Hörfunk – Bildungsprogramm

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Hessischer Rundfunk
Hörfunk – Bildungsprogramm
Redaktion: Dr. Regina Oehler
WISSENSWERT
Bauchentscheidungen
Von Regina Oehler
Sendung: 14.09.2007, 8:30 bis 8:45 Uhr, hr2
07-082
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– Bauchentscheidungen 1 –
Anmoderation:
Weniger ist mehr – diese Maxime gilt auch in schwierigen Entscheidungssituationen.
Oft hilft es nicht, wenn wir immer weiter nach noch mehr Informationen suchen und
die Argumente im Kopf hin- und herwälzen. Oft empfiehlt es sich, einfach “aus dem
Bauch heraus” zu entscheiden. Was macht solche “Bauchentscheidungen” so
treffsicher? Auf was stützen sich unsere Intuitionen? Wie vernünftig oder
unvernünftig sind sie? Wann führen sie uns in die Irre? Dazu haben Psychologen
und Hirnforscher inzwischen eine Menge zu erzählen. Und nicht nur
Wirtschaftsexperten suchen das Gespräch mit ihnen, weil ihnen zunehmend klar
wird, wie sehr auch sie sich tagtäglich auf Bauchentscheidungen verlassen.
Hören Sie dazu einen Wissenswert-Beitrag von Regina Oehler:
O-Ton 1:
Ich weiß nicht, was ich tue in meinem Fach. Ich hoffe, ich mache was
leidlich Vernünftiges. Aber wie das funktioniert, dass wir imstande sind,
mit unendlich viel Information vernünftig fertig zu werden, das treibt
mich am meisten um.
Christoph Engel sagt das, von Berufs wegen Jurist, Direktor am Max-Planck-Institut
für die Erforschung von Gemeinschaftsgütern in Bonn. Er hat schon lange den
Verdacht, dass seine Profession sich viel mehr auf Intuition verlässt als vielen
Anwälten, Richtern und Geschworenen bewusst ist. Das Bauchgefühl als
Grundlage weitreichender juristischer Entscheidungen?
O-Ton 2:
Also ich versuche es den Studenten immer so zu erklären: Das Erste,
was sie verstehen müssen, ist, die Juristerei, ist logisch; das Zweite, was
sie verstehen müssen, ist, die Juristerei ist nicht logisch. Beides ist
gleichzeitig richtig. Wir sagen, es gibt eine Oberflächenstruktur von
Regeln, die voll ausgearbeitet sind und die selbstredend eingehalten
werden müssen. Aber das Zentrum des jeweiligen Falles liegt immer ein
Stückchen quer dazu. Und manchmal finden wir wenigstens Worte dafür,
oft stammeln wir nur. Und das Entscheidende ist dieses Gespür dafür zu
kriegen, dieser Fall liegt in dieser und nicht in jener Richtung.
Man kann dieses Gespür “Intuition” nennen, man kann von einem unbewussten
Entscheidungssystem sprechen, wie das manche Neurobiologen tun, oder aber von
– Bauchentscheidungen 2 –
einer “Bauchentscheidung” - dafür plädiert der Psychologe und
Entscheidungsforscher Professor Gerd Gigerenzer:
O-Ton 3:
Nun, ich nehme den Begriff Bauchentscheidung synonym mit Intuition,
und eine Intuition ist gefühltes Wissen, das drei Eigenschaften hat,
nämlich: es ist schnell im Bewusstsein, man weiß aber nicht, warum man
das im Bewusstsein hat, also die Gründe sind unbekannt, und drittens:
es ist dennoch stark genug, um zu handeln.
Bauchentscheidungen treffen wir rasch, ohne dass wir uns die Gründe dafür bewusst
machen können. Wie gut solche Bauchentscheidungen sind, hat Gerd Gigerenzer,
Direktor am Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, in vielen
Studien untersucht. Zum Beispiel mit Spitzensportlern, denen er im Experiment
schwierige Entscheidungen abverlangte.
O-Ton 4:
In einer Studie wurden Handballspieler untersucht, also gute Handballspieler, die vor einem Video standen, wo ein Top-Spiel ablief. Sie hatten
10 Sekunden Zeit das anzusehen, dann wurde es eingefroren. Dann
wurden sie gefragt: Was würden Sie machen, wenn Sie der Mann mit
dem Ball wären?
Ganz spontan mussten die Profis antworten, ‚Auf’s Tor schießen‘, sagten sie dann
zum Beispiel, oder ‚den Ball nach links abgeben‘.
O-Ton 5:
Und dann wurde ihnen nochmals 45 Sekunden Zeit gelassen, so dass sie
das immer noch gefrorene Bild genau inspizie ren konnten. Und oft
haben sie entdeckt, ach da ist noch ein Spieler rechts, und sie haben
weitere Optionen generiert. Und am Ende wurden sie gefragt: Was
würden Sie jetzt machen? Und in fast der Hälfte der Fälle haben sich die
Spieler für was anderes entschieden. Frage: Wie gut ist die Spontanentscheidung verglichen mit der Entscheidung nach vielmehr Wissen,
nach vielmehr Zeit? Antwort: Im Schnitt ist sie besser.
“Intuitiv” hatten sich die Profis gleich beim erstenmal richtig entschieden. Je länger
sie zeit zum Überlegen hatten, desto schlechter wurden die Lösungen, die sie
vorschlugen. Der Psychologe Gerd Gigerenzer kann den Juristen Christoph Engel
– Bauchentscheidungen 3 –
also trösten: er tut gut daran, intuitiv zu urteilen – vorausgesetzt, er ist ein
kompetenter Experte auf seinem Gebiet. Denn für Anfänger gelten die Ergebnisse
von Gigerenzer nicht.
Was macht Bauchentscheidungen so treffsicher? Haben Bauchentscheidungen
tatsächlich zu tun mit Körperempfindungen, zum Beispiel mit Rückmeldungen von
unseren Eingeweiden an das Gehirn?
O-Ton 6:
Zum Teil. Ich denke, dass viele der Bauchgefühle erklärt werden können
durch relativ einfache Suchstrategien, die wir als Heuristiken
bezeichnen. Dazu gehört zum Beispiel, nach dem ersten guten Grund zu
gehen. Sie überlegen sich vielleicht sehr lange, ob Sie das eine Auto
oder das andere wollen, aber dann haben Sie alle Information, aber Sie
wissen wie Gewichte nicht. Aber Sie denken sich, na ja, dann gehe ich
mal nach dem Auto, das meine Frau will.
Es ist sehr oft der erste “gute Grund”, der eine Entscheidung bestimmt. Der uns
festlegt, bevor wir uns dessen überhaupt bewusst sind. Und das hat Folgen, auch für
die Juristerei:
Schöffen zum Beispiel müssen sich eine Menge widersprüchlicher Aussagen
anhören und dann zu einem Urteil finden. Für ihre Entscheidung ist es nicht
gleichgültig, in welcher Reihenfolge sie die sehr unterschiedlichen “guten Gründe
” zu hören bekommen. Der Bonner Jurist Professor Christoph Engel fragt sich
deshalb:
O-Ton 7:
Wie kriegen wir es dennoch hin, dass wir ein gewisses Vertrauen in
diese Entscheidungsprozesse haben können? Und da kann man sich
schon – wenn man eine Vorstellung hat, wie der Prozess funktioniert –
Gedanken darüber machen, wie die Institutionen besser aussehen
sollten. Ein ganz konkreter Punkt: wir machen – sowohl in Amerika wie
in Deutschland – keine Vorgaben darüber, wie die Parteien die
Information vortragen. Wenn man die Prozesse kennt, die dahinter
liegen, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass diese Reihenfolge dafür
maßgeblich ist, wie sich langsam ein Bild im Kopf des Jury-Mitglieds
zusammensetzt. Und die Frage ist, ob wir nicht zu aktiveren Richtern
übergehen müssten, die diesen Prozess der Präsentation der Evidenz
viel stärker strukturieren.
– Bauchentscheidungen 4 –
Doch selbst dann wird es schwierig bleiben, die individuellen Entscheidungsprozesse
Schritt für Schritt nachzuvollziehen – wo doch bei jeder Entscheidung ganze Bündel
von bewussten und unbewussten Motiven zusammenspielen. Für Christoph Engel ist
es deshalb wichtig, dass die Juristen eng mit Psychologen im Gespräch sind – und
mit Hirnforschern.
Einfache Antworten haben die freilich erst recht nicht zu bieten -und das ist auch kein
Wunder, sagt Professor Wolf Singer,
O-Ton 8:
wo es doch im Gehirn kein Zentrum gibt, das allein entscheiden könnte,
sondern es sich um ein System handelt, das aus vielen Teilsystemen
zusammengesetzt ist, die miteinander kommunizieren und in diesem
gleichzeitigen miteinander vernetzten Palaver schließlich zu einer
Entscheidung, zu einem Ergebnis kommen. Und wie dieser Selbstorganisationsprozess sich vollzieht, von welchen Bedingungen er
abhängt - da spielen Motivationen eine Rolle, augenblickliche
Bedürfnisse, die Kosten, die man eingehen muss, wenn man eine
bestimmte Handlung vollbringt - also wie dieser Optimierungsprozess
abläuft, von welchen Variablen er abhängt, und wie trotz der Verteiltheit
der unterschiedlichen Rechenergebnisse oder Rechenprozesse dann
eine einheitliche Entscheidung zustande kommt, eine, die möglicherweise sogar von ihren Begründungen her bewusst wird - wobei es
natürlich andere Entscheidungen gibt, die zwar stattfinden, aber nicht
bewusst begründet werden können, weil man die Argumente nicht findet
oder die Gründe, die dazu geführt haben - wie das alles funktionieren
soll, das versuchen wir hier wenigstens soweit wir es wissen zur Zeit
einzugrenzen.
Wolf Singer, Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt, hat eine
neue Konferenz-Reihe mitbegründet, das Ernst-Strüngmann-Forum, und gleich das
erste interdisziplinäre Treffen widmete sich dem Thema “Entscheidungen”. Das
Gespräch zwischen führenden Neurobiologen, Psychologen, Juristen und
Wirtschaftswissenschaftlern hielt einige Überraschungen bereit.
O-Ton 9:
Ich glaube, wir waren alle, als wir hingegangen sind, der festen Meinung,
es gibt ganz klare Grenzen zwischen bewussten und unbewussten
Entscheidungen, es gibt ganz klare unterschiedliche Strategien für die
beiden Entscheidungsmechanismen. Zumindest in unserer Gruppe
zeichnet es sich immer mehr ab, dass die Grenzen möglicherweise
fließend sind, dass das Nervensystem Mittelwege finden kann, die
beiden Systeme - falls es sie nun wirklich als abgegrenzte geben sollte -
– Bauchentscheidungen 5 –
unterschiedlich mit ins Spiel zu bringen. Ich glaube, wir stehen noch vor
einigen Überraschungen.
Bauchentscheidungen sind also vielleicht gar nicht so kategorial verschieden von
bewusstem Überlegen – vielleicht nehmen wir uns da nur nicht die Zeit, uns selber zu
verwirren.
Bewusste, durchreflektierte Entscheidungen beginnen mit dem Kramen im
Gedächtnis:
O-Ton 10:
Dazu muss man Inhalte aus dem deklarativen Gedächtnis auslesen. Die
sind dort nur hineingelangt, weil sie unter der Kontrolle der Aufmerksamkeit erlernt worden sind, und diese muss man dann - zumindest ist das
bei Menschen so - auf sprachlicher Ebene verhandeln. Es gibt aber
möglicherweise auch bei Tieren diese Ebene der Entscheidungsbildung,
wobei natürlich dann die Argumentation nicht sprachlich erfolgt,
sondern im vorsprachlichen Bereich, wie bei ganz kleinen Kindern, die ja
wahrscheinlich auch diese beiden Mechanismen parallel haben. Und
dann gibt es das zweite System, das sich auf Informationen stützt, die
können bewusstseinsfähig sein, aber sind in dem Moment, wo sie
verwendet werden, nicht im Bewusstsein. Und ein Teil der Information
wird da nie bewusst, Sie wissen nicht, wie hoch der Zuckerspiegel ist,
Sie wissen allenfalls, dass Sie hungrig sind. Und diese Entscheidungen –
typischer Fall ist das Sich-Retten aus einer kniffeligen Verkehrssituation
- da muss alles sehr schnell gehen. Und man wird eine Vielzahl von
Variablen da mit einbeziehen, hätte aber niemals die Zeit, die jetzt ins
Bewusstsein zu heben und Berechnungen anzustellen über Bremswege,
Beschleunigungen und Verzögerungen - dann wäre alles zu spät. Die
Frage ist nur, ob diese beiden Mechanismen nach gleichen Prinzipien
und Kriterien arbeiten oder vielleicht ganz verschieden, und wer
bestimmt, welcher Mechanismus gerade eingesetzt wird.
Fragen über Fragen, zu denen die Expertinnen und Experten noch viel zu wenig
wissen, um aus dem Bauch heraus die richtigen Antworten darauf finden zu können.
Fragen, die aber unser Problembewusstsein schärfen sollten: Denn nicht nur die
Juristen sind tagtäglich auf ihre Intuition angewiesen. In der Medizin, in der Politik, in
der Wirtschaft, überall bestreiten Fachleute ihren Alltag mit Hilfe von
Bauchentscheidungen – Und verhalten sich damit ganz anders als in all den vielen
wissenschaftlichen Modellen, die ihr Handeln erklären und vorhersagbar machen
sollen.
De Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Professor Reinhard Selten sagt
deshalb selbstkritisch:
– Bauchentscheidungen 6 –
– Bauchentscheidungen 7 –
O-Ton 11:
Für mich ist besonders der Dialog mit dem Psychologen von Bedeutung,
weil wir in der Wirtschaftswissenschaft vor dem Problem stehen, dass
die traditionelle Art, Entscheidungen zu modellieren, also die Art, wie
Entscheidung gefällt wird, eigentlich gescheitert ist. Man muss eben die
Idee aufgeben, dass das Verhalten des Menschen durch das Bild eines
voll rationalen Individuums approximiert werden kann, ein Individium,
das also überhaupt keine Grenzen der Rechen- und Denkfähigkeit hat
und sofort alles weiß, was man überhaupt berechnen und sich
ausdenken kann.
Wirtschaftswissenschaftler haben sich in der Vergangenheit viel zu wenig Gedanken
darüber gemacht, wie die Melange aus Erfahrungen, Motiven, und Stimmungen
unsere Entscheidungen beeinflusst, ohne dass wir es bemerken. Die Folge:
O-Ton 12:
Na ja, es ist vor allem so, dass die Entscheidungen wichtiger Personen
wahrscheinlich sehr viel weniger gut vorhersagbar sind, als man das
glaubt.
Fest steht allerdings, dass wir Menschen gründlich verwirren können, wenn wir sie
bitten, über ihre Bauchentscheidungen nachzudenken. Der Psychologe und
“Entscheidungsexperte” Gerd Gigerenzer:
O-Ton 13:
Wenn Leute da sind, die eine hohe Expertise haben, dann ist es in der
Regel so, dass die erste spontane Option, die ihnen einfällt, eine gute
Chance hat, die bessere zu sein. Wir wissen auch – bleiben wir noch mal
beim Beispiel Sport -, wenn man zu viel Aufmerksamkeit auf eine solche
im Körper verankerte Kapazität richtet, dann kann das störend wirken.
Und Sie können das auch strategisch einsetzen: Wenn Sie Tennisspielerin sind und mit Ihrer Partnerin spielen, und die hat heute eine so
starke Vorhand, dass Sie nicht wissen, wie Sie damit umgehen sollen,
dann können Sie ja Folgendes machen: Wenn Sie die Seiten wechseln,
dann können Sie ihr sagen: “Mensch, Du hast eine solche starke
Vorhand, wie machst Du denn das?” Dann haben Sie eine gute Chance,
dass sie beginnt darüber nachzudenken und die Vorhand nicht mehr so
gefährlich ist.
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