Steuerstrafverteidigung unter verschärfter Rechtsprechung - der 1. Strafsenat des BGH und das Steuerstrafrecht - Vortragsveranstaltungen am : 29.09.2012 – HAMBURG 20.10.2012 – FRANKFURT 17.11.2012 – BERLIN 08.03.2013 – LEIPZIG 03.05.2013 – KÖLN Referent: Boris Kuder LL.M., Rechtsanwalt und Fachanwalt für Steuerrecht Boris Kuder ist Partner der auf Steuer- und Wirtschaftsrecht spezialisierten Kanzlei SCHARLACH I KUDER I RECHTANWÄLTE I PARTNERSCHAFT in Essen. Kontaktdaten: SCHARLACH I KUDER RECHTSANWÄLTE I PARTNERSCHAFT Alfredstraße 102 45131 Essen Tel.: 0201 / 79 98 60 Fax: 0201 / 79 98 6-50 E-Mail: [email protected] Internet: www.steuer-wirtschaftsanwaelte.de 2 GLIEDERUNG A. Einleitung B. Die wesentlichen Entscheidungen des 1. Strafsenats zur Steuerhinterziehung I. Zur Strafzumessung bei Steuerstraftaten 1. Strafzumessung bei Steuerhinterziehung „großen Ausmaßes“ a. Die „Ausgangsentscheidung“ 1 StR 416/08 vom 02.12.2008 aa. Strafzumessungssystem des 1. Strafsenats bb. „Großes Ausmaß“ einer Steuerhinterziehung cc. Strafzumessungserwägungen b. Die „Folgeentscheidungen“ aa. 1 StR 332/10 vom 28.07.2010:Versuchte Steuerhinterziehung „großen Ausmaßes“ bb. 1 StR 116/11 vom 05.05.2011: Urteilsgründe und „großes Ausmaß“ cc. 1 StR 579/11 vom 15.12.2011: Wertgrenze beim Griff in die Kasse dd. 1 StR 525/11 vom 07.02.2012: Steuerhinterziehung in Millionenhöhe ee. 1 StR 103/12 vom 22.05.2012: Hinterziehung von Einfuhroder Ausfuhrabgaben nach § 373 AO in Millionenhöhe ff. 1 StR 257/12 vom 21.08.2012: „Grober Eigennutz“ bei Steuerhinterziehung in Millionenhöhe gg. 1 StR 423/12 vom 26.09.2012: Hinterziehung in NichtMillionenhöhe hh. 1 StR 317/12 vom 22.08.2012: Vollendung der Steuerhinterziehung bei Schätzungsbescheiden ii. 1 StR 407/12 vom 25.09.2012: Großes Ausmaß bei unberechtigten Vorsteuerabzug 3 c. Kritische Würdigung und Bedeutung der Entscheidungen für die Praxis 2. b. II. Einheitliche Schwellenwerte statt Strafmaßtabellen bb. Strafverfolgungsverjährung cc. Selbstanzeigeberatung dd. Rechtliche Bindung der Vorgaben ee. Verteidigungsstrategien Strafzumessung bei Steuerhinterziehung auf Zeit und bei Tatserien a. 3. aa. Die Entscheidung 1 StR 627/08 vom 17.03.2009 aa. Schadensberechnung bei Umsatzsteuerhinterziehung bb. Strafzumessung bei Tatserien Kritische Würdigung und Bedeutung der Entscheidung für die Praxis Zur Strafzumessung bei Ketten- oder Karussellgeschäften a. Die Entscheidung 1 StR 342/08 vom 30.04.2009 b. Kritische Würdigung und Bedeutung der Entscheidung für die Praxis Zur strafbewehrten Berichtigungspflicht nach § 153 AO 1. 2. Die Entscheidung 1 StR 479/08 vom 17.03.2009 a. Berichtigungspflicht bei Hinterziehungsvorsatz b. Keine Selbstbelastung Kritische Würdigung und Bedeutung der Entscheidung für die Praxis 4 III. Zur strafbefreienden Selbstanzeige nach § 371 AO 1. 2. C. Fazit Die Entscheidung 1 StR 577/09 vom 20.05.2010 a. Teilselbstanzeige reicht für Strafbefreiung nicht aus b. Sperrwirkungen nach § 371 Abs. 2 AO Kritische Würdigung und Bedeutung der Entscheidung für die Praxis a. Vollständige Rückkehr zur Steuerehrlichkeit b. Anwendbarkeit des Beschlusses c. Selbstanzeige nach der Selbstanzeige d. Unsichere Sperrgründe e. Zukünftige Selbstanzeigeberatung 5 LITERATURVERZEICHNIS Bach, Florian, Keine Steuerverkürzung „in großem Ausmaß“ bei Nichtabgabefällen, in: PStR 1 (2010), 11-12 Bielefeld, Franz und Prinz, Jennifer, Das neue Sanktionssystem bei Steuerhinterziehung Strafmaßtabellen Adé?, in: StB 4 (2009), 112-117 Bilsdorfer, Peter, Klare Strafzumessungsregeln bei Steuerhinterziehung, in: NJW 8 (2009), 476478 Erb, Hilmar und Schmitt, Eliu Julian, Ausschluss der Selbstanzeige bei Hinterziehungsbeträgen über 50.000,00 EUR, in: PStR 6 (2011), 144-149 Fischer, Thomas, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 58. Auflage, München 2011 Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht mit Zoll- und Verbrauchsteuerstrafrecht, Kommentar, 7. 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Bereits kurze Zeit danach äußerte sich der 1. Strafsenat in einer „obiter dicta“ Entscheidung grundlegend zur Strafzumessung bei Steuerhinterziehungsdelikten. Allein schon die Pressemitteilung des BGH entfachte ein breites Medienecho1 und wurde in der steuerstrafrechtlichen Literatur zum Anlass genommen, eine veränderte Justizpraxis anzunehmen2. Mindestens ebenso großes mediales Aufsehen erregte die Entscheidung des 1. Strafsenats aus Mai 2010 zu den Wirksamkeitsvoraussetzungen einer Selbstanzeige und deren Reichweite3. Die diesbezüglichen Ausführungen des 1. Strafsenats zu den Wirksamkeitsvoraussetzungen einer Selbstanzeige wurden in den darauf folgenden Monaten Gegenstand politischer Bestrebungen zur gesetzlichen Neuregelung der Selbstanzeige, die letztendlich zur Novellierung der Selbstanzeigevorschriften durch das Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung der Geldwäsche und Steuerhinterziehung führten4. Gut über zweieinhalb Jahre nach dem Zuständigkeitswechsel zum 1. Strafsenat leitet daher die überwiegende Meinung der steuerstrafrechtlichen Literatur aus einer Reihe von Entscheidungen des 1. Strafsenats eine Tendenz zu einer strengeren Ahndung von Steuerstraftaten ab5. Nachfolgend soll untersucht werden, welche Konsequenzen die seit dem Zuständigkeitswechsel ergangenen Urteile des 1. Strafsenats auf Steuerstrafverfahren in der Praxis haben werden. Hierbei soll anhand der Darstellung der wesentlichen und „richtungsweisenden“ Entscheidungen diese anhand der steuerstrafrechtlichen Literatur kritisch hinterfragt und die Auswirkungen auf die Praxis untersucht werden, wobei sowohl materiell-rechtlichen als auch verfahrensrechtlichen Fragen nachgegangen wird. so z.B. FAZ vom 02.12.2008 „Steuersündern droht Gefängnisstrafe“; DIE WELT vom 03.12.2008 „Steuersünder kommen schneller hinter Gitter“; SÜDDEUTSCHE vom 02.12.2008 „Gefängnis für Steuerhinterzieher“ 2 Vgl. Salditt, PStR 2009, 15 - 19 3 so z.B. SÜDDEUTSCHE vom 28.05.2010 „Steuerbetrug - nur die totale Reue zählt“; FAZ vom 28.05.2010 „Steuerbetrüger müssen reinen Tisch machen“; DIE WELT vom 28.05.2010 „BGH erschwert Straferlass für Steuerbetrüger“ 4 Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung der Geldwäsche und Steuerhinterziehung vom 28.04.2011, BGBL I, 676 5 so z.B. Salditt, PStR 2009, 25, Bielefeld / Prinz, StB 2009, 112,11 1 9 B. Die wesentlichen Entscheidungen des 1. Strafsenats zur Steuerhinterziehung I. Strafzumessung bei Steuerstraftaten 1. Strafzumessung bei Steuerhinterziehung „großen Ausmaßes“ a. Die „Ausgangsentscheidung“ 1 StR 416/08 vom 02.12.2008 Dem Urteil lag ein Fall zugrunde, der in der steuerstrafrechtliche Praxis häufig anzutreffen ist. Nach den Urteilsfeststellungen der Vorinstanz6 beschäftigte der Angeklagte einen Großteil seiner Arbeitnehmer „schwarz“, ohne Lohnsteuern und Sozialversicherungsbeiträge abzuführen. Die so erzielten Umsatzerlöse wurden ebenfalls nicht erklärt. Über die von seinen Arbeitnehmern „schwarz“ erbrachten Leistungen stellte der Unternehmer sogenannte Abdeckrechungen - also Scheinrechnungen mit gesondertem Vorsteuerausweis - aus, um den Auftraggebern dadurch die Möglichkeit des Betriebsausgaben- und Vorsteuerabzugs zu ermöglichen. Insgesamt verkürzte der Angeklagte auf diese Weise Umsatzsteuer in Höhe von mehr als € 373.000,00, Lohnsteuer in Höhe von € 354.000,00 und ermöglichte durch das Ausstellen der Scheinrechnungen seinen Auftraggebern die Geltendmachung unberechtigter Vorsteuern in Höhe von mehr als € 220.000,00. Die Vorinstanz verurteilte den Angeklagten wegen Steuerhinterziehung, Beihilfe zur Steuerhinterziehung sowie Vorenthalten von Arbeitsentgelt zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 11 Monaten, deren Vollstreckung - aufgrund einer einschlägigen Vorstrafe des Angeklagten - nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die vom Angeklagte eingelegte Revision verwarf der 1. Strafsenat als offensichtlich unbegründet.7 In den Urteilsgründen äußerte sich der 1. Strafsenat hierbei – obiter dicta – grundlegend zur Strafzumessung bei Steuerhinterziehungsdelikten und legte Schwellenwerte fest, ab wann nach seiner Auffassung ein schwerer Fall der Steuerhinterziehung durch Verwirklichung des Regelbeispiels des § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO durch Steuerverkürzung „großen Ausmaßes“ vorliege. aa. Strafzumessungssystem des 1. Strafsenats Die Strafe für Steuerhinterziehung ist gem. § 370 Abs. 1 AO Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren. Besonders schwere Fälle der Steuerhinterziehung bedroht § 370 Abs. 3 Satz 1 AO jedoch ausschließlich mit Freiheitsstrafe von 6 Monaten bis zu 10 Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt nach dem Regelbeispiel des § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO u.a. vor, wenn der Täter in großem Ausmaß Steuern verkürzt oder nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt. 6 7 LG Landshut 3 KLs 54 Js 18017/06 vom 21.04.2008 BGH 1 StR 416/08 vom 02.12.2008, NJW 2009, 528 - 534 10 Auch bei einer Steuerhinterziehung soll nach dem 1. Strafsenat Grundlage für die Zumessung der Strafe - wie bei jeder anderen Straftat auch – nach § 46 StGB die persönliche Schuld des Täters sein, wobei hierbei dem von § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB vorgegebenen Kriterium der „verschuldeten Auswirkung der Tat“ im Rahmen der erforderlichen Gesamtwürdigung besonderes Gewicht zukommen soll.8 „Auswirkungen der Tat“ seien hierbei insbesondere die Folgen für das durch die Strafnorm geschützte Rechtsgut, was bei der Steuerhinterziehung nach ständiger Rechtsprechung des BGH die Sicherung des staatlichen Steueranspruchs, d. h. des rechtzeitigen und vollständigen Steueraufkommens sei.9 Deshalb stellt nach Auffassung des 1. Strafsenats die Höhe der verkürzten Steuern einen bestimmenden Strafzumessungsgrund im Sinne des § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO dar10. Dieses gilt nach Auffassung des 1. Strafsenats hierbei nicht nur für die konkrete Strafzumessung im Strafrahmen des § 370 Abs. 1 AO, sondern bereits für die Strafrahmenwahl des § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO11. Gerade auch bei der Bemessung der schuldangemessenen Strafe kommt nach Auffassung des 1. Strafsenats daher dem Merkmal „großes Ausmaß“ eine entscheidende Bedeutung zu, weil es aufzeigt, wann der Gesetzgeber eine Freiheitsstrafe für angebracht hält12. Der 1. Strafsenat sah sich daher in seiner Entscheidung veranlasst, das Merkmal des „großen Ausmaßes“ im Sinne des § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO durch konkrete Schwellenwerte „auszufüllen“. bb. „Großes Ausmaß“ einer Steuerhinterziehung Der 1. Strafsenat vertritt die Auffassung, dass zur Konkretisierung des „großen Ausmaßes“ der Steuerhinterziehung grundsätzlich das insoweit vergleichbare Kriterium wie für das wortgleiche Merkmal des Betruges mit „Vermögensverlusten großen Ausmaßes“ in § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 1. Alternative StGB zur Anwendung kommen müsse13. Nach der Rechtsprechung des BGH erfülle beim Betrug ein Vermögensverlust von mehr als € 50.000,00 das Regelbeispiel „Vermögensverlust großen Ausmaßes“ des besonders schweren Falles des Betruges nach § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 1. Alternative StGB14. 8 BGH 1 StR 416/08 vom 02.12.2008, wistra 3/2009, 110 so schon BGH St 36, 100, 102; 40, 109, 111; 41, 1, 5; 46, 107, 120 10 siehe auch BGH 5 StR 693/97 vom 18.03.1998, wistra 1998, 269, 270 11 BGH 1 StR 416/08 vom 02.12.2008, wistra 3/2009, 110 12 BGH 1 StR 416/08 vom 02.12.2008, wistra 3/2009, 110 13 BGH 1 StR 416/08 vom 02.12.2008, wistra 3/2009, 110 14 so z. B. BGH 1 StR 274/03 vom 07.10.2003, BGHSt 48,360, BGH 5 StR 511/03 vom 04.02.2004, wistra 2004, 262, 263; BGH 2 StR 388/06 vom 17.11.2006, StV 2007, 132 9 11 Für eine Vergleichbarkeit der beiden Regelbeispiele spricht nach Auffassung des 1. Strafsenats insbesondere, dass bereits der 5. Strafsenat in einer früheren Entscheidung ausgeführt habe, dass es geboten sei, „dem drohenden Ungleichgewicht zwischen der Strafpraxis bei der allgemeinen Kriminalität und der Strafpraxis in Steuer- und Wirtschaftsstrafverfahren entgegenzutreten und dem berechtigten besonderen öffentlichen Interesse an einer effektiven Strafverfolgung schwerwiegender Wirtschaftskriminalität gerecht zu werden“15. Dass - anders als bei der Einführung des § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 1. Alternative StGB – sich in den Materialien zur Gesetzesentstehung des § 370 Abs. 3 Satz 2 1. Alternative AO keine Anhaltspunkte dafür finden lassen, ab welchem Grenzwert der Gesetzgeber eine Steuerhinterziehung von „großem Ausmaß“ als gegeben erachtet, stehe einer Vergleichbarkeit hierbei nicht entgegen, da der Gesetzgeber bereits mit der Einführung des § 370 Abs. 3 AO zum Ausdruck bringen wolle, dass die Steuerhinterziehung „hinsichtlich ihrer Gefährlichkeit und ihrer Strafwürdigkeit nicht geringer zu bewerten sei als der Betrug“16. Nach Auffassung des 1. Strafsenats ist der Begriff des „großen Ausmaßes“ in § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO daher genauso wie der Begriff des „Vermögensverlustes großes Ausmaßes“ in § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 1. Alternative StGB allein nach objektiven Kriterien zu bestimmen17. Nur eine solche Abgrenzung, die sich an einer „eindeutigen Betragsgrenze“ ausrichtet, gewährleiste hierbei nach Auffassung des 1. Strafsenats größere Rechtssicherheit für die Praxis18. Der Umstand, dass sich die Betragsgrenze von € 50.000,00 nach Auffassung des 1. Strafsenats an derjenigen des Vermögensverlustes großen Ausmaßes im Sinne von § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 1. Alternative StGB orientiere, gebiete nach Auffassung des 1. Strafsenats jedoch zugleich, dass auch bei der Steuerhinterziehung - ähnlich wie beim Betrug - zwischen schon eingetretenem Vermögensverlust einerseits und einem Gefährdungsschaden anderseits zu differenzieren sei19. Die Betragsgrenze von € 50.000,00 soll daher nach Auffassung des 1. Strafsenats nur dann zur Anwendung kommen, wenn der Täter bereits ungerechtfertigte Zahlungen vom Finanzamt erlangt hat, etwa bei Steuererstattung durch sogenannte Umsatzsteuerkarusselle, Kettengeschäfte oder durch Einschaltung von sogenannten Serviceunternehmen. In diesen Fällen, wo der „Steuerbetrug“ bereits zu einem „Vermögensverlust“ geführt habe und diese Wertgrenze überschritten sei, sei nach Auffassung des 1. Strafsenats das Merkmal des großen Ausmaßes im Sinne von § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO erfüllt. 15 BGH St 50, 299, 309 BGH 1 StR 416/08 vom 02.12.2008, wistra 3/2009, 110 unter Hinweis auf BGH 3 StR 280/83 vom 28.09.1983, BGHSt 32, 95, 99 mit Hinweis auf BR-Drucks. 23/71 Seite 194 17 BGH 1 StR 416/08 vom 02.12.2008, wistra 3/2009, 111 18 BGH 1 StR 416/08 vom 02.12.2008, wistra 3/2009, 111 unter Hinweis auf die Entscheidung des BGH 1 StR 274/03 vom 07.10.2003, BGHSt 48, 360 zum Vermögensverlust großen Ausmaßes 19 BGH 1 StR 416/08 vom 02.12.2008, wistra 3/2009, 111 16 12 Beschränke sich das Verhalten des Täters aber lediglich darauf, die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis zu lassen, was zunächst nur quasi zu einer Gefährdung des Steueranspruches führe, kann der Schwellenwert des „großen Ausmaß“ nach Auffassung des 1. Strafsenats auch höher angesetzt werden, wobei er hier eine Wertgrenze von € 100.000,00 für angemessen ansieht20. Ob die Schwelle des „großen Ausmaßes“ überschritten sei, ist nach Auffassung des 1. Strafsenats hierbei für jede einzelne Tat im materiellen Sinne gesondert zu bestimmen. Nur bei einer mehrfachen tateinheitlichen Verwirklichung des Tatbestandes der Steuerhinterziehung sei das „Ausmaß“ des jeweiligen Taterfolgs nach zu addieren, da (nur) in solchen Fällen eine einheitliche Handlung im Sinne des § 52 StGB vorliege, die für die Strafzumessung einer einheitlichen Bewertung bedarf 21. cc. Strafzumessungserwägungen Liegt nach den von dem 1. Strafsenat entwickelten Maßstäben eine Hinterziehung „großen Ausmaßes“ vor, so habe dies unabhängig von der Frage, ob die Regelwirkung einer besonders schweren Steuerhinterziehung im konkreten Fall zur Anwendung kommt, auf jeden Fall „Indizwirkung“ für die zu findende Strafhöhe. Ab einem sechsstelligen Hinterziehungsbetrag soll daher die Verhängung einer Geldstrafe nur bei Vorliegen gewichtiger Milderungsgründen noch schuldangemessen sein, bei Hinterziehungsbeträgen in Millionenhöhe eine aussetzungsfähige Freiheitsstrafe nur bei Vorliegen besonders gewichtiger Milderungsgründe überhaupt noch in Betracht kommen, weshalb in letzteren Fällen ein Strafbefehlsverfahren regelmäßig nicht mehr als geeignet erscheine 22. Da auch bei der Steuerhinterziehung die persönliche Schuld des Täters Grundlage der Strafzumessung nach § 46 StGB ist, will der 1. Strafsenat jedoch allein die Höhe der hinterzogenen Steuern nicht als alleiniges Kriterium der Strafzumessung verstanden wissen. Auch wenn der Hinterziehungsbetrag ein bestimmender Strafzumessungsgrund für die Steuerhinterziehung sei, soll die Strafe nicht gestaffelt nach der Höhe des Hinterziehungsbetrages schematisch und quasi „tarifmäßig“ verhängt werden23. Die „Indizwirkung“ einer Steuerhinterziehung „großen Ausmaßes“ nach den von dem 1. Strafsenat entwickelten Kriterien könne einerseits durch sonstige Milderungsgründe beseitigt, andererseits aber auch durch andere Strafschärfungsgründe verstärkt werden. Milderungsgründe können z. B. gegeben sein, wenn sich der Täter im Tatzeitraum im Wesentlichen steuerehrlich verhalten hat, die Tat nur einen verhältnismäßig geringen Teil seiner steuerlich relevanten Betätigung betrifft und er ein frühzeitiges Geständnis abgelegt hat, verbunden mit der Nachzahlung verkürzter Steuern oder jedenfalls dem ernsthaften Bemühen hierzu. 20 BGH 1 StR 416/08 vom 02.12.2008, wistra 3/2009, 111 BGH 1 StR 416/08 vom 02.12.2008, wistra 3/2009, 111 22 BGH 1 StR 416/08 vom 02.12.2008, wistra 3/2009, 111 23 BGH 1 StR 416/08 vom 02.12.2008, wistra 3/2009, 111 21 13 Ebenso sei die Lebensleistung zu würdigen. Strafschärfungsgründe sollen dagegen vorliegen, wenn der Täter besondere Aktivitäten entfaltet hat, die von vornherein auf die Schädigung des Steueraufkommens im großen Umfang ausgelegt waren, z. B. durch Vorspiegelung erfundener Sachverhalte in erheblichem Umfang ungerechtfertigte Vorsteuererstattungen erlangt wurden oder die Steuerhinterziehung in sonstiger Weise gewerbsmäßig betrieben oder ein aufwendiges Täuschungssystem aufgebaut wurde, wie z.B. Unternehmensstrukturen, die der Bereicherung durch Steuerhinterziehung dienen sollen, Einschaltung von Domizilfirmen im Ausland oder durch Gewinnverlagerung ins Ausland schwer aufklärbare Sachverhalte geschaffen werden, wie dieses regelmäßig bei den sogenannten Umsatzsteuerkarussellgeschäften oder bei Kettengeschäften unter Einschaltung sogenannter „Serviceunternehmen“ gegeben sei. Die „Folgeentscheidungen“ b. An seine Entscheidung vom 02.12.2008 hat der 1. Strafsenat sodann in folgenden Entscheidungen „angeknüpft“ und mit diesen noch einmal nachdrücklich auf die von ihm entwickelten Schwellenwerte zur Abgrenzung der einfachen von der besonders schweren Steuerhinterziehung verwiesen. aa. Versuchte Steuerhinterziehung „großen Ausmaßes“ - 1 StR 332/10 vom 28.07.2010 Dass auch der Versuch einer Steuerhinterziehung „großen Ausmaßes“ entsprechend den vom ihm ausgeführten Schwellenwerten möglich und als Versuch der Verwirklichung des Regelbeispiels des § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO strafbar ist, hat der 1. Strafsenat in seinem Beschluss vom 28.07.2010 noch einmal ausdrücklich bekräftigt. Diesem Beschluss lag ein Sachverhalt zugrunde, wonach der Angeklagte beim Finanzamt eine Umsatzsteuervoranmeldung eingereicht hatte, mit der er zu Unrecht einen Vorsteuerbetrag in Höhe von mehr als € 534.000,00 aus gefälschten Rechnungen geltend machte, das Finanzamt die geltend gemachte Vorsteuer jedoch nicht als Erstattungsbetrag auszahlte, sondern eine Umsatzsteuersonderprüfung einleitete. Wie der 1. Strafsenat in seinem Beschluss vom 28.07.201024 ausführte, durfte das Landgericht, auch wenn der Angeklagte nicht im großen Ausmaß Steuern verkürzt oder nicht gerechtfertigte Steuervorteile i.S.d. § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO erlangt hat, weil eine Auszahlung des geltend gemachten Erstattungsbetrages vom Finanzamt verweigert worden war, dennoch die Strafe dem nach § 23 Abs. 2 i.V.m. § 49 Abs. 1 StGB gemilderten - Strafrahmen des § 370 Abs. 3 AO entnehmen. 24 BGH 1 StR 332/10 vom 28.07.2010, wistra 11/2010, 449 f. 14 Unter Bezugnahme auf seine Entscheidung vom 02.12.200825 führte der BGH aus, dass die Geltendmachung eines unberechtigten Vorsteuerbetrages von mehr als € 534.000,00 auf einen nicht gerechtfertigten Steuervorteil im „großen Ausmaß“ i.S.v. § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO abziele. Der Umstand, dass ebenso wie das Grunddelikt des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO auch das Regelbeispiel des § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO nur versucht worden sei, stünde dem nicht entgegen. Auch für den Eintritt der Regelwirkung der Regelbeispiele besonders schwerer Steuerhinterziehung gem. § 370 Abs. 3 Satz 2 AO kann es bei der versuchten Steuerhinterziehung i.S.d. § 370 Abs. 2 AO nur darauf ankommen, ob der Täter nach seiner Vorstellung zur Verwirklichung des Regelbeispiels bereits unmittelbar angesetzt hat. Denn bei der versuchten Steuerhinterziehung sei auch für die Indizwirkung der Regelbeispiele auf die subjektive Tatseite abzustellen 26. Gegenteiliges ergebe sich auch nicht aus einem Vergleich mit dem Regelbeispiel des § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 Var.1 StGB, für den der BGH bisher angenommen habe, dass ein bloßer Betrugsversuch die Voraussetzung des Regelbeispiels des „Herbeiführens eines Vermögensverlustes großen Ausmaßes“ nicht erfüllen kann27, denn der dort vom Gesetzgeber verwendete Begriff des Vermögensverlustes sei nach Auffassung des 1. Strafsenats nach dem Wortsinn enger zu verstehen als die in anderem Zusammenhang verwendeten Begriffe des Vermögensschadens oder -nachteils und verbietet daher eine Ausdehnung auf bloße Gefährdungsschäden28. Nach Auffassung des 1. Strafsenats, nimmt im Gegensatz hierzu § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO ausdrücklich Bezug auf den Begriff der Steuerverkürzung und damit auf die Legaldefinition in § 370 Abs. 4 Satz 1 AO29. bb. Urteilsgründe und „großes Ausmaß“ - 1 StR 116/11 vom 05.05.2011 Auch in einem aktuellen Beschluss vom 05.05.201130 weist der 1. Strafsenat noch einmal eindringlich auf die von ihm geforderte Auseinandersetzung des Tatgerichts mit den Feststellungen zu einer Steuerhinterziehung „großen Ausmaßes“ hin. Diesem Beschluss lag ein Sachverhalt zugrunde, wonach der Angeklagte insgesamt Umsatzsteuern in Höhe von über € 2 Millionen hinterzogen hatte, wobei bei einer Vielzahl von Taten die 25 BGH 1 StR 416/08 vom 02.12.2008, BGHSt 53, 71, 84 ff. BGH 1 StR 332/10 vom 28.07.2010, wistra 2010, 449, 450 27 so BGH 2 StR 388/06 vom 17.11.2006 und 4 StR 428/06 vom 09.01.2007, wistra 2007, 183 28 BGH 1 StR 212/03 vom 07.10.2003, BGHSt 48, 354, 358 f. 29 BGH 1 StR 332/10 vom 28.07.2010, wistra 2010, 449, 450 30 BGH 1 StR 116/11 vom 05.05.2011; Lexitus.com/2011, 2546 26 15 Hinterziehungsbeträge über € 100.000,00 lagen, das Tatgericht den Angeklagten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten verurteilte, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Dem 1. Strafsenat, dem dieses Strafmaß sichtlich missfiel und die Strafzumessung daher in mehrfacher Hinsicht – zugunsten des Angeklagten - als rechtsfehlerhaft bezeichnete, wies darauf hin, dass die Urteilsgründe, soweit dazu Anlass besteht, ergeben müssen, ob Steuern in großen Ausmaß i.S.d. § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO verkürzt worden sind und für diesen Fall sich aus den Urteilsgründen auch ergeben müsse, weshalb trotz des Vorliegens dieses Regelbeispiels ein besonders schwerer Fall des § 370 Abs. 3 AO nicht angenommen wurde 31. cc. Wertgrenze beim Griff in die Kasse – 1 StR 579/11 vom 15.12.2011 In seiner Entscheidung vom 15.12.2011 (wistra 5/2012, Seite 191 ff.) stellt der BGH fest, dass bei zu Unrecht gemachten Vorsteuerbeträgen oder Betriebsausgaben, die „Wertgrenze“ für eine Hinterziehung großen Ausmaßes bei € 50.000,00 liegt („Griff in die Kasse“) und zwar auf jeden Fall, wenn es zu einer solchen Auszahlung oder Verrechnung mit anderen Steuererstattungsansprüchen kommt. In seiner Entscheidung 1 StR 407/12 vom 25.09.2012 (wistra 2/2013, Seite 67 ff.) hat der BGH hierzu ergänzend klargestellt, dass bei der Beurteilung nicht auf die Auszahlung ankommt, sondern allein auf die Höhe der durch zu Unrecht gemachten Vorsteuerbeträgen oder Betriebsausgaben verkürzten Steuern. dd. Steuerhinterziehung in Millionenhöhe – 1 StR 525/11 vom 07.02.2012 In seiner Entscheidung vom 07.02.2012 (wistra 6/2012, Seite 236 ff.) hat der BGH noch einmal auf die Strafzumessung bei Hinterziehung in Millionenhöhe dargestellt und im Übrigen begründet, weshalb sowohl ein Geständnis als auch die Nachzahlung der Steuern, keine „besonders gewichtigen Milderungsgründe“ darstellen, die eine Freiheitsstrafe zur Bewährung noch begründen könnten. ee. Hinterziehung von Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben in Millionenhöhe – 1 StR 103/12 vom 22.05.2012 In seiner Entscheidung vom 22.05.2012 (wistra 9/2012, Seite 350 ff.) hat der BGH klargestellt, dass seine Strafzumessung bei Hinterziehung in Millionenhöhe auch für den Schmuggel nach § 373 AO gelten. 31 BGH 1 StR 116/11 vom 05.05.2011; Lexitus.com/2011, 2546 16 ff. „Grober Eigennutz“ bei Steuerhinterziehung in Millionenhöhe – 1 StR 257/12 vom 21.08.2012 In seiner Entscheidung vom 21.08.2012 (wistra 1/2013, Seite 28 ff.) hat der BGH klargestellt, dass seine Strafzumessung bei Hinterziehung in Millionenhöhe auch für den Schmuggel nach § 373 AO gilt. gg. Hinterziehung in Nicht-Millionenhöhe – 1 StR 423/12 vom 26.09.2012 In seiner Entscheidung vom 26.09.2012 (wistra 1/2013, Seite 31) hat der BGH klargestellt, dass aus seiner Rechtsprechung zur Strafzumessung bei Hinterziehung in Millionenhöhe nicht- quasi im Umkehrschluss - geschlossen werden kann, dass bei einer Hinterziehung in Nicht-Millionenhöhe eine Freiheitsstrafe von über 2 Jahren ohne Bewährung rechtlich fehlerhaft ist hh. Vollendung der Steuerhinterziehung bei Schätzungsbescheiden – 1 StR 317/12 vom 22.08.2012 In seiner Entscheidung vom 22.08.2012 (wistra 2/2013, Seite 65 ff.) hat der BGH klargestellt, dass in Schätzungsfällen wegen Nichtabgabe der Steuererklärungen Tatvollendung mit der Bekanntgabe des Schätzungsbescheides eintritt, mit dem die Steuer zu niedrig festgesetzt wird. Wird die Steuer mit dem Schätzungsbescheid aber richtig oder zu hoch festgesetzt, kann die Tat nicht mehr vollendet werden, da kein Verkürzungserfolg mehr eintritt. ii. Großes Ausmaß bei unberechtigten Vorsteuerabzug – 1 StR 407/12 vom 25.09.2012 In seiner Entscheidung 1 StR 407/12 vom 25.09.2012 (wistra 2/2013, Seite 67 ff.) hat der BGH – ergänzend zu seiner Entscheidung vom 15.12.2011 (wistra 5/2012, Seite 191 ff.) - klargestellt, dass bei der Beurteilung einer Steuerhinterziehung großen Ausmaßes bei zu Unrecht gemachten Vorsteuerbeträgen oder Betriebsausgaben es nicht auf die Auszahlung eines Guthaben ankommt, sondern allein auf die Höhe der durch die zu Unrecht gemachten Vorsteuerbeträgen oder Betriebsausgaben verkürzten Steuern. c. Kritische Würdigung und Bedeutung der Entscheidungen für die Praxis Der BGH will mit seinen Entscheidung - wie seinen Urteilsgründen vom 02.12.2008 zu entnehmen ist - ein seiner Auffassung nach bestehendes Ungleichgewicht zwischen der Strafpraxis bei der allgemeinen Kriminalität und der Strafpraxis in Steuer- und Wirtschaftsstrafverfahren entgegentreten. 17 Eine generell höhere Bestrafung fordert der 1. Strafsenat zwar ausdrücklich nicht, jedoch wurde dieses bereits in den ersten Reaktionen auf das Urteil erwartet32 und scheint sich auch in den Ausführungen seines Beschlusses vom 05.05.201133 zu bestätigen. aa. Einheitliche Schwellenwerte statt Strafmaßtabellen Ab wann eine Steuerhinterziehung „großen Ausmaßes“ verwirklicht sein soll, war bislang höchstrichterlich vom BGH offengelassen worden. Bisher hatte der BGH auf eine Gesamtbetrachtung abgestellt34 und sich dementsprechend einer konkreten Summenfestschreibung bislang verweigert, wobei ihm zuvor hierbei von Bedeutung war, ob sich das Ausmaß aus dem noch durchschnittlich vorkommenden Verkürzungsumfang heraushebt und ob ein „Täuschungsgebäude großen Ausmaßes“ vorliege35. In der steuerstrafrechtlichen Literatur war hinsichtlich des „großen Ausmaßes“ bisher ein breites Spektrum von weit auseinandergehenden Auffassungen vertreten. Überwiegend wurde - unter Geltung des bis Ende 2007 geltenden § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO a.F. bzw. zu dem mit Wirkung zum 01.01.2008 wieder abgeschafften § 370 a AO - für die Annahme des großen Ausmaßes einer Steuerhinterziehung das Überschreiten eines „Schwellenwertes“ von 1 Million für erforderlich erachtet36. Andere Literaturmeinungen hielten für das Merkmal des „großen Ausmaßen“ einen Hinterziehungsbetrag von € 500.000,0037 für erforderlich. Vereinzelt wurde eine Steuerhinterziehung in „großem Ausmaß“ bereits ab einem Mindestbetrag von € 50.000,00 bejaht38, wobei diese Literaturmeinungen insoweit in ihrer Auffassung Unterstützung von vereinzelter Rechtsprechung39 erhielt, wonach „unterhalb einer Grenze von € 50.000,00 die Anwendung der Vorschrift des § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO a priori nicht in Betracht kommen solle“. Dass der 1. Strafsenat in seiner obiter dicta Entscheidung nunmehr zur Konkretisierung des großen Ausmaßes auf die von der Rechtsprechung zu § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 1. Alternative StGB entwickelten Konkretisierung zurückgreift, verwundert nicht allzu sehr 40, auch wenn dieses in der Literatur mit dogmatischen Bedenken kritisiert wurde 41. 32 Bielefeld / Prinz, StB 2009, 112, 116; ebenso Saldit, PStR 2009, 25; Bielsdorfer, NJW 2009, 476 ,478; andere Einschätzung: Geuenich, BB 2009, 312, 316 33 BGH 1 StR 116/11 vom 05.05.2011; lexitus.com/2011, 2546 34 BGH 5 StR 466/92 vom 13.01.2992, wistra 1993, 109, 110 35 BGH, 2 StR 280/86 vom 07.11.1986, wistra 1987, 71, 72 36 Joecks in Franzen/Gast/Joecks, § 370 AO, Rdn. 270;; so ähnlich auch Salditt, StV 2002, 214, 215 37 Bläsinger in Kühn/v. Wedelstädt, AO und FGO, § 370 AO, Rdn. 114 38 Schauf in Kohlmann, 370 AO, Rn. 1099.7; 39 LG Saarbrücken 5 Js 141/02 vom 10.05.2005, wistra 2005, 355 40 vgl. hierzu Rolletschke / Jope, wistra 2009, 219, 220, die die Grenze zwischen Betrug und Steuerhinterziehung als fließend bezeichnen 41 Erb/Schmitt, PStR 2011, 144; Schaefer, NJW Spezial 2009, 88, der es als Vergleich zwischen Äpfel und Birnen bezeichnet 18 Der 1. Strafsenat hatte selber bereits mit seinem Urteil vom 07.10.200342 in Bezug auf das große Ausmaß des § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 1. Alternative StGB ausgeführt, es erscheine dem Senat vorstellbar, „bei Verweisung ... oder gar Deliktsgruppen eine einheitliche Grenzziehung zu bevorzugen“. Die „obiter dicta“ Entscheidung des BGH wird daher vor allem als Versuch angesehen, den Instanzengerichten bundeseinheitliche Leitlinien zur Strafzumessung an die Hand zu geben 43, was in der Literatur als Hauptpunkt der BGH-Entscheidung vom 02.12.2008 gewertet44 und teilweise sogar ausdrücklich begrüßt wurde45. Folge der vom 1. Strafsenat des BGH vorgenommenen „Katalogisierung“ nach „Hinterziehungstarifen“ dürfte daher auf jeden Fall nach einhelliger Auffassung der steuerstrafrechtlichen Literatur sein, dass sich die Strafzumessungspraxis deutschlandweit annähern, die teilweise erhebliche Unterschiede bei der Strafzumessung, insbesondere zwischen nord- und süddeutschen Strafgerichten angleichen werden und die in der Vergangenheit von den finanzbehördlichen Strafverfolgungsorganen gehandhabte Praxis, die Strafe anhand sogenannter Strafmaßtabellen der Oberfinanzdirektionen mit zu bestimmen, überholt sein dürfte 46. Zwar führt der 1. Strafsenat in seinen Entscheidungsgründen aus, dass die von ihm benannten Beträge keine starren Grenzen darstellen, sondern es nach wir vor einer Gesamtabwägung aller relevanten Umstände bedarf. Die von dem 1. Strafsenat aber mit seiner Entscheidung benannten exakten Beträge als Schwellenwerte lassen jedoch befürchten, dass sowohl Strafverfolgungsbehörden als auch die Instanzengerichte zukünftig zunächst jeden Fall nach einem Raster anhand der von dem BGH genannten Grenzzahlen bewerten werden47. bb. Strafverfolgungsverjährung Entscheidende Auswirkung hat das Urteil mit den dort genannten Schwellenwerten zur Abgrenzung einer Steuerhinterziehung „großen Ausmaßes“ zur einfachen Steuerhinterziehung für die Strafverfolgungsverjährung. Zeitlich fast parallel zu der Entscheidung ging das Gesetzgebungsverfahren „Jahressteuergesetz 2009“ vonstatten. Durch das Jahressteuergesetz 2009 vom 19.12.200848 wurde die neue Verjährungsvorschrift des § 376 Abs. 1 AO eingeführt. 42 BGH 1 StR 274/03 vom 07.10.2003, BGH St 48, 360, wistra 2004, 22 so z.B. Salditt, PStR 2009, 15, 18; Bilsdorfer, NJW 2009, 476, 478; Bielefeld / Prinz, StB 2009, 112; Wulf, DStR 2009, 459, 464 44 Spatschek / Engler, Steueranwaltsmagazin 2009, 122, 125 45 so z.B. Salditt, PStR 2009, 15, 19 46 Bielefeld / Prinz, StB 2009, 112, Bilsdorfer, NJW 2009, 476, 478 47 so die Befürchtung von Bielefeld / Prinz, StB 2009, 112, 116 48 BGBl 2008I, 2794 - 2845 43 19 Mit dieser Vorschrift hat der Gesetzgeber die Verjährungsfrist für bestimmte Fälle der Steuerhinterziehung von 5 auf 10 Jahre verdoppelt. Die zuvor geltende normale Verjährungsfrist für Steuerhinterziehung betrug in den Fällen des § 370 AO einheitlich gem. § 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB 5 Jahre. Anders als ursprünglich von der Bundesregierung geplant und in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht49 gilt künftig zwar nicht für alle Fälle des § 370 AO eine eigenständige zehnjährige Strafverfolgungsverjährungsfrist50, sondern nur für die § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 – 5 AO in benannten Fälle, umfasst somit also auch die Steuerhinterziehung „großen Ausmaßes“ des § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO. Wird somit – nach der nunmehrigen Rechtsprechung des 1. Strafsenats – eine Steuerhinterziehung großen Ausmaßes bereits ab € 50.000,00 bzw. € 100.000,00 bejaht, gilt hierfür die eigenständige zehnjährige Strafverfolgungsverjährungsfrist des § 376 Abs. 1 AO. Nach Artikel 39 Abs. 1 JStG 2009 ist die Neuregelung am 25.12.2008 - somit unmittelbar nach dem Urteil des 1. Strafsenats vom 02.12.2008 - in Kraft getreten und umfasst in ihrem Anwendungsbereich alle Fälle, die bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht verjährt waren (§ 23 EGAO). Auch wenn vereinzelt die Auffassung vertreten wird, dass diese Verlängerung der Verjährungsvorschriften verfassungswidrig sind, da der Gesetzgeber die Verjährungsverlängerung an Regelbeispiele angeknüpft habe51, wird – sofern die Verfassungswidrigkeit dieser Vorschrift nicht gerichtlich festgestellt wurde - der steuerstrafrechtliche Berater von der Verfassungsmäßigkeit zunächst auf jeden Fall weiter ausgehen und seine Beratung / Verteidigung daran ausrichten müssen. cc. Selbstanzeigeberatung Die Frage, welche Strafverfolgungsverjährung (5 Jahre für die einfache Steuerhinterziehung i.S.d. § 370 Abs. 1 AO gem. § 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB oder 10 Jahre für die Steuerhinterziehung „großen Ausmaßes“ i.S.d. § 370 Abs. 3 Satz 2 AO gem. § 376 AO) Anwendung findet, wird zukünftig auch entscheidend sein für die Selbstanzeigeberatung bei Steuerhinterziehung. Auch wenn die steuerliche Festsetzungsfrist bei Steuerhinterziehung gem. § 169 Abs. 2 Satz 2 AO 10 Jahre beträgt, wurde aufgrund des Umstandes, dass die strafrechtliche Verjährungsfrist für Steuerhinterziehung bisher einheitlich gem. § 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB 5 Jahre betrug, in der Vergangenheit - unabhängig von der Höhe der begangenen Steuerhinterziehung - zunächst im Rahmen einer Selbstanzeige nach § 371 AO nur für die strafbefangenen Jahre eine Selbstanzeige zur Erlangung der Straffreiheit abgegeben. 49 vgl. Regierungsentwurf, BT-Drs. 16/10189, Seite 26 kritisch dazu Schaefer, NJW-Spezial 2008, 408 51 so Pelz, NJW 2009, 470, 471; wohl auch Wegener, PStR 2009, 33, 35; Wulf, DStR 2009, 459, 460 50 20 Vor dem Hintergrund, dass nunmehr seit dem 25.12.2008 durch Einführung des § 376 Abs. 1 AO die Verjährung in den in § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1-5 AO genannten Fällen 10 Jahre beträgt, wird nunmehr in der Praxis bei der geplanten Abgabe einer Selbstanzeige zunächst anhand der Vorgaben des BGH zu den Schwellenwerten einer Steuerhinterziehung „großen Ausmaßes“ geprüft werden müssen, ob die Strafverfolgungsverjährung 5 oder 10 Jahre beträgt. Hierzu wird anhand der vom BGH vorgegebenen Schwellenwerte von € 50.000,00 und € 100.000,00 im Vorfeld der Abgabe einer Selbstanzeige der Umfang der Steuerhinterziehung jeweils ermittelt werden müssen. Dieses hat sich auch nicht vor dem Hintergrund der Novellierung der Selbstanzeigevorschriften durch das sog. „Schwarzgeldbekämpfungsgesetz“52 geändert, da der geänderte § 371 AO die Berichtigung der unrichtigen Angaben zu „allen unverjährten“ Steuerstraftaten einer Steuerart verlangt. dd. Rechtliche Bindung der Vorgaben Es wird abzuwarten bleiben, ob die jeweiligen Instanzengerichte die „obiter dicta“ Vorgaben des 1. Strafsenats in Zukunft (bundeseinheitlich) umsetzen werden, rechtlich gebunden sind sie an diese Vorgaben des BGH aufgrund ihrer in Artikel 97 GG statuierten Unabhängigkeit jedenfalls nicht53. Die Zumessung der Strafe ist zunächst Aufgabe der Tatrichter54. Rechtliche Beurteilungen des Revisionsgerichts binden den Tatrichter gem. § 358 Abs. 1 StPO nur, soweit sie die Aufhebung des angefochtenen Urteils tragen55. Die Erfüllung eines Regelbeispiels – wie z.B. des Regelbeispiels des § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO - zwingt den Tatrichter zwar nicht dazu, einen besonders schweren Fall zwingend bejahen zu müssen, jedoch gilt die widerlegbare Vermutung, dass der Tat ein erhöhter Unrechts- und Schuldgehalt anhaftet und die Tat damit insgesamt als besonders schwer anzusehen ist56. Der 1. Strafsenat hat in seinem Beschluss vom 05.05.201157 mit dem Hinweis, dass „bei der Staatsanwaltschaft – auch im Rahmen der Dienstaufsicht – Anlass hätte bestehen können, zu prüfen, ob Handlungsbedarf gemäß Nr. 147 Abs. 1 Satz 3 RiStBV besteht“ (Anm.: zur Einlegung eines Rechtsmittels zur Nachprüfung des Strafmaßes) plastisch deutlich gemacht, was er von 52 Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung von Geldwäsche und Steuerhinterziehung vom 28.04.2011, BGBL 2011 I, 676 - 677 53 Schaefer, NJW-Spezial 2009, 88, 89 54 Fischer, StGB, § 46 Rn. 146 55 Salditt, PStR 2009, 15, 18 56 BGH 1 StR 654/86 vom 13.01.1987, NJW 1987, 2450; vgl. auch Fischer, StGB, § 46 Rdn. 91 57 BGH 1 StR 116/11 vom 05.05.2011, lexitus.com/2011,2546 21 erstinstanzlichen Urteilen hält, die keine Feststellungen zum „großen Ausmaß“ einer Steuerhinterziehung enthalten. Dennoch besteht in der Praxis weiterhin die Möglichkeit für Tatrichter und Staatsanwaltschaft, die Schwellenwerte des 1. Strafsenats durch Teileinstellungen gegebenenfalls zu unterlaufen.58 ee. Verteidigungsstrategien In der Praxis wird das Urteil des BGH vom 02.12.2008 zunächst Auswirkungen auf die Frage haben, ob der Strafrahmen des § 370 Abs. 1 AO, der eine Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren oder Geldstrafe vorsieht, oder des § 370 Abs. 3 AO, der keine Geldstrafe mehr, sondern nur noch eine Freiheitsstrafe von 6 Monaten bis zu 10 Jahren vorsieht, anzuwenden ist. Nach der vom BGH vorgenommenen Differenzierung, wonach die Betragsgrenze von € 50.000,00 nur zur Anwendung kommen soll, wenn der Täter ungerechtfertigte Zahlung vom Finanzamt erlangt hat, während die Wertgrenze von € 100.000,00 zur Anwendung kommen soll, wenn sich das Verhalten des Täters lediglich darauf beschränkt hat, die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis zu lassen, wird künftig die Unterscheidung von Steuerhinterziehung durch Unterlassen i.S.d. § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO einerseits und durch aktives Tun i.S.d. § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO andererseits wieder an Bedeutung zunehmen59. Bei den „klassischen“ Fällen der Steuerhinterziehung verwirklicht der Täter die Steuerhinterziehung dadurch, dass er steuerlich erhebliche Tatsachen verschweigt bzw. überhaupt keine Steuererklärung abgibt, somit eine Steuerhinterziehung durch Unterlassen im Sinne des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO begeht. Bei dieser Tatbestandsverwirklichung soll nach der Rechtsprechung des BGH das „große Ausmaß“ im Sinne des § 370 Abs. 3 AO erst ab einer Wertgrenze von € 100.000,00 vorliegen 60. Nur dann, wenn der Täter steuerlich erhebliche Tatsachen nicht nur verschweigt, sondern weitere Tätigkeiten entfaltet, um vom Finanzamt ungerechtfertigte Zahlungen zu erlangen, somit eine Steuerhinterziehung durch aktives Tun im Sinne des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO begeht, soll eine Steuerhinterziehung „großen Ausmaßes“ im Sinne des § 370 Abs. 3 AO bereits bei einer Betragsgrenze von € 50.000,00 vorliegen. Bei der Frage, ob eine Steuerhinterziehung „großen Ausmaßes“ im Sinne des § 370 Abs. 3 AO vorliegt, wird daher in der steuerstrafrechtlichen Praxis zunächst auf die Tatbegehung abzustellen sein, um die jeweilige vom 1. Strafsenat vorgegebene Wertgrenze im konkreten Fall ermitteln zu können. 58 so Salditt, PStR 2009, 15, 18 Spatscheck, Engler, Steueranwaltsmagazin 2009, 122, 123 60 siehe hierzu die Kritik von Bach, PStR, 2010, 11, 12, der die Auffassung vertritt, dass ein Nichtstun allenfalls zu einer Gefährdung des Steueranspruches führen könne, aber nicht zu einer Verwirklichung einer Steuerhinterziehung großen Ausmaßes 59 22 In der Praxis wird hierbei aber darauf zu achten sein, dass die Frage des „großes Ausmaßes“ für jede einzelne Tat im materiellen Sinne gesondert zu bestimmen ist. Steuerstrafrechtliche Sachverhalte sind meistens Dauersachverhalte, die sich jährlich wiederholen, somit vom Täter über mehrere Jahre hinweg begangen werden. Die einzelne Tat im Sinne von § 370 AO wird dabei aber durch den Steuerpflichtigen, die Steuerart und den jeweiligen Veranlagungszeitraum bestimmt 61. Nach ständiger Rechtsprechung des BGH ist jede unrichtige Steuererklärung somit grundsätzlich eine selbständige Tat im Sinne des § 53 StGB62. Nur bei Steuerhinterziehung, die in einer Handlung im strafrechtlichen Sinne (§ 52 StGB) zusammenfallen, addiert der BGH die hinterzogenen Beträge63. Dieses liegt dann vor, wenn eigentlich mehrere Steuerhinterziehungen durch die selbe Erklärung bewirkt werden64, so z.B. wenn mehrere Steuererklärungen in einem äußeren Vorgang zusammen abgegeben werden und die Erklärung auf übereinstimmenden falschen Angaben über die Besteuerungsgrundlagen aufbauen65. Für das Erreichen der vom 1. Strafsenat vorgegebenen Schwellenwerte ist somit zur Bestimmung des „großen Ausmaßes“ im Sinne des § 370 Abs. 3 AO auch weiterhin jeweils die einzelne Tat maßgeblich und nicht die Summe der hinterzogenen Steuern aus mehreren Taten 66. Dieses entspricht im Übrigen der bisherigen Rechtsprechung zu § 70 Abs. 3 Nr. 1 AO67. Die Verteidigung wird sich zukünftig daher mit dem Erreichen der vom 1. Strafsenat entwickelten Schwellenwerte auseinandersetzen müssen und – sofern dazu Anlass besteht – vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Strafandrohungen herausarbeiten müssen, für welche Tat ein „großes Ausmaß“ i.S.d. § 370 Abs. 3 AO vorliegt und für welche Tat nicht. Sofern die von dem 1. Strafsenat vorgegebenen Wertgrenzen hierbei nicht durch die jeweilige materielle Tat überschritten wurden, sondern nur die Summe der Steuerhinterziehung aus mehreren Taten zum Überschreiten der Schwellenwerte führt, erfüllt dieses nicht den Tatbestand der Steuerhinterziehung großen Ausmaßes i.S.d. § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO 68. Sofern nur durch die Summe von mehreren materiellen Taten die vom 1. Strafsenat aufgeführten Schwellenwerte überschritten sind, somit mehrere Taten vorliegen, kann dieses nur bei der Bildung einer Gesamtstrafe nach §§ 53, 54 StGB berücksichtigt werden. Hierbei ist jedoch zu 61 h.M.: vgl. BGH 5 StR 226/99 vom 05.04.2000, wistra 2000, 219, 225 BGH 5 StR 220/04 vom 24.11.2004, NStZ 2005, 516, Rn. 4 63 BGH 1 StR 416/08 vom 02.12.2008, NJW 2009, 528 64 BGH 5 StR 220/04 vom 24.11.2004, NStZ 2005, 516, Rn. 4 65 BGH 5 StR 73/96 vom 05.03.1996, wistra 1996, 231, Rn.3; BGH 5 StR 220/04 vom 24.11.2004, NStZ 2005, 516, RdNr. 4 66 so Bielefeld / Prinz, StB 2009, 112, 114; Spatscheck / Engler, Steueranwaltsmagazin 2009, 122, 124 67 BGH 5 StR 5801/03 vom 05.02.2004, wistra 2004, 185 und BGH 5 StR 301/04 vom 12.01.2005, wistra 2005, 144, 145 68 Spatscheck / Engler, Steueranwaltsmagazin 2009, 122, 124, Rolletschke / Jope, wistra 2009, 219, 221; Wulf, DStR 2009, 459, 460 62 23 berücksichtigen, dass in den Fällen der Tatmehrheiten, in denen als Einzelstrafen ausschließlich Geldstrafen vom Tatrichter verhängt werden, auch im Rahmen der Gesamtstrafenbildung nicht auf eine Freiheitsstrafe erkannt werden kann69. Wohl auch nur im Rahmen einer so zu bildenden Gesamtstrafenbildung nach §§ 53, 54 StGB bei Tatmehrheiten kann nur die vom 1. Strafsenat genannte Wertgrenze von 1 Million Euro zu verstehen sein, wonach eine aussetzungsfähige Bewährungsstrafe nur bei Vorliegen besonders gewichtiger Milderungsgründe noch in Betracht komme, da ein Steuerschaden in Höhe von über 1 Million Euro nur durch eine materielle Tat eher unwahrscheinlich ist 70. Auch die weiteren vom 1. Strafsenat in seiner Entscheidung vom 02.12.2008 erwähnten Strafzumessungserwägungen werden in der Praxis verstärkt Auswirkungen auf das Strafmaß aber auch auf die Verteidigung in Steuerstrafsachen haben, insbesondere in solchen Fällen, wo einer Steuerhinterziehung „großen Ausmaßes“ vorliegt und daher mit – eventuell nicht mehr aussetzungsfähigen – Freiheitsstrafen gerechnet werden muss. Soweit der 1. Strafsenat es als strafverschärfend ansieht, wenn der Täter Steuerhinterziehung gewerbsmäßig betreibt, in dem er z. B. besondere Unternehmensstrukturen aufbaut, systematische Scheingeschäfte tätigt, oder gezielt Domizilgesellschaften einschaltet, so waren diese Strafzumessungserwägungen bereits in den „Anweisung für das Straf- und Bußgeldverfahren (Steuer) - AstBV (St)“71 aufgeführt, so dass sie schon die bisherige Strafzumessungspraxis zumindest der Finanzbehörden - mitbestimmt haben. Auch die vom 1. Strafsenat genannten Strafmilderungsgründe des frühzeitigen Geständnisses, der Zahlung der Steuern oder zumindest das ernsthafte Bemühen um Zahlung der verkürzten Steuern, deckt sich mit der bisherigen Rechtsprechung72 und sind insoweit nicht neu. Als neuen und bislang so noch nicht aus der veröffentlichten Rechtsprechung bekannten strafmildernden Umstand wird man jedoch das vom 1. Strafsenat ausdrücklich als strafmildernden Umstand zu wertende „übrige steuerliche Verhalten des Täters“ zukünftig insbesondere in der steuerstrafrechtlichen Verteidigung berücksichtigen können 73. Ist der Täter sonst steuerehrlich oder betrifft die Tat nur einen verhältnismäßig geringen Teil seiner steuerlich relevanten Betätigung, so wird dieses in Zukunft die Strafe mildern können. Es steht zu befürchten, dass die Strafverfolgungsbehörden mit Blick auf die Entscheidung des 1. Strafsenats zukünftig - anstelle der Strafmaßtabellen - schematisch anhand der vorgegebenen Schwellenwerte vorgehen. Im Gegenzug wird die Verteidigung insbesondere bei Vorliegen einer Steuerhinterziehung „großen Ausmaßes“ die besonderen Strafmilderungsgründe des Einzelfalles herauszustellen haben. Bei einem Überschreiten der vom 1. Strafsenat vorgegebenen 69 Fischer, StGB, § 54, Rz. 4 so Spatscheck / Engler, Steueranwaltsmagazin 2009, 122, 125; Wulf. DStR 2009, 459, 465 71 AstBV (St) 2010, BStBl 2009 I, Seite 1532 72 zum Geständnis: BGH 1 StR 563/99 vom 14.12.1999, NStZ 2000, 366; zur Nachzahlung der Steuern: BGH 5 StR 269/01 vom 07.11.2001, wistra 2002, 98; zum ernsthaften Bemühen um Schadenswiedergutmachung: BGH 2 StR 42/06 vom 07.06.2006, wistra 2006, 343 73 Bielefeld / Prinz, StB 2009, 112, 115, 116 70 24 Schwellenwerte wird es künftig maßgeblich auf den jeweiligen Tatrichter ankommen, ob noch eine Geld- oder schon eine Freiheitsstrafe erkannt wird. Es ist jedoch zu befürchten, dass die Gerichte bei Überschreiten dieser vom BGH vorgegebenen Schwellenwerte von einer Steuerhinterziehung „großen Ausmaßes“ ausgehen werden und vermehrt (ggf. noch aussetzungsfähige) Freiheitsstrafen verhängen werden. Die vom 1. Strafsenat gewählte Formulierung, wonach bei einem Gesamthinterziehungsbetrag von € 1 Millionen eine „aussetzungsfähige Bewährungsstrafe nur bei Vorliegen besonders gewichtiger Minderungsgründe noch in Betracht kommt“, wird zukünftig sowohl die steuerstrafrechtlichen Verteidiger als auch die Untergerichte zu einer entsprechenden Darlegung der besonders gewichtigen Minderungsgründe bei Hinterziehung von Millionenbeträgen fordern, wenn eine noch aussetzungsfähige Freiheitsstrafe gegen eine Revision der Staatsanwaltschaft sicher gemacht werden soll. 2. Strafzumessung bei Steuerhinterziehung auf Zeit und bei Tatserien a. Die Entscheidung 1 StR 627/08 vom 17.03.2009 Nach den Urteilsfeststellungen der Vorinstanz erklärte der Angeklagte über mehrere Jahre hinweg einen erheblichen Teil seiner Umsätze nicht, indem er keine Umsatzsteuervoranmeldungen abgab. Die Gesamtsumme der verkürzten Umsatzsteuern hat die Vorinstanz mit € 80.500,00 beziffert, wobei es im Hinblick auf die nicht eingereichten Umsatzsteuervoranmeldungen lediglich von einem „Zinsverlust als Hinterziehungsschaden“ ausging. Die Vorinstanz hat den Angeklagten wegen Steuerhinterziehung in 59 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat und zu einer Gesamtgeldstrafe von 360 Tagessätzen verurteilt, wobei die Einzelstraftaten den Strafrahmen des § 370 Abs. 1 AO entnommen wurden und von der Bildung einer einheitlichen Gesamtfreiheitsstrafe gem. § 53 Abs. 2 Satz 2 StGB abgesehen wurde. Der hiergegen auf den Strafausspruch beschränkten Revision der Staatsanwaltschaft, die damit begründet wurde, dass das Landgericht statt kurzer Freiheitsstrafen gem. § 47 Abs. 1 StGB lediglich Geldstrafen verhängt und bei der Gesamtstrafenbildung keine einheitliche Gesamtfreiheitsstrafe festgesetzt hat, gab der 1. Strafsenat in seinem Urteil vom 17.03.200974 statt, wobei er - unter ausdrücklicher Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung des BGH - einer 74 BGH 1 StR 627/08 vom 17.03.2009, NJW 2009, 1979 ff. 25 „Steuerverkürzung auf Zeit“ eine klare Absage erteilte und zudem die erstinstanzliche Handhabung zur Strafzumessung bei Steuerdelikten in Tatserien deutlich rügte. aa. Schadensberechnung bei Umsatzsteuerhinterziehung Der 1. Strafsenat rügte die Strafzumessung der Vorinstanz, weil als „Hinterziehungsschaden“ der nicht rechtzeitig abgegebenen Umsatzsteuervoranmeldungen allein der sich aus der verspäteten Steuerfestsetzung ergebenden „Zinsverlust“ des Fiskus angesehen wurde. Zwar führe nach der bisherigen Rechtsprechung des BGH die Abgabe einer unrichtigen Umsatzsteuervoranmeldung ebenso wie das pflichtwidrige Unterlassen der Abgabe einer Umsatzsteuervoranmeldung zunächst lediglich zu einer Steuerhinterziehung „auf Zeit“ und erst die Abgabe einer unrichtigen Umsatzsteuerjahreserklärung oder die pflichtwidrige Nichtabgabe einer Umsatzsteuerjahreserklärung bewirke die endgültige Steuerverkürzung, d. h. die Verkürzung „auf Dauer“75, jedoch folge aus dieser Differenzierung insbesondere nicht, dass bei einer nicht rechtzeitigen Steuerfestsetzung die tatbestandliche Steuerverkürzung allein im Zinsverlust der Fiskus bestehen würde76. Zwar entspreche der durch eine Steuerverkürzung „auf Zeit“ verursachte Verspätungsschaden der Höhe nach dem Zinsverlust, der sich nach der Rechtsprechung nach Maßgabe der Vorschriften über die Hinterziehungszinsen mit 0,5 % des nicht rechtzeitig festgesetzten Steuerbetrags pro Monat errechnet77, jedoch halte der 1. Strafsenat soweit der BGH in früheren Entscheidungen möglicherweise abweichende Aussagen getroffen habe78, aus denen sich lediglich eine Differenzierung in eine Steuerverkürzung „auf Zeit“ und eine solche „auf Dauer“ ergeben könnte, an dieser Rechtsprechung nicht weiter fest. Der tatbestandsmäßige Erfolg der Steuerhinterziehung sei vielmehr ausgehend vom Schutzzweck des verwirklichten Straftatbestandes zu bestimmen79. Die Steuerhinterziehung sei zwar Erfolgsdelikt, jedoch - wie die Vorschrift des § 370 Abs. 4 1 AO zeige - nicht notwendig Verletzungsdelikt80. Die im Festsetzungsverfahren begangenen Steuerhinterziehungen ist vielmehr konkretes Gefährdungsdelikt81, wobei die geschuldete Steuer bereits dann verkürzt sei, wenn lediglich die Steuer nicht rechtzeitig festgesetzt wird. 75 so noch BGH 5 StR 443/01 vom 06.02.2002, wistra 2002, 185, BGH 5 StR 223/97 vom 22.10.1997, NJW 1998, 391 76 BGH 1 StR 627/08 vom 17.03.2009, NJW 2009, 1979, 1982 77 so BGH 5 StR 223/97 vom 22.10.1997, NJW 1998, 390, BGH 5 StR 624/97 vom 17.02.1998, wistra 1998, 225, 226 78 BGH 5 StR 223/97 vom 22.10.1997, NJW 1998, 390, BGH NStZ 1997, 451, wistra 1997, 262, 263 79 BGH 1 StR 627/08 vom 17.03.2009, NJW 2009, 1979, 1983 80 BGH 1 StR 322/08 vom 10.12.2008, NJW 2009, 381, 384; wistra 2009, 114, 117 26 Bei einer Verletzung der Pflichten zur Einreichung von Umsatzsteuervoranmeldungen bestehe die gem. § 370 AO strafbewehrte Gefährdung des sich aus § 18 Abs. 1 und Abs. 2 UStG ergebenden Steueranspruchs unabhängig davon, ob der Steuerschuldner beabsichtige, zu einem späteren Zeitpunkt - etwa in der Umsatzsteuerjahreserklärung - falsche Angaben zu berichtigen bzw. fehlende Angaben nachzuholen oder ob er eine Steuerverkürzung auf Dauer anstrebt82. In jedem Fall bezwecke der Täter zunächst eine unrichtige Festsetzung. Unterschiedlich sei insoweit lediglich - in Abhängigkeit von dem Planen des Täters - die Intensität der Gefährdung. Dieser Umstand sei zwar für die Strafzumessung von Bedeutung, lasse aber den Umfang des tatbestandsmäßigen Erfolgs unberührt, in beiden Fällen sei das Erfolgsunrecht identisch. Im Hinblick auf den Charakter der Steuerhinterziehung als Gefährdungsdelikt unterscheide sich daher nach Auffassung des 1. Strafsenats bei der Umsatzsteuerhinterziehung die Verkürzung „auf Dauer“ und derjenigen „auf Zeit“ nicht im Erfolgs-, sondern - im Hinblick auf das Vorstellungsbild des Täters - ausschließlich nur im Handlungsunrecht83. Für die Fälle der Nichtabgabe von Umsatzsteuervoranmeldungen oder der Abgabe unrichtiger Umsatzsteuervoranmeldungen gelte daher nach den Ausführungen des 1. Strafsenat Folgendes: Berichtige der Täter - seinem Tatplan entsprechend - in der Umsatzsteuerjahreserklärung seine unrichtigen Angaben und zahle er die zunächst hinterzogenen Steuern nach, stelle sich die Frage, wie die Steuerhinterziehung „auf Zeit“ zur ahnden sei, regelmäßig nicht, da in solchen Fällen zumeist die Voraussetzungen einer Strafbefreienden Selbstanzeige gem. § 371 AO vorliegen84. Berichtige der Täter seine in den Voranmeldung gemachten unrichtigen Angaben entgegen seinem ursprünglichen Vorhaben in der Umsatzsteuerjahreserklärung jedoch nicht, gehe die als Verkürzung „auf Zeit“ geplante Hinterziehung in eine solche „auf Dauer“ über. Das bereits in den unrichtigen Voranmeldungen liegende Erfolgsunrecht der Gefährdung des Steueranspruches werde dadurch jedoch nicht berührt, es finde lediglich keine Schadenswiedergutmachung statt85. bb. Strafzumessung bei Tatserien Der 1. Strafsenat nahm in seiner Entscheidung die Revision ebenfalls zum Anlass, um den von der Vorinstanz ausgesprochenen Strafausspruch, wonach neben einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden war, noch eine weitere Gesamtgeldstrafe von 360 Tagessätzen ausgesprochen war, zu rügen. Zwar liege in Fällen sachlich und zeitlich ineinander verschränkter Vermögensdelikte, von denen die gewichtigeren die Verhängung von Einzelfreiheitsstrafen von 6 Monaten und mehr bieten, die 81 vgl. auch Joecks in Franzen/Gast/Joecks, § 370 AO, Rn. 15 BGH 1 StR 627/08 vom 17.03.2009, NJW 2009, 1979, 1983 83 BGH 1 StR 627/08 vom 17.03.2009, NJW 2009, 1979, 1983 84 vgl. dazu Kohlmann, § 371 AO, Rn. 64.2 85 BGH 1 StR 627/08 vom 17.03.2009, NJW 2009, 1979, 1983 82 27 Verhängung kurzfristiger Freiheitsstrafen nach § 47 StGB in den Einzelfällen mit geringeren Schäden nahe, da auch bei der Zumessung der Einzelstrafen die Gesamtserie und der dadurch verursachte Gesamtschaden in den Blick genommen werden soll, so dass es auch bei Tatserien nicht ausgeschlossen ist, neben Freiheitsstrafen auch Einzelgeldstrafen zu verhängen86. Jedoch müssen dann die Urteilsgründe für das Revisionsgericht nachprüfbar erkennen lassen, dass das Tatgericht bei der Zumessung der Einzelstrafen die Tatserie als solche und den durch sie verursachten Schaden gesehen und gewertet hat und aus welchen Gründen es gleichwohl in einem Teil der Fälle Freiheitsstrafe für geboten, im Übrigen aber Geldstrafen für ausreichend erachtet hat. Der Umstand, dass nach § 47 Abs. 1 StGB die Verhängung kurzer Freiheitsstrafen die Ausnahme ist, rechtfertige für sich allein bei einer Tatserie nicht, von einer näheren Begründung des Nebeneinanders von Geld und Freiheitsstrafen abzusehen87. Angesichts der im Entscheidungsfall im Wesentlichen gleichgelagerten Fällen - bei denen die Bildung einer gesonderten Gesamtgeldstrafe nach der Rechtsprechung des BGH fern liege 88 erwecken die ausgesprochenen Einzelstraftaten nach Auffassung des 1. Strafsenats den Eindruck, „dass das Tatgericht nur deshalb von einer an sich schuldangemessenen Gesamtfreiheitsstrafe von über 2 Jahren abgesehen habe, damit die Vollstreckung nach § 56 Abs. 2 StGB zur Bewährung ausgesetzt werden konnte“89. Dieses sei aber nach der Rechtsprechung des BGH rechtlich zu beanstanden90. b. Kritische Würdigung und Bedeutung der Entscheidung für die Praxis Der 1. Strafsenat hat mit seiner Entscheidung vom 17.03.2009, wonach auch in den Fällen der Steuerhinterziehung, bei denen zunächst nur eine Steuerhinterziehung „auf Zeit“ vorliegt, sich der Umfang der verkürzten Steuern nach deren Nominalbeträgen richtet und nicht lediglich in der Höhe der Hinterziehungszinsen, einer seit langem in Rechtsprechung und Literatur geführten Diskussion (zumindest vorläufig) ein Ende gesetzt. Gem. § 370 Abs. 4 Satz 1 AO genügt als Taterfolg auch die nicht rechtzeitige Steuerfestsetzung. Das Gesetz stellt damit die zeitliche der endgültigen Steuerverkürzung gleich. Angesichts der Tatsache, dass es wegen verspäteter Anmeldung in der Praxis zu einer Unzahl von Steuerstraftaten kommt, differenzierte die überwiegende Ansicht in Rechtsprechung und Literatur nach den subjektiven Vorstellungen des Täters91. 86 BGH 5 StR 490/00 vom 19.12.2000, NStZ 2001, 311; BGH 3 StR 465/03 vom 08.04.2004, NStZ 2004, 554 87 BGH 1 StR 627/08 vom 17.03.2009, NJW 2009, 1979, 1984 88 BGH, NStZ 2001, 311 89 BGH 1 StR 627/08 vom 17.03.2009, NJW 2009, 1979, 1984 90 so z.B. schon BGH 2 StR 355/80 vom 17.09.1980, NJW 1981, 692 91 BGH 2 StR 190/86 vom 11.11.1986, StV 1987, 100; vgl. Joecks in Franzen/Gast/Joecks, § 370, Rn. 77 28 Will der Täter danach den hinterzogenen Betrag dem Steuerfiskus von Anfang an auf Dauer vorenthalten (z. B. keine Umsatzsteuerjahreserklärung abgeben) liegt eine endgültige Steuerverkürzung vor. Hier ist der Verkürzungserfolg in dem (in den Voranmeldungen) verkürzten Steuerbetrag zu sehen. Verfolgt der Täter lediglich das Ziel, dass der richtige Steuerbetrag später festgesetzt wird, will er also nur Zeit gewinnen, so liegt eine Verkürzung auf Zeit vor. Allein der Umstand, dass letztlich ein Dauerschaden, also ein endgültiger Steuerausfalls eingetreten ist, genüge hiernach nicht, wenn nicht eine Verkürzung auf Dauer gewollt war, wofür objektive Indizien zu berücksichtigen seien. So soll z.B. eine falsche Buchführung die Annahme begründen, dass endgültig und nicht nur vorübergehend Steuern hinterzogen werden sollten92. In der Praxis wirken sich die Unterschiede der zeitigen und dauerhaften Verkürzung als verschuldete Auswirkungen der Tat nach § 46 Abs. 2 StGB auf der Strafzumessungsebene aus. Der hierfür maßgebliche Steuerschaden bemesse sich nach Auffassung von Teilen der Literatur bei einer zeitlichen Verkürzung nicht nach dem Nominalbetrag der hinterzogenen Steuern, sondern nach der Verzögerung der Steuerfestsetzung93, der nach überwiegender Ansicht im - unter Beachtung der Zinsregel der §§ 235, 238 AO mit 0,5 % pro Monat des nicht rechtzeitig festgesetzten Steuerbetrags zu errechnenden - Zinsverlustes des Fiskus zu sehen94 sei. Dieser - bisher teilweise vertretenen Auffassung - ist der 1. Strafsenat des BGH in deutlicher Abkehr zu der bisherigen Rechtsprechung des 5. Strafsenats des BGH entgegen getreten, in dem er auch im Falle einer Steuerhinterziehung „auf Zeit“ den tatbestandsmäßigen Erfolg nicht in der Höhe der Hinterziehungszinsen erblickt, sondern in dem Nominalbetrag der eigentlich geschuldeten Steuer im Falle der pflichtwidrigen Nichtabgabe bzw. der Abgabe einer unrichtigen Steueranmeldung. Auch dieses stellt eine deutliche Verschärfung in der Praxis dar, da diese Wertung insbesondere bei typischen Fällen der Steuerhinterziehung bei Tatserien (z. B. der Nichtabgabe bzw. unrichtiger Abgabe von Umsatzsteuervoranmeldungen) im Rahmen der Strafzumessung zu einer deutlichen Verschärfung der Strafen führen kann. Dieses insbesondere, sofern durch das pflichtwidrige Unterlassen entsprechender Steueranmeldungen die nach der Rechtsprechung des 1. Strafsenats des BGH in seinem Urteil I StR 416/08 vom 02.12.2008 entwickelten Schwellenwerte für eine Steuerhinterziehung großen Ausmaßes erreicht würden und damit für jede Nichtabgabe bzw. falsche Abgabe einer entsprechenden Anmeldung bereits nach dem Strafrahmen des § 370 Abs. 3 AO eine Geldstrafe nicht mehr in Betracht kommen würde. 92 BGH 5 StR 624/97 vom 17.02.1998, NStZ-RR 1998, 185 so noch Wulf, DStR 2009, 459, 461; Joecks in Franzen/Gast/Joecks, Rn. 78; auch BGH 5 StR 223/97 vom 22.10.1997, StV 1998, 4 94 BGH 5 StR 443/01 vom 06.02.2002, wistra 2002, 185; BGH 5 StR 587/00 vom 26.04.2001, wistra 2001, 341; BGH 5 StR 178/99 vom 19.10.1999, BStBl II 1999, 854 93 29 Das Tatgericht wird daher zukünftig im Rahmen der Strafzumessung das Vorstellungsbild des Täters zu ermitteln haben, wenn dieser sich darauf beruft, sich lediglich auf Zeit einen Liquiditätsvorteil haben verschaffen wollen.95 Die Verteidigung stellt dieses vor die Anforderung, in Zukunft in solchen Fällen dem Tatgericht glaubhaft gegenüber darzulegen, dass aufgrund der äußeren Umstände (nur) eine Hinterziehung auf Zeit beabsichtigt war. Ausdrücklich gerügt hat der 1. Strafsenat in dieser Entscheidung auch eine in der Praxis häufig anzutreffende Strafzumessung bei Tatserien, wonach bei im Wesentlichen gleichgelagerten Fällen anstelle einer einheitlichen Gesamtfreiheitsstrafe neben einer zur Bewährung ausgesetzten Gesamtfreiheitsstrafe noch eine Gesamtgeldstrafe nach § 53 Abs. 2 Satz 2 StGB gebildet wird. Bislang wurden bei den im Steuerstrafrecht häufigen Tatserien Taten mit geringerem Gewicht häufig mit Einzelgeldstrafen geahndet, Taten mit höherem Gewicht daneben mit Einzelfreiheitsstrafen, was den – für den Angeklagten angenehmen und aus Verteidigersicht daher beabsichtigten - Effekt hatte, dass aus den Einzelgeldstrafen eine Gesamtgeldstrafe neben einer Gesamtfreiheitsstrafe mit dem Ziel gebildet werden konnte (§ 53 Abs. 2 Satz 2 StGB), die Gesamtfreiheitsstrafe noch unter 2 Jahren zu bemessen und zur Bewährung auszusetzen. Dieser Praxis ist der 1. Strafsenat mit seiner Entscheidung deutlich entgegengetreten. Er verlangt, dass das Tatgericht bei Tatserien auch in Einzelfällen mit geringerem Schaden in der Regel kurze Freiheitsstrafen unter 6 Monaten nach § 47 StGB verhangen soll, wenn innerhalb einer Tatserie schwerwiegendere Delikte abzuurteilen sind, für die Einzelfreiheitsstrafen über 6 Monate verwirkt sind, denn auch bei der Strafzumessung für Delikte mit geringerem Hinterziehungsbetrag sei stets die Gesamtserie und damit der Gesamtschaden in den Blick zu nehmen. Der Hinweis des 1. Strafsenats, dass „bei im Wesentlichen gleichgelagerten Fällen die Bildung einer gesonderten Gesamtgeldstrafe fern liege und die Bildung einer gesonderten Gesamtgeldstrafe in solchen Fällen daher den Eindruck erwecke, dass das Tatgericht nur deshalb von einer an sich schuldangemessenen Gesamtfreiheitsstrafe über 2 Jahre abgesehen habe, damit die Vollstreckung nach § 56 Abs. 2 StGB noch zur Bewährung ausgesetzt werden könne“ kann nur als deutlicher Wunsch an die Tatgerichte zu einer schärferen Strafzumessung bei Tatserien gewertet werden. Dies dürfte für die Zukunft eine ausführliche Begründung des Tatgerichts zur Folge haben, weshalb bei im Wesentlichen gleichgelagerten Fällen im konkreten Fall das Gericht in einem Teil der Fälle Freiheitsstrafe für geboten, in übrigen aber Geldstrafen für ausreichend erachtet habe. 3. Strafzumessung bei Ketten- oder Karussellgeschäften a. Die Entscheidung 1 StR 342/08 vom 30.04.2009 95 so Lipsky, PStR 2009, 150, 151 30 Dem Urteil des BGH vom 30.04.2009 lag ein Fall eines sog. „Kettengeschäfts“ zugrunde. Da eine Vielzahl von Lieferanten des Angeklagte nicht den vollständigen Kaufpreis in der Rechnung ausgewiesen haben wollten, entwickelte der Angeklagte ein System von Scheinfirmen und Scheingeschäften. Die ursprünglichen Lieferanten erstellten für Firmen, die zum Schein als unmittelbare Käufer (Erstankäufer) auftraten, eine Rechnung mit Umsatzsteuerausweis über einen Teil des tatsächlichen Kaufpreises. Der verbleibende Rest des Kaufpreises wurde von dem Angeklagten bar gezahlt, ohne dass dieser Teilbetrag versteuert wurde. Der Erstankäufer wiederum stellte einem Zwischenhändler eine Scheinrechnung mit Umsatzsteuerausweis, wobei der dort angeführte Nettobetrag über dem Kaufpreis lag, der tatsächlich - als Rechnungsbetrag zzgl. Schwarzgeldbetrag - an den Lieferanten gezahlt worden war. Der Zwischenhändler seinerseits stellte dann wiederum der Gesellschaft des Angeklagten eine Rechnung, in der er einen nochmals höheren Nettopreis sowie die darauf anfallende Umsatzsteuer auswies. Hierdurch wurde der Gesellschaft des Angeklagten ermöglicht, Vorsteuer aus Beträgen geltend zu machen, die noch über dem tatsächlich gezahlten Kaufpreis lagen. Sowohl die Gesellschaft des Angeklagten als auch die Zwischenhändler erklärten die Umsätze, die in ihren Rechnungen ausgewiesen wurden und führten die ausgewiesene Umsatzsteuer ab. Die Erstankäufer wiederum erklärten die in den Rechnungen an die Zwischenhändler ausgewiesenen Umsätze nicht und führten auch die dort ausgewiesene Umsatzsteuer nicht ab. Die Vorinstanz verurteilte den Angeklagten wegen Steuerhinterziehung in 10 Fällen sowie wegen Untreue in 2 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hatte, wobei sie die Umsatzsteuer, die in den Rechnungen der Erstankäufer an die Zwischenhändler und in den Rechnungen der Zwischenhändler an die Gesellschaft des Angeklagten ausgewiesen wurde, nicht als strafzumessungsrelevanten Hinterziehungsschaden ansah. Die Vorinstanz vertrat die Auffassung, dass bei einer Verurteilung wegen Vergehen nach § 370 AO im Rahmen der Strafzumessung nach Sinn und Zweck der Vorschrift nur auf die Verkürzung solcher Steuersummen abzustellen sei, die bei ordnungsgemäßem Verhalten von vornherein an den Fiskus abzuführen gewesen wären. Der gegen das Urteil eingelegten Revision der Staatsanwaltschaft, die sich gegen den Rechtsfolgenausspruch gewandt hatte, gab der 1. Strafsenat des BGH in seiner Entscheidung vom 30.04.2009 statt. Ausgehend davon, dass bei der Zumessung einer Strafe wegen Steuerhinterziehung das in § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB genannte Kriterium der „verschuldeten Auswirkung der Tat“ im Rahmen der erforderlichen Gesamtwürdigung besonderes Gewicht zukommt und die Höhe der verkürzten 31 Steuern nach ständiger Rechtsprechung des BGH96 einen bestimmenden Zumessungsumstand darstellt, stellt der 1. Strafsenat in seiner Entscheidung darauf ab, dass eine nur auf das einzelne Scheinrechnungsverhältnis beschränkte Betrachtung dem Gesamtunrechtserhalt des Hinterziehungssystems nicht gerecht wird97, denn der Gesamtunrechtsgehalt des Hintersystems bei solchen Ketten- und Karussellgeschäften wird nach Auffassung des 1. Strafsenats nicht durch das einzelne Rechtsverhältnis geprägt, sondern durch das System als Ganzes. Es sei anerkannt, dass in solchen Kettengeschäften den einzelnen Beteiligten die Struktur und die Funktionsweise des Gesamtsystems bekannt sei, so dass dies auch bei der Feststellung der für die Strafzumessung bestimmenden verschuldeten Auswirkungen der Tat Gewicht erlangen kann98. Maßgeblich sei deshalb der vom Vorsatz umfasste, aus dem Gesamtsystem erwachsene deliktische Schaden, der in dem Überschuss von gezogener Vorsteuer im Vergleich zu gezahlter Umsatzsteuer bestehe99. Nach Auffassung des 1. Strafsenats sei es daher rechtsfehlerhaft, allein die Umsatzsteuer, die durch die ursprünglichen Lieferanten hinterzogen wurde, der Strafzumessung zugrunde zu legen. Denn hierdurch würde der aus dem Gesamthinterziehungssystem erwachsene Schaden nicht vollständig erfasst werden100. Nach Auffassung des 1. Strafsenats sei daher bei der verschuldeten Auswirkung der Tat als Strafzumessungskriterium bei fingierten Ketten- oder Karussellgeschäften auch die von den Erstankäufern hinterzogene Umsatzsteuer einzubeziehen, da bei der Ausstellung einer Scheinrechnung mit gesondert ausgewiesener Umsatzsteuer eine Gefährdung des Steueraufkommens jedenfalls dann gegeben sei, wenn diese Rechnungen zum Vorsteuerabzug benutzt werden können und der Rechnungsaussteller die gesondert ausgewiesene Umsatzsteuer nicht an das Finanzamt abgeführt hat101. Ebenfalls einzubeziehen sei die von den Zwischenhändlern aus den von den Scheinfirmen ausgestellten Rechnungen aus unberechtigt geltend gemachten Vorsteuern, da insoweit auch eine Steuerverkürzung vorliege. b. Kritische Würdigung und Bedeutung der Entscheidung für die Praxis Das Urteil befasst sich mit einer von vielen Varianten eines fingierten Kettengeschäfts. Bei diesen ist - ebenso wie bei Umsatzsteuerkarussellen - typisch, dass bei jedem der beteiligten Unternehmen nur ein Teil des Gesamtsteuerschadens entsteht und häufig bei einzelnen Unternehmen gar kein Schaden102. 96 BGH 1 StR 416/08 vom 02.12.2008, NJW 2009, 528, 531 m. w. Nachweisen BGH 1 StR 342/08 vom 30.04.2009, NJW 2009, 3379, 3381 98 BGH 1 StR 342/08 vom 30.04.2009, NJW 2009, 3379, 3381 99 so auch schon BGH 5 StR 516/01 vom 11.07.2002, NJW 2002, 3036, 3039 100 BGH 5 StR 516/01 vom 11.07.2002, NJW 2002, 3036, 3039 101 so schon BGH 5 StR 544/00 vom 20.02.2011, NJW 2001, 3349; NStZ 2001, 380 102 vgl. allgemein zu Umsatzsteuerkarussell Hentschel, DStR 2003, 102 – 105, Joecks in Franzen/Gast/Joecks, § 370 AO Rn. 233 n; Schauf in Kohlmann, § 370 AO, Rn. 1394 ff. m.w. Nachweisen 97 32 Hier erkennt der 1. Strafsenat, dass jedenfalls soweit den einzelnen Beteiligten die Struktur und die Funktionsweise des Gesamtsystems bekannt sind, für die verschuldeten Auswirkungen der Tat der vom Vorsatz umfasste, aus dem Gesamtsystem erwachsene deliktische Schaden maßgeblich ist. Dieses entsprach im Wesentlichen auch schon der bisherigen Rechtsprechung 103. Es verwundert in diesem Zusammenhang nicht, dass der 1. Strafsenat in seinem Urteil vom 30.04.2009 daher erkennen lässt, dass er die erstinstanzliche Strafaussetzung zur Bewährung der Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren missbilligt. Der 1. Strafsenat führt hierzu unter Hinweis auf § 56 StGB generalpräventive Erwägungen ins Feld. Sog. „Ketten- und Karussellgeschäften“, bei denen durch Umsatzsteuerhinterziehung große Steuerausfälle durch komplexe und aufwendige Täuschungssysteme entstehen, weisen nach seiner Auffassung Merkmale einer organisierten Kriminalität im Sinne des § 110 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StPO auf104. Der 1. Strafsenat hebt in seiner Entscheidung hervor, dass der BGH bereits mehrfach ausgesprochen habe, dass bei Steuerhinterziehung beträchtlichen Umfangs auch von Gewicht sei, die Rechtstreue der Bevölkerung, auch auf dem Gebiet des Steuerrechts zu erhalten105. Die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe könne sich daher „zur Verteidigung der Rechtsordnung als notwendig erweisen, wenn die Tat Ausdruck einer verbreiteten Einstellung ist, die eine durch einen erheblichen Unrechtserhalt gekennzeichnete Norm nicht ernstnimmt und von vornherein auf die Strafaussetzung vertraut“106. Die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe zur Verteidigung der Rechtsordnung sei insbesondere dann geboten, wenn eine Aussetzung der Strafe zur Bewährung im Hinblick auf schwerwiegende Besonderheiten des Einzelfalls für das allgemeine Rechtsempfinden unverständlich erscheinen müsste und dadurch das Vertrauen der Bevölkerung in die Unverbrüchlichkeit des Rechts erschüttert werden könnte107. Auch damit hat der 1. Strafsenat in Richtung der Tatrichter ein deutliches Signal zu einer von ihm gewünschten höheren Strafe für Teilnehmer von Ketten- und Karussellgeschäften gesetzt. Aufgrund der Zurechung des Gesamtschadens als verschuldete Auswirkung der Tat wird hier daher zukünftig bei Ketten- und Karussellgeschäften wahrscheinlich häufiger – zumindest nach dem Wunsch des 1. Strafsenats - eine zu vollziehende Freiheitsstrafe ausgesprochen werden. Dem so tatrichterlich festzustellenden (höheren) Gesamtsteuerschaden wird zukünftig bei der Strafzumessung als verschuldete Auswirkung der Tat nach § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB daher ein strafschärfenderes Gewicht zukommen. 103 so auch schon BGH 5 StR 516/01 vom 11.07.2002, NJW 2002, 3036, 3039 BGH 1 StR 342/08 vom 30.04.2009, NJW 2009, 3379, 3383 105 BGH 1 StR 342/08 vom 30.04.2009, NJW 2009, 3379, 3383 106 BGH 3 StR 280/83 vom 28.09.1983, NJW 1984, 2588, 2589 107 BGH 1 StR 342/08 vom 30.04.2009, NJW 2009, 3379, 3383 104 33 II. Zur strafbewehrten Berichtigungspflicht nach § 153 AO a. Die Entscheidung 1 StR 479/08 vom 17.03.2009 Nach den Urteilsfeststellungen der Vorinstanz war der Angeklagte Geschäftsführer eines Unternehmens, in dem seit Mitte des Jahres 2001 in der Buchhaltung Buchungsrückstände bestanden, was zur Folge hatte, dass die erzielten Umsätze und gezahlten Vorsteuerbeträge spätestens seit dem Jahr 2002 der EDV-Buchhaltung des Unternehmens nicht mehr entnommen werden konnten, so dass aus diesem Grunde in den Jahren 2002 und 2003 die beim Finanzamt eingereichten Umsatzsteuervoranmeldungen von einer angestellten Buchhaltungskraft manuell anhand der vorliegenden Eingangs- und Ausgangsrechnungen erstellt wurden, wobei diese zu geringe Umsatzsteuerbeträge enthielten. Der Angeklagte erfuhr spätestens im 1. Halbjahr 2002 von den Rückständen in der Buchhaltung und davon, dass die Umsatzsteuervoranmeldungen manuell erstellt wurden. Gleichwohl überprüfte er die Voranmeldungen nicht. Aufgrund einer für das Jahr 2003 angeordneten Umsatzsteuer-Nachschau durch das Finanzamt wurde festgestellt, dass die angemeldeten Umsätze für die Monate Februar bis Mai 2003 tatsächlich hinter den erzielten Umsätzen zurücklagen, was dem Angeklagten mitgeteilt wurde und von diesem auch als richtig anerkannt wurde. Aufgrund der Mitteilung des Finanzamts rechnete der Angeklagte daher damit, dass auch die Umsatzsteuervoranmeldungen für das Jahr 2002 unrichtig waren, gleichwohl unterließ er die Abgabe einer richtigen Umsatzsteuerjahreserklärung, mit der er zugleich der sich aus § 153 AO ergebenden Berichtigungspflicht hätte nachkommen können. Die Vorinstanz verurteilte den Angeklagten daher wegen Steuerhinterziehung hinsichtlich des Jahres 2002 zu einer Geldstrafe von 270 Tagessätzen. Die hiergegen eingelegte Revision des Angeklagten hatte keinen Erfolg. aa. Berichtigungspflicht bei Hinterziehungsvorsatz Bei der Anzeige- und Berichtigungspflicht nach § 153 AO handelt es sich nach Auffassung des 1. Strafsenats um eine Erklärungspflicht im Sinne des § 370 Abs. 1 AO, deren gänzliche Nichterfüllung ebenso strafbar ist wie die nur scheinbare Berichtigung mit erneut falschen Angaben. Ob eine solche Berichtigungspflicht gem. § 153 AO entsteht, hänge maßgeblich davon ab, ob und ggf. wann der Steuerpflichtige von der Unrichtigkeit einer von ihm oder für ihn abgegebenen Erklärung Kenntnis erlangt hat108, da ein nachträgliches „Erkennen“ begrifflich schon nur möglich sei, wenn der Steuerpflichtige die Unrichtigkeit zunächst nicht gekannt hat. 108 BGH 1 StR 479/08 vom 17.03.2009, NJW 2009, 1984, 1985 34 Voraussetzung für eine Anzeige- und Berichtigungspflicht gem. § 153 AO sei somit, dass der Steuerpflichtige zum Zeitpunkt der Abgabe der Erklärung keine Kenntnis von der Unrichtigkeit der Erklärung hatte109. Nach Auffassung des 1 Strafsenats lassen sich daher - je nach Kenntnisstand des Steuerpflichtigen - 3 Fallgruppen mit unterschiedlichen strafrechtlichen Folgen unterscheiden. Kennt der Steuerpflichtige bei Abgabe einer Steuererklärung deren Unrichtigkeit nicht und nimmt er eine solche auch nicht billigend in Kauf, erlangt aber nachträglich Kenntnis von der Unrichtigkeit der Angaben, trifft ihn die Anzeige- und Berichtigungspflicht des § 153 AO. Kommt er dieser Pflicht vorsätzlich nicht nach, ist er strafbar wegen Steuerhinterziehung durch Unterlassen gem. § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO110. Hat der Steuerpflichtige „bewusst“ unrichtige Steuererklärungen abgegeben, bestehe keine steuerrechtliche Anzeige- und Berichtigungspflicht gem. § 153 AO, da er die Unrichtigkeit der Angaben von Anfang an kannte, somit bereits eine mit direktem Vorsatz begangene Steuerhinterziehung vorliege und in diesem Falle ein nachträgliches Erkennen bereits begrifflich ausgeschlossen sei111. Anders sei der Fall aber zu beurteilen, wenn der Steuerpflichtige zunächst bei Abgabe der Steuererklärung die Unrichtigkeit seiner Angaben nur „billigend in Kauf genommen“ habe, ohne eine positive Kenntnis zu haben, sich somit bereits wegen einer bedingt vorsätzlich begangener Steuerhinterziehung im Sinne des § 370 AO strafbar gemacht habe, und erst nachträglich erfährt, dass die Angaben unrichtig waren. Auch in diesem Fall besteht nach Auffassung des 1. Strafsenats eine steuerrechtliche Anzeige- und Berichtigungspflicht nach § 153 AO, deren Unterlassen zu einer weiteren Tatbestandsverwirklichung des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO führt112. Nach dem insoweit eindeutigen Wortlaut des § 153 Abs.1 Satz 1 Nr. 1 AO erkenne auch derjenige die Unrichtigkeit seiner Angaben nachträglich, der die Unrichtigkeit der Angaben zwar nicht sicher gekannt habe, sondern nur damit gerechnet habe, wenn er später positiv erfährt, dass seine Angaben tatsächlich unrichtig waren113. Auch nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift des § 153 Abs. 1 Nr. 1 AO sollen auch solche Steuerpflichtige, die bereits bedingt vorsätzlich unrichtige Steuererklärungen abgebeben haben, von der steuerrechtlichen Anzeige- und Berichtigungspflicht nicht ausgenommen werden. Die Norm des § 153 AO diene der gesetzesmäßigen Besteuerung, in dem sie die in §§ 150 Abs. 2 AO, § 90 Abs. 1 Satz 2 AO konstituierte Wahrheitspflicht für Angaben in der Steuererklärung und in anderen Erklärungen auch nach deren Abgabe fortbestehen lasse. Zudem solle durch § 153 AO gewährleistet werden, dass die Finanzbehörde von Besteuerungsgrundlagen Kenntnis erhalte, die ihr bislang noch nicht bekannt waren. 109 BGH 1 StR 479/08 vom 17.03.2009, NJW BGH 1 StR 479/08 vom 17.03.2009, NJW 111 BGH 1 StR 479/08 vom 17.03.2009, NJW 112 BGH 1 StR 479/08 vom 17.03.2009, NJW 113 BGH 1 StR 479/08 vom 17.03.2009, NJW 110 2009, 1984, 1985 2009, 1984, 1985 2009, 1984, 1986 2009, 1984, 1986 2009, 1984, 1986 35 Die Verpflichtung zur Berichtigung nach bedingt vorsätzlicher Abgabe unrichtiger Steuererklärungen führe auch nicht dazu, dass die Steuerhinterziehung damit zu einem Dauerdelikt wurde114, denn sie treffe den Steuerpflichtigen erst dann, wenn er von der Unrichtigkeit seiner Erklärung tatsächlich Kenntnis erlange, dann verwirkliche er aber nicht mehr den Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO, sondern aufgrund eines neuen Tatentschlusses den des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO115. bb. Keine Selbstbelastung Auch der Umstand, dass der Steuerpflichtige mit der Berichtigung seine zunächst begangene Steuerhinterziehung aufdecke, die er bei der Abgabe der unrichtigen Steuererklärung begangen hat, stehe einer Strafbarkeit nach § 370 AO durch Nichtbeachtung der steuerrechtlichen Pflicht des § 153 AO nicht entgegen116. Nach Auffassung des 1. Strafsenats steht der verfassungsrechtlich verankerte Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit („nemo tenetur se ipsum accussare“)117 dem nicht entgegen, da Artikel 2 Abs. 1 GG keine lückenlosen Schutz gegen staatlichen Zwang zur Selbstbelastung vorschreibe, ohne Rücksicht darauf, ob dadurch schutzwürdige Belange Dritter beeinträchtigt würden118. Es sei daher sachlich gerechtfertigt, dem Steuerpflichtigen eine wahrheitsgemäße Auskunft auch dann abzuverlangen, wenn er damit eine Steuerstraftat oder eine Steuerordnungswidrigkeit offenbaren muss119. Dieses gelte nach Auffassung des 1. Strafsenats auch für die Berichtigungspflicht gem. § 153 AO nach vorangegangener bedingter Steuerhinterziehung. Denn der Steuerpflichtige könne durch eine Selbstanzeige Straf- bzw. Sanktionsfreiheit erlangen, so dass er sich nicht mehr in einer unauflösbaren Konfliktlage befinde, die im Hinblick auf den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit der steuerrechtlichen Berichtigungspflicht entgegenstehen könnte120. Soweit in Einzelfällen - etwa weil wegen des Vorliegens eines Sperrgrundes (z. B. §§ 371 Abs. 2) eine wirksame Selbstanzeige ausgeschlossen sei - ein unzumutbarer Zwang zur Selbstbelastung bestehe, könnte diesem Umstand bei einer (bedingt) vorsätzlich begangenen Steuerstraftat durch Annahme eines Beweismittelverwertungs- oder Verwertungsverbotes Rechnung getragen werden121. 114 so aber die Wertung von Joecks in Franzen/Gast/Joecks, § 370 AO, Rn. 182 BGH 1 StR 479/08 vom 17.03.2009, NJW 2009, 1984, 1986 116 BGH 1 StR 479/08 vom 17.03.2009, NJW 2009, 1984, 1986 117 dazu grundlegend BGH 5 StR 587/00 vom 26.04.2001, NJW 2001, 3638, 3640 f.; BVerfG 1 BvR 116/77 vom 13.01.1981, NJW 1981, 1431 118 BGH 1 StR 479/08 vom 17.03.2009, NJW 2009, 1984, 1986 119 BverfG 2 BvR 330/88 vom 21.04.1998, wistra 1988, 302 120 BGH 1 StR 479/08 vom 17.03.2009, NJW 2009, 1984, 1986 121 BGH 1 StR 479/08 vom 17.03.2009, NJW 2009, 1984, 1987 unter Hinweis auf BVerfG, NJW 1981, 1431; BGH 5 StR 191/04 vom 12.01.2005, NJW 2005, 763 115 36 Nur wenn dem Täter wegen seiner mit bedingtem Hinterziehungsvorsatz abgegebenen Steuererklärung bereits die Einleitung eines Steuerstrafverfahrens bekannt gegeben worden ist, bejaht der 1. Strafsenat für die Dauer des Steuerstrafverfahrens eine Suspendierung der Berichtigungspflicht nach § 153 AO122. 2. Kritische Würdigung und Bedeutung der Entscheidung für die Praxis Durch die Entscheidung wurde nunmehr erstmals höchstrichterlich entschieden, dass eine Berichtigungspflicht nach § 153 AO auch dann besteht, wenn der Steuerpflichtige die Unrichtigkeit seiner Angaben billigend in Kauf genommen hat und sich deshalb bereits durch die Abgabe der unrichtigen Erklärung wegen bedingt vorsätzlich begangener Steuerhinterziehung strafbar gemacht hat. Dies war bisher vom BGH nicht entschieden worden. Höchstrichterliche Rechtsprechungen zu steuerstrafrechtlichen Fragen im Zusammenhang mit § 153 AO sind eher selten 123. In der Literatur war die Frage, ob eine solche steuerrechtliche Anzeige- und Berichtigungspflicht gem. § 153 AO auch dann besteht, wenn der Steuerpflichtige erst nachträglich erfährt, dass er unrichtige Angaben gemacht hat, er diese aber bereits bei Abgabe der Steuererklärung in Kauf genommen hat und sich schon deshalb wegen bedingt vorsätzlich begangener Steuerhinterziehung im Sinne des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO bereits strafbar gemacht hat umstritten, wobei das Schrifttum diese Frage überwiegend verneint hat124. Die Rechtsauffassung des 1. Strafsenats in seinem Beschluss vom 17.03.2009 ist daher in der Literatur deutlich kritisiert worden, insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Selbstbelastungsfreiheit aber vor allem auch aufgrund der damit verbundenen verjährungsrechtlichen Probleme125. Gegen die Entscheidung wird zum einen eingewandt, dass die von dem 1. Strafsenat vorgenommene Auslegung gegen den Wortlaut und Sinn und Zweck von § 153 AO verstoße126. Die Auslegung des 1. Strafsenats, wonach auch noch der Steuerpflichtige zur „sicheren Erkenntnis“ im Sinne des § 153 AO kommen kann, der zuvor bereits die Unrichtigkeit seiner Angaben bei Abgabe der Steuererklärung billigend in Kauf genommen hat, widerspreche dem Wortlaut und dem Sinn und Zweck von § 153 AO, wonach ein nachträgliches Erkennen zwar bei 122 BGH 1 StR 479/08 vom 17.03.2009, NJW 2009, 1984, 1987 unter Hinweis auf BGHSt 47, 8, 14 vgl. zur Übersicht der Rechtsprechung zu § 153 AO: Sackreuther, PStR 2009, 185 - 189 124 verneinend u.a.: Kohlmann, SteuerstrafR, § 370 AO, Rn. 332; Joecks in Franzen/Gast/Joecks, § 370 AO Rn. 182; Cöster in Pahlke/Koenig, § 153, Rn. 19 f.; bejahend aber: Heuermann in Hübschman/Hepp/Spitala, AO, § 253, Rn. 13 125 Siehe z.B. Wulf, PStR 2009, 190 f.; Sackreuther, PStR 2009, 185 ff. 126 Wulf, PStR 2009, 190, 192 123 37 einfach fahrlässigem und leichtfertigem Verhalten vorliegen kann, nicht aber noch bei einer (auch bedingt) vorsätzlicher Abgabe einer unrichtigen oder unvollständigen Erklärung127. Es könne naturgemäß nur derjenige etwas nachträglich erkennen, der nicht bereits die entsprechende Kenntnis besitze128. Soweit der 1. Strafsenat unter „Kenntnis“ im Sinne des § 153 AO die „sichere Erkenntnis“ verlangt, hätte dieses als Umkehrschluss wiederum zur Folge, dass die für einen Eventualvorsatz ausreichende Möglichkeitsvorstellung über das Vorliegen einer falschen Erklärung als solche nicht mehr ausreichen würde, um die Pflichten des § 153 AO auszulösen. Dieses verstoße aber gegen den Sinn und Zweck von § 153 AO, da danach auch derjenige der Anzeigepflicht des § 153 AO unterliegen solle, der das Vorliegen einer unrichtigen Steuererklärung billigend in Kauf nehme129 . Dieser Auslegung des Wortlauts des § 153 AO wird im Ergebnis zuzustimmen sein. Die Auslegung des 1. Strafsenats, wonach auch derjenige noch „Kenntnis“ im Sinne des § 153 AO erlangt, wenn er nach billigend in Kauf genommener Abgabe einer falschen Steuererklärung nachträglich die „sichere Erkenntnis“ hinsichtlich der Unrichtigkeit erlangt, erscheint konstruiert und ist dem Wortlaut des § 153 AO so nicht entnehmbar. Hätte der Gesetzgeber auch denjenigen, der – auch bedingt - vorsätzlich unrichtige oder unvollständige Erklärungen abgibt, nach § 153 AO in die strafrechtliche Verantwortung nehmen wollen, hätte er nicht die Formulierung „nachträglich erkennen“ verwandt. Denn ein nachträgliches Erkennen ist begrifflich nur möglich, wenn zuvor die Unrichtigkeit nicht gekannt wurde, wie auch der 1. Strafsenat einige Textziffern vor seiner Auslegung erst ausgeführt hatte130. Der 1. Strafsenat bleibt hinsichtlich seiner Auslegung auch eine nachvollziehbare Begründung schuldig, sondern begründet seine Auslegung nachfolgend nur mit den besseren Erkenntnismöglichkeiten des Steuerpflichtigen, aus denen er eine Garantenpflicht herleitet, die ihre Rechtfertigung in dem „Fehler“ verursachenden Tun findet 131. Wer aber zuvor einen „Fehler“ begangen hat, hat nicht bedingt vorsätzlich gehandelt. Gegen die Auffassung des 1. Strafsenats bestehen auch erhebliche Bedenken wegen des verfassungsrechtlich verankerten Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit (nemo tenetur se ipsum accussare)132. Der 1. Strafsenat begegnete – wohl erahnend, dass diese Bedenken gegen seine Auffassung erhoben werden - in seiner Entscheidung diesen Bedenken mit dem Hinweis darauf, dass Artikel 2 Abs. 1 GG keinen lückenlosen Schutz gegen staatlichen Zwang zur Selbstbelastung vorschreibe und der Steuerpflichtige durch eine Selbstanzeige die Möglichkeit hätte, regelmäßig Straf- bzw. Sanktionsfreiheit zu erlangen und im Übrigen der Staat darauf angewiesen sei, die ihm gesetzlich zustehenden Steuereinnahmen tatsächlich zu erzielen133. 127 so die h. M., vgl. Joecks in Franzen/Gast/Joecks, § 379, Rn. 182; Schuhmann, wistra 1994, 45, 46; Samson, wistra 1990, 245, 246; Cöster in Pahlke/Koenig, AO, § 153, Rn. 19 f. 128 Helmrich, DStR 2009, 2132, 2134; Wulf, PStR 2009, 190, 191 129 Wulf, PStR 2009, 190, 192 mit Verweis auf FG München vom 06.09.2006, 1 K 55/06, EFG 2007, 161 130 BGH 1 StR 479/08 vom 17.03.2009, NJW 2009, 1984, 1985, Tz. 14. 131 BGH 1 StR 479/08 vom 17.03.2009, NJW 2009, 1984, 1985, Tz. 22. 132 so Wessing/Biesgen, NJW 2010, 2689, 2691, Helmrich, DStR 2009, 2132, 2134 133 BGH 1 StR 479/08 vom 17.03.2009, NJW 2009, 1984, 1986 38 Der Begründung, dass der Staat darauf angewiesen sei, die ihm gesetzlich zustehenden Steuereinnahmen tatsächlich zu erzielen, ist entgegenzuhalten, dass bezweifelt werden muss, ob eine Ausnahme von dem nemo-tenetur-Grundsatz allein wegen des fiskalischen Interesses des Staates auf die ihm gesetzlich zustehenden Steuereinnahmen geboten sein kann134. Auch das Argument des 1. Strafsenats, dass kein Verstoß gegen den nemo-tenetur-Grundsatz vorliege, da der Steuerpflichtige ja regelmäßig die Möglichkeit habe, Straf- bzw. Sanktionsfreiheit durch eine Selbstanzeige zu erlangen, vermag im Ergebnis nicht zu überzeugen. Die Auffassung des 1. Strafsenats, wonach sich der Steuerpflichtige aufgrund der Möglichkeit einer Selbstanzeige nicht in einer unauflösbaren Konfliktlage befindet, die mit dem nemo-teneturGrundsatz kollidieren würde, wird vielmehr durch § 371 Abs. 1 AO nicht gedeckt. Mit der Möglichkeit der Selbstanzeige eröffnet der Gesetzgeber den Beteiligten einer Steuerhinterziehung einen Weg zurück in die Legalität, zwingt sie aber gerade nicht dazu, sich selbst einer Straftat bzw. Ordnungswidrigkeit zu bezichtigen135. Darüber hinaus ist zur Erlangung der Straffreiheit durch eine Selbstanzeige nicht nur erforderlich, dass der Steuerpflichtige seine Angaben gegenüber den Finanzbehörden berichtigt (i.S.d. § 153 AO), sondern zusätzlich noch die aus der Berichtigung resultierenden Steuern fristgerecht nachzahlen kann136. Genau dieses ist in der Praxis aber vielen Steuerpflichtigen, die zuvor eine Steuerhinterziehung begangen haben, nicht möglich, so dass aus diesem Grund in solchen Fällen schon Selbstanzeigen unterbleiben. Das Argument des 1. Strafsenats, dass kein Verstoß gegen den nemo-tenetur-Grundsatz vorliegt, da ja die Möglichkeit der Selbstanzeige bestehe, kann somit nur für den Steuerhinterzieher gelten, der auch tatsächlich in der finanziellen Lage ist, die aus einer Berichtigung seiner Angaben resultierenden Steuern zahlen zu können. Der Steuerhinterzieher, der nach Auffassung des 1. Strafsenats und dessen Interpretation des § 153 AO sich selbst der Steuerhinterziehung bezichtigen muss, um nicht eine weitere Steuerhinterziehung zu begehen, aber über die finanziellen Mittel zur Erlangung der Straffreiheit nicht verfügt, befindet sich jedoch trotz der – theoretischen - Möglichkeit einer Selbstanzeige weiter in einer unauflösbaren Konfliktlage, da er sich zwar selber einer vorherigen Steuerhinterziehung bezichtigen müsse, jedoch die mit einer Selbstanzeige erhoffte Straffreiheit nicht wird erlangen können. 134 Wessing/Biesgen, NJW 2010, 1589, 2691 Helmrich, DStR 2009, 2132, 2134 136 vgl. § 371 Abs. 3 AO und § 398a AO n.F., der bei Überschreiten von Hinterziehungsbeträgen von € 50.000 noch einen weiteren Geldbetrag von 5 % der hinterzogenen Steuer vorsieht, damit von der Verfolgung der Tat abgesehen wird 135 39 Der 1. Strafsenat, der dieses Problem wohl zumindest gesehen hat, versucht diese Zwangslage durch den Hinweis auf ein Beweismittelverwertungs- oder -verwendungsverbot zu lösen137 ohne dieses jedoch näher zu beschreiben oder zu erklären, wie dieses außergesetzliche Beweismittelverwertungs- oder -verwendungsverbot in der Praxis angewandt werden soll. Ein solches Beweismittelverwertungs- oder –verwendungsverbot unterstellt, hätte zur Folge, dass der Steuerhinterzieher, der seine falschen Angaben gegenüber dem Finanzamt berichtigt, ohne in der Lage zu sein, die darauf entfallenden Steuern zu zahlen, hinsichtlich seiner ersten (bedingt) vorsätzlich begangenen Steuerhinterziehung einem Beweismittelverwertungs- oder verwendungsverbotes unterliegen würde und hinsichtlich seiner nachfolgenden Berichtigungspflicht nach § 153 AO durch diese eine weitere Steuerstraftat durch Unterlassen verhindert hätte, so dass er - trotz vorheriger bedingter Steuerhinterziehung - straffrei bleiben müsste. Dieses würde in der Praxis zu einem Ergebnis führen, dass weder dem Sinn und Wortlaut des § 371 AO noch des § 153 AO entsprechen würde. Im Ergebnis würde dieses dazu führen, dass der Steuerhinterzieher, der über nicht ausreichende liquide Mittel verfügt, um von der Selbstanzeige Gebrauch zu machen, von der Berichtigungspflicht des § 153 AO Gebrauch machen würde und – zumindest den Versuch unternehmen würde – sich bei der Abgabe der falschen Steuererklärung auf bedingten Vorsatz zu berufen, um doch noch die Straffreiheit zu erlangen. Gegen das vom 1. Strafsenat als Argument gegen die Bedenken des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit angeführte „Verwertungsverbot“ wird daher zurecht eingewandt, dass dieses in der Praxis keine Wirksamkeit entfalten kann138. Darüber hinaus hätte die Auslegung des 1. Strafsenats zur Folge, dass der Steuerpflichtige, welcher zunächst mit direktem Vorsatz eine unrichtige Steuererklärung abgibt, unter dem Gesichtspunkt der Strafverfolgungsverjährung besser gestellt wäre als der zunächst bedingt vorsätzlich handelnde Steuerpflichtige. Strafrechtliche Verjährung tritt in den Fällen einfacher Steuerhinterziehung gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB in 5 Jahre - bzw. in Fällen eines verwirklichten Regelbeispiels des § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 - 5 AO – gemäß § 376 Abs. 1 AO in 10 Jahren nach Bekanntgabe des auf die unrichtige Steuererklärung folgenden Steuerbescheids ein139. Die Tat des mit direktem Vorsatz handelnden Steuerhinterziehers verjährt somit – mangels einer Berichtigungspflicht nach § 153 AO – in 5 bzw. 10 Jahren. Der Auffassung des 1. Strafsenats folgend, wonach ein zunächst (nur) bedingt vorsätzlich handelnder Täter, der die Unrichtigkeit der von ihm falsch abgegebenen Steuererklärung „mit sicherer Erkenntnis“ nachträglich erkennt und dennoch seiner Berichtigungspflicht nach § 153 AO nicht nachkommt, hierdurch eine (weitere) Steuerhinterziehung durch Unterlassen gem. § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO verwirklicht, würde zum Lauf einer neuen 5- bzw. 10jährige strafrechtliche Verjährungsfrist führen. 137 BGH 1 StR 479/08 vom 17.03.2009, NJW 2009, 1984, 1987 Wulf, PStR, 2009, 190, 195 139 vgl. zur Verjährungsproblematik die Ausführungen unter B., I.,1.,c., bb. 138 40 Im Ergebnis würde dieses für den zunächst bedingt vorsätzlich handelnden und nachträglich erkennenden Steuerhinterzieher bedeuten, dass seine strafrechtliche Verjährung vielleicht erst 10 oder 20 Jahre nach Einreichung der unrichtigen Steuererklärung eintreten würde, sich seine Strafverfolgungsverjährung – gegenüber dem bei Abgabe bewusst handelnden Täter – sogar verdoppeln könnte. Die Konsequenz der Auffassung des 1. Strafsenats würde somit - für diesen Fall - quasi zur Abschaffung der gesetzlich vorgesehenen Strafverfolgungsverjährung führen140. Auch verfahrensrechtlich hätte die Auffassung des 1. Strafsenats weitere Folgen für die Feststellungen des Tatgerichts. Dieses hätte für den Fall, dass dem Angeklagten (nur) eine bedingt vorsätzliche Steuerhinterziehung nach § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO nach den Feststellungen des Tatgerichts zur Last gelegt werden kann, die Pflicht auch zu untersuchen, ob der Angeklagte nach Abgabe der unrichtigen Erklärung später die sichere Kenntnis erlangt hat, dass seine Erklärung unrichtig war. Dieses wird in der Praxis zu erschwerten Sachverhaltsermittlungen für die gerichtliche Feststellung führen. III. Zur strafbefreienden Selbstanzeige nach § 371 AO 1. Die Entscheidung 1 StR 577/09 vom 20.05.2010 Nach den Urteilsfeststellungen der Vorinstanz wurde in dem gegen den Angeklagten geführten Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Hinterziehung von Einkommensteuer für die Veranlagungszeiträume 2001 und 2002 die Wohnung des Angeklagten und die Kanzlei seines Steuerberaters durchsucht. Hierbei ergaben sich Anhaltspunkte dafür, dass der Angeklagte auch bereits für die Jahre 1999 und 2000 Einkommensteuer verkürzt hatte. Nachdem dem Angeklagten mündlich die Verfahrenserweiterung für die Jahre 1999 und 2000 eröffnet war, übergab der Steuerberater des Angeklagten den Fahndungsbeamten aufbereitete Unterlagen zur Höhe der in den Veranlagungszeiträume 1999 und 2000 erzielten Einkünfte. Die Verteidigung des Angeklagten versuchte, die für die Jahre 1999 und 2000 im Rahmen der Durchsuchung abgegebenen Unterlagen als Selbstanzeige zu werten, um so eine Verurteilung wegen Steuerhinterziehung auch für diese Jahre zu verhindern. Die Vorinstanz verneinte ebenso wie der 1. Strafsenat das Vorliegen einer wirksamen Selbstanzeige. Seinen die Revision des Angeklagten zurückweisenden Beschluss vom 20.05.2010 140 so ausdrücklich Wulf, PStR 2009, 190, 194 41 nahm der 1. Strafsenat zum Anlass - wiederum in einer „obiter dicta“ Entscheidung – umfangreiche Ausführungen zu den Voraussetzungen einer strafbefreienden Selbstanzeige nach § 371 AO zu machen141. a. Teilselbstanzeige reicht für Strafbefreiung nicht aus Unter Berufung auf die ständige Rechtsprechung des BGH142 führt der 1. Strafsenat in seiner Entscheidung zunächst aus, dass mit der Selbstanzeige nach § 371 AO als persönlicher Strafaufhebungsgrund aus fiskalischen Gründen für den Steuerhinterzieher ein Anreiz geschaffen werden soll, von sich aus den Finanzbehörden bisher verheimlichte Steuerquellen durch wahrheitsgemäße Angaben zu erschließen. Allein fiskalische Interessen an der Entrichtung hinterzogener Steuern könnten diese Privilegierung aber schwerlich rechtfertigen, hinzu kommen muss nach seiner Auffassung vielmehr die Rückkehr zur Steuerehrlichkeit; diese solle honoriert werden143. Im Hinblick darauf, dass der fiskalische Zweck, noch unbekannte Steuerquellen zu erschließen, angesichts der heute bestehenden Ermittlungsmöglichkeiten und der verbesserten internationalen Zusammenarbeit zunehmend an Bedeutung verloren hat, erlange der weitere Zweck der Selbstanzeige, die Rückkehr zur Steuerehrlichkeit zusätzliches Gewicht für den Verzicht auf den gesetzlichen Strafanspruch.144. Eine Rückkehr zur Steuerehrlichkeit sei nach Auffassung des 1. Strafsenats aber nur dann gegeben, wenn der Täter vollständige und richtige Angaben, mithin „reinen Tisch“, so die Formulierung des 1. Strafsenats, mache. Erst dann liege eine strafbefreiende Selbstanzeige im Sinne des § 371 Abs. 1 AO vor145. Diese Interpretation des § 371 Abs. 1 AO leitet der 1. Strafsenat aus dem Wortlaut des § 371 Abs. 1 AO ab. Danach mache die Benennung aller denkbaren Handlungsvarianten in § 371 Abs. 1 AO zur Korrektur von unrichtigen und unvollständigen Angaben deutlich, dass das Gesetz die vollständige Rückkehr zur Steuerehrlichkeit will146. Dass eine Teilselbstanzeige zulässig sein könnte, lasse sich nach seiner Auffassung auch nicht aus dem Wortlaut des § 371 AO ableiten, wonach derjenige, der Angaben berichtigt, „insoweit“ straffrei wird, denn diese Einschränkung beziehe sich nicht auf den Umfang der gemachten Angaben, sondern allein auf den Umfang der Strafbefreiung, „insoweit“ bedeute daher namentlich nur, dass neben der Straffreiheit für Steuerdelikte ein Täter, der zusätzlich andere Straftaten 141 BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133 ff. BGH 3 StR 10/87 vom 12.08.1987, BGHSt 35, 36, 37, NJW 1988, 1679; BGH, wistra 2004, 309, 310 m.w.N. 143 BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133 unter Verweis auf BGH 1 StR 370/58 vom 11.11.1958, BGHSt 12, 100, 101 zu § 410 AbgO, BGH 3 StR 315/84 vom 24.10.1984, wistra 1985, 74 zu § 371 AO 144 BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133 145 BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133 146 BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133 142 42 begangen habe, Straffreiheit nur wegen der Steuerhinterziehung erlangen könne147. Der 1. Strafsenat hält daher eine Teilselbstanzeige nicht für ausreichend, um die Strafbefreiung zu erlangen, denn hier fehle gerade die Rückkehr zur vollständigen Steuerehrlichkeit148. Soweit in der Rechtsprechung des BGH bislang eine solche Teilselbstanzeige als wirksam angesehen worden sei, weil das Wort „insoweit“ in § 371 Abs. 1 AO eine auch nur teilweise Nachholung fehlender zutreffender Angaben erlaube149, hält der 1. Strafsenat an dieser Rechtsprechung ausdrücklich nicht fest150. Nach Auffassung des 1. Strafsenats sind insbesondere sogenannte dolose Selbstanzeigen, bei denen ein Steuerpflichtiger seine unvollständigen Angaben nur dahingehend „berichtigt“, dass er von bisher gänzlich verschwiegenen Zinseinkünften nur diejenigen eines Kontos angibt, aber immer noch weitere Konten verschweigt, weil er insoweit keine Entdeckung durch die Finanzbehörden befürchtet, nicht ausreichend, um die Strafbefreiung zu erlangen 151. c. Sperrwirkungen nach § 371 Abs. 2 AO In seinem Beschluss vom 20.05.2010 nahm der 1. Strafsenat auch ausführlich zu den Sperrwirkungen der § 371 Abs. 2 Nr. 1 a 2. Alt. AO und § 371 Abs. 2 Nr. 2 AO Stellung, wonach eine Straffreiheit durch eine Selbstanzeige dann nicht eintritt, wenn ein Amtsträger der Finanzbehörde zur Ermittlung einer Steuerstraftat oder Steuerordnungswidrigkeit erschienen ist bzw. die Tat im Zeitpunkt der Berichtigung bereits entdeckt ist. Der 1. Strafsenat hält die Strafbefreiung nach § 371 AO im Hinblick auf den Verzicht auf den staatlichen Strafanspruch für eine Ausnahmevorschrift, die daher restriktiv auszulegen sei. Diese restriktive Auslegung habe daher auch Auswirkungen auf die Auslegung der Sperrgründe des § 371 Abs. 2 AO152. Nach seiner Auffassung erfordere der Normzweck des § 371 AO, bisher unbekannte Steuerquellen zu erschließen, die Erstreckung der Sperrwirkung nach § 371 Abs. 2 Nr. 1 a 2. Alt. AO auch auf solche steuerlichen Sachverhalte, bei denen - soweit sie nicht bereits von dem bisherigen Ermittlungswillen erfasst sind - unter Berücksichtigung des bisherigen Überprüfungsziels einerseits und den steuerlichen Gegebenheiten des beschuldigten Steuerpflichtigen andererseits bei üblichem Gang des Ermittlungsverfahrens zu erwarten ist, dass sie ohnehin in die Überprüfung einbezogen würden153. Die Sperrwirkung nach § 371 Abs. 2 Nr. 1 a 2. Alt. AO erstrecke sich daher auch auf solche Sachverhalte, bei denen sich die neuen Tatvorwürfe lediglich auf weitere Besteuerungszeiträume 147 BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133 BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133, unter Verweis auf BGH 5 StR 253/92 vom 13.10.1992, wistra 1993, 66, 68 149 so noch BGH 3 StR 583/87 vom 20.07.1988, wistra 1988, 356; BGH 5 StR 392/98 vom 13.10.1998, wistra 1999, 27 150 BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133 151 BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133 152 BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133 153 BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133 unter Verweis auf Jäger, wistra 2000, 227, 228 148 43 hinsichtlich derselben Steuerart bei identischen Einkunftsquellen erstrecke, da der Amtsträger in einem solchen Fall auch „zur Ermittlung“ zusammenhängender Taten erschienen sei154. Der Sperrgrund des § 371 Abs. 2 Nr. 2 AO wiederum durch Entdecken der Tat sei nicht nur dann erfüllt, wenn ein Abgleich mit den Steuererklärungen des Steuerpflichtigen ergibt, dass die Steuerquelle nicht oder unvollständig angegeben wurde, sondern schon bereits vor einem Abgleich denkbar, nämlich wenn Art und Weise der Verschleierung von Steuerquellen nach kriminalistischer Erfahrung ein signifikantes Indiz für unvollständige oder unrichtige Angaben ist155. Entgegen einer früheren Auffassung156 sei hierzu ein hinreichender Tatverdacht zur Tatentdeckung im Sinne des § 371 Abs. 2 Nr. 2 AO im Sinne der §§ 170 Abs. 1, 203 StPO gerade nicht erforderlich, ebenso wenig wie die Täterermittlung, da das Gesetz - anders als bei § 203 StPO - nur an die Entdeckung der Tat, nicht aber an der des Täters anknüpft157. Ebenso wenig sei erforderlich, dass die tatsächlichen Besteuerungsgrundlagen bereits soweit bekannt sind, dass der Schuldumfang verlässlich beurteilt werden kann158 Schon nach der bisherigen Rechtsprechung des BGH159 liege eine Tatentdeckung bereits dann vor, wenn bei vorläufiger Tatbewertung die Wahrscheinlichkeit eines verurteilenden Erkenntnisses gegeben ist. Ist das Vorliegen eines Sachverhalts wahrscheinlich, der die Aburteilung als Steuerstraftat oder -ordnungswidrigkeit rechtfertigen würde, ist die Tat nach Auffassung des 1. Strafsenats daher entdeckt und die Sperrwirkung des § 371 Abs. 2 Nr. 2 AO eingetreten160. 2. Kritische Würdigung und Bedeutung der Entscheidung für die Praxis Die für die Praxis bedeutsamsten Ausführungen des 1. Strafsenats in seinem Beschluss vom 20.05.2010 betreffen den – insoweit neuen - Ausschluss der strafbefreienden Wirkung sogenannter „Teilselbstanzeigen“. Die diesbezüglichen Ausführungen des Strafsenats stießen überwiegend auf Unverständnis in der Praxis, da der 1. Strafsenat wiederum in einer „obiter dicta“ Entscheidung eine gravierende Änderung der bisherigen Rechtsprechung vollzogen hat. Ein fallbezogener Anlass bestand hierzu aber nicht, da sich der 1. Strafsenat bei dem zu entscheidenden Fall damit hätte begnügen können, die Strafaufhebung schlicht gem. § 371 Abs. 2 Nr. 1 b AO an der Bekanntgabe des erweiterten Ermittlungsverfahrens für die Jahre 1999 und 2000 hätte scheitern lassen und die Revision aus diesem Grunde schon gem. § 349 Abs. 2 StPO hätte verwerfen können161. 154 BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133 BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133, 1135 156 vgl. hierzu Schauff in Kohlmann, § 371 AO, Rn. 204; Randt/Schauff, DStR 2008, 489, 490 157 BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133, 1135 unter Verweis auf BGH vom 04.05.1983 - 2 StR 661/82, NStZ 1983, 415; BGH 5 StR 548/03 vom 05.05.2004, wistra 2004, 309 158 BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133, 1135 unter Verweis auf BGH 5 StR 226/99 vom 05.04.2000, wistra 2000, 219, 226 159 BGH 5 StR 226/99 vom 05.04.2000 wistra 2000, 219, 225 160 BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133, 1135 161 so Saldit, PStR 2010, 168; Schmitz, Steuer Consultant 2011, 15 155 44 Stattdessen nahm der 1. Strafsenat so grundlegend zu dem Institut der Selbstanzeige Stellung, dass nicht nur in der Literatur kontrovers über die Auslegung der Entscheidung und seine Konsequenzen für die Praxis diskutiert wurde, sondern sich sowohl die Finanzverwaltung in einem unmittelbar einen Monat nach dem Beschluss folgenden Erlass162 veranlasst sah, ihre Auslegung des Beschlusses des 1. Strafsenats darzulegen als auch der Gesetzgeber unterstützt von den Ausführungen des 1. Strafsenats dazu veranlasst sah, das Recht der Selbstanzeige mit dem sogenannten „Schwarzgeldbekämpfungsgesetz“163 neu zu normieren. a. Vollständige Rückkehr zur Steuerehrlichkeit Der 1. Strafsenat handhabt die Selbstanzeige als Verzicht auf den staatlichen Strafanspruch restriktiv, indem er für diese Privilegierung des Straftäters gegenüber anderen Straftätern eine doppelte Rechtfertigung fordert. Allein fiskalische Interessen an der Entrichtung hinterzogener Steuern sollen für die Privilegierung des Steuerstraftäters nicht ausreichen. Hierzu beruft er sich auf Gesetzesmaterialien zu § 410 RAO, dem die Rückkehr zur Steuerehrlichkeit, die mit dem Verzicht auf den staatlichen Strafanspruch letztendlich honoriert werden solle, zu entnehmen seien164. Unter Zugrundelegung dieser doppelten Rechtfertigung hält der 1. Strafsenat eine Teilselbstanzeige nicht mehr für ausreichend, sondern fordert vielmehr die Rückkehr zur „vollständigen Steuerehrlichkeit“165. Bislang war es infolge des Wortlauts des § 371 Abs. 1 AO und im Hinblick auf den primärfiskalischen Normzweck der Selbstanzeige allgemeine Meinung, dass auch eine Teilselbstanzeige wirksam ist166. So hatte noch der 5. Senat167 in der Vergangenheit - in Übereinstimmung mit der Literatur168 - das Wort „insoweit“ in § 371 Abs. 1 AO dahingehend ausgelegt, dass der Steuerpflichtige straffrei 162 Erlass des Finanzministeriums Nordrhein-Westfalen vom 25.06.2010 (S 0702-9-V A 1) 163 Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung von Geldwäsche und Steuerhinterziehung vom 28.04.2011, BGBL I, 676 ff. 164 BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133; so auch wohl auch die Auffassung von Meyberg, PStR 2010, 162, 163; vgl. auch die Gesetzesmaterialien zu § 410 RAO 1951, BT-Drs. I/2395 165 BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133, 1134 166 BGH 3 StR 30/87 vom 12.08.1987, wistra 1987, 342 sowie BGH 3 StR 583/87 vom 20.07.1988, wistra 1988, 356 jeweils noch zur Selbstanzeige für einzelne Jahre im Zusammenhang mit einer fortgesetzten Tat 167 BGH 5 StR 392/98 vom 13.10.1998, wistra 1999, 27, 28 168 so nahezu einheitlich die Kommentarliteratur: Schauf in Kohlmann, § 371 Rn. 66.1; Joecks in Franzen/Gast/Joecks, § 371 Rn. 75 45 werde, soweit seine Selbstanzeige reiche, also ggf. über den in der Selbstanzeige enthaltenen Teilbetrag der Steuerhinterziehung. Die vom 1. Strafsenat nunmehr geforderte doppelte Rechtfertigung, wonach nicht nur die alleinfiskalischen Interessen an der Entrichtung der hinterzogenen Steuern ausreichen, wird daher vom überwiegenden Teil der Literatur abgelehnt, da die nur im Abgabenstrafrecht zu findende Selbstanzeige des § 371 AO als rein fiskalisch motiviert verstanden wird, mit dem Ziel, unbekannte Finanzquellen zugunsten des Staates zu erschließen, wofür der Staat im Gegenzug auf seinen Strafanspruch verzichtet169. Darüber hinaus hatte der 1. Strafsenat selber noch in seinem Beschluss vom 17.03.2009 ausdrücklich den fiskalischen Zweck des § 153 AO betont 170 und mit dieser Begründung die steuerrechtliche Anzeige- und Berichtigungspflicht des § 153 AO auch gefordert, wenn der Steuerpflichtige sich dadurch einer vorherigen Steuerhinterziehung selber bezichtigen müsste. Auch die Auslegung des 1. Strafsenats, dass der Wortlaut des § 371 Abs. 1 AO die Rückkehr zur vollständigen Steuerehrlichkeit verlangt, vermag nicht zu überzeugen. Der 1. Strafsenat vertritt die Auffassung, dass das in § 371 Abs. 1 AO enthaltene Wort „insoweit“ sich nicht auf den Umfang der gemachten Angaben bezieht, sondern allein auf den Umfang der Strafbefreiung und lediglich ausdrücken soll, dass der Steuerhinterzieher durch seine Nacherklärung keine Strafbefreiung für Nicht-Steuerstraftaten erlangen könne171. Diese Auslegung erscheint auch schon deshalb nicht nachvollziehbar, weil sich bereits der Wortlaut des § 371 Abs. 1 AO ausschließlich auf die Steuerhinterziehung des § 370 AO bezieht („Wer in den Fällen des § 370...“)172 und darüber hinaus nicht nachvollziehbar sei, weshalb der Gesetzgeber in einem ausdrücklich nur für das Steuerrecht geltenden Gesetz (vgl. § 1 Abs. 1 AO) Anordnung auch für außersteuerliche Zwecke und Straftaten getroffen haben sollte173. Bezeichnenderweise ist in diesem Zusammenhang anzumerken, dass der Gesetzgeber bei der Novellierung des § 371 Abs. 1 AO durch das am 03.05.2011 in Kraft getretene Schwarzgeldbekämpfungsgesetz174 den Terminus „insoweit“ in § 371 Abs. 1 AO hat fallen gelassen und nunmehr stattdessen die Berichtigung der unrichtigen Angaben „zu allen 169 Wegener, PStR 2010, 121, 122; Gaede, PStR 2010, 282, 284; so auch noch BGH 5 StR 548/03 vom 05.05.2004, wistra 2004, 309, 310; BGH 3 StR 10/87 vom 12.08.1987, BGHSt 35, 36, 37 170 Wessing/Briesken, NJW 2010, 2689, 2692 171 BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133, 1134 172 vgl. § 371 a.F.: „Wer in den Fällen des § 370 unrichtige oder unvollständige Angaben bei der Finanzbehörde berichtigt oder ergänzt oder unterlassene Angaben nachholt, wird insoweit straffrei.“ 173 so auch Webel, PStR 2010, 189, 190, Gaede, PStR 2010, 282, 284; Wulf, wistra 2010, 286, 290; Schmitz, Steuer Consultant 2011, 15, 17; a.A. wohl Meyberg, PStR 2010, 162, 164 174 Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung von Geldwäsche und Steuerhinterziehung vom 28.04.2011, BGBL I, 676 ff. 46 unverjährten Steuerstraftaten einer Steuerart“ verlangt und „wegen dieser Steuerstraftaten“ eine Straffreiheit ankündigt175. Der 1. Strafsenat fordert zur Wirksamkeit einer Selbstanzeige die „vollständige Rückkehr zur Steuerehrlichkeit“. Er definiert diese jedoch nicht, sondern belässt es nur dabei, diese an einem Beispiel mit zwei Konten zu verdeutlichen176. In der Literatur war somit fraglich, was der 1. Strafsenat mit „vollständige Rückkehr zur Steuerehrlichkeit“ gemeint haben könnte, insbesondere, weil er umgangssprachlich verlangte, dass „reiner Tisch“ gemacht werden müsse. Die anfangs bestehende Unsicherheit in der Literatur177 wird verständlich, wenn man berücksichtigt, dass die steuerrechtliche Festsetzungsverjährung bei Steuerhinterziehung nach § 169 Abs. 2 Satz 2 AO mit 10 Jahren anders geregelt ist als die strafrechtliche Verjährung, die nach § 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB in Fällen einfacher Steuerhinterziehung 5 Jahre beträgt und erst in Fällen schwerer Steuerhinterziehung gem. § 376 AO 10 Jahre. Unklar war somit, ob der 1. Strafsenat mit der „vollständige Rückkehr zur Steuerehrlichkeit“ die Berichtigung aller noch der steuerlichen Festsetzungsverjährung unterliegenden Jahre gemeint haben könnte oder nur die strafrechtlich noch nicht verjährten Jahre berichtigt werden müssten. Die Selbstanzeige ist sowohl nach herrschender Literaturmeinung178 als auch nach der Rechtsprechung des BGH179 ein persönlicher Strafaufhebungsgrund des materiellen Rechts. Das Vorliegen der Voraussetzung ist daher bezogen auf jede einzelne Tat im materiellen Sinne zu prüfen180. Die materielle Tat wiederum wird im Steuerstrafrecht regelmäßig definiert durch den Steuerpflichtigen, die Steuerart und den Veranlagungszeitraum181. Während einzelne Vertreter von finanzbehördlichen Ermittlungsbehörden und Staatsanwaltschaft den 1. Strafsenat so interpretieren, dass für den gesamtem strafrechtlich relevanten Verfolgungszeitraum und für alle Steuerarten „reiner Tisch“ gemacht werden muss 182, um in den Genuss der Straffreiheit zu kommen, geht die herrschende Literaturauffassung davon aus, dass auch der 1. Strafsenat mit seinem Erfordernis der „vollständige Rückkehr zur Steuerehrlichkeit“ weiter abstellt auf die jeweilige materielle Tat, definiert durch die Steuerart und den Veranlagungszeitraum183. vgl. § 371 AO n.F.: „Wer gegenüber der Finanzbehörde zu allen unverjährten Steuerstraftaten einer Steuerart in vollem Umfang die unrichtigen Angaben berichtigt, die unvollständigen Angaben ergänzt oder die unterlassenen Angaben nachholt, wird wegen dieser Steuerstraftaten nicht nach § 370 bestraft“. 176 hierzu kritisch: Saldit, PStR 2010, 168, 173 177 Schmitz, Steuer Consultant 2011, 15, 17 178 Wulf, wistra 2010, 286, 290; Wegner, PStR 2010, 121, 122 179 BGH 5 StR 548/03 vom 05.05.2004, wistra 04, 310 180 Wulf, wistra 2010, 286, 290 181 h.M.: Wulf, wistra 2010, 286, 290; BGH 5 StR 226/99 vom 05.04.2000, 219, 225 182 so Roth /Schützeberg, PStR 2010, 214, 216 183 vgl. Wulf, wistra 2010, 286, 290; Salditt, PStR 2010, 168, 173; Roth / Schützeberg, PStR 2010, 214, 216 175 47 Unterstützt wird diese Auslegung auch durch die Äußerungen des an der Entscheidung mitwirkenden Richters am BGH Prof. Dr. Jäger anlässlich des „12. IWW-Kongresses PraxisSteuerstrafrecht“ am 22.10.2010, mit denen dieser darauf hinwies, dass der 1. Strafsenat mit dem Erfordernis „reinen Tisch“ zu machen keine Lebensbeichte meint, sondern sich dieses nur auf die jeweilige Tat, definiert durch die Steuerart, Steuererklärung und Steuerjahr, beziehen kann 184. Da der 1. Strafsenat in seinem Beschluss vom 20.05.2010 nicht von dem bisherigen Tatbegriff des BGH bei der Steuerhinterziehung abgewichen ist, ist daher davon auszugehen, dass sich das Erfordernis der „vollständige Rückkehr zur Steuerehrlichkeit“ weiter jeweils auf die jeweilige materielle Tat bezieht und die von einzelne Vertreter von finanzbehördlichen Ermittlungsbehörden und Staatsanwaltschaft geforderten weitergehenden Berichtigungen zur Wirksamkeit einer Selbstanzeige – bezogen auf die jeweilige Tat – auch unter Zugrundelegung der Auffassung des 1. Strafsenats nicht erforderlich ist. Ob dieses aber auch für zukünftige Fälle unter Geltung des neuen § 371 AO gelten wird, muss bezweifelt werden. Der durch das am 03.05.2011 in Kraft getretene Schwarzgeldbekämpfungsgesetz185 novellierte § 371 Abs. 1 AO verlangt nunmehr die Berichtigung der unrichtigen Angaben „zu allen unverjährten Steuerstraftaten einer Steuerart“ und kündigt „wegen dieser Steuerstraftaten“ eine Straffreiheit an186. Nach dem Willen des Gesetzgebers ist somit zur Erlangung der Straffreiheit durch eine Selbstanzeige die vollständige Berichtigung / Nachholung aller strafrechtlich bisher noch nicht verjährten Besteuerungszeiträume erforderlich 187. Mit dem Erfordernis der Berichtigung aller strafrechtlich unverjährten Besteuerungszeiträume einer Steuerart zur Erlangung der Straffreiheit ist der Gesetzgeber somit über das bisherige Erfordernis – bezogen auf die jeweilige materielle Tat – hinausgegangen. Berichtigt ein Steuerpflichtiger somit von mehreren strafrechtlich noch nicht verjährten Veranlagungsjahren 184 so auch der klarstellende Hinweis von RiBGH Prof. Dr. Markus Jäger anlässlich des 12. IWW Congresses „Praxis Steuerstrafrecht“ am 22.10.2010, vgl. in Wegener, PStR 2010, 309, 310; a.A. aber: Der Erlass des Finanzministeriums NRW vom 25.06.2010 (S 0702-9-VA 1) 185 Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung von Geldwäsche und Steuerhinterziehung vom 28.04.2011, BGBL I, 676 ff. 186 vgl. § 371 AO n.F.: „Wer gegenüber der Finanzbehörde zu allen unverjährten Steuerstraftaten einer Steuerart in vollem Umfang die unrichtigen Angaben berichtigt, die unvollständigen Angaben ergänzt oder die unterlassenen Angaben nachholt, wird wegen dieser Steuerstraftaten nicht nach § 370 bestraft“. 187 Vgl. Die Begründung zum Gesetzesentwurf zum Schwarzgeldbekämpfungsgesetz, B, zu Art 2, zu Buchstabe a, BT-Drs. 17/4182 48 hinsichtlich derselben Steuerart nur ein Veranlagungsjahr, ist die Selbstanzeige bezüglich dieser Steuerart insgesamt unwirksam, während er noch unter der Geltung der alten Fassung des § 371 Abs. 1 AO – auch nach der Rechtsprechung des 1. Strafsenats – für dieses eine Jahr (Vollständigkeit der Angaben vorausgesetzt) straffrei wurde 188 b. Anwendbarkeit des Beschlusses Ebenfalls kontrovers diskutiert in der Literatur wurde die zeitliche Anwendung der Rechtsprechung des 1. Strafsenats. Einigkeit schien dahingehend zu herrschen, dass die neue Rechtsprechung des 1. Strafsenats zumindest für alle ab dem 20.05.2010 neu eingegangenen Selbstanzeigen gilt189. Fraglich war die Anwendung der Rechtsprechung des 1. Strafsenats auf all die Altfälle, bei denen eine Selbstanzeige vor dem 20.05.2010 erfolgte. Der in Artikel 103 Abs. 2 GG normierte strafrechtliche Gesetzesvorbehalt verbietet die Anwendung verschärfter Rechtsvorschriften auf Sachverhalte, die vor der Rechtsänderung bereits abgeschlossen waren. Dieser Grundsatz gilt aber nicht für höchstrichterliche Entscheidungen190. Zum Teil wurde daher - von Vertretern der Finanzbehörden und der Staatsanwaltschaft - die Auffassung vertreten, dass auch vor dem 20.05.2010 erstattete Selbstanzeigen in noch laufenden Verfahren nach den Grundsätzen des Beschlusses des 1. Strafsenats vom 20.05.2010 zu bewerten sind, da es sich nur um eine Rechtsprechungsänderung und nicht um ein neues Gesetz handele und somit eine unzulässige Rückwirkung nicht vorliege191. Die überwiegende Auffassung in der Literatur vertrat jedoch die Auffassung, dass die Entscheidung des 1. Strafsenats nicht auf Fälle angewendet werden dürfe, in denen Selbstanzeigen vor der Verkündung der Entscheidung erfolgten192. Dieses wurde damit begründet, dass durch die bisherige Auslegung des § 371 AO ein Anreiz zu Selbstbelastungen geschaffen wurde und die Tatbeteiligten bis zur Entscheidung des 1. Strafsenats vom 20.05.2010 darauf vertrauen durften, dass sie „insoweit“ Straffreiheit erlangen, als sie unrichtige Angaben berichtigen193. Dieser Meinungsstreit hinsichtlich eines Vertrauensschutzes für Altfälle dürfte mittlerweile durch die Novellierung des Selbstanzeigerechts hinfällig sein. 188 vgl. hierzu mit Beispielen: Prowatke / Felten, DStR 2011, 899, 900 Schmitz, Steuer Consultant 2011, 15, 17; Wulf, wistra 2010, 286, 290; Saldit, PStR 2010, 168, 174; Roth/Schützeberg, PStR 2010, 214 190 Webel, PStR 2010, 189, 194; Schmitz, Steuer Consultant 2011, 15, 17, Wulf, wistra 2010, 286, 290 191 Roth/Schützeberg, PStR 2010, 214; so auch Erlass des Finanzministeriums NRW vom 25.06.2010 192 Saldit, PStR 2010, 168, 174; Wulf, wistra 2010, 286, 290, Gaede, PStR 2010, 282, 286 193 Gaede, PStR 2010, 282, 286; Schmitz, Steuer Consultant 2011, 15, 17; Saldit, PStR 2010, 168, 174 189 49 Durch das Schwarzgeldbekämpfungsgesetz wurde dem Artikel 97 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung (EGAO) ein weiterer § 24 angefügt, wonach für Selbstanzeigen, die bis zum 28. April 2011 bei der zuständigen Finanzbehörde eingegangen sind, § 371 AO in der bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Fassung mit der Maßgabe anzuwenden ist, dass „im Umfang der berichtigten Angaben“ Straffreiheit eintritt 194. In der Gesetzesbegründung wird zu dieser Übergangsregelung ausdrücklich ausgeführt, das damit das Vertrauen der Steuerpflichtigen in die vormalige Auslegung und Anwendung des § 371 AO berücksichtigt wird, die bereits eine Teilselbstanzeige erstattet haben, welches nach dem Prinzip der Rechtssicherheit und der Verfahrensfairness zu schützen sei, weshalb für bereits erstattete Teilselbstanzeigen der Status der Straffreiheit bestehen bleibe; Eine nach dem Tag der Verkündung des Gesetzes erstattete (weitere) Selbstanzeige wird daher als erstmalige Selbstanzeige gewertet 195. Eine bis zur Verkündung des Schwarzgeldbekämpfungsgesetzes erstattete Teilselbstanzeige bleibt somit auch – trotz des Beschlusses des 1. Strafsenats – im Falle einer nach Verkündung des Schwarzgeldbekämpfungsgesetzes weiteren Selbstanzeige wirksam. Der Gesetzgeber hat hier den von der Literatur angesprochenen Vertrauensschutz aufgegriffen und in eine gesetzliche Regelung umgesetzt. c. Selbstanzeige nach der Selbstanzeige Das in der Literatur im Anschluss an die Entscheidung diskutierte Problem der Wirksamkeit einer ergänzenden (vollständigen) Selbstanzeige nach vorheriger (unvollständiger) Selbstanzeige dürfte - angesichts der Übergangsregelung durch § 24 zu Art 97 EGAO – somit in der Praxis nur noch Relevanz haben, wenn beide Selbstanzeigen (zeitlich getrennt) nach der Verkündung des Schwarzgeldbekämpfungsgesetzes erfolgen. Nach Auffassung des 1. Strafsenats reichte eine Teilselbstanzeige für eine Strafbefreiung nach § 371 a.F. AO nicht aus196. Auch der geänderte § 371 n.F. AO verlangt nunmehr die Berichtigung im „vollen Umfang“ der unrichtigen Angaben zu einer Steuerart. Wird somit zukünftig zunächst nur eine Teilselbstanzeige (zu einer Steuerart) abgegeben und diese dann mit einer weiteren Selbstanzeige ergänzt / berichtigt, stellt sich die Frage, welche strafrechtlichen Konsequenzen sich aus der Unvollständigkeit der ersten (Teil-) Selbstanzeige für beide Selbstanzeigen ergeben. 194 Vgl. Art 3 des Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung von Geldwäsche und Steuerhinterziehung vom 28.04.2011, BGBL I, 676 195 Vgl. die Begründung zum Gesetzesentwurf zum Schwarzgeldbekämpfungsgesetz, B, zu Art 3, BT-Drs. 17/4182 196 BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133, 1134 50 Die zweite Selbstanzeige könnte zum einen zur Unwirksamkeit der ersten Selbstanzeige führen, da deren Unvollständigkeit nunmehr ersichtlich wird, aber auch die zweite Selbstanzeige könnte – auch wenn sie nunmehr alle Angaben vollständig enthält - unwirksam sein, da die Tat bereits durch die erste Selbstanzeige entdeckt sein könnte und damit der Sperrgrund des § 371 Abs. 2 Nr. 2 AO erfüllt sein könnte197. Teilweise wird in der Literatur die Möglichkeit der Heilung der unwirksamen ersten Teilselbstanzeige diskutiert für den Fall, dass nunmehr mit der zweiten Selbstanzeige alle Angaben vollständig berichtigt werden198. Es darf jedoch bezweifelt werden, dass die Rechtsprechung die Heilung einer Teilselbstanzeige anerkennen wird. Der BGH als auch der Gesetzgeber verfolgten bei der Abschaffung der Teilselbstanzeige ausdrücklich das Ziel, die Teilselbstanzeige als Bestandteil einer Hinterziehungsstrategie zu unterbinden199. Die erste Teilselbstanzeige dürfte insoweit nach der Rechtsprechung des 1. Strafsenat unwirksam sein. In der Praxis wird die Möglichkeit einer Bestrafung dieser unwirksamen Teilselbstanzeige jedoch davon abhängen, ob das aufgrund der ersten Selbstanzeige eingeleitete Strafverfahren nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt wurde oder mit Strafklageverbrauch (z.B. Einstellung nach § 153 a StPO, Strafbefehl) beendet wurde. Wurde das - mit jeder Selbstanzeige eigentlich angestrebte Ziel - einer Verfahrenseinstellung nach § 170 Abs. 2 StPO ursprünglich erreicht, stellt sich dieses nachträglich für den Steuerpflichtigen als die für ihn unglücklichste Verfahrensbeendigung heraus. Sofern noch keine Strafverfolgungsverjährung für die erste unwirksame Selbstanzeige eingetreten ist, muss er mit einer entsprechenden Bestrafung rechnen, da die damalige Verfahrenseinstellung nach § 170 Abs. 2 StPO einer erneuten Einleitung eines Ermittlungsverfahrens nicht entgegensteht, da sie nicht zu einem Strafklageverbrauch geführt hat. Durch die Bekanntgabe der Einleitung des ursprünglichen Ermittlungsverfahrens wurde zudem die Verjährung nach § 369 Abs. 2 AO i.V.m. § 78 c Abs. 1 Nr. 1 StGB unterbrochen. Mit dem Tag der damaligen Bekanntgabe der Einleitung des Ermittlungsverfahrens läuft demnach die fünfjährige – in besonders schweren Fällen die zehnjährige (376 Abs. 1 AO) Verjährungsfrist von Neuem. Wurde das damals eingeleitete Strafverfahren dagegen durch eine Verfahrensbeendigung mit Strafklageverbrauch (z.B. Einstellung nach § 153 a StPO) abgeschlossen, kann die insoweit unvollständige erste Selbstanzeige nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden. 197 vgl. zu dieser Problematik: Schwartz, PStR 2011, 150 so wohl Saldit, PStR 2010, 168, 173; Schwartz, PStR 2011, 150, 151 199 Schwartz, PStR 2011, 150, 151 198 51 Derjenige, dessen erste Teilselbstanzeige damals „verunglückt“ ist und dessen Strafverfahren nur eine Beendigung gefunden hat, die einen Strafklageverbrauch beinhaltet, wäre in diesem Fall besser gestellt, als derjenige, dessen Verfahren wegen (mutmaßlicher) Vollständigkeit nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden ist. Umstritten ist aber, ob - auch im Falle vollständiger Angaben bei der zweiten Selbstanzeige - die Unwirksamkeit der zweiten Selbstanzeige droht, da die Tat bereits durch die erste Selbstanzeige entdeckt sein könnte und somit der Sperrgrund des § 371 Abs. 2 Nr. 2 AO erfüllt sein könnte. Gemäß dem Erlass des Finanzministerium NRW sollen sowohl die erste als auch die zweite Selbstanzeige unwirksam sein.200 In der Literatur wird vereinzelt – aber unter Anwendung eines abweichenden Tatbegriffes, der sich nach Einkunftsquellen bestimmen soll - die Auffassung vertreten, dass zumindest die zweite Teilselbstanzeige jedenfalls dann nicht unwirksam seien soll, wenn die Berichtigung eine andere Einkunftsquelle beinhaltet als die mit der ersten Selbstanzeige berichtigten Einkunftsquellen201. Da dieser Tatbegriff aber nicht dem herrschenden und von der Rechtsprechung vertretenen Tatbegriff entspricht, wäre es somit - der Rechtsprechung des 1. Strafsenats folgend - folgerichtig, die Wirksamkeit der zweiten (vollständigen) Selbstanzeige die Wirksamkeit zwar nicht nach § 371 Abs. 1 AO zu versagen, aber - da schon durch die vorherige Teilselbstanzeige die ursprüngliche Steuerhinterziehung entdeckt worden war - bezüglich der zweiten Selbstanzeige den Sperrgrund der Tatendeckung des § 371 Abs. 2 Nr. 2 AO als erfüllt anzusehen. Noch gänzlich ungeklärt und in der Praxis mit großen Problemen behaftet ist die – auch in der Literatur noch nicht aufgeworfene - Frage, der Wirksamkeit einer Selbstanzeige nach einer vorherigen Berichtigung nach § 153 Abs. 1 AO. In der Praxis kommt es immer wieder vor, dass z. B. durch den steuerlichen Berater des Steuerpflichtigen Angaben nach § 153 Abs. 1 AO berichtigt werden. Dieses auch häufig, um die Bezeichnung als Selbstanzeige zu vermeiden. In der Praxis wurde diese Berichtigung unter der Geltung des alten Rechts und der vorherigen Rechtsprechung immer als Selbstanzeige gewertet, ohne dass dadurch eine weitere Selbstanzeige ausgeschlossen wurde. Dieses dürfte zukünftig problematisch und risikobehaftet sein. Berichtigt z.B. der Steuerpflichtige zukünftig seine inländischen Kapitaleinkünfte im Rahmen eines Berichtigungsantrages nach § 153 AO, weil er fahrlässig oder bedingt vorsätzlich nicht alle Kapitalerträge erklärt hat und will er dann zu einem späteren Zeitpunkt „reinen Tisch“ machen und zur „vollständigen Steuerehrlichkeit“ zurückkehren, indem er auch seine ausländischen Kapitaleinkünfte nacherklärt, muss er damit rechnen, dass ihm dieser Weg zukünftig – zumindest 200 Erlass des Finanzministeriums NRW vom 25.06.2010 (S 0702-9-VA 1); so wohl auch Webel, PStR 10, 189, 190 201 vgl. insoweit Schwartz, PStR 2011, 150, 153; derselbe, wistra 2011, 81, 86 ff., der - entgegen der h. M. den Tatbegriff der Einkunftsquelle vertritt 52 straflos – verwehrt ist, da er nicht bei seiner ersten Berichtigung schon vollständig alle Angaben gemacht hat. Dies bedeutet aber im Umkehrschluss, dass zukünftig jedem Antrag auf Berichtigung nach § 153 AO die Gefahr immanent ist, eine spätere Selbstanzeige eventuell „zu sperren“. Ein Ergebnis, das angesichts der Fehlerhäufigkeit von Steuererklärungen, die Berichtigungen notwendig machen, nicht praktikabel ist. d. Unsichere Sperrgründe Der 1. Strafsenat hat in seiner Entscheidung ebenfalls zu den Sperrwirkungen des § 371 Abs. 2 Nr. 1 a Alt. 2 AO durch Erscheinen eines Amtsträgers zur Ermittlung einer Steuerstraftat oder einer Steuerordnungswidrigkeit und der Tatentdeckung im Sinne des § 371 Abs. 2 Nr. 2 AO Stellung genommen. Nach seiner Auffassung wird die Sperrwirkung des § 371 Abs. 2 Nr. 1 a Alt. 2 AO infolge eines sachlichen Zusammenhangs bereits dann ausgelöst, wenn bei einem üblichen Gang des Ermittlungsverfahrens die weiteren Taten ohnehin in die Überprüfung einbezogen würden, was dann stets der Fall sein soll, wenn sich die neuen Tatvorwürfe nur auf weitere Besteuerungszeiträume hinsichtlich derselben Steuerarten bei identischen Einkunftsquellen erstrecken202. Der BGH hatte bereits in früheren Entscheidungen zu dem Sperrgrund des § 371 Abs. 2 Nr. 1 a Alt. 2 AO den Begriff des sachlichen und zeitlichen Zusammenhangs verwandt203. Danach sollten auch die Taten von der Sperrwirkung erfasst sein, die in einem engen sachlichen Zusammenhang mit den konkreten Vorwürfen stehen204. Mit seinem Beschluss vom 20.05.2010 konkretisiert der 1. Strafsenat das Kriterium des sachlichen Zusammenhangs, indem er einen solchen – pauschal – zumindest bei weiteren Besteuerungszeiträumen hinsichtlich derselben Steuerart bei identischen Einkunftsquellen bejaht. In der Literatur wurde kritisiert, dass der 1. Strafsenat es versäumt hat, eine in der Praxis anwendbare klare Regel zu formulieren205, da der Begriff des sachlichen Zusammenhangs nicht geeignet sei, anlässlich konkreter Situationen, z.B. bei Durchsuchungen, verbindlich beurteilen zu können, was bei welchem üblichen Gang der Ermittlungen entdeckt worden wäre. Einigkeit scheint dagegen in der überwiegenden Literatur dahingehend zu bestehen, dass für die Fälle der Sperrwirkung aufgrund einer steuerlichen Prüfung nach § 371 Abs. 2 Nr. 1 a Alt. 1 AO 202 BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133, 1134 BGH 1 StR 859/82 vom 19.04.1983, NStZ 1983, 559; BGH 5 StR 226/99 vom 05.04.2000, NStZ 2000, 427 204 BGH 5 StR 226/99 vom 05.04.2000, wistra 2000, 219, 225 205 so z.B. Wulf, wistra 2010, 286; mit Beispielen: Habammer, DStR 2010, 2425, 2431; Spatscheck / Willems, Steueranwaltsmagazin 2010, 162, 165 203 53 auch nach der Rechtsprechung des 1. Strafsenats zu § 371 Abs. 2 Nr. 1 a Alt. 2 AO nach wie vor ausschließlich das formale Kriterium der Prüfungsanordnung gelten kann206 und somit bei einer steuerlichen Prüfung nur für die in Prüfungsanordnung genannten Steuerarten und Steuerveranlagungszeiträume die Selbstanzeige gesperrt sein soll 207. Auch der Versuch des 1. Strafsenats den Sperrgrund der Tatentdeckung gem. § 371 Abs. 2 Nr. 2 AO weiter zu konkretisieren, wird in der Literatur überwiegend nicht für gelungen gehalten 208. Tatentdeckung liegt nach bisheriger Rechtsprechung des BGH schon vor, wenn nach vorläufiger Tatbewertung die Wahrscheinlichkeit eines verurteilenden Erkenntnisses gegeben ist209. Bereits bisher war einhellige Meinung, dass somit eine Tat zumindest dann entdeckt war, wenn der Abgleich mit den Steuererklärungen des Steuerpflichtigen ergibt, dass eine Steuerquelle nicht oder unvollständig angegeben wurde. Der 1. Strafsenat verlagert diese Tatentdeckung nunmehr zeitlich vor, in dem er eine Tatentdeckung – zumindest bei sogenannten verschleierten Steuerquellen - auch schon vor einem etwaigen Abgleich annehmen will, wenn die Art und Weise der Verschleierung nach kriminalistischer Erfahrung ein signifikantes Indiz für unvollständige oder unrichtige Angaben sind210. Zutreffend wurde in der Literatur kritisiert, dass diese Ausführungen in der Praxis kaum zur Rechtssicherheit führen, da sich der 1. Strafsenat mit diesen Formulierungen letztlich dem Begriff des Anfangsverdachts annähern würde211. Ob Steuerquellen verschleiert wurden, wird in der Regel immer erst durch einen Abgleich mit den Steuererklärungen festgestellt werden können. Allein der Umstand, dass bestimmte Steuerquellen (z.B. Auslandskonten) generell geeigneter sind als andere, ihr Bestehen zu verschleiern, könnte zwar ein Indiz für unvollständige oder unrichtige Angaben begründen, dürfe als solches jedoch nicht ausreichen, um nach vorläufiger Tatbewertung schon die Wahrscheinlichkeit eines verurteilenden Erkenntnisses als gegeben zu betrachten. e. 206 Zukünftige Selbstanzeigeberatung Spatscheck / Willems, Steueranwaltsmagazin 2010, 162, 165; Habammer, DStR 2010, 2425, 2431 So z.B. Wulf, wistra 2010, 286, 287; Habammer, DStR 2010, 2425, 2431; a.A: Erlass des Finanzministeriums NRW vom 25.06.2010 (S 0702-9-VA 1) 208 Spatscheck / Willems, Steueranwaltsmagazin 2010, 162, 165 Habammer, DStR 2010, 2425 209 BGH, NStZ 1983, 415; wistra 2000, 219, 225 210 BGH vom 20.05.2010 - 1 StR 577/09, DStR 2010, 1133, 1134 211 Habammer, DStR 2010, 2425, 2431, Spatscheck und Willems Steueranwaltsmagazin 2010, 162, 166; Wulf, wistra 2010, 286, 289 207 54 Der Beschluss des 1. Strafsenats vom 20.05.2010 hat das Recht der Selbstanzeige erheblich verschärft. Für die Steuerpflichtigen, die zukünftig eine Selbstanzeige erwägen und deren Berater bringt die Entscheidung erhebliche Unwägbarkeiten mit sich. Durch die klare Absage an die Strafbefreiung für eine Teilselbstanzeige hat der 1. Strafsenat eine zweite (nunmehr vollumfängliche) Selbstanzeige bei vorheriger unvollständiger Teilselbstanzeige für die Zukunft praktisch ausgeschlossen, wenn sich der Steuerpflichtige dadurch nicht selber der vorherigen Straftat bezichtigen. Dies gilt zumindest dann, wenn die erste (Teil-)Selbstanzeige nicht bereits der absoluten Strafverfolgungsverjährung unterlag. Aber auch wenn letzteres der Fall sein sollte, dürfte aufgrund der restriktiven Handhabung des § 371 AO hinsichtlich der zweiten Selbstanzeige der Sperrgrund des § 371 Abs. 2 Nr. 2 AO vorliegen. Der Selbstanzeiger dürfte somit im Ergebnis – wie Habammer es pointiert bezeichnete - nur noch „einen Schuss frei“ haben212. Die Selbstanzeigeberatung der Zukunft wird damit sowohl für Berater und Mandant zur „gefahrgeneigten Arbeit“213. Zukünftig wird im Vorfeld einer beabsichtigten Selbstanzeige zunächst immer zu klären sein, ob bereits zuvor eine Selbstanzeige abgegeben worden ist. Schwierigkeiten wird in der Praxis auch die Erweiterung der Sperrwirkung nach § 371 Abs. 2 Nr. 2 AO machen, sofern der 1. Strafsenat die Sperrwirkung bereits bejaht, wenn sich – unabhängig von einem Abgleich mit den Steuererklärungen – bereits aus der Art und Weise der Verschleierung der Steuerquellen ein signifikantes Indiz für unvollständige oder unrichtige Angaben ergeben soll. Dieses hätte in der Praxis zur Folge, dass z. B. bei den typischen Auslandssachverhalten aufgrund kriminalistischer Erfahrung ein signifikantes Indiz für unvollständige oder unrichtige Angaben und damit die Tatentdeckung bereits bejaht werden könnte, selbst noch keinerlei Ermittlungen angestellt wurden. Auch die erweiternde Auslegung der Sperrwirkung nach § 371 Abs. 2 Nr. 1 a Alt. 2 AO, wonach das Erscheinen des Amtsträgers zur Ermittlung einer Steuerstraftat bereits den Sperrgrund für andere Besteuerungszeiträume bewirkt, soweit es sich um dieselbe Steuerart bei identischen Einkunftsquellen handelt, wird in der Praxis zu erheblichen Schwierigkeiten und Einschränkungen von Selbstanzeigen führen. Ermittlungsmaßnahmen erstrecken sich zu Beginn häufig nur auf einige der tatsächlich strafrelevanten Jahre. Hier erfolgten bisher häufig Selbstanzeigen für die nicht im Durchsuchungsbeschluss bzw. Einleitungsverfügung aufgeführten Jahre, die in der Praxis dann als strafbefreiend akzeptiert wurden. 212 213 Habammer, DStR 2010, 2425, 2428 so die Befürchtung von Wessing / Biesgen, NJW 2010, 2689, 2692 55 Diese Möglichkeit wird nun durch die Rechtsprechung des 1. Strafsenat erheblich eingeschränkt. Zu mehr Rechtssicherheit würde es hier führen, wie von Teilen der Literatur214 gefordert wird, die Sperrwirkung einer Durchsuchungsmaßnahme auf die im richterlichen Beschluss genannten Vorwürfe / Zeiträume zu beschränken. C. Fazit Der 1. Strafsenat des BGH hat seit seinem Zuständigkeitswechsel für Steuerstrafsachen eine Reihe von grundlegenden Entscheidungen zum Steuerstrafrecht verkündet, mit denen er bewusst obwohl dieses in den zu entscheidenden Fällen nicht erforderlich war - im Rahmen von obiter dicta Entscheidungen von der bisherigen Rechtsprechung des 5. Strafsenats abgewichen ist. Die größte Bedeutung für die Praxis dürften die Urteile zur Strafzumessung bei Steuerhinterziehung großen Ausmaßes und zur Unwirksamkeit von Teilselbstanzeigen sein. Beide werden eventuell in Zukunft nicht nur die Tatgerichte, sondern bereits die strafrechtlichen Ermittlungsbehörden zu einer „schärferen“ Handhabung in Steuerhinterziehungsfällen veranlassen. Verfolgt man den „roten Faden“ der Entscheidungen, so scheint dieses offensichtlich das erklärte Ziel des 1. Strafsenats zu sein, auch wenn ein solcher Rechtsprechungswandel von dem beisitzenden Mitglied des 1. Strafsenats Prof. Dr. Jäger anlässlich des „11. IWW Steuerstrafrechtskongress“ am 23.10.2009 noch ausdrücklich bestritten wurde 215. Die obiter dicta Entscheidungen des 1. Strafsenats werden in der Literatur daher als klare Vorgaben an die Instanzengerichte216 und Appell an die Tatrichter und die Ermittlungsbehörden verstanden, Steuerhinterziehung in Zukunft stärker zu ahnden217. Diese Einschätzung wird bestätigt durch die Ausführungen im aktuellen Beschluss vom 05.05.2011218. Offenkundig missfiel dem 1. Strafsenat das Strafmaß der Vorinstanz, das den Angeklagten wegen 16 Fällen von Umsatzsteuerhinterziehung mit einem Steuerschaden in Höhe von insgesamt € 2.287.737,00, wobei bei 13 Taten der Hinterziehungsbetrag jeweils über € 100.000,00 lag, nur zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 10 Monate verurteilt hat, deren Vollstreckung es zusätzlich noch zur Bewährung ausgesetzt hatte. Mit dieser Entscheidung rügte der 1. Strafsenat die Strafzumessung der Vorinstanz in mehrfacher Hinsicht als rechtsfehlerhaft, weil das Urteil keine Angaben dazu enthielt, ob im zu entscheidenden Fall das gesetzliche Merkmal „in großem Ausmaß“ im Sinne des § 370 Abs. 3 214 Wulf, wistra 2010, 286, 287, Schmitz, Steuer Consultant 2011, 15, 16 siehe hierzu: Wegner, PStR 2009, 295, 297 216 so z.B. Wulf, DStR 2009, 459, 464 217 so z. B. Salditt, PStR 2009, 25 218 BGH vom 05.05.2011 - 1 StR 116/11, Lexitus.com/2011, 2546 215 56 Satz 2 Nr. 1 AO erfüllt war und weshalb trotz des Vorliegens dieses Regelbeispiels ein besonders schwerer Fall des § 370 Abs. 3 AO nicht angenommen wurde. Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang der Hinweis in den Urteilsgründen, dass die Staatsanwaltschaft „auch im Rahmen der Dienstaufsicht im vorliegenden Fall hätte Anlass gehabt zu prüfen, ob nicht gem. Nr. 147 Abs. 1 Satz 3 RiStBV Handlungsbedarf bestanden hätte“ 219, ein Rechtsmittel zur Nachprüfung des Strafmaßes einzulegen, da die Strafe im offensichtlichen Missverhältnis zur Tat stand. Ein stärkerer Einbezug der Staatsanwaltschaft in steuerstrafrechtlichen Verfahren, die gemäß § 386 Abs. 2 AO primär in eigenen Zuständigkeit von den Finanzbehörden geführt werden, ist offensichtlich ein weiteres erklärtes „Anliegen“ des 1. Strafsenat, hatte er doch in einigen Verfahren ausdrücklich die nach seiner Auffassung bestehende Notwendigkeit einer frühzeitigen Zusammenarbeit zwischen den Finanzbehörden und der Staatanwaltschaft gefordert220. Ob die Untergerichte die „Vorgaben“ des 1. Strafsenats in der Praxis umsetzen werden, bleibt abzuwarten. Rechtlich gebunden sind sie hieran jeweils aufgrund der in Artikel 97 GG statuierten richterlichen Unabhängigkeit nicht. Rechtliche Beurteilungen des Revisionsgerichts binden den Tatrichter gem. § 358 Abs. 1 StPO nur, soweit sie die Aufhebung des angefochtenen Urteils tragen. Rechtsmeinungen als „obiter dicta“ entfalten keinerlei Bindungswirkung und sind somit nur „als der Versuch zu werten, durch geistige Überzeugungskraft Einfluss auf die Praxis zu nehmen“221. Gerade das Steuerstrafrecht ist aufgrund des erforderlichen Umfangs der Feststellungen zu den hinterzogenen Steuern aufgrund der umfangreichen, über i.d.R. mehrere Jahre hinweg festzustellenden Besteuerungsgrundlagen und der dafür erforderlichen Ermittlungen geprägt von Verständigungen - unter den Voraussetzungen des § 275 c StPO oder auch ohne - zwischen Verteidigung, Ermittlungsbehörde und Tatgericht. In der Praxis werden daher sicherlich - trotz der Rechtsprechung des 1. Strafsenats – in einer Vielzahl von Fällen weiter „praktikable“ Verständigungen erfolgen 222. Die Befürchtung jedoch, dass die Strafverfolgungsbehörden, mit Blick auf die Entscheidung des 1. Strafsenats zum großen Ausmaß einer Steuerhinterziehung zukünftig in solchen Fällen – statt der bisherigen Strafmaßtabellen - schematisch vorgehen könnten223, erscheint berechtigt. Hier wird die Praxis zeigen, ob die vom 1. Strafsenat zur Begründung der Schwellenwerte hinsichtlich des großen Ausmaßes gewünschte Rechtssicherheit wirklich eintritt, wenn bei einer Hinterziehung von € 49.999,00 hiernach kein „großes Ausmaß“ vorliegt, jedoch bei einem Hinterziehungsbetrag von € 51.001,00. 219 BGH vom 05.05.2011 - 1 StR 116/11, Lexitus.com/2011, 2546 BGH vom 30.04.2009, NJW 2009, 2319; BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133, 1136 221 so ausdrücklich Salditt, PStR 2009, 15, 18 222 so wohl auch die Einschätzung von Salditt, PStR 2009, 25, 28 223 so z. B. Bielefeld / Prinz, StB 112, 116 220 57 Die Verteidigungspraxis wird sich jedoch an diesen – mit seinem aktuellen Beschluss vom 05.05.2011 noch einmal ausdrücklich vom 1. Strafsenat bekräftigten – Vorgaben orientieren müssen. Selbiges gilt auch für die Unwirksamkeit einer Teilselbstanzeige und den Voraussetzungen der diesbezüglichen Sperrgründe. Auch nach der Novellierung des § 371 AO wird die Rechtsprechung des 1. Strafsenats zur Unwirksamkeit der Teilselbstanzeige in Zukunft für die Praxis der Erstattung von Selbstanzeigen enorme Bedeutung haben. Vor einer (erneuten) Selbstanzeige werden in jedem Fall die gesamten vorherigen steuerlichen Verhältnisse des Steuerpflichtigen daraufhin untersucht werden müssen, ob dieser zuvor in noch nicht strafverfolgungsverjährter Zeit bereits eine Selbstanzeige abgegeben hatte. Darüber hinaus werden in der Beratungspraxis - im Hinblick auf die möglichen Konsequenzen der Unwirksamkeit einer Teilselbstanzeige - verstärkt die vom 1. Strafsenat gestellten Anforderung einer Selbstanzeige von dem Berater mit seinem Mandanten ausführlich erörtert werden müssen. Insbesondere wird dieser - auch aus haftungsrechtlichen Gründen des Beraters - ausdrücklich auf das Erfordernis der Vollständigkeit einer Selbstanzeige zur Erlangung der Straffreiheit hingewiesen werden müssen. Zugleich wird durch die Vorverlagerung zur Tatentdeckung bei vom 1. Strafsenat als sogenannte verschleierte Steuerquellen bezeichnete Einkunftsquellen, bei denen die Art und Weise der Verschleierung nach kriminalistischer Erfahrung ein signifikantes Indiz für unvollständige oder unrichtige Angaben sein kann, der Zeitdruck zur Abgabe einer Selbstanzeige in vielen Fällen erhöht. Ein solches Indiz könnte in der Praxis bei fast allen ausländischen Einkünften bejaht werden, so dass zu befürchten ist, dass die ermittelnden Finanzbehörden zukünftig die Wirksamkeit einer insoweit abgegebenen Selbstanzeige selbst dann schon in Abrede stellen werden, wenn sie nur Kenntnis von solchen Einkünften haben, ohne dass bereits durch einen entsprechenden Abgleich mit den Steuererklärungen festgestellt wurde, dass diese nicht erklärt worden sind. Die diesbezügliche Vorverlegung der Tatentdeckung des 1. Strafsenats widerspricht jedoch teilweise vehement der bisherigen Handhabung der finanzbehördlichen Praxis, insbesondere in den Fällen des Entdeckens ausländischer Kapitalerträge, die sich häufig für die Finanzbehörden als „Massefälle“ (so z.B. die Luxemburg bzw. Schweiz-Fälle der letzten Jahre) herausstellen. Da bei diesen aufgrund der Vielzahl der mit ausländischen Banken in Verbindung stehenden deutschen Steuerpflichtigen mit einem sehr hohen Ermittlungsaufwand seitens der Finanzbehörden zu rechnen ist, werden hier häufig - obwohl die Tat nach der Rechtsprechung des 1. Strafsenats schon entdeckt ist und somit ein Sperrgrund nach § 371 Abs. 2 AO vorliegen würde -, die entsprechenden Steuerpflichtigen angeschrieben, diesen noch Gelegenheit zur Nacherklärung gegeben und ihnen in Aussicht gestellt, dass die Berichtigung als Selbstanzeige gewertet würde. Dem 1. Strafsenat scheint diese Handhabung offensichtlich nicht unbekannt zu sein, weshalb er auch in seinem Beschluss vom 20.05.2010 noch einmal ausdrücklich darauf hinwies, dass nach § 58 386 Abs. 4 Satz 2 AO eine Pflicht zur Beteiligung der Staatsanwaltschaft durch die Finanzbehörden auch und gerade dann bestehen solle, wenn zu entscheiden sei, ob eine wirksame Selbstanzeige im Sinne von § 371 AO gegeben sei224. Ob dieses - angesichts der insbesondere im Zusammenhang mit ausländischen Kapitalerträgen massenhaft vorkommenden Selbstanzeigen - tatsächlich geschehen wird, wird in der Praxis abzuwarten bleiben. Zweifellos müssen sich die Berater bei Selbstanzeigen bis auf weiteres an der Entscheidung des 1. Strafsenats orientieren, um die Risiken für ihre Mandanten auszuschalten. Wie Wessing und Biesgen225 es treffend beschrieben haben, ist die Selbstanzeigeberatung durch die Rechtsprechung des 1. Strafsenats damit für den Berater und den Mandanten “noch mehr zur gefahrgeneigten Arbeit“ geworden. 224 225 BGH 1 StR 577/09 vom 20.05.2010, DStR 2010, 1133, 1136 Wessing / Biesgen, NJW 2010, 2689, 2692