agile – Behinderung und Politik Ausgabe 1-08 Schwerpunkt: Blick über die Grenzen – von den anderen lernen herausgegeben von AGILE Behinderten-Selbsthilfe Schweiz Behinderung und Politik 1/08 Inhaltsverzeichnis Editorial Blick über die Grenzen – von anderen lernen............................................................. 3 Schwerpunkt Deutschland - Das Persönliche Budget – Instrument für mehr Selbstbestimmung..... 5 Von Elke Bartz Das Persönliche Budget – Instrument für mehr Selbstbestimmung Kommentar ........ 6 Von Simone Leuenberger In den USA sind zahlreiche Schranken gefallen ......................................................... 8 Von Victoria und William Bruckner “Die französischen Quoten sind nicht gerade zwingend“ .......................................... 12 Von Cyril Mizrahi Das Gras leuchtet (etwas) grüner bei Onkel Sam und in der Grande Nation Kommentar ............................................................................................................... 16 Von Cyril Mizrahi Sozialpolitik Sozialpolitische Rundschau ...................................................................................... 19 Von Ursula Schaffner IV-Finanzierung endlich aufgegleist! ......................................................................... 24 Von Cyril Mizrahi Genau hingeschaut - Die Umsetzung der IV-Revision ............................................. 25 Von Ursula Schaffner Pilotprojekt Assistenzbudget um ein Jahr verlängert! ............................................... 26 Von Simone Leuenberger Gleichstellung Vergleich zwischen AGILE und ETH Lausanne........................................................ 28 Von Eva Aeschimann Bedeutung der UNO-Behindertenkonvention für die Behindertengleichstellung in der Schweiz .......................................................................................................... 28 Von Tarek Naguib Verkehr Mitteilungen der Fachstelle Behinderung und öffentlicher Verkehr........................... 32 Bildung Kompetenzenbilanz: ein Projekt von AGILE findet Einzug in eine Publikation ......... 32 Von Catherine Corbaz Kursprogramm 2008 ................................................................................................. 34 Medien Rosenmeer ............................................................................................................... 35 Für Sie gelesen von Bettina Gruber Aus dem Lot – Menschen in der Psychiatrie…………………………………………….36 Für Sie gelesen von Bettina Gruber Impressum .............................................................................................................. 38 2 Behinderung und Politik 1/08 Editorial Blick über die Grenzen – von anderen lernen Existenzsicherung, Gleichstellung, grösstmögliche Teilhabe und Selbstbestimmung – dies sind die politischen und gesellschaftlichen Ziele der Behinderten-Selbsthilfe in der Schweiz. Der Kampf um ein selbstbestimmtes Leben für Menschen mit Behinderung, um eine gesicherte materielle Existenz und um Abbau von architektonischen und anderen Barrieren ist in unserem Land ein Dauerbrenner. Auch viele unserer betroffenen Nachbarn, jenseits der Schweizer Grenze, kennen diese Kämpfe. Auch sie streben mit grossem Einsatz soziale und berufliche Integration an. Sie wirken mit in Politik und Gesellschaft für eine Besserstellung von Menschen mit Behinderung. Dies ist Grund genug, für einmal gezielt über die Grenzen zu blicken. Grund genug, aktuelle Fragen und Themen in drei Staaten auf Vorbildfunktion hin zu durchleuchten. Dies durchaus auch mit kritischem Blick: Wie machen es die anderen? Was steht auf deren Polit-Agenda? Wo können wir von den anderen lernen? Und wo gehen wir eigene Wege? Die erste Ausgabe von „agile – Behinderung und Politik“ im Jahr 2008 lässt den Blick zum einen in zwei Nachbarländer schweifen. Nach Deutschland, wo Menschen mit Behinderung erste Erfolge mit dem Persönlichen Budget verbuchen. Und nach Frankreich, wo seit bald drei Jahren das Anti-Diskriminierungsgesetz in Kraft ist. Zum anderen blicken wir über den grossen Teich - in die USA, die in verschiedener Hinsicht als Vorbild für Barrierefreiheit gelten. Politische Erfolge und Modellprojekte - mit Vorbildcharakter - sind für uns von besonderem Interesse. Wir blicken aber auch dorthin, wo „Erfolgsmeldungen“ einer kritischen Beurteilung nicht standhalten. Interessant wäre es, zu erfahren, in welchen Ländern die Rahmenbedingungen einem integrierten Leben behinderter Menschen am förderlichsten sind. Leider kann AGILE sich aber nur beschränkt mit internationalen Fragen und Kontakten auseinander setzen. So wie in dieser Ausgabe unserer Zeitschrift. Wie die Analysen unserer AutorInnen auch ausfallen, eines steht fest: Weiterhin sind hüben und drüben Einsatz und Anstrengungen nötig. Dabei müssen sich Menschen mit Behinderung, als Expertinnen und Experten in eigener Sache, auch künftig in die politischen und gesellschaftlichen Entscheidungsprozesse einbringen. Dies für Existenzsicherung, Gleichstellung, grösstmögliche Teilhabe und mehr Selbstbestimmung. „Änet“ der Grenze wie auch in der Schweiz. Denn nur mit eigenem Engagement bleiben die Menschen mit Behinderung eine ernstzunehmende politische Kraft – gerade auch im Land mit dem Plus auf der Nationalflagge. Dr. Therese Stutz Steiger Präsidentin AGILE 3 Behinderung und Politik 1/08 Schwerpunkt Deutschland - Das Persönliche Budget – Instrument für mehr Selbstbestimmung Elke Bartz, Vorsitzende des Forums selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen (ForseA e.V.) Seit dem 1. Januar 2008 haben behinderte und von Behinderung bedrohte Menschen in Deutschland einen Rechtsanspruch auf Persönliche Budgets (PB). Das heisst, alle Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft können durch diese neue Finanzierungsform bezahlt werden. Rechtsgrundlage ist § 17 SGB IX (Neuntes Buch Sozialgesetzbuch). Damit wird eine langjährige Forderung der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung zur Alltagsrealität. Zwischen dem 1. Juli 2004 und dem 31. Dezember 2007 wurden Persönliche Budgets in einer Modellphase in 14 Regionen erprobt und von der Universität Tübingen wissenschaftlich begleitet. Keine neue Leistungsart – sondern "nur" eine neue Finanzierungsform Zwar können alle behinderten und von Behinderung bedrohten Menschen – unabhängig von der Art und Schwere der Behinderung und unabhängig vom Alter – Persönliche Budgets beantragen. Da es sich beim PB aber nicht um eine neue, also zusätzliche Leistung handelt, muss ein grundsätzlicher Leistungsanspruch bestehen. Das heisst beispielsweise, wer grundsätzlich keinen Anspruch auf Pflege und Betreuung oder ein bestimmtes Hilfsmittel hat, kann dafür auch kein PB erhalten. Persönliche Budgets nicht nur – aber auch – für Persönliche Assistenz Häufig werden, und das sowohl von manchen behinderten Menschen als auch von Kostenträgern, die beiden Begriffe des Persönlichen Budgets und der Persönlichen Assistenz verwechselt. Zur Klarstellung: Persönliche Budgets sind die Art, wie Leistungen finanziert werden; Persönliche Assistenz ist die Art, wie personelle Hilfen organisiert werden. In Deutschland mit seinem gegliederten Sozialversicherungssystem (Kranken-, Pflege-, Renten-, Unfall-, Arbeitslosenversicherung sowie der Sozialhilfe) kommt es für die Leistungsberechtigung zum einen darauf an, welche Ursache eine Behinderung hat (Unfall, Krankheit, Geburtsbehinderung, etc.) und zum anderen, wofür die Leistungen benötigt werden (Assistenz bei der Pflege, der Arbeit, in der Freizeit, medizinische oder berufliche Rehabilitation usw.). Je nach der individuellen Situation sind einer oder mehrere Kostenträger zuständig. Persönliche Budgets im Kontext zur Persönlichen Assistenz „Warum ein PB beantragen, wenn es nichts Zusätzliches gibt?“ fragen manche behinderte Menschen. „Welche Vorteile habe ich? Und wo kann es Probleme geben?“ PBs sind, wie schon der Begriff Budget deutlich macht, feste monatliche Geldsummen, mit denen zuvor definierte Leistungen, wie zum Beispiel Assistenz, bezahlt werden können. Da der monatliche Geldbetrag stets der gleiche ist, die Monate je4 Behinderung und Politik 1/08 doch eine unterschiedliche Anzahl von Tagen (28 bzw. 29, 30, 31) haben, muss das PB für die Persönliche Assistenz so bemessen sein, dass es diese Schwankungen auffängt. Ausserdem müssen ins Budget Urlaubs- und Krankzeiten und die damit notwendigen Vertretungen der Assistentinnen und Assistenten hineingerechnet werden. Dies, damit es nicht zu Deckungslücken kommt. Das heisst, bei der Bedarfsermittlung und der Budgetbemessung ist es sehr wichtig, alle Eventualitäten zu berücksichtigen. Wenn das PB in ausreichender Höhe bewilligt wurde, ermöglicht es sehr viel Selbstbestimmung, Flexibilität und damit verbunden Lebensqualität und Zufriedenheit. Dies hat auch die wissenschaftliche Begleitforschung während der Modellphase sehr deutlich gemacht. Ein Beispiel: Katrin Müller ist körperbehindert und auf Persönliche Assistenz angewiesen. Sie benötigt Hilfe bei der Körperpflege, der hauswirtschaftlichen Versorgung, beim Studium und in der Freizeit im Umfang von durchschnittlich zehn Stunden täglich. Bevor sie sich die Hilfen durch Assistentinnen gesichert und mittels eines PB finanziert hatte, war sie auf einen unflexiblen ambulanten Dienst für ihre Körperpflege und die hauswirtschaftliche Versorgung angewiesen. Sie musste stets zu vorgegebenen Zeiten zuhause sein, um auf die Toilette zu gehen, da der Dienst nur dreimal täglich kam. Abends musste sie um 20 Uhr ins Bett gehen, konnte also weder an Abendvorlesungen teilnehmen, noch mit ihren Kommilitoninnen ausgehen. Ihr Leben richtete sich nach einem sehr einschränkenden Zeitplan. Mittlerweile hat sie ein PB zur Verfügung und beschäftigt mehrere Assistentinnen, die sie sehr flexibel einsetzen kann. Sie kann ihren Alltag nun nach ihren eigenen Wünschen und Bedürfnissen organisieren. So hat sie jetzt beispielsweise die Möglichkeit, an einem Tag nur acht Stunden Assistenz in Anspruch zu nehmen, dafür an einem anderen Tag zwölf Stunden. Ausserdem kann sie Assistenzstunden "ansparen", um auch mal am Wochenende zu verreisen und die Assistentin dann rund um die Uhr mitzunehmen. Ferner hat sie die Möglichkeit, Teile des Budgets, die sie in einem Monat nicht komplett verbraucht hat, mit in die Folgemonate zu transferieren und bei Bedarf einzusetzen. Katrin Müllers Leben hat durch das PB sehr viel mehr Lebensqualität bekommen. Sie hat dadurch viel grössere Chancen, ihr Studium in der Regelzeit zu absolvieren und sich entsprechend auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu bewerben. "Knackpunkt" Budgetberatung und -unterstützung Wie zuvor dargestellt, können alle behinderten Menschen unabhängig von der Art und Schwere der Behinderung PBs beantragen. Viele benötigen dazu – in unterschiedlichem Umfang und mit unterschiedlicher Dauer – Beratung und Unterstützung. In diesem Punkt gibt es aber noch Finanzierungsprobleme. Budgetberatung als Hilfeleistung unterstützt bei Fragen zum PB, über die Antragstellung bis zur Bewilligung. Sie kann allerdings nicht durch das PB selbst finanziert werden, da dieses zu diesem Zeitpunkt ja noch gar nicht bewilligt ist. Hier wäre eine institutionelle Förderung der Beratungsstellen notwendig. Budgetunterstützung hingegen ist die Hilfe, die ein behinderter Mensch beanspruchen kann, um mit dem PB zu leben. Das heisst, ein Mensch mit Lernschwierigkeiten 5 Behinderung und Politik 1/08 etwa ist auf diese Unterstützung Zeit seines Lebens angewiesen, wenn auch vielleicht in abnehmendem Umfang. Unterstützung, um zum Beispiel Dienstleister zu suchen, Verträge abzuschliessen und das Budget zu verwalten. Ein körperbehinderter Mensch benötigt vielleicht nur während einer gewissen Zeit Budgetunterstützung, bis er beispielsweise gelernt hat, die Lohnabrechnungen für seine Assistenten selbst zu machen. Sowohl der Beratungs- als auch der Unterstützungsbedarf können also sowohl in der Art, als auch im Umfang und der Dauer sehr unterschiedlich sein. Und hier liegen derzeit auch noch die grössten Probleme. Denn der Bedarf wird zwar, sowohl vom Gesetzgeber als auch von den Kostenträgern, als solcher anerkannt, jedoch in der Regel nicht bei der Budgetbemessung berücksichtigt. Das heisst, die Budgetunterstützung darf zwar aus dem PB bezahlt werden, wird aber nicht zuvor hineingerechnet. Folglich gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder kann der Budgetnehmer die originären Leistungen günstiger als ursprünglich veranschlagt "einkaufen" und mit der eingesparten Summe die Unterstützung bezahlen, oder aber er muss an den originären Leistungen sparen, was eine Unterversorgung bedeutet. Hier muss der Gesetzgeber unbedingt nachbessern. Die nicht gesicherte Finanzierung der Budgetberatung und -unterstützung ist nach unserer Erfahrung, der Erfahrung des ForseA, eine der Hauptursachen dafür, dass bisher relativ wenige Budgetanträge gestellt wurden (rund 1000 bis 1200 Anträge). Fazit Das Persönliche Budget bietet eine gute Voraussetzung für ein selbstbestimmtes, chancengleiches Leben in der Gemeinschaft. Diejenigen, die mit einem PB leben, berichten fast ausschliesslich, dass ihr Leben einen enormen Qualitätsgewinn erfahren hat. Trotz der damit verbundenen grösseren Eigenverantwortung und des Zeitaufwandes für die Verwaltung des Budgets. Nachbesserungen, wie die Sicherung der Finanzierung von Budgetberatung und -unterstützung sind jedoch notwendig, damit das PB von einem noch grösseren Personenkreis genutzt werden kann. Das Persönliche Budget – Instrument für mehr Selbstbestimmung Kommentar Von Simone Leuenberger Deutschland hat etwas, das wir nicht haben – das persönliche Budget! Menschen mit einer Behinderung sind nicht auf einzelne, vorgegebene Leistungserbringer angewiesen, sondern können sich dank des persönlichen Budgets eine auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Leistung einkaufen. Das ist vor allem im Bereich der Assistenz von zentraler Bedeutung. Gerade Menschen mit einer Behinderung, die auf persönliche Hilfe angewiesen sind, wollen selber bestimmen können, wer ihnen diese Hilfe 6 Behinderung und Politik 1/08 wann, wo, wie und wie lange gibt. Ansonsten werden sie in zahlreichen, elementaren Bereichen des täglichen Lebens durch das System als unmündig erklärt. Lernen vom grossen Kanton Worüber wir in der Schweiz noch nicht einmal zu sprechen wagen, hat Deutschland am 1. Januar 2008 flächendeckend eingeführt. Alle Kostenträger beteiligen sich gemeinsam an den Assistenzkosten. In der Schweiz würde das vermutlich wie folgt aussehen: Kantone, Invalidenversicherung und Krankenkassen würden zusammen eine Assistenzentschädigung finanzieren. Wer auf persönliche Hilfe angewiesen ist, könnte eine solche Assistenzentschädigung beantragen. Dabei käme es nicht auf die Behinderung an. Denn bereits jetzt haben Menschen mit einer Behinderung Anspruch auf einen Platz in einer Institution (IFEG Art. 2). Diese Sachleistung würde auf Antrag hin in eine Geldleistung umgewandelt. Mit dieser Assistenzentschädigung könnte die persönliche Assistenz unabhängig vom Aufenthaltsort finanziert werden. Somit hätten alle Menschen mit einer Behinderung die Möglichkeit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Unser grosser Nachbar hat genau das realisiert. Damit nicht plötzlich die Geldleistungen zu klein ausfallen, um ein Leben ausserhalb einer Institution zu ermöglichen, gilt der Grundsatz „ambulant vor stationär“. Es besteht also ein genereller Leistungsanspruch auf ambulante Leistungen. Das haben bereits mehrere Gerichtsurteile bestätigt. Ein weiterer Vorteil des persönlichen Budgets ist die Leistung aus einer Hand. Menschen mit einer Behinderung müssen nicht bei den verschiedenen Kostenträgern um eine (Teil-)Finanzierung der Pflege und Betreuung anklopfen, sondern haben einen Ansprechpartner. Was wir besser machen können Trotz der vielen lobenden Worte, wurden auch bei der Einführung des persönlichen Budgets Fehler gemacht, die Behindertenorganisationen wie ForseA auszumerzen versuchen. Obwohl man weiss, dass viele Menschen mit einer Behinderung Unterstützung bei der Verwaltung des persönlichen Budgets brauchen, gibt es dafür kein Geld. Faktisch werden durch diese Einschränkung ganze Gruppen von Menschen mit einer Behinderung vom persönlichen Budget ausgeschlossen. Die Schwachpunkte bei der Budgetberatung würden in der Schweiz wohl nicht so stark ins Gewicht fallen. Hierzulande gibt es ein breites Netz an Sozialberatungsstellen. Allerdings müssten wohl einige davon ihre Philosophie überdenken. Auch bei einer Budgetberatung geht es nämlich nicht ums Helfen und Betreuen, sondern ums Mutmachen zur Selbstbestimmung und Eigenverantwortung. Kämpfen müssen wir insbesondere dafür, dass Leistungen für persönliche Assistenz grösstenteils einkommens- und vermögensunabhängig gewährt werden. Ansonsten wird jeder Anreiz im Keime erstickt, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen trotz Behinderung und Assistenzbedarf. Abgesehen von einigen Schwachpunkten des persönlichen Budgets ist uns Deutschland einen riesigen Schritt voraus. Mit dem Grundsatz „keine neue Leistung, aber eine neue Finanzierungsform“ wurde es möglich, dass viele Menschen mit einer 7 Behinderung und Politik 1/08 Behinderung gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Wie lange müssen wohl Menschen mit einer Behinderung in der Schweiz noch darauf warten? In den USA sind zahlreiche Schranken gefallen Von Victoria und William Bruckner, Berater im Bereich der Behindertenpolitik, San Francisco. Das 1990 in den USA verabschiedete Gesetz über Menschen mit Behinderungen («Americans with Disabilities Act» - ADA) hat die Zugangsmöglichkeiten und die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen stark verbessert. Durch das ADA wurden einheitliche Bestimmungen für die Zugänglichkeit von Gebäuden, Integrationsauflagen für sämtliche Regierungsstellen der einzelnen Bundesstaaten und für die lokalen Behörden sowie Zugangsanforderungen für den Privatsektor eingeführt. Im Rahmen des ADA wurde ferner ein landesweites Netzwerk zugänglicher Telekommunikationsdienstleistungen errichtet. Ausserdem wurden Anforderungen für einen zugänglichen öffentlichen Verkehr (Bus, Tram und Bahn) festgelegt. Verschiedene Schwierigkeiten für Menschen mit Behinderungen bleiben jedoch auch in den USA bestehen. Hintergrund Vor der Verabschiedung des ADA hatten sich politisch hochaktive Menschen mit Behinderung während über dreissig Jahren überall in den USA für vollständige «Bürgerrechte für Menschen mit Behinderung» engagiert [dies in Anlehnung an die Gleichstellungsbewegung der schwarzen Amerikaner in den 1960er Jahren (A.d.R)]. Auf lokaler Ebene tätige Aktivisten kritisierten häufig zuerst einmal die bestehenden architektonischen Hindernisse für Rollstuhlfahrer. Menschen mit unterschiedlichsten Behinderungen hielten zudem fest, dass es in vieler Hinsicht an Gleichstellung fehle und Diskriminierung weit verbreitet sei. In der Folge schlossen diese sich zusammen, um gemeinsam politische Ziele zu erreichen. Mitte der 1970er Jahre wurden Bundesgesetze verabschiedet, welche die öffentliche Schulbildung für Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichsten Behinderungen vorsahen. Einige Jahre später traten Gesetze in Kraft, welche die Zugänglichkeit von staatlich unterstützten Programmen und Dienstleistungen für Menschen mit körperlicher und geistiger Behinderung gewährleisteten. Verabschiedung des ADA Der äusserst konservative Präsident Ronald Reagan ernannte dann Mitte der 1980er Jahre eine nationale Kommission für Menschen mit Behinderung. Trotz ihrer konservativen Anschauungen hatten die Mitglieder der Kommission ein persönliches Interesse an der Förderung der Rechte von Menschen mit Behinderung. Viele hatten selbst eine Behinderung, oder sie hatten Kinder oder Verwandte mit Behinderung. 8 Behinderung und Politik 1/08 Die Kommission führte eine landesweite Umfrage bei Menschen mit Behinderung durch. Sie stellte fest, dass deren grösstes Problem die Diskriminierung war. Deshalb verfasste die Kommission einen ersten Entwurf eines umfassenden Gleichbehandlungsgesetzes für den öffentlichen und den privaten Sektor. Zwei Jahre später unterbreitete der Gesetzgeber dem Kongress eine abgeänderte Version dieses Gesetzes. Noch einmal verstrichen zwei Jahre, bis die Vorlage als «Americans with Disabilities Act» in Kraft trat. Damit der Gesetzesantrag verabschiedet werden konnte, wurde eine dreistufige Strategie angewendet. Als erstes deckte eine durch die Zentren für selbstbestimmtes Leben angeführte Volksbewegung den Kongress mit Briefen und Telefonanrufen von Wählerinnen und Wählern aus dem ganzen Land ein. Die Zentren für selbstbestimmtes Leben und die traditionellen Behindertenorganisationen wandten sich an Gewerkschaften, Kirchengruppen, Seniorenorganisationen und weitere politische Partner, um eine breite Allianz für das ADA zu bilden. Zweitens setzten sich Schlüsselfiguren der Bundesregierung für die Verabschiedung der Gesetzesvorlage ein, von diesen waren einige von Präsident George H. W. Bush selbst beauftragt worden, einige der Schlüsselfiguren auch selbst behindert. So etwa auch der damalige Vizepräsident, der aufgrund einer Kriegsverletzung von einer Behinderung betroffen war. Drittens verfolgten die wichtigsten Anführer der Bewegung für die Rechte von Menschen mit Behinderung in Washington D.C. sehr genau, wie die Vorlage in den verschiedenen Ausschüssen des Kongresses behandelt wurde. Sie lobbyierten, um sicherzustellen, dass das Gesetz dabei nicht allzu sehr verwässert wurde. Was hat sich verändert, was ist noch zu tun? Das ADA ist bekannt und wird landesweit angewandt. In einer 2007 durchgeführten nationalen Studie hielten Menschen mit Behinderung fest, dass sich der Zugang zu Geschäften, Parks, Restaurants, Theatern, Museen, Bürogebäuden und öffentlichen Diensten dank dem ADA stark verbessert hatte. Viele Stimmlokale sind nun zugänglich, und es gehen so viele Menschen mit Behinderung an die Urne wie nie zuvor. Kleinere Läden, Restaurants, Theater, Hotels und weitere Geschäfte haben die Auflage, alle Hindernisse zu beseitigen, wenn sie sich dies leisten können. Diese Auflage wird jedoch häufig nur schlecht umgesetzt, so dass der Erfolg des ADA auch von der juristischen Durchsetzung abhängt. Immer noch können Menschen mit Behinderungen viele kleine Geschäfte nur auf dem Prozessweg dazu bringen, Hindernisse zu beseitigen und auf Wunsch eine zugängliche Kommunikation zu gewährleisten, so beispielsweise über Gebärdensprachendolmetscher oder Dokumente in Braille-Schrift. Allgemein hat sich die Zugänglichkeit im Kommunikationsbereich stark verbessert. Von Gehörlosen sehr häufig benutzte Telescrits (Schreibtelefone) sind nun auch an öffentlichen Orten verfügbar. Gehörlose Menschen können über Schreibtelefone mit Personen telefonieren, die gewöhnliche Telefongeräte besitzen. Dabei geht die Verbindung über ein nationales Netzwerk von Vermittlungsstellen, das im Rahmen des ADA eingeführt wurde. 9 Behinderung und Politik 1/08 Blinde Menschen oder Menschen mit Lernschwierigkeiten können von öffentlichen Bibliotheken, privaten Unternehmen und vielen staatlichen Programmen Dokumente in Braille-Schrift, auf elektronischen Datenträgern oder in Grossdruck verlangen. Mehrere Jahre nach der Verabschiedung des ADA legte die Bundesregierung auch Bestimmungen für die Zugänglichkeit von Websites fest. Fast alle grossen und mittelgrossen Orte haben inzwischen auch Bordsteinrampen angebracht. Aber noch immer ist es ein Kampf, dass überall dort Bordsteinrampen gebaut werden, wo diese nötig wären. In vielen Gemeinden müssen Anwälte für die Rechte von behinderten Menschen bei den Behörden Druck machen, damit die Zugänglichkeit der Trottoirs verbessert wird. Alle neuen städtischen Busse müssen seit 1990 mit Liften ausgestattet sein. Manchmal wissen die Chauffeure und Chauffeusen jedoch nicht, wie die Lifte bedient werden, und zuweilen funktionieren diese nicht einmal. Deshalb überwachen mancherorts in Städten Freiwilligengruppen von Menschen mit Behinderung wie die BusChauffeure ausgebildet und wie rasch die Lifte repariert werden. Dies in Zusammenarbeit mit den lokalen öffentlichen Transportunternehmen. In ländlichen Gegenden dagegen sind die öffentlichen Verkehrsmittel häufig nicht zugänglich. Gesellschaftliche Integration Die gesellschaftliche Integration von Menschen mit Behinderung begann mit der Integration der Sonderschulen in das Bildungssystem Ende der 1960er und in den 1970er Jahren. Vollständige gesellschaftliche Integration wurde aber erst mit einer zunehmend besseren Zugänglichkeit von Gebäuden, Trottoirs und öffentlichen Verkehrsmitteln möglich. Dies und die gleichzeitige Schliessung grosser Heime führten zu einer umfassenden gesellschaftlichen Integration von Menschen mit Behinderung. Trotz der gesellschaftlichen Integration gibt es aber keine durchgängige soziale Akzeptanz. Menschen ohne Behinderung haben immer noch Angst vor bestimmten Behinderungen, insbesondere vor Menschen mit geistiger Behinderung. Von solchen Behinderungen betroffene Menschen treten selten in der Öffentlichkeit auf und fühlen sich häufig sehr isoliert, auch wenn sie in Gemeinschaften leben. Es gab aber auch politischen Widerstand gegen das ADA: So von Geschäftsbesitzern, die Prozesse fürchteten, Krankenversicherungen, die Menschen mit Behinderung als «zu teuer» erachten, aber auch von Bürgern, die denken, Menschen mit Behinderung wünschten eine «Spezialbehandlung», vom ultrakonservativen Obersten Gerichtshof und von Mitgliedern der Bush-Administration. Arbeit und wirtschaftliche Ungleichheit Schwachpunkt des Gesetzes waren von Anfang an die Bestimmungen zum Thema Arbeit, die durch das Oberste Gericht zudem noch weiter abgeschwächt wurden. Obwohl das ADA Diskriminierung bei der Stellenbewerbung und bei Bewerbungsgesprächen verbietet, enthält es keine Bestimmungen zu Anstellungsquoten oder anderen Massnahmen, um Arbeitgeber zur Anstellung qualifizierter Bewerberinnen und Bewerber mit Behinderung zu verpflichten. Immerhin umfasst es aber bestimmte Schutzmassnahmen für bereits eingestellte Arbeitnehmer mit Behinderung. 10 Behinderung und Politik 1/08 Aufgrund der sehr hohen Arbeitslosenquote (75 Prozent bei Menschen im erwerbsfähigen Alter mit schwerer Behinderung) und einer seit 25 Jahren andauernden Verschlechterung der Finanzierung von öffentlichen Sozialdiensten leiden die meisten Menschen mit Behinderung in den USA weiterhin unter schweren wirtschaftlichen Nachteilen. Gleichstellung im Bereich Wirtschaft/Arbeit ist in den Vereinigten Staaten noch lange nicht erreicht. Die USA – ein vorbildliches Modell für andere Staaten? Die Rechte für Menschen mit Behinderung in den USA wurden vor allem durch die Verabschiedung nationaler Gesetze gefördert. Wichtig ist jedoch die Feststellung, dass der ursprüngliche Anstoss auf lokaler Ebene erfolgt ist. Politische Gemeinden haben als erste damit begonnen, Hindernisse für ihre Bürgerinnen und Bürger mit Behinderung zu beseitigen. Möglicherweise könnten auch in der Schweiz die politischen Gemeinden bei der Entwicklung neuer Modelle für die Zugänglichkeit und gesellschaftliche Integration von Menschen mit Behinderung die Führungsrolle übernehmen. Wenn diese Modelle sich auf Gemeindeebene bewähren und publik gemacht werden, entscheiden sich möglicherweise immer mehr Gemeinden, vergleichbare Initiativen zu starten. Dieser Prozess wird Zeit brauchen. Aber in einer Gesellschaft, in der Auseinandersetzungen auf Gemeindeebene Bedeutung haben, können grosse Fortschritte erzielt werden, wenn sich die betroffenen Menschen Gehör verschaffen und ihre Interessenvertretung stark ist. Eine Schwierigkeit in der Schweiz zeigt sich darin, dass Menschen mit Behinderung sehr häufig in Heimen leben. Es wäre wichtig für diese zu ermöglichen, dass sie ausserhalb dieser Institutionen studieren, arbeiten und kulturelle Veranstaltungen besuchen können und am Gemeinschaftsleben teilhaben können. Mit der Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderung ausserhalb von Institutionen, nimmt auch die gesellschaftliche Integration zu. Zudem werden die Meinungen von Menschen mit Behinderung vermehrt gehört. Auch die Medien können dabei eine wichtige Rolle spielen, indem sie die Meinungen und Erfahrungen von Menschen mit Behinderung öffentlich bekannt machen und damit Zugänglichkeit, soziale Integration und Akzeptanz fördern. Übersetzung: Susanne Alpiger 11 Behinderung und Politik 1/08 “Die französischen Quoten sind nicht gerade zwingend“ Interview mit Jean-Luc Simon, Unternehmer im Rollstuhl Von Cyril Mizrahi „Es freut mich, die DPI Schweiz (Disabled Peoples International, AGILE ist Mitglied der DPI, Anmerkung der Redaktion) kennen zu lernen. Bei den internationalen Treffen ist sie ja nicht sehr präsent...“ Er nimmt kein Blatt vor den Mund, Jean-Luc Simon, Präsident des GFPH (Groupement Français des Personnes Handicapées, entspricht in der Schweiz als Organisation AGILE). Simon ist Vorsitzender der DPI auf europäischer Ebene. Jean-Luc Simon ist kein Sensibelchen – oder vielleicht doch eher ein Philosoph? Ohne mit der Wimper zu zucken, verlässt er ein „als leicht zugänglich“ bekanntes, luxuriöses Restaurant in der Nähe des Genfer Bahnhofs. Dies als ihm dort ein Kellner erklärt, „es gebe nur ein bis zwei Treppenstufen, um in das Restaurant zu gelangen.“ Simon verliert keine Zeit. In ein paar Stunden nimmt er an einem internationalen Treffen teil zum UNO-Abkommen über die Rechte der Menschen mit Behinderung. Ein paar Raddrehungen weiter finden wir in einem Bistro im Quartier „Les Grottes“ problemlos Zugang - obwohl rundherum eine Baustelle ist. Jean-Luc Simon ist seit einem schweren Verkehrsunfall 1983 gelähmt. Im selben Jahr wurde der ehemalige Psychiatriepfleger wegen „Arbeitsunfähigkeit“ entlassen. Was für einen Weg hat dieser redegewandte, mittlerweile fast fünfzigjährige Mann seither zurückgelegt! Heute ist er Chef eines Unternehmens. Vorher hat er im Rahmen des europäischen Jahres der Menschen mit Behinderung als Projektleiter im öffentlichen Dienst seine grosse Rückkehr in die Arbeitswelt gefeiert. Er arbeitete dabei für Ségolène Royal, damalige Gesundheits-, Familien- und Behindertenministerin. agile: Ein Unternehmensboss mit einer Behinderung ist selten… Jean-Luc Simon (JLS): Das ist eine logische Entwicklung in meinem Leben. Nachdem ich mich für Gesetze zur Gleichstellung der Menschen mit Behinderung eingesetzt hatte, wollte ich mich für deren Umsetzung engagieren. Viele Unternehmen nennen sich in diesem Bereich ja Experten. Aber wir selber sind die Experten! In der Folge habe ich ein Unternehmen gegründet, mit Menschen mit Behinderung und solchen ohne; eine wirkliche Expertengruppe. Unsere Idee ist es, für alle die besten Voraussetzungen zu schaffen, etwas zu bewirken. So haben wir beispielsweise auch an einer Ausschreibung des Justizministeriums teilgenommen, das beauftragt ist, die antidiskriminierende Gesetzgebung umzusetzen mit dem Ziel, den Anteil Beschäftigter mit Behinderung zu erhöhen. agile: Was bringt eigentlich das neue Gesetz „Für gleiche Rechte und Chancen, für die Mitwirkung und Beteiligung der Menschen mit Behinderung“? JLS: Das Gesetz ist seit 2005 in Kraft. Es hat eine Regelung aus dem Jahre 1976 ersetzt. Diese hatte beispielsweise bereits Kündigungen wegen einer Behinderung im öffentlichen Dienst verboten (meine Entlassung damals war also schon gesetzeswidrig). Auch die Zugänglichkeit öffentlicher Bauten und Schulen war durch dieses Gesetz geregelt. Das neue Gesetz hat das öffentliche Recht angepasst (Frankreich 12 Behinderung und Politik 1/08 hat neben dem Zivil- und dem Strafgesetzbuch auch Gesetzgebungen in den Bereichen soziale Sicherheit und Gesundheit, Anm. der Redaktion). In der Folge setzte sich mehr und mehr der Wunsch durch, Gleichstellung themenübergreifend zu behandeln. Leider wurde das Gesetz aber schlecht gestrickt. Der damalige Präsident Jacques Chirac hatte sich dafür zwar sehr eingesetzt – Chirac war übrigens auch Regierungschef, als das erste Gesetz 1975 verabschiedet worden war. Die grosse Herausforderung war, einen neuen Ansatz zu finden und eine neue Methode, in der Verwaltung etwas zu bewegen. Denn auf gesetzlicher Ebene waren eigentlich schon alle wichtigen Grundsätze vorhanden gewesen. Aber dann hat man ein schwerfälliges und komplexes Gesetz ausgearbeitet, welches die Verwaltung fünf Jahre lang beschäftigte. Statt dass man sich auf die Umsetzung der bestehenden Regelungen konzentriert hätte. Immerhin, das neue Gesetz hat Gleichstellung ins Gespräch gebracht und die Diskussion in der Öffentlichkeit gefördert. Aber anstelle einer neuen Vorlage auf die Schnelle, wäre man gescheiter pragmatisch vorgegangen. agile: Aber hat die Definition von Behinderung im Gesetz nicht Modell-Charakter? JLS: Die Ausdehnung der Anwendungsgebiete ist sicher positiv, vor allem für Menschen mit psychischer Behinderung und für chronisch Kranke, wie zum Beispiel AidsKranke. Aber ich frage mich: Ist es gut, die Definition in einem Gesetz zu verankern? Man hat eine Art Kompromiss geschaffen zwischen medizinischer Definition und derjenigen der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die auch Umweltfaktoren mit einbezieht. Zudem wurde die Sprache nicht angepasst. Es wurde nicht über die Bedeutung der Begriffe nachgedacht. Statt von Behinderung und von Menschen mit Behinderung, könnte man im positiven Sinne nicht auch von Fähigkeiten und Menschen mit Fähigkeiten sprechen? Und übrigens, weshalb sagt man „an einer Behinderung leiden“? Ich leide nicht an meiner Behinderung, sondern an der Diskriminierung. Ein anderes Problem für mich ist auch: Das Signet für Menschen mit Behinderung - eine Person im Rollstuhl! Diese vertritt aber nur eine Minderheit der Betroffenen. Wir Menschen im Rollstuhl sind sichtbar, aber trotzdem nur oberflächlich. Wie oft spricht man nur von der oberflächlich sichtbaren Bevölkerung, obwohl man eigentlich auf die anderen Bedürfnisse, auf die nicht sichtbaren Probleme, die genauso existieren, eingehen sollte. agile: In unseren Kreisen in der Schweiz löst das französische Quotensystem zu Gunsten von Arbeitnehmenden eine gewisse Skepsis aus. Wie wirkungsvoll ist es? JLS: Nicht sehr. Jedes Unternehmen, das mehr als 20 Arbeitnehmende beschäftigt, muss davon mindestens 6 Prozent Menschen mit Behinderungen einstellen. Das Gesetz, das diese Quoten 1991 eingeführt hatte, richtete sich jedoch nur an den Privatsektor. Aus dieser Sichtweise muss dem Gesetz von 2005 positiv angerechnet werden, dass es den öffentlichen Sektor auf die gleiche Ebene stellt, indem es einen Fonds schuf entsprechend dem Fonds des Verbands der paritätischen Verwaltung für die berufliche Wiedereingliederung der Menschen mit Behinderungen (AGEFIPH Association Paritaire De Gestion Du Fonds Pour L'Insertion Professionnelle Des Personnes Handicapées). Bloss das System wirkt sich eher zu Gunsten der Unterneh13 Behinderung und Politik 1/08 men als zu jener der Menschen mit Behinderung aus. Die Unternehmen entlasten sich, indem sie die durch das Gesetz geschaffenen Möglichkeiten maximal ausnutzen, etwa mit Geldspenden an Verbände oder mit der Auftragsvergabe an Fachinstitutionen. Sie können innerhalb ihrer Wirtschaftsbranche auch eigene Fonds einrichten, welche den offiziellen Fonds ersetzt. agile: Besteht mit diesem offenbar flexiblen Quotensystem nicht das Risiko, dass eine Person mit Behinderung anstelle einer kompetenteren Person ohne Behinderung eingestellt wird, sozusagen als „Quotenmann oder Quotenfrau“? JLS: Nein, das sehe ich nicht so. agile: In letzter Zeit hat man in Frankreich oft vom „Beanstandungsrecht“ (Droit opposable) gesprochen. Dieses entspricht in der Schweiz der Idee des subjektiven Rechts, das direkt vor Gericht angerufen werden kann. Wo steht Frankreich in dieser Hinsicht? JLS: Die Debatte am Fernsehen der Präsidentenkandidaten Nicolas Sarkozy und Ségolène Royal über das Beanstandungsrecht bei der schulischen Integration war vor allem eine Debatte von Demagogen. Sie entspricht der gleichen Idee, dass jedes Kind mit Behinderung in die Quartierschule eingeschrieben werden könne. Allerdings funktioniert dies nicht, weil schlicht das Geld fehlt. agile: Wird der Rechtsweg im Bereich der Arbeit oft genutzt? JLS: Nein, …dagegen haben wir erlebt, dass persönliche Assistenten ihre Arbeitgeber einklagen, weil ein Arbeitsvertrag fehlte… agile: In Frankreich bekommen Menschen mit Behinderungen demzufolge Geld, um persönliche Assistenten anzustellen? Wie beim schweizerischen Pilotprojekt „Assistenzbudget“? JLS: In der Tat sieht das Gesetz von 2005 vor, was wir das Recht auf Kompensation nennen. In der Wirklichkeit gibt es das schon seit 2002, dank einer aufsehenerregenden Aktion von Menschen mit Behinderungen, die grosses mediales Echo gefunden hat. Menschen mit Behinderung sollten, wo nötig, endlich eine 24-Stunden-Assistenz bezahlen können. Es ging dabei um Beträge von bis zu 8‘000 oder 10‘000 Euro. In Wirklichkeit aber ist die Praxis und die Genehmigung der Beträge viel restriktiver, und die Entschädigungen werden mehr und mehr abgestuft. agile: Wie wirkt sich das europäische Recht auf Frankreich aus? JLS: Die europäische Union (EU) hat mehrere Weisungen verabschiedet. Es sind Rahmengesetze, die die Staaten verpflichten, Normen zu erlassen, sonst werden diese finanziell bestraft. Die Europäische Kommission überprüft diese Rahmengesetze. Von einer Weisung zu den Transportunternehmen beispielsweise profitiert auch die Schweiz, weil sie die Hersteller verpflichtet, behinderten-zugängliche Busse herzustellen und zu verkaufen. Es gibt auch eine Weisung, die jegliche Diskriminierung im Bereich der Arbeit verbietet, gerade auch in Bezug auf Menschen mit Behinderung. Sie sieht vor, dass die Arbeitgeber soweit als möglich und vernünftig behindertengerechte Einrichtungen anbieten. Europa hat das Thema vorangetrieben, ganz klar. Und wenn es irgendwo voran geht, dann geht es überall voran. 14 Behinderung und Politik 1/08 agile: Frankreich besitzt mit der HALDE (Haute Autorité de Lutte contre les Discriminations) eine eigene Behörde, die gegen Diskriminierung und für Gleichstellung kämpft. Wie nötig ist diese Behörde, insbesondere auch für die Menschen mit Behinderung? JLS: Die HALDE wurde 2003 geschaffen, sie ist eine Art Geschenk von Chirac für Sarkozy! (lacht). Sie hat sich beispielsweise zum Gesetz zur Eindämmung der Einwanderung geäussert, indem sie mehrere der Bestimmungen als diskriminierend qualifizierte. Etwa die Gentests für den Familiennachzug; sie wurden als eine Verletzung der Privatsphäre beurteilt. Wie es bezüglich der Menschen mit Behinderung aussieht, weiss ich nicht. Ich persönlich habe mich an die HALDE gewendet, als mir meine Bank einen Kredit verweigerte, weil ich kein steuerbares Vermögen hatte. Ich erhielt zur Antwort, dass dieses Verhalten legal sei. Es ist eben so, dass in dieser Behörde kein einziges Mitglied mit einer Behinderung tätig ist. agile: Wirken sich all diese schönen Gesetze insgesamt positiv auf die berufliche und soziale Integration von Menschen mit Behinderung aus in Frankreich? Finden die Leute Arbeit? JLS: Die Menschen mit Behinderung sind in Frankreich doppelt so häufig arbeitslos wie Menschen ohne Behinderung. Trotzdem, es ist wahr, in den letzten 20 Jahren hat es doch auch Fortschritte gegeben. Im Lauf der Geschichte wurden wir zunächst eliminiert, dann auf die Seite gestellt, waren hilfebedürftig, pflegebedürftig und nun endlich integriert… jetzt suchen wir Akzeptanz als StaatsbürgerInnen und Gleichstellung. Ich persönlich warte noch darauf, dass man die Heime abschafft! (schmunzelt). Aber ich bin zweifellos ein ungeduldiger Mensch… Je mehr ich reise, desto mehr schätze ich die französische Lebensqualität, auch die Lebensqualität für Menschen mit Behinderung. Das Paradies auf Erden gibt es nicht, auch nicht für uns. agile: Wie funktioniert das französische Pendant zu AGILE, der GFPH (Groupement Français des Personnes Handicapées)? Welches ist sein Platz im Verbandsmilieu? JLS: Unsere Vereinigung, bestehend aus elf Organisationen, funktioniert auf der Basis einer neuen Dynamik, die sich auf drei Säulen stützt. Zunächst verteidigen wir die Menschenrechte, was gut für uns ist, aber auch für die anderen. Zudem sind wir eine Organisation, die sich für eine bestimmte Gruppe der Bevölkerung interessiert: Menschen mit Behinderungen jeglicher Art. Zuletzt sind wir eine selbstbestimmende Organisation. Die betroffenen Personen entscheiden: nicht über uns, ohne uns. Oft will man so viel Gutes für uns tun und vergisst, dass wir das Ruder in unserem Leben gerne selber in der Hand halten. 15 Behinderung und Politik 1/08 Das Gesetz von 1975 hat die Verbandswelt verzettelt. Mit der Folge, dass die Verbände heute sowohl Fachhilfe wie auch Betroffene repräsentieren. Das ist in etwa so, wie wenn der Chef von „Renault“ für die Arbeitnehmenden des Unternehmens sprechen würde. Die Entscheide werden oft in dreiteiligen Gremien gefällt, wo sowohl die Gewerkschaften, als auch die Arbeitgeber wie auch die Verbände vertreten sind. Die Allianz mit den Gewerkschaften ist aber nicht einfach. Wären die Menschen mit Behinderung in den Sitzungen dabei, würde man mit ihnen ganz anders umgehen. Das Gras leuchtet (etwas) grüner bei Onkel Sam und in der Grande Nation Kommentar Von Cyril Mizrahi Die USA und Frankreich – das liberale Imperium und die staatsgläubige Republik der Unzufriedenen – sie haben mehr gemeinsam als man denkt. Vor allem, wenn man die Gesetzgebung zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung anschaut. Diese lässt uns vor Neid erblassen. Ein anderes politisches Klima Zunächst fällt auf, dass keine progressive oder linke Mehrheit nötig war, um das ADA (Gesetz über Menschen mit Behinderung „Americans with Disabilities Act“) oder das französische Behindertengesetz („loi handicap“) durchzusetzen. Man erinnere sich: In der Schweiz war es nur die Linke, die die Initiative für „Gleiche Rechte“ unterstützt hatte. Wie andere Vorschläge, die im Mai 2003 dem Volk unterbreitet waren, wurde auch diese Initiative hochkant verworfen. Man erinnere sich ebenfalls an die Verhandlungen im Parlament zum Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderung (Behindertengleich-stellungsgesetz, BehiG): Wie schwierig war es doch, politische Mehrheiten zu finden, um die bescheidenen Verbesserungen des Bundesrats-Vorschlags durchzubringen. Ganz anders in Frankreich und in den USA! In Amerika hat die Administration von Bush Senior das ADA vorbereitet, in Zusammenarbeit mit Menschen mit Behinderung, In Frankreich wurde sowohl das Gesetz von 2005, wie auch jenes von 1975, von einer rechten Mehrheit verabschiedet. Die Einstimmigkeit in Frankreich basiert auf den Werten wie die republikanische Gleichstellung und die nationale Solidarität, die für die Franzosen fundamental sind. Amerika dagegen stützt sich auf den zentralen Begriff „civil rights“ (zivile Rechte). Keine Freiheit, keine freie Marktwirtschaft ohne Gleichstellung als Ausgangspunkt. Dieses Argument sollte auch in der Schweiz entscheidend sein. 16 Behinderung und Politik 1/08 Zuerst das Private Aus Schweizer Sicht erstaunt, dass die amerikanische Regierung nicht an ihr eigenes Gesetz von 1990 gebunden ist. Dasselbe in Frankreich, wo erst seit 2005 Quoten im Bereich Arbeit beim öffentlichen Dienst eingeführt wurden. Und wieder anders in der Schweiz: Hier muss der Bund, in seinem Schlepptau die übrigen öffentlichen Einrichtungen, mit gutem Beispiel vorangehen, währenddem die Privatwirtschaft die gleichen Forderungen als hinderlich einstuft und um ihre wirtschaftliche Freiheit fürchtet. Die amerikanische Gesetzgebung hat die Frage der Zugänglichkeit zu den bestehenden Gebäuden und zu den Diensten des privaten Sektors auf pragmatische und elegante Art und Weise gelöst. Die Anforderungen sind weniger hoch als im öffentlichen Sektor, aber entsprechen in etwa denjenigen der Initiative „Gleiche Rechte“: Der Abbau von Hindernissen muss verhältnismässig sein und auch wirtschaftlich zumutbar. Unternehmen können und sollen ihre Dienstleistungen mittels alternativen Lösungen anbieten: Zum Beispiel mit einem Unterstützungsangebot für sehbehinderte Menschen in einem Geschäft oder dem Angebot, ihnen in einem Restaurant das Menu vorzulesen. In der Schweiz bietet die Migros blinden Menschen beispielsweise an, ihnen die gewünschten Artikel in den Einkaufswagen zu legen, wenn sie eine Einkaufsliste vorweisen. Aber kein privates Unternehmen ist gezwungen, seine Dienste grundsätzlich zugänglich zu machen. Nur nach einer qualifizierten Diskriminierung, wie etwa dem Verweigern der Zugangs auf Grund der Behinderung (Art. 6 BehiG), kann eine lächerliche Entschädigung von höchstens 5‘000 Franken vor dem Richter eingefordert werden. Kulturelle Ausnahmen Übrigens: Die amerikanische Kultur unterscheidet sich wiederum ganz stark von der französischen. Ziemlich sicher hat die unsägliche Gewohnheit der Amerikaner, gegen nichts und alles zu prozessieren, auch einen Einfluss auf unser Thema, die Gleichstellung. Diese Prozessierlust wirkt sich ziemlich sicher sowohl heilend als auch präventiv aus. In Frankreich dagegen betrachtet man das Beanstandungsrecht („droit opposable“) als ein etwas demagogisches Instrument. Es können doch nicht alle Personen einen Prozess führen, um die Unzulänglichkeiten in der öffentlichen Politik zu korrigieren. Im Gegenteil, hier muss der Staat zuvor mehr Mittel investieren. Im Bereich Arbeit wiederum sticht die Schweiz in Europa als Ausnahmeerscheinung heraus. Sowohl die Europäische Union als auch die USA kennen für den öffentlichen wie auch den privaten Sektor ein allgemeines Diskriminierungsverbot, und zwar sowohl bei der Anstellung wie auch bei den Arbeitsbedingungen. In der Schweiz gilt ein solcher Diskriminierungsschutz nur bei einer Entlassung (Obligationenrecht Art. 336 Abs. 1 lit. a). Für alle übrigen Situationen kann man in der Schweiz nur auf die Rechtsprechung zählen, die sich im öffentlichen Sektor auf das Gleichbehandlungsgebot und im privaten Sektor auf den allgemeinen Schutz der Persönlichkeit gemäss Obligationenrecht (Art. 328 OR) abstützt. Damit werden in der Schweiz Menschen mit Behinderung statt vor Diskriminierung bewahrt, immer wieder als Profiteure und 17 Behinderung und Politik 1/08 Scheininvalide verunglimpft. Ein Umgang mit Behinderten, der anderswo schlichtweg undenkbar ist. Das Paradies auf Erden Ein anderes Diskussionsthema in unseren Kreisen: Die Quotenfrage in Frankreich. Diese Einrichtung wird häufig als ineffizient abgeurteilt. Dies aber vor allem, weil die Quoten nicht zwingend sind. Französinnen und Franzosen mit Behinderung fürchten viel mehr, überhaupt keine Arbeit zu finden als Quotenfrauen oder -männer zu sein. Und interessant ist es auch festzustellen, dass die Gesetzgebung zur Zugänglichkeit in der Arbeitswelt weder in Frankreich noch in den USA wirklich befriedigend gelöst ist. Das Gras ist anderswo eben doch nicht grüner als bei uns. Oder wie es der französische Weltenbummler Jean-Luc Simon formuliert: „Das Paradies auf Erden gibt es nicht, auch nicht für uns.“ 18 Behinderung und Politik 1/08 Sozialpolitik Sozialpolitische Rundschau Von Ursula Schaffner Das Parlament hat seine erste Session in neuer Zusammensetzung absolviert, und tatsächlich ist in einige Dossiers der Sozialpolitik wieder Bewegung gekommen. So bei der IV-Zusatzfinanzierung, bei der 11. AHV-Revision und im Bereich der Krankenversicherung. Dank sehr guten Kapitalerträgen und dem guten Verlauf der Wirtschaft sind die Einnahmen der Sozialversicherungen im Jahr 2005 stärker gestiegen als die Ausgaben, nämlich um vier Prozent. Demgegenüber sind die Ausgaben im Vergleich zu den Vorjahren nur um 0,6 Prozent gewachsen. Insgesamt betrugen die Einahmen aller Sozialversicherungen 132,1 Milliarden Franken, die Ausgaben 114,6 Milliarden. Invalidenversicherung Seit dem 1. Januar 2008 ist die 5. IVG-Revision in Kraft. IV-Stellen und Arbeitgeber sind gefordert, die hohen Erwartungen in der Praxis umzusetzen. Und gemeinsam mit den Versicherten mehr Menschen mit einer Behinderung im Arbeitsprozess zu behalten oder diese wieder einzugliedern. Der Ständerat hat erkannt, dass die Ausgaben und Einnahmen trotz allen Anstrengungen in den kommenden Jahren aber weiterhin auseinander klaffen. Das heisst, dass sich die Schulden auch künftig türmen. Deshalb hat er ein Paket geschnürt zum Abbau des strukturellen Defizits bei der IV (siehe dazu den Artikel in dieser Ausgabe von agile). Unmittelbar bevor die Debatte über die Zusatzfinanzierung im Ständerat traktandiert worden war, lud das BSV zu einer Medienkonferenz ein. Titel der Veranstaltung: „Bekämpfung des Versicherungsbetrugs“. Viel Neues war bei dieser Gelegenheit allerdings nicht zu erfahren. Dem zirka ein Prozent vermuteter IV-Betrüger sollen ab jetzt Privatdetektive und andere sogenannte Spezialisten auf die Spur kommen. Der Bund investiert dafür im laufenden Jahr rund 5 Millionen Franken. Die IV wird damit kaum saniert werden. Dafür hofft man beim BSV, das Vertrauen der Bevölkerung wieder gewinnen zu können. Weit finanzwirksamer und rentensparender wird dagegen die neue Rechtssprechung des Bundesgerichts in Sachen Schleudertrauma sein. Im letzten Jahr hat das Gericht seine Praxis bei diesem umstrittenen Krankheitsbild geändert. Einer klagenden Frau wurde entgegengehalten, dass der von ihr erlittene Bagatellunfall nach allgemeiner Lebenserfahrung kaum zu einem Gesundheitsschaden führen könne. Das Bundesgericht wird damit die oft ins Feld geführten, aber kaum nachweisbaren Mikroverletzungen in Zukunft nicht mehr so einfach anerkennen wie bisher. AHV Die sozial- und gesundheitspolitische Kommission des Nationalrates (SGK-N) hat sich im Januar nach einer längeren Pause wieder mit der 11. AHV-Revision befasst. 19 Behinderung und Politik 1/08 Besonders umstritten waren bisher die Vorschläge für eine flexiblere Gestaltung des Rentenvorbezugs (siehe auch agile 1/2007). Jetzt wurde offenbar ein Kompromiss gefunden, der als indirekter Gegenvorschlag zur Initiative des Gewerkschaftsbundes „Für ein flexibles AHV-Alter“ dienen könnte. Der Vorschlag sieht vor, dass in Zukunft bei einer frühzeitigen Pensionierung die Rente aufgrund der Jahre des Vorbezugs und des bisherigen Einkommens gekürzt wird. Und somit nicht mehr linear nach mathematischen Vorgaben. Dadurch sollen vor allem Personen mit einem jährlichen Einkommen bis 93 000 Franken leichter als bisher zu einer Frühpensionierung kommen. Die SGK-N hat allerdings noch nicht entschieden, wie viel Geld insgesamt für diese Lösung eingesetzt werden soll. So wird zu entscheiden sein, wie viele der 500 Millionen Franken für den flexibleren Altersrücktritt eingesetzt werden, die durch die Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65 eingespart werden. Oder, ob allenfalls noch mehr Geld für dieses Anliegen gefunden werden muss. Der Nationalrat wird das Geschäft voraussichtlich in der Frühlingssession beraten. Ab Juli 2008 wird die neue, nicht-sprechende AHV-Nummer eingeführt. Sie respektiert den Schutz persönlicher Daten besser als die bisherige Nummer. Weiter soll sie dazu beitragen, den Aufwand für Verwaltung und Mutationen zu verringern. Alle Versicherten werden während der zweiten Hälfte 2008 oder anfangs 2009 über die Änderungen informiert. Berufliche Eingliederung Die Hochschule für soziale Arbeit in Luzern hat Ende Oktober 2007 eine Tagung mit dem Titel „Arbeit vor Rente, Arbeitsintegration konkret“ durchgeführt – ohne Behinderte. Es gehe um theoretische Fragen und um Arbeitsunfähige allgemein; man setze keinen speziellen Akzent auf Behinderte, liessen die Organisatoren verlauten. Das Behindertenforum Zentralschweiz reagierte ob dieser Haltung befremdet und enttäuscht. Seine Forderung: Man solle mit den Behinderten und nicht über sie sprechen. Die Berechtigung dieser Forderung belegen im Übrigen zahlreiche Erfahrungen und Berichte: Arbeitsintegration konkret von Menschen mit einer Behinderung, einer Krankheit oder wie auch immer eine Beeinträchtigung genannt wird, kann nur dann gelingen, wenn die Betroffenen einbezogen und als verantwortungsbewusste Partner wahrgenommen werden. Genau dieses Ziel strebt die 5. IVG-Revision unter anderem auch an. Sozialhilfe Die Statistiken der Sozialhilfe verschiedener Kantone für 2006 zeigen kein einheitliches Bild. In den Kantonen Aargau, Schaffhausen und Thurgau blieben die Fallzahlen beispielsweise trotz Wirtschaftswachstum weitgehend stabil. In den Kantonen Graubünden und Solothurn ging die Zahl der Sozialhilfebeziehenden dagegen leicht zurück. In allen städtischen Agglomerationen ist die Sozialhilfequote deutlich höher als in ländlichen Gebieten. Weiterhin müssen besonders häufig Kinder, Jugendliche und Alleinerziehende, sprich vor allem Frauen und ihre Kinder, Sozialhilfe in Anspruch nehmen. Winterthurs Sozialvorsteherin hat eine Studie in Auftrag gegeben. Diese belegt, dass mit einer Mischung aus Fördern und Fordern viele Menschen zurück ins Arbeitsleben finden und damit von der Sozialhilfe abgelöst werden können. Untersucht wurden 20 Behinderung und Politik 1/08 zwei Projekte: einerseits „Passage“, ein Projekt für neu angemeldete Sozialhilfe-BezügerInnen, andererseits Arbeitsintegrationsprojekte der Stadt für jene, die bereits Sozialhilfe beziehen. Gut 80 Prozent der Personen, welche bei „Passage“ obligatorisch an einem einmonatigen Arbeitseinsatz teilgenommen hatten, fanden die Pflicht zur Arbeit positiv. Ihnen ging es während des Einsatzes besser, da sie eine klare Tagesstruktur hatten und vermehrt unter die Leute kamen. Unklar ist, was mit jenen Personen geschah und geschieht, welche aus gesundheitlichen oder andern Gründen an den „Passage“-Einsätzen nicht teilnehmen konnten und damit auf den Bezug von Sozialhilfe verzichteten. Die wenigsten von ihnen konnten für die Studie ausfindig gemacht werden. Auch nicht ganz klar ist, wie viele „Passage“-Teilnehmende anschliessend tatsächlich eine Arbeit gefunden haben. Die Studie sagt lediglich, dass mit jedem ins Projekt investierten Franken vier Franken gespart werden können. Der Erfolg der Integrationsprojekte fällt etwas geringer aus. Immerhin hat rund die Hälfte der Teilnehmenden anschliessend eine Stelle gefunden. Im Allgemeinen fanden die Teilnehmenden, es sei ihnen während der Projektzeit persönlich besser gegangen als vorher. BVG Die Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates (GPK) hat die Vorschriften zur Überschussbeteiligung der Lebensversicherer auf ihre Rechtmässigkeit hin untersucht. Es ging dabei um die Frage, ob Bundesrat und Verwaltung mit der heutigen Regelung der Gewinnausschüttung den Willen des Parlaments respektiert haben. Heute müssen die Lebensversicherer zehn Prozent des Bruttogewinns den Versicherten zukommen lassen. Das ist weit weniger, als wenn die Berechnungen mit Bezug auf den Nettogewinn vorgenommen würden. Die GPK ist zum Schluss gekommen, dass der Bundesrat den gesetzlichen Spielraum respektiert und ihn voll zugunsten der Versicherungen ausgeschöpft hat. Erhöht werden müsse aber die Transparenz für die Versicherten. Dies, indem auf dem Versicherungsausweis detailliert Auskunft gegeben werde, wie die jeweilige Gesellschaft die Überschussbeteiligung vornehme. Nur so erhielten die Versicherten die Möglichkeit, gegen allfällige Missbräuche ihrer Versicherung vorgehen zu können. Im Jahr 2006 haben die Pensionskassen ihre Reserven deutlich ausbauen können. Ihre Bilanzsumme stieg im Berichtsjahr um 7 Prozent auf insgesamt 580 Milliarden Franken. Gleichzeitig konnte die gesamte Unterdeckung der Pensionskassen um 1,3 Milliarden auf 17,9 Milliarden Franken abgebaut werden. Auch das eine kaum vorstellbare Summe! Die Anzahl der Kassen mit Unterdeckung sei weiter gesunken, nämlich von 111 im Jahr 2005 auf 77 im Jahr 2006, berichtet das Bundesamt für Statistik. Das sind 2,6 Prozent aller Pensionskassen. Vier Fünftel der Kassen mit Unterdeckung sind öffentlich-rechtliche, also solche mit einer Staatsgarantie. Sie weisen eine Finanzierungslücke von 14,5 Milliarden Franken auf. Ingesamt ist der Rentnerbestand 2006 bei der beruflichen Vorsorge um 3,1 Prozent gewachsen. Die Altersrenten nahmen um 4,5 Prozent auf total 15,4 Milliarden ausbezahlte Franken zu. Die Invalidenrenten blieben dagegen auf dem Vorjahresbestand von 2,4 Milliarden ausbezahlten Franken. KVG Gemäss den Angaben des Bundesamts für Statistik (BFS) wurden 2006 in Schweizer Spitälern etwa 1,2 Millionen Personen stationär behandelt. Das waren 6,5 Pro21 Behinderung und Politik 1/08 zent mehr als noch vier Jahre zuvor. In der gleichen Zeitspanne hat sich die Zahl der Pflegetage aber um 4,7 Prozent verringert. Das heisst, dass sich die PatientInnen 2006 insgesamt weniger lang in Spitälern aufgehalten haben als 2002 - sowohl in Akutspitälern als auch in Langzeit- und Rehabilitationskliniken. Was in der Statistik des BFS weiter auffällt ist die Tatsache, dass die Spitalkosten im Akutbereich trotz der beschriebenen Entwicklung um 14,5 Prozent zugenommen haben. In der Praxis bedeuten diese Zahlen unter anderem, dass die Behandlung der PatientInnen pflegeintensiver geworden ist. Den zunehmenden Druck hat in der Regel das Pflegepersonal zu tragen. Als Folge ist eine abnehmende Pflegequalität zu beobachten, welche wiederum die PatientInnen zu spüren bekommen. In den vergangenen Wochen kam denn auch eine breite Diskussion über die zunehmende Belastung des Pflegepersonals in Pflegeheimen und Spitälern und ihre Auswirkungen auf die PatientInnen in Gang. Die Pflegenden müssen einerseits mehr leisten, wegen der kürzeren und pflegeintensiveren Aufenthaltsdauer der PatientInnen, andererseits steigt mit beständigem Personalabbbau der Arbeitsanfall. Es ist offensichtlich, dass bei dieser Entwicklung das Wohl und die Autonomie der PatientInnen auf der Strecke bleiben; mit fatalen Langzeitfolgen für alle. Zum Beispiel indem ein Patient einen Blasenkatheder erhält, statt dass er auf die Toilette begleitet wird. Dieses Verfahren ist weniger zeitaufwändig, und der Betroffene kann früher aus dem Spital austreten. Er wird aber nicht in der Lage sein, seine Blase selbständig leeren zu können und ist deshalb auf Pflege zu Hause angewiesen. Oder er muss gar in ein Heim eintreten. Da die Kosten für diese Betreuung in einem andern als dem Spitalkässeli anfallen, kann das Spital eine angeblich kostengünstigere Rechnung vorweisen. Was die Spitäler jedoch nicht ausblenden können, ist der erhöhte Stress für die noch im Beruf verbleibenden Pflegenden. Zu denken geben muss im Übrigen auch, dass sich laufend weniger Personen zu Pflegefachleuten ausbilden lassen, und dass die Ausgebildeten immer früher zu BerufsaussteigerInnen werden. Fachleute aus der Pflegebranche befürchten, dass mit der Einführung der Fallpauschalen in Spitälern, wie sie vom Parlament beschlossen wurde, sich der Druck auf das Pflegepersonal noch weiter erhöht. Am 19. Januar 2008 haben Kantone, Spitäler, Krankenkassen und ÄrztInnen die Aktiengesellschaft Swiss DRG (Diagnostics Related Group = Diagnose bezogenes Patientenklassifikationssystem) gegründet. Die Gesellschaft muss ein Computersystem entwickeln, welches bis spätestens 2012 in der ganzen Schweiz die Fallpauschale in der Praxis ermöglichen soll. In Zukunft wird die Krankenversicherung dem Spital dann nicht mehr die Tage bezahlen, die ein Patient bei ihm liegt, sondern nur noch eine Pauschale pro Aufenthalt und Diagnose. Dieses Vorgehen wird den Druck für weitere Kosteneinsparung erhöhen, mit den weiter oben beschriebenen Auswirkungen auf die PatientInnen und das Pflegepersonal. Mit den Fallpauschalen tut sich noch ein weiteres heikles Feld auf, nämlich die Frage des Datenschutzes. Es bestehen beträchtliche Zielkonflikte zwischen den Vertragspartnern der Swiss DRG. Die Krankenversicherer verlangen von den Spitälern, dass diese ihnen volle Einsicht in die Krankengeschichten geben. Angeblich wollen sie damit die Wirtschaftlichkeit der Behandlung überprüfen können. Die Spitäler wehren sich gegen einen solch weitreichenden Datenaustausch. Sie befürchten damit eine grundlegende Verletzung des Datenschutzes. Noch ist dieser Konflikt nicht gelöst. 22 Behinderung und Politik 1/08 Die Vertragsparteien der Swiss DRG haben bisher nur die Absicht geäussert, das Problem eventuell mit einer externen Kontrollstelle lösen zu wollen. Die PatientInnen ihrerseits haben möglicherweise noch nicht gemerkt, welch trojanisches Pferd ihnen da in den Stall gestellt wird. Sie tun gut daran, sich damit zu befassen, auch wenn die Materie nicht einfach zu durchschauen ist. Sonst besteht das Risiko, dass die verschiedenen Spieler, die sich auf dem Gesundheitsmarkt tummeln, über den Patienten, die Patientin vollständig Bescheid wissen und ihn manipulieren können, ohne dass er oder sie es selber merkt. Selbstbestimmung ist ja leider nie gratis zu haben, sondern muss immer neu erworben werden. Die Neuordnung der Pflegefinanzierung biegt schon bald in die Zielgerade ein. In der letzten Runde der Differenzbereinigung geht das Geschäft nun endlich in den Ständerat. Seit der Botschaft des Bundesrates an das Parlament sind immerhin schon ganze drei Jahre vergangen. Vieles ist bereits beschlossen. So müssen Leute, die auf Pflege angewiesen sind, in Zukunft 20 Prozent des von den Krankenkassen bezahlten Höchstbetrages selber berappen. Damit bleibt Pflege also nicht länger eine vollständig gedeckte Pflichtleistung der Krankenkassen. So war es ursprünglich vorgesehen, wurde aber leider nicht entsprechend umgesetzt. Noch offen ist, wie stark sich die Versicherer an den Akutpflegekosten beteiligen müssen. Auch für die Anpassung der Tarife an die Teuerung muss der Ständerat nun eine Lösung finden. Vermischtes Arbeitslosenversicherung Im Dezember hat der Bundesrat den seit längerem erwarteten Entwurf für eine Revision der Arbeitslosenversicherung in die Vernehmlassung geschickt. Die Vorschläge sehen einerseits höhere Prämien und andererseits weniger Leistungen für Arbeitslose vor. Damit soll die laufende Rechnung der ALV verbessert und der Schuldenberg abgebaut werden. Der Beitragssatz soll vorübergehend von 2,2 auf 2,4 Prozent erhöht werden. Dafür soll die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld vermehrt von der Länge der Beitragszeit abhängig gemacht werden. Auch soll die Bezugsdauer von Leistungen für Schul- und Studienabgänger erschwert werden, beispielsweise in dem die Wartezeit verlängert wird. Die Sozialpartner sind mit den Vorschlägen mehr oder weniger einverstanden. Bessere Startchancen dank Frühintegration Die „Städteinitiative Sozialpolitik“ hat ihr Aktionsprogramm für die kommenden Jahre festgelegt. Schwerpunkt dieses Zusammenschlusses von rund fünfzig grösseren Schweizer Städten soll ein integrativer Ansatz sein. Ziel ist es, mit konkreten Unterstützungsprojekten in Familien und der Schule ungleiche Startchancen von Kindern möglichst frühzeitig auszugleichen und damit die Integration dieser Kinder zu verbessern. Daneben sollen die Anliegen der Städte vermehrt in Bundesbern eingebracht werden. Ganz nach dem Motto: Vorbeugen ist besser als heilen. 23 Behinderung und Politik 1/08 Quellen (berücksichtigt bis 28. Januar 2008): NZZ, Tagesanzeiger, Der Bund, Le Temps, Le Courrier, Tribune de Genève, Medienmitteilungen der Bundesämter für Sozialversicherung und Statistik sowie des Gesundheitsobservatoriums IV-Finanzierung endlich aufgegleist! Von Cyril Mizrahi Endlich wird die IV-Zusatzfinanzierung konkret. Die vor und während des Abstimmungskampfes zur 5. IVG-Revision abgegebenen Versprechen sind doch nicht vergessen gegangen. Kurz vor Weihnachten hat der Ständerat die Zusatzfinanzierung der Invalidenversicherung in überraschender Einstimmigkeit in die Wege geleitet. Die Ratsmitglieder folgten dem Kompromissvorschlag, einem dicht geschnürten, dreiteiligen Paket, das von der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerates (SGK-SR) an ihrer Sitzung vom November beschlossen worden war. Drei Teile Zunächst ist eine auf sieben Jahre befristete Erhöhung der Mehrwertsteuer (MWST) um 0,5% zu Gunsten der IV vorgesehen; dies entgegen dem Vorschlag, wie er im März im Nationalrat bachab geschickt worden war (0,6% unbefristet). Die in den Sektoren Nahrungsmittel und Tourismus angewendeten reduzierten Sätze werden um 0,2% anstatt um 0,3% angehoben. Der zweite Teil sieht die Schaffung eines vom AHV-Fonds getrennten IV-Fonds vor. Dieser soll mit einer einmaligen Überweisung von 5 Milliarden Franken aus dem AHV-Fonds ausgestattet werden. Die Schulden der IV (die Ende 2009 zwischen 12 und 15 Milliarden Franken betragen dürften) bleiben beim AHV-Fonds bestehen. Die (auf rund 373 Millionen Franken pro Jahr geschätzten) Zinsen sollen zu zwei Dritteln vom Bund und zu einem Drittel von der IV übernommen werden. Schliesslich ist vorgesehen, dass der Bundesrat bis spätestens 2012 einen Entwurf für eine 6. IVG-Revision vorlegen muss. Nationalrat weniger kompromissbereit Nun bleibt zu hoffen, dass der Nationalrat, der als weniger kompromissbereit als der Ständerat gilt, sich vernünftig zeigt und seine Verantwortung wahrnimmt. Dies mit Blick auf einen möglichst raschen Start der notwendigen Sanierung der Invalidenversicherung. Und auch dafür, dass der Entscheid des Ständerats nicht zu einem Geschenk mit kurzem Verfalldatum verkommt. Die ersten Signale sind erfreulich. Mit 17 zu 8 Stimmen beschloss die Kommission des Nationalrats (SGK-NR), auf die Vorlage zur Erhöhung der Mehrwertsteuer einzutreten. Eintreten auf die Vorlage zur Schaffung eines eigenen IV-Fonds war in der Kommission unbestritten. Mit 17 zu 8 bzw. 17 zu 7 Stimmen wurden zwei Rückweisungsanträge an den Bundesrat abgelehnt. Die Detailberatung wird die SGK-NR im Februar aufnehmen. 24 Behinderung und Politik 1/08 Risiken und Chancen Aufgrund der starken Polarisierung des Nationalrats werden die Vorlagen dort einen viel schwereren Stand haben. Ein derart dicht geschnürtes Paket könnte sich vor dem Volk als riskant erweisen, besteht doch die Gefahr, dass sich die verschiedenen Ablehnungsgründe summieren. Durch die Schaffung eines eigenständigen Fonds droht die Gefahr, dass die IV künftig finanziell allein dasteht. Gleichzeitig könnte dies Anlass zu einer wesentlichen Kritik geben: Der AHV wird ein Teil ihrer Mittel genommen. Andererseits könnte dies aber Gelegenheit für eine transparentere und kohärentere Verwaltung des IV-Systems bilden, dem man nicht mehr vorwerfen könnte, eine Bürde für die AHV zu sein. Dass die Mehrwertsteuererhöhung befristet ist, könnte den Widerstand auf rechter (nein zu Abgaben) wie auf linker Seite (nein zu indirekten Steuern) etwas abschwächen. Der vorgeschlagene Kompromiss ist immerhin ein erster Schritt vorwärts in der seit vielen Jahren festgefahrenen Angelegenheit und verdient es deshalb, unterstützt zu werden. Allmählich beginnen die Räte, der schwierigen Lage der chronisch unterfinanzierten Sozialversicherung Rechnung zu tragen. Das ist erfreulich. Damit haben die Menschen mit Behinderung und die gesamte Bevölkerung Aussicht darauf, dass die Invalidenversicherung mittelfristig wieder ins Lot kommt. Übersetzung: Susanne Alpiger Genau hingeschaut - Die Umsetzung der IV-Revision Von Ursula Schaffner Im August 2007 haben sich rund fünfundzwanzig Personen der ehemaligen nationalen Koordination „Nein gegen die 5. IVG-Revision“ nochmals zu einer Sitzung getroffen. Die Anwesenden, vor allem VertreterInnen aus der Selbsthilfe, haben beschlossen, die Umsetzung der Revision genau zu verfolgen und von den Befürwortern der Revision deren Versprechen einzufordern. Falls die Versprechen nicht eingelöst würden, sollten Forderungen an die Politik und die Verwaltung gestellt werden. Das Vorhaben des nun in „nationale Koordination Monitoring 5. IVG-Revision“ umbenannten Zusammenschlusses’ soll auf zwei Wegen erreicht werden. Einerseits wollen die Betroffenen und ihre Organisationen selber Informationen und Beispiele im Zusammenhang mit der 5. IVG-Revision sammeln, dokumentieren und auswerten und daraus je nach Erkenntnissen Forderungen ableiten. Andererseits soll vom Bundesamt für Sozialversicherung eine systematische Begleitung der Umsetzung („Monitoring“) verlangt werden. Hier interessiert besonders, ob mit der angeblich neuen Ausrichtung der IV tatsächlich mehr behinderte Menschen nachhaltig in die Arbeitswelt integriert werden können. AGILE wurde an der erwähnten Sitzung beauftragt, ein Konzept zu entwerfen und Strukturen aufzubauen, um diese Anliegen zu verwirklichen. 25 Behinderung und Politik 1/08 Arbeitsgruppe Monitoring BSV Ein erster Versuch von AGILE misslang, möglichst viele verschiedene Personen und Organisationen aus der Selbst- und Fachhilfe - und damit breites Wissen und Kompetenzen sowie eine breite Abstützung für die Forderungen zu vereinen Insbesondere von einer Person wurde weder die DOK noch die Gesundheitsligenkonferenz als Partnerorganisationen toleriert. In der Folge bildete sich eine Arbeitsgruppe Monitoring BSV, bestehend aus fünf Personen, welche die inhaltliche Arbeit machen und sie verantworten. In der Gruppe sind als Organisationen die ASPr-SVG, das Behindertenforum Basel, Cap Contact, Coraasp und FTIA vertreten. AGILE garantiert die Organisation und die Koordination der Arbeit. Peter Spreiter von der ASPr-SVG hat einen ersten Entwurf mit Themen und Fragen erarbeitet, zu welchen das BSV systematisch Daten erfassen soll. Die Rückmeldungen der Mitglieder der Arbeitsgruppe zu diesem Entwurf wurden zu einer definitiven Fassung verarbeitet und schliesslich mit einer Liste von rund 25 Namen von Organisationen beim BSV eingereicht. Der Forderungskatalog kann auf www.agile.ch eingesehen werden. Arbeitsgruppe Monitoring Selbsthilfe Eine zweite Arbeitsgruppe traf sich Mitte Februar ein erstes Mal. Sie hat diskutiert, wo, von wem, welche Daten gesammelt und in welchem Rhythmus diese zusammengeführt und ausgewertet werden sollen. Auch musste geklärt werden, welche Kanäle die betroffenen Behinderten darauf hinweisen, dass sie Probleme, kritische Situationen und weitere auffällige Ereignisse im Zusammenhang mit der Umsetzung der IVG-Revision an die Arbeitsgruppe melden können. Pilotprojekt Assistenzbudget um ein Jahr verlängert! Von Simone Leuenberger Kurz vor Weihnachten 2007 hat der Bundesrat vom Zwischenbericht Kenntnis genommen und den Pilotversuch Assistenzbudget für die jetzigen 251 Teilnehmenden um ein Jahr bis zum 31.12. 2009 verlängert. Damit soll Zeit gewonnen werden, um über das weitere Vorgehen auf politischer Ebene zu verhandeln und dem Bundesrat Vorschläge zu unterbreiten. Ein Weihnachtsgeschenk? Viele Teilnehmende des Pilotprojektes Assistenzbudget haben wohl erst einmal aufgeatmet, als kurz vor Weihnachten die Mitteilung kam, dass der Pilotversuch verlängert wird. Dank dieser Verlängerung können sie nun noch mindestens bis Ende 2009 selbstbestimmt leben und ihre Hilfe in Eigenverantwortung organisieren. Trotz dieser Verlängerung werden aber keine neuen Teilnehmende in den Versuch aufgenommen. Viele Menschen mit einer Behinderung können noch immer nur träumen von einem selbstbestimmten Leben in den eigenen vier Wänden. Einige Porträts von Projektteilnehmenden und -nichtteilnehmenden hat FAssiS auf ihrer Homepage 26 Behinderung und Politik 1/08 (www.fassis.net, Rubrik aktuell) veröffentlicht. Diese geben einen kurzen Einblick in die Anliegen und Lebenssituationen von einigen Menschen mit Assistenzbedarf. Viel zu tun Im Verlaufe des Jahres entscheidet der Bundesrat über das weitere Vorgehen. Bis dahin ist noch viel zu tun. Für uns Menschen mit einer Behinderung geht es um viel, schliesslich geht es um die gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Kämpfen müssen wir an verschiedenen Fronten. Sowohl die IV als auch die Kantone sollten ein grosses Interesse an einer Assistenzentschädigung haben. Gerade letztere sind nämlich seit Januar 2008 verpflichtet, jedem Menschen mit einer Behinderung einen Heimplatz zur Verfügung zu stellen (IFEG Art. 2). Dass ein Assistenzbudget nicht teurer ist, aber die Lebensqualität der Teilnehmenden massiv erhöht, hat die Begleitforschung zum Pilotversuch gezeigt (www.bsv.admin.ch, Rubrik Invalidenversicherung, Stichwort Pilotversuch Assistenzbudget). Es bleibt zu hoffen, dass in den kommenden Diskussionen immer wieder die Menschen - mit ihren Bedürfnissen - in den Vordergrund gestellt werden. Es darf nicht sein, dass wir nur Spielball sind im Match der Kostenträger! 27 Behinderung und Politik 1/08 Gleichstellung Vergleich zwischen AGILE und ETH Lausanne Von Eva Aeschimann AGILE Behinderten-Selbsthilfe Schweiz und die ETH Lausanne haben beim geplanten Lern-Zentrum eine Einigung erzielt. AGILE und weitere Behinderten-Organisationen hatten zuvor gegen das 100 Millionen-Franken-Bauprojekt aufgrund des Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG) Einsprache erhoben. Dies mit Unterstützung der Fachstelle Égalité Handicap. Das Resultat des Einspracheverfahrens: Die Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderung wurde grundsätzlich verbessert. Allerdings ist die Gestaltung des Lern-Zentrums in Hügelform aus Sicht der Behindertenorganisationen weiterhin problematisch. Aus diesem Grund darf die im Verfahren ausgehandelte Lösung auch nicht als Referenz für künftige Projekte dienen. Bauvorhaben der ETH müssen zudem in Zukunft von Anfang an den Anforderungen des BehiG entsprechen. Weiter will die ETH Lausanne bei neuen Bauprojekten die Behindertenorganisationen künftig beratend beiziehen. Beteiligte Behinderten-Organisationen: Schweizerische Fachstelle für Behindertengerechtes Bauen, Zürich AVACAH, Association vaudoise pour la construction adaptée aux handicapés, La Sarraz Forum Handicap Vaud, Lausanne Schweizerische Vereinigung der Gelähmten (SVG), Freiburg AGILE, Behinderten-Selbsthilfe Schweiz, Bern Bedeutung der UNO-Behindertenkonvention für die Behindertengleichstellung in der Schweiz Von Tarek Naguib, Fachstelle Égalité Handicap Zweifelsohne, die UNO-Konvention zur Förderung und zum besseren Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderung (UNO-Behindertenkonvention, Übereinkommen) wird die Rechte von Menschen mit Behinderung im Allgemeinen stärken und die Behindertengleichstellung im Besonderen vorwärts bringen. Auch in der Schweiz. Trotz verfassungsrechtlichem Diskriminierungsverbot (Art. 8 Abs. 2 BV) und Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) sowie weiteren Regelwerken kann das Übereinkommen der Behindertengleichstellung zusätzliche Impulse verleihen, sofern die Schweiz diesem betritt: Die Behörden erhalten die Möglichkeit, den Rechten schär28 Behinderung und Politik 1/08 fere Konturen zu verleihen. Auch ist das Übereinkommen ein hilfreiches Instrument zur Sensibilisierung der Bevölkerung. Neue, gerichtlich durchsetzbare Rechte werden jedoch kaum geschaffen. Entstehung und Werdegang der UNO-Behindertenkonvention Die Entstehung der Konvention ist für ein Menschenrechtsübereinkommen einzigartig. Sie wurde stark von den Betroffenen selbst mitgeprägt, was an sich eine Selbstverständlichkeit sein müsste. Das Übereinkommen wurde am 13. Dezember 2006 von der UNO-Generalversammlung verabschiedet. Aktuell haben 123 Staaten den Vertrag unterzeichnet und 14 ratifiziert. Das Zusatzprotokoll, welches eine Beschwerde an den künftigen Behindertenausschuss ermöglicht, wurde von 69 Staaten unterzeichnet und von 8 ratifiziert. Unter den bereits beigetretenen europäischen Staaten befinden sich Kroatien, Ungarn und Spanien. Die Konvention tritt 30 Tage, nachdem die 20. Ratifikationsurkunde hinterlegt wurde, in Kraft. Dies wird möglicherweise noch in diesem Jahr der Fall sein. Die Schweiz hat die Konvention noch nicht unterzeichnet, was sie gemäss ihrer Tradition erst tun wird, wenn sie sich über deren Tragweite im Klaren ist. Leider wurden die notwendigen Abklärungen noch nicht getroffen, obwohl der Bundesrat dies bereits im März des letzten Jahres angekündigt hatte. Auch im Parlament steht zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht fest, wann die Motion von Nationalrätin Pascale Bruderer behandelt wird, welche eine rasche Einleitung des Ratifizierungsprozesses fordert. Eilig scheint es die Schweiz in dieser Sache nicht zu haben. Vermutlich wird es noch mindestens zwei Jahre dauern, bis das Parlament und allenfalls auch das Volk über den Beitritt der Schweiz entscheiden werden. Bis dahin gilt es für die Behindertenorganisationen, den Mehrwert der Konvention durch Lobbyarbeit in die Öffentlichkeit und Politik zu tragen. Die DOK, der Gleichstellungsrat und die Fachstelle Égalité Handicap haben dem Bundesrat bereits ein Argumentarium überwiesen. Moderner Begriff der Behinderung Die UNO-Behindertenkonvention geht von einem modernen Begriff der Behinderung aus. Dieser basiert auf der Erkenntnis, dass der Ausschluss von Menschen mit Behinderung nicht in erster Linie die Folge einer persönlichen physischen oder psychischen Einschränkung ist, sondern vielmehr die Konsequenz einer nicht genügenden und adäquaten Berücksichtigung der Bedürfnisse dieser Menschen. Das Übereinkommen lehnt sich die International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) an, welche drei Bereiche klassifiziert, in denen Behinderung möglich ist: erstens die Körperfunktionen und Körperstrukturen, zweitens die Aktivitäten und drittens die Partizipation. Dank dieser modernen Definition kommen wir vom Defizit-Ansatz weg. Ein Beitritt der Schweiz würde die Sensibilisierung der Gesellschaft in dieser Hinsicht unterstützen. Und zwar so, dass nicht mehr (im besseren Fall) der „Jö-Effekt“ und der „Helfer-Reflex“ vorherrschen, sondern vielmehr der Wunsch nach Autonomie respektiert wird. Dass weiter der Wille aller gestärkt ist, Hindernisse im Leben abzubauen, die Gesellschaft umzustrukturieren, und somit behinderte Menschen nicht mehr spezifisch wahrgenommen werden müssen. Denn erst dann ist Gleichstellung tatsächlich erreicht. 29 Behinderung und Politik 1/08 Neue Rechte für Behinderte? Die UNO-Behindertenkonvention beinhaltet grundsätzlich zwei Arten von Rechten: Die gerichtlich durchsetzbaren wie z.B. das Verbot des Staates, behinderte Menschen durch Gesetze zu diskriminieren, sowie die programmatischen Rechte, die fordern, dass Schritt um Schritt die Standards ausgebaut werden. Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass keine neuen gerichtlich durchsetzbaren Rechte für Menschen mit Behinderung geschaffen werden, auch wenn sich dies dann in der Detailanalyse noch zeigen muss. Das BehiG, das verfassungsrechtliche Diskriminierungsverbot sowie weitere Einzelbestimmungen in den verschiedensten Rechtserlassen bieten hier genügend Möglichkeiten. Dies gilt grundsätzlich auch für den Bereich Erwerb, der stets als antidiskriminierungs- und gleichstellungsrechtliche Schwachstelle bezeichnet wird. Dies, da er mit Ausnahme des Anstellungsverhältnisses beim Bund nicht im BehiG geregelt ist. Hier greifen jedoch bei Anstellungen bei den Kantonen und Gemeinden das verfassungsrechtliche Diskriminierungsverbot, zahlreiche Bestimmungen in den verschiedensten Personalgesetzen, sowie unterstützend auch das Obligationenrecht und das Zivilgesetzbuch. Bei privatrechtlichen Arbeitsverhältnissen kommen das Obligationenrecht, das Arbeitsgesetz sowie der zivilrechtliche Persönlichkeitsschutz zur Anwendung. Es ist zu vermuten, dass diese Möglichkeiten noch zu wenig genutzt werden. Trotzdem gibt es im so genannten justiziablen Bereich Defizite! Aus der Sicht der UNO-Behindertenkonvention bedarf es auch der effektiven Durchsetzung der Rechtsansprüche. Denn was bringen Rechte, wenn sie nur erschwert durchgesetzt werden können. Hier hat die Schweiz Nachholbedarf. Folgende Beispiele illustrieren dies. Weder im Behindertengleichstellungsgesetz noch in anderen Gesetzen gibt es eine Beweislastregel, welche es den diskriminierten Personen erleichtert, Diskriminierung auch tatsächlich nachzuweisen. Beispielsweise ist der tatsächliche Grund, weshalb eine Person nicht eingestellt wird, oder der Einlass in ein Lokal verweigert wird, vielfach nicht offensichtlich erkennbar. Es handelt sich um einen inneren Vorgang beim Diskriminierenden. Hier wäre eine Beweislastumkehr oft hilfreich. In vielen Bereichen gibt es noch kein Verbandsbeschwerderecht. Dies gilt z.B. in den Bereichen Erwerb, staatliche Dienstleistungen sowie Schule und Weiterbildung. Eine Beschwerdelegitimation für Verbände würde die Hindernisse zur Durchsetzung der Nichtdiskriminierung tiefer setzen: Es sind dies beispielsweise Kostenängste, Ängste vor dem beschwerlichen Rechtsweg, Informationsdefizite etc. Die Niederschwelligkeit der Beschwerdebehörden ist nicht gewährleistet. Zwar gibt es in einzelnen Bereichen wie z.B. bei gewissen Mietstreitigkeiten Schlichtungsbehörden oder bei arbeitsrechtlichen Fragen teilweise auch einfache und kostenlose Verfahren. Diese einfache Zugänglichkeit der Behörden ist jedoch noch keine Selbstverständlichkeit. Gerade in den Bereichen Schule, Bau und Dienstleistungen muss oft ein beschwerlicher und oft lange dauernder Rechtsweg bewältigt werden. Vielfach ein Grund, diesen frühzeitig abzubrechen oder gar nicht zu beschreiten. 30 Behinderung und Politik 1/08 Aber gerade auch auf der programmatischen Ebene wird die UNO-Behindertenkonvention ihre Wirkung zeigen müssen: Die Schweiz befindet sich bezüglich der Anforderungen im Bereich integrative Schule im Hintertreffen. Zwar geben das Diskriminierungsverbot und das Recht auf einen unentgeltlichen Grundschulunterricht behinderten Kindern den Anspruch, integrativ beschult zu werden, sofern dies ihrem Wohl entspricht und keine Rechte der MitschülerInnen sowie anderweitige Interessen organisatorischer, personeller und finanzieller Natur überwiegen. Gerade dort liegt aber das Problem. Die Schweizer Schulstrukturen sind bei weitem noch nicht darauf ausgerichtet, die integrative Beschulung umfassend und im Sinne der Konvention umzusetzen. Hier braucht es in den Kantonen noch gehörige Umsetzungsarbeiten, dies in letzter menschenrechtlicher Verantwortung des Bundes. Auch im Bereich der Förderung der selbstbestimmten Lebensführung, ausserhalb der Institutionen, hat die Schweiz Nachholbedarf. Zwar unterstützt der Bund den Pilotversuch Assistenzbudget. Dieses Projekt ist jedoch noch jung und bedarf der Vertiefung und Fortführung. Es braucht auch hier die notwendigen Strukturen: Abbau von Hindernissen in der Gesellschaft, Umstrukturierung staatlicher Leistungen, genügend Personal für Assistenzbegleitung, etc. Selbstbestimmte Lebensführung muss überall dort zur Selbstverständlichkeit werden, wo sie theoretisch möglich ist. Zwar schützt die Rechtsordnung vor Diskriminierung im Erwerbsleben. Trotzdem ist die Arbeitslosigkeit von Menschen mit Behinderung überdurchschnittlich hoch. Dies nicht, weil sie nicht in der Lage wären zu arbeiten, sondern weil noch zu viele Vorurteile seitens der Arbeitgeber und weitere Hindernisse in der Arbeitswelt bestehen (wie z.B. nicht hindernisfreie Infrastruktur in den Betrieben). Das Behindertengleichstellungsgesetz sieht zwar Massnahmen zur Verbesserung der beruflichen Integration vor. Direkt angesprochen wird aber nur gerade der Bund als Arbeitgeber. Auch räumt das BehiG dem Bund zugleich die Möglichkeit ein, Pilotprojekte zur Förderung der beruflichen Integration von Menschen mit Behinderungen zu unterstützen. Die Integrationsbemühungen sind jedoch noch zu schwach. Es braucht mehr finanzielle und personelle Ressourcen beim Bund, um diese effektiv zu fördern. Bedeutung für Praxis und Politik Nebst der rechtlichen Dimension wird die UNO-Behindertenkonvention auch massgeblich dazu beitragen, Politik und Gesellschaft für die Probleme von Behinderten und deren Bewältigung zu sensibilisieren. Sie kann genutzt werden für eine gesamtgesellschaftliche Diskussion sowie in der Aus- und Weiterbildung von Berufszweigen und Behörden. Auch hilft sie Politikerinnen und Politikern, ihr Sensorium für Behindertenanliegen im Allgemeinen und Gleichstellungsanliegen im Besonderen zu schärfen, rechtspolitische Postulate zu formulieren und gesetzliche Lücken zu schliessen. Die Aufgabe des künftigen UNO-Behindertenausschusses wird es sein, die Rechte und Pflichten zu spezifizieren und ihnen Konturen zu verleihen. All dies bietet Chancen, dass die Rechte von Menschen mit Behinderung künftig besser anerkannt sind. 31 Behinderung und Politik 1/08 Verkehr Mitteilungen der Fachstelle Behinderung und öffentlicher Verkehr Die Fachstelle Behinderung und öffentlicher Verkehr (BöV) gibt vierteljährlich ihre Nachrichten heraus. Sie berichtet darin über die neusten Entwicklungen im Bereich behindertengerechter öffentlicher Verkehr. BöV-Nachrichten Bildung Kompetenzenbilanz: ein Projekt von AGILE findet Einzug in eine Publikation Von Catherine Corbaz Seit 2001 beschäftigt sich AGILE mit dem vom Verein EFFE (Fachstelle für Erwachsenenbildung, Biel, www.effe.ch) entwickelten Konzept des «Bilanz-Portfolios der Kompetenzen». Im Rahmen dieser Ausbildung sollen die Teilnehmenden ihre Kompetenzen erforschen, sie benennen und in einem Portfolio zusammentragen. Dieser Bilanzierungsprozess findet in sechs Schritten statt: gegenseitiges Engagement und Motivierung, Lebensgeschichte, Erfahrungen unter der Lupe, Identifikation der Ressourcen, Synthese der Kompetenzen und Projekte. Nach einer Präsentation dieses Instruments beschloss die Ausbildungskommission von AGILE, die «Kompetenzenbilanz» auch Menschen mit Behinderung zugänglich zu machen. Wir haben deshalb nach Mitteln gesucht, um die Anpassung der Methode für Menschen mit Behinderung zu finanzieren. Die Stiftung für Gesundheitsförderung hat sich bereit erklärt, die finanziellen Mittel für die Anpassungen des Materials, das Erstellen der Kursunterlagen sowie für mehrere Begleiterinnen der Bilanzierung bereitzustellen – jeweils für die beiden Sprachen Deutsch und Französisch. Zielsetzungen des Projekts Unser Projekt hat die Aufnahme des «Bilanz-Portfolios der Kompetenzen» in das Ausbildungsangebot verschiedener Mitgliedorganisationen bewirkt (Procap, Fragile, Schweizerischer Blindenbund etc.). Bisher haben über 80 Menschen mit Behinderung ihre «Kompetenzenbilanz» erstellt. Welche Anpassungen wurden vorgenommen? Die Methode an sich wurde nicht grundlegend verändert. Hingegen wurde die Kommunikation gegenüber den Teilnehmenden angepasst. So sind die Dokumente im Word-Format und in Braille für blinde und sehbehinderte Menschen und in Gebärdensprache für Gehörlose und Hörbehinderte verfügbar (Video). Ausserdem wurde das Konzept für Menschen mit geistiger Behinderung verständlicher formuliert. Für Personen mit Hirnverletzungen wurde die Methode zudem in kürzere Teilschritte gegliedert. 32 Behinderung und Politik 1/08 Die Auswirkungen Insgesamt sind die Auswirkungen für die Teilnehmenden mit jenen für andere Zielgruppen vergleichbar. So lernen sie sich etwa besser kennen, erkennen ihre Ressourcen, stärken das Selbstwertgefühl, nehmen ihr Leben wieder selbst in die Hand, orientieren ihre Projekte neu, bestimmen ihre Bedürfnisse, öffnen sich und interessieren sich für andere. Die Begleitpersonen in diesem Prozess haben zudem festgestellt, dass persönliche Grenzen überwunden werden konnten und mehr Selbständigkeit gewachsen ist - weg von der Opferrolle zu Personen, die ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Menschen, die erst im Laufe des Lebens eine Behinderung erfahren haben, konnten sich ihrer «neuen» Potenziale bewusst werden, die bestehenden Ressourcen für neue Zielsetzungen mobilisieren und sich den seit dem Unfall oder der Krankheit zurückgelegten Weg vor Augen führen. Ein Kapitel in einem Buch Der Verein EFFE hat zahlreiche Personen für die Begleitung des Prozesses der Kompetenzenbilanz ausgebildet. Verschiedene Anpassungen und Transfers wurden in der Schweiz vorgenommen mit Migrantinnen und Migranten, Arbeitslosen im Wiedereingliederungsprozess sowie von Gewalt betroffenen Frauen. Aber auch nach Projekten in Afrika, unter anderem in Burkina Faso. Das EFFE hat das aus diesen Anpassungen gewonnene Wissen in einem Buch zusammengetragen: Déployer les compétences et pouvoir d’agir – ou l’envol du cerf-volant. So fand auch unser Projekt Eingang in diese Publikation, neben Migrantinnen und Migranten, Arbeitslosen, Jugendlichen in der Berufswahl, Pflegefachleuten in Ausbildung, afrikanischen Frauen und Männern. Anhand der von der Autorin Marie-Thérèse Sautebin geführten Interviews konnten die Begleitpersonen der «Kompetenzenbilanz» Wissen sichtbar machen und zusammentragen; Wissen, das während der (auf Deutsch und Französisch angebotenen) Ausbildungskurse gesammelt wurde. Dieses Buch und insbesondere das den Menschen mit Behinderung gewidmete Kapitel richten sich zwar an Fachleute der Erwachsenenbildung. Es zeigt aber auch ganz allgemein, wie sich ein Projekt dank Zeit, Energie und Geduld entwickelt und seinen Weg geht. So erreichte auch AGILE, mit Ausdauer und Kontakten zu den richtigen Personen das Ziel, eine Idee zu realisieren, zu finanzieren und zu verbreiten. Dies zusammen mit anderen ebenso nennenswerten Projekten in einer Publikation, die in französischsprachigen Kreisen der Erwachsenenbildung Beachtung findet. Und die Zukunft… Es ist die Aufgabe von AGILE, dieses Projekt bei den Mitgliedorganisationen und den interessierten Organisationen in der französisch- und der deutschsprachigen Schweiz weiter zu fördern. Obwohl es sich bei der «Kompetenzenbilanz» um ein gängiges Instrument im Bereich der Wiedereingliederung handelt, ist es bei Menschen mit Behinderung noch kaum bekannt und wird selten verwendet. Falls Sie Interesse haben, wenden Sie sich an Catherine Corbaz. Literaturhinweis: Déployer les compétences et pouvoir d’agir – ou l’envol du cerf-volant, von Marie-Thérèse Sautebin-Pousse, 2007, éditions d’En bas. Das Kapitel ist auf unserer Website verfügbar: www.agile.ch 33 Behinderung und Politik 1/08 Eine Kopie des Artikels im Word-Format kann bei [email protected] angefordert werden. Übersetzung: Susanne Alpiger Kursprogramm 2008 Unser nächster Kurs findet am 17. Mai 2008 in Zürich statt unter dem Titel: „Behindertenpolitik – Wo und wie kann ich mich engagieren?“ Als Person mit Behinderung oder Angehörige erlebe ich noch immer viele Benachteiligungen. Ich frage mich, ob ich mich politisch engagieren soll. Wo soll ich anfangen? Welche Kräfte stehen mir zur Verfügung? Mit wem soll ich mich zusammentun, um mich für eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe einzusetzen? Die beiden Kursleiterinnen haben vielfältige Erfahrung in Behindertenpolitik. Sie führen durch das Seminar und regen zu Gedanken und Diskussionen an. Leitung: Thea Mauchle, ehemalige Verfassungs- und Kantonsrätin des Kantons Zürich, Präsidentin Behindertenkonferenz Kanton Zürich, BKZ Olga Manfredi, Co-Präsidentin Gleichstellungsrat Égalité Handicap und Geschäftsführerin BKZ Anmeldeschluss: 14. April 2008 Detailprogramm Im Laufe des Jahres finden zwei weitere Kurse statt – beide zum Thema Gleichstellungsrecht: Kurs 3-08: Gleichstellungsrecht Teil 1: Aktueller Stand in der Schweiz Datum: 16. Oktober 2008, Bern Kurs 4-08: Gleichstellungsrecht Teil 2: Entwicklungen auf internationalem Gebiet: Die UNO-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderung Datum: 30. Oktober 2008, Bern Alle weiteren Angaben zu den Kursen und Seminaren von AGILE finden Sie in unserer Zeitschrift, im Newsletter oder auch auf unserer Internet-Seite. 34 Behinderung und Politik 1/08 Medien Rosenmeer Für Sie gelesen von Bettina Gruber (Das Buch ist zurzeit nicht lieferbar, erhältlich ist aber das Hörbuch.) Die Geschichte beginnt wie ein guter Roman. Die Ich-Erzählerin beschreibt einen verschlafenen März-Samstag im Schwarzenburgerland. Und ebenfalls wie in einem Roman hält diese Idylle nicht lange an. Nur, dass es sich hier nicht um Fiktion handelt, sondern um die Erlebnisse der 22-jährigen Biochemiestudentin Liliane Wyss. Zuerst sind da die Kopfschmerzen, dann kommen die Sehstörungen. Kurz darauf kann Liliane nicht mehr richtig schlucken, die Motorik fällt aus, und es bleibt ihr nichts anderes übrig als zu warten, bis jemand von der Familie heim kommt und Hilfe organisiert. Zum Glück kommt die Schwester nach Hause. Und bald schon sind mehrere Menschen um Liliane herum, diskutieren, wohin sie gebracht werden soll. Liliane nimmt es wahr, hat aber ein beängstigendes Problem: sie hat das Gefühl, am eigenen Speichel zu ersticken. Keiner bemerkt es und sie kann sich nicht mitteilen. So beginnt die Geschichte, die uns Liliane Wyss in der Rückschau erzählt. Und sie tut dies so intensiv, dass die Leserin vom Anfang an mit hineingezogen wird in diese Welt, in die die Autorin seit jenem Samstag im Frühjahr 2001 eingeschlossen ist. "Locked-in", eingeschlossen, schnappt sie auf. Liliane hätte dazu viele Fragen, aber wie sie stellen? Eine erste spärliche Kommunikation wird mit Blinzeln möglich. Liliane Wyss teilt uns dazu ihre Gedanken mit: einerseits froh, irgendwie in Kontakt zu treten, andererseits die Empörung darüber, wie ein Computer auf ja und nein zurückgeworfen zu sein. Diese Grundstimmung begleitet die Leserin, den Leser durch das ganze Buch. Liliane beschreibt nüchtern, was vorgeht, kleinste Fortschritte, wie beispielsweise die Bewegung mit der grossen Zehe wieder möglich wird. Gleichzeitig beschäftigen sie Fragen, die sie nicht stellen kann. Sie kämpft mit dem Gefühl, wie ein Gemüse im Kistchen behandelt zu werden. Die anderen tun und machen, und sie fühlt sich als blosses Objekt, nicht als Mensch. In der Rückschau lernen wir die Liliane von früher kennen, die junge Studentin. Liliane, die Sportliche, die Naturverbundene, die Reiselustige, die Musikalische. Und wir erfahren auch von ihrer Darmkrankheit, die ihr schon zuvor das Leben nicht ganz leicht gemacht hat. Liliane hatte das Gefühl, dass sie mit dieser blöden Darmkrankheit von Leben schon genug aufgebürdet bekommen hat. Aber da hatte sie sich - wie sie trocken feststellt - gewaltig verrechnet. Jetzt im Spital liegt Liliane auf dem Rücken und starrt immer an die gleiche weisse Decke. Dann hat Liliane die Idee mit den Rosen, und lässt alle Rosen, die ihr als Präsent mitgebracht werden, zum Trocknen aufhängen. Sie bringen ein kleines Bisschen Abwechslung in die unerträgliche Monotonie und werden für Liliane zum Sinnbild für die Geduld, die sie sich nun gezwungenermassen aneignen muss. 35 Behinderung und Politik 1/08 Nach den Wochen im Spital wird Liliane Wyss schliesslich ins Paraplegikerzentrum Nottwil verlegt, wo sie auf eigenen Wunsch irgendwann von der Beatmungsmaschine loskommt. Die Kunsttherapie gibt ihr eine Möglichkeit, zuerst anhand von Postkarten, später mit eigenen Bildern einen Weg aus dieser zermürbenden Isolation zu finden. Solche hoffnungsvolle Momente wechseln sich ab mit Niedergeschlagenheit und Wut. Liliane beschreibt die Macken ihrer Zimmergenossinnen, und wie sie selber damit nur schwer klarkommt. Wie froh ist sie, als sie ihr eigenes Zimmer bekommt. Mit den Möglichkeiten, die ihr Körper ihr gelassen hat, versucht sie, sich ihre Umgebung nach der eigenen Vorstellung zu gestalten oder gestalten lassen. Nach vierzehn Monaten in Nottwil ist Liliane Wyss "austherapiert". Diese Erkenntnis trifft die junge Frau knallhart, führt sie ihr doch vor Augen, dass sie mit ihrem jetzigen Zustand weiterleben muss und die Hoffnung auf eine Genesung begraben kann. Sie kommt in die Wohngemeinschaft Fluematt in Dagmersellen und hat anfangs Mühe sich einzuleben, fühlt sich fremd gegenüber dem Personal und den Mitbewohnern. Als sie ihre Geschichte niederschreibt, lebt sie schon drei Jahre dort. Sie beschreibt, wie sie versucht, ihren Alltag zu gestalten. Sie beginnt ein Fernstudium in Psychologie, und ein Kommunikator, ein Sprechcomputer hilft, den Kontakt zur Umwelt herzustellen. Aber die Kommunikation bleibt eine begrenzte, und Liliane Wyss ist sich dessen schmerzlich bewusst. Mit einem nüchternen Blick schätzt sie ihre Lage ein, und pendelt trotzdem immer wieder hin und her zwischen dieser neuen Realität und ihren Wünschen, ihrer Reise zu jener Liliane, die sie einmal war oder die sie hätte werden können. In ihren eigenen Worten klingt das so: "Lang und unerfüllbar ist meine Wunschliste, etwas kürzer die Aufzählung dessen, was mir geblieben ist. Und doch ist mein neues Leben durchaus lebenswert." So lautet das Fazit einer Lebensgeschichte, die ich Ihrer Lektüre empfehlen kann. Die kurzen übersichtlichen Kapitel lassen die Anstrengung erahnen, mit der die Autorin ihre Geschichte niedergeschrieben hat. Diese notgedrungene Kürze tut dem Inhalt aber keinen Abbruch. Im Gegenteil – es sind Aussagen einer Frau, die lernen musste, mit wenigen Worten viel zu sagen. Liliane Wyss, Rosenmeer. Eingeschlossen im eigenen Körper, AKS Verlag Luzern, 2005, ISBN 3-905446-02-2, Das Buch ist (zumindest zurzeit) nicht mehr lieferbar. Erhältlich ist aber das 2006 erschienene Hörbuch auf CD im MP3-Format unter dem gleichen Titel, ebenfalls AKS-Verlag, ISBN 3-905446-04-9 Preis: CHF 28.- Aus dem Lot – Menschen in der Psychiatrie Für Sie gelesen von Bettina Gruber Waren Sie schon einmal in psychiatrischer Behandlung? Wenn ja, würden Sie das allen mitteilen? Wohl eher nicht, denn wer in einer psychiatrischen Klinik war, wird von seiner Umwelt oft etwas schräg angeschaut – vielleicht heute etwas weniger als früher, aber immer noch. Umso mutiger ist die Offenheit jener elf Psychiatriepatien36 Behinderung und Politik 1/08 ten, die von ihrem Leben, ihrer Krankheit erzählen. Dass diese Öffnung nicht in Blossstellung und von Seiten der Lesenden ins Voyeuristische abgleitet, ist der feinfühligen und diskreten Art zu verdanken, in welcher die Autorin und der Fotograf sich den Betroffenen genähert haben. Gemeinsam mit der Autorin Ursula Eichenberger besuchen wir die psychiatrische Klinik Littenheid und lernen jene elf PatientInnen kennen, die uns einen Einblick in ihre Geschichte gewähren: Wir machen Bekanntschaft mit der alten Dame, die eines Tages den Heimweg nicht mehr fand, mit einer jungen Frau, die von Essattacken heimgesucht wurde, mit dem erfolgreichen Berufsmann und Lokalpolitiker, dem seine Energie abhanden gekommen war, mit dem Mädchen, das sich selbst Schnittwunden zugefügt hat, dem Rentner, der nach dem Tod seiner Partnerin nicht mehr alleine aus der Trauer herausfindet, mit dem ordnungsliebenden Freizeitmusiker, der von Angstattacken geplagt wurde, mit dem Drogenabhängigen im mittleren Alter, der den Neustart schaffen will, mit dem 20-Jährigen, dem seine ungeordneten Gedanken zur Qual wurden und der so nicht weiterleben wollte, mit der Frau, der die Partnerschaft zur Hölle wurde, sodass sie den Alkohol als Tröster brauchte. Die Teenagerin Joy erzählt von ihrem familiären Umfeld, das keinen Halt gab und sie hat zur Aussenseiterin werden lassen; Stefan berichtet von seinem Knatsch mit der Schule, weil er sich nicht genügend konzentrieren konnte. Elf Lebensgeschichten, die uns nahe sind – das könnte auch mir oder in meinem Umfeld passieren – oder die uns Einblick geben in eine fremde Welt, in Gedanken und Handlungsweisen, die wir im Zusammenhang der Lebensgeschichten vielleicht nachvollziehen können. Vielleicht auch nicht. Dass wir alles verstehen, ist auch nicht der Sinn des Buches. Die Leserin, der Leser soll nicht als Hobbypsychiater die Diagnose stellen, sondern einfach den Menschen begegnen. Dies ist die Art, wie wir Nebenstehenden uns zu Betroffenen machen lassen können, durch Mitgefühl, Mitgehen, aber keinesfalls durch die Selbstüberschätzung, jemanden aus eigener Kraft irgendwie retten zu wollen. Dieses Mit-Sein wird in den Texten der Autorin spürbar, diese Zuwendung lässt sich in den Porträts finden. Dass Begleitung durch Bezugspersonen wichtig ist, illustrieren auch die kurzen Texte, in denen die Patienten sich von einer Vertrauensperson betrachten lassen. Im Anschluss an die Porträts wechselt das Buch die Farbe: auf den blauen Seiten erwartet uns der Infoteil. Der Chefarzt der Klinik, Markus Binswanger, erklärt auf jeweils zwei bis drei Seiten die häufigsten psychischen Erkrankungen anhand der Stichworte Definition, Häufigkeit, Ursachen, Symptome, Therapie und Verlauf/Heilung. Diese kurze Einführung ist für Laien gut verständlich. Im Anhang finden sich eine Liste mit Adressen von Anlaufstellen und Organisationen im Bereich der Psychiatrie sowie eine übersichtliche Literaturliste. Mit korrektem Wissen über psychische Erkrankungen und Unvoreingenommenheit Betroffenen gegenüber kann die Stigmatisierung, welcher sich psychisch Kranke oft ausgesetzt sehen, am besten bekämpft werden. Dazu leistet das vorliegende Buch einen wertvollen Beitrag. Und obendrein ist es schön aufgemacht, also Aufklärung gepaart mit bibliophilem Genuss. Durch sein Format und die 805 g Gewicht allerdings weniger fürs Mitnehmen in der Handtasche geeignet. Ursula Eichenberger, Aus dem Lot. Menschen in der Psychiatrie, Verlag Neue Zürcher Zeitung, 22007. ISBN 978-3-03823-389-3 Preis CHF 48.--. 37 Behinderung und Politik 1/08 Impressum agile – Behinderung und Politik (mit regelmässiger Beilage – in elektronischer Form – der "BÖV Nachrichten") Herausgeberin: AGILE Behinderten-Selbsthilfe Schweiz Effingerstrasse 55, 3008 Bern Tel. 031/390 39 39, Fax 031/390 39 35 Email: [email protected] Redaktion: Eva Aeschimann, Redaktionsverantwortliche deutsche Ausgabe Cyril Mizrahi, Redaktionsverantwortlicher französische Ausgabe Bettina Gruber Haberditz Simone Leuenberger Ursula Schaffner Lektorat: Bettina Gruber Haberditz (deutsche Ausgabe) Claude Bauer, Salima Moyard (französische Ausgabe) Neben der deutschsprachigen besteht auch eine französischsprachige Ausgabe von „agile“. Ihre Inhalte sind weitgehend identisch – Übersetzungen werden als solche gekennzeichnet. Die Übernahme (mit Quellenangabe) von „agile“-Texten ist nicht nur gestattet, sondern erwünscht! Anregungen, Anfragen, Feedback, Bemerkungen usw. bitte an: [email protected] 38