Tilman Rhode

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8. Globalisierung – Lokalisierung – Eine Welt?
Über den Umgang mit einem Generalschlagwort
1. Einführung
„Globalisierung“ ist ein Generalschlagwort geworden. Es ist eine Zeitsignatur für eine
neue Weltordnung, ein ideologischer Schlüsselbegriff für den Mythos einer freien
Weltwirtschaft und für die große Erzählung von universalen Menschenrechten und der
Wohlfahrt der Menschen. (Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie sieht in dem
Wort „Globalisierung“ dagegen ein Plastikwort, das zu einem unbrauchbaren
Schlagwort verkommen sei; er schlägt vor, das Wort „global“ durch den Terminus
transnational zu ersetzen, von weltweiten Verflechtungen regionaler Kräfte zu sprechen
und auf holistische Betrachtungsweisen ganz zu verzichten. Leggewie 2003, 16f)
Der Begriff ist so mächtig, wirksam und umfassend, dass er geordnet und in seinen
Ebenen (Ökonomie, Kultur, Kommunikation und politische Arena) ausgeleuchtet
werden muss, ehe man selber damit arbeiten oder gar Lernende damit befassen kann. Im
folgenden Abschnitt 2. wird der Begriff der Sache nach entfaltet; im Abschnitt 3. wird
in einer Synopse der letzten Dekade (1994-2003) die fachdidaktische Situation im
Spiegel wichtiger unterrichtspraktischer Zeitschriften vorgestellt; darin wird die
Geschichtlichkeit der jeweiligen Grundüberzeugungen zum Thema erkennbar und
außerdem die Fülle der bereits vorliegenden praktischen Themenideen und Ansätze
vorgeführt. In einem letzten Abschnitt 4. wird die Sachebene in Form eines Quaders
dargestellt, damit die Komplexität des Begriffs überschau- und bearbeitbar und das
Schlagwort vom „vernetzenden Denken“ praktisch wird (vgl. Kapitel 10). Außerdem
werden die didaktischen Grundideen vom Perspektivenwechsel und vom
„verständnisintensiven Lernen“ skizziert; damit sollen die älteren Bemühungen um
einen rein stoff- und wissensbasierten Unterricht abgelöst werden (vgl. Kapitel 5.), die
der Dynamik der Ereignisse und der modernen Lernpsychologie nicht immer gerecht
werden konnten.
„Globalisierung“ begegnet uns auf Schritt und Tritt, bei Mangos und Victoriabarsch auf
dem Markt, beim internationalen Terrorismus, bei Welthandelskonferenzen, bei der
täglichen Börsenmeldung, bei AIDS und SARS – fast kann man sagen: Es gibt nichts
mehr, was nicht mit allem zusammen hängt; und alles ändert seine Identität. Der
Fußballtrainer Ewald Lienen hat das so erfahren:
„Ich habe einen Trainerfreund in Brasilien, der mir eine E-mail geschickt hat: ‚Die Welt
wird auf den Kopf gestellt! Der beste Golfer ist ein Schwarzer, der beste Rapper ist ein
Weißer, und Deutschland nimmt nicht am Krieg teil!’ “
(Ewald Lienen: Der Rasen muss brennen. In: Die Zeit 19/2003)
Das ist die Ebene, auf der sich die „Sachen“ selbst objektiv verändern. Eine andere
Ebene ist die Veränderung, die durch die Beobachtung der Dinge, also im Kontakt mit
Subjekten entsteht, die man so oder auch anders sehen kann. Zum Beispiel in folgender
kleiner Erzählung:
„In Coney Island, am Strand von New York, gibt es den berühmten Vergnügungspark.
Sie haben da ein neues Spiel, es heißt: ‚Shoot the Freak’. Der Freak ist ein Typ in
Motorradklamotten, der in einem verwilderten Garten herumläuft. Man steht hinter
einer Mauer und bekommt ein Gewehr. Aus dem Gewehr kommen Plastikkugeln. Wenn
eine Kugel den Freak trifft, taumelt er und gibt röchelnde Geräusche von sich. Ein
1
Ansager sagt: ‚Es ist neu. Es ist Fun. Sie schießen auf ein echtes lebendes Ziel. Fünf
Schuss, zwei Dollar.’
Früher haben die deutschen Eltern zu ihren Kindern gesagt: ‚Alles, was in Amerika
gerade modern ist, kommt früher oder später auch bei uns an’. Amerika war sozusagen
Deutschland, nur zeitverschoben. Das sagt man heute nicht mehr. Früher war Amerika
die Zukunft, heute ist es ein anderes Land, mit eigenen Sitten und einer eigenen
Zukunft. Ungefähr wie Belize oder der Kongo.’ “
(Harald Martenstein: Freiheit. In: Die Zeit 19/2003, 48)
Hier verändert sich ein Land, eine Sache, in der Anschauung und Erfahrung durch ein
Subjekt. Und diese Veränderung der Wahrnehmung geht keineswegs einfach in die
Richtung der Uniformierung und Homogenisierung; es wird nicht einfach alles nur
„westlich“ oder „Amerika“ oder „McDonald“; die USA können uns in Teilen so fremd
werden wie Belize oder der Kongo. „Globalisierung ist kein Schicksal, eine andere Welt
ist möglich“, sagt die transnationale Gegenfeuer-Bewegung attac (www.attac.de).
Wer „Globalisierung“ verstehen oder auch nur bewusst betrachten will, muss also nicht
nur den Standort der Betrachtung, sondern auch der Gegenstand selbst neu definieren.
Man kann nicht nur von Ökonomie und Verflechtung und vom Maßstab der
europäischen Stadt und Gesellschaft ausgehen und alles andere als katastrophisch
bewerten:
„Bis heute gilt die europäische Stadt als beispielhafte Exportmodell. Als Hort
bürgerlicher Emanzipation, kultureller Vielfalt und ökonomischer Innovation spiegelt
sie die für überlegen gehaltene europäische Zivilisationsgeschichte. Doch erst das
industrielle Zeitalter und die Kolonialisierung verbreiten das europäische Stadtmodell
weltweit. Diese geschichtlich kurze Vorherrschaft der Städte Europas und
Nordamerikas als Leitmodelle für globale Urbanisierungsprozesse geht nun zu Ende. –
Für das Jahr 2015 prognostiziert die Uno 33 Megastädte mit je mehr als acht Millionen
Einwohnern. Infolge ihrer kaum steuerbaren Dynamik entstehen in den MegaCities
neue urbane Kulturen und städtische Landschaften, die das städtebauliche, kulturelle
und organisatorische Modell der europäischen Stadt auf eine eher unbedeutende
regionale Variante zurückstufen.“ (Learning from* 2003)
In Kapitel 9. wird eine Unterrichtseinheit zur globalen Verflechtung und zur Lebenswelt
in den großen Städten entworfen. Es kommt dabei darauf an, nicht einfach die regulierte
Stadtgesellschaft als Norm und städtisches Leben jenseits der europäisch verstandenen
civitas als Katastrophe ohne vorgeprägte Bilder zu erkennen. Es sind – jedenfalls für
uns - widersprüchliche Realitäten zwischen höchster Funktionalität in vermeintlich
irregulären Ökonomien und Gesellschaftsformen, überlagert oft von staatlicher
Unterrückung, Staatszerfall und mafiöser Gewalt. Mit der Globalisierung kehren diese
Formen durch die Hintertür auch in die europäischen Städte ein: sweatshops,
Armutsökonomien (Tauschbörsen, „Bring´s und Kauf´s“), Korruption, Mafia,
Videoüberwachung und no-go-areas lassen die Norm der bürgerlich geordneten Stadt
als konstruiertes Selbstbild deutlich werden. Dies wird sich mit der Osterweiterung der
EU und den neuen Außengrenzen zur Ukraine, zu Weißrussland, später evtl. auch zum
Irak etc. verstärken.
In der Berliner Ausstellung „Learning from* - Städte von Welt, Phantasmen der
Zivilgesellschaft, informelle Organisation“ (mit einem anregenden Katalog, 2003)
werden diese Formen und Lebensweisen als „dirty realism“ präsentiert, in
nachmachbaren Videosequenzen, Computertrailers, Installationen: Die großen
informellen Märkte mit Autoteilen und Kofferhändlerinnen in Osteuropa, die
2
Gececondus und der öffentliche Verkehr in der 13-Millionen-Stadt Istanbul, das
hochkomplexe System der informellen Essensverteilung durch 5.000 „Dabbawallas“ in
Bombay, das Außerkraftsetzen der Bürgerrechte und der Privatsphäre in Nordirland, der
extreme Umbruchsprozess in afrikanischen Städten nach dem offiziellen Ende der
Apartheid u.a.
2. Globale Verflechtungen auf der Ebene der Sachen
Seit 1989 (und vermutlich weiter im Gefolge des 11.September 2001) ist die
Umwälzung der Weltordnung – wieder einmal – derart fundamental, dass zumindest
eine Bestandsaufnahme des status quo, ein neuer Atlas nötig geworden ist. Grenzen,
Lagebeziehungen und Einflussräume, ökonomische, politische und soziale Fixpunkte,
die Geopolitik haben sich vielfach bewegt. Es ist eine andere Welt entstanden; Begriffe
wie „Erste“ oder „Dritte Welt“ oder „Ostasiatischer Kulturerdteil“ sind veraltet und
erschließen die Verhältnisse nicht mehr (vgl. Kapitel 4.). Dies gilt auch für tradierte
regionale Weltbilder in Schullehrplänen.
Karten und Kartogramme, Statistiken und Grafiken sind das erste Werkzeug in der
Geographie für eine solche Bestandsaufnahme.
„Geographie ist nicht nur die Königsdisziplin der Strategen und Eroberer, sondern auch
die Kunst, die Welt zu enthüllen, verborgene Tendenzen und verdeckte Veränderungen
fassbar zu machen. Als – gleichsam zweidimensionales – Miniaturmodell erlauben es
Atlanten, den Planeten zu ‚lesen’: sprich: auf dem Schachbrett der Welt die politischen,
wirtschaftlichen und militärischen Kräfteverhältnisse, die Grenzstreitigkeiten und
Gebietsanspruche zu erkennen, die natürlichen Ressourcen zu verorten und die
Wanderungsbewegungen der Völker wahrzunehmen.“
(Ignacio Ramonet: Im Labyrinth der Gegenwart. In: Atlas der Globalisierung. Berlin
2003, 5)
In dieser Definition von Geographie stecken die drei wichtigsten Aspekte der
„Weltbeschreibung“: (1) Es gibt verschiedene Dinge (Ressourcen,
Wanderungsbewegungen etc.) wahrzunehmen und zu verorten. (2) Es gilt auch
Verborgenes/ Verdecktes zu enthüllen. (3) Die Welt ist zu verstehen wie ein
Schachspiel; die Figuren und Regeln bedeuten für sich genommen gar nichts, sondern
erst etwas im konkreten Spiel, und womöglich in jedem Spiel etwas anderes. (So ist z.B.
die Schach-Königin für sich genommen nur ein Stück Holz oder Elfenbein; nach den
Regeln ist sie zwar die theoretisch Mächtigste, aber nicht automatisch auch die
praktisch Stärkste; was sie kann, entscheidet sich je nach Akteuren und nach dem
konkreten Spielprozess.) - Alle drei Aspekte gehören zum „Lesen“ der Welt; dies ist
aber mehr als Kartierung oder Zählung, es ist (fast) eine Kunst.
Die Dynamik der Globalisierung hat unzählige Bereiche verändert bzw. ist durch diese
verändert worden - unterschiedlich jedoch an verschiedenen Schauplätzen und
wiederum unterschiedlich je nach Perspektive der Akteure. Wir sollten z.B. nicht nur
sagen: „Klimawandel“, sondern „Klimawandel aus der Sicht der USA – genauer: der
derzeitigen Regierung der USA“ (oder Australiens etc.). Wir differenzieren noch weiter:
„Klimawandel in seinen Folgen für den Mittleren Westen der USA“ (oder für das
Nildelta oder für Sibirien etc.). Folgende Symptome kann man u.a. nennen (vgl.
Ramonet im „Atlas der Globalisierung“ 2003):
3
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Durchbruch des Internets
Krise oder Ende des Sozialismus und des Kommunismus
Renaissance des Nationalismus
Ethnische und religiöse Spannungen
Migration
neue Pandämien
Umweltgefährdung und länderübergreifende ökologische Bewegungen
regierungsunabhängige Organisationen (NGOs)
reduzierte Autonomie der Regierungen
Bedeutungsverlust der politischen Parteien
Macht von Finanzmärkten und Weltkonzernen
Wuchern von Steuerparadiesen
Verschuldung der Länder des Südens
Entwicklung einer „Triade“ oder Hegemonie der Hypermacht USA
Eine Bestandsaufnahme, ein Atlas der Globalisierung müsste die entsprechenden
genannten Betrachtungsweisen erlauben und die notwendigen Dinge auswählen, aus
dem Übermaß des Wissens. Die Auswahl ist eine Setzung, ein Teil der Konstruktion
eines Weltbildes.
Im „Atlas der Globalisierung“ von Le Monde Diplomatique (2003) sind dies 7 SachKomplexe (mit jeweils 5 bis 8 Unterthemen), die die Globalisierung und ihre Folgen
beschreiben und enthüllen. (Man kann dies vor dem Hintergrund der Debatte um die
sog. „epochaltypischen Schlüsselprobleme“ nach Wolfgang Klafki (1995) betrachten,
die auch in der Geographiedidaktik eine bedeutende Rolle spielen.)
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Welt als Globales Dorf
(Vernetzte Welt im Kommunikationszeitalter, Luftverkehr und Schifffahrt, Sprachen
und ihre Verbreitung, Weltmarkt der Medien, Wachstumsbranche Massentourismus)
Globaler Markt
(Natürliche Ressourcen, Weltumspannende Handelsströme, das dominante Dreieck,
Bedeutung der Auslandsdirektinvestitionen, Schuldenfalle, Macht der Multis,
Finanzmärkte und spekulative Geldströme, Korruption, Geldwäsche, Steuerparadiese)
Rüstung und internationale Strukturen
(Verteidigungsausgaben, Waffenarsenale und Militärbündnisse, Waffenhandel,
Internationale Organisationen und Militärbündnisse, Internationale Gerichtsbarkeit,
Netz der Non Governemental Organisations (NGOs))
Technologischer Fortschritt und soziale Verwerfungen
(Bruttosozialprodukt und globales Wohlstandsgefälle, Lebensmittelkonsum und
Energieverbrauch, Konzentration des Reichtums, Demographische Entwicklung,
Globale Migrationsströme, Gefängnisse und Häftlinge)
Gefährdete Umwelt
(Verstädterung, Klimawandel, Gesundheit als öffentliches Gut, alte und neue
Umweltkatastrophen)
Demokratie und sozialer Fortschritt
(Alphabetisierung und Weltwissen, Volkssouveränität, Freiheitsrechte und politische
Gefangene, Arbeitsnehmerrechte und Gewerkschaft, Arbeit und ungleiche Bezahlung,
Frauen und Rechte, Frauen und politische Teilhabe, Homosexualität)
Umkämpfte Welt
(Entkolonialisierung und Zerfall der Großreiche, alte und neue Konflikte,
Identitätspolitik und Rassismus, Glaube und seine Instrumentalisierung, Flüchtlinge,
Vertriebene und Asylsuchende)
4
Diese Liste, die natürlich wie jede andere eine Entscheidung über Prioritäten der
Betrachtung, eben über die Schlüsselprobleme unserer Epoche ist, bildet objektive
Ergebnisse der Globalisierung ab: Wie verlaufen die Datenautobahnen, wie sind
weltweit die Internetanschlüsse verteilt, wie verlaufen die Verkehrsströme, wie
verlaufen die Tourismusströme, von wo nach wo gehen die Einnahmen usw. Das sind
hochinteressante Bilder, die die Welt in ganz andere Regionen und Größenverhältnisse
und Prozesse versetzen als flächen- und formtreue Karten. (Jedes der oben genannten
Stichworte ist im „Atlas der Globalisierung“, 2003, mit einer Karte und Doppelseite
Text und Grafiken vertreten.)
Ebenso spannend ist es, wenn man diese und andere Themen nach Schauplätzen
betrachtet und dies aus der Sicht verschiedener Akteure. Beispiel: Aus Sicht von
Osteuropa ist die Marktwirtschaft ein Schock mit gnadenlosem Zwang zur
Transformation; zugleich werden einige Länder zerrissen in Bürgerkriegen aus
eingefrorenen Konflikten, sie erleben einen Kulturschock und müssen sich als Staaten
und Bündnispartner völlig neu konstituieren. Hier geht es nicht einfach um eine Karte
mit Kapital- oder Warenströmen. Auch Europa insgesamt muss sich neu konstituieren
und sieht die Globalisierung anders als die USA. Russland wiederum hat eigene
Probleme innerhalb der Globalisierungsdynamik, es ist keine Supermacht mehr, hat
seine eigene Hemisphäre verloren, hat schwere Probleme mit den alten Nachbarn und
Vasallen, mit Ethnien und Religionen und mit den Resten der alten Nomenklatura und
den Nachfolgern, den „bisnismen“ und der Mafia. Japan hat eine eigene Sicht; diese ist
von der Chinas gänzlich unterschieden; von der des restlichen Mittel- und Ostasiens
(Korea, Afghanistan etc.) ganz zu schweigen. Der Nahe Osten hat viel Erdöl, wenig
Wasser, eigene und langjährige Probleme mit Ethnien, Religion, nation-building; diese
unterscheiden sich von den Problemen im Maghreb und vom Subsahara-Afrika. (Auch
zum Blickwinkel „Schauplätze und Akteure“ gibt es zahlreiche Doppelseiten im „Atlas
der Globalisierung“)
Kurz: Alle leben unter demselben Himmel (Globalisierung), haben aber ganz
verschiedene Horizonte.
Für die analytische Ansprache anspruchvoller Sachverhalte hat Leggewie (2003, 19) ein
Tableau zusammengestellt, in dem die Aspekte eines erweiterten
Globalisierungsbegriffs erkennbar gemacht und in einen Zusammenhang gebracht
werden.
Schaubild Leggewie 2003, 19
Aspekte eines erweiterten Globalisierungsbegriffs (Leggewie 2003, 19)
5
Dieses Schaubild hilft, geordnet zu analysieren und zu verorten, worüber gerade geredet
wird. 1. Globalisierung hat zwei Dimensionen: Weltwirtschaftliche Verflechtung und
Ideologie/ Lebensweisen. 2. Die neue Weltgesellschaft wird geschaffen durch einen
globalen Kommunikationsraum. 3. Die neue Weltkultur ist gekennzeichnet durch
kulturelle Wechselwirkungen (Kreolisierung). 4. Die Tendenz zur Entgrenzung
(Bedeutungsrückgang von Nation und Staat, Privatisierungen) wird durch neue
Politiken beantwortet: Bürgerrechtsbewegungen, transnationales Regieren, lokale
Agenden, soziale Bewegungen. 5. Schlüsselbegriff könnte das Kunstwort
Glokalisierung sein, um die Durchdringung örtlicher Lebenswelten durch Prozesse in
einem transnationalen Referenzrahmen (in geringerem Maße auch umgekehrt) zu
kennzeichnen.
(Ein zweites Schaubild bei Leggewie (2003, 53) ist den Typen der Globalisierungskritik
gewidmet, die zwischen den politischen Koordinaten „rechts/ links“ sowie zwischen
Verweigerung („Exit“) und Einmischung („Voice“) eingeordnet werden können.)
Man sieht allein aus der Länge der Liste der Sachen, der Schauplätze, der Akteure und
an der Komplexität der Analyse (Sachebenen, Oberfläche, Verborgenes, konkrete
einzelne „Spiele“, Lesen und Bewerten/ Kritik aus subjektiven Blickwinkeln), wie groß
die didaktische Herausforderung ist.
3.„Globales Lernen“? – Synopse der fachdidaktischen Diskussion (1994-2003)
Mit dem Ende des Kalten Krieges, mit der ersten UNO-Konferenz über „Umwelt und
Entwicklung“ in Rio de Janeiro und der späteren „Agenda ´21“, mit einem Buchtitel
wie „Erdpolitik“ (E.U.v.Weizsäcker 1994) etc. begann auch eine neue Ära in der
Geographiedidaktik. Sie löste die Themen „Dritte Welt“ und „Grenzen des Wachstums“
in einer Politischen Weltkunde ab und suchte nach der „Schule für eine Welt“, mit der
„Vermittlung einer globalen Weltsicht“ und der „Hinführung zum persönlichen Urteilen
und Handeln in persönlicher Perspektive“. „Die Fähigkeit, Sachlagen und Probleme in
einem weltweiten und ganzheitlichen Zusammenhang zu sehen, bezieht sich nicht auf
einzelne Themenbereiche. Sie ist vielmehr eine Perspektive des Denkens, Urteilens,
Fühlens und Handelns“ (Chr.Graf-Zumstieg 1994, 35, zit. bei Kroß 1995, 9).
Ein Vertreter des Paradigmas vom „Globalen Lernen“ bzw. von der „Bewahrung der
Erde“ in der Geographiedidaktik war um 1995 Eberhard Kroß. Es fällt in eine Zeit, in
der noch die Hoffnung auf ein „Ende der Geschichte“ im Sinne von Krieg und
Fremdherrschaft keimte und die gesuchte Orientierung vom „Global Denken – Lokal
Handeln“ auf die „Eine Welt“ richtete. Diese Utopie ist inzwischen gründlich zerstört,
gerade auch durch den Versuch, eine „Neue Weltordnung“ zu schaffen (George Bush
d.Ä.). Kroß schrieb damals: „Eine Kugel hat kein Zentrum, und mit dem Ende des
kalten Krieges sind auch universale Herrschaftsansprüche geschwunden. Herrschen tun
heute Weltmarkt und die Auswirkungen globaler Zusammenhänge. (...) Wir sind es den
Jugendlichen schuldig, sie auf die Grenzenlosigkeit der modernen Welt vorzubereiten,
in der alles mit allem verknüpft ist und alles auf alles Auswirkungen hat. (...) Globales
Denken will ebenso gelernt sein wie das lokale Handeln, dessen Voraussetzung es ist.“
(1995, 3)
Dieser Text leitet das Themenheft „Global denken, lokal handeln“ ein (geographie
heute 134/ 1995), das die Hoffnung nährte, die Konzepte von internationaler Erziehung,
6
Dritte-Welt-Pädagogik oder Umwelterziehung „überzeugend zusammenzuführen“. „Im
Gefolge der Europäisierung der Welt bildete sich eine Weltkultur heraus. Politisch
begreift sich die Staatenwelt spätestens seit der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges
als Schicksalsgemeinschaft“ (Kroß 1995, 4)
Diese Idee einer Welt ohne universale Herrschaftsansprüche und im Bewusstsein einer
Schicksalsgemeinschaft im Gefolge einer (europäisierten) Weltkultur steht für eine Idee
von Weltinnenpolitik, die spätestens seit dem Scheitern der „Kyoto“-Klimapolitik zum
Schutz der Erdatmosphäre, seit dem Scheitern eines Welt-Strafgerichtshofs, seit dem
11.September 2001 und mit dem Auftritt der USA im Mittleren Osten (Afghanistan,
Irak) wieder beendet ist. Es erscheint in heutiger Sicht auch nicht mehr ausreichend, den
„Weltmarkt“ als „heute herrschend“ zu bezeichnen; denn die Akteure sind durchaus
nicht nur eine invisible hand, sondern - zumindest teilweise - erkenn- und benennbar.
Die zweite Idee neben der von der „Einen Welt“ bezieht sich auf das „Lokale Handeln“,
nach der Formel der ersten großen UNO-Konferenz über Umwelt und Entwicklung
1992 in Rio de Janeiro. Kroß leitet das genannte Themenheft 1995 mit folgendem
Aufmacher ein:
„Die gute Nachricht stand auf der ersten Seite der WAZ: In Brasilien waren die
Einfuhrzölle ermäßigt worden. Deshalb sollten im Bochumer Opel-Werk
Sonderschichten gefahren werden, um die zu erwartende Autonachfrage zu befriedigen.
Wenige Tage später hatte die Regierung das Gesetz aufgehoben und alles blieb beim
Alten. Dennoch zeigt diese Nachricht exemplarisch, wie unsere Welt
zusammengewachsen ist. Was in fernen Regionen passiert, ist für mich hier in
Deutschland von existentieller Bedeutung. Ein Unterricht über die Eine Welt will solche
Zusammenhänge bewusst machen und dazu anleiten, die angemessenen Konsequenzen
zu ziehen.“
(Kroß 1995, 4)
Angemessene Konsequenzen? Gerade dieses Beispiel zeigt, dass das Erkennen
existentiell bedeutsamer Verflechtungen keineswegs dazu anleitet, „angemessen“ zu
handeln. Was sollen der Opel-Arbeiter oder seine Familie oder sein
Lebensmittelhändler denn Angemessenes tun?
Die dritte Idee innerhalb dieses Paradigmas von der „Bewahrung der Erde“ mit den
Schwerpunkten „ökologischen und interkulturellen Lernens“ lautet: „Der
Geographieunterricht sollte mit dazu beitragen, dass die Lösung unserer globalen
Zukunftsprobleme konsensorientiert und nicht konfliktorientiert erfolgt“ (Kroß 1995,
6). Dieser Beitrag zur „Bewahrung der Erde“ ist sehr optimistisch kalkuliert.
Bescheidener formuliert es Kroß selber, wenn er die methodischen Konsequenzen für
den Unterricht anmahnt: „Ein zentraler Punkt ist, Akzeptanz für die Themenstellungen
zu schaffen. Wichtigkeit ist längst kein Kriterium dafür, dass andere auch hinhören.
Schon deshalb sollte man vermeiden, über Bedrohliches und Bedrückendes den Zugang
zu suchen. Positives Handeln ist durch Lob oder sonstige Belohnung zu stärken. (...) In
dem Maß, in dem Menschen ein Gefühl für die Schönheit der Natur entwickeln,
belohnen sie sich selber, wenn sie weniger Abfall oder Lärm verursachen.“ (Kroß 1995,
6). Es zeigt sich, dass es im Unterricht nicht direkt um die Bewahrung der Erde, sondern
um die Schüler geht und dass hier ein pädagogisches Minimum („Hinhören“) mit einer
recht asketischen Emphase („sich selber belohnen“) verbunden wird.
7
Neben diesem erzieherischen Aspekt tritt der Aspekt der Sachstruktur und Komplexität.
Kroß schlägt für die Strukturierung der Variablen und die Vernetzungen das „Netz der
Weltprobleme“ von Fritjof Capra (1990, 36f) vor: „Es erschlägt einen zunächst einmal.
Steigt man jedoch mit einem Teilphänomen ein (1), verfolgt einige Konsequenzen (2)
und forscht nach Ursachen (3), dann ergibt sich bereits eine übersichtliche Struktur, die
schließlich durch Beleuchtung der Hintergründe und die Einbeziehung von
Wertpositionen (4) didaktisch fruchtbar gemacht kann“ (Kroß 1995, 6)
Grafik Capra, Ausschnitt)
Es stellt sich die Frage, wie Schüler (oder Bürger) durch ihr Handeln in ein solches
Netz eingreifen können; nach dem Schema von Capra wären dies z.B. die Elemente
Wettrüstung, Belastung der Lebensgrundlagen, Zerstörung der Ozonschicht,
Verseuchung von Boden und Wasser. Kroß entwirft ein ideales Modell von Wissen,
Einstellungen und Handlungen, die in ein Wechselverhältnis treten. Idealerweise
werden „angemessene Konsequenzen“ gezogen. Was heißt das aber konkret, nach
Capra, z.B. in der Kette „Wachsender Energieverbrauch – Atomenergie – Atommüll –
Atomstaat“? Es kann ja nicht einfach eine Vermeidung/ Negierung sein.
Kroß verlangt richtig unterschiedliche Muster räumlicher Wahrnehmung, besonders die
Fähigkeit zu Perspektiven- und Maßstabswechsel, „um ferne Räume nah zu erleben.
Fallstudien aus der weiten Welt sollten hinreichend Details erkennen lassen, um
Realitätsnähe zu schaffen und Betroffenheit zu ermöglichen“. Dies betrifft subjektive
Weltbilder ebenso wie die Perspektive anderer (Länder, Personen), ein sog. reziprokes
Denken (treffender wäre es wohl, von reversiblem Denken zu sprechen, also der
Fähigkeit, eine Wahrnehmung umzukehren: Stell Dir vor, was dieses Ereignis/ diese
Handlung für einen anderen bedeuten kann, z.B. gegenüber Dir als Tourist, Dir als
Käufer von Billigtextilien, Dir als Soldat in der US-Air-Force).
8
„Das Prinzip der Nähe“ wurde übrigens bereits in einem klassischen Aufsatz von
Martin Schwind („Das Prinzip der Nähe“ und der Geographieunterricht, 1946/7)
reflexiv in die Geographiedidaktik eingeführt:
Es ist nicht unbedingt das Anschaulich-Räumlich-Nahe, auch nicht nur das „Einfache,
das einem näher liegt als das Komplizierte“. „Was räumlich nah ist, muss nicht auch
seelisch nah sein. Es gibt keinen Zweifel, wie Pestalozzi das Wort verstanden wissen
wollte. Er erläutert das Prinzip selbst mit dem Hinweis, dass das ‚meiner Individualität
ganz Eigene“ mir nah sei, also „das meiner Entwicklungsstufe Gemäße, mich
Anregende, Reizende. (...) Zum Nachdenken über die eigene Umgebung muss der
Mensch erst erzogen werden, und wie kann er dies besser, als wenn er sein Land von
außen sehen lernt?“. „Alles Denken und Entdecken liegt im Vergleich“, sagt Schwind
und stellt vier Forderungen an den Geographieunterricht: „Er muss heimatverbunden
sein; er muss das Prinzip der seelischen Nähe nutzen; er muss wahr sein und muss die
Welt maßvoll subjektiv, aber nicht verzerrt schildern; er muss die Erde als Ganzes sehen
lernen“ (Schwind 107f; vgl. zuletzt Vielhaber 2003)
Heute würde man diese pädagogisch-didaktischen Forderungen als
„Schülerorientierung“, „subjektive Anschließung“, „Perspektivenwechsel“ und
„vernetzendes Denken“ bezeichnen und einer reinen Wissens- und Strukturorientierung
entgegen stellen.
Kroß nennt am Ende seiner Programmatik einige Probleme des globalen Lernens: (1)
Die Komplexität des Sachverhaltes gegenüber der Einsichtsfähigkeit und Verbesserung
der Verhaltensweisen; (2) die Grenzen menschlicher Empathiefähigkeit und Produktion
unkontrollierbarer Ängste; (3) trügerische Wachstumshoffnungen als Merkmal unserer
Kultur schlechthin; (4) den Glauben an technischen Fortschritt und Effizienzrevolution;
(5) die Gefahr von Regionalismus und Nationalismus als Gegenreaktion auf
Globalisierungstendenzen. – Gerade dieser letzte Punkt zeigt, dass die verwendeten
Kategorien stets Ausdruck von Prioritäten und Wertungen sind. Bei Kroß war die
„Gefahr von Regionalismus und Nationalismus“ sicher durch den JugoslawienBürgerkrieg, den Zerfall der Sowjetunion etc. begründet; Regionalismus und sogar
Lokalisierung können aber ebenso gut als positiver Gegenpol verstanden werden, der
Identität und Partizipation erlaubt (vgl. Weltbank 2000).
Im Lauf der nächsten Jahre war der Begriff Globalisierung schnell „inflationär und
unscharf“ geworden (Editorial zum Themenheft „Globalisierung“ in: Geographie und
Schule 122/1999). Zunächst hatte er für die Zunahme internationaler
Wirtschaftsbeziehungen und das Zusammenwachsen von Märkten über die staatlichen
Grenzen hinaus gestanden, für den Strom von Kapital und Dienstleistungen auch über
moderne Informations- und Kommunikationssysteme; dann wurde der Begriff
ambivalent und stand auch für den Verlust der staatlichen Souveränität und der
Autonomie der Politik, für Umweltschäden, für eine „Kultur der Zukunft“, auch für
„Weltfrieden“. Damit ist der Begriff nicht nur ambivalent, sondern auch kontrovers
geworden („Turbokapitalismus“, „Neoliberalismus“, „Globalisierungsfalle“).
Konsequent wird auch fachdidaktisch nicht mehr an einen ganzheitlichen Entwurf
gedacht, sondern erst mal an „thematische Annäherungen“ in Form einer
Zwischenbilanz und von Diskussionsbeiträgen. (ebd.).
Zunächst werden die Geographielehrer fachlich eingeführt/fortgebildet. Beispiel: Die
fünf Kondratieff-Zyklen. (1) Stationäre Dampfmaschine als erste Basisinnovation der
Industrialisierung (1770-1820); (2) Eisenbahn und Dampfschifffahrt (1820-1880) mit
9
völliger Neuorganisation der europäischen Infrastruktur und Gesellschaft; (3) Chemie
und Elektrotechnik, Industrie mit Großkonzernen und Kartellen, Technische
Hochschulen und konkurrierende Staaten; (4) Massenverkehr Straße/ Luft, Petrochemie,
Elektronik, transnationale Massenproduktion, Umbau der Handels-, Kapital- und
Sozialsysteme, transnationale Institutionen (1945-1985); (5) kommunikations- und
informationstechnologische Vernetzung (1985-2040), gentechnische, umwelttechnische
und kommunikations-/informationstechnologische Basisinnovationen, vergleichbar dem
1.Zyklus. (Dieter Klaus 1999, 2-10). Da werden räumliche Aspekte der wirtschaftlichen
Globalisierung vorgeführt, etwa die Investitionsstrategien der 100 größten
multinationalen Unternehmen 1990-2000 in Europa, Nordamerika und Japan, neue
supranationale Integrationsräume kartiert (EU, NAFTA u.a.) und Weltstädte in eine
zentrale, sekundäre und periphere Länderhierarchie eingeordnet (Elmar Kulke 1999, 1015)
Im Jahr 2000 wird dieser lehrerzentrierte Fortbildungs-Komplex schülerorientiert
gewendet. Die wirtschaftliche und politische Veränderung auf Staatenebene wird
womöglich Schüler nicht direkt erreichen: Schüler erschließen sich Indien, die USA,
Argentinien, Kenia oder die Philippinen lieber auf anderen Wegen. Wie leben wohl die
Menschen, die Schüler dort? Welche Ziele haben sie? Welche Wünsche? „Wenn diese
Fragen beantwortet werden, können im Unterricht Statistiken und Karten folgen.
Müssen aber nicht.“ (Editorial zum Themenheft „Alltag weltweit“ Praxis Geographie
1/2000, 3). Die Themenliste reicht von Kinderarbeit auf den Philippinen, über Delhis
grünen Süden, Aufwachsen in einem Slum, Mittelstandsfamilien in Argentinien und den
USA bis zu deutschen Schülern im Ausland.
Das Millenium ist Anlass, sich von einer Eine-Welt-Utopie zu verabschieden und sich
der Welt voller Unterscheidungen, voller Widersprüche zuzuwenden. „Blickrichtung
Zukunft“ heißt ein Themenheft von Praxis Geographie (2/2000); es geht von der
plausiblen Annahme aus, dass die Vorstellungen über die Zukunft nichts über die
Zukunft aussagen, sondern über die Gegenwart. Darin liegen die didaktischen Chancen:
Die Vorstellungen über die Zukunft erleichtern „die Äußerung der
Gegenwartswahrnehmung und –deutung jedes einzelnen Schülers weit mehr als jede
direkte Frage“ (Schramke/ Uhlenwinkel: Zukunftsentwürfe im Geographieunterricht. In:
Praxis Geographie 2/2000, 4). Wer also Schülern die Welt und deren Bewahrung nahe
bringen will (vgl. oben Pestalozzi/ Schwind), sollte wissen, wie es ihnen geht, wo sie
sich befinden. Nicht „Alpen in Gefahr!“ oder „Tropenholz wie lange noch?“ (Terra
1993) oder „Kippt unser Klima?“ (Diercke 1994) ist den Schülern ein nahes Problem,
sondern dass Lösungen in absehbarer Zeit nicht zu erwarten sind. Die Welt ist keine
Mechanik, die Wissenschaft macht die Welt nicht vorhersagbar und beherrschbar;
irgendein Schulstoff erzeugt nicht in jedem Fall einen lohnenden Wissens- oder
Erkenntnisoutput. „Die Konsequenz aus der Verabschiedung der Fiktion vom InputOutput-Schüler ist die Anerkennung des Schülers als Individuum“ (ebd. 5). Schüler
konstruieren und konstituieren ihre Weltbilder mit demselben Recht wie die Eltern, die
Politiker und die Industriemanager. Aber trotzdem wird von einigen Fachdidaktikern
auf ein „gemeinsames Weltethos“ gehofft (H. Haubrich: Weltbilder und Weltethos. In:
geographie heute 145/1996, 4; vgl. zuvor der Theologe Küng 1990 u.a.). Was würde das
für die Schüler bedeuten: keine Cola, kein Kinderarbeit-Orangensaft?
Als Möglichkeit stattdessen wird die Szenario-Methode skizziert, indem für ein
bestimmtes Thema/ Problem verschiedene Szenarien entwickelt werden. Eine Gruppe
macht ein „Alles-wie-immer-Szenario“, eine andere ein Katastrophen-Szenario, eine ein
10
autoritäres Szenario, eine ein Technologie-Szenario, eine ein human-ökologisches
Szenario (vgl. Fountain 1996, 203). Ähnliche Ergebnisse erzielt man, wenn man
verschiedene Sichtweisen (z.B. Mieter, Umweltschützer, Stromfirma etc.) auf ein
Thema ansetzt. Stets wird die Differenz der Sichtweisen und Interessen unterschiedliche
Weltbilder konstituieren und diese in sich plausibel machen. Daraus können gute
Gründe für eine Abwägung und Bewertung entstehen, auf die man anders nicht
gekommen wäre.
Das Jahr 2000 war nicht nur das Jahr des Milleniums, sondern auch der Expo 2000 und
der Agenda 21: Wie werden die Menschen in den Städten und im 21. Jahrhundert leben,
sozial, umwelt- und ökonomisch verträglich? Der Fokus liegt hier auf der
Handlungsorientierung: Was ist zu tun, im fairen Handel, in der Schule, im Konsum,
beim Abfall, im nachhaltigen Wirtschaften, in der Partizipation? Da sind die Fragen des
Themenheftes „Agenda 21“ in geographie heute 180/2000 (hierher würde auch eine
ökonomisch plausible Weltethos-Diskussion gehören).
Dann ist wieder die Zeit, Veränderungen in der Sache nachzuspüren, z.B. dem Prozess
der Suburbanisierung in den Großstadtregionen der Welt, Bombay, Mexico City, Seoul,
New York. Suburbanisierung wird als gesellschaftliches Phänomen und als Forschungsund Begriffsproblem präsentiert. Wie geht es den Menschen? Was sind die
Hintergründe? Wie lässt sich der weltweite Prozess beschreiben und erklären, nach
Gemeinsamkeiten und nach Unterschieden? (Geographie und Schule 129, Feb 2001). Es
wird die These verfolgt, dass die künftige Weltwirtschaftsordnung von drei Handelsund Investitionsblöcken (“Triade”) bestimmt sein wird. Trift diese Regionalisierung den
Punkt oder ist sie eine übereinfache Kategorie für eine dynamische Weltwirtschaft?
Oder einfach ein geographischer Mythos, ähnlich dem von den Kulturerdteilen? (Praxis
Geographie 9/2001)
Nach der Suburbanisierung werden die Metropolen zum Thema (Praxis Geographie
10/2001). Siedlungsgeographisch wichtig ist die Unterscheidung von MegastädtenWeltstädten – Hauptstädten - Global Cities, vorgeführt an den Beispielen Brüssel und
Berlin, New York, Singapur, Lagos. Zugleich lassen die stadtgeographischen
Sachverhalte auch Merkmale und Besonderheiten der Industrie- und
Entwicklungsländer zeigen: „Die größte Stadt Schwarzafrikas und keine Müllabfuhr,
kein Bürgermeister, keine Stadtplanung, kein öffentlicher Nahverkehr, sondern
Kleinbusse, die der Volksmund auch ‚bolekafa’ nennt – komm raus und hau dich. Keine
Rechtmäßigkeit, sondern nur das Recht des Stärkeren. Dies ist Lagos, die Metropole
Nigerias. Wer hier überlebt, überlebt alles.“ (Reinhard Zeese 2001, Zitat aus GEO
3/1997, 4). Die Gefahr liegt darin, dass jede Kategorisierung und Klassifizierung
pointiert, um trennscharf zu werden. Daraus können wiederum übereinfache Weltbilder
bis Klischees entstehen. Wenn die Nigerianer Chinua Achebe (Friedenspreis des
Deutschen Buchhandels 2001) oder Ken Saro Wiwa (Träger des Alternativen
Friedensnobelpreises) Lagos beschreiben, klingt das differenzierter; dann ist Lagos
nicht nur ein System des Rechts des Stärkeren und des „Überlebenskampfes am Rand
der Lagune“, sondern eine Lebenswelt (vgl. Rhode-Jüchtern 2003 und 2004).
Der didaktische Ansatz, Maßstabsebenen und unterschiedliche Perspektiven explizit zu
unterscheiden, setzt sich immer mehr durch. Globale Verflechtungen, aber auch ganz
andere Faktoren wie naturräumliche Ausstattung, Ressourcenvorkommen, historischpolitische Entwicklungen oder Unterschiede im Kultur- und Gesellschaftssystem
bewirken räumliche Disparitäten. Die Einsicht in die Komplexität soll
11
„Realitätsverzerrungen und einseitig gestaltete Erklärungen verhindern „ (Editorial zum
Themenheft „Räumliche Disparitäten“, Geographie und Schule 133/2001). Allerdings
wird der erzieherische Anspruch noch immer bemüht, „insbesondere im Fach
Erdkunde“ die Schüler „zu entsprechendem Handeln anzuleiten, damit der Gedanke von
der ‚Einen Welt’ nicht eine Leerformel bleibt“ (ebd.). Was könnte die
Handlungsorientierung für Schüler denn aber konkret sein, wenn Fachwissenschaftler
über Kennziffern weltweiter Disparitäten berichten, über Tourismus als Instrument zum
Abbau regionaler Disparitäten in Entwicklungsländern, über räumliche Disparitäten in
Ostmitteleuropa, über Disparitäten im innerurbanen Raum von NY oder über die
Messung regionaler Disparitäten in der EU? Welche Schüler und welche ihrer
Handlungen werden dadurch orientiert?
Damit der Anspruch auf Handlungsorientierung nicht seinerseits eine Leerformel bleibt,
wird das Rahmenthema immer wieder in die „Nähe“ von Schülern/ Individuen gebracht,
so mit dem Themenheft „Armut“ in Praxis Geographie (12/2001). Armut ist ein
weltweites Problem und „Armut geht uns alle an“ lautet die Botschaft. „Wo liegen die
Ursachen und wie kann etwas gegen die Armut getan werden?“ – diese Fragen werden
verfolgt an Themen wie „Ein Dollar pro Tag – Ein Blick in die Presse“, „Armut in
einem reichen Land“, „Zukunftsperspektiven und Armut in Ghana“, „Armut ist
weiblich – Ist Armut weiblich?“, „Wannabe – Ein Spiel zu Wegen aus der Armut“,
„Armut hat eine Hautfarbe – Afro-Amerikaner in den Städten der USA“, „Armut von
Kindern vor Ort“.
Der Ansatz des Perspektivenwechsels soll nicht lediglich zum Relativismus führen
(jeder hat seine Perspektive – so what?), sondern über Empathie zur Stellungnahme und
Identitätsbildung führen. Dies verfolgt das Heft „Kinder in der Welt“ (geographie heute
196/2001): „Kinder in Peru – Auch arme Kinder können glücklich sein“, „Kinderarbeit
– Wie und warum Kinder weltweit arbeiten“, „Mädchen in Indien – Zwischen Selbstund Fremdbestimmung“, „Like the kids in America – Die amerikanische Kultur unter
der Lupe“, „Kinder in Äthiopien – Bildung als Weg der Hoffnung“, „Jugendliche in
Polen – zwischen Tradition und Moderne“, „Kinder in der virtuellen Welt – Neue
Kommunikationsformen und ihre Nutzung im Erdkundeunterricht“, „Kindheit zwischen
den Fronten – Leben in Nordirland“. Der Fokus richtet sich hier also nicht primär auf
einen Sektor der globalen Verflechtungen oder auf die Auswirkungen auf eine Region,
sondern beides wird verbunden in der Perspektive von Kindern. Die vielperspektivische
Figur dabei lautet: „Die Welt mit anderen Augen sehen – Der Blick zurück – Der Blick
von oben – Der Blick von vorn – Der globale Blick – Der Blick von außen – Der
pädagogische Blick – Die Vielfalt der Blicke“. Ausdrücklich wird ein Beschluss der
Kultusministerkonferenz (KMK) zu „Eine Welt/ Dritte Welt“ (28.2.1997/ 20.3.1998) zu
einem möglichen Irrtum über die „Eine Welt“ zitiert: „Auch die Schule muss die
Kenntnisvermittlung über andere Kulturräume vertiefen und so dem möglichen Irrtum
des „Eine-Welt“-Gedankens vorbeugen, dass die Menschen und damit die
gesellschaftlichen Realitäten überall gleich seien“ (geographie heute 196/2001, 6).
Derweilen gehen Politik und Forschung weiter und die Lehrer werden weiter informiert
über „Erde in Gefahr“ (geographie heute 201/2002). Zwar sollen die Schüler nicht über
Horrorszenarien angesprochen werden. Aber globale Umweltveränderungen gibt es und
es macht Sinn, über Gelingen und Misslingen von Lösungsversuchen gleichermaßen zu
berichten, „in gewisser Weise Angst machen, aber ebenso Mut machen, sich für globale
Probleme auf lokaler Ebene einzusetzen“. Beim Flächenverbrauch ist eine
Handlungsorientierung vorstellbar, auch beim FCKW-Verbrauch (eine gelungene
12
Trendwende), ebenso beim Wasser und beim Luftverkehr, aber nur auf der
individuellen und lokalen Maßstabsebene. Wasser als globales Problem, Vulkanismus
und Klima oder Desertifikation bleiben Schulbuchthemen aus globaler Perspektive und
als solche eher geographisches Grundwissen. Immerhin hat sich der
erkenntnistheoretische Ansatz auch hier verschoben: „Die globalen
Umweltveränderungen sind überwiegend durch menschliche Aktivitäten verursacht“
(ebd.). Dies ist die Verschiebung der Perspektive auf Dinge an sich hin zu Dingen als
Ergebnisse von Handeln, und zwar auch in der Physischen Geographie.
Das fachliche Paradigma entwickelt sich weiter in Richtung Handlungszentrierung. Es
ist nicht mehr die Rede von „Wirtschaftsgeographie“, sondern von „Geographie und
Wirtschaft“, ein kleiner bedeutender Unterschied. Es soll nicht mehr zuerst um
räumliche Verteilung und Verknüpfungsmuster gehen, die sich aus dem wirtschaftenden
Handeln ergeben; denn: „Ist Wirtschaft heute nicht in mehrfacher Hinsicht ‚footlose’,
raumlos?“ (Norbert von Ruhren, Geographie und Schule 141/2003, 1). Dem
Erdkundeunterricht muss daran gelegen sein, „dem Schüler eine Vorstellung davon zu
vermitteln, wie räumliche, ökonomische, ökologische, soziale, historische und
politische Faktoren unser wirtschaftendes Handeln bestimmen. Damit soll die
geographische Kernfrage bezüglich der Mensch-Raum-Auseinandersetzung keineswegs
negiert werden. Die enge raumgebundene und raumbezogene Betrachtungsweise ist
jedoch stärker durch eine Mehrperspektivität zu ersetzen, die den umwälzenden
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen in der Gegenwart besser gerecht
wird. In diesem Zusammenhang gewinnt die globale Dimension zunehmend an
Bedeutung, wie sie treffend in dem Begriff Globalisierung zum Ausdruck kommt“
(ebd.)
Unter dieser Prämisse geht es wieder um die Grund- und Fortbildung der Lehrer:
Grundlagen für eine globale Marktwirtschaft (GATT und WTO), technologische
Veränderungen, Deregulierung und Privatisierung), um die Felder ökonomischer
Globalisierung (Welthandel, Auslandsinvestitionen und strategische ‚Allianzen,
Finanzmärkte), um die Konsequenzen der Globalisierung (Finanzwelt, Großkonzerne,
Entwicklungsländer, Deutschland). Es geht um die Hoffnung auf eine „Jobmaschine“
Dienstleistungen, um den neuen Stadttypus der „Global City“ (am Beispiel Singapur),
und schließlich um den Begriff des „Global Player“, am Beispiel von TotalFinaElf
(alles in Geographie und Schule 141/2003).
Global Cities sind nicht mehr im Sinne eines alten Stadtbegriffs durch ihre
Räumlichkeit und Funktion für ein Umland gekennzeichnet, sondern durch ihre
weltweite Verflechtung in der Weltwirtschaft. Global Players sind keine regional
verankerten Unternehmen mehr, sondern operieren weltweit und in wechselnden
strategischen Allianzen oder Zusammenschlüssen und Unternehmenszielen. Was früher
drei große Erdölkonzerne waren, ist jetzt einer. Was früher das Kerngeschäft Erdöl war,
sind jetzt insgesamt die Energie oder technische Dienstleistungen oder Logistik. Was
früher „sich selbst“ gehörte, gehört morgen vielleicht einer Großbank oder
Großversicherung etc. (Zum Beispiel macht das Buch „Wem gehört die Republik – Die
Konzerne und ihre Verflechtungen. Namen, Zahlen, Fakten“ von Rüdiger Liedtke
(Frankfurt 1999) auf über 600 Seiten den Versuch, dies wenigstens für ein einziges, das
Jahr 1998 und für Deutschland dazustellen.). Wenn ein Vorstand andeutet, er könne
seinen Sitz auch kurzfristig nach Österreich oder in die Schweiz verlegen, zittern die
Bundes- und Landespolitiker, hindern können sie es nicht. Und statt „angemessen zu
handeln“ (s.o.) können die Betroffenen nur abwarten und zuschauen.
13
Zuschauen, beobachten und erkennen können Schüler (und Lehrer) aber immerhin,
wenn es um den Wandel des Industriesystems in der Welt geht, auch um die Frage, wer
hier eigentlich noch Politik (und Geographie) machen kann (Themenheft
„Industriegeographie“, Praxis Geographie 2/2003). Es gibt newly industrialized
countries, sterbende Altindustrien, neuorganisierte Produktionsnetze, den Versuch von
Sozial- und Umweltstandards in transnationalen Konzernen. Es ist existentiell für die
deutsche Wirtschaft, wo BMW seine neue Fabrik baut, in Leipzig oder in Tschechien
oder in den USA, übrigens auch für die Arbeiter in Leipzig oder in Tschechien oder in
den USA. Es ist rätselhaft und deshalb reizvoll, Produktionsketten zu rekonstruieren
vom legendären Erdbeerjoghurt über Kakao-Schokolade bis zum rollenden Lager auf
der Autobahn. Was soll man davon halten, wenn sich Daimler mit Chrysler verbindet –
ist das ein Risiko wie jede Ehe (vgl. BMW und Rover) oder der entscheidende Zugang
zu einem großen Markt? Wie soll man es finden, wenn nun auch die einfachen
Menschen in China Autos wollen und die westlichen Produzenten Schlange stehen (als
vorerst Letzter kam 2003 DaimlerChrysler in einem Joint Venture zum Zug)? Was
bedeutet es industriepolitisch oder für das Gütezeichen „Made in Germany“, wenn
Siemens und ThyssenKrupp in Shanghai den Transrapid bauen, in einem totalitären
Planungsverfahren, mit deutschen Subventionsgeldern, während ein solches System in
Deutschland selbst jahrzehntelang vergeblich auf seine Chance wartet? Wie kann man
sich den Strukturwandel in altindustriellen Räumen vorstellen – Industriedenkmäler und
Konzertstätten, Loft-Wohnungen, Boutiquenquartiere, so wie im Emscher Park, in
Soho/ New York oder in Birmingham? Wo kann ein dynamischer Bürgermeister noch
etwas gestalten? Wie soll man es bewerten, wenn transnationale Konzerne in grenznahe
Billiglohnregionen gehen, in Nordmexiko oder Polen? Es entstehen Migration,
Binnenhandel, regionale Konjunkturen oder Konjunktureinbrüche und
Nullsummenspiele: Der Gewinn des einen ist der Verlust des anderen.
Diese Fragen sind weniger zur Orientierung für „richtiges Handeln“ oder für die
Entwicklung eines „Weltethos“ (Küng 1990; Haubrich 1996) geeignet; aber sie
verpflichten und motivieren zum vielperspektivischen Denken und Urteilen. Dies ist
jedenfalls immer die Voraussetzung für Weltverstehen und am Ende auch für
begründetes Entscheiden und Handeln.
*****
Die Synopse zur fachdidaktischen Diskussion hat gezeigt, welche Prinzipien und Inhalte
sich in der letzten Dekade entwickelt haben; man kann nicht sagen, dass diese alle am
gleichen Strang ziehen bzw. überzeitlich gültig wären. Das Paradigma von der „Einen
Welt“ hat sich gründlich geändert: Triade, „Neue Weltordnung“ der USA, WTO- und
attak-Kontroverse etc.
Zum einen ist die Rolle der fachdidaktischen Zeitschriften für die Fortbildung zu
bemerken; zielsicherer als Monographien mit time lag und organisatorisch und
sprachlich unzugängliche Fachzeitschriften erreichen sie die Lehrerschaft, gefördert
durch die Konkurrenz routinierter und hochwertiger Marken. Damit ist die Bedingung
der Möglichkeit geschaffen, den Unterricht fachlich auf dem Stand zu halten. Allerdings
sind die Lehrer didaktisch noch nicht entlastet; sie müssen das üppige Material so
aufbereiten, dass es die Schüler erreicht. Sie müssen dies im Spagat zwischen
Motivation der Lernenden und den Ansprüchen eines umfassenden Kompetenzmodells
tun.
14
Damit ist die zweite Funktion der fachdidaktischen Produkte zum Themenkreis
Globalisierung angesprochen: die Schülerorientierung und Herstellung von „Nähe“
durch die Aufbereitung verschiedener Perspektiven. Der Anspruch auf
Handlungsorientierung erscheint dagegen meist modisch und pädagogisch überhöht,
sofern damit das Handeln außerhalb der Schule zur „Bewahrung der Erde“ und zur
Schaffung der „Einen Welt“ gemeint ist. Standard ist inzwischen, die globale
Verflechtung auf verschiedenen Maßstabsebenen zu verfolgen und auf einfache
Kausalitäten zu verzichten. Angesichts der Dynamik der globalen Veränderungen ist
eine gewisse Aktualität der Fallbeispiele unverzichtbar, weil ein Unterricht nach dem
strukturalistischen Paradigma „Erde als System“ die Schüler schnell ermüden dürfte; es
kann allerdings zur Einübung des vernetzenden Denkens vorsichtig eingesetzt werden.
Insgesamt wird es um das Erkennen von Mustern und um den plausiblen Transfer auf
verschiedene Fälle gehen, also eine bestimmte Denk- und Arbeitsweise der Analyse und
die Verpflichtung zur begründeten Stellungnahme. Die reine Wissensorientierung wird
dagegen drastisch zurücktreten müssen; dies ist mit dem Übermaß des Wissbaren und
der kurzen Halbwertzeit des aktuellen Einzelfall-Wissens begründet. Schließlich ist
deutlich geworden, dass es immer weniger um die Regionalisierung, also die reinen
Verteilungsmuster, Einzugsbereiche und Grenzziehungen geht; das wäre angesichts der
Dynamik und der Delokalisierung vieler Prozesse geradezu kontraproduktiv.
Vielmehr geht es um das - auch räumlich gebundene oder wirksame – Handeln
verschiedener Akteure und Allianzen auf verschiedenen Schauplätzen, in verschiedenen
Sektoren und mit polyvalenten Auswirkungen auf einer Zeitachse verschiedenster
Länge, von der Vierteljahresbilanz bis zur milliardenschweren/ dauerhaften
Standortentscheidung. Diese komplexe Situation muss so in Szene gesetzt werden, dass
Schüler (und vorher Lehrer) sie verstehen können und wollen und daraus die
geforderten Kompetenzen entwickeln. Dass ein Themenfeld wie die „Industrie“ von den
Schülern auf den vorletzten von 50 Plätzen gesetzt worden ist, von den Lehrern
immerhin auf Platz 44, macht die Sache nicht einfacher (vgl. Hemmer/ Hemmer 1997,
121).
4. „Reduktion von Komplexität“ und „verständnisintensives Lernen“
In Abschnitt 2. wurden einige Symptome und Sachbereiche genannt, die kennzeichnend
für globale Verflechtungen sind. Dies hatte – neben der Übersicht selbst - auch den
Sinn, einzelne Fälle oder Strukturen in die Komplexität des Themas einordnen zu
können. Man wird z.B. das Thema Migration nicht an einem Einzelfall behandeln
können, ohne dies in den dahinter stehenden Zusammenhang einzuordnen; es geht eben
um „die Fähigkeit, Sachlagen und Probleme in einem weltweiten Zusammenhang zu
sehen“ (vgl. Graf-Zumstieg 1994, 35), um eine Perspektive des Denkens, Urteilens und
Handelns. Ob dies nun gleich der „Bewahrung der Erde“ dient oder zunächst mal dem
Ziel des genaueren Hinhörens und Zusammendenkens, ist eine andere Frage (vgl.
Abschnitt 3.).
Damit diese anspruchsvolle Denkperspektive auch im „kleinen Alltag“ von
Unterrichtseinheiten gelingen kann, wird hier ein einfacher Quader vorgeschlagen (vgl.
ausführlich in Kapitel10.) Darin sind die relevanten Sachbereiche, Maßstabsebenen und
Praxisebenen im Zusammenhang notiert. Jeder Einzelfall kann nun damit „verortet“ und
15
„durchbuchstabiert“ werden, damit man angesichts der unüberschaubaren Komplexität
nicht ins Schwimmen kommt. Dies soll bewusst einfach geschehen, damit man nicht
bereits von der Grafik erschlagen wird (vgl. oben das Schema von Capra in 4.1.3).
Ganz einfach gesagt: Der Quader dient dazu, nichts zu vergessen, was womöglich für
die Verflechtung einer Sache wichtig ist/ sein könnte. (Zur genaueren Ableitung dieser
Figur zum Perspektivenwechsel vgl. Rhode-Jüchtern 2001a und hier Kapitel 10.)
Globale Verflechtungen:
Von der black-box zur Analyse/ Reduktion von Komplexität
Der Quader dient der Orientierung: Was ist der Fall? Wer handelt? Auf welcher Ebene
geschieht etwas, in welchem Maßstab und in welchem Sachbereich? Welche Folgen hat
das anderswo? In welcher Konzeption/ Absicht geschieht das und wie wird es
organisiert? Was geschieht dann? Usw. Dies ist die phänographische Ebene
(Beschreibung von Tatsachen).
Jedes Ereignis/ jede Struktur einer Sache soll im Zusammenhang gesehen werden,
„alles hängt mit allem zusammen“; dies lässt sich systematisch verfolgen, jedenfalls
nachfragen. Allerdings gibt es keine reine oder wertfreie Sachanalyse: Alle Fragen und
Antworten werden aus bestimmten Perspektiven beleuchtet. Das ist die Wahrnehmungsund Subjektebene.
Die didaktische Aufgabe besteht darin, geeignete Fälle/ Ereignisse als Sache zu
analysieren, systematisch und geordnet, darin eigene Schwerpunkte zu setzen und das
Ergebnis der Analyse begründet zu werten. Die geographiedidaktische Aufgabe besteht
16
darin, die Dinge nicht nur handlungsbezogen, sondern auch raumbezogen zu betrachten:
Wo? In welchem regionalen, historischen und kulturellen Kontext? Wie „lokal“ und wie
„global“?
Der Perspektivenwechsel betrifft demnach – neben der Perspektive der jeweiligen
Wahrnehmung – die Ebenen Maßstab, Sachbereiche und Praxis. Jedes Ereignis/ jeder
Fall fängt als Phänomen irgendwo im Quader an, durchläuft diesen idealtypisch und
wird an signifikanten Stellen markiert.
Das zweite Grundproblem der Schul- und Fachdidaktik – neben der Klärung der Sachen
– ist die Motivation der Schüler durch Sinnstiftung (über das bloße „Hinhören“ hinaus).
Sinn entsteht dadurch, dass die Schüler etwas verstehen und für bedeutsam halten
können (in 3. war bereits oft die Rede von Handlungsorientierung und Moralerziehung).
Es fragt sich also, welcher Lernbegriff und welche Arrangements dafür tragfähig sind.
Auch strikte Vertreter einer reinen Wissensorientierung und eines Lernens von
Schulstoff aus zweiter und dritter Hand müssen sich mit einem Satz von Albert Einstein
auseinandersetzen:
„Imagination is more important than knowledge“.
Das bedeutet, dass zumindest der Zugang zum Lernen über Erfahrung und
Vorstellungen gehen sollte. „Wenn wir nachts bei Stromausfall unsere stockdunkle
Wohnung betreten, kommen wir auch ohne Licht zurecht. Es ist eine Leistung der
Imagination: Wir verfügen über eine Art ‚inneres Bild’, das uns eine zumeist sehr
verlässliche Orientierung bietet.“ (Fauser/ Madelung 1996, 211). „Vorstellungen sind
nicht nur sinnlich gefüllt wie bloße Wahrnehmungen, sondern auch kategorial geordnet,
wie das begrifflich-abstrakte Denken. Sinnesdaten werden ‚organisiert’.“ (ebd. 214)
Daten der äußeren Welt werden nicht gleichsam mechanisch abgebildet, sondern
kategorial organisiert (vgl. die Kategorien im Quader); diese Organisation verrechnet
die Daten nicht lediglich nach einem vorgegebenen Schema, sondern arbeitet mit
„strukturierten Operationszusammenhängen auf unterschiedlichen Ebenen durch
übergreifende Syntheseleistungen; wenn wir Vorstellungen bilden, bilden wir immer
Ganzheiten.“ (ebd. 218) Gemeint ist damit nicht ein ideologischer oder esoterischer
Begriff von Ganzheitlichkeit. Lernen richtet sich auf etwas Funktionsganzes, einen
Operations- und Bedeutungszusammenhang, so wie ein Werkzeug oder ein Haus nicht
nur Gegenstände oder Gegebenheiten sind, sondern in Gestalt, Struktur und Funktion
auf ein Funktions- und Handlungsganzes und einen Bedeutungszusammenhang
verweisen.
Skizze Charlie Chaplin
17
Zum Wiederkennen genügen meist sehr wenige Informationen. (In der Skizze wird man
Charlie Chaplin wiedererkennen, rechts daneben sogar in seiner Verkleidung als „Der
große Diktator“ Hitler). Das ist der didaktische Schlüssel: Welche (wenigen)
Information brauchen wir, um eine Wahrnehmung komplex und kategorial zu
organisieren? Genügt eine Weltkarte zur Migration, um aus dieser Wahrnehmung eine
Vorstellung von der Welt, eine innere Wirklichkeit mit zu konstruieren? Es ist eine zu
entwickelnde Routine und Haltung im Lernen, eine „Wechselwirkungs-Wirklichkeit“ zu
erzeugen, „die Bildung von Vorstellungen im Wechselspiel mit der Erfahrung der
äußeren Realität“ (ebd. 226).
Da Schüler im Geographieunterricht die Welt verstehen sollen, in einer kategorialen
Ordnung zumal, müssen Gelegenheiten zur Imagination auch im Binnenraum Schule
ermöglicht werden. Das können die lebendigen, beunruhigenden Fragen der Schüler auf
einen Gegenstand hin sein (vgl. die Didaktik des genetischen Lernens bei Martin
Wagenschein im Physikunterricht) oder die Narration, die kleine Erzählung, hinter der
sich eine „große Erzählung“ verbirgt und die aufdeckt, worüber sonst geschwiegen
würde (vgl. Kapitel 6.). Jedenfalls braucht es eine lebendige und ergebnisoffene Frageund Problemstellung jenseits des abfragbaren Wissens.
18
(Grafik und Karte aus „Atlas der Globalisierung“, 2003, 29 und 49)
Man nehme z.B. eine „harmlose“ Weltkarte über die Anzahl der Fernsehgeräte oder die
Schuldenstruktur ausgewählter Entwicklungsländer und finde dazu eine „kleine
Erzählung“, über die Bedeutungszusammenhänge und das, worüber in der Grafik/ Karte
geschwiegen wird. Schon bewegt man sich zwischen Imagination und kategorialer
Ordnung (sogar der Ländername „Argentinien“ ist so eine Kategorie), zwischen dem
individuellen, dem lokalen, dem nationalen und dem globalen Maßstab. Erst die
Vorstellung und die Erfahrung aus einer Erzählung (oder einem Bild o.ä.) ermöglicht
eine Diskussion über die Bedeutungen von Daten, über die Handlungsoptionen der
Akteure und über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft . (Zur Anwendung vgl. das
folgende Kapitel 9.)
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