Venezuela vor strategischer Entscheidung

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06.10.2012: Welch gewaltiger Unterschied zwischen den beiden nächsten international
beachteten Präsidentschaftswahlen: morgen die Neuwahl des Staatspräsidenten Venezuelas
und in etwa einem Monat die Präsidentenwahl in den USA. Letztere ein scheindemokratisches
Spektakel zwischen sich im Wesen nur wenig unterscheidenden Varianten imperialistischer
Politik, und in Venezuela eine strategische Entscheidung über die Weiterführung der Politik des
'Sozialismus des 21. Jahrhunderts' und die Festigung einer durch die Volksmassen
mitbestimmten Demokratie mit dem Ziel des Niederringens des kapitalistischen
Herrschaftssystems.
Viele Menschen in aller Welt und in Venezuela erwarten auch bei dieser Wahl die Bestätigung
von Amtsinhaber Hugo Chávez. Allerdings sind die vergangenen Erfolge niemals ein Garant für
die Zukunft und nach wie vor ist Venezuela ein Land mit starken bürgerlichen Kräften, die von
ihren Klassenbrüdern vieler kapitalistischer Länder Unterstützung erfahren. In dieser Situation
ist nach wie vor die strategische Fragestellung von entscheidender Bedeutung: wie kann das
Vorantreiben der Verwirklichung des 'Sozialismus des 21. Jahrhunderts' durch die
entsprechende geistig-kulturelle Hegemonie der ihn anstrebenden Revolutionäre - zu denen
auch die Kommunistische Partei Venezuelas gehört - abgesichert und gestützt werden?
Mitte dieses Jahres hat die kommunistische Philosophin Marta Harnecker zur dieser
Fragestellung eine Darlegung veröffentlicht, die aus einem Beitrag Ende 2011 auf dem VI.
Internationalen Philosophie-Forum in Maracaibo (Venezuela) zum Thema "Staat, Revolution
und Herstellung einer Hegemonie" entstand. Marta Harnecker wurde in Chile geboren und
beteiligte sich Anfang der 1970er Jahre in Chile an den politischen Vorhaben unter Salvador
Allende. Nach dem faschistischen Putsch in Chile und der Ermordung Allendes 1973 ging sie
für 29 Jahre nach Kuba und wurde dort Direktorin des Forschungszentrums 'Memoria Popular
Latinoamericana' in Havana und Beraterin der kubanischen Regierung. 2002 siedelte sie nach
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Venezuela um und unterstützt seither die von Chávez geführte Bewegung. Sie leitet
Untersuchungsprojekte am Forschungsinstitut 'Centro Internacional Miranda' und ist Beraterin
von Präsident Hugo Chavez. So kommt ihrer Darlegung eine hohe Bedeutung für das
Verständnis der Politik der PSUV (Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas) und der
Führung um Chavez bei.
Nachstehend ein zentraler Teil der Ausführungen von Marta Harnecker
(in eigener Übersetzung aus dem Englischen)
Vorher habe ich etwas zu den grundlegenden Merkmalen der neuen Gesellschaft ausgeführt,
die wir aufbauen wollen. Dabei legte ich das Augenmerk auf den Sachverhalt einer
mitbestimmten und entschieden verfochtenen Demokratie als eines ihrer wesentlichen
Merkmale. Ich wies auch auf die Merkmale der Umwandlungsprozesse in den Ländern hin,
deren Regierungen sich für ein Voranschreiten zum Sozialismus über einen friedlichen oder
institutionellen Weg entschieden haben.
Nun möchte ich gerne in Kürze darauf eingehen, wie wir die notwendige Ausgewogenheit der
Kräfte erreichen können, um in Richtung der Gesellschaft voran zu kommen, die wir aufbauen
wollen, und deren Verhältnis zum Sachverhalt der Hegemonie.
Die Definition der 'Hegemonie'
Lassen Sie uns mit der Definition beginnen, was wir unter Hegemonie verstehen, da dieses
Wort viele Bedeutungen hat und abhängig vom Zusammenhang in verschiedenem Sinne
benutzt werden kann. Es kann verwendet werden, um ökonomische, politische oder kulturelle
Vorherrschaft zu behandeln. Hier benutzen wir den Begriff in Bezug auf Sachverhalte des
Bewusstseins, der Kultur in einem weiten Sinne.
Mein Ausgangspunkt ist, genauso wie bei Marx, die Tatsache, dass die in einer bestimmten
Gesellschaft vorherrschenden und die bestehende Ordnung rechtfertigenden und
begründenden Ideen und Werte die Ideen und Werte der herrschenden Klasse sind. Während
diese in früheren Zeiten grundlegend durch die Familie, die Kirche und das Schulsystem
vermittelt wurden, geschieht dies heute mehr und mehr über die Medien und insbesondere
durch das Fernsehen. Dessen 'Soap'-Produktionen sind inzwischen, wie der chilenische
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Soziologe Tomás Moulián sagte, das moderne 'Opium des Volkes' geworden - mit einem
starken Einfluss in den Schichten der Gesellschaft, die weniger mit kritischen Ideen und
kritischem Denken bewaffnet sind.
Für mich erreicht eine Klasse Hegemonie, wenn ihre Werte, ihre Vorschläge, ihr
gesellschaftliches Vorhaben akzeptiert, mit Sympathie angesehen und von breiten Teilen der
Gesellschaft als wie eigenen behandelt werden. [Geistige] Hegemonie ist das Gegenteil von
gewaltsamem Aufzwingen.
Daher sollten wir das Wort Hegemonie nicht mit 'Herrschaft' verwechseln, denn eine Klasse
kann Herrschaft ausüben, wenn sie in der Gesellschaft ihre Interessen mit Gewalt durchsetzt.
Sie kann auch herrschen, wenn ihre Interessen vom Volk als die eigenen angenommen
werden. So kann also eine Klasse mittels Terror herrschen oder mittels Zustimmung [der
Beherrschten] oder durch eine Kombination von beidem. Ferner ist Hegemonie nicht etwas,
was für immer erobert werden kann, sie kann verloren werden. Regierungen, die auf der Basis
von Zustimmung regieren, ergreifen tendenziell und zunehmend autoritäre Maßnahmen zum
Erhalt ihrer Herrschaft, wenn sie ihre soziale Unterstützungsbasis verlieren. Man kann daher
sagen, dass es eine Dialektik zwischen der Schwächung der Fähigkeit zu überzeugen und dem
Anwachsen der Notwendigkeit des Gebrauchs von Gewalt gibt.
Wenn eine gesellschaftliche Klasse Hegemonie verwirklichen konnte, so ist eine ihrer
Leistungen dabei die der Formung eines sozialen Blocks. Das heißt, dass sie verschiedenartige
gesellschaftliche Gruppierungen vereinigen konnte, die normalerweise und in gewissen Fällen
sogar tiefgehend durch Klassenwidersprüche geprägt sind. Die Ideen und Vorschläge dieser
beherrschenden gesellschaftlichen Klasse dienen dabei als ein verbindendes Element und
helfen, bestehende Widersprüche zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen
abzuschwächen.
Es existiert ebenfalls eine Beziehung zwischen der Hegemonie [einer Klasse] und der Fähigkeit,
die Probleme des Volkes zu lösen. Es muss mindestens die Illusion vorhanden sein, dass
eingeleitete Maßnahmen die Probleme lösen werden. Denn wenn die Menschen bemerken,
dass dieses nicht der Fall ist, beginnt die Hegemonie zu bröckeln.
In einer Reihe von Ländern sind die bürgerlichen Schichten in der Lage gewesen, ihre Werte [in
der ganzen Gesellschaft] zu verankern, eine breite Zustimmung zur kapitalistischen
Gesellschaftsordnung zu erzeugen und die kulturell-geistige Führung über die Gesellschaft
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herzustellen. Das bedeutet, dass sie anstatt mittels Gewalt auf der Grundlage von Zustimmung
regieren konnten. Hier ist die Propaganda eher gut ausgearbeitet und ist nicht nur in der Lage,
künstliche Bedürfnisse zu erzeugen, sondern innerhalb wichtiger Bereiche der Bevölkerung die
Illusion zu schaffen, dass deren Probleme durch den Ausbau des bestehenden ökonomischen
Systems gelöst werden können.
Trotzdem haben die globale Krise des Kapitalismus, seine Unfähigkeit zur Lösung der
dringlichsten Probleme unserer Völker, das rasche Anwachsen des Elends und die
gesellschaftliche Ausgrenzung der großen Mehrheit der Bevölkerung bei gleichzeitigem
Zusammenraffen des Großteils des Reichtums durch immer weniger Menschen dazu geführt,
dass eine wachsende Zahl von Menschen in aller Welt dieses System zurück weist. Dies war in
vielen Ländern Lateinamerikas der Dreh- und Angelpunkt für das Entstehen von Bedingungen,
in denen unsere Völker Führer wählten, die Alternativen zum Neoliberalismus versprachen. Und
dies ist heute auch die Ursachen der gegenwärtigen Mobilisierungen und Volkserhebungen, die
in verschiedenen Teilen der Welt stattfinden.
Die Notwendigkeit eines politischen Instrumentariums und einer neuen Kultur innerhalb
der Linken.
Dieser Einbruch der bürgerlichen Hegemonie bedeutet nicht notwendigerweise, dass eine neue
allgemeine Hegemonie an Stelle dieser getreten ist. Denn Letzteres geschieht nicht spontan,
wir benötigen ein politisches Instrumentarium, eine politische Organisierung, die uns hilft, das
zustande zu bringen.
Manche Menschen könnten behaupten, dass die großen Mobilisierungen in verschiedenen
Teilen der Welt zeigen, dass wir ohne politische Organisationen kämpfen könnten. Ich glaube
jedoch, dass wir zur Anhebung des Kampfes auf die nächste Stufe ein politisches Instrument
brauchen, aber eines, welches nicht eine traditionelle linksorientierte politische Partei sein
muss.
Diese Mobilisierungen haben ebenso wie die sozialen Explosionen, die in den 1980er und
1990er Jahren in verschiedenen Ländern quer durch Lateinamerika stattfanden, gezeigt, dass
die schöpferische Initiative der Massen für sich allein nicht genug ist, um die bestehenden
Regime zu besiegen.
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In den vergangenen Jahren und in zunehmend mehr Ländern haben Unmengen von Menschen
gegen die bestehende Ordnung rebelliert und ohne eine bestimmte Führung Plätze, Straßen,
Autobahnen, Städte, Parlamente besetzt. Trotz der Mobilisierung von Hunderttausenden von
Menschen hat jedoch weder die zahlenmäßige Größe noch die Kampfbereitschaft diese
Vielzahl befähigt, über einfache Volkserhebungen hinaus zu gehen. Sie zwangen Präsidenten
nieder, aber sie waren nicht fähig, die Macht zu erobern, um einen Prozess tiefgehender
gesellschaftlicher Transformation einzuleiten.
Ganz im Gegenteil belegt die Geschichte historisch erfolgreicher Revolutionen die Tatsache,
dass eine politische Organisation notwendig ist, um nicht die Energien des Volkes zu
verschwenden, und diese Energien vielmehr in eine zur Durchsetzung eines Wandels fähige
Kraft zu verwandeln. Eine Organisation, die helfen kann, die Zersplitterung und Vereinzelung
der Ausgebeuteten und Unterdrückten zu überwinden, indem sie ein alternatives nationales
Programm vorschlägt, welches als ein verbindendes Instrument breiter Volksschichten dienen
kann, und indem sie Strategien und Taktiken anwendet, die vereintes Handeln erlauben, um
dem machtvollen Feind, dem es sich in entscheidenden Augenblicken und an entscheidenden
Orten entgegen zu stellen gilt, so höchst wirksam Schläge zu versetzen.
Dies ist heute umso mehr gültig, da das potenzielle revolutionäre Volkssubjekt so heterogen
und geteilt und in jedem Land andersartig ist.
Fester organisatorischer Zusammenhalt gibt den Menschen nicht nur die objektive Befähigung
des Handelns, er schafft ebenso eine interne Kultur, die energisches Eingreifen in sich
entwickelnden Vorgängen und die Ausnutzung von sich uns bietenden Gelegenheiten
ermöglicht. Wir müssen bedenken, dass es in der Politik nicht ausreicht, Recht zu haben; wir
müssen ebenso [die nötige] Zeit und die erforderliche Macht haben, um die Politik zu
verwirklichen.
Andererseits können das Fehlen klarer Ideen darüber, wie wir kämpfen sollten und das
Empfinden des Fehlens von festen Instrumenten, die uns bei der praktischen Umsetzung der
von uns getroffenen Entscheidungen helfen könnten, einen negativen Einfluss haben, denn sie
wirken lähmend.
Und machen Sie sich bewusst, dass diese [neuen] Ideen ja gegen den derzeitigen Strom
angehen. Es gibt viele Menschen, die sie nicht einmal diskutieren wollen. Sie nehmen diese
Haltung ein, weil sie solche Ideen mit den anti-demokratischen, autoritären, bürokratischen und
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manipulativen politischen Praktiken verbinden, welche ein Merkmal vieler linksorientierter
Parteien waren.
Ich halte es für fundamental, dass wir diese subjektiven Blockaden überwinden und bitte zu
verstehen, dass ich nicht von irgend einem politischen Instrumentarium spreche. Ich spreche
von einem der neuen Zeit angepassten politischen Instrumentarium, etwas, dass wir alle
zusammen aufbauen müssen.
Um aber so ein neues politisches Instrumentarium zu schaffen oder neu zu gestalten, müssen
wir zuerst die politische Kultur der Linken und ihre politischen Visionen verändern. Dies darf
nicht auf die Institutionalisierung politischer Auseinandersetzungen zur Kontrolle des
Parlaments und von lokalen Regierungen, auf die Verabschiedung von Gesetzen oder das
Gewinnen von Wahlen reduziert werden. Diese Form des Politikverständnisses ignoriert die
Menschen und ihren Kampf. Politik darf ebenso wenig auf die 'Kunst des Möglichen' begrenzt
werden.
Für die Linke muss Politik die Kunst sein, das Unmögliche möglich zu machen. Dies meint
durchaus nicht eine Art voluntaristischer Anforderung. Worüber ich spreche, ist das Verständnis
von Politik als eine Kunst des Aufbaus gesellschaftlicher und politischer Kräfte, die fähig sind,
das Gleichgewicht der Kräfte zum Wohle der Volksbewegungen zu wandeln, sodass in der
Zukunft ermöglicht wird, was heute noch als unmöglich erscheint.
Die Vision, die ich von diesem politischen Instrumentarium habe, ist die einer zur Einleitung
eines nationalen Vorhabens befähigten Organisierung, die all diese 'sectors afectados por la
crisis' (alle von der Krise betroffenen Bereiche) zusammen bringt und für sie als ein Kompass
arbeitet. Eine Organisierung, die ihre Anstrengungen auf die Gesellschaft ausrichtet, die die
Autonomie sozialer Bewegungen achtet und deren Manipulation zurückweist; eine
Organisierung deren Mitglieder und Führer wahre Volkslehrer sind, fähig der Befreiung der in
den Menschen existierenden Weisheit - sowohl der aus ihren kulturellen Traditionen und
Kämpfen herkommenden, als auch der durch das Alltagsleben erworbenen - mittels der
Verschmelzung dieses Wissens mit den globalen Ideen, die politische Organisierung einbringen
kann.
Die politische Strategie der gegenwärtigen Situation: eine breite Einheitsfront
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Wir brauchen eine politische Organisierung, die zur Nutzung der Tiefe der gegenwärtigen Krise
und des weitreichenden Wesens der verschiedenen von ihr betroffenen [gesellschaftlichen]
Bereiche fähig ist. Es ist ein vielversprechendes Szenario entstanden, die anwachsende und
zersplitterte soziale Opposition in einer einzigen Reihe zusammen zu führen, um einen
alternativen gesellschaftlichen Block mit einer extrem breiten gesellschaftlichen
Zusammensetzung und gewaltiger Kraft zu formen. Dieser wird gewiss weiter wachsen, wenn
er die Fähigkeit beweist, Legionen potenzieller Nachfolger einzuberufen.
In den Fällen einer existierenden linken Regierung ist es die strategische Aufgabe, all
diejenigen gesellschaftlichen Bereiche zu einen und zu mobilisieren, die an der Verteidigung
und Vertiefung des von der Regierung eingeleiteten Wandels interessiert sind und die heftig von
den Bereichen Widerstand erfahren, die sich diesem Wandel entgegen stellen.
Die Merkmale dieses gesellschaftlichen Blocks - der die große Mehrheit der Bevölkerung
vereinen könnte - werden gewiss von Land zu Land unterschiedlich sein. Das Gewicht eines
jeden gesellschaftlichen Bereichs, einer jeden ethnischen Gruppe, usw. wird in jedem Land
verschieden sein. In Lateinamerika wird dieser Block nicht nur die traditionellen Gruppen wie
die städtische und ländliche Arbeiterklasse und die ärmsten und am meisten an den Rand
gedrängten Schichten umfassen. Ebenfalls einbezogen könnten sein: verarmte Teile der
Mittelklasse, Formationen der kleinen und mittelgroßen Geschäftsleute und Ladenbesitzer,
Heimarbeiter, kleine und mittelgroße landwirtschaftliche Produzenten, die Mehrheit der Lehrer,
die Legionen der Arbeitslosen, Genossenschaftsmitglieder und Rentner, die unteren Ränge der
Polizei und des Militärs.
Ich glaube auch, dass die kapitalistischen Bereiche, deren Geschäftsführung in objektiven
Widerspruch mit transnationalem Kapital geraten ist, ein Teil dieses gesellschaftlichen Blocks
sein könnten. Ich beziehe dies nicht auf jene Teile der Bourgeoisie, die in der Lage sind, ihren
eigenen Plan der nationalen Entwicklung aufzustellen. Eher denke ich an die Bereiche, die, um
im Zusammenhang der neoliberalen Globalisierung zu überleben, keine andere Wahl haben,
als sich selbst an einem nationalen volksorientierten Entwicklungsplan zu beteiligen, der ihnen
sichere Unterstützung in Form von Krediten und einem wachsenden internen Markt bietet, der
ein Produkt der gesellschaftlichen Politik einer solchen Regierung ist.
Und genauso, wie der Neoliberalismus die große Mehrheit der Völker unserer Länder arm
macht, nicht nur im rein ökonomischen Sinne, sondern auch in ihrer Individualität, sollten wir
nicht nur über die ökonomisch betroffenen Bereiche der Gesellschaft sprechen, sondern auch
über all diejenigen, die durch das System entwürdigt und von ihm unterdrückt werden: Frauen,
Jugendliche, Kinder, Alte, Ureinwohner, Menschen afrikanischer Abstammung, bestimmte
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religiöse Gruppen, Menschen unterschiedlicher sexueller Orientierung, usw.
Dieser Block sollte ebenso all diejenigen aufnehmen, die unter den Auswirkungen des Systems
leiden und gewillt sind, sich selbst dem Kampf dagegen zu verpflichten: zunächst um ihrem
Fortschreiten Einhalt zu gebieten, später um die Entwicklung umzudrehen.
Weiter ist es in einer Welt, in der Herrschaft in globalem Umfang ausgeübt wird, mehr als je
zuvor notwendig, Bedingungen und Strategien des Kampfes auf regionaler und
zwischen-regionaler Ebene einzuführen. Das Welt-Sozialforum und andere Zusammenkünfte
internationaler Art haben in diesem Sinne bemerkenswerte Fortschritte gebracht, obwohl noch
sehr viel zu tun bleibt.
Was der uruguayische Senator Enrique Rubio 1994 schrieb, bleibt heute noch so wahr, wie es
damals war: wir müssen alle jene vereinen, die "weltweit ausgeschlossen, zurück gelassen,
beherrscht und ausgebeutet werden, einschließlich derer, die in entwickelten Ländern leben. Es
ist notwendig ... dem Kapitalismus Einhalt zu gebieten, politisch, innerhalb und außerhalb der
Staaten, sei es militant oder nicht, durch Parteien oder außerhalb von Parteien, von sozialen
Bewegungen, aus dem wissenschaftlich-technischen Bereich, in kulturellen und
Kommunikationszentren, wo Ansichten entscheidend geformt werden und von eigenständigen
Organisationen ... Um es auf leicht gestraffte und vielleicht provokante Weise auszudrücken:
die Revolution wird entweder international, demokratisch, vielseitig und tiefgehend sein - oder
es wird sie nicht geben."
Ich glaube, dass es zum Aufbau dieses [gesellschaftlichen] Blocks für uns notwendig ist, zum
Vorschlag konkreter und spezifischer Aufgaben fähig zu sein, welche die Punkte der
Zusammenführung priorisieren und dass wir in der Lage sein müssen, mit den Widersprüchen
korrekt umzugehen, die unvermeidlich zwischen solchen verschiedenartigen Bereichen der
Gesellschaft aufkommen werden.
Es ist wichtig, ein Programm oder eine Plattform des Wachstums der politischen
Zusammenführung auszuarbeiten, welche die Rolle eines einigenden Instruments all der
'Verlierer' des neoliberalen Entwicklungsmodells haben. Eine Plattform, welche die
Weiterentwicklung des neoliberalen Weges aufzuhalten verspricht und konkrete Alternativen für
die gravierenden Probleme anbietet, denen das Volk ausgesetzt ist.
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Es muss eine Plattform sein, die unter Beteiligung all derer entworfen wird, die ein Teil dieses
beschriebenen Prozesses sein wollen. Ich stimme Rafael Agacino zu, dass "das demokratische
Einüben der Ausarbeitung von Politik, des Herstellens von Einvernehmen rund um die
Forderungen des Volkes" große Bedeutung hat. "Was wir zu erledigen haben", sagte er, "ist die
Öffnung von Räumen für Politik von unten, ist das Anregen des elementarsten Aktes der
Kommunikation von Angesicht zu Angesicht, und davon ausgehend das Voranbringen der
Praxis gesellschaftlicher Verarbeitung verschiedenartiger Belange durch sich geistig
Nahestehende und willige Menschen, die sich um die allgemeinen Rechte derer scharen, die
von ihrer eigenen Arbeit leben."
Diese Plattform darf nicht mit dem Programm des politischen Instrumentariums durcheinander
gebracht werden. Sie muss sich viel mehr in das Ziel und den Weg, es zu erreichen, vertiefen.
Die Herzen und Köpfe der übergroßen Mehrheit gewinnen.
Wenn unser Vorhaben einer zum Kapitalismus alternativen Gesellschaft ganz wesentlich
demokratisch ist, müssen wir uns darüber klar sein, dass wir die Herzen und Köpfe der
übergroßen Mehrheit des Volkes gewinnen müssen. Wir können unser Vorhaben nicht
aufzwingen, wir müssen die Menschen überzeugen, dass dies für sie das beste Vorhaben
darstellt, und wir müssen sie ermutigen, beim Aufbau dieser neuen Gesellschaft mitzuwirken.
Was können wir tun, um diese Ziele zu erreichen?
Erstens müssen wir verstehen, dass es nicht ausreicht, die Menschen zu belehren. Wie
Präsident Chávez sagt, werden die Herzen und Köpfe des Volkes in der Praxis gewonnen,
indem für die Menschen Gelegenheiten geschaffen werden, das Wesen des Vorhabens zur
gleichen Zeit zu verstehen, in der sie seine Gestalter werden.
Unser Aufruf [zur Teilnahme] muss weit angelegt sein und darf niemand ausschließen. Alle
Menschen guten Willens, die für das Wohlergehen der Gemeinschaft und ihr [eigenes] arbeiten
wollen, und die Solidarität mit anderen praktizieren wollen, sollten ungeachtet ihrer politischen
Richtung und ihres religiösen Glaubens eingebunden werden.
Unsere Einstellung muss eine sein, die die Menschen fühlen lässt, dass ihre Ansichten,
Informationen, Kritiken, Betrachtungen und Initiativen Beachtung finden. Dies impliziert ebenso
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ein Verständnis, dass wir nicht nur für uns selbst und unsere erklärten Unterstützer regieren.
Wie viele Menschen konnten wir für den [gesellschaftlichen] Prozess [der Transformation]
gewinnen, weil sie gesehen Haben, dass die Regierung allen geholfen hat, denen es schlecht
ging, ungeachtet dessen, ob sie Unterstützer der Regierung sind oder nicht.
Daher glaube ich auch, dass es grundlegend für uns ist, zwischen der destruktiven,
verschwörerischen Opposition und der konstruktiven Opposition zu unterscheiden und zu
vermeiden, sie alle in dieselbe Ecke zu stellen. Ich denke, dass es helfen könnte, viele von
denen, die gegenwärtig nicht auf unserer Seite sind, zu gewinnen, wenn wir zeigen, dass wir
fahig sind, die positiven Initiativen der Opposition anzuerkennen, anstatt alles und jedes zu
verdammen, was sie tun. Wir müssen selbstverständlich ihre fehlerhaften Ideen, ihre irrigen
Vorschläge bekämpfen, aber wir müssen diese mit Argumenten zerstören und verbale
Aggression vermeiden. Solche verbale Aggression wird vielleicht ganz gerne von den am
meisten radikalisierten Volksschichten angenommen, aber sie wird von großen Teilen der
Mittelklassen und vieler Volksschichten abgelehnt. Die Menschen empfinden diese Art von
Angriffen eher nicht als angenehm.
Wir müssen uns doch fragen, wie es dazu kommt, dass obwohl unser Vorhaben [der Bildung]
einer zum Kapitalismus alternativen Gesellschaft eine schöne, tiefgehende, transformatorische
Zielsetzung ist, welche die Interessen der großen Mehrheit der Bevölkerung berücksichtigt,
dennoch die Regierungen, die sich diesem Vorhaben verschrieben haben, nicht auf die
Unterstützung all derjenigen zählen können, die dieses eigentlich auch unterstützen müssten.
Ich denke, dass dieses zu großen Teilen daher kommt, dass ein bedeutender Teil der
Bevölkerung das wahre Wesen unseres Vorhabens nicht kennt. Die oppositionellen Medien
haben sich mit der Aufgabe der Verbreitung von Falschinformationen betraut. Sie erzeugen
falsche Alarme und verschrecken bei vielen Gelegenheiten das Volk in Hinsicht auf das, was
die Zukunft ihnen angeblich bringen wird. Aber sie sind nicht die einzigen, die für diese Lage
verantwortlich sind. Auch wir haben dazu beigetragen.
Wir haben meist große Schwierigkeiten bei der angemessenen Kommunikation der Natur
unseres Vorhabens. Wir widmen dieser Aufgabe nicht genügend Zeit, Ressourcen und
Kreativität. Und schlimmer noch, in vielen Fällen negiert die Art und Weise unseres Handelns
quasi unsere eigene Zielsetzung. Wir versprechen den Aufbau einer demokratischen,
solidarischen, transparenten, nicht korrupten Gesellschaft, und dennoch implementieren wir
autoritäre, nur auf Anhängergruppen bezogene, egoistische und undurchschaubare Praktiken.
Häufig gibt es ein großes Auseinanderklaffen zwischen dem, was wir sagen und dem, was wir
tun. Und so verliert das an Glaubwürdigkeit, was wir sagen.
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Daher sollten wir nicht überrascht sein, dass bedeutende Teile der Gesellschaft sich noch nicht
mit unserem Vorhaben identifizieren und dass es notwendig ist, diese zu überzeugen. Wir
müssen an der Berichtigung unserer Fehler und dem Beheben von Abweichungen arbeiten, da
wir nur auf diese Weise die gesellschaftliche [geistig-kulturelle] Hegemonie gewinnen können.
Eine neue Kultur der Linken
Endlich und zum Abschluss dieser Ausführungen, möchte ich noch einmal wiederholen, was ich
bereits bei unzähligen Anlässen gesagt habe: um die Hegemonie zu gewinnen, benötigen wir
eine neue Kultur der Linken; eine pluralistische und tolerante Kultur, die in den Vordergrund
stellt, was uns vereinigt und als nachrangig ansieht, was uns trennt. Wir brauchen linke
Aktivisten, die solche Werte fördern wie Solidarität, Humanismus, Achtung von Unterschieden,
Schutz der Natur; die das Jagen nach Reichtum und Marktgesetze als Leitlinien menschlichen
Handelns zurückweisen; Aktivisten, die verstehen, dass Radikalismus weder darin besteht, die
radikalsten Losungen aufzustellen noch darin, die radikalsten Aktionen durchzuführen - an
denen nur wenige teilnehmen, weil der Rest verschreckt ist - sondern dass es darum geht, fähig
zu sein, Räume des Zusammentreffens und Kampfes für breite Schichten des Volkes zu
schaffen. Wir brauchen eine Linke, die versteht, dass wir in diesem Kampf wachsen und uns
selbst verändern, und versteht, dass viele von uns den gleichen Kampf führen, was allein uns
stärker und letztlich radikaler macht.
Text: hth / Quelle: Conquering a new popular hegemony
Foto und weitere Informationen: Venezuelanalysis und amerika21.de
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