafarbenen Anhang
findet sich ein Serviceteil mit einem ausführlichen Glossar, das die wichtigsten Begriffe in wenigen Zeilen erklärt, der Hilfsmittelliste der IV, einem Adressverzeichnis
beratender Organisationen und einem Stichwortverzeichnis für eine angenehme
Handhabung des Buches.
Fazit: Auf rund 200 Seiten gelingt es den Autoren Ueli Kieser und Jürg Senn, der
Leserin und dem Leser ohne grosse Vorbildung die schweizerischen Sozialversicherungen näher zu bringen. Ich kann Ihnen diese Lektüre nur empfehlen und darüber
hinaus, das Buch auch danach im Büchergestell zu behalten. Denn in etwa Bescheid
zu wissen, schadet keinesfalls. Schliesslich geht es im Ernstfall um Ihre Rechte –
und Ihr Geld.
Ueli Kieser/Jürg Senn, Invalidität. Alles über Renten, Rechte und Versicherungen, 3.
vollständig überarbeitete und aktualisierte Ausgabe, 2008 Beobachter Buchverlag.
www.beobachter.ch ISBN 978-3-85569-388-7 Preis CHF 34.-
Blick zurück
EA/ Die Buch-, respektive Hörbuchbesprechung von Liliane Wyss Roman «Rosenmeer» in «agile – Behinderung und Politik» (1/08) hat einige Reaktionen und Rückmeldungen ausgelöst. Die autobiographische Erzählung der jungen Bernerin beschreibt das Leben mit dem «Locked-in-Syndrom».
Seit kurzem gibt es eine nationale Selbsthilfegruppe von und für «Locked-in-Syndrom»-Betroffene und Angehörige. Sie ist offen für weitere Mitglieder!
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Kontakt: Christine Albrecht, Zürcherstrasse 6, 8174 Stadel, Tel: 044 858 26 03
Mail: [email protected]. Weitere Informationen unter: www.locked-in.ch
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IMPRESSUM
agile – Behinderung und Politik (mit regelmässiger Beilage – in elektronischer Form –
der «BÖV Nachrichten»)
Herausgeberin:
AGILE Behinderten-Selbsthilfe Schweiz
Effingerstrasse 55, 3008 Bern
Tel. 031/390 39 39, Fax 031/390 39 35
Email: [email protected]
Redaktion:
Eva Aeschimann, Redaktionsverantwortliche deutsche Ausgabe
Cyril Mizrahi, Redaktionsverantwortlicher französische Ausgabe
Bettina Gruber Haberditz
Simone Leuenberger
Ursula Schaffner
Lektorat:
Bettina Gruber Haberditz (deutsche Ausgabe)
Claude Bauer, Salima Moyard (französische Ausgabe)
Neben der deutschsprachigen besteht auch eine französischsprachige Ausgabe von
«agile». Ihre Inhalte sind weitgehend identisch – Übersetzungen werden als solche
gekennzeichnet.
Die Übernahme (mit Quellenangabe) von «agile»-Texten ist nicht nur gestattet, sondern erwünscht!
Anregungen, Anfragen, Feedback, Bemerkungen usw. bitte an: [email protected]
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